Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
noch einige vom Deutschen Bundestag zu entsendende
Mitglieder bzw. stellvertretende Mitglieder des Stiftungsrates der Kulturstiftung des Bundes zu wählen.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt für die neue Periode dieses Stiftungsrates wiederum erstaunlicherweise
den Bundestagspräsidenten als ordentliches Mitglied
sowie die Kollegin Dorothee Bär und den Kollegen
Wolfgang Börnsen als stellvertretende Mitglieder vor.
Für die SPD-Fraktion sollen Vizepräsident
Dr. h. c. Wolfgang Thierse als ordentliches Mitglied
und der Kollege Siegmund Ehrmann als stellvertretendes Mitglied bestellt werden.
Die Fraktion der FDP benennt als ordentliches Mitglied den Kollegen Hans-Joachim Otto.
Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? ({0})
- Auch die Zwischenrufe werden wie immer sorgfältig
registriert, Herr Kollege Fricke. - Im Ergebnis ist das der
Fall. Dann sind die Kollegin Bär und die genannten Kollegen in den Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes
gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen wegen Nichterfüllung der Frauenquote
bei den Führungskräften
({1})
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
- Drucksache 17/9145 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 36
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Städtebauliche Qualität des Regierungsviertels
verbessern
- Drucksache 17/9171 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 37
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 417 zu Petitionen
- Drucksache 17/9177 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 418 zu Petitionen
- Drucksache 17/9178 -
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 419 zu Petitionen
- Drucksache 17/9179 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 420 zu Petitionen
- Drucksache 17/9180 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 421 zu Petitionen
- Drucksache 17/9181 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 422 zu Petitionen
- Drucksache 17/9182 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 423 zu Petitionen
- Drucksache 17/9183 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 424 zu Petitionen
- Drucksache 17/9184 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen
- Drucksache 17/9150 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 33 und 36 e werden abgesetzt.
Schließlich mache ich noch auf drei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 22. März 2012 in der 168. Sitzung überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({12}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes
- Drucksache 17/7376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der am 22. März 2012 in der 168. Sitzung überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({14}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Kauder, Dr. Frank-Walter Steinmeier, Gerda
Hasselfeldt, Rainer Brüderle, Dr. Gregor Gysi,
Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im
Transplantationsgesetz
- Drucksache 17/9030 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der am 8. März 2012 in der 165. Sitzung überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss ({16}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({17}), Hans-Christian Ströbele, Wolfgang
Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste
- Drucksache 17/8797 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann kön-
nen wir so verfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a bis h sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über
Stabilität, Koordinierung und Steuerung in
der Wirtschafts- und Währungsunion
- Drucksache 17/9046 Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({19})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012
zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
- Drucksache 17/9045 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({20})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am
Europäischen Stabilitätsmechanismus ({21})
- Drucksache 17/9048 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({22})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksache 17/9049 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({23})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen
Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des
Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
- Drucksache 17/9047 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({24})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Europäischen Stabilitätsmechanismus ablehnen, europäisches Investitionsprogramm auflegen
- Drucksache 17/9146 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({25})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Ratifizierung des Fiskalvertrags ablehnen Ursachenorientierte Politik zur Krisenbewältigung einleiten
- Drucksache 17/9147 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({26})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Thomas Nord,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Grundlegende Reformen der EU-Verträge
umsetzen - Änderungen von Artikel 136 des
Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen
Union verhindern
- Drucksache 17/9148 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({27})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
- Drucksache 17/9145 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({28})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ich mache darauf aufmerksam: Hier geht es insbesondere um den Aspekt der Parlamentsbeteiligung bei solchen europäischen Mechanismen. Da sich dazu eine
verständliche, aber im Kern glücklicherweise unnötige
Besorgnis artikuliert hat, mache ich darauf aufmerksam,
Präsident Dr. Norbert Lammert
dass wir entsprechende ähnliche Texte auch für die übrigen heute auf der Tagesordnung stehenden Vertragswerke in den Fraktionen bereits nicht nur verfügbar haben, sondern sich auch da ein ähnlich breiter Konsens
abzeichnet, wie er diesem gerade zuletzt genannten Gesetzentwurf zur Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes zugrunde liegt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch hierzu
sehe ich keine Änderungswünsche. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Finanzen Dr. Wolfgang
Schäuble.
({29})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den
Gesetzentwürfen zur Schaffung einer Fiskalunion und
eines dauerhaften Stabilitätsmechanismus schaffen wir
einen weiteren wichtigen Baustein zur Überwindung der
Vertrauenskrise in den Finanzmärkten, um die Lage der
Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in Europa nachhaltig
zu verbessern.
Man muss daran erinnern, dass als Folge der Finanzund Bankenkrise in den Jahren 2007 und 2008 die wachsende Staatsverschuldung in fast allen Industrieländern
von den Finanzmärkten zunehmend - und eigentlich
zum ersten Mal - als ein Risiko empfunden worden ist
und zu einer entsprechenden Verunsicherung auf den
Finanzmärkten geführt hat. Aus der wachsenden Staatsverschuldung einer Reihe von Mitgliedsländern in der
Euro-Zone haben sich Gefahren für nachhaltiges Wachstum ergeben, und das hat zu einer allgemeinen und sich
verstärkenden Verunsicherung geführt.
Damals bestand in Europa und weltweit Einigkeit darüber, dass die Ursachen die zu hohen Defizite in den öffentlichen Haushalten fast aller Industriestaaten sind und
dass zugleich eine zu geringe Wettbewerbsfähigkeit in
einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäischen Union
zusätzlich zu Spannungen in dieser gemeinsamen europäischen Währung führt.
Es bestand Einigkeit darüber, dass diese Probleme nur
dadurch gelöst werden können, dass die Ursachen der
Krise in den betroffenen Ländern angegangen werden.
Deswegen führt kein Weg daran vorbei, dass wir die
Krise in den betroffenen Ländern bekämpfen, indem wir
die Defizite reduzieren und die Wachstumsperspektiven
und die Wettbewerbsfähigkeit durch entsprechende
Strukturreformen verbessern bzw. stärken. Es war international völlig einvernehmlich, dass wir dazu eine balancierte Politik aus wachstumsfördernden Maßnahmen
und gleichzeitiger Reduzierung der zu hohen Defizite
und zu hohen Staatsverschuldungen brauchen, also eine
wachstumsfreundliche Defizitreduzierung.
({0})
Das entspricht exakt der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, die wir seit Beginn dieser Legislaturperiode betreiben und für die wir in der vergangenen Woche im Bundeskabinett Eckwerte für den
Haushalt 2013 und für die mittelfristige Finanzplanung
vorgelegt haben.
Es ist gelegentlich diskutiert worden, ob wir den richtigen Pfad eingeschlagen haben. Ich glaube, die bisher
erzielten Erfolge bei der Reduzierung auch unserer als
Folge der Finanzkrise zu hohen Neuverschuldung sowie
die Überwindung der Wachstumsdelle belegen, dass
diese Politik einer wachstumsfreundlichen Defizitreduzierung in Deutschland erfolgreich betrieben wird und
dass sie in Europa notwendig ist. Genau diese Politik
müssen wir konsequent fortsetzen.
({1})
Wir waren uns in Europa in der zu Beginn des Jahres
2010 eingetretenen Euro-Krise bzw. sogenannten Vertrauenskrise im Euro-Raum von Anfang an einig, dass
wir eine solche Politik in allen Mitgliedsländern betreiben müssen. Deswegen war es nicht ein Mangel an Solidarität, sondern richtig verstandene finanz- und wirtschaftspolitische Verantwortung, dass wir gesagt haben:
Wir dürfen nicht Maßnahmen ergreifen, die dazu führen,
dass die Länder nicht selber die notwendigen Korrekturmaßnahmen durchsetzen. - Deswegen wäre alles, was
dazu geführt hätte, dass diese Reformen in den betroffenen Ländern nicht ergriffen worden wären, falsch verstandene Solidarität gewesen. Das gilt beispielsweise für
die Debatte um Euro-Bonds.
({2})
Ich will daran erinnern: Jede Vergemeinschaftung von
Haftung bei gleichzeitigem Fehlen einer entsprechenden
Finanzstruktur und damit verbunden die Ausschaltung
des Marktmechanismus, also des Zinsrisikos, hätten
dazu geführt, den Reformdruck nicht zu verstärken, sondern zu verringern. Es wären Fehlanreize gesetzt worden, und genau deswegen haben wir es nicht gemacht.
Vielmehr haben wir gesagt: Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Wer auch immer Hilfe braucht, um seine Schwierigkeiten bei der Refinanzierung auf den Finanzmärkten
zeitweilig zu überbrücken, bekommt diese Hilfe bei Vereinbarung entsprechender Anpassungsprogramme.
Das war der erste Baustein, um die Krise in Europa
Schritt für Schritt zu bekämpfen, und wir sind auf diesem Weg erfolgreich. Die Programme funktionieren in
Portugal und in Irland. Andere Länder wie Spanien oder
Italien haben in den letzten Monaten wichtige Maßnahmen ergriffen, um Fehlentwicklungen nicht fortzusetzen,
um Defizite zu reduzieren und die Wachstumsfähigkeit
durch Strukturreformen zu verbessern.
Selbst in Griechenland, wo wir eine Zeit lang Schwierigkeiten hatten, die getroffene Vereinbarung umzusetzen, haben wir jetzt deutliche Fortschritte gemacht. Ich
füge hinzu: Mit dem Schuldenschnitt unter Beteiligung
des Privatsektors, der Anlagegläubiger, in Höhe von
53,5 Prozent hat Griechenland eine Chance, im Laufe
der Jahre zu einer tragfähigen Entwicklung zu kommen.
({3})
Ich will bei dieser Gelegenheit auch sagen: All denjenigen, die gesagt haben - es waren viele Interessenvertreter des Finanzsektors, die sich so geäußert haben -,
das sei gefährlich - was ist nicht alles gesagt worden! -,
dieser Schuldenschnitt könne nicht funktionieren und
werde nicht funktionieren - es ist darauf hingewiesen
worden, was er anrichten könne -, halte ich entgegen:
Wie man sieht, hat es funktioniert. Wir haben mit den
Vereinbarungen, die wir erreicht und durchgesetzt haben, eine Grundlage geschaffen, dass Griechenland zu
einer Schuldentragfähigkeit kommen kann. Die professionellen Interessenvertreter und Angstmacher haben
nicht immer recht. Wir haben die richtigen Entscheidungen getroffen. Wir sind auf einem guten Weg, und wir
werden diesen Weg konsequent und entschlossen fortsetzen.
({4})
Der zweite Baustein ist nun die Schaffung einer dauerhaften Stabilitätsunion. Das, was zu Beginn der EuroZone politisch noch nicht erreichbar war, müssen wir
- das ist die richtige Lehre aus der Krise - jetzt schaffen.
Das, meine Damen und Herren, haben wir mit dem Entwurf dieses Fiskalvertrages erreicht. Alle Länder der
Euro-Zone und acht weitere Länder der Europäischen
Union verpflichten sich - das hätte vor einem Jahr noch
niemand in Europa für denkbar gehalten -, in ihre nationalen Verfassungs- und Rechtsordnungen Schuldenbremsen einzuführen, die der Schuldenbremse des deutschen Grundgesetzes vergleichbar sind.
({5})
Das zeigt, Herr Kollege Trittin: Es gibt einen grundsätzlichen Einstellungswandel in Europa, was die Nachhaltigkeit von tragfähigen Haushalten anbetrifft. Das ist der
entscheidende Erfolg.
({6})
Diese Schuldenbremsen werden eingeführt. Es wird
überprüft, dass sie dem entsprechen, was im Fiskalvertrag vereinbart worden ist. Man kann gegebenenfalls den
Europäischen Gerichtshof anrufen. Es muss durchgesetzt werden. Auch dies ist ein entscheidender Schritt.
Im Übrigen muss man den Fiskalvertrag natürlich im
Zusammenhang mit den verstärkten Überwachungsmöglichkeiten in Bezug auf die Haushalts- und Wirtschaftspolitik aller Mitgliedstaaten der Euro-Zone sehen, die
wir im sogenannten Sixpack Ende 2011 in Kraft gesetzt
haben. Mit diesen Maßnahmen - Fiskalvertrag plus Sixpack - erhält der Stabilitäts- und Wachstumspakt zum
ersten Mal Zähne. Jetzt kann er durchgesetzt werden.
Jetzt können sich die Fehler der Vergangenheit nicht
mehr wiederholen. Der italienische Ministerpräsident
hat dieser Tage daran erinnert - Herr Kollege Gabriel,
Sie waren gerade in Paris; es ist ganz wichtig, Monti genau zuzuhören -: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt
war im Prinzip richtig. Falsch war nur, dass er durch
Deutschland unter der rot-grünen Regierung und durch
Frankreich
({7})
massiv gebrochen und damit zerstört worden ist.
({8})
Deswegen müssen wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.
({9})
- Sie hören es nicht gern. Ich bin sehr dafür, dass wir im
Zuge der europäischen Entwicklung im Rahmen der
politischen Familien miteinander Wahlkampf machen;
ich bin aber auch dafür, dass wir die Fehler, die wir in
europäischer Solidarität miteinander schon wieder ankündigen, rechtzeitig als solche erkennen. Wenn Sie
glauben, Sie könnten nachhaltiges Wachstum in Europa
dadurch fördern, dass Sie die zu hohe Staatsverschuldung weiter erhöhen, machen Sie genau die Fehler, die
uns in die Krise geführt haben.
({10})
Das dürfen wir in Frankreich nicht machen, und das dürfen wir in Deutschland nicht machen. Das wäre genau
der falsche Weg. Das wäre die falsche Lehre aus dem,
was eingetreten ist.
Deswegen ist es richtig, dass wir die Mechanismen
des Stabilitäts- und Wachstumspakts verschärfen. Wir
haben jetzt quasi automatische Sanktionen. Wir haben
vor allen Dingen viel stärkere Möglichkeiten zur Vermeidung von Fehlentwicklungen. Wir haben die Möglichkeit, durch Haushaltsüberwachung präventiv tätig zu
werden, bei Ungleichgewichten der wirtschaftlichen
Entwicklung in den Mitgliedstaaten früher einzugreifen,
Wirtschaftspartnerschaftsprogramme rechtzeitig durchzusetzen. Das alles sind neue Instrumente, die uns in die
Lage versetzen, eine wirkliche Stabilitäts- und Wachstumsunion zustande zu bringen.
Das fügt sich auch in den Zusammenhang ein; denn
natürlich geschieht das alles nicht nur, um Defizite zu reduzieren, sondern auch, um nachhaltiges Wachstum sicherzustellen. Das ist die Aufgabe und der Sinn unserer
Politik. So wie sich die Finanz- und Wirtschaftspolitik
der Bundesregierung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland konkret für die Menschen auswirkt, so wird es überall in Europa sein. Dazu tragen auch der Euro-Plus-Pakt,
den die Bundeskanzlerin im vergangenen Jahr durchgesetzt hat, und die vielen Initiativen bei, die zusammen
mit dem französischen Staatspräsidenten in den letzten
Monaten ergriffen worden sind, um Wachstumsimpulse
in Europa zu verstärken.
Auf dem Sondergipfel des Europäischen Rats im Januar beispielsweise ist eine Reihe von weitreichenden
Beschlüssen gefasst worden, um die Arbeitsmarktlage
etwa in Ländern wie Spanien mit einer Jugendarbeitslosigkeit, die nahe bei 50 Prozent liegt, dauerhaft zu
verbessern und vieles andere mehr. Auch für den Frühjahrsgipfel hat die Bundeskanzlerin eine Reihe von Vorschlägen zur Stärkung von Schlüsseltechnologien, zu
strukturellen Reformen - wo nötig, auch am Arbeits20212
markt - eingebracht, um die Weichen für dauerhaftes
Wachstum zu stellen. Mit diesen Maßnahmen und einer
Politik solider Finanzen sowie einer Begrenzung der
Haushaltsdefizite und der Gesamtverschuldung werden
wir die Weichen für nachhaltiges Wachstum in Europa
stellen. Meine Damen und Herren, das ist der Sinn dieser
Vertragswerke, die wir heute hier einbringen.
Aber noch einmal: Es muss klar sein, dass wir Wachstum nicht einfach durch höhere Defizite erreichen; das
war übrigens weltweit Konsens. Alle internationalen
Analysen - von G 20, vom IWF, selbst von der OECD,
obwohl wir nicht alle Erklärungen des Generalsekretärs
in diesen Tagen immer nur mit Freude zur Kenntnis genommen haben - haben immer dasselbe festgestellt: Die
Ursache der Krise war die zu hohe Staatsverschuldung.
Wer dauerhaftes Wachstum will, braucht als eine Voraussetzung solide, tragfähige Haushalte. Der Stabilitätsund Wachstumspakt, der Fiskalvertrag - all dies dient
diesem Ziel.
Der nächste Schritt ist übrigens - um auch das zu erwähnen, weil gelegentlich gesagt wird, wir würden von
einer Maßnahme zur nächsten gehen; aber das alles hat
Konzept und Sinn -, neben der Bekämpfung der Ursachen in den Mitgliedstaaten, neben der Schaffung einer
dauerhaften Stabilitätsunion, eine zentrale Maßnahme
zur Bekämpfung von Ansteckungsgefahren. Wir haben
für die systemrelevanten Banken in Europa sichergestellt, dass sie alle über genügend Kapital verfügen, damit uns das nicht wieder passiert, was uns 2008/2009
passiert ist. Deswegen haben wir den Bankenstresstest
durchgeführt, der sicherstellt, dass alle systemrelevanten
Banken in der Euro-Zone mit dem nötigen Kapital ausgestattet sind. Das ist ebenfalls ein Beitrag im Rahmen
unserer Gesamtstrategie, um die Stabilität unserer gemeinsamen europäischen Währung dauerhaft sicherzustellen.
({11})
Meine Damen und Herren, natürlich gehört als letzter
Baustein - neben der Bekämpfung der Ursachen der
Krise, neben einer dauerhaften Stabilitätsunion und soliden Strukturen im europäischen Währungssystem, neben
einer ausreichenden Kapitalausstattung der Banken dazu, dass wir für den Fall, dass einzelne Mitgliedsländer der Euro-Zone vorübergehend Schwierigkeiten haben, sich an den Finanzmärkten zu refinanzieren, genügend Mittel zur Verfügung haben, um ihnen Zeit für die
Lösung ihrer Probleme zu kaufen. Das ist die Funktion
des Rettungsschirms oder der Firewall - die Bekämpfung von Ansteckungsgefahren im Euro-System als
Ganzem. Wir haben ja gesehen, dass es geradezu blitzartig zu einer solchen Ansteckung kommen kann. Deswegen ist es gut, dass wir die vorläufige Finanzierungsfazilität 2010 kurzfristig und schnell geschaffen haben.
Aber wir haben im Übrigen schon damals gesagt - da
werden uns, völlig wahrheitswidrig, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate vorgehalten -, dass diese Konstruktion eine vorübergehende Maßnahme ist. Was wir
anstreben, ist eine dauerhafte, stabile Konstruktion. Die
legen wir heute mit den Gesetzentwürfen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus vor. Es ist vorgesehen,
durch einen völkerrechtlichen Vertrag eine internationale
Finanzinstitution mit einem Ausleihvolumen von insgesamt 500 Milliarden Euro zu gründen. Davon sollen
80 Milliarden Euro von den Mitgliedstaaten als Kapital
eingezahlt werden. Der Rest steht als abrufbares, nachschusspflichtiges Kapital zur Verfügung. Damit hat dieser Europäische Stabilitätsmechanismus eine dauerhaft
stabile Struktur. Die Bedingungen, unter denen er Hilfe
leistet, sind ähnlich wie bei der EFSF. Es wird immer nur
Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden. Voraussetzungen
hierfür sind Anpassungsprogramme, die mit Ländern,
die entsprechende Hilfe benötigen, vereinbart werden
müssen. Daran wird sich nichts ändern.
({12})
Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone haben auf ihrem Gipfeltreffen im Dezember verabredet
- es wird dauernd gesagt, wir würden immer etwas anderes vorlegen; das ist einfach nicht wahr; man kann das
nur sagen, wenn man die Erklärungen nicht zur Kenntnis
genommen oder schon wieder vergessen hat -, dass die
endgültige Größenordnung des Stabilitätsmechanismus
im März noch einmal überprüft werden soll. Sie haben
bei ihrem Treffen Anfang März die Finanzminister beauftragt, diese Überprüfung durchzuführen und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus Ende des Monats
zu treffen. Das werden wir morgen und übermorgen in
Kopenhagen tun. Ich werde mit dem Vorschlag in diese
Beratungen gehen - den haben wir in dieser Woche sehr
intensiv miteinander besprochen -, dass wir entgegen
dem, was im Vertragsentwurf steht, das Ausleihvolumen
des ESM in Höhe von 500 Milliarden Euro nicht dadurch reduzieren, dass wir die in den bisherigen Programmen für Irland, Portugal und Griechenland vereinbarten Hilfszahlungen von den 500 Milliarden Euro
abziehen oder - wie es in der Sprache des Vertrages
heißt - konsolidieren, sondern dass wir die 500 Milliarden Euro als zusätzliches Volumen zur Verfügung haben,
um die notwendige Solidarität gewährleisten und um die
Ansteckungsgefahr bekämpfen zu können.
({13})
- Das ist exakt die rote Linie in der internationalen Debatte. In der internationalen Debatte hat sich seit geraumer Zeit die Erwartung gefestigt - Sie können eine so
hohe Firewall errichten, wie Sie wollen; das nützt gar
nichts -, dass die notwendigen strukturellen Maßnahmen
in Europa ergriffen und die Ursachen der Krise bekämpft
werden müssen. Deswegen habe ich diesen Zusammenhang hier vorgetragen.
({14})
Die Bekämpfung der Ursachen in den Mitgliedstaaten
ist notwendig. Jeder kehre vor seiner Tür; wir machen es
mit unserer Politik, andere machen es mit ihrer Politik.
Wenn wir eine Struktur für die Stabilitätsunion erreichen, die wir in den 90er-Jahren nicht zustande gebracht
haben, dann muss die Firewall nicht mehr so hoch sein.
Wenn wir zusätzlich zu den schon vereinbarten Programmen ein Ausleihvolumen in Höhe von 500 Milliarden Euro in einer stabilen internationalen FinanzinstituBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
tion haben, dann ist das überzeugend, es sei denn, es
fangen wieder alle möglichen Leute an, darüber zu reden, dass 3 Milliarden Euro mehr sind als 1 Milliarde
Euro. Das ist wahr, löst aber unser Problem nicht. Wir
brauchen eine glaubwürdige, in sich schlüssige Politik.
({15})
Wir brauchen die drei Programme für Irland, Portugal
und Griechenland. Ich bin ganz sicher, dass die internationale Gemeinschaft im Internationalen Währungsfonds
den solidarischen Beitrag der Europäer zur Vermeidung
der Ansteckungsgefahr im Euro-System anerkennt und
ihren Beitrag für die globale Weltwirtschaft nicht verweigern wird. Wir treffen unsere Entscheidung in
Europa, so wie es alle von uns erwarten. Mit diesen Entscheidungen werden wir die Verunsicherung auf den
Märkten dauerhaft beseitigen können, es sei denn, es
würde wieder bewusst Verunsicherung geschürt.
Ich will noch ein Wort zum Thema Finanztransaktionsteuer sagen. Wir brauchen für den Fiskalpakt, wie wir
alle wissen, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und
im Bundesrat, weil wir uns verpflichten, die Regelungen
unseres Grundgesetzes nicht zu verändern. Das hat verfassungsrechtliche Qualität. Sie haben gesagt, Sie möchten ein glaubwürdiges Bemühen der Bundesregierung
für die Einführung einer Besteuerung des Finanzsektors.
Die Bundesregierung hat sich seit zwei Jahren mit großem Nachdruck dafür eingesetzt, dass wir eine Finanztransaktionsteuer in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zustande bringen.
({16})
- Einhellig, die ganze Bundesregierung. Entschuldigung, Sie können das alles überprüfen.
({17})
- Es werden wahrheitswidrige Behauptungen durch
Wiederholungen nicht besser. Es ist nicht die Wahrheit.
({18})
Diese Bundesregierung hat in ihrer Finanzplanung im
Juni 2010 die notwendigen Entscheidungen getroffen.
Jeder kann es überprüfen, dort stehen sie geschrieben.
Wahr ist aber auch: In den europäischen Verträgen steht,
dass Sie eine europäische Steuer in der Europäischen
Union nur zustande bringen, wenn Sie eine einstimmige
Entscheidung erzielen. So steht es in den Verträgen.
Europa ist eine Gemeinschaft des Rechts; entgegen den
Verträgen kann man nicht handeln.
Ich muss Ihnen wahrheitsgemäß sagen: Die Chancen
sind nicht sehr groß, dass wir einen einstimmigen
Beschluss zustande bringen. Es ist übrigens auch die
Wahrheit, dass die Kommission erst nach einjährigem
Drängen der Bundesregierung und des deutschen
Finanzministers überhaupt einen Vorschlag für eine
Finanztransaktionsteuer entwickelt hat. Zuvor hatte sie
keine Präferenz für diese Lösung.
({19})
- Nein, es war die Bundesregierung.
({20})
- Herr Gabriel, das ist nicht wahr.
({21})
- Es war das Drängen der Bundesregierung und der französischen Regierung. Die Wahrheit ändert sich nicht.
Deswegen sage ich: Wir werden alles Menschenmögliche tun, um eine Einigung zustande zu bringen. Wir werden Sie darüber in aller Offenheit informieren. Es fehlt
überhaupt nicht am Drängen der Bundesregierung; wir
suchen gemeinsam nach Lösungen. Es gibt keinen
Grund, daran die Stabilisierung unserer gemeinsamen
Währung scheitern zu lassen.
({22})
Das ist der falsche Zusammenhang.
Wir wissen, dass alle diese Diskussionen, Verunsicherungen und Entscheidungen unsere Bevölkerung mit
großer Sorge erfüllen. Deswegen ist es wichtig, dass wir
klar und verlässlich erklären, warum wir welche Entscheidungen treffen. Mit den Entscheidungen, für die
wir heute die Gesetzgebungsverfahren eröffnen, gehen
wir einen entscheidenden weiteren Schritt, um unsere
europäische Währung dauerhaft stabil zu machen, das
Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen und damit eine Voraussetzung zu schaffen, dass wir auch weiterhin solides Wirtschaftswachstum als Grundlage von
sozialer Sicherheit haben. Dazu bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Schäuble, in weiten Teilen war das eine
Rede für Ihre eigenen Regierungsfraktionen, wenn ich
das richtig verstanden habe. Die Ankündigungen, die Sie
hier gemacht haben, werden dort gerne gehört werden.
Nur - auch wenn ich es nicht vorhabe -: Mit Ihren Ankündigungen und falschen Versprechungen könnte ich
hier meine ganze Redezeit ausfüllen.
({0})
Davon gab es reichlich von dieser Bundesregierung in
der Vergangenheit.
({1})
- Herr Kauder: Kein Cent für Griechenland - wir erinnern uns gut. Kein permanenter Rettungsschirm - wir erinnern uns gut. Auf keinen Fall Hebelungen - haben Sie
auch hier am Podium gesagt. Und ganz sicher waren Sie
sich: Keine Aufstockung des ESM. Keine dieser Zusagen hat länger als drei Monate Bestand gehabt. Aus Ihren roten Linien sind im Verlaufe der Diskussion in
Wahrheit Wanderdünen geworden.
({2})
Das geht doch weiter. Wenn Herr Seehofer, wie ich
gestern gelesen habe, jetzt öffentlich versichert, es bleibe
bei Deutschlands Risiko in der Gesamtgrößenordnung
von 211 Milliarden Euro, dann ist das doch die nächste
Täuschung, die vorbereitet wird. Das dürfen wir nicht
durchgehen lassen.
({3})
Ich habe es öffentlich und auch hier von diesem Pult
aus gesagt: Sie werden mit dem geplanten Volumen für
den ESM nicht hinkommen; nicht, weil andere europäische Staaten drängen, sondern weil das Vorhaben ökonomisch nicht aufgeht. Über Monate haben Sie sich mit der
Geste der Empörung dagegengestellt, die Aufstockung
zurückgewiesen, und jetzt stocken Sie doch auf.
Deshalb sage ich: Hören Sie endlich auf, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Sagen Sie offen und
ehrlich, was auf unser Land zukommt. Machen Sie
Schluss mit Halbwahrheiten und verschwurbelten Kurskorrekturen. Eine solche hat heute hier stattgefunden.
({4})
Stattdessen verfallen Sie wieder in den alten Fehler:
Sie reden die Lage schön. Sie hoffen, dass nach der kleinen Beruhigung der Märkte über Weihnachten hinweg
dieser ganze Europa-Griechenland-Rettungsschirm-Albtraum endlich vorbei ist: Jetzt noch schnell ein bisschen
Fiskalpakt, dann deutsche Haushaltsdisziplin in ganz
Europa, und dann können wir uns endlich wieder dem
Regierungsalltag zuwenden.
Dieser Alltag besteht aus Klein-Klein und einem
Kleinkrieg im ganzen Kabinett, jeder gegen jeden. All
das können die Leute nicht mehr hören. Das schädigt
nicht nur das Vertrauen in Ihre Politik, sondern auch das
Vertrauen in die ganze deutsche Politik. Wenn es so weitergeht, meine Damen und Herren, dass heute nicht mehr
das gilt, was gestern galt, und morgen nicht mehr das
gilt, was heute gilt, dann - ich sage es Ihnen - werden
wir die Menschen in Deutschland auf dem Weg nach
Europa verlieren. Das darf nicht sein; das dürfen wir
nicht zulassen.
({5})
Für mich ist jedenfalls klar: Auch im vierten Jahr
nach der Lehman-Pleite ist diese Krise keineswegs zu
Ende. Herr Schäuble, ich würde gern dieselbe Hoffnung,
denselben Optimismus haben wie Sie. Aber schauen wir
ein bisschen auf die Wachstumszahlen: Da sind eben
nicht nur Griechenland, Portugal und Spanien; da fällt
doch auch Ihnen auf, dass ein gesundes Land wie die
Niederlande plötzlich ins Minuswachstum gerät, sich
Rezession andeutet. Es ist ja wahr: Noch leben wir hier
in Deutschland auf einer Insel der Seligen. Aber jeder,
der ein bisschen ökonomischen Sachverstand hat, der
weiß, dass die roten Zahlen der anderen von heute unsere Probleme von morgen sind. Ich wünschte es mir
auch anders. Aber es kann doch nicht sein, dass es allen
um uns herum in Europa schlecht geht und es uns auf
Dauer gut geht; dieser Zusammenhang kann leider so
nicht bestehen. Daran, Herr Schäuble, kann man sich
nicht vorbeiträumen.
({6})
Großkrisen wie diese haben wir in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank nicht allzu häufig gehabt. Aber eines wissen wir alle miteinander: Erstens sind sie nicht in
wenigen Jahren überwunden. Zweitens erledigt sich
durch Abwarten gar nichts, erst recht nicht von selbst. In
solchen Situationen kommt es auf die Politik an, auf
Mut, Klugheit und Weitsicht in der Politik. Deshalb
brauchen wir jetzt miteinander eine wirklich ernsthafte
Diskussion über die nächste Wegstrecke, die vor uns
liegt. Fiskalpakt und ESM, über die wir heute und in den
nächsten Wochen diskutieren, sind eben nicht der
Schlussstein in einem abgeschlossenen europäischen
Rettungswerk; das sind Zwischenstationen, das sind
Wegmarken.
Vor allen Dingen müssen wir jetzt in dieser Diskussion sagen, wohin denn die Reise insgesamt gehen soll:
Welchen Weg wollen wir in Europa gehen? Wie sieht
unser Langfristkonzept zur Überwindung der Krise aus?
Wie sollen wir in Europa neues Wachstum und neue Beschäftigung entstehen lassen? Wie gelingt es uns vor allen Dingen, auch die Finanzmärkte an der finanziellen
Bewältigung der Krise zu beteiligen? - Das sind aus
meiner Sicht die drängenden Fragen, die über das Wohl
und Weh in Europa in den nächsten Jahren entscheiden
werden, und zwar mehr noch als der Fiskalpakt, der zu
90 Prozent bereits europäisches Recht ist. Das dürfen
nicht nur unsere Fragen sein, meine Damen und Herren
aus den Regierungsfraktionen; das müssen auch Ihre
Fragen sein. Dass Sie sie nicht stellen, werfe ich Ihnen
vor.
({7})
Sie haben es doch in den letzten Wochen gemerkt:
Eine Zweidrittelmehrheit, wie sie jetzt notwendig ist, ist
in einem Parlament keine Selbstverständlichkeit, auch
nicht im Deutschen Bundestag. Da muss Überzeugungsarbeit geleistet werden. Da muss die Bundesregierung
endlich einmal die eigenen internen Konflikte entscheiden. Das ist Ihre Bringschuld, meine Damen und Herren.
({8})
- Herr Kauder, gehen Sie nicht davon aus, dass Ihnen die
Zustimmung zum Fiskalpakt und zum ESM einfach so in
den Schoß fällt.
({9})
Ich sage Ihnen: Gerade weil uns Europa eine Herzensangelegenheit ist, gerade weil wir in der Vergangenheit
eine Opposition waren, die mit Verantwortung umzugehen wusste,
({10})
werden wir uns die Sache nicht leicht machen.
Wir wollen ein Europa, das neues Wachstum schafft.
Wir wollen ein Europa, das Werte schöpft und nicht nur
Wurmfortsatz der Finanzmärkte ist. Ich sage Ihnen ganz
klar: Was wir nicht hinnehmen werden, ist ein Europa, in
dem jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist. Das geht
nicht, und das ertragen wir miteinander nicht.
({11})
Auf diese Fragen ist bisher keine Antwort gegeben
worden - dröhnendes Schweigen statt neuer Ideen, erhobener Zeigefinger statt ausgestreckter Hand. So geht das
in Europa nicht, und so sichern wir auf Dauer auch nicht
die notwendige Stabilität für Deutschland.
Lieber Herr Brüderle und lieber Herr Westerwelle
- Sie sind diejenigen, deren Äußerungen dazu ich gelesen habe -: Wenn Sie sich hinstellen und öffentlich
sagen, die SPD werde am Ende sowieso zustimmen
müssen, dann sage ich Ihnen: Das ist genau die Unernsthaftigkeit, mit der Sie Politik machen
({12})
und wegen der Sie im Augenblick reihenweise von den
Wählern in die Bedeutungslosigkeit geschickt werden.
({13})
Ich habe in den letzten Wochen viel mit unseren europäischen Partnern in Frankreich, Italien oder Finnland
gesprochen. Herr Schäuble, ich habe in Italien viel Aufbruch gesehen, auch die wirklich ernsthafte Bereitschaft,
neue Wege zu gehen. Aber ich sage Ihnen auch: Keiner
von meinen Gesprächspartnern war der Meinung, dass
der Fiskalpakt allein ausreicht, um Europa wieder auf
den Wachstumspfad zu bringen. Haushaltsdisziplin ist
notwendig; wem sagen Sie das? Dafür haben wir in der
Großen Koalition gesorgt und nicht Sie!
({14})
Wir haben dafür gesorgt, dass die Schuldenbremse in
diesem Land gilt.
({15})
Ich sage auch: Selbstverständlich muss das, was bei
uns gilt, auch andernorts in Europa gelten; keinen Zweifel darüber.
({16})
- Ich weiß gar nicht, was Sie haben. Arbeiten Sie sich an
denen ab, die es angeht, nicht an mir.
({17})
Fiskalpakt, Haushaltsdisziplin, Einsparung, Schulden
vermeiden, Reduzierung der Neuverschuldung - das ist
alles notwendig. Darüber herrscht gar kein Streit. Aber
Ihnen muss klar sein: Das allein ist noch keine Zukunftssicherung. Sie können nicht daran vorbeigehen: Wenn
27 Staaten in Europa gleichzeitig nichts anderes tun, als
fantasielos zu sparen, dann kann daraus kein Wachstum
entstehen.
({18})
Das ist keine rote Linie, das ist eine ökonomische Binsenweisheit, und die kann man doch nicht beiseiteschieben.
Sie müssen sagen, wie in Europa das Wachstum von
morgen entsteht. Dazu gehören Strukturreformen auf der
Ebene der Nationalstaaten, ganz zweifellos.
({19})
- Wer war das mit dem Zwischenruf? Herr Fricke,
glaube ich.
({20})
Ich weiß gar nicht, was Sie haben. Herr Fricke, ich sage
zu Herrn Schäuble, dass er recht hat: Viele Staaten haben
ein Problem mit ihrer Wettbewerbsfähigkeit.
({21})
Aber jetzt frage ich Sie: Was haben Sie getan?
({22})
Als wir in Deutschland 5 Millionen Arbeitslose hatten,
als unser Land unter der hohen Arbeitslosigkeit ächzte,
({23})
als wir hier in Deutschland nationale Strukturreformen
in Gang gesetzt haben, da haben Sie sich zurückgelehnt
({24})
und Zeitungsseiten gefüllt mit Sätzen wie: Alles zu wenig, alles zu kleine Schritte, so kann das nichts werden. 20216
Heute ruhen Sie sich auf dem aus, was andere geleistet
haben.
({25})
- Wo ist eine einzige nationale Strukturreform, die Sie
sich zuschreiben können? Keine einzige!
({26})
Als Sie gemeinsam 1998 aus der Regierung gegangen
sind, Herr Fricke,
({27})
hatten wir ein Rentenrecht, das uns auf einen Beitragssatz von 26 Prozent katapultiert hätte. Ohne uns säßen
Sie heute tief im Dreck. Seien Sie also ruhig, was die
Wettbewerbsfähigkeit angeht!
({28})
Meine Damen und Herren, ich glaube im Ernst:
({29})
Wir müssen den Menschen sagen, wo in Zukunft neues
Wachstum entstehen kann. Dazu brauchen wir nationale
Strukturreformen. Ich persönlich glaube: Es wird nicht
gehen ohne Wachstumsimpulse auch von der europäischen Ebene aus. Deshalb sage ich: Wir müssen die vorhandenen europäischen Strukturfonds voll ausschöpfen.
Beim Reden über Verwendungszweck und Kofinanzierungsregeln darf es keine Tabus geben. Wir müssen die
Ausleihkapazität der Europäischen Investitionsbank erhöhen. Wir müssen auch ernsthaft über Projektbonds reden, und wir brauchen Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Wenn Sie der
Meinung sind, das alles brauchten wir nicht, dann werden Sie die Menschen verlieren; das garantiere ich Ihnen.
({30})
Herr Schäuble, die Schaffung von finanziellen Ressourcen ist nicht einfach; das weiß ich. Wir gehören ja zu
denjenigen, die schon ein bisschen länger für die Besteuerung der Finanzmärkte eintreten. Aber ich würde, anders als Sie, sagen: Die Zahl der Unterstützer für eine
Besteuerung der Finanzmärkte hat nach meiner Wahrnehmung in den letzten zwei Jahren eher zugenommen,
international und auch national. Auf nationaler Ebene
sehe ich mit Freude, dass Sie zu den Unterstützern gehören. Ich sehe aber auch, dass die FDP nach wie vor abseitssteht, sich bei der Besteuerung der Finanzmärkte
ziert, dafür aber halbgare Vorschläge macht wie zum
Beispiel die Übernahme der britischen Stempelsteuer.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie da vorschlagen.
Das ist nämlich ein Modell, das vor allen Dingen Kleinanleger trifft, das aber gerade Derivate und andere gefährliche Finanzmarktprodukte außerhalb der Besteuerung lässt. Wer solche Vorschläge macht, der kann nicht
erwarten, dass er in Übereinstimmung mit den Erwartungen der Menschen in diesem Land handelt. Das ist meine
schlichte Analyse.
({31})
Wir werden uns jedenfalls mit der Haltung in der Regierung „Schäuble dafür und Rösler dagegen“ nicht noch
einmal abspeisen lassen. Wir kommen nur weiter, wenn
die Regierung ihre Selbstblockade bei der Besteuerung
der Finanzmärkte aufhebt. Die Finanzmarktbesteuerung
muss aus meiner Sicht kommen. Es ist jetzt an der Zeit,
sie mit konkreten Schritten vorzubereiten.
Herr Schäuble, wenn dies an Großbritannien scheitert, dann werden wir auf der EU-27-Ebene nicht handeln können. Wenn die Niederlande innerhalb der EuroZone ein Veto einlegen, dann wird es kurzfristig innerhalb der Euro-Zone nicht gehen. Ich sage nur: Es gibt
andere Wege, um politische Ziele durchzusetzen, nämlich den Weg der verstärkten Zusammenarbeit. Das ist
jetzt gefragt, wenn Sie es wirklich ernst meinen. So viel
dazu.
({32})
Des Weiteren möchte ich Ihnen sagen: Jenseits der
Fragen von Wachstum und der Reichweite der Regelungen des Fiskalpakts und des ESM gibt es zumindest aus
unserer Sicht einen rechtlichen Klärungsbedarf, der
nicht von Pappe ist. Das zeigt schon die Notwendigkeit
einer Zweidrittelmehrheit. Hier geht es um Entscheidungen, die wir zu treffen haben, die durchaus tief in die
Verfassungsordnung dieses Landes, vielleicht auch in
die Rechte des Parlaments eingreifen.
Daraus ergeben sich zentrale Fragen, auf die hoffentlich nicht nur wir eine klare Antwort brauchen: Wie verhält sich die Schuldenbremse im Fiskalpakt zur nationalen Schuldenbremse? Gibt es für Bund und Länder eine
Verschärfung der Regelungen? Wer definiert die konkreten Anforderungen für Konsolidierungspfade? Welche
zusätzlichen Verpflichtungen ergeben sich für die
Länder? Gibt es Konsequenzen für die innerstaatliche
Finanzordnung und auch für das Haushaltsrecht? Und
am Ende die Frage: Wer ist in Zukunft für eventuelle
Verstöße verantwortlich? Sie können doch nicht einfach
eine Unterstützung aus den Reihen des Bundestages erwarten, wenn diese Fragen nicht beantwortet sind. Deshalb fordere ich Sie auf - das ist mein Appell -, Antworten zu geben.
({33})
Machen Sie es sich bitte nicht zu einfach! Ich glaube, da
kann man sich nicht mit drei Sätzen aus den Ministerien
durchwursteln.
Auch Ihre Fraktionen wissen, Herr Schäuble: Bei einer Reihe von Fragen betreten wir schwieriges verfassungsrechtliches Neuland. Wir wissen, dass das Verfassungsgericht genau hinschaut, dass es die Diskussionen,
die wir hier führen, besonders intensiv verfolgt. Nichts
wäre doch peinlicher - darüber sind wir uns hoffentlich
einig -, als wenn eine Entscheidung, die wir hier mit
großer Mehrheit, vielleicht mit Zweidrittelmehrheit, fällen, anschließend vom Bundesverfassungsgericht kassiert würde. Daran kann niemand ein Interesse haben.
Deshalb erwarten wir begründete Antworten auf diese
Fragen.
({34})
All das macht klar: Was wir hier vor uns haben, ist
keine europapolitische Routineentscheidung. Es geht
nicht nur um viel Geld. Darum geht es auch, aber vor allen Dingen geht es um den künftigen Weg in Europa.
Die Frage ist, ob Politik mit den Entscheidungen, die wir
jetzt vor uns haben, wirklich Handlungsfähigkeit in
Europa zurückgewinnt oder ob wir weiter mit ängstlichem Blick auf die täglichen Ratings und mit ängstlichem Blick auf die Märkte gefesselt bleiben.
Wir werden uns unsere Entscheidung nicht leicht machen. Ich finde, auch Sie dürfen sie sich nicht leicht machen. Klarheit und Wahrheit sind jetzt gefordert. Nur
dann kann der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit
verantwortlich entscheiden. Wie genau, das liegt auch in
Ihrer Hand.
Herzlichen Dank.
({35})
Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hat
letzte Woche eine positive, ermutigende Einschätzung
der Lage im Euro-Raum abgegeben. Die Währungsunion ist aus der unmittelbaren Gefahrenzone heraus.
Die Ansteckungsgefahren haben sich merklich verringert. Das hat einiges mit der Europapolitik der christlichliberalen Koalition zu tun.
({0})
Wir haben Stein auf Stein gesetzt, Brandmauern
hochgezogen und so die Voraussetzungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit geschaffen. Diese Brandmauern schützen den Euro. Ohne die stabilitätspolitische Haltung der
deutschen Regierung wären viele Dämme gebrochen.
Ich sage nur: Euro-Bonds, diese neue Spielart von Zinssozialismus;
({1})
Banklizenz für Rettungsschirme; Notenpresse bei den
Rettungsschirmen. Das sind genau die falschen Ansätze.
Herr Draghi sagt auch: Es darf keine Transferunion geben. Recht hat er.
({2})
Europa braucht eine stabilitätsorientierte Politik. Zu
hohe Schulden sind kein Fundament für eine gute wirtschaftliche Entwicklung. Ohne stabiles Geld ist ökonomisch Vernünftiges nicht erreichbar. Stabiles Geld ist die
Geschäftsgrundlage unserer Demokratie. Am Beginn
und Ende der unseligsten Zeit der deutschen Geschichte
standen Geldentwertung, Inflation. Das sollten wir im
Hinterkopf behalten.
({3})
Inflation bedeutet Umverteilung von unten nach oben.
Geldwertstabilität ist stille Sozialpolitik. Diese stabilitätsorientierte Politik wird bei uns umgesetzt. Auch in
Europa greift sie. Der Süden Europas macht sich auf den
Weg, ähnlich vorzugehen. Unsere Vorstellungen werden
umgesetzt. Wichtige Reformen werden umgesetzt,
Haushalte konsolidiert, Märkte geöffnet und Beschäftigungshürden abgebaut. Auch Irland berappelt sich. Ich
warte nur noch darauf, dass linke Spruchbeutel wie
Cohn-Bendit sagen, dass neoliberale Talibane am Werk
sind, die das bewerkstelligen.
Wachstum ohne Reformen gibt es nicht. Deshalb nehmen sich die Vernünftigen in Europa Deutschland als Vorbild. Nur Herr Gabriel macht das anders. Er trifft sich mit
François Hollande. Dieser will 75 Prozent Spitzensteuersatz, und er will den Fiskalpakt schleifen. Das hat selbst in
der SPD Kopfschütteln ausgelöst. Herr Steinbrück spricht
von einer naiven Vorstellung Hollandes. Herr Gabriel jubelt das hoch. Das zeigt: Sie ticken falsch mit Ihrer Politik.
({4})
Kollege Steinmeier muss sich fast täglich selbst verleugnen. Steinmeier hat die Zeitarbeit flexibilisiert, er
hat den Spitzensteuersatz gesenkt, er hat die Rente mit
67 unterstützt, er hat die Hartz-Reformen entworfen und
umgesetzt. Herr Gabriel kassiert alle diese Themen wieder ein, Herr Steinmeier muss permanent eine Kröte von
Gabriel nach der anderen schlucken. Er muss durch all
die Kröten von Gabriel Halsschmerzen haben.
({5})
Mit der SPD würde Deutschland wieder in eine Rezession hineinsteuern. Schuldenumverteilung, Steuererhöhungen, so sieht Ihr Programm aus. Sie schlingern,
wenn es um Sachfragen geht. Zuerst haben Sie die Griechenland-Hilfe abgelehnt, dann sind Sie eingeschwenkt,
dann drohen Sie mit einem Nein zum Fiskalpakt. Jetzt
wollen Sie Kopplungsgeschäfte machen. Der Europäische Stabilitätspakt eignet sich nicht zum Basar. Staatspolitische Verantwortung ist gefordert und nicht der billige Jakob.
({6})
Herrn Steinmeier will ich nicht absprechen, dass er
sich um staatspolitische Verantwortung bemüht. Aber
Herr Gabriel hintertreibt dies. Die Süddeutsche Zeitung
hat gestern offenbart, dass mit SMS-Anweisungen und
Wortgefechten der Kurs von Herrn Steinmeier hintertrieben wird. Mit Textmitteilungen gegen den Fiskalpakt
werden Sie keine zukunftsorientierte Politik betreiben
können. Dass Sie kräftig Schuldenpolitik betreiben, kann
man ja in Nordrhein-Westfalen sehen. Der Haushalt dort
ist verfassungswidrig. Dort machen Sie Schulden, dass
es kracht.
({7})
Herr Gabriel will noch die Schulden der Kommunen
vergemeinschaften. Es fehlt nur noch, dass Herr Gabriel
in Dortmund und Essen die Akropolis originalgetreu
nachbauen will.
({8})
Herr Thierse weiß, wie man das finanziert: Mit einem
Ruhr-Soli will er diese Schulden finanzieren. Es bestätigt sich der alte Satz: Fällt den Sozis etwas ein, muss es
eine neue Steuer sein.
({9})
Ähnlich verhält es sich mit der Finanztransaktionsteuer. Es geht Ihnen doch gar nicht darum, Spekulationen einzudämmen. Sie wollen nur mehr Geld für neue
Konjunkturprogramme kassieren. „Rasen für die Rente“
kennen wir schon. Jetzt wollen Sie „Spekulieren für
mehr Seifenblasenprogramme in Griechenland“. Das ist
die neue Strategie.
({10})
Wir brauchen gangbare Lösungen und keinen Sozialpopulismus. Es gibt zwei Hauptfaktoren dafür, dass wir
keinen optimalen Währungsraum haben. Erstens ist die
Arbeitskräftemobilität zu schwach ausgeprägt, und
zweitens fehlt eine politische Union. In der Tat gibt es
eine erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und anderen Ländern, aber da können wir ein Stück
helfen, indem wir die Mobilität erhöhen. In Deutschland
haben wir einen Mangel an Auszubildenden, und wir
brauchen Fachkräfte, um die Voraussetzungen für die
Zukunft zu schaffen. Wenn wir Europa ernst meinen,
müssen wir auf dem Arbeitsmarkt entsprechende Mobilität ermöglichen.
({11})
Die politische Union ist die größere Herausforderung.
Wir haben damals mit dem Stabilitätspakt Hilfskonstruktionen geschaffen; diesen hat Grün-Rot zerrissen. Herr
Monti hat gestern zu Recht herausgestellt, dass GrünRot und Frankreich dies zerrissen haben. Er sagte wörtlich:
Wenn der Vater und die Mutter der Euro-Zone die
Regeln verletzen, kann man natürlich nicht erwarten, dass sich Griechenland daran hält.
So Monti. Er weiß, wovon er redet. Er hatte als Kommissar mit dem Monti-Plan ein Konzept vorgelegt, in dem
dargelegt wird, wie man Wachstum generieren kann.
Dies macht man, indem man den Binnenmarkt reguliert,
und nicht, indem man schuldenfinanzierte neue Konjunkturprogramme, Strohfeuerprogramme auflegt. Wir
müssen die Wettbewerbsfähigkeit stärken; so stärken wir
aus der Substanz heraus Europa. Das ist der zielführende
Weg. Das muss umgesetzt werden und nicht das, was Sie
und Hollande sich vorstellen.
({12})
Wir müssen jetzt einen Stabilitätspakt II schaffen. Darum geht es heute. Der ESM ist dabei ein zentrales Element. Er wird aber erst in Jahren seine volle Schlagkraft
entfalten. Die Mittel werden in Raten eingezahlt. Es ist
ein eigenkapitalunterlegtes Konzept. Diese Verzögerung
der vollen Wirkung können wir nur verhindern, indem
wir bereits belegte Mittel der EFSF bestehen lassen. Wir
erleichtern damit den Übergang zwischen den beiden
Rettungsschirmen. Die EFSF wird sich sozusagen über
die Zeit auswachsen und dann voll in die Wirkungsmechanismen des ESM hineinstrahlen. Das ist ein starkes Signal an die Märkte und an den IWF, dass er sich
auch weiter hälftig an dem Konzept beteiligt.
({13})
- Ja, er übernimmt die Hälfte. Sie wollen das wohl nicht
verstehen, Herr Poß. Das macht aber nichts. Es ist trotzdem richtig.
({14})
Ich zitiere:
Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muss
man ihr Geldwesen verwüsten.
Das, Herr Gysi, hat der Genosse Lenin erklärt.
({15})
Insofern ist wichtig, dass die bürgerliche Koalition aus
CDU/CSU und FDP nicht zulässt, dass unser Geld instabil wird. Wir stehen für Stabilität, soziale MarktRainer Brüderle
wirtschaft und ein starkes Europa. Schulden, Arbeitslosigkeit und Inflation sind rot-grün und dunkelrot.
Wachstum, Stabilität und Beschäftigung sind schwarz
und gelb. Deshalb ist unser Kurs richtig.
({16})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Brüderle, ich staune, dass Sie Lenin intensiver gelesen
haben als ich.
({0})
Der EU-Gipfel am 30. Januar 2012 hat den Fiskalvertrag für 17 Euro-Staaten und acht weitere Staaten mit
Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens beschlossen. Der Vertrag soll bis zum 1. Januar 2013 ratifiziert
werden. Aber er ist kein gewöhnlicher Vertrag der Europäischen Union, sondern er befindet sich außerhalb des
EU-Rechts. Es geht um verbindliche Regelungen für die
Staaten zum Schuldenabbau, um die sogenannte Schuldenbremse in den Staaten, um Sanktionen gegen Staaten,
die gegen Regelungen verstoßen. Mithin geht es um
deutliche Einschränkungen der Budgethoheit der Staaten
und ihrer frei gewählten Parlamente. Dieser Vertrag wird
die Situation in den EU-Staaten grundlegend verändern,
auch und in besonderer Weise in Deutschland.
Zunächst zur Frage des Grundgesetzes. Im Vertrag ist
keine Kündigungsmöglichkeit vorgesehen. Dann ist eine
Kündigung nur nach Völkervertragsrecht, das heißt nach
der Wiener Vertragsrechtskonvention zulässig. Die dort
geregelten Voraussetzungen wie die Unmöglichkeit der
von Deutschland geforderten Leistung oder die grundlegende Änderung sämtlicher Umstände werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals eintreten. Damit bliebe nur die Möglichkeit, dass sich alle
Unterzeichnerstaaten auf eine Aufhebung verständigten eine Variante, über die wir ebenso wenig nachzudenken
brauchen.
Die Unkündbarkeit des Vertrages bedeutet, dass die
Artikel, die bei uns die sogenannte Schuldenbremse regeln, die uns an EU-Recht und Sanktionen binden - die
Art. 109, 115 und 143 d des Grundgesetzes -, niemals
mehr verändert werden dürfen; ansonsten würde der Fiskalpakt verletzt werden. Das Grundgesetz regelt aber in
Art. 79 Abs. 1 und 2 die Zulässigkeit und die Bedingungen für die Änderung des Grundgesetzes. Eine Ausnahme bildet das Verbot von bestimmten Änderungen
des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 3; dazu später.
Die Art. 109, 115 und 143 d des Grundgesetzes zur
Schuldenbremse und zu den anderen genannten Fragen
fallen nicht unter die Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 3
Grundgesetz. Ihre Änderung ist also nach Art. 79 Abs. 1
und 2 des Grundgesetzes zulässig. Wenn das Grundgesetz aber die Zulässigkeit der Änderung dieser Artikel
ausdrücklich zulässt und ein zu ratifizierender Vertrag
diese Möglichkeit dann tatsächlich ausschließt, ist der
Vertrag grundgesetzwidrig.
({1})
Es gibt einen weiteren, vielleicht noch wichtigeren
Punkt. Jeder Staat darf nach dem Vertrag nur Schulden
in Höhe von 60 Prozent seiner Wirtschaftsleistung haben. Wir aber haben Schulden von 83 Prozent unserer
Wirtschaftsleistung, nämlich über 2 000 Milliarden Euro.
Wir werden durch den Vertrag verpflichtet, den überschießenden Betrag von etwa 500 Milliarden Euro jährlich um 5 Prozent abzubauen. Das heißt, der Bundestag
wird völkerrechtlich gezwungen, 20 Jahre lang jeweils
25 Milliarden Euro an Schulden abzubauen. Trotzdem
dürfen wir noch eine Neuverschuldung von zunächst
0,5 Prozent und dann nur noch von 0,35 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes beschließen. Es handelte sich
um 12 bzw. knapp 9 Milliarden Euro.
Die Regelung einer Neuverschuldung von 1 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes gilt nur für gering verschuldete Staaten, also nicht für Deutschland.
Kommt es zu der berechneten Neuverschuldung, dann
ist ja auch dieser Betrag eine überschüssige Schuld und
erhöht die abzubauenden 5 Prozent, sodass es dann um
mehr als um 25 Milliarden Euro Schuldenabbau pro Jahr
geht. Das alles greift tief in die Budgethoheit des Bundestages ein.
Zusätzlich hat dann ja noch die EU-Kommission zu
prüfen, ob die Kriterien des Vertrages eingehalten wurden und kann Korrekturen und, wie auch Herr Schäuble
gesagt hat, verbindlich geregelte Strafen festlegen. Der
Europäische Rat, der aus den Regierungschefs besteht,
kann nur mit qualifizierter Mehrheit solche Festlegungen
wieder aufheben. Für Griechenland wird es diese qualifizierte Mehrheit nie geben, für Deutschland vielleicht
gerade noch.
Hier wird nicht nur europäisch in die Haushaltshoheit
der Staaten eingegriffen, sondern die Regierungschefs
werden auch noch über die Parlamente gestellt, was
unser Grundgesetz ebenfalls ausschließt.
({2})
Die Kernfrage im Verhältnis zum Grundgesetz ist
folgende: Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz regelt, dass
bestimmte Teile des Grundgesetzes nie verändert werden
dürfen. Dazu gehören die Grundsätze des Art. 20 Grundgesetz. Aus ihnen ergibt sich, dass die Staatsgewalt von
unserem Volk ausgeht und dass nur die im Grundgesetz
geregelten Organe für Gesetzgebung zuständig sind. Es
ist eine bestimmte demokratische Ordnung festgelegt.
Das schließt nach allen Kommentaren die Budgethoheit
des Bundestages ein. Im Lissabon-Urteil vom 30. Juni
2009 bestimmte das Bundesverfassungsgericht diese
Verfassungsidentität wörtlich wie folgt:
Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören … Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme …
des Bundes.
Herr Präsident, Frau Bundeskanzlerin, meine Damen
und Herren von Union, SPD, FDP und Grünen, mit diesem Vertrag beginnen Sie die Gründung einer europäischen Föderation, der Vereinigten Staaten von Europa,
und zwar über eine Fiskalunion. Das aber lässt das
Grundgesetz so nicht zu, wie man im Lissabon-Urteil
des Bundesverfassungsgerichts nachlesen kann.
({3})
Dafür gäbe es nur einen Weg, nämlich den, endlich
Art. 146 Grundgesetz zu erfüllen, also das Grundgesetz
durch eine durch Volksentscheid angenommene Verfassung zu ersetzen. Dann müssten wir einen neuen Verfassungsentwurf erarbeiten, in den natürlich wichtige
Bestandteile des Grundgesetzes übernommen werden
müssten, und ihn dem Volk zur Entscheidung vorlegen.
Undemokratisch haben Sie, Herr Schäuble, zu einem
Gespräch über den Fiskalvertrag nur Union, SPD, FDP
und Grüne eingeladen. Die waren mit unserer Ausgrenzung wie immer einverstanden. Vielleicht lohnte es sich
auch für Sie, über diese Verfassungsfragen ernsthaft
nachzudenken.
({4})
Höchstwahrscheinlich werden Sie meine diesbezüglichen Ausführungen ignorieren, aber es könnte sein,
dass wir das eines Tages, dann aber alle zusammen, sehr
teuer bezahlen müssen.
Über föderative europäische Strukturen darf man
selbstverständlich nachdenken, aber dann muss es sich
um ein soziales, ein freiheitliches, ein demokratisches
und ein ökologisches Europa der Bevölkerungen handeln.
({5})
Sie aber zerstören in Europa den Sozialstaat. Sie zerstören wichtige demokratische Grundsätze, einschließlich
der Rechte des Europaparlaments. Sie bauen ein Europa
für die Banken und Hedgefonds und nicht für die Bevölkerungen.
({6})
Alle anderen Fraktionen sprechen absichtsvoll und
falsch von einer Staatsschuldenkrise. Hier findet aber
eine Verwechslung der Ursachen mit den Folgen statt.
Die Ursache ist ganz eindeutig die Bankenkrise. Hier in
Deutschland mussten wir einen Rettungsschirm von
480 Milliarden Euro aufstellen.
Der EU-Wettbewerbskommissar Almunia - falls Sie
mir nicht glauben - stellte jetzt fest: Allein von 2008 bis
2010 haben die EU-Staaten mehr als 1 600 Milliarden
Euro bzw. 13 Prozent ihrer gesamten Wirtschaftsleistung, also der Wirtschaftsleistung der 27 EU-Staaten, für
die Rettung von Banken ausgegeben. Aber Sie sprechen
von einer Staatsschuldenkrise, damit die Leute glauben,
sie hätten zu viel verbraucht oder, wie Frau Merkel sagt,
über ihre Verhältnisse gelebt. Sie wollen die Banken,
Hedgefonds und Spekulanten aus dem öffentlichen Blick
verdrängen. Das können wir nicht zulassen.
({7})
Wenn man an diese Summen denkt, die für Banken
zur Verfügung gestellt bzw. einfach so verschenkt wurden, und jetzt dieses Affentheater wegen einer Bürgschaft von 70 Millionen Euro für 11 000 und mehr
Beschäftigte des Schlecker-Unternehmens erlebt, damit
diese in eine Auffanggesellschaft überführt werden können, dann ist das wirklich unerträglich und nicht hinnehmbar.
({8})
Was entscheiden Sie weiter? Sie wollen jetzt die europäischen Rettungsschirme zusammenlegen, was Sie früher immer abgelehnt haben. Dann handelt es sich um
einen Betrag von 700 Milliarden Euro. Die deutschen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften dann für bis
zu 400 Milliarden Euro.
Jetzt kommt aber die OECD und sagt: 700 Milliarden
Euro reichen nicht aus. Der Betrag muss aufgestockt
werden auf 1 Billion Euro. - Dann hafteten wir übrigens
schon für fast 600 Milliarden Euro; das möchte ich nur
nebenbei einmal sagen. Dann tun Sie so, als ob der Haftungsfall nicht eintritt. Aber ich sage Ihnen: Dieser
kommt schneller und unerwarteter, als Sie das jetzt glauben. Die ganze Entwicklung spricht dafür.
Dann frage ich Sie: Wie wollen Sie das eigentlich
bezahlen? Wovon eigentlich? Wollen Sie einen ganzen
Bundeshaushalt ausfallen lassen? Wollen Sie alle Einrichtungen schließen? Merken Sie eigentlich noch, welche irrealen Absurditäten Sie festlegen und unterschreiben? Es ist doch überhaupt nicht verantwortbar, was auf
dieser Schiene passiert.
({9})
Wissen Sie, was mich am meisten stört? Dass die
Banken und Hedgefonds aufgrund Ihrer Politik nicht das
geringste Risiko eingehen. Wenn die Deutsche Bank und
andere riesige Profite machen, verteilen sie die an ihre
Großaktionäre und in Form von Boni an ihre leitenden
Angestellten. Aber wenn sie Verluste machen? Na und!
Das bezahlen alles die deutschen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler. Die Banken haben nichts damit zu tun. Sie
haften noch nicht einmal für ihre schlechte Politik. Ich
finde das nicht hinnehmbar.
({10})
Erklären Sie das einmal den Bürgerinnen und Bürgern, den Handwerkerinnen und Handwerkern sowie
sämtlichen Wirtschaftsunternehmen, die für alle Verluste
haften müssen, nur die Banken und die Hedgefonds
nicht. Dafür haben wir immer die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die alles übernehmen.
Nein, das ist nicht länger hinnehmbar. Wirklich wahr,
Sie haben sich erpressbar gemacht durch die Banken.
Deshalb sage ich: Sie müssen verkleinert werden. Wir
müssen uns endlich auch eine Insolvenz einer Bank leisten können. Das Sparguthaben der Bürgerinnen und Bürger können wir trotzdem retten. Aber wir müssen die
Banken nicht mehr retten.
({11})
Dann müssen wir die Banken öffentlich-rechtlich gestalten, und dann hätten wir die Sache im Griff, Herr
Kauder, aber nicht mit Ihrer Politik.
({12})
Erklären Sie mir doch einmal, warum die Europäische
Zentralbank - übrigens auch wieder durch Steuergelder
finanziert - den großen privaten Banken 1 Billion Euro
für drei Jahre zu 1 Prozent Zinsen zur Verfügung gestellt
hat. Dann hätten Sie das Geld den Banken auch gleich
schenken können. Es ist doch geradezu absurd, was dort
getrieben wird. Wenn die jetzt Kredite an Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland vergeben, verlangen
sie mindestens 4 Prozent Zinsen, meistens mehr. Durch
eine Überweisung machen die einen Riesengewinn.
Wieso eigentlich? Warum können wir nicht in solchen
Situationen sagen: „Dann machen wir das doch lieber
direkt mit einer öffentlich-rechtlichen Bank und geben
Staaten in Notsituationen zinsgünstig Kredite“? So
würde man nicht noch für einen Verdienst von Banken
und Hedgefonds sorgen, wie Sie das organisieren.
({13})
Wir müssen die Finanzmärkte endlich regulieren. Wir
brauchen weder Leihverkäufe noch Hedgefonds; das
alles brauchen wir nicht. Banken müssen reine Dienstleister für die Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger werden. Davon sind sie heute meilenweit entfernt.
({14})
Da Sie immer von der Schuldenbremse reden, schlage
ich Ihnen eine Millionärsteuer als Schuldenbremse vor.
Was haben Sie eigentlich dagegen? Weshalb müssen die
Handwerker, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die Rentnerinnen und Rentner und selbst die Hartz-IVEmpfänger das Ganze bezahlen, aber die Vermögenden
bleiben mit ihrem Vermögen vollständig verschont? Sie
müssen davon nicht einen Euro abgeben.
Zwei Beispiele. 2 000 griechischen Familien gehören
80 Prozent des gesamten Vermögens Griechenlands.
Davon müssen sie nicht einen einzigen Euro für die
ganze Krise zahlen. Das erklären Sie einmal den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Rentnerinnen und Rentnern in Griechenland.
({15})
Schauen wir nach Deutschland. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung besitzen ein Vermögen von 3 Billionen Euro. Die gesamten Staatsschulden von Bund,
Ländern und Kommunen liegen bei 2 Billionen Euro.
Dann sagen Sie aber diesen 10 Prozent: Um Gottes Willen, von euch wollen wir keinen halben Cent! Wir streichen lieber das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger,
bevor wir von euch auch nur einen Euro nehmen.
Herr Steinmeier, Sie haben sich hier hingestellt und
gesagt, die FDP stecke heute deshalb nicht im Dreck,
weil Sie mit der Agenda 2010 eine unsoziale Politik
gemacht haben. Seien Sie doch als SPD nicht auch noch
stolz darauf! Sie haben damit übrigens auch noch die
Binnenwirtschaft geschwächt.
({16})
Abgesehen davon ist Ihre Aussage falsch; denn die FDP
steckt ja nun besonders im Dreck.
Kommen wir zu Griechenland. Griechenland ist der
Vorreiter für eine verheerende, sozial zerstörerische
europäische Politik. Kein Rettungsschirm hat bisher
einer Griechin oder einem Griechen etwas genutzt, nur
den Banken und Hedgefonds. Dazu nur ganz wenige
Zahlen: Seit drei Jahren gibt es bei den Investitionen
einen Rückgang von 50 Prozent. Die Arbeitslosigkeit
liegt jetzt bei 21 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit in
Griechenland liegt jetzt bei 50 Prozent. Es gibt weniger
Steuereinnahmen. Es gibt ein Minuswachstum. Es ist ein
Schuldenanstieg von 50 Milliarden Euro zu verzeichnen.
Die Schulden Griechenlands machen nicht mehr 130,
sondern jetzt 170 Prozent der Wirtschaftsleistung aus.
Was soll das? Wo bleibt denn endlich ein Marshallplan zum Aufbau des Landes? Die Gelder aus dem Rettungsfonds gibt es jetzt nur, wenn der Mindestlohn von
751 auf 586 Euro pro Monat reduziert wird, wenn die
Löhne um 22 Prozent gesenkt werden, wenn in diesem
Jahr 15 000 Leute aus dem öffentlichen Dienst und bis
2014 150 000 Leute entlassen werden. In den nächsten
drei Jahren werden die Renten um 14 Milliarden Euro
gekürzt. - Nein, das, was dort passiert, ist nicht mehr
nachvollziehbar. Wollen Sie, dass das Land verelendet?
Woher sollen denn Steuereinnahmen kommen, mit
denen die Kredite zurückgezahlt werden? Das ganze
Geld ist doch in den Sand gesetzt.
Ich glaube, dass Sie Griechenland zahlungsunfähig
machen und aus dem Euro drängen wollen; Bundesminister Friedrich hat das schon gesagt. Ich kann Ihnen
nur sagen: Wenn die amerikanischen Ratingagenturen,
die den Euro nicht mögen, weil Saudi-Arabien und
China anfangen wollten, in den Euro und nicht mehr in
den Dollar zu investieren, feststellen, dass es Ihnen
gelungen ist, Griechenland aus dem Euro zu drängen,
dann greifen sie sich Portugal. Dann ist der Euro zerstört. Die deutsche Wirtschaft verkauft am meisten in die
Euro-Länder. Stellen Sie sich einmal vor, was geschehen
würde, wenn die europäischen Länder wieder nationale
Währungen hätten und diese abwerten würden, sodass
wir immer weniger verkaufen könnten: Dann bricht doch
unsere Wirtschaft zusammen. Was richten Sie hier
eigentlich an? Das ist wirklich nicht nachvollziehbar.
({17})
Darf ich nur daran erinnern, dass Griechenland der
Erfinder der Demokratie ist, dass wir Griechenland die
größten Philosophen der Antike verdanken, von denen
wir alle noch heute zehren?
Herr Kollege, Sie wissen, dass Sie diese nicht einzeln
mit ihren wichtigsten Werken vorstellen können.
Das verstehe ich. Ich höre auf. Ich fange nicht noch
an, die Philosophen zu zitieren. Das würde die meisten
hier überfordern. Das lasse ich weg.
({0})
- Ich danke für Ihre Bestätigung.
({1})
Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, uns auszugrenzen. Es
lohnt sich, über all das, was ich gesagt habe, zu diskutieren und nachzudenken. Wenn Sie schon früher auf
unsere Argumente gehört hätten, wären wir jetzt nicht in
einer so verdammt schwierigen, fast schon elenden
Situation.
Danke.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Gregor Gysi, vielleicht würden Ihnen mehr zuhören,
wenn Sie diejenigen, von denen Sie Aufmerksamkeit erwarten, nicht einfach pauschal für blöd erklärten.
({0})
Ich will mit einem Zitat anfangen:
„Der ESM bleibt bei 500 Milliarden Euro, also
keine dauerhafte und unkalkulierbare Erhöhung der
Fonds“, sagte Merkel am Freitag nach dem Spitzengespräch mit der deutschen Wirtschaft in München.
Sie fügte hinzu:
„Ich finde das auch ausgesprochen wichtig.“
Das ist eine dpa-Meldung vom 16. März 2012.
Am 14. Dezember 2011 haben Sie hier im Hause eine
Regierungserklärung abgegeben. Da haben Sie erklärt
- ich zitiere -:
Die konsolidierte Obergrenze von EFSF plus ESM
wird bei 500 Milliarden Euro liegen.
Meine Damen und Herren, wir wissen: Das war nicht
die Wahrheit; die Schutzmauer wird größer werden. Ich
könnte nun sagen: Sie agieren erneut nach dem Motto
„Was schert mich mein Geschwätz von gestern?“.
({1})
Ich könnte mich lustig darüber machen, dass Alexander
Dobrindt erklärt hat, über solche Aufstockungen würde
er nicht einmal reden. Aber die schlimme Nachricht für
Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist: Ich habe Ihnen das schon
damals nicht geglaubt. Ich halte Sie für intelligent, und
ich halte Sie für zu intelligent, Ihre eigene Propaganda
zu glauben. War es eigentlich wirklich klug, den Bürgerinnen und Bürgern diese Wahrheit vorzuenthalten? Ist
es klug, nach wie vor die Folgen dieser Wahrheit den
Bürgerinnen und Bürgern gegenüber zu leugnen?
Selbstverständlich ist: Wenn Sie die „Brandmauer“,
wie Herr Brüderle es genannt hat, erhöhen, wenn Sie
dieses Aufblähen fortsetzen, wächst das Haftungsvolumen, das wir, die Bundesrepublik Deutschland, einzugehen haben; es wächst auf rund 400 Milliarden Euro. Es
schaffen wohl nur ein Herr Seehofer oder ein Herr
Kauder, uns weiszumachen, dass 400 genauso viel wie
211 seien.
({2})
Aber Sie glauben ja auch, dass es in Europa noch
keine Vergemeinschaftung von Schulden gibt, ungeachtet von 213 Milliarden Euro maroder Staatsanleihen, die
mittlerweile bei der Europäischen Zentralbank liegen.
Wissen Sie, was Ihren Umgang mit Zahlen und der
Wahrheit angeht, kann ich nur sagen: Sie leiden an politischer Dyskalkulie, an einer chronischen Rechenschwäche.
({3})
Dabei ist das gar nicht nötig gewesen. Es ist doch gut,
dass die Wahrheit jetzt auf dem Tisch liegt. Ja, es ist bitter, dass wir einen Rettungsschirm aufspannen müssen;
aber es ist richtig. Wenn die Hose nicht nass werden soll,
dann muss der Schirm auch groß genug sein. Das, was
Sie gemacht haben, ist aber etwas anderes. Sie wollen
heute mit der ersten Lesung sowohl des Gesetzentwurfs
zum ESM wie zum Fiskalpakt ein Junktim aufbauen.
Wir sagen Ihnen: Wir werden diesen Europäischen Stabilitätsmechanismus brauchen, weil wir quasi einen europäischen Währungsfonds brauchen, damit die Spekulation gegen unsere gemeinsame Währung abgewehrt
wird. Sie sollten dazu stehen. Aber Sie können nicht
dazu stehen, weil sowohl die CSU wie die FDP nicht zu
Europa stehen. Das ist der Grund, warum dieses permanente Geeiere mit den neuen Zahlen und Ähnlichem an
dieser Stelle passiert.
({4})
Sie haben versucht, selbst den ESM als geheime Kommandosache am Bundestag vorbei zu organisieren. Das
wird Ihnen das Bundesverfassungsgericht weghauen.
Nun machen Sie etwas anderes. Nun bauen Sie, weil
Sie mit der Solidarität in Europa Spielchen spielen, ein
neues Junktim auf. Ich sage Ihnen: Es ist ein dummes
Junktim.
({5})
Wir bekommen mit dem Fiskalpakt, dessen Vorgabe
der Schuldenbremse übrigens nicht einmal mehrheitlich
in den Verfassungen der anderen Staaten verankert werden wird, ein symbolisches Versprechen, dass man die
Neuaufnahme von Schulden begrenzen will. Aber das,
was Sie uns als „Stabilitätspakt mit Zähnen“ verkündet
haben, ist und bleibt mehr oder weniger symbolisch; es
erinnert eher an ein Kukident-Gebiss.
Aber was für einen Sinn macht es eigentlich, heute zu
sagen: „Wir können den ESM und den Fiskalpakt nur
zusammen ratifizieren“? Wenn es richtig ist, dass
Deutschland bei einem Scheitern des Euro der Hauptverlierer wäre, dann führt an dem ESM kein Weg vorbei. Es
ist völlig gleichgültig, ob und wann wir an dieser Stelle
den Fiskalpakt ratifizieren. Wir müssen heute den Europäischen Stabilitätsmechanismus auf den Weg bringen.
Wenn es gutgeht, dann gelingt es uns auch, eine Verabredung über eine Schuldenbegrenzung zu erreichen.
Damit Sie mich nicht missverstehen: Eine verantwortungsvolle gemeinsame Haushaltspolitik bzw. eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa ist
mehr als überfällig. Aber Sie benutzen diese Verabredung als weiße Salbe, als Placebo, als Vademecum für
diejenigen in Ihren eigenen Reihen, die Schwierigkeiten
haben, zu den Notwendigkeiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu stehen.
Was wir heute tun müssen, ist, aus dieser Verabredung
zur Begrenzung von neuen Schulden eine auch ökonomisch und politisch runde Sache zu machen. Wir müssen
auch und gerade die Defizite des Fiskalpaktes korrigieren.
Die erste Frage dabei ist: Macht ein Fiskalpakt ohne
Frankreich eigentlich Sinn? Frankreich hat erklärt, dass
dieser Fiskalpakt, egal wer regiert, erst im Herbst ratifiziert wird; zu welchen Bedingungen, ist vor den Wahlen
völlig unklar. Wollen wir als Deutscher Bundestag dafür
einfach einen Blankoscheck ausstellen? Ich halte das
nicht für klug.
({6})
Wir sollten neben der Verabredung zu Stabilität einen
Anstoß für Wachstum und Investitionen geben. Denn nur
mit Sparen kommt Europa nicht aus der Krise. 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit: Das ist keine europäische
Stabilität, meine Damen und Herren. Europäische Stabilität beruht auch und gerade auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Dauerhafte Massenarbeitslosigkeit wird dieses Europa zerstören.
({7})
Nein, wir brauchen die Besteuerung von Finanztransaktionen. Eine Stempelsteuer, die Aktien besteuert, Derivate aber nicht, ist ein schlechter Witz, lieber Herr
Brüderle.
({8})
Wir brauchen mehr Investitionen in Europa. Deswegen
müssen die Eigenmittel der Europäischen Investitionsbank aufgestockt werden. Wir brauchen eine Investitionsoffensive für nachhaltige Infrastruktur und zukunftsfähige Jobs.
Wir müssen auch endlich anfangen, nicht nur neue
Schulden zu begrenzen, sondern alte Schulden abzubauen. Was ist mit dem Vorschlag Ihres eigenen Sachverständigenrates zu einem Schuldentilgungspakt?
Mit diesen Maßnahmen wird aus dem Fiskalpakt etwas Vernünftiges und Rundes. Europa muss raus aus der
Schuldenfalle. Wir müssen neue Schulden begrenzen.
Wir müssen alte Schulden abbauen. Wir müssen Spekulationen begrenzen, und wir müssen in nachhaltiges
Wachstum investieren.
Das müssen wir jetzt auf den Weg bringen. Dafür haben wir bis zum Jahresende Zeit, aber vorher müssen wir
den ESM ratifizieren.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ja, wir erleben heute einen ganz besonderen Tag im
deutschen Parlament: Wir sollten uns bewusst sein, dass
heute zwei Gesetzespakete in die parlamentarische Beratung eingebracht werden, die für die Stabilität des Euro,
für die Stabilität Europas und für die Zukunft Europas
von entscheidender Bedeutung sind.
({0})
Es handelt sich nicht um eine rein nationale, politisch
umstrittene Frage, sondern es geht hier - ich akzeptiere
sehr wohl, dass dies auch von der Opposition so gesehen
wird - um mehr als um eine innenpolitische Diskussion.
Auch deswegen ist es völlig klar, dass die Verantwortung, die jede Fraktion für diese Aufgabe hat, nicht irgendwelchem politischen Kalkül untergeordnet werden
kann. Deshalb, sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier,
hätten Sie allen Grund, hier nicht nur zu erklären, wo aus
Ihrer Sicht angeblich Probleme bestehen. Ich hätte schon
erwartet, dass Sie nicht nur Hinweise darauf geben, dass
es innerhalb der Regierung an dem einen oder anderen
Punkt unterschiedliche Auffassungen gibt. Diese gibt es
eigentlich nicht; darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen.
({1})
- Ich glaube, gerade Sie haben keinen Grund, zu lachen.
Der Kollege Gabriel ist schon gar nicht mehr da. Sie haben ein riesengroßes Problem, zwischen staatspolitischer
Verantwortung und SPD-parteipolitischem Kalkül zu
entscheiden. Das ist Ihr Thema.
({2})
Insofern kann ich nur hoffen, dass sich die Vernunft und
das Verantwortungsbewusstsein, das ich in der Rede von
Frank-Walter Steinmeier gespürt habe, durchsetzen können und nicht das, was der Parteitaktiker Gabriel macht.
({3})
- Da brauchen Sie gar nicht so zu stöhnen. Ich kann
nichts dafür, dass heute auf Seite 1 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung steht, dass Sie sich offen darüber streiten. Es ist kein gutes Signal, wenn man einen solchen
Streit öffentlich austrägt, obwohl man Verantwortung für
die Stabilität in Europa trägt. Das muss man auch einmal
klar und deutlich sagen.
({4})
Deswegen kann ich nur hoffen - das hat auch der Kollege Trittin gesagt -, dass gesehen wird, dass es hier um
eine gemeinsame Position für unser Europa geht.
Ein weiteres Thema. Wir haben uns in dieser Woche
darüber unterhalten, wie wir diese beiden Gesetzespakete
miteinander diskutieren und beraten. Die Vorstellung der
Koalition war, dass wir Ende Mai mit den Beratungen
zum Abschluss kommen können. In der Opposition bestand der Wunsch, dass vielleicht noch etwas mehr Zeit
zur Verfügung gestellt wird, dass die Entscheidungen bis
Mitte Juni getroffen werden. Kaum hatten wir das gemeinsame Beratungszimmer verlassen, habe ich gelesen,
dass gefordert wird, die Entscheidungen vielleicht doch
erst Ende des Jahres zu treffen. Dazu will ich sagen: Wenn
wir als Koalition auf die Opposition zugehen und gemeinsam etwas verabreden, dann sollte das länger halten als
bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Fuß das Beratungszimmer verlässt.
({5})
Wir müssen uns schon an das gemeinsam Vereinbarte
halten.
Herr Kollege Trittin, eine widersprüchliche Aussage
kann nicht zum Programm gemacht werden. Sie haben
gesagt, man könne die beiden Pakete auch voneinander
trennen, und gefragt: „Warum muss der Fiskalpakt zusammen mit dem ESM beraten werden?“
({6})
Kaum hatten Sie diesen Satz ausgesprochen, redeten Sie
davon, dass Deutschland seine Führungsrolle ernst nehmen soll. Deswegen muss von dieser Entscheidung in
Deutschland ein Signal ausgehen. Wir stehen zu den
Dingen, und die anderen werden uns folgen. Unsicherheit darf allerdings nicht instrumentalisiert werden. Daher müssen die beiden Pakete zusammen behandelt werden, und dafür werbe ich.
({7})
Wir waren uns in dem Gespräch auch darin einig,
dass wir die Finanzmärkte beteiligen wollen. Wolfgang
Schäuble hat ausführlich erklärt, was alles von ihm und
von der Bundeskanzlerin bereits gemacht worden ist, um
eine Finanztransaktionsteuer voranzubringen. Jetzt muss
ich auch Ihnen einen Satz sagen, den ich meiner Fraktion
immer wieder sage - sie kann es zum Teil gar nicht mehr
hören, aber es ist wahr -: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist, dass wir
auf europäischer Ebene die Transaktionsteuer nicht hinbekommen und dass wir auch in der Euro-Zone erhebliche Probleme haben, die Einstimmigkeit herbeizuführen.
({8})
Da kann man sich doch nicht an dieses Rednerpult stellen und so tun, als ob es das nicht gäbe. Eine solche
Form der Realitätsverweigerung ist in der Politik nicht
hilfreich, Herr Trittin. Das hilft uns überhaupt nicht weiter.
({9})
Sie hätten allen Grund, sich aufzuregen, wenn wir gesagt hätten, damit sei die Veranstaltung beendet. Das haben wir aber gar nicht gesagt, sondern Wolfgang
Schäuble hat hier heute und auch im Gespräch mit Ihnen
ausdrücklich erklärt, dass wir alles daransetzen,
({10})
dieses Instrument voranzubringen, dass wir aber für den
Fall, dass das nicht gelingt - das zeichnet sich ab -, eine
Lösung suchen, die nahe - so hat Wolfgang Schäuble
formuliert - daran herankommt.
Da haben Rainer Brüderle und ich vorgeschlagen,
dass wir eine Lösung im Umfeld dessen suchen, was die
Engländer als Stempelsteuer bezeichnen.
({11})
Wir haben ausdrücklich gesagt - das will ich hier wiederholen, damit Sie das noch einmal hören, Herr Trittin -,
dass wir uns nur eine Lösung vorstellen können, die Derivate mit einbezieht.
({12})
Nichts anderes! Das haben wir beide erklärt, und dabei
bleibt es auch.
({13})
Selbstverständlich muss darüber hinaus noch etwas
überlegt werden. Es gibt einen weiteren Punkt, und da
sind wir auch gar nicht auseinander. Wir wollen den
schnellen Computerhandel etwas verlangsamen. Wenn
dies auf dem Wege über die Transaktionsteuer, die diesen Handel erfassen würde, nicht geht, weil wir in
Europa eine einstimmige Lösung nicht hinbekommen,
dann müssen wir uns überlegen, ob wir nicht eine Mischung aus Besteuerung und Regulierung auf den Weg
bringen. Wir werden aber - das verspreche ich Ihnen eine Lösung finden, dass diejenigen, die die Probleme
mit verursacht haben, nicht einfach so davonkommen.
Das ist die Zusage. Daran werden wir uns auch halten.
({14})
In den Zeitungen lese ich immer wieder, es müsse
eine Wachstumsstrategie entwickelt werden.
({15})
Ja, völlig richtig! Bei dieser Wachstumsstrategie braucht
man aber gar nicht so geheimnisvoll zu tun. Man braucht
nicht so zu tun, als ob man erst eine große Expertenkommission einsetzen müsse. Wir haben in Deutschland eine
Wachstumsstrategie. Gerade kommt die Meldung, dass
wir im Vergleich zum Vorjahr 182 000 weniger Arbeitslose haben; die Jugendarbeitslosigkeit ist erheblich zurückgegangen. Bei uns gibt es Perspektive. Wir haben
also aus Deutschland an Vorschlägen einiges einzubringen, um die Wachstumsstrategie in Europa voranzubringen. Das wollen wir auch machen.
({16})
Weil gefragt wird: „Was ist denn da getan worden?“,
will ich noch einmal sagen - normalerweise brauche ich
keinen Zettel, aber jetzt schon -: Im August 2011 gab es
einen gemeinsamen Brief der Bundeskanzlerin und des
Staatspräsidenten Sarkozy genau zu diesem Thema: Die
Struktur- und Kohäsionsfonds sollen stärker als bisher
auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet
werden. Im Januar 2012: Sonderrat zum Thema Wachstum auf Initiative der Bundeskanzlerin. Auf dem Frühjahrsgipfel 2012 wurden weitere Vorschläge gemacht.
Da kann ich nur fragen: Sind Sie eigentlich blind, oder
lesen Sie nur selektiv? Es ist von dieser Bundesregierung, von der Bundeskanzlerin eine ganze Menge gemacht worden, um Wachstumskonzepte in Europa umzusetzen.
({17})
Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen - das weiß der
Kollege Steinmeier aus eigener Erfahrung -: Wenn man
entsprechende Reformmaßnahmen auf den Weg bringt,
dann zeigt sich der Erfolg nicht von heute auf morgen.
Wir haben nie bestritten, dass ein Teil von dem, was die
rot-grüne Regierung auch unter Verantwortung von
Frank Steinmeier gemacht hat - nicht alles! -, Deutschland vorangebracht hat. Das Schlimme ist nicht, dass wir
das sagen, sondern das Schlimme ist, dass Sie es nicht
mehr wahrhaben wollen. Das ist das Thema hier.
({18})
So kann man Wachstumspfade natürlich nicht erreichen.
Lieber Herr Kollege Steinmeier, bekennen Sie sich wenigstens zu dem, was gut war in der rot-grünen Koalition! Dann kommen wir auf dem Weg auch voran.
({19})
Ich habe eine herzliche Bitte. Wir alle sollten um die
Verantwortung wissen, die wir jetzt haben, und sollten
uns gemeinsam darauf festlegen, dass wir aus dem Deutschen Bundestag heraus für Europa ein starkes Signal
geben wollen. Wir kommen jetzt mit den beiden Paketen
aus einem Krisenmanagement heraus und in eine Stabilitätsunion hinein. Wir schaffen jetzt Voraussetzungen,
dass die Märkte nicht jeden Tag fragen müssen: „Wie ist
denn das eigentlich; einigen sie sich bei dem Thema?“
und dass nicht eine Krisennachtsitzung die andere jagen
muss, sondern dass es klare und verlässliche Strukturen
gibt. Da sollten wir nicht wackeln, sondern sagen: Die
beiden Instrumente, die Stabilität in Europa und für den
Euro bedeuten, gehören zusammen. Die bringen wir jetzt
auf den Weg - ein starkes Signal für ein starkes Europa.
({20})
Carsten Schneider erhält nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Kauder, die SPD ist sich sehr wohl der
Verantwortung bewusst, die wir für Europa, also auch
für die Stabilität unserer Wirtschaft und Währung, haben.
({0})
Deswegen haben wir auch nie geleugnet, dass wir
Schutzmauern brauchen, um den Absurditäten der
Finanzmärkte etwas entgegenzusetzen. Wer das geleugnet hat, waren Sie!
({1})
Kollege Trittin hat die Zitate gebracht: Der erste
Fonds sei nur für den Übergang, der werde nicht dauerhaft da sein. - Die 500 Milliarden Euro, die jetzt dauerhaft da sind, hat die Bundeskanzlerin nach dem Europäischen Rat noch als sakrosankt erklärt.
({2})
Das ist drei Monate her. Jetzt sind wir bei einer Summe
- zumindest im Übergang bis zum 30. Juni 2013 - von
940 Milliarden Euro, für die die Europäische Gemeinschaft und auch Deutschland haften - Deutschland mit
400 Milliarden Euro.
Herr Minister Schäuble, Sie haben Ihre Rede heute
nicht an das deutsche Volk oder an den Bundestag gehalten, sondern an Ihre eigene Truppe.
({3})
Wenn Sie sich die Umfragen in der Bevölkerung anschauen, dann stellen Sie fest, dass die Zustimmung zu
den Maßnahmen - vorsichtig formuliert - sehr zurückhaltend ist. Ich glaube, dass Sie, die Bundesregierung,
aber auch die Koalition, eine große Verantwortung dafür
tragen. Sie sagen nicht klar, warum es notwendig ist,
Carsten Schneider ({4})
dass wir anderen Staaten helfen, wenn sie von den
Finanzmärkten erpresst und ausgetrocknet werden. Das
ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen. Es ist zu kurzfristig; es ist wieder nicht überzeugend. Und insbesondere auf die Frage, wie wir da eigentlich wieder rauskommen - Thema Wachstum -, dass die Politik am
Gängelband der Märkte durch die Manege getrieben
wird und dass Staats- und Regierungschefs morgens erst
auf den Ticker schauen, wie die Kurse von Anleihen stehen, bevor sie politische Entscheidungen treffen, geben
Sie keine Antwort. Das ist uns zu wenig!
({5})
Herr Kauder sagte gerade, wir kommen jetzt aus der
Phase der Risiken und Krisenmechanismen in eine dauerhafte, stabile Situation. Ich hoffe das sehr - allein mir
fehlt der Glaube. Ich glaube, wir haben es derzeit mit einer Scheinruhe zu tun, einer Scheinsicherheit, die vor allem daher rührt, dass die Europäische Zentralbank die
politischen Fehler des Nichthandelns, die Sie gemacht
haben, korrigiert, indem sie die Märkte mit Geld flutet:
mit 1 Billion Euro.
({6})
- Und das ohne politische Konditionierung.
({7})
Was ist jetzt passiert? Erstens gibt es eine lauernde Inflationsgefahr; zweitens verdienen sich die Banken, die
Sie quasi als Mittler nutzen, dumm und dämlich. 1 Prozent zahlen sie bei der Europäischen Zentralbank, 4 Prozent bekommen sie von den Staaten. Wer da kein gutes
Geschäft macht, ist selber schuld. Diese nutzen also ganz
gezielt diesen Marktmechanismus, und Sie nehmen das
in Kauf.
Was ich dann aber erwarte, Herr Minister Schäuble,
ist, dass Sie dafür sorgen, dass die Banken einen Teil der
Verantwortung tragen.
({8})
Das bedeutet, dass sie die Gewinne, die sie jetzt machen,
eben nicht an ihre Aktionäre ausschütten. Es muss ein
Dividendenausschüttungsverbot geben, damit das Eigenkapital gestärkt wird
({9})
und die Manager am Ende des Jahres nicht dastehen und
sagen: „Wir haben super Geschäfte gemacht, jetzt regnet
es wieder Boni vom Himmel!“ - Das müssen Sie ändern.
({10})
Neben dem Europäischen Stabilitätsmechanismus soll
es jetzt also auch den Fiskalpakt geben. Der wird uns als
Bundestag sehr binden. Ich glaube auch, das ist zwingend notwendig, wenn man - und dafür stehe ich - die
Europäische Union und die europäische Währung erhalten will. Da muss der Grundfehler, eine Währung, aber
ganz unterschiedliche Haushalts- und Finanzpolitiken zu
haben, beseitigt werden. Das bedeutet dann natürlich
auch zwingend die teilweise Abgabe des Budgetrechts,
das wir hier als Königsrecht verstehen. Das bedeutet auf
lange Sicht - das hat Frank-Walter Steinmeier deutlich
gemacht - eine neue Europäische Union.
({11})
Das bedeutet aber auch eine neue Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen
Union. Ich finde, wir müssen darüber sprechen, wie wir
diese ausgestalten, damit sie nicht nur den Märkten
dient, sondern vor allen Dingen auch den Menschen in
Europa.
({12})
Der Fiskalpakt, den Sie jetzt vorgelegt haben, geht bei
weitem nicht weit genug. 90 Prozent dessen, was darin
steht, ist schon europäisches Recht. Sie hätten im Oktober, als das „Sixpack“ der Europäischen Kommission im
Europäischen Parlament verhandelt wurde - hier geht es
darum, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verändern -,
die automatischen Sanktionen verankern können. Aber
es waren Frau Merkel und Herr Sarkozy, die das bei ihrem Strandspaziergang in Deauville weggewischt haben.
Wir diskutieren hier über ein Phantomthema. Man hätte
es schon längst auch mit den Briten innerhalb des europäischen Rahmens regeln können. Dies wäre bedeutend
besser gewesen als das, was Sie hier parallel vorlegen.
({13})
Dazu, dass sich Deutschland - das betrifft Sie, Herr
Minister Schäuble; Sie sind als Euro-Gruppenchef im
Gespräch - als Stabilitätsanker darstellt, kann ich nur sagen: Sie sind mit Ihrer Politik, insbesondere mit Ihrer
Haushaltspolitik, ein schlechtes Vorbild. Wer 2011
17 Milliarden Euro Schulden aufnimmt und mit dem
Nachtragshaushalt 2012, den wir hier beraten werden,
34 Milliarden Euro Schulden aufnimmt - das ist eine
Verdoppelung der Schulden, obwohl aufgrund der guten
Konjunktur die Steuereinnahmen steigen -, der sollte anderen keine Vorschriften machen und den Eindruck erwecken, als wäre das alles normal.
({14})
Im Gegenteil: Sie taugen nicht als Vorbild. Deswegen
meine ich, Sie müssen dies korrigieren, um auch in
Europa glaubhaft zu sein, und insbesondere die Vorschläge von Frank-Walter Steinmeier berücksichtigen,
Gespräche zu mehr Wachstum aufzunehmen, damit wir
unser Geld wiederbekommen und es keine dauerhaften
Transfers werden. Das ist ein zwingender Punkt neben
der Besteuerung der Finanzmärkte.
({15})
Das Wort erhält nun für die Bundesregierung der
Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Gudio
Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in dieser
Debatte nur wenige Punkte anfügen. Zunächst einmal
glaube ich, dass wir uns trotz der Kontroverse zwischen
den Parteien in diesem Hause in einem ganz überwiegend einig sind: Wir sind uns bewusst, dass das, was wir
heute beraten, ein Meilenstein auf dem Weg der weiteren
europäischen Integration ist. Wenn ich die Debatte, die
ich aufmerksam verfolgt habe, zusammenfasse, dann
halte ich fest: Bis auf eine Fraktion sind alle Fraktionen
der Überzeugung, dass mit mehr Europa auf diese Krise
geantwortet werden muss. Mehr Europa wird und soll
heute auch hier diskutiert werden.
({0})
Ich will ein paar Dinge aus der Debatte aufgreifen.
Zur Verhandlungsstrategie: Es ist in Ordnung, dass es
zwischen der Opposition und der Regierung unterschiedliche Auffassungen über die Verhandlungsstrategie gibt.
Ich will unsere Strategie noch einmal wiedergeben. Es
ist aber nicht in Ordnung, wenn mit Zitaten gearbeitet
und dadurch rein aus innenpolitischen Gründen der Eindruck erweckt wird, die Bundesregierung habe nicht mit
einer Kontinuität in Europa verhandelt.
({1})
Herr Kollege Trittin, Sie zitieren aus der Rede der Bundeskanzlerin in München den Satz:
Deshalb ist es auch so, dass wir bei einer Obergrenze des ESM von 500 Milliarden Euro den Vertrag als gegeben sehen.
Sie sagen, dies sei der Beleg für Ihre These, dass das,
was wir jetzt vorschlagen und diskutieren, ausgeschlossen gewesen sei. Das ist kein korrektes Zitieren.
({2})
Sie hätten auch den nächsten Satz zitieren müssen. Im
nächsten Satz hat die Bundeskanzlerin dies genau erläutert:
Wir werden dann weiter darüber diskutieren - darüber haben die Finanzminister der Eurozone gesprochen -, inwieweit wir schauen können, ob es
Kombinationsmöglichkeiten von EFSF und ESM
gibt.
Wenn Sie zitieren, müssen Sie anständigerweise komplett zitieren. Dann entsteht ein völlig anderes Bild.
({3})
Was ist der Unterschied in der Debatte, und was ist
der Unterschied vor allen Dingen in der Verhandlungsstrategie? Wir sind der Überzeugung, dass es richtig war,
in Europa mit Geben und mit Nehmen zu verhandeln.
Das heißt, wir waren bereit, Solidarität zu geben,
({4})
wir sahen uns aber auch veranlasst, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und ganz Europas dafür zu sorgen, dass die Hausaufgaben in den einzelnen
Mitgliedsländern auch gemacht werden.
({5})
Herr Kollege Trittin, Sie haben gesagt: Wenn die
Hose nicht nass werden soll, dann muss der Schirm groß
genug sein.
({6})
Nur, Herr Trittin, wenn die Hose von innen nass wird,
dann kann der Schirm so groß sein, wie er will.
({7})
Deshalb muss man gegen die Schuldenpolitik angehen.
Genau das machen wir.
({8})
Wie Sie sich mit der Regierung auseinandersetzen,
geschieht aus unserer Sicht in einer Art und Weise, die
mit der Sache nichts zu tun hat. Sie sagen, diese Bundesregierung sei der Überzeugung, es gebe nur Schuldenabbau und Haushaltsdisziplin, das Wachstum jedoch würden wir ignorieren. Das ist kompletter Humbug. Seitdem
uns Griechenland die Schuldenkrise auf die Tagesordnung gesetzt hat, arbeitet die Bundesregierung an beiden
Säulen zur Bekämpfung der Schuldenpolitik.
({9})
Wir wollen Haushaltsdisziplin, und gleichzeitig wollen
wir das Wachstum voranbringen. Wir sind der Überzeugung: Wachstum kann man nicht mit Schulden kaufen,
Wachstum gibt es nur durch Strukturreformen.
({10})
Es reicht aber nicht, wenn nur wir das tun; das müssen
auch die anderen tun. Das versteht jeder, sei es in Italien
oder in Griechenland. Dort wird das Ganze mit riesigen
Mehrheiten in den Parlamenten beschlossen - nur Sie
machen hier parteipolitisches Klein-Klein. In meinen
Augen nehmen Sie Ihre Verantwortung an dieser Stelle
nicht wahr.
({11})
Schließlich will ich noch etwas dazu sagen, wie es
weitergeht. Eine kurze Bemerkung:
({12})
Ich habe nie gesagt - Herr Steinmeier musste leider gehen, sodass er es nicht mehr hört -, dass ich der Meinung
sei, dass die SPD selbstverständlich zustimme. Das ist
überhaupt nicht meine Aufgabe, und das ist auch nicht
meine Meinung. Ich habe jedoch eine Erwartung. Ich
habe die Erwartung, dass in einer historischen Stunde für
Europa jeder seiner staatspolitischen Verantwortung
nachkommt.
({13})
Ich habe die Erwartung, dass in einer solch historischen Stunde - in der es nicht nur darum geht, die Schuldenkrise zu bekämpfen, sondern auch darum, dass sich
Europa in der Welt behauptet -,
({14})
jeder seine Wahlkampfmanöver zurückstellt und an
Deutschland und Europa insgesamt denkt.
({15})
Denken Sie nicht an den Wahltermin in NRW, denken
Sie an Europa und an Deutschland! Darum geht es an
diesem heutigen Tage. Wir wollen Sie einladen, hierbei
entsprechend mitzuwirken. Diese Regierungskoalition
ist der Überzeugung: Mehr Europa ist die Antwort. Wir
müssen die Fehler beseitigen, die seinerzeit gemacht
worden sind.
({16})
Ich werfe Ihnen vor, dass Sie von Rot-Grün damals
den Stabilitätspakt aufgeweicht haben. Aber das ist Vergangenheit. Wenn Sie heute jedoch erneut mit neuen
Schulden und weicheren Stabilitätsregeln auf die Schuldenkrise antworten wollen,
({17})
dann machen Sie in meinen Augen den historischen Fehler zum zweiten Mal. Wir werden das nicht tun, weil wir
Europa stärken wollen.
({18})
Die Kollegin Priska Hinz erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nett,
wenn sich auch einmal der Außenminister zur Europapolitik äußert.
({0})
Allerdings hat das weder zur Erhellung hinsichtlich der
Regierungspolitik beigetragen noch macht es die europafeindlichen Wahlkämpfe der FDP vergessen, weder hier
noch in der Öffentlichkeit.
({1})
Es ist nur dem zerrütteten Zustand der Koalition zu
verdanken, dass wir heute, obwohl wir über die Gesetze
beraten, noch nicht wissen, wie groß der Rettungsschirm
am Ende tatsächlich sein wird. Sie gehen am Wochenende in Verhandlungen - das wurde uns gestern im
Haushaltsausschuss mitgeteilt -, und hier erzählen Sie
uns, dass EFSF mit den belegten circa 200 Milliarden
Euro und ESM nebeneinander laufen sollen. Auf europäischer Ebene erzählen Sie, dass natürlich die 240 Milliarden Euro aus der EFSF auch noch dazukommen. Das
verschweigen Sie hier tunlichst. Deswegen ist es unredlich, dass der Finanzminister hier Nebelkerzen wirft und
sagt: Wir haben alles im Griff, alles wird gut; die Parallelführung ist das, was wir schon immer wollten. - Nein,
das ist nicht das, was Sie wollten. Sie wollten keine Aufstockung des Rettungsschirmes. Wie Sie sich auch drehen und wenden: Vor allen Dingen haben wir im Bundestag beschlossen, dass es mit der EFSF eine
Gewährleistung im Umfang von 211 Milliarden Euro geben wird. Was uns jetzt vorliegt, bedeutet weitere Gewährleistungen von rund 190 Milliarden Euro. Das
macht in der Summe etwa 400 Milliarden Euro. Vor dem
Sichbekennen zu dieser Zahl wollen Sie sich in der Debatte drücken.
({2})
Meine Damen und Herren, die Parallelführung der
EFSF ist auch noch die ökonomisch schlechtere Alternative als die richtige Aufstockung beim ESM, weil der
dauerhafte Rettungsschirm aufgrund der Bareinlage eine
viel bessere und stabilere Bonität hat; das ist das Wesentliche an der Konstruktion des ständigen Rettungsschirms. Weil Sie aber befürchten, dass Sie wieder einen
Wortbruch begehen müssten, oder Sie Ihren teilweise begangenen Wortbruch verschleiern möchten, entscheiden
Sie sich für eine Parallelführung. Ich sage Ihnen: Das ist
der ökonomisch schlechte Weg, weil er der teurere Weg
ist.
({3})
Da kostet uns Europa wieder unnötig Geld, das wir für
andere Zwecke ausgeben könnten.
Schwarz-Gelb hat in der Euro-Krise bislang immer
nur die Kraft zum unbedingt Notwendigen gehabt. Wir
Grünen haben einen Kompass; das habe ich Ihnen von
dieser Stelle aus schon einmal gesagt. Wir haben bislang
die richtigen Entscheidungen für Europa getroffen. Sie
müssen hier immer um die Kanzlermehrheit bangen.
Priska Hinz ({4})
({5})
An uns liegt es nicht, wenn es darauf ankommt, Europa
aus der Krise zu führen.
Sie treffen immer erst dann, wenn es fast zu spät ist,
die richtige Entscheidung. Deswegen möchte ich Sie im
Sinne des lebenslangen Lernens bitten: Stocken Sie den
Rettungsschirm am Wochenende richtig auf! Denn wir
brauchen einen großen Rettungsschirm,
({6})
nicht weil wir das so toll finden, sondern weil wir Spekulationen entgegentreten müssen.
({7})
Die Gefahr ist doch nicht, dass jetzt andauernd Länder
kommen und unter den Rettungsschirm wollen. Wir sehen doch an Italien, dass das gar nicht der Fall ist.
({8})
Das Problem dreht sich doch darum, dass wir wollen,
dass die Staatsanleihen zu adäquaten Zinssätzen ausgegeben werden können. Dafür brauchen wir einen großen
Rettungsschirm. Ich bitte Sie, jetzt endlich einmal vorher
über Ihre rote Linie zu gehen, nicht wieder erst hinterher,
wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.
({9})
Meine Damen und Herren, im Rahmen der Krisenpolitik ist der Fiskalpakt mit der Einführung von Schuldenbremsen ein Baustein einer mittelfristigen soliden
Staatsfinanzierung, aber mehr auch nicht. Es ist bislang
völlig unklar, wann die anderen Mitgliedstaaten den Fiskalpakt ratifizieren wollen. Mindestens zwölf Staaten sagen: in der Zeit vom Sommer bis zum Winter. Weil wir
Grüne der Meinung sind, dass zu diesem Baustein weitere Mosaiksteine dazugehören, etwa die Finanztransaktionsteuer, der Schuldentilgungsfonds und vor allen Dingen wirtschaftliche Impulse, und weil wir wissen wollen,
wie sich eigentlich die Schuldenbremse gemäß Fiskalpakt auf unsere Schuldenregel auswirkt - in der letzten
Sitzungswoche konnte die Frage, ob wir nicht eine weitere Grundgesetzänderung vornehmen wollen, noch
nicht beantwortet werden -, müssen wir uns diese Zeit
nehmen. Wir haben diese Zeit für die Beratung. Bislang
sind wir alle für eine ausgiebige Parlamentsbeteiligung.
Das sollten wir auch in diesem Falle so halten. Wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach allem, was wir heute feststellen können, waren unsere bisherigen Entscheidungen richtig. Die Finanzmärkte haben sich beruhigt, die Risikoaufschläge auf
Anleihen aus Krisenländern sind gesunken, die wirtschaftliche Entwicklung hat sich in vielen Ländern stabilisiert - bei uns hat sie sich sogar noch verbessert -, die
Aktienindizes sind auf einem hohen Niveau stabilisiert
und die Umtauschaktion von Griechenland-Anleihen ist
ohne größere Probleme vonstattengegangen. All das bestätigt: Unsere Strategie der schrittweisen Bewältigung
der Staatsschuldenkrise zeigt Wirkung und ist richtig.
({0})
Nun wäre es aber leichtsinnig, zu glauben, damit
seien alle Probleme gelöst und damit sei die Gefahr eines
weiteren Aufflackerns einer Finanzkrise beiseite geräumt. Deshalb ist es richtig, darüber nachzudenken:
Wie gestalten wir den dauerhaften Mechanismus? Es ist
völlig richtig, was vorhin gesagt wurde: Die Schwelle,
auf der wir jetzt stehen, ist eine ganz entscheidende, weil
wir von einer vorläufigen Rettungsaktion übergehen zu
einem dauerhaften Rettungsschirm und zu einer echten
Stabilitätsunion in Europa. Mit dem zu verabschiedenden Gesetzespaket stellen wir die entscheidenden Weichen.
({1})
Es ist richtig, den dauerhaften Rettungsschirm ESM
ein Jahr vorher in Kraft treten zu lassen, als es ursprünglich geplant war. Es ist auch richtig, ihn von Anfang an
mit einem größeren als zunächst geplanten Volumen an
Bareinzahlungen zu speisen. Wir müssen alle darauf
achten - ich finde, da haben wir alle in Europa eine
große Verantwortung -, dass der Rettungsschirm von
Anfang an funktionsfähig und schlagkräftig ist, dass das
Vertrauen in den Rettungsschirm vonseiten der Finanzmärkte und der internationalen Partner gegeben ist. Meines Erachtens ist es deshalb richtig, dass die Finanzminister auf der Basis, die der Finanzminister heute hier
geschildert hat, in den nächsten Tagen in die Verhandlungen auf europäischer Ebene einsteigen.
Natürlich gibt es Diskussionen über die Größenordnung des Ausleihvolumens. Man muss ganz genau darauf
achten, dass die Größenordnung des Ausleihvolumens
ausreichend ist, um das Vertrauen in den Rettungsschirm
und seine Handlungsfähigkeit zu stärken. Die Risiken
sinken mit einem stabilen, glaubwürdigen und handlungsfähigen Rettungsschirm. Aber er darf nicht zu groß
sein, weil er damit den einzelnen Krisenländern jeden
Anreiz nimmt, sich zu bemühen, sich anzustrengen, zu
sparen und Strukturreformen auf den Weg zu bringen. Es
gilt nun, die Verhandlungen mit Blick auf genau diese Balance zu führen. Ich glaube, dass die zeitweise Parallelität
von EFSF und ESM, so wie sie jetzt angedacht ist, die
richtige Antwort auf die momentan anstehende Frage ist.
({2})
Heute geht es auch um das Auf-den-Weg-Bringen des
Fiskalvertrages. Ich gebe zu, dass mir diese Bezeichnung
nicht allzu sehr gefällt, aber wir alle wissen, was damit
gemeint ist. Es ist gemeint, dass sich 25 europäische
Länder - nicht nur die Euro-Länder, sondern auch 8 der
10 übrigen Mitgliedstaaten der Europäische Union - verpflichten, das, was wir verfassungsrechtlich verankert
haben, nämlich die nationale Schuldenbremse, auch in
ihren Verfassungen nicht nur ein bisschen zu beherzigen,
sondern fest zu verankern. Wenn wir ehrlich sind: Wer
hätte vor einem Jahr gedacht, dass uns das möglich
wäre?
({3})
Das bedeutet, dass das Einhalten der Schuldenbremse
beim Europäischen Gerichtshof auch eingeklagt werden
kann und dass bei einem Verfehlen quasi automatische
Sanktionen verankert sind.
({4})
Das ist ein Meilenstein - so wurde es vorhin genannt auf dem Weg zu einer echten Stabilitätsunion in Europa.
Eines ist auch klar: Wenn wir das gemacht hätten, was
uns die Opposition in den letzten Monaten immer wieder
vorgeschlagen hat, nämlich eine Vergemeinschaftung
von Schulden mittels Euro-Bonds, dann wären wir heute
nicht so weit, dann hätten wir heute keine Diskussion
über die Fiskalunion.
({5})
Ich will Ihnen dies erklären, Herr Poß: Wir hätten die
Diskussion nicht, weil es dann nämlich in den entsprechenden Krisenländern überhaupt kein Bewusstsein
gegeben hätte, sich im Bereich der Haushaltskonsolidierung und der Umsetzung der Strukturreformen anstrengen
zu müssen. Das alles hätten wir nicht, wenn wir in den
letzten Monaten nicht so konsequent unseren Kurs vollzogen hätten.
({6})
Manche sagen, dieser Fiskalvertrag habe noch nicht
den richtigen Biss und er müsse noch etwas stärker sein.
Wenn ich diesen Vorwurf gerade von denjenigen höre,
die uns das Ganze eingebrockt haben, dann muss ich
sagen, dass dadurch die Verlogenheit erst richtig deutlich
zum Ausdruck kommt.
({7})
Wenn diejenigen, die damals - ich glaube, das war im
Jahr 2002 - unter rot-grüner Verantwortung den Stabilitätspakt quasi abgeschafft
({8})
und die anderen Länder auch noch dazu eingeladen
haben, sich in ihrem Haushaltsverhalten auch ein bisschen schlampig zu gebaren,
({9})
heute sagen, das, was nun völkerrechtlich vereinbart
wird, habe nicht den nötigen Biss, dann ist das alles
andere als glaubwürdig und konsequent.
({10})
Jetzt wollen Sie das Ganze mit der Forderung verbinden, dass die Wachstumsstrategie noch vertieft werden
müsse. Sie tun so, als wäre da nichts geschehen. Volker
Kauder hat deutlich darauf hingewiesen, was auf europäischer Ebene alles geschehen ist. Wenn man genau
hingehört hat, dann hat man gemerkt, dass dies alles auf
deutsche Initiative hin geschehen ist.
({11})
Deshalb, liebe Frau Bundeskanzlerin und Herr Finanzminister, möchte ich Ihnen ganz herzlich dafür danken,
dass dies von Deutschland aus immer wieder auf europäischer Ebene eingebracht worden ist und dass wir jetzt
bei den Kohäsionsfonds, bei der Verwendung der europäischen Mittel auf einem guten Weg sind. Wir dürfen
da auch nicht nachlassen; denn eines ist klar: Die Haushaltskonsolidierung ist die eine Seite der Medaille. Die
andere, die genauso wichtige Seite der Medaille muss
die Stärkung der Wettbewerbsstrukturen in den einzelnen Ländern, muss größeres Wachstum in ganz Europa
sein. Da haben wir noch einiges zu tun.
({12})
Das, was zu tun ist, können wir aber nicht mit einer
zusätzlichen Verschuldung machen. Wachstum durch
eine höhere Verschuldung zu erreichen, ist genau der falsche Weg. Das ist der Weg, den Sie uns immer wieder
vorschlagen. Wir wissen aber aus unserer eigenen Erfahrung, dass Haushaltskonsolidierung die notwendige Voraussetzung für Wachstum ist. Deshalb gehört beides
zusammen, und das eine darf nicht für das andere vernachlässigt werden.
Wir alle stehen vor wichtigen Entscheidungen, die
sich nicht für Pokerspiele und nicht für parteipolitische
Strategien und Taktiken eignen.
({13})
Vielmehr ist von uns allen eine hohe staats- und europapolitische Verantwortung gefragt. Wir sind dazu bereit.
Ich bitte auch Sie, dazu zu stehen.
({14})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Präsidentin der
Abgeordnetenkammer der Republik Rumänien, Frau
Roberta Anastase, und ihre Delegation im Namen des
ganzen Hauses sehr herzlich hier zu begrüßen.
({0})
Frau Präsidentin Anastase, wir wünschen Ihnen einen
gelungenen Aufenthalt in Deutschland und hier im Deutschen Bundestag. Für Ihr weiteres parlamentarisches
Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
Jetzt hat als nächster Redner Michael Roth von der
SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie können noch so viel dementieren: Frau
Merkel, die Bundesregierung und die schwarz-gelbe
Koalition haben sich heillos in den zahllosen roten
Linien verheddert. Auch Sie, verehrte Frau Hasselfeldt,
können dieses Knäuel nicht entwirren.
({0})
Ich bin gespannt - ich habe eigentlich erwartet, dass
Sie das hier vorbringen -, wann der CSU-Sonderparteitag einberufen wird.
({1})
Herr Seehofer hat ja angekündigt: Wenn diese „rote
Linie“ überschritten wird, dann muss die Basis, dann
müssen die Delegierten der Christlich-Sozialen Union
entscheiden. Wann findet der Sonderparteitag statt?
Unter Wahrnehmung europapolitischer Verantwortung
versteht Ihre Partei, die CSU, Europa abzulehnen und
Europa schlechtzumachen. Insofern sind Sie ein denkbar
schlechter Ratgeber.
({2})
Ich verstehe überhaupt nicht, dass Sie Ihre ganze Leidenschaft darauf verwenden, uns anzupampen. Ich dachte,
Sie wollten noch etwas von uns, mit uns reden, mit uns
verhandeln. Von ernsthaftem Bemühen habe ich in dieser ansonsten ziemlich mediokren Debatte wirklich wenig gespürt.
({3})
Nun könnte man ja sagen, dass wir uns darüber freuen
können, dass das Vertrauen in die Kraft der Bundesregierung am Boden liegt. Das Schlimme an dem permanenten Hü und Hott von Frau Merkel ist aber, dass das Vertrauen in die Politik in Europa allgemein nachgelassen
hat. Wir sitzen doch alle in einem Boot. Insofern sage
ich: Sie haben sich an Europa versündigt, Frau Bundeskanzlerin. Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU
und FDP, haben sich versündigt.
Selbstverständlich wissen wir, die wir uns aus den
Klauen der Finanzmärkte befreien wollen, dass wir das
nur schaffen, wenn wir Schulden abbauen und die Neuverschuldung reduzieren. Deshalb sollten Sie mit Ihren
34 Milliarden Euro Neuverschuldung in diesem Jahr
ganz ruhig und demütig sein, meine Damen und Herren
der Koalitionsfraktionen.
({4})
Wenn die Finanzmärkte nicht reguliert werden,
({5})
wenn sie nicht unter strenge Aufsicht gestellt werden,
dann sind die Finanzmärkte eher etwas für die geschlossene Psychiatrie. Insofern haben wir eine ganze Menge
zu verrichten.
Eines ist aber auch klar: Dieser Fiskalpakt, der uns
auf den Tisch gelegt wurde, löst kurzfristig nicht die
Krise. Nur Luxemburg und einige wenige skandinavische Partnerländer wären derzeit in der Lage, eine
Schuldenbremse nach Vorbild des Fiskalpakts einzuhalten. Deutschland hätte allein im Haushaltsjahr 2011
20 Milliarden Euro zusätzlich einsparen müssen. Daran
sehen wir doch, was für eine Riesenaufgabe vor uns
liegt. Deshalb ist es gut, dass wir uns dafür hier im Bundestag sehr viel Zeit nehmen. Die Qualität des Fiskalpakts kann doch nicht ernsthaft daran bemessen werden,
ob wir im Juni, im September oder im Oktober entscheiden. Qualität geht vor Schnelligkeit.
({6})
Wir brauchen einen echten Fiskalpakt. Es fehlt nicht
an Konzepten, sondern es fehlt der Mut, diese Aufgabe
anzupacken. Über Wachstum und Beschäftigung ist
heute abstrakt gesprochen worden - auch von Rednern
aus Ihren Reihen -, wir brauchen sie aber endlich konkret. Wenn Sie endlich aufhören würden, gegenüber der
Opposition die Backen so aufzublasen, sondern endlich
begreifen würden, dass der größte Skandal in Europa die
Tatsache ist, dass die Hälfte der Jugendlichen in Griechenland und Spanien ohne Perspektive, ohne Job, ohne
Qualifizierung ist! Darüber müssten wir uns gemeinsam
empören. Dafür brauchen wir nicht 2014 eine konkrete
Lösung, wir brauchen noch in diesem Jahr ein konkretes
Angebot für diese Jugendlichen. Sie müssen mit Europa
wieder Hoffnung und Zuversicht verbinden und nicht
nur Abbau und Verluste.
({7})
Wir brauchen in Europa - das hat nicht zuletzt die
berühmt-berüchtigte Lissabon-Strategie gezeigt - Verbindlichkeit. Wir brauchen Zielkorridore. Wir brauchen
Mindeststandards für die Bereiche Steuern, Sozialabgaben, Beschäftigung, Bildung und Forschung. Es kann
doch nicht angehen, dass einige Länder eine Flat Tax für
die Unternehmen haben und gleichzeitig üppige Mittel
aus den Kohäsions- und Strukturfonds erhalten. Das
passt nicht zusammen. Wir brauchen mehr Fairness,
auch bei der Steuerpolitik in der Europäischen Union.
({8})
Michael Roth ({9})
Selbstverständlich stehen auch wir in der Verantwortung. Wir haben in den letzten Monaten sehr oft den
Zeigefinger in Richtung der Länder, die ein Leistungsbilanzdefizit haben, erhoben. Aber auch wir als
Überschussland stehen in der Verantwortung. Derzeit
laufen in Deutschland Tarifverhandlungen. Tun wir doch
etwas zum Abbau der Leistungsbilanzen! Wir wollen
nicht die Exporte in Deutschland drosseln, aber wenn die
Krankenschwester in Deutschland wieder mehr verdient
und wenn endlich flächendeckend in allen Branchen
Mindestlöhne durchgesetzt werden, dann bauen wir auch
die unfairen Vorteile ab, mit denen wir uns zulasten
unserer Partnerländer in der Europäischen Union einen
schlanken Fuß in Europa gemacht haben.
({10})
Frau Merkel hat aus der Europäischen Union ein
Europa der Regierungen gemacht. Wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, streiten für ein Europa
der Parlamente. Wir müssen, wenn es um die Abgabe
nationaler Souveränität geht, neue Wege gehen, vor
allem auch in der Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten.
Wir brauchen eine ordentliche Parlamentsbeteiligung,
wir brauchen aber keine Obstruktionspolitik. Wir als
Deutscher Bundestag müssen darüber nachdenken, wie
wir mehr Verantwortung in diesen schwierigen Bereichen übernehmen können.
Schlussendlich: Wir sollten - Kollege Carsten
Schneider hat es schon angedeutet - genauso leidenschaftlich, wie wir über ökonomische Parameter streiten,
endlich auch einmal darüber streiten, wie viel Europa
uns wirklich wert ist. Europa steht für Freiheit. Europa
steht für Frieden. Europa steht für Solidarität. Die
Münze, mit der Sie Europa zu bezahlen trachten, ist
ziemlich klein; Sie sind da verzagt. Das passt nicht. So
wird Europa nicht zukunftsfähig. Deswegen wäre es gut,
wenn Sie, liebe Damen und Herren der Bundesregierung, der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, möglichst
schnell aus der Verantwortung herausgehen.
({11})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Otto Fricke.
({0})
Geschätzter Vizepräsident! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Es handelt sich um ein historisches Projekt. Ich finde, das sollten wir noch einmal festhalten.
Wir alle wollen dieses Europa. Wir brauchen dieses
Europa. Deutschland braucht dieses Europa. Nur dann,
wenn wir es schaffen, andere davon zu überzeugen, dass
das, was wir unter deutschen Bilanzregeln, unter deutscher Haushaltspolitik verstehen, sinnvoll ist, wird
Europa auf Dauer stabil sein. Das muss die Nachricht
sein, die von diesem Bundestag zur Jahreshälfte ausgeht.
Ich will Ihnen eines deutlich sagen: In dieser Debatte
wurde den Bürgern vonseiten der Opposition nicht
erklärt, warum Europa wichtig ist. Sie arbeiten sich an
roten Linien ab. Das hat ja auch Herr Steinmeier getan;
er ist jetzt nicht mehr da.
({0})
- Oh, Herr Steinmeier ist wieder da. Das finde ich gut.
Danke für den Hinweis. Auch Herr Steinbrück ist da; das
hat einen Effekt. - Auch Herr Schneider und Herr Roth
haben das getan. Herr Steinmeier, Sie haben eben von
roten Linien gesprochen. Ich habe dann geschaut, wo
Ihre roten Linien sind. Wir erleben hier seitens der
Opposition etwas Interessantes. Es ist Ihr Recht als
Opposition, eine gut arbeitende Regierung zu kritisieren;
etwas anderes bleibt Ihnen auch nicht übrig. Aber sagen
Sie doch einmal, wo Ihre roten Linien sind. Sind Ihre
roten Linien bei den vorgesehenen 500 Milliarden Euro?
({1})
Sind Ihre roten Linien bei 750 Milliarden Euro, sind sie
bei 1 Billion Euro? Das Interessante ist: Die Opposition
hat gar keine roten Linien. Die Opposition hat einen
roten Teppich für Schuldenländer. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik.
({2})
Für den Bürger ist eines wichtig. Wir als Bundesrepublik Deutschland profitieren von einem stabilen Europa
nicht nur deswegen, weil wir mit unseren Exporten
unsere Wirtschaft stabilisieren, sondern wir profitieren
auch deswegen, weil Stabilität in Europa für unser Land
immer bedeutet, dass wir uns weiterentwickeln können,
dass wir modernisierende Schritte nach vorne machen
können. Reformen können wir nur durchführen, wenn
Europa stabil ist. Ist es nicht mehr stabil, kann der
Stärkste in Europa nicht für Fortschritt sorgen. Da - das
ist ein Hinweis an die Opposition - tragen Sie Verantwortung.
Herr Steinmeier, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, Sie
hätten Reformen gemacht. Stimmt, das haben Sie. Daher
müssten wir uns doch einig sein, dass all die Reformen,
die in Deutschland durchgeführt worden sind, die Deutschland nach vorne gebracht haben, auch in den anderen
europäischen Ländern auf die eine oder andere Weise
gemacht werden müssen. Das heißt, ich erwarte von der
Sozialdemokratie,
({3})
dass sie international, auch bei Besuchen in Frankreich
sagt: Die Rente mit 67 müssen nicht nur wir in Deutschland einführen, sondern auch ihr in Frankreich. Interessant ist, was Herr Gabriel macht.
({4})
- Wieder einmal getroffen! - Was macht Herr Gabriel?
Herr Gabriel sagt: Liebe Franzosen, macht bloß nicht all
die Reformen, die wir in Deutschland gemacht haben.
({5})
Da liegt der Fehler: Sie sagen, dass Reformen wichtig
sind, aber dass nur wir in Deutschland Reformen
machen sollen und die anderen bitte schön nicht. Sie verstecken sich vor Ihrer Verantwortung.
({6})
Meine Damen und Herren, es wurde hier viel über
Quantität und Qualität geredet. Es wird oft gesagt - auch
der Kollege Roth hat das gerade getan -, man müsse den
Fiskalpakt noch einmal verhandeln, und man solle sich
dabei Zeit lassen.
({7})
Ich finde es unverantwortlich, zu sagen, dass man neue
Verhandlungen über den Fiskalpakt will. Sie wissen
doch ganz genau: Er ist ausverhandelt. Die Ergebnisse
stehen fest.
({8})
Welches Signal sendet eigentlich eine Opposition in die
Welt hinein, die sagt: Den Fiskalpakt, der für die Stabilität in Europa wichtig ist, kann man ruhig verschieben?
({9})
Welches Signal wollen Sie eigentlich senden? Wollen
Sie weiter Verschuldung betreiben, oder wollen Sie einen Fiskalpakt?
Zum Schluss. SPD und Grüne bzw. die Oppositionsparteien insgesamt haben aufgrund unserer Verfassung
Verantwortung bekommen, als es um den Fiskalpakt
ging, eine Verantwortung, die Sie ja sehr gerne übernehmen wollten. Daran arbeiten Sie ja und sagen, das sei
wichtig und unbedingt notwendig.
({10})
Aber was machen Sie? Sie sagen nicht, was Sie wollen.
Sie sagen nur, was Sie nicht wollen. Sie sind nicht bereit,
Verantwortung zu übernehmen. Sie sind ängstlich. Hören Sie doch auf den Bundespräsidenten,
({11})
der so schön gesagt hat: Mut ist das, was wir zum jetzigen Zeitpunkt brauchen. - Wo bleibt Ihr Mut, Verantwortung zu übernehmen? Wiederholen Sie bitte nicht die
historischen Fehler, die Sie gemacht haben.
Ihr erster historischer Fehler, der ewig an Ihnen haften bleiben wird, war, Griechenland in die Euro-Zone
aufzunehmen.
({12})
Ihr zweiter historischer Fehler war, dass Sie den Stabilitätspakt gebrochen haben. Herr Monti hat recht, dass
Deutschland und Frankreich mit ihrer Verschuldung Anfang des letzten Jahrzehnts für den Ursprung der EuroKrise gesorgt haben; auch das war ein historischer Fehler.
({13})
Machen Sie bitte nicht Ihren dritten historischen Fehler,
indem Sie die Stabilität Europas zerstören, die wir als
Koalition mit ESM und Fiskalpakt gerade wieder aufbauen. Ich bitte Sie: Gehen Sie in sich, haben Sie Mut,
und seien Sie mehr als nur Kritiker! Seien Sie wahre Demokraten!
Herzlichen Dank.
({14})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Norbert Barthle von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mehrere meiner Vorredner, vor allem die der Koalition, haben bereits darauf hingewiesen, dass dies eine
historische Stunde ist. Wir beraten heute im Bundestag
in erster Lesung ein Gesetzespaket, das im Grunde aus
dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Fiskalpakt besteht. Das sind zwei grundlegende Tragpfeiler
einer neuen Stabilitätsarchitektur in Europa. Diese beiden grundlegenden Pfeiler dieser Architektur dürfen
nicht beschädigt werden.
Ich muss feststellen, dass wir heute eine eigenartige
Erfahrung machen dürfen. Denn ein Teil der Opposition,
insbesondere die Grünen, sagt: Wir möchten den ESM
zwar noch etwas ausweiten, aber grundsätzlich sind wir
dafür. Wir bräuchten allerdings noch mehr Zeit zur Beratung. - Die SPD sagt: Wir sind grundsätzlich für den Fiskalpakt. Wir sind auch für den ESM. Aber wir wollen
noch Verbindungen herstellen und Bedingungen an den
Fiskalpakt knüpfen.
({0})
Das ist schon ein eigenartiges Erlebnis.
Ich komme zum ersten Punkt: zum Zeitplan. Nach unserem Zeitplan könnten wir den Fiskalpakt und den ESM
bis zur Sommerpause ratifizieren. Das hat übrigens auch
Portugal vor, das hat Spanien vor, und das hat Griechen20234
land vor. Meine Damen und Herren, wir sollten nicht
hinter diese Länder zurückfallen.
({1})
Zweitens. Wer so tut, als würden wir dieses Thema
hier und heute zum ersten Mal beraten, der war in den
vergangenen Monaten irgendwo anders. Zumindest im
Haushaltsausschuss haben wir uns tage- und wochenlang
mit dem Zustandekommen des Fiskalvertrages und des
ESM-Vertrages beschäftigt. Wir haben die Vertragsentwürfe bekommen. Wir haben verfolgt, welche Veränderungen eingearbeitet worden sind. Auch im Plenum des
Deutschen Bundestages haben wir über diese beiden
Themen schon hinlänglich diskutiert. Wer also so tut, als
würden wir uns das erste Mal damit beschäftigen, der
muss irgendwo anders gelebt haben. Das kann ich mir
nicht erklären.
({2})
- Aber wir haben auch hier schon darüber diskutiert;
({3})
das muss klar sein. Wir haben schon vor langer Zeit hinlänglich und ausführlich über die Kautelen, die Inhalte
und alle Details des Fiskalvertrages diskutiert. Das geschieht heute nicht zum ersten Mal.
Dritter Punkt. Die SPD - es kam ja schon ein entsprechender Zwischenruf - knüpft Bedingungen an den Fiskalpakt und sagt: „Wir stimmen dem Fiskalvertrag nur
zu, wenn …“ Nun sagen die einen: wenn eine Finanztransaktionsteuer kommt. - Die anderen sagen: wenn es
Wachstumsprogramme gibt. - Was jetzt eigentlich?
Wenn Sie ein Pfand in der Faust haben, dann sollten Sie
uns einmal erklären, wie dieses Pfand eigentlich aussieht. Ich weiß das nämlich immer noch nicht.
({4})
In Bezug auf Wachstumsprogramme darf ich Sie daran erinnern, dass wir insbesondere bei den Programmländern, die schon jetzt unter dem Rettungsschirm sind,
immer Bedingungen an Hilfen knüpfen. Die Vierteljahresberichte der Troika geben Auskunft darüber, wie dort
Programme für mehr Wachstum und für mehr Wettbewerbsfähigkeit, also nicht nur zum Abbau der Staatsverschuldung, umgesetzt werden müssen.
Man muss sich die Programme nur einmal anschauen.
Das tun Sie aber wahrscheinlich nicht so gerne; denn darin steht, dass für mehr Wettbewerbsfähigkeit und für
mehr Wachstum zum Beispiel die Mindestlöhne abgesenkt oder ganz abgeschafft werden müssen, dass es zu
Arbeitsmarktderegulierungen kommen muss und dass
der Kündigungsschutz ausgesetzt werden muss. Dagegen protestieren die Menschen in Spanien momentan.
Das alles steht dort drin - zur Verbesserung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Das hören Sie nicht so
gerne.
Schauen Sie sich also die Berichte der Troika an und
machen Sie sich die Mühe, da nachzulesen. Dann bekommen Sie eine Blaupause dafür, was in diesen Ländern geschehen muss, um mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit herzustellen.
Was will ich damit sagen?
({5})
Ist Ihnen von der Opposition eigentlich klar, dass Sie
dann, wenn Sie zu diesem Fiskalvertrag zwar Zustimmung signalisieren, aber nur unter Bedingungen, das Signal nach draußen aussenden, dass Sie zwar eigentlich
dafür sind, aber so richtig doch nicht; denn wenn man
sich innerlich distanziert und die Zustimmung an Bedingungen knüpft, dann distanziert man sich von den Inhalten. Das müsste Ihnen zu denken geben.
Ich glaube, Europa und die gesamte Welt brauchen
ein klares und deutliches Signal, dass wir in allen EuroStaaten festen Willens sind, einerseits die Staatsverschuldung zurückzuführen und eine Politik für eine
wachstumsfördernde Konsolidierung zu betreiben und
andererseits solidarisch dafür einzutreten, dass auf keinen Fall ein Euro-Mitgliedsland in die Insolvenz getrieben wird.
Es geht letztendlich um Europa, das haben wir gehört,
aber es geht schlicht und einfach auch um unsere Währung. Es geht um den Euro, den jeder von uns in der Tasche hat. Vorne sieht man das Euro-Zeichen und hinten
- zumindest auf meinem - den deutschen Bundesadler.
Es geht auch um unsere Verantwortung, zur Stabilität
unserer Währung beizutragen. Es darf nie wieder geschehen, dass sich ein deutscher Handwerker fragen
muss: Kann ich noch investieren und dem Euro noch
trauen? Es darf nie wieder geschehen, dass internationale Investoren die Frage stellen müssen: Hat der Euro
eine Zukunft? Wir bauen dem entsprechend vor, indem
wir einerseits einen Pakt für Solidarität und andererseits
einen Pakt für Stabilität verabschieden.
Das sind die beiden Seiten ein und desselben EuroGeldscheines bzw. -Geldstückes, die wir bei unserer
Politik beachten müssen. Unser bisheriger Weg war erfolgreich und hat zu guten Ergebnissen geführt, und wir
setzen diesen Weg auch erfolgreich fort.
Danke.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9046, 17/9045, 17/9048, 17/9049,
17/9047, 17/9146, 17/9147, 17/9148 und 17/9145 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Florian Pronold, Hans-Joachim Hacker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Gemeinsam Zukunft planen - Infrastruktur bürgerfreundlich voranbringen
- Drucksache 17/9156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Florian Pronold von der SPD-Fraktion
das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein
Haus, zünd’ andere an: Das ist das Sankt-Florians-Prinzip, das unter missbräuchlicher Verwendung meines Vornamens zurzeit an vielen Orten in der Republik Anwendung findet.
({0})
Wenn es um neue Straßen geht, wenn es um die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene oder wenn es
darum geht, dass immer mehr Menschen den Flieger benutzen, dann ist die Bereitschaft, die damit verbundene
Infrastruktur auszuhalten, unterausgeprägt.
Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder
erfahren, dass die Umsetzung gesellschaftlich akzeptierter Ziele - ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte ist
die Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft und
damit verbunden der Ausbau neuer Energietrassen - zu
Widerstand vor Ort führt.
Deshalb brauchen wir einen neuen Infrastrukturkonsens. Zukünftig können wir große Projekte nur noch
dann realisieren, wenn es gelingt, die Bürgerinnen und
Bürger auf Augenhöhe einzubeziehen, statt in ein Gegeneinander zwischen übergeordneten Interessen und
den konkreten Sorgen und Befürchtungen der Menschen
vor Ort zu verfallen.
Deswegen hat die SPD-Bundestagsfraktion das „Projekt Zukunft“ aufgelegt. Wir haben uns mit vielen Vereinen, Verbänden und Betroffenen vor Ort über die Frage
unterhalten, wie wir einen neuen Infrastrukturkonsens
herstellen können. Infrastruktur ist eine wichtige Lebensader für Wohlstand, für Lebensqualität und für Arbeitsplätze. Ich bin froh, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland nie den Weg anderer Länder gegangen sind,
die zum Beispiel ihre industriellen Kerne aufgegeben
und auf Finanzmärkte gesetzt haben, wie es in Großbritannien der Fall war.
Wer will, dass wir auch in Zukunft ein moderner Industrie- und Dienstleistungsstandort sind, der muss auch
dafür Sorge tragen, dass die richtige und wichtige Infrastruktur schnell geschaffen und ausgebaut wird. Das
geht nur, wenn man das nicht gegen die Bürgerinnen und
Bürger macht, sondern wenn man sie tatsächlich in die
Frage des Ob und die Frage des Wie einbezieht.
({1})
Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung sind
keine Gegensätze. Wir sind der felsenfesten Auffassung,
dass eine bessere und frühere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger auch zu einer Beschleunigung der Verfahren führen kann. Die Erfahrung, die viele Bürgerinnen und Bürger machen, ist aber, dass eine nachträgliche
Akzeptanz hergestellt werden soll. Sie haben das Gefühl,
dass sie hinter die Fichte geführt werden.
Deswegen verfolgen wir mit dem heute vorliegenden
Antrag den Ansatz, mehr Transparenz bei der Planung
zu erreichen und die Planung nicht mehr hinter verschlossenen Türen zu machen. Vielmehr müssen alle
Schritte für Betroffene einsehbar sein, und sie müssen
sich beteiligen können. Wir wollen eine Demokratisierung des Planungsverfahrens. Außerdem wollen wir,
was ganz wichtig ist, einen Dialog auf Augenhöhe. Wir
schlagen dazu ganz konkrete Mittel vor.
Die Bundesregierung unter der Federführung des Innenministeriums plant zurzeit einen Gesetzentwurf, der
darauf abzielt, Planungen zu beschleunigen und Bürgerinnen und Bürger besser und mehr einzubeziehen.
Wer heute dazu Die Welt liest, stellt fest, dass Heiner
Geißler, also derjenige, der von der CDU ausgesucht
worden ist, weil er sich mit Bürgerbeteiligung und
Mediation am besten auskennt, dieses Vorhaben aufs
Schärfste kritisiert. Er sagt, bei diesen Vorschlägen der
Bundesregierung gehe es allenfalls darum, eine verbesserte Anhörung zu erreichen. Es fehle allerdings, dass
mit den Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe geredet wird. Das ist aber doch die Voraussetzung dafür, dass
man Akzeptanz herstellt und einen Infrastrukturkonsens
erreicht.
({2})
Was macht der Bundesverkehrsminister? Er legt uns
in dieser Woche ein Handbuch vor. Nachdem wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eine ganze Menge
aufgeschrieben haben, was man tun kann, erstellt der
Bundesverkehrsminister ein Handbuch. Das ist schön.
Manchmal ist Sprache aber verräterisch. Im Internet
nachlesbar heißt es unter Frage 8:
Welche Konsequenzen hat die Teilnahme an Bürgerbeteiligungsgesprächen für die Rechte Betroffener im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren?
Welche Verbindlichkeit haben Ergebnisse von Mediationsverfahren, Runden Tischen oder ähnlichem?
Als Antwort ist dort zu lesen:
Gleichzeitig ist es wichtig, dass es eine gewisse
Verlässlichkeit im Hinblick auf die zur Konfliktlösung gefundenen Kompromisse gibt und sich die
Beteiligten an die Ergebnisse gebunden fühlen.
Auch sollten möglichst
- möglichst! alle entscheidungserheblichen Fakten auf den Tisch
kommen.
Sprache ist verräterisch; das zeigt sich in dieser Einschränkung.
Wir erleben gerade in Frankfurt eine Nachtflugdebatte. Es hat unter Hans Eichel eine wirklich hervorragende Mediation stattgefunden. Diese führte zu einem
Ergebnis. Auf dieses Ergebnis haben sich die Menschen
verlassen, dass es nämlich dort keine Nachtflüge geben
wird. Dann ist unter Roland Koch dieses Ergebnis ignoriert worden, sodass der Fall jetzt beim Bundesverwaltungsgericht liegt und sich die Menschen von Ihnen zu
Recht hinter die Fichte geführt vorkommen.
({3})
In Frankfurt haben Sie für diese Haltung die Quittung
bekommen. Was wollen Sie denn?
({4})
- Brüllen Sie nicht dazwischen, Herr Döring. Wenn Sie
eine Frage haben, stellen Sie sie doch. Darüber würde
ich mich freuen.
({5})
- Es hilft nichts, wenn Sie noch so laut schreien. - Das,
was wir wollen, ist: Wir wollen, dass Bürgerinnen und
Bürger mitentscheiden, welche Infrastruktur unser Land
braucht. Dazu wollen wir auch auf Bundesebene die
Möglichkeit von Volksentscheiden und Referenden
schaffen. Nur wenn es tatsächlich eine Entscheidung
über das Ob und Wie gibt, kann diese nachher vor Ort
akzeptiert werden.
Natürlich werden die vor Ort Betroffenen nie immer
komplett für eine belastende Infrastruktur sein. Aber
wenn es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dann ist
natürlich die Bereitschaft, auch eine belastende Infrastruktur zu ertragen, größer, nämlich dann, wenn man
vorher beim Ob und beim Wie wirklich beteiligt worden
ist.
Wir wollen, dass Bürgerinnen und Bürger einen Bürgeranwalt von der Verwaltung gestellt bekommen. Es
kann doch nicht sein, dass jeder Bürger im Laufe eines
Planungsverfahrens selber zum Verwaltungsfachjuristen
werden und sich all diese Kenntnisse selber aneignen
muss.
Wir wollen, dass bei großen Vorhaben Bürgerinnen
und Bürger, die nicht die Zeit und die Lust haben, sich
mit der Frage intensiv zu beschäftigen, trotzdem die
Möglichkeit haben, einen schnellen und guten Einblick
zu bekommen.
Was spricht denn heute auch bei Großprojekten gegen
eine Computersimulation - das ist ähnlich wie ein Computerspiel -, bei der die Menschen sehen: Was passiert,
wenn die Trasse an der einen oder an einer anderen
Stelle verläuft? Was kostet das an Ausgleichsmaßnahmen? Was bedeutet das für den Steuerzahler und die
Steuerzahlerin? Wer ist betroffen? Wie viele sind betroffen? Das kann man heute alles in einer vernünftigen
Computersimulation machen. Das fördert vielleicht das
Verständnis für die Problemlagen: Wenn an der einen
Stelle etwas gemacht oder unterlassen wird, sind dafür
andere an anderer Stelle betroffen. Dieses Vorhaben
kann man doch schnell umsetzen.
Wir wollen, dass es verbindliche Qualitätsstandards
gibt. Das, was wir immer wieder erleben, ist, dass eine
Mediation von dem größten Befürworter, zum Beispiel
dem Landrat eines Landkreises beim Bau einer Autobahn - sagen wir einmal: die A 8 -, geleitet wird. Er
wird nicht als neutraler Mediator wahrgenommen. Die
Anregungen der Bürgerinnen und Bürger werden dann
nicht aufgenommen. Das führt natürlich zu Widerstand.
Deswegen wollen wir verbindliche Standards dafür, wie
eine Mediation ausschauen, was in dem Verfahren passieren und dass das Verfahren insgesamt transparent und
offen verlaufen soll.
Wir sind im Gegenzug dafür, Planungen zu beschleunigen. Es kann doch nicht wie in Stuttgart sein, dass
17 Jahre nach Abschluss des Planfeststellungsverfahrens
erst mit dem Bau begonnen wird. So etwas hat mit dem
Ernstnehmen von Bürgerinnen und Bürgern nichts zu
tun.
Wir wollen eine Vermeidung von Doppelprüfungen.
Wir regen an, dass man noch einmal an das herangeht,
woran die schwarz-gelbe Bundesregierung gescheitert
ist, nämlich Raumordnungsverfahren und Planfeststellungsverfahren zusammenzuführen - zumindest zu einem Teil -, um Doppelprüfungen zu vermeiden.
Wir wollen, dass Bürgerinnen und Bürger schon sehr
früh eingebunden sind, auch in einem Vorverfahren. Wir
wollen, dass der Planungsträger verpflichtet ist, schon
am Anfang zu informieren und die Akzeptanz zu prüfen,
damit er auch für sich selber schon sehen kann: Wo gibt
es Widerstände? Wie geht man damit um?
Wir wollen ferner, dass überprüft wird, wie die Erfahrungen mit der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes sind, dass man überlegt, bei
welchen Maßnahmen man dies auch in Zukunft unter
Umständen so halten kann. Was zum Beispiel die Flugrouten angeht, wollen wir, dass Teil des Planfeststellungsverfahrens wird, dass zukünftig die Betroffenen
- auch alle potenziell Betroffenen - rechtzeitig und umfassend in den gesamten Dialog einbezogen werden.
Wenn wir wollen, dass der Industrie- und Dienstleistungsstandort Deutschland leistungsfähig erhalten bleibt,
dann müssen wir für einen Infrastrukturkonsens sorgen.
Das geht nur mit Transparenz und wenn die Bürgerinnen
und Bürger auf Augenhöhe beteiligt werden und tatsächlich mitbestimmen können.
({6})
Dafür müssen Sie sorgen und nicht für eine Verbesserung des Anhörungsverfahrens. Es geht nicht darum, irgendwelche Handbücher aufzulegen, sondern um wirkliche Änderungen im Sinne des Ernstnehmens der Bürger
und der Schaffung eines Infrastrukturkonsenses.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Dirk Fischer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die SPD die Notwendigkeit einer leistungsfähigen Infrastruktur erneut
bestätigt.
({0})
Der Konsens, den wir in dieser Frage haben, ist wichtig.
Aber die Regierungskoalition von CDU, CSU und FDP
ist schon ein ganzes Stück weiter.
({1})
Es gibt im Deutschen Bundestag den Konsens: Mobilität
und Infrastruktur schaffen die Voraussetzungen für Beschäftigung, Wohlstand und die Nutzung persönlicher
Freiheit.
({2})
Leistungsfähige und optimal vernetzte Verkehrswege haben somit für unser Land eine zentrale Bedeutung. Wir
verfügen heute in Deutschland schon über ein gut ausgebautes Verkehrsnetz.
Wir wissen, dass das für unser Land einer der wichtigsten Standortfaktoren ist; denn unsere arbeitsteilige
Volkswirtschaft verdient ihr Geld auch mithilfe einer
hervorragenden Verkehrsinfrastruktur. Durch die Infrastruktur können Arbeitsplätze in allen Teilen des Landes
geschaffen und gesichert werden, auch in peripheren
Räumen. Das entspricht der Verpflichtung des Grundgesetzes, die wir ernst nehmen. Aufgrund unserer zentralen
Lage in Europa stehen wir zusätzlich in der Verantwortung, insbesondere auch für das gerade jetzt so wichtige
wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas zu sorgen.
Wir müssen also im Ergebnis alles dafür tun, unsere Verkehrswege durch Investitionen leistungsfähig zu erhalten
und zukunftsfähig auszubauen.
Aber Geld ist nicht alles. Auch die Planung und Umsetzung der Bauvorhaben müssen in einem überschaubaren Zeitraum möglich sein. Jahrzehntelange, viel zu
lange Planungs- und Bauprozesse binden in unverantwortlicher Weise Kraft, Zeit und Geld und verhindern
notwendige volkswirtschaftliche Effekte.
({3})
Die zentrale Frage an uns alle ist: Kann man daran etwas
ändern?
Nicht ändern kann man nach meiner Auffassung die
Tatsache, dass von jedem Infrastrukturvorhaben Einschränkungen und Belastungen für unmittelbar betroffene Anlieger ausgehen, und dies gerade in einem sehr
dicht besiedelten Land. Diese Konflikte sind im Grundsatz unvermeidlich. Das erzeugt immer wieder Konfliktpotenziale. Die Konsequenz für Infrastrukturvorhaben,
die in aller Regel als Bedarf vom Gesetzgeber festgesetzt
worden sind, kann doch nicht sein, völlig darauf zu verzichten, um jedem Konflikt auszuweichen, sondern wir
müssen uns anstrengen, eine größtmögliche Minimierung der schädlichen Auswirkungen auf die Anlieger
und die Umwelt zu erreichen.
Dazu brauchen wir im Diskussionsprozess mehr Akzeptanz für die Projekte in der Gesamtbevölkerung.
Dazu sind noch mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung schon in frühen Planungsphasen notwendig. Wir
müssen die Leute informieren und ihnen das Pro und
Kontra darstellen und sie in einem solchen Prozess im
positiven Sinne mitnehmen.
({4})
Ich will sagen, Herr Pronold: Diese Herausforderung
nimmt die Bundesregierung nachweislich sehr ernst.
({5})
Dazu bedarf es keines Antrages der SPD-Fraktion,
({6})
bei dem man den Eindruck hat, dass Sie offensichtlich
von dem einen Extrem in das andere verfallen wollen.
({7})
Nach dem SPD-Konzept hätten wir in der Zukunft
zwar mehr Kommunikation, aber es würde wohl kaum
noch ein Projekt in vernünftigen Zeitabläufen realisiert
werden können, und das auf allen Ebenen: zu Lande, zu
Wasser und in der Luft.
({8})
Bei meiner Vorbereitung kam mir die Idee, man sollte
das, was Sie aufgeschrieben haben, vielleicht einmal in
einem SPD-geführten Bundesland als Pilotprojekt
durchführen.
({9})
Der Jubel in den anderen Bundesländern über frei werdende Mittel für ihre Infrastrukturvorhaben wäre wahrscheinlich relativ groß.
({10})
Dirk Fischer ({11})
Das zu der Verkehrsinfrastruktur Gesagte gilt auch für
den Ausbau der Energienetze in Deutschland. So entschieden wir gemeinsam aus der Kernenergie raus
wollen, so entschieden müssen wir aber auch in die Erzeugung, Verteilung und Speicherung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen rein wollen.
({12})
Gegen beides zu sein, Herr Kollege Hofreiter - das können Sie landauf, landab beobachten -, nämlich gegen die
Kernenergie, gegen die Verspargelung der Landschaft,
den Ausbau der Energienetze und die Pumpspeicherwerke, kann nur ein völliges Desaster für unser Land in
der Energiepolitik zur Folge haben. Davor kann man nur
dringend warnen.
({13})
Wir brauchen schnellstmöglich den Ausbau der Übertragungs- und Verteilungsnetze sowie der Speicherkapazitäten für Strom aus erneuerbaren Energien. Dabei müssen sich alle glaubwürdig anstrengen, dies in der
Bevölkerung verständlich zu machen und durchzusetzen.
Wir müssen auch durch mehr Information und eine
frühzeitige Bürgerbeteiligung die Akzeptanz erhöhen.
Die Bundesregierung verfolgt dieses Ziel mit Nachdruck. Denn am Ende zählt nur die Tat bzw. das Ergebnis.
Vor kurzem ist der Gesetzentwurf zur Verbesserung
der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung
von Planfeststellungsverfahren von der Bundesregierung
auf den Weg gebracht worden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Mit diesem Gesetz wollen wir neue Möglichkeiten für eine verbesserte Teilhabe unserer Bürgerinnen
und Bürger schaffen.
Eine Öffentlichkeitsbeteiligung kann künftig bereits
vor dem eigentlichen Verwaltungsverfahren stattfinden
und einem möglichst großen Personenkreis offenstehen.
Dieses Instrument der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung
soll das Planfeststellungs- oder Genehmigungsverfahren
bei Großvorhaben besser vorbereiten und helfen, Konflikte frühzeitig beizulegen oder sogar zu vermeiden.
Das wird dazu führen, dass wichtige Infrastrukturprojekte am Ende sogar schneller umgesetzt werden, und
das trotz oder gerade wegen mehr Öffentlichkeitsbeteiligung. Das ist das Ziel, das wir anstreben.
({14})
Das geplante E-Government-Gesetz wird zudem dafür sorgen, dass alle Planungsunterlagen künftig im Internet bekannt gegeben werden. Das bedeutet deutlich
mehr Öffentlichkeit für alle Menschen, die sich damit intensiv befassen wollen.
Wir beglückwünschen im Unterschied zu Ihnen, Herr
Pronold, unseren Verkehrsminister Peter Ramsauer zum
gestern vorgestellten Entwurf eines Handbuches, das
sämtliche Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung beinhaltet. Wir freuen uns darüber, dass der Entwurf auf dem
Tisch liegt.
({15})
- Sie werden es auch lesen müssen, damit Sie Ihren Erfahrungsschatz ein bisschen erweitern können.
({16})
Denn darin wird konkret aufgezeigt, welche gesetzlichen
Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung bereits heute existieren, wie diese besser und intensiver genutzt werden
können und welche weiteren Maßnahmen gegebenenfalls ergriffen werden können. Damit erreichen wir eine
bessere und frühzeitigere Bürgerbeteiligung. Dazu wird
auch noch ein Werkzeugkasten mit Vorschlägen für eine
durchgängige Bürgerbeteiligung auf allen Verfahrensebenen erarbeitet, aus dem die im Einzelfall sinnvoll erscheinenden Maßnahmen ausgewählt werden können.
Das Handbuch richtet sich an Vorhabenträger, Behörden und Bürger und soll einen Diskussionsprozess anstoßen. Interessierte Bürger, Institutionen, Verbände und
sonstige Einrichtungen können bis Mai Anmerkungen
und Vorschläge einreichen, die dann ausgewertet werden
und bei der Endfassung des Handbuches berücksichtigt
werden können. Das Handbuch hat also nicht nur eine
bessere Bürgerbeteiligung zum Inhalt, sondern kommt
selbst mit mehr Bürgerbeteiligung zustande.
Am Ende will ich die SPD ausdrücklich ermuntern,
sich doch noch einmal kritisch mit ihren eigenen Vorschlägen auseinanderzusetzen. Ein ehemaliger Chef des
Bundeskanzleramtes, also ein richtiger Macher, ein
pragmatischer Macher, der selbst Erstunterzeichner Ihres
Antrages ist, weiß doch ganz genau, dass der Aspekt der
zügigen Projektrealisierung nicht aus den Augen verloren gehen darf.
Wir als Koalition aus Union und FDP sind optimistisch, dass der Gesetzentwurf unserer Bundesregierung
beiden Herausforderungen gerecht wird: einem besseren
Verständnis zwischen Bürger und Staat - uns darum zu
sorgen und zu bemühen, mahnt uns ja auch der neue
Bundespräsident -, aber auch dem dringend notwendigen und zügigen Ausbau unserer Verkehrswege und
Energienetze.
In diesem Sinne sollten wir positiv rangehen, und ich
glaube, dann werden wir auch für unsere Projekte in der
Durchsetzung einen guten Beitrag leisten.
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leidig von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich ist es die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 gewesen, die die demokratische Erneuerung im
21. Jahrhundert auf die Tagesordnung gesetzt hat.
({0})
- Ja, ich glaube fest daran. Vorher haben Sie überhaupt
nicht darüber gesprochen; jetzt reden wir darüber - und
auch in der vorausgegangenen Debatte über Europa.
Es steht die Frage im Raum, wie Bürgerinnen und
Bürger bei der handfesten Weichenstellung für die Zukunft nicht nur mitreden, sondern auch entscheiden können. Jetzt reden wir über Infrastruktur, und viele der Projekte, um die es geht, sind mit der Frage verbunden: Wie
wollen wir künftig leben, und wie sollen unsere Enkel
leben können?
({1})
Die Milliarden Euro, die heute in einen unterirdischen
Bahnhof gesteckt werden, stehen künftig nicht zur Verfügung, um viele kleine Bahnhöfe attraktiv und barrierefrei zu gestalten. Das steht gegeneinander. Es geht um
die langfristigen Perspektiven,
({2})
um die Perspektiven, die von den Bestimmern heute in
Beton gegossen werden.
Eine Autobahnbrücke, die jetzt in diesem Parlament
beschlossen wird, ist fertig, wenn viele der Abgeordneten schon gar nicht mehr verantwortlich sind.
({3})
Aber die Menschen im Tal, über deren Häuser und Weinberge die Lkw-Kolonnen dröhnen, können nicht fort.
({4})
Und wo sind die Stararchitekten, Projektleiter und
Ministerpräsidenten, die Stuttgart 21 mit Feuer und
Flamme, mit Lug und Trug durchgesetzt haben? Weg,
noch bevor der eigentliche Bau beginnt.
({5})
Mittlerweile liegen gute Vorschläge für eine wirksame Bürgerbeteiligung auf dem Tisch. Wir haben als
Linksfraktion eine Studie in Auftrag gegeben und im
Oktober veröffentlicht. Der Bund für Umwelt und Naturschutz hat im letzten Monat ein Sechs-Punkte-Programm vorgestellt, und, Herr Ramsauer, es wäre super
gewesen, wenn Sie dieses Programm zur Grundlage Ihrer Arbeit gemacht hätten.
({6})
Denn in diesem Programm sind sehr präzise die Hindernisse und Probleme geschildert, die Bürgerinnen und
Bürger davon abhalten, in der Praxis wirklich mitzubestimmen. Gleichzeitig werden die passenden Lösungen
dargestellt.
Die SPD-Fraktion hat jetzt einen Antrag eingebracht.
Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken,
({7})
auch wenn wir da noch einigen Diskussionsbedarf haben.
Aus unserer Sicht gibt es ein paar wesentliche Bedingungen für den Fortschritt der Demokratie an dieser
Stelle. Dazu gehört, dass die Möglichkeiten der Beteiligten und ihrer Verbände denen der Projektbetreiber ebenbürtig sind. Das gilt zum Beispiel für den Zugang zu Unterlagen. Das gilt aber auch für den Zugang zu Recht und
Gesetz. Heute können Projektträger beispielsweise alle
Einwände der Bürgerinnen und Bürger auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen lassen. Umgekehrt ist dies
aber nicht möglich, und auch dies will ich am Beispiel
Stuttgart 21 deutlich machen.
Sie alle erinnern sich daran, dass der sogenannte
Stresstest am Ende der sogenannten Faktenschlichtung
der Knackpunkt war. Schafft es der milliardenteure Tunnelbahnhof, wenigstens 30 Prozent mehr Züge abzuwickeln als der bestehende Kopfbahnhof? Das hat die
Deutsche Bahn AG behauptet und mit einem langwierigen Simulationsverfahren nachgewiesen. Alle Zweifel
daran wurden weggewischt.
Inzwischen wissen wir, dass der Stresstest manipuliert
war.
({8})
Wir wissen, dass das Ergebnis „49 Züge in der Spitzenstunde“ falsch ist.
({9})
Ich habe vorhin einen alternativen Geschäftsbericht zur
Bahnbilanz in die Hände bekommen. Darin ist dokumentiert, dass die Bahn selber im Jahr 2002 einen Kapazitätsnachweis an das Eisenbahn-Bundesamt geliefert
hat, in dem steht, was auch die Gegner des Projekts vorgetragen und nachgewiesen haben:
({10})
Der neue Bahnhof schafft nicht mehr als der alte; im Gegenteil: maximal 32 Züge in der Spitzenstunde.
({11})
Was geschieht jetzt? Wer macht die Verantwortlichen
haftbar? Wer überprüft die Richtigkeit dieser vorgeblichen Stresstestgeschichte?
Das muss sich ändern. Diejenigen, die die Öffentlichkeit täuschen, die falsche Unterlagen vorlegen, müssen
mit Konsequenzen rechnen.
({12})
Nur so kann das Ungleichgewicht der Kräfte etwas verringert werden, das ansonsten die Bürgerbewegungen erschlägt.
Vor allem aber - darüber wurde schon gesprochen müssen die Bürgerinnen und Bürger über die Weichenstellungen entscheiden können. Nicht nur die konkret
projektierte Autobahn, nicht nur die konkrete Landebahn
oder der versenkte Bahnhof sollen jeweils zur Debatte
stehen; entscheidend ist, dass auch die sogenannte Nullvariante möglich ist: gar kein Ausbau von Autobahnen,
gar kein Ausbau von Flughäfen, stattdessen vielleicht
lieber Ausbau von Eisenbahnverbindungen.
({13})
Es müssen von Anfang an echte Alternativen zur Debatte stehen. Wir brauchen ergebnisoffene Grundsatzanhörungen
({14})
am Beginn der Maßnahme.
({15})
Die Ergebnisse dieser Anhörungen müssen dann auch
verbindlich sein.
Heute findet die Bürgerbeteiligung erst statt, wenn die
Entscheidung eigentlich längst gefallen ist, wenn schon
Hunderttausende Euro für Planungskosten investiert
worden sind, wenn die Politik sich schon festgelegt hat.
Die Einwände und Änderungswünsche werden dann als
Störung empfunden, und es geht vor allen Dingen darum, die Konflikte zu befrieden, damit die Sache umgesetzt werden kann.
({16})
Herr Fischer, was Sie hier vorgetragen haben, ist genau diese Geschichte. Sie sagen: Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. - Sie wollen sie aber mitnehmen auf eine Reise, deren Ziel Sie längst bestimmt
haben. Es geht aber darum, dass auch die Ziele der Bürgerinnen und Bürger eine Rolle spielen, dass sie bestimmen können, wohin die Reise geht.
Nun zum Handbuch, das Sie, Herr Ramsauer, dieser
Tage vorgelegt haben.
({17})
- Herr Bundesminister Ramsauer.
({18})
Das Handbuch für Bürgerbeteiligung ist das Gegenteil
von dem, was wir wollen. Es gehört eigentlich gleich bei
seinem Erscheinen auf den Müllhaufen der Geschichte.
({19})
Herr Bommarius hat das heute in der Frankfurter
Rundschau sehr treffend kommentiert. Er schreibt: Die
Frage, die in diesem Handbuch behandelt wird, ist eigentlich nur die, ob die Bürokratien das Placebo am Anfang des Prozesses oder am Ende des Prozesses verabreichen sollen. Hauptsache Placebo.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Hinter dieser Haltung versteckt sich eine Angst vor
dem Souverän, die wir nicht teilen. Wir meinen, dass es
Zeit ist in Deutschland für mehr Demokratie,
({0})
dass mehr Volksbegehren, Volksentscheide auf allen
Ebenen möglich und notwendig sind. Die Bürgerinnen
und Bürger sind nicht zu dumm, sich mit den komplexen
Fragen zu beschäftigen. Wenn sie es täten, wäre das das
Ende einer Infrastrukturpolitik, die sich als Dienstleistung für die Wirtschaft versteht.
Besten Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Oliver Luksic.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns kennt wohl aus seinem Wahlkreis oder Bundesland den Fall, dass Infrastrukturplanungen aus dem
Ruder laufen oder Bürger demonstrieren. Auch bei mir
in Saarbrücken ist das der Fall bei der Übertunnelung der
Saar bei dem Städtebauprojekt „Stadtmitte am Fluss“.
Dieser Schwierigkeiten in der Republik nimmt sich jetzt
diese Koalition an. Bundesminister Ramsauer hat das
Handbuch für Bürgerbeteiligung vorgestellt. Wir diskutieren im Plenum auch bald das Gesetz zur Planungsvereinfachung. Das ist gut. Das ist wichtig. Da musste etwas getan werden. Auch wenn Ihnen das nicht passt:
Diese Koalition macht das, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Eines ist uns bei diesem Thema besonders wichtig:
Wir dürfen nicht so tun, als wenn diejenigen, die am lautesten schreien, die die meisten Sitzblockaden veranstalten, die am meisten in Internetforen schreiben, immer
automatisch die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren.
({1})
Liebe Frau Leidig, genau das hat die Bürgerbefragung
beim viel zitierten Stuttgart 21 deutlich gemacht. Ihre
Rede hat klar gezeigt, dass Sie das Urteil des Volkes
nicht akzeptieren. Das sollte Ihnen zu denken geben.
({2})
Die Bürgerbefragung ging nämlich anders aus, weil
es - wie so oft - auch so etwas wie eine schweigende
Mehrheit gab. Es gibt nämlich auch Menschen, die nicht
immer Zeit haben, zu protestieren. Wir wollen Bürgerbeteiligungen, aber am Anfang und nicht am Ende von
Projekten und mit sinnvollen Instrumenten. Dann sind
die Menschen auch mit den geplanten Infrastrukturprojekten zufrieden. Das ist das Ziel unserer Koalition. Wir
wollen nicht nachträglich, wie Sie es eben getan haben,
mit falschen Fakten Unfrieden stiften. Sie haben eben
falsche Behauptungen zu Stuttgart 21 aufgestellt.
({3})
Akzeptieren Sie endlich die Entscheidung der Bevölkerung in Stuttgart!
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem Land sind die Planungskosten oft fast schon höher als die Baukosten. Das
zeigt: Hier läuft etwas falsch. Deswegen sind Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung für die FDP-Bundestagsfraktion wichtige Themen. Wir haben dazu schon
in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf
vorgestellt und uns mit diesen Themen befasst. Wir haben schon früh gesagt: Wir wollen auch die lokale
Ebene, die lokalen Räte und Parlamente, stärken. Wir
wollen die Bedeutung von Bürgerentscheiden erhöhen.
Wir glauben, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen: Wir brauchen eine Bringschuld von Behörden und
keine Holschuld von Bürgern. Wir wollen planungsbegleitende Mediationsverfahren und keine Doppelung der
Umweltverträglichkeitsprüfung im Raumordnungs- und
im Planfeststellungsverfahren. Die SPD hat dazu in ihrem Antrag einen richtigen und wichtigen Punkt aufgegriffen. Dies sind schon lange Forderungen von uns, die
jetzt nach und nach von dieser Koalition umgesetzt werden.
Liebe Kollegen der SPD, Sie haben in Ihren Antrag in
der Tat viele richtige Punkte aufgenommen - vieles können wir mittragen -:
({5})
Planfeststellungsverfahren beschleunigen, Doppelungen
vermeiden, mehr lokale Bürgerbeteiligung.
Aber es gibt einen großen Unterschied: Wir sind diese
Themen schon angegangen.
({6})
Und wenn es darauf ankam, liebe Kollegen der SPD
- beispielsweise beim NABEG, bei der Beschleunigung
des Netzausbaus, den wir in dieser Koalition angestoßen
haben, weil wir die Energiewende nicht aufgrund eines
verzögerten Netzausbaus hinauszögern wollen -, haben
Sie dagegen gestimmt. Deswegen ist Ihr Antrag auch
nicht glaubwürdig.
({7})
Wir wollen jetzt das E-Government-Gesetz einbringen, um die Chancen des Internets bei der Bürgerbeteiligung zu nutzen. Wir bringen auch die Novelle des Planungsvereinfachungsgesetzes auf den Weg. Auch damit
stärken wir die Bürgerbeteiligung. So bringen wir das
Land voran, und nicht mit Ihren Vorstößen hier im Parlament. Wir werden genau schauen, wie Sie sich im Bundesrat verhalten. Sie tun so, als würde sich diese Koalition um nichts kümmern, aber genau das Gegenteil ist
der Fall. Erinnern Sie sich an Ihre eigene Regierungszeit
- Sie waren elf Jahre lang an der Regierung -: Weder unter Herrn Tiefensee noch unter Herrn Stolpe gab es Vorschläge, wie man schneller baut, wie man Bürger besser
beteiligt, wie man für bessere Infrastruktur sorgt. Nach
elf Jahren Stillstand bei SPD-geführten Häusern geht
diese Regierung dieses Thema nun an. Das ist gut und
richtig.
({8})
Warten Sie ab, bis die entsprechenden Gesetze hier
eingebracht werden! Dann können wir darüber diskutieren. Blockieren Sie das nicht im Bundesrat, verwässern
Sie es nicht! Ich glaube, es gibt in der Tat einen großen
Infrastrukturkonsens, zumindest zwischen den Regierungsfraktionen und der SPD. Die Linken und Grünen
dagegen sind nicht nur bei Flughäfen, Straßen, Brücken
und Energienetzen, sondern auch bei Bahnhöfen kritisch. Es ist wichtig, dass wir dieses Thema gemeinsam
nach vorne bringen. Wir brauchen einen großen Konsens
und keine Schaufensteranträge. Diese Regierung geht
das Thema an - das ist gut und richtig -; und bei diesem
Weg bleiben wir.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Für die Grünen hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Anton Hofreiter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer selbst aufseiten der Bürger an solchen
Verfahren beteiligt war, der weiß, wie das letztendlich
abläuft. Wie läuft es im Kern ab? Die Behörden haben
zum Teil schon viele Jahre geplant; dann wird das Planfeststellungsverfahren eingeleitet. Im Planfeststellungsverfahren ist alles festgelegt: Jeder Böschungswinkel ist
festgelegt; durch den Grünordnungsplan weiß man meistens schon, wo jeder einzelne Baum neu gepflanzt werden soll; man kennt exakt die Fahrbahnbreite. Alles liegt
letztendlich fest. Dann kommt der Anhörungstermin,
wenn er denn stattfindet. Was erlebt man dort? Dort argumentieren zum Teil hochfachkundige Menschen gegen die Planungen der Behörden - und selbstverständlich wird alles abgeschmettert. Woran liegt das? Das
liegt daran, dass im Erörterungstermin eigentlich ein
Konsens gefunden werden sollte, das Verfahren aber de
facto zeitlich so strukturiert ist, dass es auf Konfrontation ausgelegt ist.
Man kann die Behörden ja verstehen. Wenn jemand
ein Straßen- oder Schienenprojekt zwei, drei oder vier
Jahre aufwendig geplant hat, dann hält er es natürlich
nicht für falsch, sondern für richtig. Erst danach beginnt
der Dialog mit den betroffenen Bürgern. Die Behörden
verteidigen das Projekt selbstverständlich bis aufs Messer. Das würde jeder von uns genauso machen. Wenn
man zwei oder drei Jahre an etwas gearbeitet hat, dann
will man sich nicht sagen lassen, dass das alles falsch
war. Deshalb ist der Zeitpunkt der Bürgerbeteiligung
von entscheidender Bedeutung. Die Bürger müssen in
dem Moment beteiligt werden, in dem noch nicht alles
feststeht und das Ergebnis noch offen ist. Dann hat man
die Chance auf eine vernünftige Bürgerbeteiligung.
({0})
Es war schon die Rede davon, dass die Sprache verräterisch ist. Es wird versucht, mit einer Bürgerbeteiligung
Akzeptanz für ein Verfahren zu schaffen. Genau das
bringt die Leute auf die Palme. Es wird nach dem Motto
gehandelt: Unser Projekt ist richtig, wir haben nur ein
Kommunikationsproblem. - Jemand, der glaubt, bei seiner Politik ein Kommunikationsproblem zu haben, hat
meistens ein Inhaltsproblem.
({1})
Es ist nicht entscheidend für ein Verfahren, Akzeptanz
zu schaffen. Entscheidend ist, dass man mit den Leuten
in einen ehrlichen Dialog darüber eintritt, ob das Projekt
sinnvoll ist oder nicht. Wenn man dann gemeinsam feststellt, dass das Projekt sinnvoll ist, gibt es eine höhere
Akzeptanz. Wenn man aber mit der Haltung in die Verhandlung geht, dass das Projekt gut ist und dass man es
nur ein bisschen pseudotransparent machen muss, um es
den Leuten besser verkaufen zu können, dann ist ein
Scheitern unvermeidlich. Das heißt: Dialog auf Augenhöhe und kein Schaffen falscher Akzeptanz, die am
Ende scheitert.
({2})
Nun zu der Befürchtung, dass sich durch ein solches
Verfahren die Projekte unendlich verzögern. Wir, die wir
im Verkehrsausschuss sitzen, wissen, dass das nicht an
den Planungszeiten liegt. Wir haben eine Unmenge planfestgestellter Projekte, für die kein Geld vorhanden ist.
Dass sich die Projekte im Bereich Verkehrsinfrastruktur
in die Länge ziehen, liegt daran, dass wir eine gigantische Wünsch-dir-was-Liste haben, die in keinem Verhältnis zu den real vorhandenen Finanzen steht, egal wer
regiert. Das sollten wir alle miteinander ehrlich eingestehen. In vielen Fällen ist der Träger des Vorhabens - die
DB AG ist ein schönes Beispiel dafür - froh über Bürgerproteste, weil man dann sagen kann: Die bösen Bürger sind schuld. - Man sollte aber ehrlich sein und sagen, dass man dafür kein Geld hat.
({3})
Nehmen wir zum Beispiel die Eisenbahnstrecke
Nürnberg-Erfurt. Das Vorhaben wurde 1992 beschlossen. Baubeginn war 1996. Der erste Bauabschnitt ist
2017 fertig. Die ersten Brücken müssen grundsaniert
werden, bevor der erste Zug darüberfährt. Wir hatten
dann eine Bauzeit von 21 Jahren. Das ist doch keine
sinnvolle Planung. Das liegt aber nicht daran, dass sich
die Bürger so heftig gegen das Projekt gewehrt haben,
sondern schlichtweg daran, dass jeder Ministerpräsident
sein Wunschprojekt im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans hat. Es liegt auch daran, dass wir uns nicht
trauen, Prioritäten zu setzen. Warum trauen wir uns das
nicht? In der Theorie spricht sich jeder für eine Prioritätensetzung aus. In der Praxis aber bedeutet das, festzulegen: Du kriegst dein Projekt, alle anderen bekommen ihr
Projekt erst einmal nicht. - Das bedeutet Prioritätensetzung. Es bedeutet nämlich nicht nur, dafür zu sorgen,
dass einige Leute ihr Projekt schneller bekommen, sondern auch, dass andere ihr Projekt später bekommen.
Deshalb traut man sich letztendlich nicht, Prioritäten zu
setzen.
({4})
Alle haben davon gesprochen, dass die Bürger früher
beteiligt werden sollen, wenn auch mit unterschiedlichem Zungenschlag, auf Augenhöhe oder auch nur der
Akzeptanz wegen. Aber was passiert? Ein Handbuch
wird herausgegeben.
({5})
Es ist ja schön, wenn ein Handbuch herausgegeben wird.
Aber Hauptaufgabe einer Regierung ist es nicht, Handbücher herauszugeben, die lediglich zur Beratung dienen, sondern die Hauptaufgabe besteht darin, Gesetze zu
verändern.
({6})
Wenn man in das Gesetz schaut, dann liest man Worte
wie „der Vorhabenträger kann …“; aber so funktioniert
das nicht. Wenn man die Bürger auf Augenhöhe beteiligen will, dann muss das Gesetz so ausgelegt sein, dass
die Bürgerbeteiligung am Anfang festgeschrieben wird.
Das mag kompliziert sein und ist gesetzgeberisch sicher
nicht einfach zu lösen, aber genau dieser Aufgabe muss
man sich stellen. Es reicht nicht, schöne Handbücher herauszugeben, die von der Presse zu Recht als Placebo beschrieben werden. Machen Sie lieber vernünftige Gesetze! Dann bekommen Sie auch von uns Applaus.
Vielen Dank.
({7})
Jetzt hat der Bundesminister Peter Ramsauer das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich wollte meine Rede eigentlich ganz anders
beginnen; aber der Kollege Hofreiter kommt mir heute
aus mehreren Gründen gerade recht.
({0})
Erster Grund. Was die Regierung zu tun und zu lassen
hat, das wissen wir selber am besten.
({1})
Deswegen sind wir ja an der Regierung.
({2})
Wenn Sie sagen, die Regierung solle Gesetze ändern,
dann antworte ich Ihnen als jemand, der diesem Parlament bereits 21 Jahre angehört: Gesetzesänderungen
sind Sache des Parlaments, bei uns des Deutschen Bundestags.
({3})
Sache der Regierung ist es, ordentlich und gut zu regieren, und zwar gesetzeskonform.
({4})
Auch das ist mit dieser Regierung in guter Weise gewährleistet.
({5})
Manche Dinge muss man einfach richtigstellen. Sonst
heißt es, der Ramsauer habe das im Raum stehen lassen
und identifiziere sich vielleicht damit. Lassen wir also
die Kirche im Dorf!
Zweiter Grund. Es ist eigenartig, Herr Kollege
Hofreiter: Sie beschweren sich über gute Planungen. Das
war auch bei einigen anderen Oppositionsrednern der
Fall. Als Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung will ich hier einmal eine Lanze brechen für die
hervorragenden Planer und Planungsingenieure in all unseren Planungsbehörden, angefangen von den Gemeinden über die Länder, die Bezirksregierungen bis hin zum
Bund. Wir haben überall hervorragende Planer.
({6})
- Danke, Herr Bartol. Klatschen Sie ruhig, trauen Sie
sich!
({7})
Ich lobe diese Leute.
({8})
Warum planen sie so intensiv? Weil sie vorschriftsgemäß planen. Was würden Sie sagen, lieber Herr Kollege
Hofreiter, wenn wir mit lückenhaften Planungsunterlagen ins Planfeststellungsverfahren gingen? Dann wären
Sie doch der Erste, der das anprangern würde. Zu dieser
intensiven Planung gehört schlicht und einfach die Tatsache, dass Dinge bis in die kleinsten Details hinein berücksichtigt werden müssen. Sie sind gelernter Biologe,
Sie haben über die biologische Artenvielfalt in den
Anden promoviert. Sie sollten wissen, dass in solchen
Planfeststellungsunterlagen auch berücksichtigt werden
muss, in welcher Vegetationsperiode, in welcher Kalenderwoche im Jahr der letzte Wiesenbrüter von A nach B
transferiert werden kann, weil sonst nicht weitergebaut
werden darf. Das sind die Realitäten in unserem Lande,
über die in vielen anderen Ländern der Welt - auch in
Südamerika, wo Sie Ihre Forschungen gemacht haben nur noch gelacht wird.
({9})
Aber wir halten uns natürlich daran, weil wir auf die
Einhaltung der Vorschriften achten.
Sie kommen mir aus einem dritten Grund gerade
recht. Sie haben mir vorgehalten, eine Wünsch-dir-wasBundesverkehrswegeplanung zu betreiben. Vielleicht
können Sie sich noch erinnern; im Jahr 2002 waren Sie
ja schon im Bundestag, das haben Sie mir letztens gesagt. Wir haben übrigens neulich ein sehr gutes Gespräch geführt; das möchte ich einmal verraten, wir sind
ja unter uns.
({10})
Sie können sich sicherlich daran erinnern, lieber Herr
Kollege Hofreiter, dass dieser von Ihnen als solcher bezeichnete Wünsch-dir-was-Katalog eine Erbschaft aus
rot-grüner Regierungszeit ist. Der letzte Investitionsrahmenplan, den wir jetzt abgelöst haben, hatte ein Volumen von 57 Milliarden Euro. Wir haben das Ganze
wieder auf eine realistische Grundlage gestellt. Der Investitionsrahmenplan, den ich vor wenigen Wochen nach
langen Konsultationen in Kraft gesetzt habe, hat ein Volumen von nur noch gut 41 Milliarden Euro.
({11})
Damit ist der Plan wesentlich realistischer geworden.
({12})
Jetzt aber zum eigentlichen Thema des heutigen Tages. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei diesem
Thema rennen alle bei mir, dem zuständigen Minister,
offene Türen ein. Insofern begrüße ich ganz ausdrücklich diese Debatte. Wir alle wissen, dass wir zwar schon
heute umfassende gesetzliche Beteiligungsverfahren haben, aber man sich mehr wünscht. Deshalb habe ich gestern das Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung in
der Bundespressekonferenz vorgestellt. Ich möchte dazu
gerne einiges sagen. Das, was in diesem Handbuch steht,
geht Hand in Hand mit dem, was der Kollege Dr. HansPeter Friedrich als Bundesinnenminister in derselben
Pressekonferenz erläutert hat, dem Planungsvereinheitlichungsgesetz. Das Planungsvereinheitlichungsgesetz
liefert sozusagen den gesetzgeberischen Rahmen für die
praktische Substanz; im Handbuch machen wir die entsprechenden praktischen Vorschläge.
Ich möchte in dieser Debatte drei Kernbotschaften
hervorheben, die mit dem Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung in Verbindung stehen. Die erste Kernbotschaft lautet: Wir müssen in Deutschland Großprojekte
und Verkehrsinfrastrukturprojekte aller Art weiter ermöglichen.
({13})
Das mag für manche wie ein Angriff klingen,
({14})
für diejenigen, die überhaupt nichts verändern wollen.
({15})
Gott sei Dank ist die Mehrheit dafür und sagt: Das ist ja
wohl eine Selbstverständlichkeit. - Über den Begriff des
Großprojekts kann in der Tat gestritten werden: Wann ist
etwas ein Großprojekt? Wenn man in Länder wie Brasilien, Indien, Japan, China oder Russland reist, dann
merkt man: Die lachen über das, wofür wir schon den
Begriff Großprojekt verwenden.
Es geht hier aber nicht nur um Großprojekte - nach
unserer Terminologie -, sondern auch um stinknormale
Bundesfernstraßenausbauten oder um Schienenbauten.
Es muss weiter möglich sein, von einem Gleis auf zwei
Gleise auszubauen; das darf nicht sofort verteufelt werden. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, vor
allen Dingen im Hinblick auf das Wachstum im Güterverkehr. Jawohl, der Güterverkehr soll von der Straße
auf die Schiene;
({16})
aber wenn das geschehen soll, dann muss man Schienenbauten ermöglichen. Dazu bekenne ich mich in aller
Form.
({17})
Die zweite Kernbotschaft lautet: Schneller bauen bei
mehr Bürgerbeteiligung. Ich weiß, dass viele dies für
eine Quadratur des Kreises halten. Aber wir müssen uns
dieser Anstrengung stellen, damit wir solche Infrastrukturprojekte weiterhin durchführen können, damit wir
weiter große Infrastrukturprojekte durchsetzen können.
Wenn man die Beiträge heute Vormittag zusammennimmt, wird deutlich: Wir stimmen darin überein, dass
dies nur mit einer besseren, frühzeitigeren Bürgerbeteiligung möglich ist, und zwar im Rahmen der bestehenden
Regelungen, die in diesem Handbuch expressis verbis
aufgeführt sind. Die Bürgerbeteiligung muss dem Verfahren gemäß den bestehenden gesetzlichen Regelungen
vorgeschaltet werden.
Ich möchte noch einmal unterstreichen - auch da befinde ich mich im Einklang mit den Rednern der Opposition -, dass diese Beteiligung nicht erst dann stattfinden
soll, wenn viele Dinge weitgehend festgeklopft sind,
sondern schon sehr frühzeitig, wenn wir noch Spielräume haben, wenn die Pläne noch nicht fix und fertig
sind.
Entschuldigung, Herr Minister. Erlauben Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn?
Gerne. Das gibt mir die Möglichkeit, meine Redezeit
x-beliebig zu verlängern.
({0})
Nein, x-beliebig nicht. Frage und Antwort sollten
kurz und präzise sein.
Ja, aber dennoch erschöpfend.
Bitte, Frau Hagedorn.
Herr Ramsauer, ich konnte der Presse entnehmen,
dass Sie im Zusammenhang mit Ihrem Handbuch für
eine gute Bürgerbeteiligung das Dialogforum, das in
Schleswig-Holstein zur Hinterlandanbindung durch die
feste Fehmarnbelt-Querung implantiert ist, als Beispiel
lobend hervorgehoben haben. Dazu habe ich eine Frage.
Wir beschäftigen uns hier mit einem Antrag der SPDFraktion, Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
- der explizit einen Dialog auf Augenhöhe vorsieht;
das ist hier von vielen angesprochen worden.
({0})
In Schleswig-Holstein steht dahinter aber ein dickes Fragezeichen; denn es wird nur über das Wie und nicht über
das Ob dieses Großprojekts gesprochen. Das wäre aber
nach Heiner Geißler Voraussetzung, um die Ernsthaftigkeit eines Dialogs zu dokumentieren.
Jüngst haben zwei sehr engagierte Vertreter der dortigen Bürgerinitiative unter berechtigtem Protest das
Dialogforum verlassen, weil alle anderen Teilnehmer,
insbesondere die Befürworter dieses Projektes, mit Unterlagen ausgestattet wurden, die den Gegnern nicht zur
Verfügung gestellt worden sind. Würden Sie unter den
Aspekten, die ich gerade geschildert habe, immer noch
daran festhalten, dass das Dialogforum eine Vorbildfunktion für die von Ihnen gewünschte Bürgerbeteiligung hat?
Vielen Dank für die Frage, liebe Frau Kollegin
Hagedorn. Ich möchte die Frage nicht nur mit einem klaren Ja in Bezug auf die Vorbildfunktion beantworten,
sondern eine ausführliche Antwort geben. Herr Präsident, ich merke an, wenn ich die Beantwortung beendet
habe.
({0})
Frau Hagedorn, Sie kommen mir mit Ihrem Beispiel
gerade recht. Ich wäre sogar noch darauf zu sprechen gekommen. Die Frage hat im Grunde genommen zwei
Aspekte: zum einen den, wie das mit dem Ob ist - die
Ob-Philosophie -, zum anderen den, wie das konkret mit
dem Planungsdialog in diesem Bereich ist.
Ich habe mich am 25. Juni letzten Jahres - das war ein
Samstag -, ausführlich mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Sie wissen das, ich hatte Sie persönlich eingeladen.
({1})
Das Infozentrum, das wir in Burg auf Fehmarn errichtet
haben, lässt wirklich keine Frage offen; es ist vorbildlich. Ich habe an diesem Samstag alle Bürgermeister auf
der Strecke von Lübeck bis Puttgarden auf eine Zugfahrt
eingeladen. Wir sind in Lübeck gestartet und sind dann
von Gemeinde zu Gemeinde gefahren. Ich war im Führerhaus und habe mir die Bürgermeister einzeln von Gemeindegebiet zu Gemeindegebiet ins Cockpit des Zuges
geholt.
({2})
- Ich antworte gerade auf Ihre Frage. - Ich habe den Präsidenten des Bauernverbands für diese Belange dabeigehabt und habe mir von Bahnübergang zu Bahnübergang,
von Gemeindegrenze zu Gemeindegrenze,
({3})
von Schrebergartenkolonie zu Badestrand, von Badestrand zu Gewerbegebiet im Einzelnen erklären lassen,
wo welche Probleme liegen.
({4})
Damit beginnt zum Beispiel der Planungsdialog, der
Bürgerdialog.
({5})
- Bitte bleiben Sie stehen, solange ich antworte.
({6})
Herr Minister, in der Geschäftsordnung steht, dass
Fragen und Bemerkungen genauso wie die Antworten
kurz und präzise sein sollen. Ich bitte Sie, präzise zu antworten.
Okay, dann mache ich es kürzer; ich respektiere das.
Aber die Frage gibt viel her. Lob für die Kollegin
Hagedorn!
({0})
Dann müssen Sie das in Ihre Rede einbauen, nicht in
die Antwort.
Ich werde dann in einer anderen Rede mehr über
meine Erlebnisse bei dieser Zugfahrt reden.
({0})
Jetzt zu der Frage des Ob, Frau Kollegin Hagedorn.
Wollen Sie in Bezug auf den Grundkonsens „von der
Straße auf die Schiene“ ewig lang über das Ob diskutieren, darüber, ob wir bei der Fehmarnbelt-Querung nur
eine Straße für den Güterverkehr haben wollen oder ob
wir auch eine Anbindung durch einen zweigleisigen Eisenbahnausbau bewerkstelligen?
({1})
Ich sage Ja zu einem Eisenbahnausbau.
({2})
Bei der A 1 muss noch ein kleines Stück verlängert werden. Ich bin demnächst wieder dort.
Jetzt bin ich mit der Antwort leider Gottes zu einem
vorzeitigen Ende gekommen.
({3})
Vielen Dank, Herr Minister.
Die dritte Kernbotschaft - eine alte Regel auch aus meiner kommunalpolitischen Erfahrung vor Jahrzehnten - ist:
Wir müssen alle Betroffenen zu Beteiligten machen. Der
Grundsatz des Beteiligens Betroffener wurde in der Vergangenheit eigentlich immer so verstanden, dass nur diejenigen zu Wort kommen, die als Betroffene gegen etwas
sind. Ich möchte erreichen - das ist in dem Handbuch, in
diesen Empfehlungen ausgeführt -, dass sich von den
Betroffenen auch diejenigen zu Wort melden und ermuntert werden, sich als Betroffene und Staatsbürger einzumischen, die für etwas sind.
({0})
Die Lautesten in unserem Land sind zwar laut; aber sie
repräsentieren in der Regel nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Deswegen müssen sich diejenigen, die dafür
sind - das ist in der Regel die Mehrheit -, einmal trauen.
Sie dürfen sich nicht darauf verlassen, wie es in unserer
politischen Kultur leider Gottes eingerissen ist, dass die
Politik es schon richten wird. Wir haben viele Aufgaben
wahrzunehmen und den Kopf hinzuhalten. Aber wir
können dies umso besser tun, je mehr auch positiv Betroffene und diejenigen, die für etwas sind, mit viel Zivilcourage etwas sagen.
({1})
Eines muss allerdings auch klar sein: Die passgerechte Form eines solchen Bürgerdialogs kann man
nicht, wie die SPD dies in ihrem Antrag tut, für alle
möglichen Anwendungsfälle gesetzlich normieren und
in ein Zwangskorsett gießen; man muss das je nach Einzelfall passgenau machen. Was beim Brenner-Zulauf im
Süden unserer Republik auf diese oder jene Art geeignet
ist, muss für den Zulauf zur Fehmarnbelt-Querung, im
Rheintal oder beim Bau einer neuen Lande- bzw. Startbahn nicht unbedingt passen. Das Ganze ist quasi ein
Werkzeugkasten, aus dem sich Betroffene, Beteiligte,
Projektprüfer und Vorhabenträger bedienen können; aber
im Einzelfall muss individuell entschieden werden.
Ziel ist, dass wir die Bürger, und zwar alle, besser erreichen. Warum sage ich „alle besser erreichen“? Weil
wir aus Stuttgart 21 gelernt haben. Es sind zwar zig
Wahlen darüber hinweggegangen - mehrere Kommunalwahlen, Landtagswahlen, Bundestagswahlen, Wahlen,
bei denen immer das Projekt Stuttgart 21 durchgekaut
worden ist; es gab formale Beteiligungsprozesse -, aber
als es dann losging, wollte niemand mehr etwas gewusst
haben, so als sei dies ein Meisterstück der Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst gewesen. Von
ihm erfahren wir oft mehr. Deswegen haben wir gelernt:
Die kognitive Barriere muss überwunden werden, sodass
alle Bürger mit den entsprechenden Informationen erreicht werden. Gott sei Dank können wir dies mit den heutigen Kommunikationsmöglichkeiten wesentlich besser
tun. Die Pläne können effektiver ausgelegt werden und
vieles mehr.
Ich möchte aber auch auf die Grenzen des Machbaren
hinweisen. Ein solcher Bürgerdialog darf nicht die Illusion wecken, dass alle Erwartungen umgesetzt werden
können; denn wir müssen natürlich die Mechanismen,
die wir haben, die heutigen formalen Bewilligungsprozesse durchlaufen. Warum? Weil diese Verfahren den
Bürgern umgekehrt wieder Rechte, nämlich Prozessund Klagerechte, verleihen, und die will ich nicht einschränken. Sie verlängern das Ganze zwar; aber ich
möchte solche Rechte nicht einschränken. Wir haben
zum Teil nur noch eine Instanz und eine Berufung bei
Nichtzulassung. Diese Rechte können durch noch so viel
Bürgerbeteiligung nicht verwässert werden; aber wir
können solche Genehmigungsprozesse deutlich konfliktärmer, wenn auch nicht ganz konfliktfrei gestalten.
Ferner muss klar sein: Wenn man am Ende zu Ergebnissen gekommen ist, dann müssen diese Ergebnisse
auch verbindlich sein.
({2})
Was ich soeben gesagt habe, Frau Kollegin Leidig, das
waren wortwörtlich - - Frau Kollegin Leidig, hören Sie
mir bitte zu! Ich rede gerade über Ihre Rede.
({3})
Wenn ich jetzt eine Frage stellen dürfte, würde ich fragen: Können Sie sich noch an Ihre Rede erinnern?
({4})
Sie haben gesagt: Ergebnisse müssen verbindlich sein.
Da kann ich nur zustimmen. Allerdings müssen die Ergebnisse auch dann verbindlich sein, wenn sie Ihnen
nicht in den Kram passen.
({5})
Das war ja bei Stuttgart 21 interessant. Da kam es zu einem Mediationsverfahren und dann noch zu einem
Volksentscheid. Der Volksentscheid hat ein demokratisch nicht überbietbares Ergebnis gebracht. Dieses Ergebnis ist angegriffen worden, weil es vielen Leuten
Ihrer Couleur nicht in den Kram gepasst hat. Nein, Ergebnisse müssen schlicht und einfach akzeptiert werden.
({6})
Da dankenswerterweise viel von dem Handbuch zur
Bürgerbeteiligung die Rede war, sage ich: Man will
mehr Bürgerbeteiligung. Deswegen soll es nicht ohne
Bürgerbeteiligung zustande kommen. Wir geben die
Möglichkeit, sich bis Mai - das ist die Frist - auf allen
möglichen Kommunikationswegen daran zu beteiligen.
Ich lade auch Sie dazu ein.
Noch ein Wort zu dem Antrag der SPD:
({7})
Dieser Antrag ist gekennzeichnet durch einen regelrechten Drang nach zusätzlicher Regulierung.
({8})
Daran kann uns allen nicht gelegen sein. Ich lese hier
von einem Anspruch auf einen „Bürgeranwalt mit entsprechendem Etat“ - oje, oje! -, über umfassende Verpflichtungen für die öffentlichen Planungsträger und den
Nachweis entsprechender Bürgerbeteiligung. Das reicht
bis zu Volksentscheiden über die Bedarfspläne für Bundesverkehrswege.
({9})
Lieber Dirk Fischer, ich greife deinen Vorschlag auf
- das ist ein toller Vorschlag -: Wir sollten den Ländern,
in denen es einen SPD-Verkehrsminister gibt - inzwischen gibt es wieder einige in den Ländern -, entsprechende Projektstudien vorschlagen. Ich weiß, was passieren würde, wenn das ernst gemeint wäre: In der
nächsten Länderverkehrsministerkonferenz kämen die
SPD-Landesverkehrsministerkollegen alle einzeln zu
mir und würden mich fragen, ob ich an dieser Stelle
nicht mit einer Weisung einschreiten könne, damit so etwas unterbleibt.
({10})
Lassen Sie uns das Ziel, Bürger mit ihrem Wissen wesentlich besser in unsere Planungsprozesse einzubinden,
doch miteinander weiter verfolgen, damit Deutschland
weiterhin nicht nur das Land der Ideen ist, worauf wir
stolz sind und wofür wir bewundert werden, sondern
auch das Land des Ausführens und Verwirklichens
bleibt; denn auch das gehört zu unserer Identität. Wir
wollen unsere Ideen umsetzen - mit viel Bürgerbeteiligung und auf möglichst kurzem Wege.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Sören Bartol von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister Ramsauer, ich muss ganz
ehrlich sagen: Wer Ihre Rede gehört hat,
({0})
hat festgestellt, dass es Ihnen schwerfällt, den Unterschied zwischen Bundesverkehrswegeplanung und Investitionsrahmenplan zu erklären. Angesichts dessen
sollten Sie vielleicht etwas charmanter mit dem Parlament umgehen.
({1})
Bürgerbeteiligung ist der Schlüssel für eine moderne
Infrastrukturpolitik. Sie ist auch der Schlüssel, wenn wir
Konflikte, wie wir sie bei Stuttgart 21 erlebt haben,
künftig abmildern oder - das wäre am besten - vermeiden wollen. Ich freue mich deshalb, dass nun auch Sie,
Herr Minister, ein Jahr nach Stuttgart 21, die Bürgerbeteiligung für sich entdeckt haben. Wenn Ihnen Bürgerbeteiligung allerdings so wichtig ist, wie Sie behaupten,
dann frage ich mich: Warum praktizieren Sie sie denn
nicht? Ihr Ministerium arbeitet seit zwei Jahren unter
sorgfältigem Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit an einem neuen Bundesverkehrswegeplan. In Berlin hat die
Ihnen unterstellte Deutsche Flugsicherung die neuen
Flugrouten buchstäblich über die Köpfe der Menschen
hinweg festgelegt.
({2})
Als das Umweltbundesamt ein Gutachten zur Lärmbelastung der Anwohner veröffentlichen wollte, hatte Ihr
Staatssekretär nichts Eiligeres zu tun, als genau dies verhindern zu wollen. Ist das die von Ihnen versprochene
neue Transparenz und Beteiligungskultur? Beim Feldversuch mit Lang-Lkw umgehen Sie sogar die gewählten
Volksvertreter im Deutschen Bundestag.
({3})
Sie wollen nicht einmal uns gewählte Volksvertreter an
Ihrer Politik beteiligen.
({4})
Als es um die Bürgerbeteiligung und den Volksentscheid bei Stuttgart 21 ging, waren Sie völlig abgetaucht, Herr Minister. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, mögen Volksentscheide nicht
ganz geheuer sein.
({5})
Was für die einen ein Mehr an Demokratie ist, bedeutet
für andere, wie wir diese Woche von einem Kollegen aus
dem Deutschen Bundestag erfahren durften, die „Tyrannei der Masse“.
({6})
Die SPD hat sich massiv für einen Volksentscheid zu
Stuttgart 21 eingesetzt. Das Volk ist verantwortungsvoll
mit dieser Entscheidung umgegangen. Daher lautet mein
Appell: Lassen Sie uns gemeinsam Volksentscheide auf
Bundesebene einführen! Damit stärken wir unsere repräsentative Demokratie.
({7})
Wir haben unsere Vorschläge für eine bessere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bereits im Herbst letzten Jahres vorgelegt und breit mit Verbänden, Bürgerinitiativen und gesellschaftlichen Gruppen darüber
diskutiert. Ein halbes Jahr später hören wir vom Bundesverkehrsminister, dass auch er die Bürgerinnen und Bürger künftig beteiligen will. Wie wenig ernst es die Bun20248
desregierung mit der Bürgerbeteiligung meint, zeigt ein
Gesetzentwurf, den das Bundeskabinett verabschiedet
hat, wohl auch mit Ihrer Zustimmung, Herr Ramsauer.
Das Gesetz hört auf den wohlklingenden Namen „Gesetz
zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und
Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren“. Bereits vor einem Jahr wurde uns dasselbe Gesetz unter
dem weniger schönen Namen „Planungsvereinheitlichungsgesetz“ präsentiert. Dieses wurde schnell zurückgezogen, als klar wurde, dass es darin um den Abbau
von Bürgerrechten geht, etwa um die Abschaffung des
obligatorischen Erörterungstermins beim Planfeststellungsverfahren. Nun wird also ein neuer Versuch unter
neuem Namen unternommen.
Tatsächlich soll in das Verwaltungsverfahrensgesetz
ein neuer Absatz zur frühen Öffentlichkeitsbeteiligung
eingefügt werden. Liest man sich diesen durch, wird
klar: Es wird überhaupt keine Öffentlichkeitsbeteiligung
verpflichtend eingeführt. Vielmehr soll die zuständige
Behörde künftig darauf hinwirken, dass der Antragsteller „die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig über die
Ziele des Vorhabens, die Mittel, es zu verwirklichen, und
die voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens unterrichtet“. So steht es im Gesetzentwurf. Lieber Herr
Minister, „wirkt darauf hin, dass …“, vielleicht hätten
Sie einmal darauf hinwirken sollen, dass Öffentlichkeitsbeteiligung hier verbindlich vorgeschrieben wird. Ich
glaube, dann wären Ihre Worte hier im Plenum etwas
glaubwürdiger gewesen.
({8})
Stattdessen stellt es nun die Bundesregierung in das
Belieben von Behörden und Planungsträgern, ob sie die
Bürgerinnen und Bürger frühzeitig informieren und einbeziehen. Das ist Bürgerbeteiligung nach Gutsherrenart.
Wenn es mir passt, beteilige ich, wenn nicht, dann lasse
ich es sein. Das Gesetz, so wie es jetzt vorliegt, ist Etikettenschwindel. Es verdient seinen Namen nicht. Herr
Minister Ramsauer, sorgen Sie dafür, dass dieser Gesetzentwurf, so wie er jetzt auf dem Tisch liegt, zurückgezogen wird! Es geht nicht darum, die Bürger nach Stimmungslage und Wohlgefallen zu beteiligen. Auch ist die
Bürgerbeteiligung kein Mittel, um nachträglich Akzeptanz für Entscheidungen zu beschaffen, die vorher unter
Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen worden sind.
({9})
Es geht vielmehr darum, unser Planungsrecht grundlegend zu demokratisieren, beginnend bei der Bundesverkehrswegeplanung bis hin zu einer frühzeitigen Beteiligung der Öffentlichkeit, wenn die Trassen neuer
Verkehrswege festgelegt werden. Wir Sozialdemokraten
und Sozialdemokratinnen wollen einen Konsens für eine
moderne, nachhaltige Infrastruktur. Wir bieten Ihnen
hier ausdrücklich Zusammenarbeit an. Aber es gibt eine
Bedingung: Sie, Herr Minister, müssen es künftig mit
der Bürgerbeteiligung ernst meinen und dürfen hier
keine Placebogesetze zur Bürgerbeteiligung vorlegen,
die niemandem helfen.
Vielen Dank.
({10})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Patrick Döring.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst sage ich für die Koalition: Wir freuen uns, dass
auch die Sozialdemokraten das Thema Bürgerbeteiligung entdeckt haben.
({0})
Sie haben gegen das Netzausbaubeschleunigungsgesetz
gestimmt, in dem es darum ging, umfangreiche, frühzeitige Bürgerbeteiligung bei der Planung unserer Energienetze einzuführen. Sie waren dagegen, wir waren dafür.
Die Rede der Kollegin Leidig hat deutlich gemacht,
dass Bürgerentscheide von manchen hier ganz offensichtlich immer nur dann akzeptiert werden, wenn die
Mehrheit das tut, was die Linke will. Das war bei Stuttgart 21 anders. Wir freuen uns ausdrücklich darüber,
dass es eine Mehrheit für das Projekt, das so lange umstritten war, gab.
({1})
Der Kollege Bartol hat viel Richtiges gesagt. Auch
der Antrag der Sozialdemokraten enthält viel Richtiges.
Nur: Er unterschätzt und verschweigt, dass sich das
deutsche Planungsrecht, das deutsche Verwaltungsrecht
und die deutschen Regelungen zur Beteiligung der Träger öffentlicher Belange bei Investitionen nicht nur auf
öffentliche Investitionen beziehen, sondern dass sich die
gesamte Rechtsetzung der Bundesrepublik Deutschland
- das macht es ja auch so schwer; deshalb haben Sie keinen Gesetzentwurf, sondern einen Entschließungsantrag
vorgelegt - auch auf private Investitionen bezieht.
Deshalb ist es klug und richtig, dass der Entwurf des
Bundesinnenministers nicht vorsieht, dass jeder Antragsteller - jeder, der seine Fabrik erweitern, sein Wohngebäude erweitern oder seine wirtschaftliche Betätigung
verändern will - die Öffentlichkeit genauso beteiligen
muss wie die Bundesrepublik Deutschland oder die öffentliche Hand. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
macht es nämlich so schwer. Das ist der Unterschied im
Rechtsstaat und in einer Kultur des Eigentums.
({2})
Man darf nicht den Fehler machen, zu glauben: Wenn
man verbindliche Bürgerbeteiligung ins Gesetz schreibt,
dann wird automatisch alles besser. Denn die Antragsteller, die investieren wollen - 90 Prozent der Investitionen
in Deutschland sind private Investitionen -, können wir
als Gesetzgeber jedenfalls nicht so leicht in VerfahrensPatrick Döring
schritte zwingen, wie wir sie uns vornehmen; das zeigt
das Handbuch der Bundesregierung. Wir wollen mehr
Bürgerbeteiligung bei öffentlichen Infrastrukturinvestitionen. Aber man darf öffentliche Infrastrukturinvestitionen nicht genauso behandeln wie private Investitionen.
({3})
Deshalb haben wir das Handbuch vorgelegt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist der Unterschied. Diesen
Unterschied muss man auch bei der Gesetzgebung machen. Das ist nicht trivial.
Frau Hagedorn hat in ihrer Frage an den Herrn Bundesminister interessanterweise gesagt: Wir wollen eine
Beteiligung im Hinblick auf das Ob, den Bedarf.
({4})
- Das gehört unbedingt dazu, geschätzte Frau Kollegin. Sie haben in Ihrer Frage nur verschwiegen, dass bei dem
Projekt, auf das sich Ihre Frage bezog, nämlich die Fehmarnbelt-Querung, längst über das Ob entschieden ist.
Es gibt dazu nämlich einen völkerrechtlich bindenden
Vertrag zwischen dem Königreich Dänemark und der
Bundesrepublik Deutschland. Er trägt die Unterschrift
von Wolfgang Tiefensee, in Klammern: SPD.
({5})
Den Eindruck zu erwecken, nachdem ein solcher völkerrechtlicher Vertrag von einem sozialdemokratischen
Verkehrsminister unterzeichnet worden ist
({6})
- ohne jegliche Bürgerbeteiligung -, könne noch eine
Diskussion über das Ob und die Sinnhaftigkeit dieses
Projektes stattfinden, ist verlogen,
({7})
denn in Wahrheit kann das deutsche Volk darüber nicht
mehr entscheiden, geschätzte Frau Kollegin. Das wissen
Sie.
({8})
Der Punkt, der mich in dieser Debatte und im Papier
der Sozialdemokraten am meisten beschwert, findet sich
unter Ziffer 2. Es geht um die Frage, inwieweit und inwiefern wir die Bevölkerung an der Planung der Bedarfe
beteiligen können.
Herr Kollege Döring, Frau Hagedorn würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, unbedingt; gerne.
Bitte.
Herr Kollege Döring, da nicht jeder so gut in dem
Staatsvertrag zwischen Deutschland und Dänemark drinsteckt wie ganz offensichtlich Sie und ich, würde ich Sie
bitten, dem Plenum und der Öffentlichkeit zu erläutern,
dass dieser Staatsvertrag einen Art. 22 enthält, der übrigens auf Initiative der damaligen Bundesregierung - von
Kanzlerin Merkel, Herrn Steinbrück und Herrn
Tiefensee an der Spitze - verhandelt und aufgenommen
wurde, auch die dänische Regierung hat ihn unterschrieben. Dieser Art. 22 sieht vor, dass man sich dann, wenn
sich maßgebliche Rahmenbedingungen, die bei Aushandlung des Vertrages - das war im Jahr 2008 - Bestand hatten, ändern - dabei geht es insbesondere um
finanzielle Aspekte -, erneut an einen Tisch setzt, über
die veränderten Rahmenbedingungen redet und möglicherweise sogar von einer Ausstiegsoption Gebrauch
macht.
Würden Sie mir zustimmen, dass sich seit 2008 nicht
nur durch die Pleite von Lehman Brothers und durch die
Finanz- und Wirtschaftskrise einige finanzielle Rahmenbedingungen bei großen Infrastrukturprojekten geändert
haben? Würden Sie mir weiterhin zustimmen, dass Dänemark gar keine Brücke mehr bauen will, sondern einen Tunnel? Würden Sie mir auch zustimmen, dass der
Bundesrechnungshof eine gewaltige Erhöhung, mindestens eine Verdopplung, der Kosten solide prognostiziert
hat?
Herr Kollege Döring, man muss hier ehrlicherweise
auch sagen: Der Art. 22 des deutsch-dänischen Staatsvertrages gilt, und die dänische Regierung hat ihn unterschrieben.
Frau Kollegin Hagedorn, das ist korrekt dargestellt. In
der Tat gibt es eine Öffnungsklausel, die Möglichkeiten
für neue Verhandlungen eröffnet. Diese Verhandlungen
sind aber zurzeit aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht in vertretbarer Weise anzustrengen;
denn das Königreich Dänemark hat entschieden, die
kompletten Gesamtkosten dieses Bauwerks zu tragen.
({0})
Wer sind dann wir als Vertragspartner, Gespräche darüber zu führen und dem dänischen Parlament und der
dänischen Regierung auszureden, diese Infrastrukturmaßnahme komplett zu bezahlen, trotz der zu Recht
angesprochenen vorhandenen Risiken? Ich glaube, das
wäre nicht redlich. Die Bundesrepublik Deutschland
wäre dann kein guter Vertragspartner, und darauf kommt
es mir an.
Der Vertrag gilt, und über das Ob wird keine Bürgerbefragung dieser Welt noch entscheiden können. Das
muss man den Menschen dann auch sagen. Ich bin sehr
für eine Bürgerbeteiligung hinsichtlich der Frage, wie
wir die notwendige Schieneninfrastruktur realisieren.
Die Realisierung der Fehmarnbelt-Querung ist aber
durch völkerrechtlich bindenden Vertrag erst einmal in
Stein gemeißelt. Das hat Ihr sozialdemokratischer Verkehrsminister zu verantworten, geschätzte Kollegin, und
darauf, das klarzustellen, kam es mir an.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter der Ziffer 2
Ihres Antrages wird der Eindruck erweckt, dass der Bedarf an öffentlicher Infrastruktur - Straße, Schiene, Wasserstraße - in Deutschland quasi durch eine anonyme,
weit abgekoppelte Behörde Bundesverkehrsministerium
oder auch durch den Verkehrsausschuss des Deutschen
Bundestages zustande kommt. Das ist in Wahrheit eine
völlig verzerrte Darstellung, genauso wie der so populäre Begriff Wünsch-dir-was-Liste, den der Kollege
Hofreiter hier verwendet hat.
Wer wünscht sich eigentlich was von wem? Es ist ja
nicht so, dass der Bund durch die Gegend läuft und sagt:
Wir haben rasend viel Geld, nun teilt uns doch endlich
mit, wo wir das verbauen können! - In Wahrheit wünschen sich die Menschen, die in Orten wohnen, die mehr
als 20 000 oder 30 000 Pkw und Lkw pro Tag ertragen
müssen, eine andere Infrastruktur. Die Menschen, die an
Schienentrassen wohnen, auf denen viele Güterzüge fahren - erfreulicherweise aufgrund der guten Konjunktur -,
wünschen sich mehr Lärmschutz. Die Bürgerinnen und
Bürger in Nordrhein-Westfalen, die jeden Morgen auf
dem Weg zur Arbeit und am Abend auf dem Weg in den
Feierabend im Stau stehen, wünschen sich eine neue Infrastruktur.
({2})
Deshalb ist es gelebte Bürgerbeteiligung, dass wir diese
Wünsche in einem Bundesverkehrswegeplan abbilden.
Hier haben wir vielleicht ein unterschiedliches Verständnis, aber das ist kluge Infrastrukturplanung, weil sie sich
an der Realität orientiert.
({3})
Dass man nicht alle Wünsche erfüllen kann, liegt in
der Natur der Sache. Die Opposition hat immer unendlich viel Geld, und wir müssen verantwortungsbewusst
mit den Mitteln umgehen, die wir haben. Das Zerrbild,
dass die Wünsche nicht aus der Mitte der Bevölkerung
von der betroffenen Bevölkerung, sondern von einer
supraplanenden Behörde oder Bahn ausgehen, die nichts
anderes zu tun hat, als sinnlose Infrastruktur zu planen,
lasse ich nicht zu und will ich hier nicht durchgehen lassen. Das ist eine Verzerrung dessen, wie wir die Infrastruktur in Deutschland planen, nämlich orientiert an den
Sorgen und Nöten der Menschen in Deutschland, die an
Straßen, Schienen und Wasserstraßen leben.
({4})
Ich will auch zu dem interessanten Aspekt der Flugrouten kommen, der ja insbesondere diese Stadt, in der
wir hier arbeiten dürfen, bewegt hat. Durch das Fluglärmgesetz der Großen Koalition wurde die permanente
öffentliche Beteiligung über die Fluglärmkommission
gesetzlich verankert. Das war gut so. Wir als Opposition
haben das damals unterstützt, und das hat hier auch Anwendung gefunden.
Es gehört aber zur politischen Willensbildung und zur
seriösen politischen Debatte dazu, dass man auch sagt:
Bei der Realisierung von Anflug- und Abflugrouten an
einem Flughafen müssen zwar auch die Lärmauswirkungen berücksichtigt werden - das ist überhaupt gar keine
Frage -, aber die Flugrouten müssen zuallererst, zumindest nach den Gesetzen in Deutschland und in aller Welt,
unter dem Aspekt der Sicherheit des An- und Abfluges
geplant werden.
({5})
Das geht eben vor. So leid es mir für die Bürgerinnen
und Bürger tut, die von Lärm betroffen sind: Die Sicherheit von Lande- und Startvorgängen an einem neuen
Großflughafen ist nicht verhandelbar. Manchmal geht
sie den berechtigten Lärmschutzinteressen der Bürgerinnen und Bürger auch vor.
Das ist auch politische Realität, die man dann auch
kommunizieren muss. Ich stelle fest, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin und der Ministerpräsident von Brandenburg - in Klammern: beide SPD - in
der vierten Amtszeit sind. Ganz offensichtlich hat es ihnen nicht geschadet, dass sie zu dem Flughafen gestanden haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({6})
Abschließend ist festzustellen, dass dies ein Positionspapier der Sozialdemokraten ist, das weitestgehend
das aufnimmt, was wir in Gesetzen realisieren, das aber
leider an manchen Punkten das Kind mit dem Bade ausschüttet und das - das ist eigentlich das Tragischste - so
gar nicht zu der Realität passt, die die Sozialdemokraten
in den Ländern zeigen, in denen sie regieren. Denn Sie
haben in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen und
in Baden-Württemberg Koalitionsverträge unterschrieben, in denen steht, dass Sie gar keine Infrastruktur mehr
realisieren wollen. Das ist natürlich der einfachste Konsens: indem man sich schlicht verweigert. Das ist aber
nicht die Politik, die wir machen wollen. Wir wollen mit
dem Bürger klug planen und bauen. Das ist der Unterschied.
Vielen Dank, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Sabine Leidig von der Fraktion Die Linke.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!
Es ist sowohl von Herrn Minister Ramsauer als auch von
Ihnen, Herr Döring, gerade der Eindruck erweckt worden, es hätte eine Volksabstimmung über das Projekt
Stuttgart 21 gegeben. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr hat es eine Volksabstimmung in einer Phase des
Projektes gegeben, in der schon alles das schlecht gelaufen ist, was wir hier zu Recht auf die Tagesordnung gesetzt haben. Bei der Abstimmung, die in Baden-Württemberg stattgefunden hat, ging es um die Frage, ob das
Land als einer der Projektträger aus diesem Projekt aussteigen soll. Diese Volksabstimmung war mit einer groß
angelegten Kampagne verbunden, bei der überall Plakate zu sehen waren, auf denen stand: 1,2 Milliarden
Euro Ausstiegskosten.
Heute kann man sagen, das war die große Ausstiegskostenlüge, die von den Projektbetreibern flächendeckend verbreitet worden ist und die den Bürgerinnen und
Bürgern suggeriert hat, dass das Land 1,2 Milliarden
Euro zu zahlen hätte, wenn der Bahnhof nicht gebaut
würde.
Ich möchte an dieser Stelle auch erwähnen, dass der
Vorstandsvorsitzende von Daimler, Herr Zetsche, auf die
Frage, warum Daimler gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden so viel Geld in diese Kampagne investiert, ob
denn ein Vorteil für sie durch Stuttgart 21 entstünde,
sagte: Nein, er könne keinen Vorteil nennen. Es gehe
grundsätzlich um die Frage, ob ein Teil der Öffentlichkeit der Industrie vorschreiben könne, was sie zu machen habe.
Ich glaube, das ist an dieser Stelle eine wichtige Ergänzung.
({0})
Herr Kollege Döring zur Erwiderung.
Geschätzte Frau Kollegin Leidig, Sie wissen, dass ich
mich mit diesem Projekt auch in anderer Funktion sehr
intensiv befasse. Deshalb will ich nicht auf alle Vorhaltungen eingehen.
Sind Sie bereit, mir dahin gehend zu folgen, dass seit
1994, als das erste Mal über dieses Projekt diskutiert
wurde, in Ermangelung des Instruments des Bürgerentscheids sowohl in Baden-Württemberg als auch im Bund
dennoch zahlreiche demokratische Wahlen stattgefunden
haben zum Gemeindeparlament, zum Landtag und zum
Deutschen Bundestag, in denen jedes Mal dieses Projekt
Teil des Wahlkampfs zumindest in der Region Stuttgart
war und in denen jedes Mal dennoch Vertreterinnen und
Vertreter von Union und FDP mit großer Mehrheit gewählt wurden?
Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass, wenn man keinen Volksentscheid macht, wenigstens demokratische
Wahlen, die diejenigen als Gewinner hervorbringen, die
für das Projekt sind, ein gewisser Indikator dafür sind,
wie die Mehrheit der Bevölkerung tickt?
Wir haben bisher kaum ein transparenteres Planungsverfahren als bei Stuttgart 21. Über Stuttgart 21 ist mehr
als 50-mal im Stuttgarter Gemeindeparlament und mehr
als 30-mal im Stuttgarter Landtag diskutiert worden. Es
sind mehr als 3 000 Bürgereinwendungen positiv abgeräumt worden, berücksichtigt worden bei der Planung.
({0})
Dann gab es ein Problem. Das will ich Ihnen zugestehen. Zwischen dem Zeitpunkt der Planfeststellung und
dem Zeitpunkt des Baubeginns ist zu viel Zeit verstrichen, in der die Diskussion und die Aufklärung der Bevölkerung erlahmte. Das hat die neue Bürgerentscheidsdebatte bzw. Schlichtungsdebatte dann wieder geheilt.
Aber den Eindruck zu erwecken, es sei geheimdienstlich
gearbeitet worden, ist in Anbetracht der ausführlichsten
parlamentarischen Beratung im Gemeindeparlament, im
Landtag und auch in diesem Hause schlicht die Unwahrheit. Es gehört zur Wahrheit dazu: Die Parlamente und
die gewählten Vertreter haben sich mit diesem Projekt
mehr beschäftigt als mit so gut wie jedem anderen in
Deutschland.
Mit Verlaub: Bei aller Sympathie für Bürgerentscheidungen und Bürgerbeteiligung, auch die repräsentative
Demokratie hat eine Aufgabe. Diese hat sie an dieser
Stelle besonders ausführlich und sorgfältig wahrgenommen. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege
Herbert Behrens das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Vorbemerkung zu Ihnen, Herr Minister Ramsauer.
Sie spielen unberechtigterweise die Planer gegen die
Bürger aus, wenn Sie sagen: Die Planer machen ihre Arbeit gut und vernünftig. Es ist ungerechtfertigt, die Entscheidungen der Planer anzugreifen. - Die Planer machen ihre Arbeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten,
({0})
im Rahmen von Gesetzen und Vorschriften. In diesen
Vorschriften kommt Bürgerbeteiligung nicht ausreichend vor. Darum sind die Planer ab dem Zeitpunkt,
wenn sie mit ihrer Planung fertig sind, vor die Situation
gestellt, dass sie wesentliche Teile offenbar nicht berücksichtigen konnten und durften. Insofern ist das eine ungerechtfertigte Gegenüberstellung von Bürgern und Planern.
({1})
Woche für Woche gehen immer noch Menschen auf
die Straße, sowohl hier in Berlin als auch in Frankfurt
und München, wenn es darum geht, Flughafenerweiterungen zu kritisieren und mehr Lärmschutz und auch Alternativen einzufordern. Da haben sich Engagierte zusammengetan. Sie haben sich gefunden und nicht
aufgegeben, obwohl ihnen alle Offiziellen sagen: Geht
nach Hause, das Ding ist gelaufen. - Diese engagierten
Menschen sagen aber: Wir sind die Bürger. Wir sind der
Souverän. Deshalb soll unsere Position einbezogen werden in das, was noch folgt.
Wir halten diese Position für richtig und für außerordentlich wichtig. Eines zeigt sich dabei: Diese Diskussion und diese Demonstrationen haben dazu geführt,
dass wir uns heute mit dieser Frage hier im Bundestag
beschäftigen. Das finde ich gut. Das ist meine Überzeugung.
({2})
Aber viele Menschen wenden sich inzwischen ab. Sie
melden sich eben nicht mehr zu Wort, weil sie immer zu
hören bekommen: Es ist schön und gut, wenn ihr euch
kümmert, aber das Verfahren ist abgeschlossen. Insofern
gibt es keine Chance mehr, etwas zu verändern. - Die
Linke sagt: Wir brauchen mehr Bürgerengagement in der
Gesellschaft. Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung bei
der Planung von Verkehrsprojekten. Das ist eine Frage
von Demokratie und nicht nur in Bezug auf einzelne Fragen wichtig.
Was soll die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger
leisten? Hier wurde darüber diskutiert: Soll sie das
Schmiermittel sein, damit Verkehrsprojekte schneller
umgesetzt werden, oder soll sie grundsätzlich zu besseren, zu fundierteren Entscheidungen führen?
In ihrem Antrag bemüht sich die SPD-Fraktion darum, sich dieser Frage zu nähern, aber sie beantwortet
diese Frage nicht. Es soll ein neuer gesellschaftlicher
Konsens für moderne Infrastruktur geschaffen werden.
Das ist ein vernünftiger Ansatz. Aber ein Punkt, der mir
wichtig ist: Dieser Konsens soll in der Begleitung von
Verfahren hergestellt werden. Die Diskussion, die wir
gerade eben geführt haben, macht deutlich: Es ist falsch,
die Beteiligung von Bürgern erst in Begleitung von Verfahren einzuführen. Dann ist möglicherweise ein Gesamtprojekt schon schief eingestielt und kann überhaupt
nicht mehr gerade werden. Darum ist Bürgerbeteiligung
ganz woanders anzusetzen. Auch das steht in Ihrem Antrag, aber ich finde, dieser Satz gehört an den Anfang Ihres Antrages. Bürgerbeteiligung heißt, sich zunächst damit zu befassen, ob es überhaupt einen Bedarf für ein
bestimmtes Projekt gibt. An dieser entscheidenden Stelle
kann sich Bürgerbeteiligung entwickeln.
({3})
- Richtig. Auf Seite 2 unter „ferner liefen“.
({4})
Ich will es an einer zentralen Stelle Ihres Antrages haben, damit ich einen Anspruch darauf habe, das zu fordern. Aber Sie müssen all das, was folgt, diesem Grundsatz unterordnen. Insofern ist es wichtig, dass man die
Prämisse an den Beginn setzt und dann die daraus abgeleiteten Folgen auflistet.
({5})
Ein gutes Verfahren schützt nicht davor, dass ein Projekt vor die Wand fährt. Ein Beispiel dafür haben wir in
Berlin bei dem Mediationsverfahren „Bäume am Landwehrkanal“ gesehen. Seit Ende 2007 findet in Berlin in
dieser Frage das größte Mediationsverfahren statt. 25 Vertreterinnen und Vertreter von Behörden und Verbänden
und die Bürgerinnen und Bürger sind daran beteiligt. Am
vergangenen Wochenende war in der Presse zu lesen,
dass plötzlich ohne Absprache mit den Beteiligten
100 Bäume abgehackt werden sollen. Das war überhaupt
nicht vorgesehen. Die Bürgerinitiativen sind entsetzt darüber, dass all das, was vorher besprochen worden ist,
auf einmal überhaupt nicht mehr gelten soll.
Uns ist es wichtig, dass Bürgerbeteiligungsverfahren
insbesondere auf solche Situationen vorbereitet werden.
Das heißt, sie sollen darauf vorbereitet werden, was man
machen kann, wenn Absprachen, wenn gemeinsam gefundene Kompromisse nicht umgesetzt werden, wenn
man an einer bestimmten Stelle vor die Wand läuft. Wir
als Linke sind dafür, am Beginn eines Verfahrens öffentlich und breit zu diskutieren, ob ein Umbau, ein Ausbau
oder ein Neubau eines Verkehrsprojektes überhaupt notwendig ist. Wenn dieser Bedarf festgestellt wird, dann
tritt man in das Beteiligungsverfahren mit Bürgerinnen
und Bürgern ein.
Die vielen Proteste von Bürgerinnen und Bürgern in
Stuttgart, in München und auch hier in Berlin sind nicht
nur Protestaktionen gegen Fehlplanungen. Ich finde, sie
sind auch Proteste gegen die wirtschaftlich Mächtigen,
die die Politik auf ihre Seite ziehen.
({6})
Sie sind eine Aufforderung an die Politik, in der Verkehrspolitik umzudenken und die Zukunft anders zu planen. Diese Aufforderung nehmen wir gerne an.
Vielen Dank.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der
Kollege Stephan Kühn das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ehrliche Bürgerbeteiligung, soll sie nicht der reinen Akzeptanzbeschaffung dienen, setzt eine ehrliche und offene Prüfung von Alternativen voraus; denn der Erfolgsfaktor für Bürgerbeteiligung heißt Ergebnisoffenheit.
Liest man in dem besagten Handbuch, gewinnt man
schnell den Eindruck, dass es darum geht, Kritiker kleinzukriegen oder, wie es der Kollege Döring ausgedrückt
hat, Kritiker und Bedenken einfach abzuräumen.
Dialog auf Augenhöhe heißt übrigens auch, Planfeststellungsverfahren oder Anhörungen nicht mitten in den
Schulferien stattfinden zu lassen, wie es in Deutschland
leider gelebte Praxis ist. Darüber hinaus heißt es, dass
wir gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern eine verständliche Sprache finden. Statt „Lichtsignalanlage“
kann man zum Beispiel „Ampel“ sagen. Würde man
dem folgen, würde das bedeuten, dass man sich an vielen
Stellen vom Planer-Deutsch trennen müsste. Des Weiteren heißt das, dass wir in solchen Verfahren freien Zugang zu allen Unterlagen bekommen, beispielsweise zu
Verkehrsprognosen. Die Bürgerinnen und Bürger wollen
hinterfragen, sie wollen tatsächlich prüfen, ob die unterstellten Annahmen mit der Realität etwas zu tun haben.
({0})
Die entsprechenden Unterlagen werden ihnen aber meistens nicht zur Verfügung gestellt.
Im „Handbuch Bürgerbeteiligung“, das uns hier vorgelegt wurde, wird suggeriert, eine bessere Bürgerbeteiligung sei ohne eine weitere gesetzliche Änderungen auf
Basis des geltenden Rechts möglich. Das funktioniert
nicht. Ich will es Ihnen am Beispiel Flughafenplanung
und Flugroutenplanung deutlich machen. Dort geht es
nicht ohne gesetzliche Änderungen, will man eine tatsächliche Verbesserung beim Lärmschutz für die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner erreichen. Ohne
eine Verbesserung des Lärmschutzes wird man in der
Bevölkerung keine Akzeptanz mehr für Großprojekte erhalten.
Wie ist die Situation? Raumordnungsverfahren, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Planfeststellungsverfahren zum Ausbau und Neubau von Flughafeninfrastruktur finden lange vor Festlegung der Flugrouten
statt, sodass die Bewältigung des Lärmkonflikts gar
nicht stattfinden kann. Das Raumordnungsverfahren, das
letztlich über die Standortwahl entscheidet, sieht überhaupt keine Bürgerbeteiligung vor. Wie das Verfahren
beim Hauptstadtflughafen zeigt, ist im Rahmen des
Planfeststellungsverfahrens nicht garantiert gewesen,
dass tatsächlich alle betroffenen Gemeinden und alle
Bürgerinnen und Bürger beteiligt wurden, die später von
den Flugrouten betroffen sind. Eine direkte Beteiligung
der betroffenen Bürgerinnen und Bürger am Verfahren
zur Festlegung von Flugrouten ist nach dem Luftverkehrsgesetz wiederum gar nicht vorgesehen. Daran ändern auch die Beratungen der Flugroutenvorschläge in
Lärmschutzkommissionen nichts. Dort haben die Bürgerinnen und Bürger keine Möglichkeiten, direkt Einfluss
zu nehmen und Einspruch zu erheben.
Für den Ablauf des Planfeststellungsverfahrens zum
Erlass von Flugrouten existieren im Übrigen gar keine
gesetzlichen Grundlagen, weder im Luftverkehrsgesetz
noch in der Luftverkehrs-Ordnung. Die Bundesregierung - wir haben das Thema zuletzt im Ausschuss behandelt - hat nicht erkennen lassen, dass sie hier Handlungsbedarf sieht. Das finde ich völlig inakzeptabel. Wo
bleibt die angekündigte Transparenz für die Bürgerinnen
und Bürger?
({1})
In einem Planfeststellungsverfahren - das besagt die
Theorie - sollen alle Probleme und Konflikte bewältigt
werden. Dadurch, dass die Flugrouten aber davon getrennt in einem anderen, späteren Verfahren festgelegt
werden, ist eine wirkliche Bewältigung des Lärmkonfliktes nicht möglich. Daher sollte die Planung der
Hauptflugverfahren in das Planfeststellungsverfahren integriert oder ein entsprechendes separates Beteiligungsverfahren, also mit wirklichen Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger, aufgelegt werden.
Sonst werden weiter zuerst die Flughafenkapazitäten
festgelegt und erst danach die Flugrouten, sodass der
Lärm dann nur noch verteilt statt reduziert werden kann.
Wir brauchen also nicht nur die freiwillige, sondern
auch mehr verbindliche Bürgerbeteiligung bei der Flughafen- und Flugroutenplanung. Wir brauchen die verbindliche Einführung von Mediationsverfahren im Vorfeld zu den formellen Genehmigungsverfahren.
({2})
Das bedeutet aber auch, dass sich beispielsweise die
schwarz-gelbe Landesregierung in Hessen an die Ergebnisse eines solchen Mediationsverfahrens zu halten hat.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss und ende damit, dass auch
die Zusammensetzung der Fluglärmkommissionen zugunsten einer stärkeren Beteiligung der Betroffenen verändert werden muss. In Leipzig beispielsweise werden
nicht einmal die Tagesordnungen und Protokolle der
Sitzungen veröffentlicht. Ich finde, das ist ein Skandal.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Herzlichen
Dank.
({0})
Der Kollege Patrick Schnieder hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns,
jedenfalls in der großen Mehrheit, einig, dass eine leistungsfähige Infrastruktur für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland und die Zukunft unseres
Wohlstandes von entscheidender Bedeutung ist.
Wir sind uns auch einig - das betrifft den Großteil des
Antrags der Sozialdemokraten -, dass wir bei den Verfahren, die wir praktizieren, um Infrastruktur neu schaffen und ausbauen zu können, in dem einen oder anderen
Fall nachbessern müssen. Deshalb hat sich diese Koalition auf die Fahne geschrieben, die Verfahren zu verbes20254
sern und mehr und bessere Bürgerbeteiligung bei den
Planungsverfahren zu erreichen.
Diese Koalition ist auf einem guten und richtigen
Weg, weil sie das nicht nur beschreibt, sondern auch
umsetzt. Deshalb bin ich sowohl dem Bundesinnenminister als auch dem Bundesverkehrsminister, Herrn
Dr. Ramsauer, sehr dankbar, dass diese beiden Initiativen, nämlich der Gesetzentwurf zur Verbesserung der
Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von
Planfeststellungsverfahren sowie das Handbuch Bürgerbeteiligung, jetzt vorliegen.
({0})
Wo liegen die Probleme? Meiner Ansicht nach ist das
Kernproblem die überlange Verfahrensdauer von der Geburt einer Idee und dem Beginn eines Projektes bis hin
zur Umsetzung. Oft sind diejenigen, die über ein Projekt
entschieden haben, am Ende gar nicht mehr im Amt und
sehen nicht, was aus ihrem Projekt geworden ist. Oftmals sind es am Ende auch andere, die dann tatsächlich
von dieser Infrastruktur profitieren oder auch Einschränkungen hinzunehmen haben.
Deshalb müssen wir an erster Stelle bei der überlangen Verfahrensdauer ansetzen und uns mit der Frage befassen, wie wir zu strafferen und effizienteren Verfahren
kommen.
({1})
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass
die Bürger im Planfeststellungsverfahren bisher in einem
sehr komplizierten Verfahren nur formal beteiligt werden. Es sind vor allem diejenigen eingebunden, die mit
einer entsprechenden Maßnahme beschwert sind oder ihren Protest dagegen äußern.
({2})
Deshalb finde ich es richtig, sehr geehrter Herr Minister,
dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir auch diejenigen, die für die Infrastruktur eintreten, im Vorfeld solcher Maßnahmen beteiligen wollen. Das hat zudem den
Vorteil, dass der Zeitablauf diejenigen, die betroffen sind
oder die Planänderungen im Laufe eines solchen Verfahrens zu gewärtigen haben, nicht überholt.
({3})
Deshalb glaube ich, dass wir an vier verschiedenen Stellen einhaken müssen.
Das Erste ist: Wir brauchen ein Bekenntnis zu neuer
Infrastruktur in Deutschland, und zwar für alle Verkehrsträger.
({4})
Das ist nicht trivial. Das ist vielleicht trivial für eine
Seite des Hauses, aber das ist leider nicht mehr bei allen
Verkehrsträgern Konsens. Der Kollege Döring hat darauf hingewiesen, dass einige Landesregierungen zum
Beispiel keinen Straßenbau mehr wollen. Dazu zählen
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und NordrheinWestfalen; die Beispiele sind genannt worden. Deshalb
muss das erste Bekenntnis lauten: Wir stehen zu einer
leistungsfähigen und zukunftsfähigen Infrastruktur in
Deutschland.
({5})
Zweiter Punkt: Wir brauchen eine frühere Öffentlichkeitsbeteiligung.
({6})
Wir wollen unterschiedliche Meinungen am Anfang des
Verfahrens diskutieren. Wir wollen nicht nur die Bedenkenträger, sondern auch die Befürworter an den
Tisch bringen, ihnen die Möglichkeit zur Mitsprache
bieten und das, was dort an Gutem geäußert wird, in die
Planungsphase mit einbeziehen.
Wir brauchen drittens mehr Informationen, eine verbesserte Kommunikation und mehr Transparenz in den
Verfahren. Auch das ergibt sich zum Teil aus der Komplexität und der langen Verfahrensdauer. Deshalb bin ich
dankbar, dass in dem E-Government-Gesetz vorgesehen
ist, dass wir die Möglichkeiten des Internets nutzen.
Viertens brauchen wir effizientere Planungsverfahren.
Ich habe hier mehrfach wahrgenommen, dass Mediationsverfahren als die Erfüllung aller Wünsche und als
die Lösung aller Probleme dargestellt wurden.
({7})
Ich wäre dankbar, wenn Sie sich an Ihren eigenen Ansprüchen messen lassen würden. Mir sind durchaus
Projekte bekannt, zu denen Mediationsverfahren durchgeführt worden sind. Dort wird ein Mediationsverfahren
an das nächste gehängt, um die Dinge zu verzögern und
somit das Projekt nicht umsetzen zu müssen.
({8})
- Das ist zum Beispiel die B 10 in der Pfalz. Dort sind
die Mediationsverfahren längst durchgeführt worden,
und nun könnte man langsam an das Baurecht denken.
Dort werden aber neue Mediationsverfahren eingeleitet,
um die Projekte zu verzögern und nicht umsetzen zu
müssen.
Deshalb ist ein sehr wichtiger Punkt, dass wir Verfahren entbürokratisieren.
({9})
- Ja, aber genau das Gegenteil machen Sie mit Ihrem
Antrag. Sie blähen Verfahren durch die Forderungen, die
hier vorgetragen worden sind, auf, und dies führt dazu,
dass sie länger dauern. Damit wird das konterkariert,
was man mit einer früheren Bürgerbeteiligung erreichen
kann.
({10})
Ein ganz wesentlicher Bereich ist das Umweltrecht,
das wir dringend optimieren müssen. Ein problematischer Punkt ist sicherlich das Verbandsklagerecht. Ich
sage frank und frei, dass ich kein Freund des Verbandsklagerechts bin. Durch die aktuelle EuGH-Entscheidung
zum Kohlekraftwerk Lünen ist das Klagerecht für Umweltverbände stark ausgeweitet worden. Das wird für die
Umsetzung von Infrastrukturprojekten kontraproduktiv
sein und zusätzliche Erschwernisse in diesem Bereich
bringen. Deshalb müssen wir uns intensiv Gedanken
darüber machen, wie wir insbesondere im Bereich des
Umweltrechts, aber auch beim Verbandsklagerecht eher
zu einer Einschränkung als zu einer Erweiterung dieser
ausufernden Beteiligungsrechte kommen.
({11})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen; ich
meine die schnellere Umsetzung. Wir müssen in
Deutschland dazu kommen, dass wir das Projekt dann,
wenn Baurecht vorliegt, auch tatsächlich umsetzen. Es
kann nicht sein, dass Projekte fertig sind und Baurecht
vorliegt, es aber noch Jahre dauert, bis diese umgesetzt
werden.
Auch die Finanzierung muss gesichert sein. Wir brauchen zusätzliches Geld für die Verkehrsinfrastruktur. Auch
in diese Richtung hat der Verkehrsminister einen ersten
wichtigen Schritt durch die zusätzliche Milliarde Euro, die
in die Verkehrsinfrastruktur fließt, unternommen. Wir
haben allerdings auch andere Möglichkeiten, die Verkehrsinfrastruktur auszubauen. Zum Beispiel könnten wir
das Instrument der ÖPP-Projekte stärker nutzen. Die Erfahrungen mit der ersten Staffel der A-Modelle sind
schließlich positiv, vor allem was die Beschleunigung und
Umsetzung von Projekten angeht. Wir müssen auch weiterhin die Potenziale nutzen, die in diesem Bereich liegen.
Ohne zukunftsweisende Verkehrsprojekte werden wir
die wachsenden Mobilitätsanforderungen in Deutschland nicht in den Griff bekommen. Die Vorbereitungen
für den neuen Bundesverkehrswegeplan laufen. Dabei
ist die Beteiligung der Öffentlichkeit als fester Bestandteil vorgesehen, sowohl als Information als auch als
Konsultation im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Strategischen Umweltprüfung. So können Bürger
dort zum Entwurf des Bundesverkehrswegeplans selbst
Stellung nehmen. Das wird dann auch in die Beratungen
und Entscheidungen einfließen.
Diese Koalition steht für eine leistungsfähige Infrastruktur und deren Ausbau. Sie steht für ein Mehr an Öffentlichkeitsbeteiligung und Transparenz. Sie steht auch
für straffere Verfahren und für zügige Umsetzung. Ich
darf festhalten, dass wir nicht nur reden, sondern auch
handeln und dass wir uns auf einem guten Weg befinden.
({12})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hans-Joachim
Hacker jetzt das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Am Ende der Debatte kann man nicht viel
Neues sagen. Ich will deswegen auf ein paar Gedanken
meiner Vorredner eingehen.
Herr Schnieder, ich hatte vorhin das Gefühl, fast die
Angst, Sie hätten mit meinem Büro korrespondiert und
Teile meiner Rede übernommen; denn in weiten Bereichen, muss ich sagen, haben Sie das angesprochen, was
auch in unserem Antrag steht.
({0})
Insofern bin ich sehr optimistisch, dass wir hier heute
eine große Zustimmung bekommen.
Ihre zentrale Botschaft „Deutschland braucht eine
leistungsfähige Infrastruktur, um auch künftig als moderner Industrie- und Dienstleistungsstandort wirtschaftlich erfolgreich zu sein“, ist der Aufschlag unseres Antrags. Da sind wir uns völlig einig.
Natürlich geht es uns darum, dass wir nicht, wie in
der Vergangenheit, über das Wie diskutieren, sondern
tatsächlich über das Ob. Dazu haben wir eine konkrete
Ansage, nicht nur auf der Seite 2 unseres Antrags, Herr
Behrens; wir fordern im Bereich der Netz- und Bedarfsplanung für Bundesverkehrswege und Energieleitungen
ganz konkret, „den Bedarf für Infrastrukturprojekte
transparent und unter Mitwirkung der Öffentlichkeit zu
ermitteln“.
Wir haben heute den Fall, dass mehr Projekte in den
Regionen gefordert werden, zum Beispiel Ortsumgehungen; wir haben aber auch den Fall, dass Bürgerinnen und
Bürger in den Gemeinden und auch Kommunalpolitiker
ein bestimmtes Projekt nicht wollen, das vor 15 Jahren
einmal geplant wurde.
Praktisches Beispiel: die Ortsumgehung Bad Doberan
in Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es eine Bürgerinitiative gegen die Ortsumgehung.
({1})
Dort wird wahrscheinlich nicht mehr gebaut, Herr
Minister; denn Sie werden sich, wie ich Sie kenne, ja
nicht gegen das Volk stellen. Dieses Projekt werden wir
im nächsten Bundesverkehrswegeplan bestimmt nicht
wiederfinden, weil sich das Land Mecklenburg-Vorpommern mittlerweile klar dagegen erklärt hat.
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie unseren Antrag
würdigen, Herr Minister. Sie haben in der Substanz an
unserem Antrag nichts auszusetzen gehabt.
({2})
Sie haben aber ein Stück weit den Eindruck erweckt,
als würden wir die Rechtsweggarantie infrage stellen.
Das ist dem Antrag nicht im Ansatz zu entnehmen.
Natürlich ist auch für die Sozialdemokratie ganz klar:
Wir werden die Konflikte bei Infrastrukturvorhaben
nicht allein durch Mediation klären können, aber Mediation ist ein Weg, um den Konflikt vorzeitig aufzunehmen
und vielleicht gütlich zu lösen. Der Rechtsweg - das ist
grundgesetzlich verankert - kann gar nicht beschränkt
werden.
Wenn wir uns hier heute über diesen Antrag unterhalten, geschieht dies auch deshalb, weil die SPD die Partei
ist, die immer auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens gesetzt hat. Willy Brandt hat das Wort geprägt:
Mehr Demokratie wagen. - Dieser Grundgedanke zieht
sich durch unseren Antrag. Wir wollen mehr Bürgerdemokratie erreichen.
({3})
Es sind hier in der Diskussion von den Kollegen vor
mir, auch aus der Koalition, Fehler der Vergangenheit
genannt worden: späte Einbeziehung der Bürger, Diskussion nicht über das Ob, sondern erst über das Wie,
lange Planungszeiträume. Ich denke, dass es auch neue
Formen der Information der Bürger geben muss. Die viel
zitierten 40 Aktenordner sind nicht der Weg, um Bürger
mit einzubeziehen und aufzuklären.
({4})
Seien wir doch einmal ehrlich: Wir würden selber
Schwierigkeiten haben, in einem Erörterungstermin alle
Unterlagen objektiv zu bewerten. Wir brauchen neue
Formen der Information. Die Bundesregierung - wir haben das Thema zuletzt im Ausschuss behandelt - hat
nicht erkennen lassen, dass sie hier Handlungsbedarf
sieht. Das finde ich völlig inakzeptabel. Wo bleibt die
angekündigte Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger?
({5})
In einem Planfeststellungsverfahren - das besagt die
Theorie - sollen alle Probleme und Konflikte bewältigt
werden. Dadurch, dass die Flugrouten aber davon getrennt in einem anderen, späteren Verfahren festgelegt
werden, ist eine wirkliche Bewältigung des Lärmkonfliktes nicht möglich. Daher sollte die Planung der
Hauptflugverfahren in das Planfeststellungsverfahren integriert oder ein entsprechendes separates Beteiligungsverfahren, also mit wirklichen Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger, aufgelegt werden.
Sonst werden weiter zuerst die Flughafenkapazitäten
festgelegt und erst danach die Flugrouten, sodass der
Lärm dann nur noch verteilt statt reduziert werden kann.
Wir brauchen also nicht nur die freiwillige, sondern
auch mehr verbindliche Bürgerbeteiligung bei der Flughafen- und Flugroutenplanung. Wir brauchen die verbindliche Einführung von Mediationsverfahren im Vorfeld zu den formellen Genehmigungsverfahren.
({6})
Das bedeutet aber auch, dass sich beispielsweise die
schwarz-gelbe Landesregierung in Hessen an die Ergebnisse eines solchen Mediationsverfahrens zu halten hat.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss und ende damit, dass auch
die Zusammensetzung der Fluglärmkommissionen zugunsten einer stärkeren Beteiligung der Betroffenen verändert werden muss. In Leipzig beispielsweise werden
nicht einmal die Tagesordnungen und Protokolle der
Sitzungen veröffentlicht. Ich finde, das ist ein Skandal.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Herzlichen
Dank.
({0})
Der Kollege Patrick Schnieder hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns,
jedenfalls in der großen Mehrheit, einig, dass eine leistungsfähige Infrastruktur für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland und die Zukunft unseres
Wohlstandes von entscheidender Bedeutung ist.
Wir sind uns auch einig - das betrifft den Großteil des
Antrags der Sozialdemokraten -, dass wir bei den Verfahren, die wir praktizieren, um Infrastruktur neu schaffen und ausbauen zu können, in dem einen oder anderen
Fall nachbessern müssen. Deshalb hat sich diese Koalition auf die Fahne geschrieben, die Verfahren zu verbessern und mehr und bessere Bürgerbeteiligung bei den
Planungsverfahren zu erreichen.
Diese Koalition ist auf einem guten und richtigen
Weg, weil sie das nicht nur beschreibt, sondern auch
umsetzt. Deshalb bin ich sowohl dem Bundesinnenminister als auch dem Bundesverkehrsminister, Herrn
Dr. Ramsauer, sehr dankbar, dass diese beiden Initiativen, nämlich der Gesetzentwurf zur Verbesserung der
Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von
Planfeststellungsverfahren sowie das Handbuch Bürgerbeteiligung, jetzt vorliegen.
({0})
Wo liegen die Probleme? Meiner Ansicht nach ist das
Kernproblem die überlange Verfahrensdauer von der Geburt einer Idee und dem Beginn eines Projektes bis hin
zur Umsetzung. Oft sind diejenigen, die über ein Projekt
entschieden haben, am Ende gar nicht mehr im Amt und
sehen nicht, was aus ihrem Projekt geworden ist. Oftmals sind es am Ende auch andere, die dann tatsächlich
von dieser Infrastruktur profitieren oder auch Einschränkungen hinzunehmen haben.
Deshalb müssen wir an erster Stelle bei der überlangen Verfahrensdauer ansetzen und uns mit der Frage befassen, wie wir zu strafferen und effizienteren Verfahren
kommen.
({1})
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass
die Bürger im Planfeststellungsverfahren bisher in einem
sehr komplizierten Verfahren nur formal beteiligt werden. Es sind vor allem diejenigen eingebunden, die mit
einer entsprechenden Maßnahme beschwert sind oder ihren Protest dagegen äußern.
({2})
Deshalb finde ich es richtig, sehr geehrter Herr Minister,
dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir auch diejenigen, die für die Infrastruktur eintreten, im Vorfeld solcher Maßnahmen beteiligen wollen. Das hat zudem den
Vorteil, dass der Zeitablauf diejenigen, die betroffen sind
oder die Planänderungen im Laufe eines solchen Verfahrens zu gewärtigen haben, nicht überholt.
({3})
Deshalb glaube ich, dass wir an vier verschiedenen Stellen einhaken müssen.
Das Erste ist: Wir brauchen ein Bekenntnis zu neuer
Infrastruktur in Deutschland, und zwar für alle Verkehrsträger.
({4})
Das ist nicht trivial. Das ist vielleicht trivial für eine
Seite des Hauses, aber das ist leider nicht mehr bei allen
Verkehrsträgern Konsens. Der Kollege Döring hat darauf hingewiesen, dass einige Landesregierungen zum
Beispiel keinen Straßenbau mehr wollen. Dazu zählen
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und NordrheinWestfalen; die Beispiele sind genannt worden. Deshalb
muss das erste Bekenntnis lauten: Wir stehen zu einer
leistungsfähigen und zukunftsfähigen Infrastruktur in
Deutschland.
({5})
Zweiter Punkt: Wir brauchen eine frühere Öffentlichkeitsbeteiligung.
({6})
Wir wollen unterschiedliche Meinungen am Anfang des
Verfahrens diskutieren. Wir wollen nicht nur die Bedenkenträger, sondern auch die Befürworter an den
Tisch bringen, ihnen die Möglichkeit zur Mitsprache
bieten und das, was dort an Gutem geäußert wird, in die
Planungsphase mit einbeziehen.
Wir brauchen drittens mehr Informationen, eine verbesserte Kommunikation und mehr Transparenz in den
Verfahren. Auch das ergibt sich zum Teil aus der Komplexität und der langen Verfahrensdauer. Deshalb bin ich
dankbar, dass in dem E-Government-Gesetz vorgesehen
ist, dass wir die Möglichkeiten des Internets nutzen.
Viertens brauchen wir effizientere Planungsverfahren.
Ich habe hier mehrfach wahrgenommen, dass Mediationsverfahren als die Erfüllung aller Wünsche und als
die Lösung aller Probleme dargestellt wurden.
({7})
Ich wäre dankbar, wenn Sie sich an Ihren eigenen Ansprüchen messen lassen würden. Mir sind durchaus
Projekte bekannt, zu denen Mediationsverfahren durchgeführt worden sind. Dort wird ein Mediationsverfahren
an das nächste gehängt, um die Dinge zu verzögern und
somit das Projekt nicht umsetzen zu müssen.
({8})
- Das ist zum Beispiel die B 10 in der Pfalz. Dort sind
die Mediationsverfahren längst durchgeführt worden,
und nun könnte man langsam an das Baurecht denken.
Dort werden aber neue Mediationsverfahren eingeleitet,
um die Projekte zu verzögern und nicht umsetzen zu
müssen.
Deshalb ist ein sehr wichtiger Punkt, dass wir Verfahren entbürokratisieren.
({9})
- Ja, aber genau das Gegenteil machen Sie mit Ihrem
Antrag. Sie blähen Verfahren durch die Forderungen, die
hier vorgetragen worden sind, auf, und dies führt dazu,
dass sie länger dauern. Damit wird das konterkariert,
was man mit einer früheren Bürgerbeteiligung erreichen
kann.
({10})
Ein ganz wesentlicher Bereich ist das Umweltrecht,
das wir dringend optimieren müssen. Ein problematischer Punkt ist sicherlich das Verbandsklagerecht. Ich
sage frank und frei, dass ich kein Freund des Verbandsklagerechts bin. Durch die aktuelle EuGH-Entscheidung
zum Kohlekraftwerk Lünen ist das Klagerecht für Umweltverbände stark ausgeweitet worden. Das wird für die
Umsetzung von Infrastrukturprojekten kontraproduktiv
sein und zusätzliche Erschwernisse in diesem Bereich
bringen. Deshalb müssen wir uns intensiv Gedanken
darüber machen, wie wir insbesondere im Bereich des
Umweltrechts, aber auch beim Verbandsklagerecht eher
zu einer Einschränkung als zu einer Erweiterung dieser
ausufernden Beteiligungsrechte kommen.
({11})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen; ich
meine die schnellere Umsetzung. Wir müssen in
Deutschland dazu kommen, dass wir das Projekt dann,
wenn Baurecht vorliegt, auch tatsächlich umsetzen. Es
kann nicht sein, dass Projekte fertig sind und Baurecht
vorliegt, es aber noch Jahre dauert, bis diese umgesetzt
werden.
Auch die Finanzierung muss gesichert sein. Wir brauchen zusätzliches Geld für die Verkehrsinfrastruktur. Auch
in diese Richtung hat der Verkehrsminister einen ersten
wichtigen Schritt durch die zusätzliche Milliarde Euro, die
in die Verkehrsinfrastruktur fließt, unternommen. Wir
haben allerdings auch andere Möglichkeiten, die Verkehrsinfrastruktur auszubauen. Zum Beispiel könnten wir
das Instrument der ÖPP-Projekte stärker nutzen. Die Erfahrungen mit der ersten Staffel der A-Modelle sind
schließlich positiv, vor allem was die Beschleunigung und
Umsetzung von Projekten angeht. Wir müssen auch weiterhin die Potenziale nutzen, die in diesem Bereich liegen.
Ohne zukunftsweisende Verkehrsprojekte werden wir
die wachsenden Mobilitätsanforderungen in Deutschland nicht in den Griff bekommen. Die Vorbereitungen
für den neuen Bundesverkehrswegeplan laufen. Dabei
ist die Beteiligung der Öffentlichkeit als fester Bestandteil vorgesehen, sowohl als Information als auch als
Konsultation im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Strategischen Umweltprüfung. So können Bürger
dort zum Entwurf des Bundesverkehrswegeplans selbst
Stellung nehmen. Das wird dann auch in die Beratungen
und Entscheidungen einfließen.
Diese Koalition steht für eine leistungsfähige Infrastruktur und deren Ausbau. Sie steht für ein Mehr an Öffentlichkeitsbeteiligung und Transparenz. Sie steht auch
für straffere Verfahren und für zügige Umsetzung. Ich
darf festhalten, dass wir nicht nur reden, sondern auch
handeln und dass wir uns auf einem guten Weg befinden.
({12})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hans-Joachim
Hacker jetzt das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Am Ende der Debatte kann man nicht viel
Neues sagen. Ich will deswegen auf ein paar Gedanken
meiner Vorredner eingehen.
Herr Schnieder, ich hatte vorhin das Gefühl, fast die
Angst, Sie hätten mit meinem Büro korrespondiert und
Teile meiner Rede übernommen; denn in weiten Bereichen, muss ich sagen, haben Sie das angesprochen, was
auch in unserem Antrag steht.
({0})
Insofern bin ich sehr optimistisch, dass wir hier heute
eine große Zustimmung bekommen.
Ihre zentrale Botschaft, „Deutschland braucht eine
leistungsfähige Infrastruktur, um auch künftig als moderner Industrie- und Dienstleistungsstandort wirtschaftlich erfolgreich zu sein“, ist der Aufschlag unseres Antrags. Da sind wir uns völlig einig.
Natürlich geht es uns darum, dass wir nicht, wie in
der Vergangenheit, über das Wie diskutieren, sondern
tatsächlich über das Ob. Dazu haben wir eine konkrete
Ansage, nicht nur auf der Seite 2 unseres Antrags, Herr
Behrens; wir fordern im Bereich der Netz- und Bedarfsplanung für Bundesverkehrswege und Energieleitungen
ganz konkret, „den Bedarf für Infrastrukturprojekte
transparent und unter Mitwirkung der Öffentlichkeit zu
ermitteln“.
Wir haben heute den Fall, dass mehr Projekte in den
Regionen gefordert werden, zum Beispiel Ortsumgehungen; wir haben aber auch den Fall, dass Bürgerinnen und
Bürger in den Gemeinden und auch Kommunalpolitiker
ein bestimmtes Projekt nicht wollen, das vor 15 Jahren
einmal geplant wurde.
Praktisches Beispiel: die Ortsumgehung Bad Doberan
in Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es eine Bürgerinitiative gegen die Ortsumgehung.
({1})
Dort wird wahrscheinlich nicht mehr gebaut, Herr
Minister; denn Sie werden sich, wie ich Sie kenne, ja
nicht gegen das Volk stellen. Dieses Projekt werden wir
im nächsten Bundesverkehrswegeplan bestimmt nicht
wiederfinden, weil sich das Land Mecklenburg-Vorpommern mittlerweile klar dagegen erklärt hat.
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie unseren Antrag
würdigen, Herr Minister. Sie haben in der Substanz an
unserem Antrag nichts auszusetzen gehabt.
({2})
Sie haben aber ein Stück weit den Eindruck erweckt,
als würden wir die Rechtsweggarantie infrage stellen.
Das ist dem Antrag nicht im Ansatz zu entnehmen.
Natürlich ist auch für die Sozialdemokratie ganz klar:
Wir werden die Konflikte bei Infrastrukturvorhaben
nicht allein durch Mediation klären können, aber Mediation ist ein Weg, um den Konflikt vorzeitig aufzunehmen
und vielleicht gütlich zu lösen. Der Rechtsweg - das ist
grundgesetzlich verankert - kann gar nicht beschränkt
werden.
Wenn wir uns hier heute über diesen Antrag unterhalten, geschieht dies auch deshalb, weil die SPD die Partei
ist, die immer auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens gesetzt hat. Willy Brandt hat das Wort geprägt:
Mehr Demokratie wagen. - Dieser Grundgedanke zieht
sich durch unseren Antrag. Wir wollen mehr Bürgerdemokratie erreichen.
({3})
Es sind hier in der Diskussion von den Kollegen vor
mir, auch aus der Koalition, Fehler der Vergangenheit
genannt worden: späte Einbeziehung der Bürger, Diskussion nicht über das Ob, sondern erst über das Wie,
lange Planungszeiträume. Ich denke, dass es auch neue
Formen der Information der Bürger geben muss. Die viel
zitierten 40 Aktenordner sind nicht der Weg, um Bürger
mit einzubeziehen und aufzuklären.
({4})
Seien wir doch einmal ehrlich: Wir würden selber
Schwierigkeiten haben, in einem Erörterungstermin alle
Unterlagen objektiv zu bewerten. Wir brauchen neue
Formen der Information.
Für mich ist eine wichtige Schlussfolgerung aus der
Diskussion der letzten Monate, die wir mit Planungsträgern und Bürgerinitiativen geführt haben, dass wir den
offensichtlichen Widerspruch zwischen materieller Planung und Finanzrahmen beseitigen müssen. Dann kommen wir auch nicht in die Bredouille, in der sich Herr
Ramsauer jetzt mit seinem Investitionsrahmenplan befindet. Sie schieben jetzt Projekte aus dem IRP 2006 bis
2010 bis in die Zeit nach 2015. Ich spreche insbesondere
die Kollegen aus der CDU/CSU an, weil die in der Großen Koalition mit uns den alten IRP beraten und verabschiedet haben.
({5})
- Natürlich, das ist doch Ihre Erfindung. - Sie haben
eine wundersame Liste D erfunden, auf der Sie all die
Projekte zusammengefasst haben, die bis 2015 nicht
mehr realisiert werden. Sie schieben jetzt Projekte, deren
Realisierung vor Ort für die Zeit bis 2010 verkündet
worden ist, in die Zeit nach 2015, zum Beispiel den Autobahnzubringer Schwerin. Der soll nach 2015 kommen.
Ihr Staatssekretär hat mir im vorigen Jahr gesagt, dass
der Grünstempel, also der „gesehen“-Vermerk, im Januar kommen soll. Der ist heute noch nicht da. Sie schieben das auf die lange Bank. Das ist keine gute Planungspolitik, die Sie betreiben, Herr Minister.
({6})
Deswegen kann man das, was Sie machen, nicht als besonders kreatives Regierungshandeln bezeichnen, Herr
Minister.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier
nur noch das Stichwort „Flughafen- und Flugroutenplanungen“ nennen. Wir sehen das ganz genauso wie Bündnis 90/Die Grünen: Wir brauchen eine Veränderung bei
der Planung von Flughäfen und Flugrouten. Das ist
wichtig.
({7})
Diese Dinge haben wir als Ergebnis der Diskussion
mit Bürgerinitiativen und Planungsträgern in den Antrag
geschrieben. Aus der CDU/CSU höre ich zu dem ganzen
Thema gar nichts. Doch - Herr Geißler äußert sich dazu.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
Herr Geißler ist ja nicht mehr Mitglied Ihrer Fraktion.
Herr Kollege.
Ich komme jetzt zum Schluss, Frau Präsidentin.
Bei der FDP gab es im vorigen Jahr Ankündigungen,
aber danach folgte nichts, Herr Döring. Sie müssten mit
Blick auf das Thema Bürgerbeteiligung am Sonntag eigentlich die Glocken läuten gehört haben.
Herr Kollege.
Kommen Sie mit Vorschlägen!
({0})
Unser Vorschlag liegt vor, Frau Präsidentin. Wir können
einen neuen gesellschaftlichen Konsens für eine leistungsfähige Infrastruktur in Deutschland schaffen.
Herr Kollege!
Dieser Prozess könnte den Namen „Willy Brandt 2.0“
tragen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9156 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 36 a bis d und f
sowie Zusatzpunkt 3 auf:
36 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Zusatzprotokoll der UN-Kinderrechtskonvention zur Individualbeschwerde schnellstmöglich ratifizieren
- Drucksache 17/8917 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Kooperationen von Hochschulen und Unternehmen transparent gestalten
- Drucksache 17/9168 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine
Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen
- Drucksache 17/9149 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einführung eines pauschalierenden psychiatrischen Entgeltsystems zur qualitativen Weiterentwicklung der Versorgung nutzen
- Drucksache 17/9169 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kennzeichnungspflicht auf verarbeitete Eier
ausweiten
- Drucksache 17/9170 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Lisa Paus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Städtebauliche Qualität des Regierungsviertels
verbessern
- Drucksache 17/9171 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 37 a g sowie
den Zusatzpunkt 4 a bis h auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 37 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 12. Oktober 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Indien über Soziale Sicherheit
- Drucksache 17/8727 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({5})
- Drucksache 17/9094 Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9094,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/8727 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
25. November 2011 über die Errichtung des
Sekretariats der Partnerschaft für öffentliche
Gesundheit und soziales Wohlergehen im Rahmen der Nördlichen Dimension ({6})
- Drucksache 17/8981 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({7})
- Drucksache 17/9200 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Harald Terpe
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9200, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8981 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke. Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt.
Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 37 c bis g
sowie dem Zusatzpunkt 4 a bis h. Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 37 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 412 zu Petitionen
- Drucksache 17/9050 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 413 zu Petitionen
- Drucksache 17/9051 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Die
Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, alle anderen
Fraktionen dafür.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 414 zu Petitionen
- Drucksache 17/9052 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung von Koalition und SPD. Dagegen haben
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke gestimmt.
Tagesordnungspunkt 37 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 415 zu Petitionen
- Drucksache 17/9053 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch Koalition und Bündnis 90/Die Grünen.
SPD und Linke haben dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 416 zu Petitionen
- Drucksache 17/9054 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen, indem
die Koalition dafür und die Opposition dagegen gestimmt hat.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 417 zu Petitionen
- Drucksache 17/9177 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 418 zu Petitionen
- Drucksache 17/9178 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 419 zu Petitionen
- Drucksache 17/9179 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch Koalition und SPD. Die Linke hat dagegen gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
sich enthalten.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 420 zu Petitionen
- Drucksache 17/9180 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 421 zu Petitionen
- Drucksache 17/9181 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Gegenstimmen der Linken. Die übrigen Fraktionen haben
dafür gestimmt.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 422 zu Petitionen
- Drucksache 17/9182 20262
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Für die Sammelübersicht haben die Koalitionsfraktionen, Linke und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die SPD-Fraktion hat dagegen gestimmt. Die
Sammelübersicht ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 423 zu Petitionen
- Drucksache 17/9183 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Für die Sammelübersicht haben die Koalitionsfraktionen und die SPD gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke haben dagegen gestimmt. Die
Sammelübersicht ist angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 424 zu Petitionen
- Drucksache 17/9184 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalition. Die Opposition hat dagegen gestimmt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression
- Drucksache 17/8683 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({21})
- Drucksache 17/9201 Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Nicolette Kressl
Dr. Barbara Höll
- Bericht des Haushaltsausschusses ({22}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9202 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({23})
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({24})
Über diesen Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen. Zwischen den Fraktionen ist es
verabredet, eine Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Klaus-Peter Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion.
({25})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute in dritter Lesung den Gesetzentwurf
der Bundesregierung zum Abbau der kalten Progression
im Einkommensteuerrecht. Was ist die kalte Progression? Stellen Sie sich vor, jemand bekommt eine Gehaltssteigerung in Höhe von 3 Prozent. Die Inflation, die
Preissteigerung, beträgt in dem Jahr ebenfalls 3 Prozent.
Dann geht jeder davon aus, dass er einen Kaufkraftausgleich bekommen hat und netto genauso viel in der Tasche hat, um die gleichen Waren wie zuvor zu kaufen.
Das ist aber nicht so. Wir haben einen sogenannten steigenden, einen progressiven Steuertarif. Mit jedem Prozent, das Sie mehr an Einkommen erhalten, zahlen Sie
1,7 Prozent mehr Steuern. Diese kalte Progression wollen wir für die unteren und mittleren Einkommen abschaffen. Wir wollen sie reduzieren. Das ist ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und
FDP, und das halten wir heute ein.
({0})
Wir bekennen uns im Steuerrecht zum Prinzip der
steuerlichen Leistungsfähigkeit, das heißt, wenn jemand
ein höheres Einkommen erzielt, dann muss er auch mehr
Steuern zahlen. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung trauen
wir eine steuerliche Leistungsfähigkeit eher nicht zu,
deswegen sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung von
Einkommen- oder Lohnsteuerzahlungen befreit.
Wer aber nach der Grundtabelle beispielsweise ein Einkommen in Höhe von 25 000 Euro hat, zahlt für jeden
weiteren Euro 29 Prozent Steuern; hat er ein Einkommen
von 40 000 Euro, zahlt er bereits 36 Prozent Steuern; hat
er ein Einkommen von 50 000 Euro, zahlt er 41 Prozent
Steuern. Hat jemand ein sehr hohes Einkommen - die
sogenannten Reicheneinkommen ab 250 000 Euro -, so
zahlt er 45 Prozent Steuern plus Solidaritätszuschlag und
Kirchensteuer, somit kommen wir auf etwa 50 Prozent.
Das ist das Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit.
Genau zu diesem Prinzip bekennen wir uns.
({1})
Wir halten es für das steuergerechteste Prinzip.
Heute jedoch geht es um kleine und mittlere Einkommen, also um Einkommen bis etwa 55 000 Euro, für die
wir diese schleichende, heimliche Steuererhöhung reduzieren wollen. Es ist für uns überhaupt nicht nachvollziehbar, warum beispielsweise die Sozialdemokraten
hier nicht mitziehen und sie nicht mehr damit einverstanden sind, dass wir kleine und mittlere Einkommen von
Steuern entlasten.
({2})
Der Staat - das ist der Bund, das sind die Länder und
die Gemeinden - nimmt durch diese schleichende Steuererhöhung jedes Jahr etwa 3 Milliarden Euro ein, in den
Jahren 2013 und 2014 werden es somit 6 Milliarden
Euro sein. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung war vor wenigen Tagen im Rahmen einer Anhörung zu diesem Thema bei uns im Hause. Es
hat deutlich gemacht: Wenn wir den Bürgern diese
6 Milliarden Euro zurückgeben, dann handelt es sich dabei nicht um Steuerausfälle; denn diese Belastungen für
den Bürger sind nicht durch das Leistungsfähigkeitsprinzip gedeckt.
Das heißt, hier entstehen Einnahmen für den Staat nur
aufgrund der Inflation. Das hat nichts mit der Leistungsfähigkeit zu tun; die Einnahmen entbehren einer gesetzlichen Grundlage. Wir in der Koalition haben deutlich
gemacht: Das werden wir nicht weiter zulassen. Wir
werden den Steuertarif alle zwei Jahre überprüfen und
damit zeigen, dass wir den Bürgern das zurückgeben,
was ihnen zusteht. Ohne eine höhere Leistungsfähigkeit
dürfen die Bürger keine höheren Steuern zahlen.
({3})
Die SPD zitiert in ihrem Entschließungsantrag den
Sachverständigenrat, der darauf hinweist, dass die kalte
Progression durch die Tarifsenkungen der letzten Jahre
korrigiert worden sei. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Bund der Steuerzahler, der hierzu bei
unserer Anhörung hinreichend Stellung genommen hat.
Sie haben nur eines vergessen, nämlich dass sich die
gesamten Gutachten auf den Zeitraum bis 2010 beziehen, nicht auf die Jahre 2011 bis 2014. Hier wird nämlich ganz klar - das hat auch der Bund der Steuerzahler
deutlich gesagt -: Die Vorgehensweise der Koalition,
den kleinen und mittleren Einkommen das zurückzugeben, was dem Staat nicht zusteht, ist im Hinblick auf die
Steuerprogression völlig richtig.
({4})
Sie können sich auch nicht damit herausreden, dass
der 9. Existenzminimumbericht 2012 noch nicht vorliege. In der letzten Debatte hat der Bundesminister der
Finanzen, Herr Schäuble, deutlich gemacht, dass der
steuerfreie Grundbetrag 2012 knapp 1 Prozent über dem
steuerfreien Existenzminimum liegt, was 9 Euro ausmacht. Die politische Absicht ist deutlich: Wir wollen
diese Entlastung im Hinblick auf die Jahre 2012, 2013
und 2014 durchführen, und Sie versuchen, das aus politischen Gründen zu blockieren. Das wird der Bürger in
den nächsten Wochen und Monaten nicht honorieren.
({5})
Wichtig in diesem Zusammenhang ist - das ist mir
auch persönlich besonders wichtig -, dass wir parallel zu
den Steuergesetzen die Konsolidierung des Haushaltes
vorantreiben. Wir haben eine Schuldenbremse eingeführt. Sie soll bis zum Jahre 2016 dazu führen, dass wir
keine neuen Schulden aufnehmen. Wir werden nach der
jetzigen Planung voraussichtlich sogar schon im
Jahre 2014 diese Vorgabe der Schuldenbremse einhalten.
Die Diskussion in der Anhörung des Finanzausschusses hat aber gezeigt, dass Sie unserer heutigen Maßnahme nichts entgegensetzen konnten
({6})
und ausschließlich darüber diskutiert haben, wie man die
Steuern erhöhen könnte. Das gilt für Sie von der Linken
ohnehin; aber auch die Grünen und die SPD haben deutlich gemacht: Es geht Ihnen um Steuererhöhungen.
({7})
Ich gebe Ihnen eine Empfehlung: Sie sollten einmal
im Protokoll der Sitzung vom 6. Juli 2000 nachlesen,
wie Herr Poß - er sitzt hier - in einer leidenschaftlichen
Rede zum Steuersenkungsgesetz von SPD und Grünen
für Steuerentlastungen in einer Größenordnung von
50 Milliarden für Arbeitnehmer, Mittelstand und vor allen Dingen Großunternehmen plädiert hat. Wenn Sie das
nachgelesen haben, werden Sie heute einiges in dem Bereich nicht mehr verstehen.
Sie sprechen von einer Erhöhung der Steuern in der
Spitze. Die Linken, aber auch Herr Hollande und Herr
Gabriel, sprechen davon, dass man den Spitzensteuersatz
deutlich anheben müsse. Selbst wenn wir den Spitzensteuersatz von 50 auf 70 Prozent anheben würden,
würden wir nicht einmal die Mittel einnehmen, um die
Steuerentlastung, die wir jetzt den Bürgern zukommen
lassen, zu finanzieren; es wären nicht einmal 6 Milliarden Euro.
Um das in ein richtiges Verhältnis zu setzen, sollten
Sie sich auch das Gutachten des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung ansehen, in dem davor gewarnt wird, die Steuern im Bereich der Einkommensteuer oder, wie es von den Oppositionsparteien
durchgängig gewünscht wird, im Bereich der Vermögensteuer anzuheben. Dann würde nämlich das passieren,
was die größte Gefahr ist: Es gäbe - das gilt besonders
für Familienbetriebe - weniger Investitionen, weniger
Arbeitsplätze, weniger Sozialabgaben und vor allen Dingen weniger Steuereinnahmen.
Unsere Politik, die Politik von CDU/CSU und FDP in
den letzten Monaten, hat dafür gesorgt, dass wir wieder
eine stabile Wirtschaft in Deutschland haben. Wir haben
die wenigsten Arbeitslosen. Wir haben ein sehr hohes
Steueraufkommen: Allein von 2010 bis 2013 erreichen
wir pro Jahr 83 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen,
von denen beispielsweise 13,2 Milliarden Euro den
Kommunen zustehen. Das ist unsere Wirtschaftspolitik,
die für eine starke mittelständische Wirtschaft sorgt. Da
wir pro Jahr 83 Milliarden Euro mehr einnehmen, ist es
meines Erachtens gerechtfertigt, dass wir den Bürgern,
wie wir es vereinbart haben, jetzt 6 Milliarden Euro an
unberechtigterweise erhaltenen Steuermehreinnahmen
zurückgeben.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Lothar Binding hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Vielleicht eine Replik
auf Ihre Bemerkung zum Jahr 2000. Der erste kleine
Unterschied ist, dass man damals in D-Mark gerechnet
hat und heute in Euro rechnet.
({0})
Die Zahlen sollte man geschickterweise anpassen, um
der Wahrheit näherzukommen. Um der Wahrheit noch
einen Schritt näherzukommen, sage ich: Wir wollten damals, als wir allerdings in Europa ein Hochsteuerland
waren, den Spitzensteuersatz auf 43 Prozent senken; die
CDU/CSU wollte damals aber eine Senkung auf 36 Prozent. Insofern glaube ich, dass sich Ihr Argument irgendwie in Luft auflöst.
({1})
Es scheint doch immer gut zu sein, sich genauer zu erinnern.
Zugegeben: In Ihrer Rede haben Sie vorhin die Theorie der kalten Progression nicht falsch beschrieben. Sie
haben allerdings an der Praxis, an der Wirklichkeit der
Menschen vorbeigedacht, vorbeigeredet und auch
vorbeigeregelt. Denn man muss sagen: Die kalte Progression, die Sie hier abschaffen wollen, existiert in der
Praxis für die Menschen nicht.
({2})
- Man kann das berechnen; wer ein bisschen rechnen
kann, kann sich das leicht ausrechnen.
Dass Sie die kalte Progression in Wahrheit gar nicht
abschaffen wollen, erkennt man daran: Wenn Sie sie abschaffen wollten, würden Sie eine jährliche Anpassung
der Kurve, über die wir reden, vornehmen; Sie würden
jedes Jahr eine Anpassung durch eine Verschiebung der
Grenzsteuersatzkurve nach rechts vornehmen. Das wollen Sie aber nicht, und zwar aus guten Gründen. Deshalb
sollten Sie hier in Bezug darauf, was Sie tun oder nicht
tun, keine Schimäre aufbauen. Dahinter steckt etwas
ganz anderes. Ich bin froh, dass wir überhaupt keinen
Wahlkampf haben; insofern ist dieser Gedanke fernab jeder Realität.
({3})
Der öffentliche Dienst kämpft gerade um Lohnerhöhungen. Diesen Forderungen nach Lohnerhöhungen
wird mit folgenden Argumenten begegnet: Kassen leer,
kein Geld, Schuldenbremse, Bankenkrise, Europa. Da
könnte man an so einiges denken. Für die Konzerne und
auch die Hotels war Geld vorhanden. Ich möchte daran
erinnern, weil das eine ganz andere Seite aufzeigt.
({4})
Lassen Sie mich noch ein weiteres Argument anführen, das unsere Sensibilität an dieser Stelle ein bisschen
illustriert.
({5})
Der Bundesgesundheitsminister Bahr hat in diesen
Tagen ein zentrales Projekt der Regierung vorgestellt,
mit dem die Leistungen der Versicherung konsequent auf
die Bedürfnisse von an Demenz erkrankten Menschen
ausgerichtet werden soll. Das ist ein hehres Ziel, ein gutes Ziel; es klingt auch gar nicht nach Finanzpolitik.
({6})
- Darauf gehe ich gleich ein. - Das bedeutet: Demenzpatienten
({7})
können zusätzlich ein monatliches Pflegegeld von
120 Euro erhalten. Das sind 4 Euro pro Tag.
({8})
Dafür haben wir Geld. Für 5 Euro pro Tag haben wir
anscheinend kein Geld mehr übrig.
({9})
Gleichzeitig verursacht diese Regierung durch das jetzt
vorgelegte Gesetz Ausfälle von über 6 Milliarden Euro.
Das muss man sich einmal vorstellen: Hier wird Sozialpolitik betrieben, und zwar ohne jede Gegenfinanzierung
- denken Sie an Ihren Koalitionsvertrag - und somit auf
Pump.
({10})
Allein in den Ländern und Kommunen sind Ausfälle
von 2,5 Milliarden Euro zu erwarten. Diese können sie
im ersten Jahr kompensieren, aber das Gesetz ist auf
viele Jahre angelegt, und in den Folgejahren werden die
Ausfälle nicht kompensiert. Die Kommunen und die
Länder werden große Probleme bekommen.
({11})
Wir fragen uns: Warum braucht man dieses Gesetz
überhaupt?
({12})
Die Steuerbelastung für Einkommen gleicher Kaufkraft
- darüber reden wir, das hat Herr Flosbach auch erklärt Lothar Binding ({13})
lag im Jahr 2011 deutlich niedriger als im Jahr 1999.
Man muss wirklich darüber nachdenken, was Sie mit
diesem Gesetz überhaupt erreichen wollen;
({14})
denn in den letzten 16 Jahren gab es zehn Tarifsenkungen. Schon bisher - jetzt komme ich zum Kern der Überlegung - wurde das steuerfrei zu stellende sächliche
Existenzminimum alle zwei Jahre neu festgestellt.
({15})
Das steuerlich freizustellende Einkommen wurde bis
zum Jahr 2012 festgestellt.
({16})
Das steuerfreie Einkommen lag immer deutlich über
dem Existenzminimum. Wir haben den Bürgern sozusagen schon in der Vergangenheit vorauseilend die Besorgnis vor den Gefahren, die durch die kalte Progression
entstehen könnten, genommen. Es gab überhaupt keine
kalte Progression. Ich habe schon einmal darauf hingewiesen - rechnen Sie es sich aus -: Selbst der jetzige
Grundfreibetrag von 8 004 Euro liegt noch deutlich
oberhalb des verfassungsrechtlich gebotenen Maßstabs
für das sächliche Existenzminimum.
({17})
Damit gibt es die kalte Progression zwar in der Theorie,
aber nicht in der Praxis. Sie wollen doch ein Gesetz für
die Menschen machen und nicht für ein Lehrbuch; denn
das erreicht die Menschen gar nicht.
({18})
Wir erwarten auch in diesem Jahr eine Anhebung des
Existenzminimums. Die gebotene Anhebung des Grundfreibetrages kommt wie in der Vergangenheit automatisch. Was aber wollen Sie jetzt machen? Sie wollen die
bisherige Verfahrenstechnik auf gesicherter Datengrundlage durch eine Verfahrenstechnik, die auf ungesicherten
Daten und auf einer Schätzung für die Zukunft beruht,
austauschen.
({19})
Man muss schon sagen: Wer sich um diese Art Phantomschmerz kümmert, der müsste noch einen substanziellen Grund hinzufügen, warum er dieses Gesetz unbedingt braucht. Gerade vor dem Hintergrund der vielen
bereits gescheiterten Gesetze frage ich Sie: Warum brauchen Sie dieses Gesetz? Im Koalitionsvertrag steht, dass
Sie einen Stufentarif wollen. Diesen sieht keiner, darüber
diskutiert keiner.
({20})
- Ein Glück, aber nur, weil die Verabredung aus dem
Koalitionsvertrag nicht eingehalten wird.
Sie wollen Steuersenkungen - das Wort musste ja
noch einmal fallen - in Höhe von 24 Milliarden Euro.
Die sind übrigens vertraglich verabredet.
({21})
Ich bin dagegen, aber Sie haben das im Koalitionsvertrag verabredet. Was machen Sie jetzt? Sie kommen mit
einem Betrag von über 6 Milliarden Euro, nur um die
Formulierung in der Koalitionsvereinbarung irgendwie
zu rechtfertigen, damit es nicht so auffällt, dass Sie die
nicht erfüllen, und damit der Streit, den Sie darüber haben, möglicherweise nicht öffentlich wird.
({22})
Ich glaube, die Menschen werden das merken. Dass
sozusagen die Restgröße der kalten Progression dafür
herhalten muss, das halte ich schon für riskant. Ich will
nur eine Zahl nennen: Denjenigen, der ein zu versteuerndes Einkommen von 25 000 Euro hat, entlasten Sie jetzt
um 70 Euro im Jahr. Wer 70 Euro durch 12 teilen kann,
der weiß, was das im Monat bedeutet, und der weiß
auch, was Sie mit kalter Progression und deren Gefahren
für die niedrigen Einkommen tatsächlich meinen.
({23})
Wir erkennen, dass das ein weiterer steuerpolitischer
Rohrkrepierer wird, der sich ohne Weiteres in Ihre Gesetzesserie einfügt. Ich nenne das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, mit dem Sie vererbte Unternehmenswerte
nicht erfassen, also den Reichen sozusagen Geld zurückgeben, Geld schenken. Das Steuervereinfachungsgesetz
ist gescheitert. Das Ziel einer Steuererklärung alle zwei
Jahre musste zurückgenommen werden. Wer sich die
Serie dieser Gesetze anguckt, der weiß, warum Sie heute
so sehr an der Theorie der kalten Progression festhalten.
Leider hilft Ihr Gesetz den Menschen nicht. Deshalb
werden wir es ablehnen.
({24})
Der Kollege Dr. Volker Wissing hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ihre Argumentation, Herr Binding, finde ich, ehrlich gesagt, beschämend. Als wir hier in Deutschland darüber
diskutiert haben, ob man die Transferleistungen bei
Hartz IV erhöhen muss, haben Sie gesagt: Sie müssen
drastisch angehoben werden, weil die Lebenshaltungskosten der Menschen erheblich gestiegen sind.
Jetzt geht es darum, unser Steuerrecht den gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen. Nun sagen Sie:
Bei den Menschen, die arbeiten, gilt diese Argumenta20266
tion nicht, bei denen sind die Lebenshaltungskosten
nicht gestiegen.
({0})
Kaufen die denn in anderen Supermärkten ein? So muss
man die SPD einmal fragen.
({1})
Sie können doch nicht zwei Welten schaffen, nämlich
eine Welt für Empfänger von Transferleistungen, denen
man immer mehr gibt, und eine Welt für Steuerzahler,
für die angeblich alles immer besser wird und die man
immer höher besteuern kann.
({2})
Sie müssen einmal die Frage stellen, ob jemand, der
arbeiten geht und der ein Einkommen im unteren und
mittleren Bereich hat, nicht auch höhere Lebenshaltungskosten hat. Deswegen finde ich Ihre Argumentation einen Schlag ins Gesicht von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland.
({3})
Es ist eine an den Haaren herbeigezogene und auch
leicht zu entlarvende Argumentation von Ihnen. Sie
suchen offensichtlich Gründe auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um diesen hervorragenden Gesetzentwurf nicht unterstützen zu müssen.
({4})
Da fragt man sich schon: Wo ist die SPD damit angekommen?
Sie haben gesagt, die Lebenshaltungskosten seien in
Deutschland nicht gestiegen.
({5})
Fragen Sie doch einmal die Menschen in Ihrem Wahlkreis! Das Gegenteil ist nämlich richtig. Weiterhin haben
Sie gesagt, in Deutschland gebe es keine kalte Progression.
({6})
Damit sagen Sie im Grunde genommen, dass die Leute
durch die Lohnerhöhungen eine ordentliche Erhöhung
ihres Nettoeinkommens haben.
({7})
Gehen Sie einmal in Ihren Wahlkreis! Sprechen Sie
einmal mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
die Löhne im unteren Einkommensbereich verdienen,
und fragen Sie sie, ob bei ihnen die Nettoeinkommen
und die Kaufkraft in den letzten Jahren durch Lohnerhöhungen kräftig gestiegen sind!
({8})
Dann werden Ihnen die Menschen das Gleiche sagen wie
uns: Nein. Wir arbeiten zwar, aber die Steuern schlagen
immer stärker zu. Die Tariferhöhungen führen bei uns
nicht zu höheren Nettoeinkommen. - Das sagen uns die
Menschen. Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf
vor. Sie sollten ihn unterstützen und ihre an den Haaren
herbeigezogenen Ablehnungsgründe beiseitelegen.
({9})
Dass es eine kalte Progression gibt, haben alle Sachverständigen in der Anhörung einhellig gesagt.
({10})
Sie sagen in der Öffentlichkeit immer wieder das
Gleiche, nämlich es handele sich dabei um Steuergeschenke auf Pump.
({11})
Wir hingegen sagen: Lohnerhöhungen sind keine
Geschenke an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern sie haben sie sich mit ihrer Hände Arbeit
verdient. Deswegen ist es Zynismus, wenn die Sozialdemokraten immer wieder von Geschenken sprechen.
Lohnerhöhungen sind keine Geschenke.
({12})
- Auch die Grünen reden jetzt von Geschenken. Ich sage
noch einmal, auch an die Adresse der Grünen: Lohnerhöhungen sind keine Geschenke. Diese haben sich die
Menschen mit harter Arbeit verdient. Sie haben nicht das
Recht, dies als Geschenke zu diffamieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({13})
Sie sagen immer wieder, das sei auf Pump. Sie wissen es
besser. Trotzdem sagen Sie den Leuten bewusst die Unwahrheit.
Wir verzichten auf Steuererhöhungen. Wozu muss
man denn dafür einen Kredit aufnehmen? Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich doch von diesem Unsinn
verhöhnt vorkommen. Die Einnahmen des Staates reduzieren sich durch diesen Gesetzentwurf doch nicht; sie
erhöhen sich nur nicht.
({14})
Deswegen bedeutet das: Wenn Sie gegen dieses Gesetz
sind, dann sind Sie für Steuererhöhungen im unteren und
mittleren Einkommensbereich. Wenn Sie das wollen,
dann sagen Sie es doch deutlich, damit die Menschen
wissen, wofür Sie stehen.
({15})
Dann behaupten Sie - auch das tragen die Grünen wie
eine Monstranz vor sich her -, das würde die Kommunen belasten. Das würde die Kommunen doch nur dann
belasten, wenn Sie das Geld in den Ländern, in denen
Sie regieren, in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg, auf Landesebene abziehen würden. Wenn Sie das,
was der Bund als Ausgleich für diesen Gesetzentwurf
zahlt, fair an die Kommunen weitergeben, dann kommt
das zu 100 Prozent dort an,
({16})
dann kostet das die Kommunen keinen einzigen Cent.
Sie haben es in den Ländern, in denen Sie regieren, in
der Hand. Dadurch, dass Sie heute angekündigt haben,
dass das die Kommunen Geld kosten würde, haben Sie
sich entlarvt: Sie wollen die Kommunen in den von Ihnen regierten Ländern hereinlegen, wie Sie es schon bei
unserem Gemeindefinanzreformgesetz gemacht haben.
({17})
Damals ist ein Teil der 4 Milliarden Euro in den Kassen
der Landesfinanzminister gelandet, anstatt die Kommunen zu entlasten.
({18})
Die Politik, die Sie hier betreiben, ist scheinheilig.
({19})
Wir haben mit diesem Gesetzentwurf ein hervorragend berechnetes Konzept zur Entlastung der Bezieher
unterer und mittlerer Einkommen und zum Schutz vor
höheren Steuern vorgelegt. Mit unserem Steuerprogressionsbericht, der alle zwei Jahre vorgelegt wird, haben
wir dafür gesorgt, dass die Intransparenz des Steuersystems beseitigt wird.
({20})
Ich schaue die Grünen an: Sie sind nach außen immer für
Transparenz.
({21})
Hier wird Transparenz geschaffen. Warum stimmen Sie
dann nicht zu? Endlich hören die schleichenden, heimlichen Steuererhöhungen auf. Und wer ist dagegen? Ausgerechnet die Grünen.
({22})
An diesem Gesetzentwurf herumzumäkeln, ist kleinkariert.
({23})
Weil es hier nicht um hohe Einkommen, sondern um
untere und mittlere Einkommen geht, sollten Sie Ihre
Blockadehaltung aufgeben. Der Gesetzentwurf ist so nötig, wie er richtig ist.
({24})
Wir fordern Sie auf, ihn nicht zu blockieren. Sie sind das
den Menschen in Deutschland, die Einkommen im unteren und mittleren Bereich beziehen, schuldig.
Vielen Dank.
({25})
Jetzt hat Barbara Höll das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das war eine Theatervorstellung: Herr
Wissing als moderner Robin Hood für Arme und Entrechtete.
({0})
Wenn Sie morgen hier einen Antrag einbringen und
10 Euro Mindestlohn für alle in der Bundesrepublik
Deutschland fordern würden, dann könnten wir Ihnen
vielleicht ein bisschen glauben.
({1})
Ich will hier klarstellen: Auch die Linke ist für Steuerentlastungen im Bereich der unteren und mittleren Einkommen. Dafür sind wir. Wir haben auch etwas dafür
getan. Den Weg, den Sie hier propagieren, können wir
aber nicht unterstützen. Das Vorhaben ist falsch, es ist
nicht gegenfinanziert, und die Umsetzung Ihres Gesetzentwurfs führt zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen
Arm und Reich.
({2})
Mit dem Gesetzentwurf gehen Sie an dem Grundproblem der Ungerechtigkeit im derzeitigen Einkommensteuertarif vorbei. Dies haben Ihnen auch Sachverständige in der Anhörung gesagt. Ich erinnere an Stefan
Bach vom DIW, der gesagt hat: Natürlich müssen wir im
unteren Bereich stärker entlasten, und natürlich haben
wir im oberen Einkommensbereich die Möglichkeit, das
gegenzufinanzieren.
Wer wirklich etwas tun will, um die Bezieher unterer
und mittlerer Einkommen zu entlasten, der muss an den
sogenannten Waigel-Bauch herangehen, an den Verlauf
des Einkommensteuertarifs. Wir von der Linken haben
Ihnen dazu einen Vorschlag vorgelegt: Bei einem durch20268
gehend linear-progressiven Einkommensteuertarif hätten
wir keine kalte Progression in der Form, wie wir sie jetzt
haben, dann hätten wir nicht das Problem der Stauchung
des Tarifs bei Anhebung des Grundfreibetrags.
({3})
In dem vorliegenden Gesetzentwurf wird außerdem
nicht zwischen gewünschter Progression und unerwünschter, sogenannter kalter Progression unterschieden. Der progressive Tarifverlauf in der Einkommensteuer entspricht dem Gerechtigkeitsprinzip des
deutschen Steuerrechts, der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dementsprechend sollen höhere Einkommen proportional höhere Steuern zahlen. Dieses Prinzip ist aber leider ausgehebelt worden.
Klar ist: Einkommenssteigerungen, die nur inflationsbedingt entstanden sind, verkörpern keine höhere Leistungsfähigkeit und sollten daher auch nicht höher besteuert werden.
Nun hatten wir in den letzten zwölf Jahren aber eine
Steuerpolitik - das wurde schon gesagt -, die zu einem
massiven Abbau der gewünschten Progression führte.
Wir hatten in den letzten zwölf Jahren eine gezielte Entlastung insbesondere der Bezieher hoher Einkommen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Beispiele
nennen:
Erstes Beispiel ist die Absenkung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer von 53 Prozent bis zum
Jahr 1999 auf 42 Prozent im Jahr 2005.
Zweites Beispiel ist die Herauslösung der Kapitaleinkünfte aus der regulären Einkommensteuer durch die
Abgeltungsteuer; dies wurde von der Großen Koalition
umgesetzt. Da die Abgeltungsteuer nur einen Steuersatz
hat - er liegt bei 25 Prozent -, sind Kapitaleinkünfte seit
2009 nicht mehr von der kalten Progression betroffen.
Von der sowieso schon niedrigeren Besteuerung von Kapitaleinkünften profitieren eindeutig die Bezieherinnen
und Bezieher hoher Einkommen; denn nur sie haben so
viel Einkommen, dass sie tatsächlich Kapitaleinkünfte
erzielen können.
Wenn nunmehr hohe Einkommen durch die vorgesehene Rechtsverschiebung des Tarifverlaufs über die Anhebung des Grundfreibetrages hinaus entlastet werden
sollen, dann ist das angesichts des vorangegangenen
massiven Abbaus der gewünschten Progression regelrecht eine Verkehrung der Tatsachen. Der Abbau der kalten Progression wird von Ihnen instrumentalisiert, um
die Verteilungsposition der Bezieherinnen und Bezieher
hoher Einkommen weiter auszubauen und zu zementieren. Sie vergrößern durch Ihren Gesetzentwurf die
Schere zwischen Arm und Reich.
({4})
Zur geplanten Erhöhung des Grundfreibetrags sage
ich Ihnen Folgendes: Natürlich ist eine Erhöhung notwendig. Aber die vorgeschlagene Anhebung ist viel zu
gering. Das liegt daran, dass die Kriterien, die der Berechnung zugrunde liegen, unzureichend sind. Ich
möchte darauf verweisen, dass Ihnen zum Beispiel der
Paritätische Wohlfahrtsverband einen Grundfreibetrag
von etwa 9 300 Euro vorgeschlagen hat. So steht es auch
in unserem Vorschlag. 9 300 Euro steuerfreier Grundfreibetrag - das wäre eine Abbildung der Realität.
Was machen Sie? Sie instrumentalisieren auch diese
Frage wahltaktisch. Sie gehen eben nicht nach dem bewährten Verfahren vor, nach dem die Anpassung alle
zwei Jahre nach Veröffentlichung des entsprechenden
Berichts vorgenommen wird. Sie ziehen einen Gesetzentwurf locker aus der Tasche und sagen: Wir machen
jetzt eine kleine Anhebung, egal ob wir neue Zahlen haben oder nicht. Das ist doch wunderbar. - Nein, das, was
Sie machen, ist Quatsch und eigentlich sträflich.
({5})
Ich muss Ihnen auch sagen: Sie haben auf einmal die
kalte Progression als großes Thema entdeckt. Die Linke
hat hier bereits im Jahre 2007 einen Antrag eingebracht,
in dem wir gefordert haben, dass überprüft wird, ob es
eine kalte Progression gibt, und wenn ja, wie sie sich
auswirkt und wie man darauf reagieren kann. Diesen
Antrag haben Sie hier einmütig abgelehnt. Das Thema
fanden Sie alle nicht so interessant. Wir haben Ihnen verschiedene Vorschläge unterbreitet.
({6})
Nun haben wir darüber diskutiert und im Finanzausschuss gefragt, wie die kalte Progression wirkt. Herr
Gutting sagte am Mittwoch, in den letzten Jahren habe
sie eigentlich gar nicht gewirkt, wir würden ja über die
Zukunft reden. Sie haben nicht einmal belastbare Zahlen. Das ist ein Problem. Sie wollen also jetzt etwas verändern, obwohl es dazu keine belastbaren Zahlen gibt.
Sie agieren hier völlig freischwebend im Raum und verkaufen das als seriöse Politik.
({7})
Das, was Sie machen, ist völlig verkehrt. Wir müssen
das Problem grundlegend im Einkommensteuertarif angehen. Ich möchte noch einmal die Zahlen nennen. Nach
Ihrem Vorschlag wird ein Lediger mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von etwa 15 000 Euro monatlich 8,30 Euro einsparen. Das ist gewaltig. Bei einem zu
versteuernden Jahreseinkommen von 30 000 Euro beträgt die Ersparnis 14,50 Euro.
({8})
Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von
60 000 Euro beträgt die monatliche Entlastung 31,50
Euro. Betrachten Sie ruhig die absoluten Zahlen; denn
sie spiegeln das wider, was man im Portemonnaie hat
und was nicht.
({9})
Wenn Sie im Bereich der unteren und mittleren Einkommen wirklich Entlastungen erzielen wollen, dann
brauchen wir einen durchgehend linear-progressiven Tarif. Nach unserem Vorschlag - 14 Prozent Eingangssteuersatz, 53 Prozent Spitzensteuersatz, 9 300 Euro steuerfreier Grundbetrag - würde der Ledige mit einem zu
versteuernden Jahreseinkommen in Höhe von 15 000
Euro monatlich um 41,50 Euro entlastet werden, bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 30 000
Euro sogar um 102 Euro. Im Gegensatz zu Ihnen haben
wir einen gegenfinanzierten Vorschlag vorgelegt. Das
unterscheidet uns grundlegend.
({10})
Sie wollen minimale Veränderungen im unteren Bereich, und oben wollen Sie mehr entlasten, und das sogar
noch auf Pump.
({11})
Nach unserem Vorschlag würden alle mit einem Monatseinkommen von bis zu 5 850 Euro, das entspricht einem
Jahreseinkommen von 70 000 Euro, durch eine stärkere
Belastung der Einkommen im oberen Bereich entlastet
werden.
Herr Wissing, weil Sie im Hinblick auf die kleinen
und mittleren Einkommen eine dicke Lippe riskiert haben, muss ich Ihnen sagen: Sorgen Sie lieber erst einmal
dafür, dass möglichst viele Menschen überhaupt in die
Situation kommen, Einkommensteuer zu zahlen.
({12})
Frau Kollegin.
Frau Präsidentin, mein letzter Satz. - Diejenigen, die
noch nicht einmal einen Mindestlohn bekommen, und
diejenigen, die Minijobs haben und zum Amt müssen,
um aufzustocken, ({0})
Frau Kollegin!
- haben von diesen Peanuts nichts. Auch diese Menschen müssen endlich von ihrer Arbeit leben können.
Das ist das Hauptproblem.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Verteilungssituation von heute mit der
von 1970 vergleicht, stellt man fest: Es hat sich viel verschoben, und das, obwohl Deutschland schon 1970 ein
marktwirtschaftliches Land war. Würde man die großen
und die kleinen Einkommen so verteilen, wie es 1970
der Fall war, müsste man dem reicheren Teil der Bevölkerung 1,5 Billionen Euro abnehmen und diesen Betrag
den unteren 90 Prozent der Bevölkerung zukommen lassen.
({0})
Dann hätten die unteren 90 Prozent der Bevölkerung pro
Kopf 20 000 Euro mehr in der Tasche.
({1})
So hat sich die Verteilungssituation entwickelt.
({2})
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche
Steuerpolitik braucht Deutschland?
„Es müsste Sie doch mindestens genauso sehr besorgen wie mich, dass drei Viertel der in Deutschland lebenden Bevölkerung die derzeitige Einkommens- und Vermögensverteilung als ungerecht
empfinden.“
In einer Zeit, in der bei Sozialleistungen gespart werden muss, ist das
„nicht nur eine Frage der öffentlichen Akzeptanz,
sondern auch eine Frage, wie man sich die Herstellung der Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf
das Steuersystem vorstellt“.
({3})
- Da hätten jetzt auch Sie von den Koalitionsfraktionen
klatschen können. Das war nämlich ein Zitat von
Norbert Lammert, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, vom 8. März 2012.
({4})
Sie, Herr Flosbach, haben vorhin mit Ihrem Zwischenruf deutlich gemacht, dass Sie diese Position als
Umverteilungssozialismus bezeichnen würden. Dabei
hat der Mann natürlich recht.
({5})
Er spricht damit vielen Menschen aus der Seele. Ich sage
Ihnen: Wenn wir über dieses Thema diskutieren, dürfen
wir nicht abstrakt über irgendwelche Tarife reden. Denn
dann kann vieles ganz galant unter den Tisch gekehrt
werden, und es kann ein völlig falscher Eindruck entstehen.
({6})
Die Rede von Volker Wissing war leider diesbezüglich
sehr aufschlussreich.
In den letzten Wochen gab es in Deutschland eine
Diskussion über das Einkommen von Spitzenmanagern,
und zwar am Beispiel von Martin Winterkorn, dem Vorstandsvorsitzenden der Volkwagen AG, der 17,5 Millionen Euro im Jahr verdient.
({7})
Im Hinblick auf Ihr Steuergesetz stellt sich jetzt die
Frage: Wollen wir, dass er steuerlich entlastet wird, oder
wollen wir, dass er steuerlich mehr belastet wird?
({8})
An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Regierung und Opposition deutlich.
({9})
Sagen Sie den Menschen doch, dass es Ihnen nicht um
die Bezieher kleiner Einkommen geht,
({10})
sondern dass Sie die Bezieher großer Einkommen in dieser Gesellschaft entlasten wollen! Das ist Ihre Steuerpolitik.
({11})
- Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen und mit
Zahlen kontern. Sie merken ja selbst, dass Sie hier einen
wunden Punkt haben.
({12})
- Stellen Sie bitte eine Zwischenfrage. Dann hätte ich
Zeit, darauf einzugehen, und könnte das ausführlich widerlegen. Aber das trauen Sie sich ja nicht.
({13})
Diese Forderung damals kam im Bundesrat vonseiten
der Union.
({14})
Betreiben Sie doch keine Geschichtsklitterung!
Der Punkt ist: Das Steuergesetz, das Sie auf den Tisch
legen, wird dazu führen, dass die Hälfte der Entlastungen bei den oberen 20 Prozent der Steuerpflichtigen ankommt. Aber hier faseln Sie davon, dass es Ihnen um die
Bezieher kleiner Einkommen geht. Das stimmt einfach
nicht.
({15})
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Sie haben
gesagt: Es ist wichtig, die kleinen und mittleren Einkommen zu entlasten. - Unser Vorschlag verfolgt genau dieses Ziel. Wir schaffen das, ohne die öffentlichen Haushalte mit neuen Schulden zu belasten,
({16})
weil wir eine Gegenfinanzierung vorschlagen. Sie tun
das nicht.
({17})
Wir wollen den Grundfreibetrag höher als Sie anheben, nämlich auf 8 500 Euro. Wir entlasten die Empfänger unterer Einkommen wirklich. Das können wir schon
für 2013 darstellen. Wenn man wirklich entlasten will,
dann kann man das auch tun. Man muss das aber so machen, dass man die öffentlichen Haushalte schont. Man
kann den Menschen auch klar sagen, um was es geht,
und muss nicht mit irgendeiner schiefen Argumentation
tricksen, wie Sie das hier getan haben.
({18})
Ich möchte abschließend auf den Punkt „kalte Progression“ zu sprechen kommen.
({19})
Sie sagen: Wir müssen die Wirkungen der Inflation berücksichtigen. - Sie haben uns einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem Sie das vorschlagen - aber natürlich nur für den Einkommensteuertarif. Daran sieht man,
dass Sie in diesem Punkt die Scheuklappen aufsetzen.
Sie wollen damit nämlich nur begründen, dass bei der
Einkommensteuer in dem Bereich, wo die Empfänger
hoher Einkommen entlastet werden, eine Korrektur erfolgt, wenn die Inflation Wirkungen auf das Verteilungssystem und auf die Tarife hat, in anderen Bereichen aber
nicht.
Nehmen Sie die Beitragsbemessungsgrenze in der
Rentenversicherung. Von 2005 bis 2012 stieg diese um
7,7 Prozent.
({20})
Die Inflationsrate betrug 12,7 Prozent. Dadurch sparen
Gutverdienende 300 Euro im Jahr. Über diese Wirkung
der Inflation reden Sie nie; denn vor diesem Hintergrund
müssten Sie auch einmal Höherverdienende belasten,
und das tun Sie nicht.
({21})
Oder schauen Sie sich den Behindertenpauschbetrag
an. Seit 1975 wurde er nicht angepasst. Wenn Sie die Inflation bei der Bemessung der Tarife und der Abgaben
berücksichtigen wollen, dann tun Sie das doch bitte auch
bei den Sozialabgaben. Dann sind wir auch dabei. Das
war unser Vorschlag im Ausschuss.
({22})
Aber nein, Sie wollen das ausschließlich auf den Bereich
konzentrieren, in dem es zu Verteilungswirkungen
kommt, die Ihrem Wunsch für unsere Gesellschaft entsprechen. Dies lehnen wir ab.
({23})
Ich fasse zusammen: Wir Grüne machen einen Vorschlag,
({24})
der keine zusätzliche Belastung für die öffentlichen
Haushalte bedeutet und die Kommunen, die Länder und
den Bund nicht zu höheren Schulden zwingt.
({25})
Wir machen einen Vorschlag, der die Empfänger kleiner
bzw. geringer Einkommen wirklich entlastet, und wir
sorgen dafür, dass die Menschen, die in diesem Land
sehr gut verdienen, nämlich die obersten 10 Prozent,
mehr beitragen, damit die Steuerpolitik wirklich zu mehr
sozialer Gerechtigkeit führt, was sich drei Viertel der
Menschen in diesem Lande wünschen.
Danke schön.
({26})
Der Kollege Hans Michelbach hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem heutigen Tag gehen wir einen richtigen Schritt dahin, dass die Steuererhebung in Deutschland gerechter
und leistungsfreundlicher wird. Das ist ein guter Tag.
Wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit kleinem und mittlerem Einkommen, deren Lohnzuwächse der vergangenen Jahre durch die kalte Progression zu ungewollten, geradezu heimlichen Steuererhöhungen geführt haben.
({0})
Es geht uns um einen fairen Anteil der arbeitenden Bevölkerung an den selbst erarbeiteten Löhnen und Lohnzuwächsen. Wir geben die Aufschwungdividende heute
zurück.
({1})
Unser Gesetz stellt sicher, dass die Bürgerinnen und
Bürger in den Jahren 2013 und 2014 von zu hohen Wirkungen der kalten Progression entlastet werden. Die Koalition sorgt dafür, dass diejenigen, die sich in der Krise
zurückgehalten haben und jetzt Lohnsteigerungen erwarten, diese auch vermehrt behalten können, indem sie gerechter besteuert werden. Unser Ziel bzw. unser Anliegen heißt: Mehr netto vom Brutto! Arbeit muss sich
lohnen. - Das ist der richtige politische Ansatz.
({2})
Diese Entlastungsbeträge geben wir den Menschen
zurück. Wir geben ihnen das zurück, was der Staat inflationsbedingt quasi ohne rechtliche Grundlage erhalten
hat.
({3})
Das ist ein gerechter und leistungsfreundlicher Weg. Unser Prinzip heißt: Besteuerung nach Leistungsfähigkeit und nicht nach Ideologie, wie wir das gerade von den
Grünen gehört haben.
({4})
Die kalte Progression bedeutet eine jährliche heimliche
Steuererhöhung. Das ist das Problem, das wir jetzt lösen.
Wir haben außerdem einen Entschließungsantrag eingebracht, der darauf abzielt, dass uns ab der 18. Legislaturperiode alle zwei Jahre von der Bundesregierung ein
Steuerprogressionsbericht vorgelegt wird,
({5})
der aufzeigen soll, ob wir Geld an die arbeitende Bevölkerung zurückgeben müssen. Das ist ein wichtiger
Schritt, der bisher unterlassen wurde, meine Damen und
Herren.
({6})
Unserer Meinung nach gehört das Geld zuerst den
Menschen und nicht dem Staat, wie Rot-Grün das immer
will. Es ist schon sehr erstaunlich, dass sich ausgerechnet Rot-Grün dieser wichtigen Entlastung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verweigern möchte.
({7})
Meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihrer
Blockadehaltung, die Sie hier einnehmen, versündigen
Sie sich an den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in Deutschland.
({8})
Durch Ihre bisherige Blockade lassen Sie meiner
Meinung nach Ihre Maske fallen. Eigentlich wollen Sie
immer nur Steuererhöhungen, Steuererhöhungen, Steuererhöhungen. Dabei wollen Sie mit Neiddebatten Politik machen; das ist klar erkennbar. Wenn man aber Geld
zurückgeben will, dann sind Sie nicht dafür. Dann schlagen Sie sich in die Büsche. Es geht Ihnen um noch mehr
Staat und um noch mehr Umverteilung.
Ich will Ihnen sagen: Die Steuererhöhungspolitik von
Rot-Grün braucht dieses Land nicht. Wir brauchen leistungswillige Bürgerinnen und Bürger, um Wachstum zu
erzielen, um Arbeitsplätze zu schaffen und um Investitionen zu ermöglichen. Wir brauchen aber nicht diese
Neid- und Umverteilungsideologie, die Sie hier immer
wieder an den Tag legen. Wir haben gerade gehört, dass
dazu sogar eine Vermischung von Steuern und Abgaben
stattfinden soll. Das ist völliger Unsinn. So etwas habe
ich in diesem Hause bisher noch nie gehört.
Wir dürfen feststellen, dass im Verhältnis zur gezahlten Steuer die Entlastung gerade der unteren Einkommensgruppen bei Umsetzung dieses Gesetzes am größten
ist. So wird ein alleinstehender Arbeitnehmer mit einem
Jahresbruttoarbeitslohn von 30 000 Euro aufgrund der
Tarifänderung 2014 jährlich etwa 150 Euro weniger Steuern zahlen müssen als nach dem geltenden Recht. Wenn
Sie diese 150 Euro verhohnepipeln und den Leuten sagen, das sei nichts wert, das sei zu wenig, dann kann ich
Ihnen nur sagen: 150 Euro sind für viele Menschen in diesem Land viel Geld.
({9})
Dies entspricht einer Entlastung von 3,4 Prozent der
bisherigen Steuerzahllast dieses Steuerzahlers von
4 328 Euro Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag.
Wenn wir 3,4 Prozent zurückgeben, ist das ein wirklich
guter Ansatz. Dies sind keine Steuergeschenke, sondern
es handelt sich um den Verzicht auf ungewollte, heimliche Steuererhöhungen.
Wenn Sie sagen, das Steuergeschenk von 6 Milliarden
Euro sei zu hoch, weil dadurch die Schuldenbremse
nicht eingehalten werden könne, dann sage ich Ihnen:
Das ist grundsätzlich falsch. Das ist das falsche Fazit.
Wir sind die Ersten in Europa, die die Schuldenbremse
einhalten.
({10})
Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir den richtigen Weg eingeschlagen, indem wir bis zum Jahr 2016
fast eine Nettoneuverschuldung von null erreichen wollen. Das ist solide Politik. Das ist die richtige Haushaltspolitik, meine Damen und Herren.
({11})
Wir verstehen Steuerpolitik als Wachstumspolitik.
Denn wir wissen, dass die Basis aller Staatsfinanzen die
Arbeit der Bürger unseres Landes und die wirtschaftlich
erfolgreichen Unternehmen sind. Mit einem größeren finanziellen Spielraum ist eine Voraussetzung geschaffen
für mehr Konsum, mehr Arbeitsplätze und mehr Investitionen.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie die 10 Prozent der Steuerzahler, die dem Spitzensteuersatz unterliegen und die
meisten Steuern zahlen, immer wieder verketzern,
({12})
dann schaden Sie diesem Land. Diese Leute zahlen nahezu 60 Prozent des Aufkommens aus der Einkommensteuer, tragen ein Risiko und schaffen letzten Endes Arbeitsplätze. Deswegen ist es völlig falsch, dass Sie diese
Leute immer an den Pranger stellen.
({13})
Wir brauchen diese Leute. Wir wollen sie nicht durch
Ihre Steuererhöhungspolitik ins Ausland treiben. Der
richtige Weg ist eine wachstumsorientierte Steuerpolitik.
({14})
Die Entlastung der Menschen ist das Gebot der
Stunde. Ich kann Sie nur ersuchen, sich nicht aus wahltaktischen, ideologischen Gründen dieser für die Menschen wichtigen Entlastung zu verweigern. Kehren Sie
um!
({15})
Beenden Sie die Blockade in Ihrem Kopf! Gehen Sie mit
uns den Weg der Entlastung der Steuerzahler, insbesondere der arbeitenden Menschen in Deutschland.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach
der letzten Rede konnte man einen etwas schiefen Eindruck bekommen, vor allem die, die jetzt neu dazugekommen sind. Deswegen möchte ich hier noch einmal
kurz erwähnen: Es geht um den Abbau der kalten Progression. Bei diesem Begriff fröstelt es jeden, keiner will
davon betroffen sein, wenn auch keiner so richtig weiß,
was das eigentlich ist.
({0})
Ich sage es einmal so: Der vorliegende Gesetzentwurf
hat einen ganz kleinen guten Teil und einen sehr großen
schlechten Teil. Ich fange mit dem kleinen guten Teil an,
sonst vergesse ich ihn am Ende, weil er so klein ist.
({1})
Es wurde schon angedeutet: In Zukunft - dies wurde
in einem Entschließungsantrag gefordert; dem haben wir
zugestimmt - soll alle zwei Jahre von der Regierung eine
Vorlage gemacht werden, in der dargelegt werden soll,
ob es weiterhin eine kalte Progression gibt.
({2})
Dabei geht es um den sogenannten Steuerprogressionsbericht. Das ist schon einmal ein gutes Ansinnen, weil
wir gar nicht wissen, ob die Betroffenheit, die wir zu
spüren glauben, vorhanden ist. Diesem Teil haben wir
zugestimmt; wir sind ausdrücklich dafür.
Dem anderen Teil können wir aber nicht zustimmen.
Es geht darum, ein Problem zu lösen, das im Normalfall
gar keines ist. Sie sagen einfach: Wir erhöhen den
Grundfreibetrag mit Blick auf den Existenzminimumbericht, der erst Ende 2013 vorliegen wird. Mit Blick in die
Zukunft erklären Sie: Es wird wahrscheinlich nötig sein,
den Grundfreibetrag zu erhöhen, und zwar um 4,4 Prozent. Gleichzeitig erhöhen wir den Tarif, um eine Stauchung zu vermeiden, wie das der Finanzminister das
letzte Mal erklärt hat.
Natürlich muss das Existenzminimum steuerfrei bleiben. Das wollen wir alle. Das will das Bundesverfassungsgericht; es hat uns aufgegeben, diese Vorgabe
umzusetzen. Aber wir wollen die Anpassung des Grundfreibetrages nicht unnötigerweise vorziehen. Es gibt
überhaupt keinen Grund, das jetzt zu tun.
({3})
Weil das schon für die Jahre 2013 und 2014 gilt,
könnte man vermuten, dass das irgendwie mit den Wahlen zusammenhängt. Die Vermutung steht im Raum:
Nach 2014 wird es dies nicht mehr geben, weil dann andere regieren, die dieses Gesetz wieder aufheben werden.
({4})
Es geht dabei um einen Ausgleich von Inflation und
Lohnerhöhung. Kurz gesagt, dadurch haben die Menschen nachher weniger Geld als vorher; jedenfalls ist das
Befinden so. Deswegen ändert man sowohl das Tarifmodell als auch die Tarifstruktur, will also etwas Grundlegendes ändern. Man macht es aber nur formal, nicht
grundsätzlich. Man könnte ja sagen: Man ändert den gesamten Tarifverlauf und sorgt so für Steuergerechtigkeit.
Sie reden immer davon, den Waigel-Buckel abzuschaffen. Das machen Sie aber nicht. Sie sagen: Wir erhöhen
den Grundfreibetrag ein bisschen und ändern den Tarifverlauf ein bisschen. Damit schaffen wir Steuergerechtigkeit.
({5})
Ich denke, das kann nicht die Antwort auf die Steuerprobleme unseres Landes sein.
({6})
Die SPD hält weder die Anpassung zum jetzigen Zeitpunkt für nötig, noch glauben wir, dass es das Problem
der kalten Progression in den letzten Jahren gegeben hat.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten
2011/2012 festgestellt, dass es diese Effekte nicht gab,
({7})
weil durch verschiedene Tarifänderungen, zum Beispiel
das Bürgerentlastungsgesetz oder Lohnerhöhungen, der
Effekt der kalten Progression bei den Bürgern nicht angekommen ist.
Wie gesagt, wir haben es im Ergebnis mit einer Lösung ohne Problem zu tun. Man verteilt nach dem Gießkannenprinzip 6 Milliarden Euro über das Land. Dieses
Geld wird unterschiedlich verteilt - das gebe ich zu -:
Die unteren Einkommen erhalten weniger Entlastung,
die oberen mehr.
({8})
- Natürlich stimmt das. Meine Vorredner haben es schon
gesagt: Ein Lediger, der ein Einkommen von 30 000 Euro
versteuert, erhält eine Entlastung von 12,50 Euro. Das
mag eine ganze Menge für den Einzelnen sein.
Wir müssen allerdings schauen: Wie finanzieren wir
das eigentlich? Sie sagen: Okay, es gibt keine Mindereinnahmen; wir haben einfach nur weniger Mehreinnahmen. - Nur, diese geringeren Mehreinnahmen von
6 Milliarden Euro haben Sie im Prinzip schon eingespeist: bei der Schuldenbremse, also bei der Konsolidierung des Staatshaushaltes.
({9})
Sind diese 6 Milliarden Euro plötzlich übrig? Wo kommen sie jetzt auf einmal her?
Wir wären mit der Konsolidierung des Staatshaushaltes viel schneller fertig, wenn wir die 6 Milliarden Euro
wenigstens gegenfinanziert hätten. Dazu habe ich jeglichen Vorschlag von Ihnen vermisst.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wissing zulassen?
Ja.
Bitte schön.
({0})
Frau Kollegin, nachdem Sie jetzt schon die zweite
Rednerin in dieser Debatte sind, die behauptet, dieser
Gesetzentwurf entlaste höhere Einkommen stärker als
niedrige,
({0})
möchte ich Ihnen einmal folgende Fragen stellen: Teilen
Sie meine Auffassung, dass durch den Verlauf unseres linear-progressiven Tarifs ein besonders steiler Tarifanstieg bei den unteren und mittleren Einkommen stattfindet und dass sich die kalte Progression in diesem Bereich
besonders stark auswirkt? Ist es nicht so, dass sich dann,
wenn man die kalte Progression abbaut, die Reduzierung
der Steuermehrbelastungen auch bei den unteren und
mittleren Einkommen denklogisch am stärksten auswirken muss? Teilen Sie meine Auffassung, dass die Behauptung, wir belasteten höhere Einkommen stärker,
eine von Ihnen erfundene Falschinformation ist?
({1})
Ich habe Ihnen eben erklärt, dass wir in den letzten
Jahren den Effekt einer kalten Progression nicht hatten,
zum Beispiel durch Entlastungsgesetze und durch Lohnerhöhungen. Lohnerhöhungen erfolgen in der Regel prozentual. Eigentlich könnten Sie mir bestätigen, dass eine
6,5-prozentige Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst für
die unteren Einkommen in der Summe geringer ausfällt
als für die oberen Einkommen. Daher ist davon auszugehen, dass jede positive Wirkung auch eine negative Seite
hat. Das heißt, wenn man entlastet, dann entlastet man
natürlich progressiv. Von Ihrem Gesetz haben die unteren Einkommen daher deutlich weniger als die oberen
Einkommen.
({0})
Darüber habe ich geredet.
Ein Ausfall von 6 Milliarden Euro - darüber habe ich
eben gesprochen - bedeutet für Länder und Kommunen
ein Minus von 2,4 Milliarden Euro; allein auf die Kommunen kommt wahrscheinlich ein Ausfall von 600 Millionen Euro zu. Wir können uns alle vorstellen: Wenn jemand im Monat 12,50 Euro mehr in der Tasche hat, freut
er sich darüber nicht allzu sehr, wenn seine Kommune
gleichzeitig noch weniger Geld hat und er entsprechend
mehr für Eintrittsgelder und andere Dinge zahlen muss.
Das heißt, dieses Gesetz wird keine positive Wirkung
auf die Bezieher niedriger Einkommen haben.
({1})
Im Ergebnis fehlt das Geld an anderen Stellen. Wir
haben es vorhin schon gehört: Wir bräuchten dieses Geld
dringend an anderen Stellen. Nach dem Jahr der Pflege,
von dem keiner etwas mitbekommen hat - demnächst
tritt in Kraft, dass für die Betreuung von Schwerstpflegefällen 4 Euro mehr gezahlt werden -, ist dieses Gesetz
ein Witz. Im Pflegebereich werden diese 6 Milliarden
Euro dringend gebraucht; doch da hat man sie nicht eingesetzt.
({2})
Täglich fallen mir Maßnahmen ein, bei denen man
dieses Geld besser unterbringen könnte.
({3})
- Ja, das würde mir einfallen. Wir werden nach der
nächsten Bundestagswahl vor diesem Problem stehen,
und dann werden Sie sehen, wie wir es lösen werden.
({4})
Wenn das Ganze hier Wahlkampfhilfe für die FDP
sein soll, dann wird das nicht fruchten; da können Sie sicher sein. Denn Ihre potenziellen Wähler werden den geplanten Effekt nicht empfinden; aufgrund von Beitragssteigerungen kommt die Entlastung nicht zustande.
Wirklich vernünftige, auf Konsolidierung ausgerichtete
Haushaltspolitik sieht anders aus.
Ich möchte noch etwas zu meinen Vorrednern sagen.
Ich finde, die Unterstellung, Rot-Grün hätte zustimmen
müssen, weil dieses Gesetz so sozial sei, ist einfach
Blödsinn.
({5})
Man hätte eine soziale Steuergesetzgebung vornehmen
können. Das haben Sie verpasst.
Allerdings hatte auch Herr Binding unrecht, als er
sagte, das sei ein dauerhaftes Gesetz. Das ist natürlich
kein dauerhaftes Gesetz. Es wird seine Wirkung höchstens bis 2014 entfalten, weil wir 2013 etwas Besseres
vorlegen werden.
({6})
In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie haben ja eine sehr erhellende Ankündigung gemacht.
({0})
Sie gehen also schon jetzt davon aus, dass Sie 2014 die
Regierungsbank besetzen werden. Ich schlage vor, abzuwarten. Der Wähler hat das letzte Wort, und es zählt,
was bei den Wahlen herauskommt.
Erhellend fand ich aber, dass Sie ganz offen und unverblümt schon für das Jahr 2014 deutliche Steuererhöhungen, übrigens offenbar auch für die Bezieher unterer
und mittlerer Einkommen, angekündigt haben. Damit
zeigt sich das wahre Gesicht derjenigen auf der linken
Seite des Hauses.
({1})
Ich glaube, wir alle sollten nicht die Augen davor verschließen, dass wir momentan mit Inflationsraten zu leben haben,
({2})
die tatsächlich dazu führen, dass der einzelne Steuerpflichtige sehr wohl das Gefühl hat, dass er trotz einer
Lohnerhöhung weniger Geld in der Tasche und damit
weniger Kaufkraft hat, nachdem seine Einkommensteuer
abgezogen wurde.
Es bringt auch nichts, wenn von der linken Seite des
Hauses geradezu Realitätsverweigerung betrieben und
gesagt wird, dieses Phänomen bestehe nicht; wir sollten
doch erst einmal einen Bericht abwarten.
({3})
Herr Kollege Binding, Sie haben gefragt, wo die
Menschen sind, die dieses Gefühl haben. Ich spreche mit
vielen Menschen mit unteren und mittleren Einkommen,
die mir genau dies bestätigen.
({4})
Ich gehe felsenfest davon aus, dass Sie, wenn Sie bereit
wären, mit diesen Menschen zu sprechen, dann auch
diese Bestätigung bekommen würden. Verschließen Sie
doch nicht die Augen vor dem Phänomen der kalten Progression.
({5})
Wenn gesagt wird, dass angeblich auf Pump eine
Steuersenkung vorgenommen würde, dann ist auch das
leider Gottes schlechterdings falsch.
({6})
Wir nehmen ganz einfach vorweg, dass sich unbeabsichtigte und ungerechtfertigte Steuererhöhungen nicht auf
die Portemonnaies der Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen auswirken.
Ich darf Sie an einen Punkt erinnern, den Sie möglicherweise mittlerweile verdrängt haben. Im Jahre 2009
haben Sie unter der Verantwortung eines SPD-Finanzministers, Peer Steinbrück, ein Gesetz auf den Weg gebracht, das mit ungefähr 6 Milliarden Euro das gleiche
Entlastungsvolumen hatte. Sie haben damals auch den
Tarif nach rechts verschoben. Übrigens haben Sie auch
den Spitzen- bzw. Reichensteuersatz nach rechts verschoben. Das machen wir nicht.
Aber der entscheidende Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Maßnahme ist: Von dem damaligen Entlastungsvolumen von 6 Milliarden Euro
mussten Länder und Gemeinden mehr als 50 Prozent in
Form von Mindereinnahmen tragen. In unserem Gesetz
zum Abbau der kalten Progression übernimmt der Bund
den Großteil der Mindereinnahmen, die sich aus dem
Abbau der kalten Progression ergeben. Wir unterstützen
die Bundesländer und die Kommunen in ihren haushaltsmäßigen Anforderungen und Anstrengungen.
Ich sage aber eines ganz ehrlich: Ich habe das Gefühl,
dass ausgerechnet in den Bundesländern, wo Sozialdemokraten und Grüne die Regierungsverantwortung übernommen haben, offenbar ein gewisser Hang zu verfassungswidrigen Haushalten besteht.
({7})
Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen.
Insofern brauchen wir sicherlich keine Belehrung Ihrerseits über das Aufstellen verfassungsmäßiger Haushalte. Wir halten die Schuldenbremse ein.
Herr Kollege.
Wir schaffen es, in den nächsten Jahren einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Gleichzeitig schaffen
wir es, die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen
entsprechend gerecht zu behandeln.
({0})
Olav Gutting hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das war bisher eine recht erhellende Debatte. Wir haben
von der Opposition viel gehört, zum Beispiel dass es das
Phänomen der kalten Progression überhaupt nicht gebe.
({0})
Kritisiert wurde das Verfahren zur Festlegung des Existenzminimums. Die Linke fordert hier 10 Euro Mindestlohn.
({1})
Die Abgeltungsteuer wurde thematisiert. Die Grünen
wünschen sich 1970 zurück und ziehen über Herrn
Winterkorn von VW her. Aber zu dem Gesetzentwurf,
der heute verabschiedet werden soll, haben wir von der
Opposition relativ wenig gehört.
({2})
Deshalb will ich noch einmal deutlich machen, worüber wir gleich abstimmen. Im System des progressiv
ausgestalteten Einkommensteuertarifs profitiert der Staat
von Steuermehreinnahmen, die über den Effekt der kalten Progression - und diesen gibt es - entstehen. Das Zusammenspiel aus Lohnerhöhung, Geldentwertung und
Progression in der Einkommensteuer führt dazu, dass
Lohnerhöhungen, die lediglich die Inflation ausgleichen,
zu einem höheren Durchschnittssteuersatz führen. Wir
wollen sicherstellen, dass der Staat nicht von Lohnerhöhungen profitiert, die nicht gleichzeitig zu einer höheren
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen beitragen.
({3})
Das erscheint uns umso wichtiger, als von der kalten
Progression gerade die Bezieher kleiner und mittlerer
Einkommen überproportional betroffen sind. Es geht um
die Beseitigung einer Ungerechtigkeit, die gerade die
Bezieher mittlerer und unterer Einkommen trifft. Es geht
hier aber nicht um eine Steuersenkung.
({4})
Wenn wir diesen Gesetzentwurf nicht verabschieden,
dann lassen wir zu, dass es jedes Jahr zu einer heimlichen
Steuererhöhung um circa 3 Milliarden Euro kommt. Dann
zahlen die Bürger höhere Steuern, obwohl die reale Kaufkraft ihres Einkommens nicht gestiegen ist.
Eigentlich wäre es vor diesem Hintergrund doch eine
Selbstverständlichkeit, dass wir hier eine Korrektur vornehmen, damit sich der Staat nicht noch zusätzlich an
den bescheidenen Einkommen bereichert.
({5})
Nur, die Damen und Herren von der Opposition stellen
sich hierhin und blockieren. Wenn Sie aber meinen,
meine Damen und Herren von der SPD, der Linken und
den Grünen, dass man mit weiteren Steuererhöhungen
- ob versteckt oder offen - den Haushalt konsolidieren
könne, dann haben Sie nichts gelernt.
({6})
Ihr Getue - Sie sagen, es gehe Ihnen darum, den
Haushalt zu konsolidieren - ist wirklich unglaubwürdig.
Schließlich fordern Sie an anderer Stelle Mehrausgaben
in Milliardenhöhe. Im Übrigen muss man feststellen: In
den Haushalten der Länder, in denen die SPD regiert,
werden rote Zahlen geschrieben.
({7})
In Nordrhein-Westfalen ist der Haushalt sogar verfassungswidrig. In den Ländern, in denen die SPD regiert
- und das ist eine Tatsache -, geht es auch den Kommunen schlechter.
({8})
Deswegen nehmen wir Ihnen Ihre angebliche Sorge um
den Haushalt hier nicht ab.
Dank der guten Wirtschaftspolitik dieser Koalition
werden wir im Jahr 2013 die Schallmauer von 600 Milliarden Euro an Steuereinnahmen in diesem Land durchbrechen. Wir alle in der Politik, aber insbesondere Sie in
der Opposition müssen endlich lernen, dass wir mit dem
vorhandenen Geld auch auskommen müssen.
({9})
Gerade in der jetzigen Phase, in der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach einer schweren Wirtschaftskrise in vielen Betrieben völlig zu Recht eine spürbare
Lohnerhöhung erhalten,
({10})
müssen wir den Menschen in diesem Land eine Perspektive geben, damit sich Arbeit wieder lohnt. Wir müssen
ihnen eine Perspektive zum Ausstieg aus der kalten Progression bieten. Lohnerhöhungen, meine Damen und
Herren, gehören den Bürgern.
({11})
Wenn Sie dieses Gesetz mithilfe des Bundesrates weiter blockieren, dann kann ich nur sagen, dass dies eine
Attacke auf den Geldbeutel der kleinen Leute ist, die
zwar viel arbeiten, aber wenig mit nach Hause bringen.
({12})
Es ist beschämend, dass gerade Sie vonseiten der SPD
hier sagen, 150 Euro seien gar nichts. Sie gönnen den
Menschen nicht einmal das Schwarze unter dem Fingernagel, und das ist von Ihrer Seite beschämend.
({13})
Ich sage Ihnen: Wir lassen Sie hier nicht raus. Stimmen Sie zu! Helfen Sie mit, gerade die Bezieher mittlerer und unterer Einkommen proportional stärker zu entlasten! Treten Sie beiseite! Machen Sie mit bei diesem
Stück mehr Steuergerechtigkeit!
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Abbau
der kalten Progression. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9201, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 17/8683 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen und Gegenstimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Hier ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann ist die
Abstimmung eröffnet.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgeben konnte, sie aber abgeben wollte? -
Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9201
empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Was ist
mit der FDP? - Okay. Wer ist dagegen? - Wer enthält
sich? - Was macht die Linke? - Der Entschließung stimmen Sie zu. Dann haben wir die Zustimmung der Koalitionsfraktionen, der SPD und der Linken, dagegen war
Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich niemand.
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen - Kein Sponsoring
der Konzerne durch Stromkunden
- Drucksache 17/8608 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Hier ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
({1})
- Wenn Sie so nett wären, Ihre Besprechungen anderswohin zu verlegen, dann könnten wir mit der Debatte
fortfahren.
Ich eröffne die Aussprache und bitte jetzt die Kollegin
Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke, das Wort
zu nehmen.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In einer Stunde wird von der Mehrheit des Hauses die
Solarstromförderung zusammengestrichen. Die Begründung ist, die Umlage für die erneuerbaren Energien
würde durch die Photovoltaik in die Höhe getrieben und
das würde Unternehmen und Haushalte belasten. Vor allem die FDP - die quatschen alle noch - hat in diesem
Fall ihr Herz für die Harz-IV-Empfänger entdeckt.
Abgesehen von der unsinnigen Kürzung: Die Treiber
beim Strompreis sind ganz andere. Einer davon ist der
unbedingte Wille der Bundesregierung, die energieintensive Industrie von den Kosten der Energiewende zu
befreien.
({0})
Genau darum geht es in unserem Antrag, und zwar
aus zwei Gründen:
Erstens ist diese Politik eine gigantische Umverteilungsmaschine. Das haben wir schon beim vorherigen
Debattenpunkt gehört; hier ist das auch wieder der Fall das ist Kontinuität. Kleine und mittlere Unternehmen
zahlen dafür genauso mit höheren Strompreisen wie private Verbraucherinnen und Verbraucher. Ein Hartz-IVEmpfänger subventioniert genauso wie ein Handwerksbetrieb große Unternehmen.
({1})
Ich denke, so haben sich wohl die Wenigsten die Energiewende vorgestellt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie da nichts
ändern, dann wird der sozial-ökologische Umbau scheitern.
({2})1) Ergebnis Seite 20278 D
Dem Bundeshaushalt entgehen überdies Steuereinnahmen. Allein die Ermäßigungen bei der Ökosteuer für
die energieintensive Industrie machen jährlich rund
5 Milliarden Euro aus. In der Summe betragen alle Vergünstigungen dieses Jahr rund 9,3 Milliarden Euro. Das
hat eine Studie von Arepo Consult ergeben. Das können
wir beweisen. Ich wiederhole: 9,3 Milliarden Euro - das
ist in der Summe beinahe genauso viel, wie insgesamt an
EEG-Umlage gezahlt wird.
({3})
Zweitens behindert dieser Geldsegen auch die Energiewende. Der Umweltverbrauch soll sich ja eigentlich
betriebswirtschaftlich niederschlagen; das erzählen Sie
uns ja auch immer. Aber das sind leider Sonntagsreden.
Oder warum werden gerade jene Firmen von umweltpolitischen Instrumenten entlastet, die am meisten Energie verbrauchen? Wir brauchen Anreize für energiesparende Technologien. Das ist dringend notwendig; und
dazu brauchen wir Preissignale.
({4})
Und weil wir gerade dabei sind: Den Emissionshandel hält jetzt sogar schon Eon-Chef Teyssen für tot; und
das ist sicher kein Linker. „Er kenne kein Unternehmen
in Europa, das noch mit dem Ziel investiert, Kohlendioxid zu sparen“, ist in der taz zu lesen. Da schau her.
Dies ist kein Wunder bei den jetzigen CO2-Preisen. Sie
liegen bei 7 Euro statt bei den angepeilten 25 bis
30 Euro. Dies liegt unter anderem daran, dass die Industrie zu viele Zertifikate geschenkt bekommen hat. Das
macht einen geldwerten Vorteil in Höhe von 1,4 Milliarden Euro aus.
Um nicht missverstanden zu werden: Der Wettbewerb
mit außereuropäischen Unternehmen soll fair ablaufen.
Es gibt natürlich Unternehmen, die es technologisch
nicht schaffen, Energie oder CO2 einzusparen. Wir
wollen nicht, dass die Unternehmen aufgrund umweltpolitischer Maßnahmen abwandern. Das sage ich an
dieser Stelle ausdrücklich; denn Sie alle werden mir das
unterstellen.
({5})
Wertvolle Arbeitsplätze dürfen nicht leichtfertig vernichtet werden. Aber die Frage ist - ich hoffe, Sie antworten darauf -: Welches Unternehmen steht wie stark
unter einem Zwang? Wer braucht tatsächlich Hilfe, und
wer ist ein Trittbrettfahrer?
({6})
Die Linke hat dafür zwei Kriterien, die so ähnlich
auch das Bundesumweltministerium im Jahr 2008 bei
den Brüsseler Verhandlungen über das EU-Klimapaket
vor Augen hatte. Unterstützung erhalten sollten nur jene
Unternehmen, die erstens einen relevanten Teil ihrer
Produkte trotz fortschrittlicher Produktionsweise CO2intensiv herstellen. Diese Unternehmen müssen zweitens
zugleich mit diesem Teil ihrer Produktion im tatsächlichen Wettbewerb mit Konkurrenten stehen, und zwar
mit Konkurrenten, die keinen vergleichbaren Klimaschutzinstrumenten unterliegen, wie sie in Europa existieren; ich nenne nur Emissionshandel und Förderung
der erneuerbaren Energien. Es geht folglich um Konkurrenten im außereuropäischen Ausland. Ich denke, solche
Kriterien sind gut und nachvollziehbar, sonst hätten Sie
sie als Große Koalition damals nicht vorgeschlagen.
Diese Vorschläge wurden letztlich aber vom Wirtschaftsministerium über Bord geworfen. Schade. Wir
kennen aber deren Reaktion. Und jetzt profitieren ab
2013 beispielsweise, im Falle der kostenlosen Zuteilung
im Emissionshandel, fast alle energieintensiven Unternehmen, egal ob sie in einer solchen Konkurrenz stehen
oder nicht. Den öffentlichen Haushalten entgehen Milliarden Steuereinnahmen. Viele Firmen haben schon
jetzt mehr kostenlose Zertifikate als sie brauchen. Leistungslose Sondergewinne sind die Folge. Der CO2-Preis
befindet sich auch aus diesem Grund im Keller.
Infolge des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sparen
insbesondere die großen Stromverbraucher netto mehr
Geld, als sie über die ermäßigte EEG-Umlage bezahlen
müssten. Es wird also auch hier nicht einfach ausgeglichen; denn im Vergleich zu einer Welt ohne EEG verdienen energieintensive Unternehmen an jeder bezogenen
Kilowattstunde einen halben Cent. Das muss man sich
einmal vorstellen. Wenn also eine Firma 4 500 Gigawattstunden Strom verbraucht, dann hat sie einen
Zusatzgewinn von fast 25 Millionen Euro.
Bei der Ökosteuer ist es ähnlich. Hier profitieren Firmen des produktiven Gewerbes von der Senkung der
Rentenbeiträge. Sie werden aber weitgehend von der
Stromsteuer befreit. Die Steuerausfälle in Höhe von
5 Milliarden Euro, wie es im Subventionsbericht der
Bundesregierung steht, bräuchten wir für eine soziale
Abfederung der Energiewende.
({7})
Das ist aber kein Thema für Schwarz-Gelb. Lieber weiten Sie die Privilegien weiter aus. Gerade wurden die
Stromfresser unter den Unternehmen von den Netzentgelten befreit. Alle anderen Unternehmen zahlen dafür
rund 300 Millionen Euro. Weitere 500 Millionen Euro
sollen künftig zum Ausgleich der emissionshandelsbedingten Strompreiserhöhungen fließen. Empfangsadresse: die energieintensiven Unternehmen.
Frau Bulling-Schröter.
Ich bin gleich fertig. - Ich frage mich also: Wer bezahlt eigentlich dem Otto Normalverbraucher einen
Bonus für gestiegene Strompreise? Das tun Sie nicht.
Wir wollen eine industriepolitische Unterstützung, die
fair ist, die alle leben lässt, die aber auch zielgerichtet ist.
({0})
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt; es ging um den Entwurf eines
Gesetzes zum Abbau der kalten Progression: Abgegeben
worden sind 553 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 310,
mit Nein haben gestimmt 243, es gab keine Enthaltung.
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 553;
davon
ja: 310
nein: 243
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Angelika Brunkhorst
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({24})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({25})
Michael Link ({26})
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({27})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Serkan Tören
({28})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({29})
Nein
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({30})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({31})
Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({32})
Hubertus Heil ({33})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({34})
Frank Hofmann ({35})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({36})
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({37})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({38})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({39})
Michael Roth ({40})
Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({41})
Werner Schieder ({42})
Silvia Schmidt ({43})
Carsten Schneider ({44})
Swen Schulz ({45})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff
({46})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({47})
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({50})
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({51})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({52})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Jetzt rufe ich auf den Kollegen Dr. Thomas Gebhart
für die CDU/CSU-Fraktion.
({53})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn wir heute über den Antrag der Linken reden, dann ist es wichtig, zunächst einmal die Zusammenhänge deutlich zu machen. Es ist auch wichtig, sich zu
fragen: Was ist eigentlich die Zielsetzung in diesem Bereich der Energieversorgung?
Unsere Zielsetzung sieht so aus: Wir wollen eine
nachhaltige Energieversorgung, die sicher und verlässlich ist und die unter ökologischen Gesichtspunkten
sinnvoll ist. Wir wollen die erneuerbaren Energien massiv ausbauen. Das tun wir bereits.
({0})
Die Energieversorgung muss aber auch unter ökonomischen Gesichtspunkten vernünftig sein. Das heißt, wir
brauchen bezahlbare Preise für die Menschen und die
Unternehmen in diesem Land.
({1})
Wir haben in Deutschland eine starke Wirtschaft und
eine starke Industrie. Darüber sind wir sehr froh. Zu dieser starken Industrie zählen auch sogenannte energieintensive Branchen, die aufgrund ihrer Produktpalette relativ viel Energie benötigen.
Wir wollen, dass diese energieintensiven Unternehmen auch in Zukunft in Deutschland produzieren. Wir
wollen, dass auch zukünftig in Deutschland Möbel und
Papier hergestellt werden, Glas produziert wird und
viele andere Produkte mehr. Wir wollen, dass die Arbeitsplätze in diesem Bereich in Deutschland bleiben,
die Unternehmen Steuern bezahlen und insgesamt zum
Wohlstand in diesem Land beitragen. Das ist unsere
klare Zielsetzung.
({2})
Wir fragen uns: Was will die Linke eigentlich? Sie
sprechen davon, dass es bei den Energiekosten zu starke
Umverteilungen von den Privaten hin zu den energieintensiven Branchen gebe. Sie nennen Zahlen, die zustande kommen, indem Sie verschiedene Dinge in einen
Topf werfen, die nicht in einen Topf gehören. In Ihrem
Antrag fordern Sie dann, die energieintensiven Branchen
im Vergleich zu heute deutlich stärker zu belasten.
({3})
Jetzt fragen wir einmal: Was wäre denn die Folge,
wenn wir Ihre Forderungen umsetzen würden? Die
Folge wäre, dass die Produktion in diesen Branchen in
Deutschland teurer werden würde. Die Folge wäre, dass
die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz massiv zurückgehen würde und dass insgesamt die Standortgunst und
-attraktivität sinken würde.
Dieses Problem erkennen Sie ebenfalls. In Ihrem Antrag sprechen Sie davon, dass im Falle einer drohenden
Insolvenz oder Produktionsverlagerung auch künftig Ermäßigungen gewährt werden können. Das eigentliche
Problem ist aber, dass all die Maßnahmen, die Sie in Ihrem Antrag konkret fordern, darauf abzielen, die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen deutlich zu reduzieren. Damit erhöhen Sie die Gefahr, dass es genau zu
solchen Verlagerungen kommt.
({4})
Das ist das eine Problem.
({5})
Das andere Problem - und das verkennen die Linken
total - ist:
({6})
Selbst wenn es in dem einen oder anderen Fall infolge
dieser Verteuerungen nicht sofort zu einer Verlagerung
kommt, dann können die Verteuerungen und die reduzierte Wettbewerbsfähigkeit dazu führen, dass Neuinvestitionen oder Ersatzinvestitionen eben nicht mehr an diesem Standort erfolgen, sondern an anderen Standorten.
Damit nehmen Sie einen schleichenden Prozess in Kauf.
({7})
Das entspricht aber nicht unserer Vorstellung. Wir denken in diesem Bereich langfristig; deswegen berücksichtigen wir solche Zusammenhänge. Sie jedoch blenden
diese Fragen völlig aus.
({8})
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter zulassen?
Ich würde es gerne im Zusammenhang darstellen. Ich mache es konkret: Sie fordern, den Spitzenausgleich
bei der Ökosteuer deutlich abzusenken. Diesen Spitzenausgleich hatte damals Rot-Grün bei der Einführung der
Ökosteuer mit eingeführt.
({0})
Wenn wir den Spitzenausgleich zu stark absenken würden, dann hieße dies in der Konsequenz, dass zum Beispiel die Papierherstellung in Deutschland in bestimmten
Bereichen nicht mehr rentabel sein würde. Ich frage Sie
schon: Was hätten wir unter dem Strich gewonnen, wenn
es so wäre, wenn also die Papierherstellung im Ausland
geschähe und wir lediglich die Fertigerzeugnisse importieren würden, aber in Deutschland kein Gramm Papier
weniger verbraucht würde? Ich sage es Ihnen: nichts,
aber auch gar nichts.
({1})
Wir hätten auch unter ökologischen Gesichtspunkten
nichts gewonnen. Im Gegenteil: Wir haben die Regelungen bei der Ökosteuer an die Voraussetzungen geknüpft
- das ist auch Teil des Energiekonzepts -, dass die Unternehmen effizienter werden, Energie einsparen und
insgesamt zum Klimaschutz beitragen. Das haben sie im
Übrigen gemacht: Viele der energieeffizientesten Unternehmen in diesen Bereichen sind Unternehmen, die bei
uns in Deutschland produzieren. Wir wollen, dass dies
auch künftig so sein wird. Denn dies macht in jeder Hinsicht Sinn, unter Umweltschutzgesichtspunkten genauso
wie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
({2})
Meine Damen und Herren, natürlich wollen wir in
gleicher Weise, wie wir auf die Kosten der Unternehmen
achten, darauf achten, dass die Preise für die Verbraucher bezahlbar bleiben. Genau deswegen ist es notwendig, dass wir Anpassungen bei den Fördersystemen vornehmen, zum Beispiel im Erneuerbare-Energien-Gesetz;
wir führen gleich im Anschluss eine Debatte dazu. Wir
ändern die Regelungen, sodass wir zu mehr Kosteneffizienz kommen; wir machen das. Aber von den Linken
höre ich an dieser Stelle relativ wenig.
({3})
Wir haben über die Energiepreise und die Wettbewerbsfähigkeit gesprochen. Ein anderer Punkt ist aber
für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland
genauso wichtig wie die Energiepreise: die Versorgungssicherheit. Ich habe es gesagt: Wir bringen die erneuerbaren Energien massiv voran; wir tun dies. Aber wir
werden auf lange Sicht nur erfolgreich sein, wenn wir
auch die Netze ausbauen und die Speichertechnologien
voranbringen. Das sind die eigentlichen Herausforderungen in diesem Bereich. Aber auch hier gilt: Wir brauchen
Lösungen gemeinsam mit der Wirtschaft, gemeinsam
mit der Industrie. Es hilft überhaupt nicht weiter, hier irgendwelche Gegensätze aufzubauen.
({4})
Meine Damen und Herren, wir wollen den Umbau der
Energieversorgung. Wir wollen die erneuerbaren Energien voranbringen.
({5})
Wir wollen die Energieeffizienz voranbringen.
({6})
Wir wollen aber eines nicht: die Industrie aus diesem
Land treiben und damit Zigtausende Arbeitsplätze aufs
Spiel setzen. Das ist nicht unsere Politik.
({7})
Deswegen lehnen wir Ihren Antrag heute ab, und zwar
aus voller Überzeugung.
({8})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn sich Abrissexperten einem Gebäude nähern, entfernen sie nicht nur die Fassade der beiden unteren Etagen, sondern sie zerstören so lange tragende Elemente des Gebäudes, bis die noch bestehenden Säulen so
viel Gewicht tragen müssen, dass die kleinste Explosion
ausreicht, das gesamte Gebäude zu Fall zu bringen. Irgendwie erinnert mich das an die schwarz-gelbe Energiepolitik:
({0})
eine künstliche Erhöhung der Strompreise auf die Art
und Weise, dass die Finanzierung der Förderung der erneuerbaren Energien, der Netzkosten, aber auch der Umlage bei der Ökosteuer auf immer weniger Schultern verteilt wird, da es immer mehr Befreiungen gibt, sodass am
Ende die Privathaushalte und kleinen und mittleren Unternehmen diese Last alleine schultern müssen. Damit
gefährdet Schwarz-Gelb die Akzeptanz; die Akzeptanz
der Ausnahmen, die am Ende notwendig sind; denn es
gibt notwendige Ausnahmen.
Rot-Grün hat bei der Einführung der ökologischen
Steuerreform und bei der Einführung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes solche Ausnahmen eingeführt, und
zwar nach klaren Kriterien: Die Unternehmen mussten
energieintensiv sein, also einen hohen Anteil an Energiekosten bei ihrem Produkt haben, sie mussten mit ihren
Produkten in starkem internationalen Wettbewerb stehen, und sie mussten zertifiziert nachweisen, dass sie die
verbrauchte Energie benötigten. Uns allen fallen die
Branchen ein, auf die das zutrifft: die Aluminiumindustrie mit ihrer gesamten Wertschöpfungskette oder die
Chemieindustrie. Man kann sogar über einige der Ausnahmen von damals neu nachdenken. Ist die Zementindustrie tatsächlich handelsintensiv? Sind alle Teile der
Glasindustrie handelsintensiv? Auch das könnte man
prüfen.
Es gibt einen Grund dafür, solche Ausnahmen zu gewähren: um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu
erhalten und von der Grundstoffindustrie bis zum Hightechprodukt alles anbieten zu können. Es ist aber auf der
anderen Seite notwendig, sie so gering wie möglich zu
halten, damit die Lasten fair verteilt werden: wegen der
Kosten, wegen des Klimaschutzes und wegen der Akzeptanz in der Gesellschaft. Diese Akzeptanz ist jetzt
durch die enorme Ausweitung, die Schwarz-Gelb bei
den Befreiungen durchgeführt hat, gefährdet.
Allein beim Erneuerbare-Energien-Gesetz belaufen
sich die Ausnahmen nach Schätzung des Bundesumweltministeriums - die Frau Staatssekretärin ist hier - auf
2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Es ist schon wichtig, das
zu debattieren; denn als Nächstes soll die Förderung der
Solarindustrie zurückgefahren werden, damit die Menschen weniger Umlage für erneuerbare Energien bezahlen. Ich denke, es ist wichtig, dass die Menschen wissen,
warum sie eine Umlage in Höhe von 2,5 Milliarden Euro
bezahlen, von der andere in Deutschland befreit wurden.
Im Bereich der Netzentgelte werden wahrscheinlich
mehr als 400 Millionen Euro aufgrund der Befreiung einiger auf andere übertragen. Jeder hat das gemerkt, als
Anfang des Jahres die Strompreise erhöht wurden. Die
Erhöhung kam kaum durch den Betreiber allein - und
wenn, dann haben Sie ihn hoffentlich gewechselt -; der
Grund war, dass die Netzentgelte angestiegen sind, und
zwar nur wegen der Übertragung. Das einzige Kriterium
dafür, weniger Netzentgelte zu bezahlen, war, dass man
einen hohen Verbrauch hat und nicht etwa ein in der Herstellung energieintensives Produkt.
Das ist eine perverse Überlegung;
({1})
denn das zeigt: Die Strompreise sind nicht wegen der
Energiewende gestiegen, sie sind trotz der Energiewende
gestiegen. Die Mehrkosten tragen die Privathaushalte
und die kleinen Unternehmen: also der Rentner für das
befreite Hotel, die Krankenschwester für das befreite
Rechenzentrum, der Einkaufsmarkt um die Ecke für den
Riesenmarkt auf der grünen Wiese und der Handwerker
für die Fabrik.
({2})
Wie kann man nur auf so blödsinnige Regelungen kommen?
({3})
Die SPD will bezahlbare Energie für alle. Dazu können auch Ausnahmen und Umverteilungen gehören, aber
eng begrenzt. Ich komme daher noch einmal auf die drei
Aspekte für die Gewährung von Subventionen zurück:
energieintensiv, internationaler Wettbewerb und effizient. Die Subvention ist eine Befreiung. Natürlich muss
jemand, der in Deutschland eine Subvention erhält, den
Nachweis erbringen, dass er diese Subvention dringend
benötigt. Ich kann nicht verstehen, dass Schwarz-Gelb
darauf verzichten will, dass Unternehmen, die diese Subvention erhalten, nachweisen müssen, dass sie alles betriebswirtschaftlich Sinnvolle gemacht haben, um ihren
Energieverbrauch zu senken.
({4})
Das heißt, die Subvention wird sogar für nicht Notwendiges gewährt.
Uferlose Ausnahmen sind unsozial und wettbewerbsverzerrend, es gibt andere Dienstleistungen und andere
Produkte in Deutschland, die diese Befreiungen nicht
haben, weil sie weniger energieintensiv sind. Und sie
sind übrigens auch unlogisch; denn viele der jetzt zusätzlich befreiten Unternehmen profitieren längst vom Ausbau der erneuerbaren Energien und der ökologischen
Steuerreform, weil sie niedrigere Lohnnebenkosten haben, weil der Steuerzuschuss zur Sozialversicherung erhöht wurde, weil sie ihre Produkte im Bereich der erneuerbaren Energien verkaufen und weil der Zuwachs der
erneuerbaren Energien so viele teure Kraftwerke aus der
Strombörse gedrückt hat, dass die Preise an den Strombörsen sinken. Schon heute können Industrieunternehmen für das Jahr 2017 Strom zu einem Preis einkaufen,
der noch nicht einmal im Jahr 2008 überschritten wurde.
Das heißt, 2017 wird der Strom wegen des Zubaus der
Erneuerbaren, die profitieren, billiger sein als 2008.
Deswegen sind diese zusätzlichen Ausnahmen nicht notwendig.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
der FDP, wenn Sie wirklich Interesse an bezahlbaren
Energiepreisen haben, dann müssen Sie diesem Wildwuchs an Ausnahmen ein Ende setzen. Sie dürfen den
beiden Ministern Rösler und Röttgen nicht durchgehen
lassen, dass sie im Streit um die Energieeffizienz eine
Seifenoper aufführen. Die beiden haben nicht etwa
irgendeine Idee, die sie statt der Vorschläge aus Brüssel
umsetzen wollen, sondern sagen einfach nur Nein. Und
wenn sich der andere Minister nur minimal aus der
Deckung wagt, dann wird schnell eine Pressemitteilung
herausgegeben, warum der andere nicht recht hat.
Auch dürfen Sie nicht mehr zulassen, dass der Finanzminister die Förderprogramme zum Einsparen von
Energie in Haushalten und kleinen Unternehmen zusammenstreicht; denn der beste Schutz gegen steigende
Energiepreise ist noch immer, weniger Energie zu verbrauchen.
({6})
Energieeffizienz zu verweigern und die Energiepreise
für private Haushalte sowie kleine und mittlere Unternehmen künstlich zu erhöhen - das ist die Energiepolitik
von Schwarz-Gelb. Diese lehnen wir entschieden ab.
Wir werden sie rückgängig machen.
({7})
Lieber Kollege Kelber, Sie haben heute einen jugendlichen Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Thema, über das wir heute diskutieren, zeigt sehr eindeutig das Dilemma, in dem die Umweltpolitik steckt,
die zwar national oder europäisch gemacht wird, sich
aber auf Unternehmen bezieht, die im internationalen
Wettbewerb stehen. Wir haben diese Debatte immer wieder: Auf der einen Seite wollen wir Deutschen im Umweltschutz Vorreiter sein; dazu steht diese Koalition.
Auf der anderen Seite haben wir Unternehmen, die mit
Wettbewerbern aus Ländern konfrontiert sind, die eben
nicht solche Vorgaben haben oder die - beispielsweise
weil es ausländische Unternehmen sind - keine Bindung
an den Standort haben und dann möglicherweise sehr
schnell entscheiden, dass sie an Orte gehen, wo die Produktionsbedingungen besser sind. Deswegen müssen wir
eine Balance zwischen diesen beiden Gedanken finden.
Ich sage ganz klar: Was die FDP, aber auch die Koalition hier im Deutschen Bundestag nicht mitmachen werden, ist eine Politik der Deindustrialisierung. Das, was
die Linke hier vorschlägt, ist die Politik der Deindustrialisierung Nordrhein-Westfalens, aber auch der Chemiegebiete in Sachsen-Anhalt.
({0})
Wir wollen Vorreiter beim Klimaschutz sein. Wir sind
Vorreiter bei der Energiewende. Aber unsere Industrie
steht im internationalen Wettbewerb, die energieintensiven Unternehmen ganz besonders. Das sind Unternehmen, die häufig prozessbedingte Emissionen sowie einen Strom- und Energieverbrauch haben, der sich kaum
mehr reduzieren lässt. Unternehmen, in denen die Energie der größte Produktionsfaktor ist, haben ein Interesse
daran, ihre Energie so effizient wie möglich zu nutzen.
Deswegen ist es ein Märchen, zu sagen, diese Unternehmen werden jetzt privilegiert, gesponsert. Nein, es geht
darum, dass die Arbeitsplätze für die Menschen in
diesen Unternehmen erhalten werden. Das ist unsere
Politik. Das ist nicht Ihre Politik, wie wir hier gerade gehört haben.
({1})
Die Koalition hat zwei wesentliche Kriterien angesetzt - das sind die Kriterien, die wir auch schon von früheren Erneuerbare-Energien-Gesetzen her kennen -:
Erstens müssen diese Unternehmen energieintensiv sein.
Das heißt, sie müssen einen hohen Anteil von Energie an
ihrer Produktion haben. Zweitens müssen sie eine Zertifizierung vorlegen, dass sie genau geprüft haben, welche
Einsparmöglichkeiten sie noch haben.
Ich sage Ihnen auch, was wir nicht gemacht haben.
Die Unternehmensverbände sind 2011 Sturm gelaufen,
als wir das neue Erneuerbare-Energien-Gesetz beraten
haben, und wollten eine Deckelung der EEG-Umlage für
alle Unternehmen auf 2 Cent. Damals haben wir gesagt:
Nein, das ist gegenüber den Verbraucherinnen und
Verbrauchern nicht gerechtfertigt. Wir wollen die EEGUmlage nicht auf nur wenige Schultern verteilen und sie
dadurch immer höher steigen lassen. Wir haben gesagt:
Nur diejenigen, die im internationalen Wettbewerb Probleme bekommen, erhalten eine Entlastung bei der EEGUmlage, bei den Netzentgelten.
({2})
Wir haben damit die richtige Abwägungsentscheidung
getroffen. Wir entlasten nicht alle Unternehmen, aber
wir entlasten diejenigen, bei denen die Gefahr droht,
dass sie ansonsten abwandern oder ihre Produkte nicht
mehr verkaufen können, sodass Arbeitsplätze verloren
gehen.
({3})
Mit dem neuen EEG haben wir 2012 Ungerechtigkeiten und Wettbewerbsverzerrungen beseitigt, für die der
SPD-Vorsitzende Gabriel in seiner Zeit als Umweltminister Verantwortung getragen hat. Sie haben die energieintensiven Großunternehmen entlastet.
({4})
Das ist in der Tradition von Schröder, des Genossen der
Bosse. Das war Ihre Politik. Wir haben Folgendes
gemacht: Wir haben auch die energieintensiven Unternehmen entlastet, die weniger Strom verbrauchen, die
weniger produzieren, weil sie kleiner sind. Wir haben
den industriellen Mittelstand entlastet. Auch hier zeigt
sich ein Unterschied: Diese Koalition ist für den Mittelstand, Sie sind für die Großunternehmen.
({5})
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik. Das sollte noch einmal sehr deutlich werden, auch in
den nächsten Wochen.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Bulling-Schröter.
Danke schön. - Unserer Fraktion wurde vonseiten der
FDP unterstellt, die Linken würden die Arbeitsplätze kaputtmachen.
({0})
Ich kenne dieses Argument auch aus anderen Zusammenhängen. Ich stelle fest, dass Ihre Partei zurzeit
Arbeitsplätze von Schlecker-Kolleginnen kaputtmacht,
indem sie keine Finanzierung mitbeschließt.
Jetzt möchte ich aber ganz genau auf das eingehen,
was Sie hier dargestellt haben. Sie haben von NordrheinWestfalen und Sachsen-Anhalt gesprochen. Wir wissen,
dass Solarfirmen in Sachsen-Anhalt demnächst Kurzarbeit anmelden oder sogar ganz dicht machen müssen.
Sachsen-Anhalt wurde schon einmal deindustrialisiert.
Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben das Gefühl, dass diese Region jetzt noch einmal deindustrialisiert wird. Über diese Ihre Politik werden wir beim
nächsten Tagesordnungspunkt detailliert diskutieren.
({1})
Sie haben behauptet, dass wir keine Ausnahmetatbestände wollen. Das ist nicht richtig. Sie sollten zuhören.
Wir wollen nur, dass die Unternehmen beweisen, dass
sie Energie einsparen. Ich denke, das ist möglich. Ich
möchte einige Beispiele nennen.
Ich war in einer Lederfabrik, die Energie einspart.
Dort wurden die Energiepreise hochgerechnet. Man
sagte mir: Wir werden in einigen Jahren Gewinn
machen. Dann werden wir überhaupt nichts mehr für
Energie bezahlen; denn wir nutzen die Wärme, wir nutzen den Strom, und wir werden sogar welchen verkaufen. - Das ist ganz super. Dieses Unternehmen macht das
ganz freiwillig.
Ich war in einer großen Metallfirma. Dort sagte man
mir: Ja, wir könnten Energie einsparen. Aber, Frau
Bulling-Schröter, dann zählen wir nicht mehr zu den
energieintensiven Unternehmen, die EEG-Ermäßigung
fällt also weg, und dann wird der Strom teurer, das rentiert sich nicht.
Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir es schaffen, dass die Unternehmen mehr Energie einsparen. Und
wir müssen darauf achten, dass Otto Normalverbraucher
nicht die Zeche zahlt. Bei Ihrer Politik wird Otto Normalverbraucher immer zahlen.
({2})
Kollege Kauch, Sie haben die Möglichkeit zur
Antwort.
Liebe Kollegin Bulling-Schröter, über die Reform im
Bereich Solarenergie werden wir gleich ausführlich
sprechen. Deshalb gehe ich darauf jetzt nicht ein.
Sie sagten: Auch wir Linke wollen Ausnahmen. Man
sollte sich einmal genau anschauen, was in Ihrem Antrag
steht. Darin steht unter „1.“: „nachweisliche Wettbewerbsnachteile“ und „hohe Wahrscheinlichkeit zur Insolvenz“. Die Unternehmen müssen also gleich richtig
pleitegehen. Dann steht da: „Stand der Technik“. Das ist
okay. Dann kommt: Die Unternehmen müssen den
„Hauptteil ihrer Produkte im Wettbewerb mit Unternehmen außerhalb der EU“ erwirtschaften, „die keinen
adäquaten umweltpolitischen Regelungen unterliegen.“
Wenn sie eine Ausnahmeregelung bekommen, dann
müssen diese Produkte mit einer spezifischen produktgebundenen „Ökosteuer“ verbunden werden. Einmal abgesehen von dem Dirigismus, der dahinter steht: Dafür
müssen Sie in jedes Unternehmen einen Staatskommissar schicken, um genau zu schauen, welches Produkt an
welches Unternehmen geschickt wurde und ob dieses
vielleicht in China, in Indien oder in Italien produziert
wurde.
({0})
Das ist die Art von Planwirtschaft, mit der Sie und Ihre
Partei bzw. die Vorgänger Ihrer Partei ein Land zugrunde
gerichtet haben. So kann man nicht Wirtschaft betreiben.
({1})
Deshalb müssen wir die ordnungspolitische Linie der
sozialen Marktwirtschaft ernst nehmen. Ich sage Ihnen
ganz deutlich: Niemand, der jetzt für oder gegen Bürgschaften für eine Transfergesellschaft bei Schlecker ist,
macht Arbeitsplätze kaputt oder rettet sie. Diese Arbeitsplätze sind kaputt, und zwar durch ein falsches Geschäftsmodell des Unternehmens Schlecker,
({2})
dessen Arbeitsbedingungen Sie als Linke immer als
menschenunwürdig bezeichnet haben.
({3})
Jetzt sage ich Ihnen ganz deutlich: Wenn ein Unternehmen so wirtschaftet, wie Schlecker es getan hat, dann
ist es gut, wenn die Marktanteile von einem anderen
Unternehmen übernommen werden und die Beschäftigten von den anderen Wettbewerbern eingestellt werden,
statt in eine Transfergesellschaft zu kommen.
({4})
Wir wollen, dass die Menschen im ersten Arbeitsmarkt
sind und nicht im zweiten. Das, was Sie für die bisher
bei Schlecker Beschäftigten vorschlagen, wäre eine
Scheinrettung.
({5})
Deshalb sage ich Ihnen ganz klar für meine Fraktion:
Wir glauben nicht, dass es gut ist, dass man Menschen in
eine Gesellschaft schickt, die Ihnen scheinbar eine Zukunft bietet.
({6})
Diese schwarz-gelbe Koalition hat dafür gesorgt, dass
auf dem Arbeitsmarkt Fachkräfte, auch Verkäuferinnen,
in vielen Regionen Deutschlands händeringend gesucht
werden.
({7})
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kauch, Ihre Argumente werden durch Geschrei
nicht besser.
({0})
Ich glaube, das muss man - unabhängig von dem, was
die Kollegen der Linken wollen - an dieser Stelle sagen.
Wenn Sie das Wort „Deindustrialisierung“ in den
Mund nehmen, dann fällt mir die deutsche Solarindustrie
ein, dann fällt mir ein, wie sich Ihre wahlkämpfenden
Parteigenossen in Nordrhein-Westfalen vor Windkraftanlagen stellen, von Windenergiemonstern sprechen und
eine ganze Branche in den Senkel stellen.
({1})
Das ist die Realität in Ihrer Partei, und das ist Deindustrialisierung.
({2})
Es ist völlig richtig: Die energieintensive Industrie
gehört zu Deutschland, gehört zu unserer Wertschöpfungskette. Wir müssen alles Notwendige tun - ich
betone das -, damit wir diese Unternehmen im Land halten. Das ist eine Herausforderung. Aber wir müssen uns
die Realität genau anschauen. Wir hören, das Strompreisniveau in Deutschland sei zu hoch. Wenn man sich
das Börsenniveau, die Börsenentwicklung anschaut,
sieht man, dass der Strompreis sowohl im Termin- als
auch im Spotmarkt inzwischen unter dem Niveau liegt,
das er vor den Ereignissen in Fukushima hatte. Das
heißt, durch die Energiewende gibt es keine Strompreissteigerung.
Der Verband der Industriellen Energie - und Kraftwirtschaft - das ist der Lobbyverband eines Teils der
energieintensiven Industrie - erstellt einen Strompreisindex. Laut diesem Index liegt der Industriestrompreis im
Moment unter dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre.
Realität ist, dass wir in Deutschland keine explodierenden Strompreise haben und dass keine Notwendigkeiten
bestehen, weitere Subventionen zu verteilen.
({3})
Man muss sich die Realität anschauen; das ist eben
schon mehrfach angeklungen. Es gibt einen unheimlichen
Wust von Ausnahmen in den Bereichen EEG-Umlage,
Kraft-Wärme-Kopplungs-Umlage, Stromsteuer und Emissionshandel. Das alles summiert sich auf 9 Milliarden
Euro. Diese 9 Milliarden Euro werden von den privaten
kleinen Verbrauchern in Richtung Industrie umgeswitcht. Ich sage ja nicht, dass alles daran falsch ist, aber
das ist die Realität, der Sie sich letztendlich stellen müssen. Sie reduzieren dieses Vorgehen nicht, Sie schauen
nicht, wo es notwendig ist und wo nicht, sondern Sie
weiten dies immer mehr aus. Immer weniger müssen immer mehr zahlen. Die privaten Verbraucher müssen immer mehr zahlen, und die Industrie wird immer weiter
entlastet.
Die Frage ist: Kommt dieses Geld wirklich dort an,
wo es gebraucht wird, nämlich - auch wir sagen, dass
man hier in der Tat etwas tun muss - bei den energieintensiven Industrien, die im internationalen Wettbewerb
stehen? Man erlebt sein blaues Wunder, wenn man versucht, das herauszubekommen. Wir haben im Bundestag
etliche Anfragen gestellt, wir waren beim Finanzministerium, und wir haben Wissenschaftler gefragt. Es ist
nicht herauszubekommen, wer genau welche Subventionen bekommt. Das ist ein sehr intransparenter Wust.
Man kann überhaupt nicht nachvollziehen, wohin das
Geld fließt.
An ein paar Stellen bekommt man es aber plötzlich
heraus. Durch hartnäckiges Nachfragen erfährt man zum
Beispiel, dass der Braunkohlebergbau, der nun wirklich
nicht im internationalen Wettbewerb steht - Braunkohle,
die im Tagebau abgebaut wurde, wird im Kraftwerk nebenan verbrannt, aber nicht über Grenzen transportiert -,
von der EEG-Umlage befreit ist. Das macht im Jahr einen Betrag von sage und schreibe 40 Millionen Euro
aus, den Sie von den privaten Verbrauchern in Richtung
RWE und Vattenfall verschieben. Das ist die Realität Ihrer Politik.
({4})
Wir sagen: Wenn es Ausnahmen gibt - man muss sie
sich allerdings sehr genau ansehen, sie transparent ausgestalten und muss deutlich machen, wohin das Geld
fließt -, dann müssen sie mit Verpflichtungen verbunden
sein. Als Allererstes gehört dazu, dass Unternehmen ein
Energiemanagement betreiben müssen. Wenn ich ein
Unternehmen besuche, höre ich immer: Hier kann man
nichts mehr einsparen. Es gibt keine einzige Kilowattstunde, die überflüssig ist. - Wenn ein Energiemanager
in dem Unternehmen war, stellt sich aber plötzlich heraus: Das Unternehmen kann doch noch 20 Prozent einsparen. Genau das müssen wir machen. Das ist nämlich
ein Standortvorteil für Deutschland.
({5})
Auf diesem Gebiet ist beispielsweise die nordrheinwestfälische Landesregierung, die im Rahmen von Ökoprofit genau solche Maßnahmen durchführt, sehr gut unterwegs.
({6})
Wir Grüne sagen: Es darf am Ende nicht so laufen,
wie es der Kollege Pfeiffer, den ich in dieser Debatte übrigens vermisse - sonst nimmt er an diesen Debatten ja
immer teil -, einmal schön formuliert hat.
Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
({0})
Kollege Pfeiffer sagte: Die Verbraucher wollten die
Energiewende. Dann sollen sie sie auch bezahlen. - Das
wollen wir nicht. Wir wollen, dass es in diesem Land gerecht zugeht. Es ist ein gemeinsames Projekt, die Energiewende voranzubringen. Daran müssen sich alle beteiligen: die privaten Verbraucher, die Industrie und die
Politik.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat nun Franz Obermeier für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich zunächst auf ein paar Punkte eingehen, die soeben angesprochen worden sind.
Erstens. Herr Krischer, der Vorwurf, dass die Photovoltaikindustrie in Deutschland Schwierigkeiten hat, hat
mit unserem Thema so gut wie nichts zu tun.
({0})
Denn der Wettbewerb, den sich die deutsche Photovoltaikindustrie mit den Chinesen liefert, ist aussichtslos.
({1})
In China gibt es nicht nur das von den Linken angesprochene Energiensponsoring, sondern die chinesische Regierung zahlt dieser Industrie auch noch Zuschüsse, damit sie die Märkte der Welt bedienen kann. Dieses
Beispiel geht völlig fehl.
({2})
- Nein, das ist nicht Wirtschaftspolitik, sondern das ist
Staatsdirigismus in China.
({3})
Das gefällt uns nicht. Das ist nicht unsere Politik. Aber
so ist die Realität, und es tut uns furchtbar leid, dass wir
so dastehen.
Zweitens. Herr Krischer, ich habe bei Ihrer Rede den
Eindruck gewonnen, dass Sie die volkswirtschaftlichen
Zusammenhänge überhaupt nicht einordnen können. Alles, was wir per Gesetz erheben - ob es die EEG-Umlage
ist, ob es die Netzumlage ist -, wird letzten Endes beim
Verbraucher landen.
({4})
Das zahlt niemand anders als der Verbraucher. Es ist völlig unerheblich, wie wir das Ganze machen. Mit Blick
auf den Antrag der Linken und bei der gesamten Politik
im Zusammenhang mit dem EEG, dem Netzausbau und
Ähnlichem geht es uns um die Frage, wie es gelingt, dafür zu sorgen, dass die deutsche Volkswirtschaft keinen
Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren Wettbewerbern in
Europa, ja in der ganzen Welt erleidet.
Ich will Ihnen sagen, dass wir in der Wirtschaft, in der
Industrie und bei den Strompreisen schon jetzt Nachteile
haben. Schauen Sie bitte nach, was ein Industriebetrieb
in Frankreich und was ein Industriebetrieb in Spanien
und auch in anderen Ländern Europas für seinen Industriestrom zu zahlen hat. Sie werden dann sehen - ich
rede, wie gesagt, nur vom Industriestrompreis, weil das
beim Kleinverbraucher anders ist; das weiß ich auch -,
dass es erhebliche Differenzen gibt.
Ich weiß ja nicht, in welche Betriebe Sie gehen,
({5})
aber ich sage Ihnen: Mir hat bisher noch keiner der Betriebe, die ich in meinem Wahlkreis und darüber hinaus
besuche und mit denen ich über die Zusatzlasten durch
den Strom rede, kundgetan, dass er keine Potenziale hat,
den Energieverbrauch zu reduzieren. Alle haben gesagt,
sie werden erhebliche Anstrengungen unternehmen. Das
wird seitens der Linken dieses Hauses total unterschätzt.
({6})
Frau Bulling-Schröter, für jedes kluge Unternehmen
sind die Energiekosten ein Kostenfaktor. Diejenigen,
über die wir heute reden, haben fast durchweg einen sehr
hohen Energiekostenanteil.
({7})
Wenn sie klug waren, dann haben sie in der Vergangenheit schon einiges dafür unternommen, dass dieser Kostenfaktor so klein wie möglich bleibt. Ich weiß von vielen Unternehmen, dass sie aufgrund der aktuellen
Entwicklung und dessen, was noch alles auf uns zukommt, zum Beispiel beim Netzausbau, alles Mögliche
unternehmen, um den absoluten Energieverbrauch, speziell den Stromverbrauch, so gering wie möglich zu halten.
Ich will Ihnen auch sagen: Im internationalen Vergleich der Produktivität - schauen Sie sich die Studien
an - ist die deutsche Wirtschaft, insbesondere die energieverbrauchende Wirtschaft, an der Weltspitze. Wir
sind weltweit die Besten, wenn es darum geht, wie viel
Energie bezogen auf eine produktive Einheit verbraucht
wird. Hier sind wir hervorragend. Hier können wir auch
noch besser werden, das ist schon wahr, aber das Risiko,
das wir eingehen würden, wenn wir solche Instrumente
wie die einsetzen würden, die die Linken per Antrag eingebracht haben, wäre mir viel zu groß.
Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland
eine kumulative Belastung des Stroms, zum einen durch
die Steuern, zum anderen durch den Emissionshandel,
durch die EEG-Umlage und durch die KWK-Umlage.
Wir müssen aufpassen, dass wir uns alle miteinander
nicht überfordern. Deswegen ist es unser Bestreben, das
Bestreben der christlich-liberalen Koalition, dass wir
diese Lasten beim Umstieg in der Energiepolitik für die
Verbraucher insgesamt und für die deutsche Volkswirtschaft so gering wie möglich halten.
Wir reden jetzt von einer Zusatzbelastung durch die
EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent pro Kilowattstunde,
und in diesem Jahr wird es beispielsweise in der Photovoltaik wieder zu einem deutlichen Zubau kommen. Wir
tun uns alle miteinander keinen Gefallen, wenn wir die
gesamten Belastungen für die Kleinverbraucher, für die
mittelständische Wirtschaft und für die Industrie ständig
anwachsen lassen.
({8})
Deswegen bleibt uns bei dem Antrag der Linken
nichts anderes übrig, als ihn rigoros abzulehnen, weil er
nicht zielführend ist und unsere Bürger kein Verständnis
dafür hätten, wenn wir Arbeitsplätze in unserem Land
gefährden würden. Frau Bulling-Schröter, es tut mir leid,
({9})
aber es wird nichts mit Ihrem Traum, dass man das
Ganze von Leuten bezahlen lässt, die nicht existent sind.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wenn man den Rednern Glauben schenken darf, dann
scheint es zumindest in einem Punkt Einigkeit in diesem
Hause zu geben: Der deutschen Industrie wird eine hohe
Bedeutung zugemessen. Ich denke, dass das zumindest
eine richtige Erkenntnis ist. Diese ist bei einigen vielleicht gerade im Zuge der Weltwirtschaftskrise erwachsen, die Deutschland überdurchschnittlich schnell überwunden hat. Die deutsche Industrie hat daran sicherlich
einen erheblichen Anteil.
Das ist auch der Grund, warum schon frühere Regierungen - gerade auch die rot-grüne Bundesregierung in begrenztem Umfang Ausnahmen für die Entlastung
insbesondere der energieintensiven Industrien zugelassen haben. Das hat nicht nur mit den vielen Arbeitsplätzen in diesem industriellen Sektor zu tun, sondern das
hat natürlich auch damit zu tun, dass die dahinter liegenden Wertschöpfungsketten abhängig davon sind, dass
wir die Grundstoffindustrien hier im Lande haben; denn
dieses Zusammenwirken der Wertstoffketten insgesamt
macht eine besondere Stärke unserer Volkswirtschaft
aus. Insofern sind wir konstruktiv mit dabei, wenn es darum geht, diese Ausnahmeregelungen für stromintensive
Unternehmen weiterzuentwickeln.
Vor dem Hintergrund der internationalen Strompreissituation reicht es in Europa leider immer noch nicht aus,
auf die Börsenpreise zu schauen. Wie wir wissen, gibt es
in einigen Staaten Staatsunternehmen, die Industriestrompreise an die Unternehmen weiterreichen, die im
Wettbewerb mit unseren Unternehmen überhaupt nicht
mehr zu unterbieten sind. Das muss man berücksichtigen. Deswegen sind solche Ausnahmeregelungen zumindest auf Zeit nach wie vor notwendig.
Wenn man die Menschen dabei mitnehmen will, ist es
aber genauso wichtig, dass man diese Unternehmen gerade beim Thema Energieeffizienz fordert. Was wir dabei zurzeit bei der Bundesregierung erleben, ist ein Hin
und Her, ein Geschachere zwischen zwei Ministern, die
sich bei diesem wichtigen Thema nicht einigen können
und die sich gegenseitig blockieren. Deshalb richtet sich
die Aufforderung und die Bitte an die Koalitionsfraktionen, mitzuhelfen, dass diese beiden Minister jetzt endlich einen gemeinsamen Vorschlag vorlegen, der ausreichend ambitioniert ist, um tatsächlich die möglichen
Fortschritte im Bereich der Energieeffizienz im gesamten Industriesektor in Deutschland zu erzielen.
({0})
Herr Obermeier, es ist richtig, dass wir im internationalen Vergleich beim Thema Energieeffizienz gar nicht
so schlecht dastehen. Genauso richtig ist aber auch, dass
es Studien gibt, die nachgewiesen haben, dass noch
enorme Effizienzreserven in der deutschen Industrie liegen.
({1})
Es ist auch richtig, dass eine Reihe von Unternehmen
dabei besonders gut ist. Es gibt aber auch andere Unternehmen, die vielleicht noch einen entsprechenden Anstoß brauchen. Deswegen reicht das Vertrauen in die
Klugheit der Geschäftsführungen der Unternehmen
nicht. Vielmehr ist es wichtig, einen Rahmen zu setzen.
Das, was wir dazu vorgeschlagen haben, sollten Sie sich
vielleicht noch ein bisschen näher anschauen.
Meine Damen und Herren, wenn wir Ausnahmen für
die deutsche Industrie beschließen, dann kommt es auf
drei Dinge an: Wir müssen das mit einem Höchstmaß an
Transparenz tun. Wir müssen das gut begründen und
sauber kommunizieren. Außerdem müssen die Ausnahmen ausgesprochen zielgerichtet, also nicht breit gestreut sein. Gegen alle diese Grundsätze ist in letzter Zeit
leider mehrfach verstoßen worden.
({2})
Schauen wir uns beispielsweise die Entlastungen an,
die Sie im Bereich der Netzentgelte beschlossen haben.
Diese Ausnahmen sind überhaupt nicht kommuniziert
worden. Sie sind öffentlich überhaupt nicht begründet
worden.
({3})
Das hat dazu geführt, dass sich die Medien dieses
Themas angenommen haben und dass von 1,1 Milliarden Euro Entlastung die Rede war, obwohl hierin Entlastungen inbegriffen waren, die gar nicht die deutsche
Industrie betreffen, sondern zum Beispiel Pumpspeicherkraftwerke - was durchaus auch gewollt ist -, Nachtspeicherstromheizungen oder Wärmepumpen. Als Bundesregierung muss man aber sauber kommunizieren,
was entlastet wird und welchen Anteil die Industrie
trägt.
Aber auch bei den 400 Millionen Euro, die hier für
die Industrie vorgesehen sind, muss man sich sehr genau
anschauen: Ist es wirklich so - das hat mein Kollege
Kelber hier schon ausgeführt -, dass alle Unternehmen,
die davon positiv betroffen sind, tatsächlich im internationalen Wettbewerb stehen und dass sie mit ihrer
Bandabnahme netzentlastend wirken? Dieser Nachweis
ist ausgeblieben.
Ein anderer Punkt: Sie haben im EEG die Zahl der
Ausnahmen ausgeweitet. Das klingt zunächst sehr gut
- das ist hier eben noch einmal gesagt worden -, nach
dem Motto: Wir wollen nicht nur die Großen entlasten. Übrigens sind die stromintensiven Unternehmen im Wesentlichen keine großen Konzerne, sondern Mittelständler, manche vielleicht etwas größere Mittelständler,
andere kleinere. Jedenfalls sind die deutschen Unternehmen, die das betrifft, im Wesentlichen mittelständische
Unternehmen. Es sind zwar auch einige internationale
Konzerne im Spiel, aber im Wesentlichen handelt es sich
um deutsche Mittelständler.
Es ist so, dass die Ausweitungen, die Sie gemacht haben, nicht für mehr Gerechtigkeit gesorgt haben, sondern
Sie haben zum Beispiel - das ist hier angeklungen Hotels einbezogen und andere, die nun weder energieintensiv sind noch im internationalen Wettbewerb stehen. Das Hotel wird nicht verlagert und die Rolltreppe
auch nicht. Deswegen ist das, was Sie an dieser Stelle
gemacht haben, Unsinn.
({4})
Ein weiterer Punkt, der, wenn er gut ausgestaltet ist,
nach meiner Auffassung im Zuge der Energiewende sehr
sinnvoll sein kann, ist das Lastmanagement. Auch ich
gehe davon aus, dass die Netzbetreiber in Zukunft mehr
Gebrauch davon werden machen müssen, zu Spitzenlastzeiten gegebenenfalls, wenn beispielsweise ein Netzkollaps droht, Unternehmen abzuschalten, also ein
Industrieunternehmen zeitweilig nicht oder nur in reduzierter Menge mit Strom zu beliefern. Aber dann muss
man das vernünftig ausgestalten, und dann muss man
das mit den Akteuren, zum Beispiel mit den Netzbetreibern, gemeinsam diskutieren. Das ist ganz offensichtlich
unterblieben. Anders wäre der Alarmruf eines der Netzbetreiber gar nicht zu erklären.
Ich habe die dringende Bitte - weil ich glaube, dass
hier ein durchaus sinnvolles Instrument entstehen kann -,
dass Sie Ihre Hausaufgaben nachholen und dass sich
auch hier die Minister nicht wieder gegenseitig blockieren und Nein sagen, sondern möglichst bald einen
vernünftigen, konstruktiven und mit den Akteuren abgestimmten Vorschlag unterbreiten.
Fazit: Ja, wir brauchen restriktiv gehandhabte, gut begründete, sauber kommunizierte Ausnahmeregelungen
für die deutsche Industrie, damit sie im Wettbewerb bestehen kann. Aber dann gestalten Sie sie so aus und
kommunizieren Sie sie auf eine Art und Weise, dass die
Akzeptanz dieses Instrumentes und der Energiewende
insgesamt erhalten bleibt!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDPFraktion.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Herr
Kollege Hempelmann, wenn Sie sagen, dass Einvernehmen zwischen uns darüber besteht, dass wir Industrie in
Deutschland haben wollen, dann stimmt das in der Zielsetzung schon.
({0})
Ich frage Sie nur zurück, warum jedes Mal dann, wenn
es konkret wird, Ihre Fraktion und Ihre Partei nicht mehr
vorhanden sind.
({1})
Ein Beispiel ist die Grüne Gentechnologie. Wenn es
bei der Grünen Gentechnologie konkret wird - die SPD:
weg. Wenn es bei der Rohstoffsicherung darum geht,
deutschen Unternehmen zu helfen, weltweit explorativ
tätig zu sein - Ihre Partei: weg.
({2})
Wenn es um Exportsicherung geht,
({3})
zum Beispiel Angra 3,
({4})
wenn es darum geht, deutsche Arbeitsplätze durch
Exportbürgschaften zu sichern - SPD: weg.
({5})
Wenn es schließlich jetzt konkret um Ausnahmen für
die energieintensiven Unternehmen geht, ist mit der SPD
nicht zu rechnen. Sie waren früher einmal eine industriepolitische Partei.
({6})
Das sind Sie nicht mehr. Die einzigen, die wirklich Industriepolitik betreiben, sind auf der anderen Seite des
Saales zu finden.
({7})
Sie sind Spruchbeutel; Sie können gar nichts.
Wenn man sich konkret anschaut, über was wir hier
reden, ist festzustellen: Wir haben eine Industrie, die mit
einem sehr hohen Verbrauch am Markt existieren muss.
Wenn wir dann betrachten, wie die Industriestrompreise
im Vergleich sind, kommen wir zu dem Ergebnis, dass
Deutschland mit 12,98 US-Cent pro Kilowattstunde an
zweithöchster Stelle aller referenzierten Länder liegt. Italien hat als einziges Land in Europa mit 15,72 US-Cent
einen höheren Wert. In Frankreich, unserem Nachbarstaat,
sind es 7,62 US-Cent, in den USA 9,27 US-Cent, in
Kanada 7,27 US-Cent, in Australien 6,88 US-Cent.
({8})
Da kann man doch als durchschnittlich verständiger Sozialdemokrat folgern,
({9})
dass man in diesem Bereich für die deutsche Wirtschaft
Ausnahmen braucht,
({10})
wenn wir hier nicht ein Industrieabbauprogramm machen wollen - und das wollen wir nicht.
Unsere Staatsquote liegt mit 46 Prozent an zweithöchster Stelle in der EU; nur in Dänemark ist sie noch
höher. Das zeigt doch ernsthaft, Herr Hempelmann, die
Notwendigkeit, dass wir zu Ausnahmen kommen, und
dass das, was die Bundesregierung gemacht hat, richtig
war.
({11})
- Ja, aber verstehen Sie: Sie sind in der Zielrichtung tatsächlich mit uns vereint, aber immer wenn es konkret
wird, immer wenn es um die Wurst geht, dann werden
Sie zu Vegetariern. Das ist das Problem. Das muss man
sehen.
({12})
Maßnahmen, dem entgegenzuwirken, gibt es zweierlei. Beide führen wir durch. Gerade durch das angestrebte Reduzieren von Subventionen, gerade bei der
Solarenergie, versuchen wir, eine gewisse Entlastung
hinzukriegen.
({13})
- Ja. - Dass der Cheflobbyist der Solarwirtschaft im Deutschen Bundestag - Kelber - damit ein Problem hat - ({14})
- Cheflobbyist zu sein, ist angesichts der Anzahl von
Lobbyisten, die hier gerade vor mir sitzen, wirklich eine
tolle Auszeichnung.
({15})
Hier kann es doch nicht darum gehen, etwas für Ihre
Spender und für Ihre Lobby zu tun, sondern hier geht es
um die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem
Land und nicht um Ihre Spendengeber und Sponsoren.
Dr. Martin Lindner ({16})
({17})
Zum Schluss zur Linken; von Ihnen kommt ja der Antrag. Bei Ihnen ist es doch so: Sie machen doch ernsthaft
keine Industriepolitik. Sie möchten doch genau ein
Modell haben, bei dem es ausschließlich darum geht, ein
Volk von Hartz-IV-Empfängern zu produzieren, von
Menschen, die der Staat zu versorgen hat. Sie möchten
erst mal Industriearbeitsplätze plattmachen, um sie
anschließend in einer Transfergesellschaft auf Steuerzahlerkosten aufzufangen. Das ist doch Ihre Wirtschaftspolitik.
({18})
Und deswegen ging es - da hat der Kollege Kauch
völlig recht - auch in der Schlecker-Sache nicht darum,
ernsthaft Ökonomie zu betreiben,
({19})
sondern darum, eine Propagandamaschine für Herrn
Schmid, den sogenannten Wirtschaftsminister von
Baden-Württemberg, in Gang zu setzen, und das haben
die Leute durchschaut. Das machen wir nicht mit; selbstverständlich machen wir das nicht mit.
({20})
Wir machen eine vernünftige, seriöse Wirtschaftspolitik und nicht diese Art von Versorgungspolitik, die Sie
hier fordern. Es geht hier nicht um Calvinismus, sondern
um ökonomische Vernunft. Sie wollen hier Steuergelder
für die eigene Propaganda verbraten. Um nichts anderes
geht es.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das machen wir auf keinen Fall mit.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Lindner, auch die Auferstehung der FDP als
Industriepartei wird nicht gelingen. Nächste Wahlen FDP: weg!
({0})
- Genau.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jährlich
9 Milliarden Euro Subventionen bekommt die energieintensive Industrie in Deutschland seit Jahren, und jetzt
kommt wieder etwas dazu. Aber das ist kein Thema für
diese Koalition und auch nicht für die Subventionsabbaupartei FDP. Auf der anderen Seite steht die Förderung der erneuerbaren Energien unter Dauerbeschuss,
obwohl der Unterstützungstatbestand darunter liegt.
({1})
Bei alldem gibt es einen strukturellen Unterschied:
Die Mittel für die Erneuerbaren sind keine Subventionen, sondern eine Umlage. Diese Umlage war von Anfang an zeitlich befristet,
({2})
so, wie man Subventionen eigentlich ausgestalten sollte.
Außerdem war von Anfang an festgeschrieben, dass
diese Umlage jährlich kleiner wird, also jährlich gekürzt
wird.
({3})
Von einer Subventionskürzung ist im Hinblick auf den
Bereich der energieintensiven Industrie kein Wort von
Ihnen zu hören, und das seit zehn Jahren.
({4})
Obwohl das so ist, obwohl völlig klar ist, dass ein
Ende der Umlage bei den Erneuerbaren abzusehen ist
- bei der energieintensiven Industrie ist kein Ende der
Subventionen abzusehen -, werden Sie hier in einer
Stunde das Ende der Solarindustrie in Deutschland beschließen.
({5})
Sie opfern die Zukunft auf Kosten der Vergangenheit,
und das ist ein Skandal, meine Damen und Herren von
der Koalition.
({6})
Sie verspielen damit nicht nur die Energiewende und
die Zukunft;
({7})
Sie gefährden damit auch die gesellschaftliche Unterstützung für die Energiewende
({8})
und die Unterstützung der Europäischen Union, bei der
Sie immer wieder vorstellig werden müssen, weil die
Subventionen für die energieintensiven Industrien Beihilfen sind, die von der EU genehmigt werden müssen.
Deshalb brauchen Sie die Unterstützung für Ihren energiepolitischen Kurs durch die EU-Kommission, und das
torpedieren Sie permanent, indem Sie zweierlei Maß anwenden.
({9})
Ein weiterer Punkt ist: Sie verfehlen auch Ihre eigenen Ziele. Zumindest auf dem Papier gibt es das Energiekonzept der Bundesregierung. Darin schreiben Sie
selber, dass die Energieproduktivität gesteigert werden
muss, und zwar um 2,1 Prozent jährlich. Leider ist es so,
dass wir diese Zahl in Deutschland gegenwärtig noch
nicht erreichen, sondern nur die Hälfte davon. Zurzeit
steigt die Energieproduktivität eben nur um 1 Prozent
pro Jahr. Das heißt, Sie müssen sie verdoppeln.
Es ist völlig klar, dass auch die Industrie ihren Beitrag
dazu wird leisten müssen.
({10})
Das muss natürlich mit Augenmaß geschehen. Dazu
wurde schon von grüner und roter Seite das Richtige
gesagt. Das muss zielgenau erfolgen. Man muss sich das
bei den energieintensiven Industrien, die im internationalen Wettbewerb stehen, genau anschauen und auch
dafür über Ausnahmen nachdenken.
Aber eines ist klar: Die Effizienzreserven in diesem
Bereichen müssen gehoben werden. Deswegen brauchen
wir Energiemanagementsysteme in allen Bereichen.
({11})
Ich komme zum Schluss. Wir müssen aber trotzdem
auch etwas für bessere Wettbewerbsbedingungen tun.
Dafür könnten auch Sie etwas tun. Dabei sind Sie am
Zuge, auch auf der europäischen Ebene. Sie argumentieren immer: Wir haben ein Wettbewerbsproblem. - Dann
müssen Sie dafür sorgen, dass wir zumindest innerhalb
der Europäischen Union zu anderen Wettbewerbsbedingungen kommen.
Deswegen: Blockieren Sie nicht weiter die Effizienzrichtlinie, und blockieren Sie bitte nicht weiter die Energiesteuerrichtlinie. Damit könnten Sie bessere Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Industrie erreichen.
Das blockieren Sie aber dauerhaft. Beenden Sie endlich
Ihre Blockade in diesem Punkt!
({12})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja. - Ich finde, die energieintensive Industrie in
Deutschland hat eine klügere und zukunftsweisendere
Politik verdient. Deswegen: Beteiligen Sie sich endlich
am Durchsetzen der Energiewende! Blockieren Sie sie
nicht!
({0})
Das Wort hat nun Jens Koeppen für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss, auch wenn es wehtut, noch einmal auf den vorliegenden Antrag und darauf, woher er kommt, zurückkommen. Bei den ideologischen Ergüssen und sozialistischen Ausarbeitungen Ihrerseits fällt es manchmal
schwer, gelassen zu bleiben,
({0})
obwohl ich mir als Ostdeutscher schon lange, auch
schon vor 1990, Gelassenheit auferlegt habe.
({1})
Damals hießen Sie noch SED, und es gab auch eine entsprechende Umweltpolitik.
({2})
Danach - das war Ihnen wahrscheinlich ein bisschen
zu bunt - hießen Sie SED/PDS. Das hat Ihnen dann auch
nicht mehr gereicht; auch das war Ihnen zu peinlich.
Irgendwann war es nur noch PDS und dann Linke.
Es ist aber nie besser, sondern immer schlechter
geworden. Aber dieses Mal ist es mir besonders schwergefallen, mich durch den Antrag mit seinen fünf Seiten
zu quälen. Sie haben so viele Ungereimtheiten, Desinformationen, Verdrehungen der Tatsachen und so viel
Erfindergeist und Dichtung hineingebracht - das ist unglaublich.
Es geht schon mit dem ersten Wort der Überschrift
los: „Unberechtigte Privilegien der energieintensiven Industrie abschaffen“. Bei der Frage, was „unberechtigt“
heißt, hilft ein Blick in den Duden, oder wir machen
politische Bildung. „Unberechtigt“ heißt rechtswidrig,
heißt ungesetzlich, heißt illegal oder auch, wenn man es
weitertreiben würde, kriminell.
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass Sie Probleme mit dem demokratischen Rechtsstaat und dem
demokratischen System haben. Aber nicht Sie entscheiden über Recht und Unrecht; das macht immer noch die
Legislative, der Sie - aus meiner Sicht: leider - immer
noch angehören. Aber auch daran kann man arbeiten.
({3})
Darüber entscheidet auch kein ZK oder Politbüro, sondern dieses Haus.
In Ihrem Antrag verweisen Sie auf die Rosa-LuxemburgStiftung. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Rosa-Luxemburg-Stiftung macht uns jetzt praktisch Vorschläge, wie in der Wirtschafts- und Energiepolitik vorzugehen ist.
({4})
Ich wusste gar nicht, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Institut ist, das auf ökonomische Expertisen
spezialisiert ist, meine Damen und Herren. Wir brauchen
von dieser Stiftung unter der Leitung von Heinz Vietze
({5})
keine Hinweise für Anti-Marktwirtschafts-Debatten.
({6})
Denjenigen, die Heinz Vietze, den Chef der RosaLuxemburg-Stiftung, nicht kennen, muss ich einfach mal
was erzählen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Enkelmann?
Nein.
({0})
Ich muss Ihnen einfach mal sagen, wer der Kollege
Vietze, der Chef, der uns diese Vorschläge macht, ist. Er
war der letzte Chef der SED-Kreisleitung Potsdam.
({1})
Er war darüber hinaus - Quelle: Wikipedia - inoffizieller
Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, und, meine Damen und Herren, er hat 19 Jahre lang im Landtag von
Brandenburg gesessen.
({2})
Ich muss Ihnen sagen: Nach den Ergebnissen der
Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Nachwendezeit des Brandenburger Landtages hätte er da gar nicht
sitzen dürfen; Quelle wiederum: Wikipedia.
Meine Damen und Herren, wir haben es nicht nötig,
uns mit solchen Leuten auf Anti-Marktwirtschafts-Debatten einzulassen.
({3})
Die energieintensiven Industrien
({4})
erzielen einen Jahresumsatz von 300 Milliarden Euro;
das sind 19 Prozent des gesamten Umsatzes des verarbeitenden Gewerbes. 10 Milliarden Euro investieren die
energieintensiven Industrien am Standort Deutschland.
Sie selbst müssen 15 Milliarden Euro für Energie ausgeben. Eine Papierfabrik in meinem Wahlkreis hat von einem Jahr auf das andere Jahr 15 Millionen Euro zusätzlich - on top - für Energiekosten ausgeben müssen. Die
Ausnahmetatbestände haben nichts, aber auch gar nichts
mit unberechtigten Privilegien zu tun. Vielmehr ist das
eine Hilfe, die wir solchen Betrieben angedeihen lassen.
({5})
875 000 Menschen arbeiten in diesen Industrien, und
jeder Arbeitsplatz dort zieht zwei weitere Arbeitsplätze
in anderen Bereichen nach sich. Spätestens an diesem
Punkt müssten Sie aufwachen und aus Ihren ideologischen Schützengräben herausspringen. Denn, meine Damen und Herren, Sie verraten gerade die Arbeiterklasse,
für die einzutreten Sie sonst immer vorgeben, und das
werden wir nicht mitmachen.
({6})
Die energieintensiven Industrien sind ein enormer
Wirtschaftsfaktor und Wohlstandsgarant für Deutschland.
({7})
In keinem anderen Land in der EU nimmt dieser Wirtschaftszweig eine solch herausragende Rolle für Beschäftigung, für Einkommen und für Wohlstand ein, und
das soll auch so bleiben.
Bei vielen Unternehmen machen aber bereits jetzt die
Energiekosten über 60 Prozent ihrer Ausgaben aus. Es
handelt sich also nicht um Privilegien - und schon gar
nicht um unberechtigte -, sondern um die Sicherung von
Arbeitsplätzen und das Herstellen von Waffengleichheit
im internationalen Wettbewerb.
({8})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, der Umbau
der Energieversorgung, die Verbesserung der Klimaverträglichkeit, die Energieeffizienz und der Ausbau der erneuerbaren Energien werden hierzulande direkt über den
Verbrauch von Energie finanziert. Es gibt - das können
wir bedauern oder nicht - keine europäische Lösung,
und auch nicht jede Regierung geht diesen Weg - in
Klammern: Zertifikatehandel - mit. Weil das so ist, gibt
es einen unfairen Wettbewerb zulasten der deutschen Industrie und zulasten der Menschen, die hier leben.
Wir können eines nicht machen, dass dann, wenn Arbeitslosigkeit entsteht und diese Menschen Hartz IV beziehen, Sie die Ersten sind, die sagen: Die Regelsätze bei
Hartz IV müssen steigen. - Das ist ein Ding, das wir
nicht mittragen werden.
Wir entlassen die energieintensive Industrie auch
nicht aus ihrer Verantwortung - das wurde hier mehrfach
angesprochen -, was ihren eigenen Energieverbrauch angeht. Es liegt auch im eigenen Interesse der Unternehmen, weniger Energie zu verbrauchen. Denn weniger
Energie bedeutet weniger Kosten und bedeutet eine stärkere Position im Wettbewerb.
Meine Damen und Herren, das begleiten wir. Wir
werden uns nach wie vor politisch dafür einsetzen - zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zugunsten der Unternehmer. Die können sich dabei auf uns
verlassen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich
Dagmar Enkelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Kollege
Koeppen, als stellvertretende Vorsitzende der RosaLuxemburg-Stiftung kann ich sehr wohl einschätzen,
über welches Know-how und welche wissenschaftliche
Kompetenz die Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügt. Dazu
gehört unter anderem die genannte Energiestudie, die ich
Ihnen nur wärmstens empfehlen kann, um Ihre Kompetenz möglicherweise weiter zu verbessern.
({0})
Ich maße mir nicht an, über die Konrad-AdenauerStiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung oder andere Stiftungen zu reden. Alle leisten ihren Teil zur politischen
Bildung in diesem Land - genauso wie die RosaLuxemburg-Stiftung.
({1})
Was Heinz Vietze anbetrifft, so hatte er anders als beispielsweise die damaligen Parlamentarier der CDU in
Brandenburg einen großen Anteil daran, dass die Demokratie in Brandenburg entwickelt wurde.
({2})
Die PDS ist mit verfassunggebende Partei in Brandenburg - anders als übrigens die CDU, die heute noch ein
Problem mit der Verfassung in Brandenburg und mit der
Demokratie in Brandenburg hat.
({3})
Das sieht man am gegenwärtigen Agieren der brandenburgischen Landtagsfraktion. Dafür werden Sie Ihre
Quittung bekommen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8608 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Rechtsrahmens für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im
Recht der erneuerbaren Energien
- Drucksache 17/8877 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 17/9152 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert, Jan
Korte, Dorothée Menzner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Mut zum Aufbruch ins solare Zeitalter
- Drucksachen 17/8892, 17/9152 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
Zu dem Gesetzentwurf, über den wir später namentlich abstimmen werden, liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Maria
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nach intensiven Beratungen im Ausschuss, in den
Arbeitsgruppen und einer ausführlichen Anhörung stelDr. Maria Flachsbarth
len wir nun die in Bezug auf die Photovoltaik überarbeitete Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Plenum zur Abstimmung.
Dass es einen Handlungsbedarf für eine Novellierung
gibt, daran besteht wohl auch in dieser Runde kein Zweifel. Nach einem Ausbau um 7 400 Megawatt im Jahr
2010 und um 7 500 Megawatt im Jahr 2011 müssen wir
miteinander erkennen, dass hier eine Marktüberhitzung
vorliegt, dass wir also handeln müssen.
Weil ich das Argument schon kenne, dass wir mit einer Novelle Arbeitsplätze in Gefahr bringen - es ist in
der letzten Debatte auch schon gefallen -, muss ich Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das EEG ist
weder ein Instrument zur Gefährdung noch eines zur
Rettung von Arbeitsplätzen,
({0})
sondern ein Instrument zur Markteinführung erneuerbarer Energien. Deshalb würde ich darüber jetzt auch gern
sprechen.
({1})
Wenn wir eine Marktüberhitzung tatsächlich zurückführen wollen und auf einen nachhaltigen Aufbaupfad
kommen wollen, dann ist es notwendig, die Vergütungen
abzusenken. Genau das machen wir. Zum einen ziehen
wir die bereits erwartete Absenkung zum 1. Juli dieses
Jahres um 15 Prozent auf den 1. April vor, und zum anderen legen wir eine nochmalige Degression um 5 bis
15 Prozent obendrauf, weil der Preisverfall auf dem
Markt aufgrund des ruinösen Wettbewerbs durch chinesische Hersteller so ist, wie er ist.
({2})
Wir achten aber darauf - in Modifizierung des Regierungsentwurfs -, dass diejenigen Investoren, die im Vertrauen auf die bestehende Gesetzeslage Geld in die Hand
genommen haben, keine gestrandeten Investments hinnehmen müssen, sondern dass sie die Projekte, die sie in
Angriff genommen haben, auch noch realisieren können.
Wir haben also letztendlich Übergangsregelungen unterschiedlicher Art - je nach Anlagenart - geschaffen, und
zwar für einfache Dachanlagen bis zum 1. April und für
große Freiflächenanlagen, die auf einer Konversionsfläche errichtet werden und für deren Installation entsprechende Vorarbeiten notwendig sind, bis zum 30. September. Ich glaube, dass wir damit all denen, die im
Vertrauen auf die geltende Rechtslage gehandelt haben,
ein sehr, sehr faires Angebot machen.
Einen zweiten wichtigen Punkt haben wir in dem Gesetzentwurf, so wie wir ihn jetzt dem Plenum vorlegen,
berücksichtigt: Wir wollen den Investoren darüber hinaus auch in Zukunft Planungssicherheit verschaffen.
({3})
Das haben wir erreicht, indem wir die zunächst vorgesehenen Verordnungsermächtigungen, mit denen die Bundesregierung auf entsprechende Marktentwicklungen reagieren wollte, zurückgenommen und im Gesetzentwurf
fixiert haben, nach welchen Maßgaben sich die Vergütung tatsächlich richtet, damit das für jeden einsehbar
und von vornherein klar ist. Deshalb haben wir den atmenden Deckel fortentwickelt, den es auch im derzeit
geltenden Gesetz gibt,
({4})
und zwar unter der Maßgabe einer kontinuierlichen Degression zwischen 11 Prozent bei einem Ausbau im Rahmen des Korridors - also zwischen 2 500 und 3 000 Megawatt - und 29 Prozent ab einem Ausbau von 7 500
Megawatt. Denn wir sind doch gemeinsam der Meinung,
dass wir eine solche Größenordnung nicht wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der nächste Kritikpunkt, mit dem wir uns im Rahmen der Beratungen intensiv auseinandergesetzt haben, betraf die Absenkung
des Korridors. Da kam die Frage auf: Die wollen gar
nicht mehr PV-Installationen in diesem Land. Wie kommen die dann auf die Zahlen, die sie eigentlich wollen,
bis 2020 letztendlich 52 Gigawatt? - Das ist insofern zu
erklären, als in vielen Bereichen schon Netzparität erreicht ist und es also wirklich interessant ist, eine PVAnlage auf dem Dach oder einer Freifläche zu installieren, wenn man denn weiß, wofür man den Strom nutzen
will. Nicht mehr jede produzierte Kilowattstunde ist also
als solche eine gute Kilowattstunde, sondern die Erneuerbaren - insbesondere die Photovoltaik - müssen jetzt
Kunden für ihr Produkt finden.
({5})
Das ist völlig in Ordnung; das wollen wir. Deswegen
muten wir das der Branche auch zu und sagen: Bei
Dachanlagen bis 10 Kilowatt ist es vernünftig, bis zu
20 Prozent in den Eigenverbrauch zu gehen,
({6})
und bei größeren Anlagen bis 1 000 Kilowatt kann man
bis zu 90 Prozent in den Eigenverbrauch gehen. Damit
haben wir letztendlich einen Hebel in der Hand und können sagen: Wer eine solche Anlage betreibt, der muss
auch wissen, von wem der Strom abgenommen werden
soll.
Ich glaube, dass wir dadurch sehr innovative Projekte
auf den Weg bringen.
({7})
Denn ich kann mir vorstellen, dass Gewerbetreibende,
Landwirte, Einzelhändler es natürlich interessant finden,
ihren eigenen Strom zu geringeren Kosten zu produzie20296
ren, als sie aufbringen müssten, wenn sie ihn aus dem
Netz holten.
Darüber hinaus haben wir neue Modelle bezüglich eines modifizierten Grünstromprivilegs eingeführt, sodass
der Mieter den Vermietern oder auch den nächsten Nachbarn den Strom zu sehr, sehr günstigen Preisen verkaufen kann, ohne dass das öffentliche Netz genutzt werden
muss. Ich glaube, dass wir diesbezüglich tatsächlich auf
einem sehr guten Weg sind.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben darüber
hinaus - das möchte ich hier noch erwähnen - in Bezug
auf die Speicherförderung einen Schritt in die richtige
Richtung gemacht. Wir haben nämlich Speicher von der
EEG-Umlage befreit. Das ist vernünftig, um einen Anreiz für den Bau von großen Speichern, die wir im Zuge
der Energiewende brauchen, zu schaffen. Und wir haben
im Umweltausschuss einen Antrag eingebracht, der die
Bundesregierung dazu auffordert, bis Oktober konkrete
Vorschläge für ein Programm zur Markteinführung für
Speicher vorzulegen und die Forschung in diesem Bereich zu intensivieren.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt
davon, dass wir mit der Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, insbesondere mit der Förderung der Photovoltaik, einen richtigen Schritt in die Zukunft gemacht
haben. Ich bin davon überzeugt, dass die Photovoltaik
eine starke Säule der Energiewende bleiben wird und
dass es bei uns einen nachhaltigen Ausbau der Photovoltaik geben wird.
Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung.
({10})
Das Wort hat nun der Wirtschaftsminister des Landes
Thüringen, Matthias Machnig.
({0})
Matthias Machnig, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im letzten Jahr ist in diesem Hause intensiv über die
Energiewende diskutiert worden. Auch im Bundesrat
wurde darüber debattiert. Ich habe immer genau zugehört, wenn beispielsweise Herr Röttgen oder andere Vertreter der Koalitionsfraktionen gesprochen haben. Was
war deren Botschaft? Wir brauchen ein Gemeinschaftswerk, hieß es. Wir brauchen eine gute Koordination dessen, was wir tun. Heute zeigen Sie, dass Sie zu einem
Gemeinschaftswerk nicht in der Lage sind. Ein Gemeinschaftswerk braucht nämlich eines: einen breiten politischen Konsens in den einzelnen Bereichen, auch wenn
es um eine Schlüsselbranche wie die Solarindustrie geht.
({2})
Ich sage Ihnen eines voraus: So falsch es war, den Versuch zu wagen, wieder in die Kernenergie einzusteigen,
um danach wieder auszusteigen, so falsch ist es jetzt, den
Konsens, den man im Bundestag und auch mit den Ländern herbeiführen könnte, zu gefährden. Dazu kann ich
nicht raten; denn wir werden ihn in den nächsten Jahren
brauchen.
({3})
Ich will eine kleine Geschichte erzählen; denn man
lernt aus Konkretem. Auf Einladung des Bundeswirtschaftsministers, Herrn Rösler, war ich im Januar beim
Konjunkturrat. In diesem Gremium, das im Wachstumsund Stabilitätsgesetz vorgesehen ist, berät der Bundeswirtschaftsminister mit den Wirtschaftsministern der
Länder. Wir haben über Konjunktur und Energie geredet.
Ich bin seit 30 Jahren in der Politik aktiv, aber ich habe
noch nie erlebt, dass übereinstimmend festgestellt worden ist - Herr Zeil, ein Vertreter der FDP, hat damit begonnen -, dass wir im Bereich der Energiepolitik endlich
eine vernünftige Koordination in Deutschland brauchen.
Diese Auffassung wurde von allen Vertretern, ob CDU,
ob CSU, ob FDP, ob Grüne, ob Linkspartei, ob SPD, geteilt. Das macht deutlich, was wir in den nächsten Jahren
brauchen.
Vonseiten der Länder haben wir Herrn Röttgen und
Herrn Rösler immer wieder signalisiert: Sprecht doch
einmal mit uns!
({4})
Wir kennen die Industrie.
({5})
In Thüringen gibt es mehr als 5 000 Arbeitsplätze in der
PV-Industrie. Sprecht doch einmal mit uns! Man hätte
klüger werden können und die eine oder andere Entscheidung anders getroffen.
({6})
Ich sage deshalb auch hier: Wenn man heute über den
vorliegenden Gesetzentwurf entscheidet, muss man vier
Antworten darauf geben, warum man das macht. Man
muss eine energiepolitische Antwort geben, man muss
eine investitionspolitische Antwort geben, man muss
eine industriepolitische Antwort geben, und man muss
eine preispolitische Antwort geben. Dazu mache ich einige Bemerkungen.
Erstens zur Energiepolitik. Die PV-Industrie ist der
Energieträger mit der höchsten Akzeptanz aller Energieträger in Deutschland. 96 Prozent unterstützen diesen
Energieträger. Ich kenne keinen anderen Energieträger,
der eine so hohe Akzeptanz findet. Wenn wir etwas für
die Realisierung der Energiewende brauchen, dann AkMinister Matthias Machnig ({7})
zeptanz und ein Konsens darüber, welche Energieträger
wir in den nächsten Jahren einsetzen.
({8})
Entscheidend ist auch: PV stärkt dezentrale Strukturen.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, das solle alles
dezentral ablaufen. Wir brauchen in den nächsten Jahren
ein ausgewogenes Verhältnis von dezentralen und zentralen Strukturen. Wir brauchen aber auch dezentrale
Angebote, und da ist die Photovoltaik von ganz entscheidender Bedeutung.
({9})
Sie müssen mir einmal eines erklären: Wenn Sie im
Jahr 2020 einen Anteil der erneuerbaren Energien von
35 Prozent erreichen wollen, Sie aber beim Bereich Offshorewind nicht vorankommen - und in anderen Bereichen auch nicht -, dann werden wir die Photovoltaik
brauchen, um das Ziel zu erreichen. Das ist die Wahrheit.
Man muss sich dazu bekennen oder die Ziele entsprechend anpassen; eines von beiden geht nur.
({10})
Zweitens zur Investitionspolitik, einem Thema, das
mir ganz besonders wichtig ist. Für die Energiewende
brauchen wir in den nächsten Jahren massive Investitionen im Bereich der Netze, aber auch im Bereich der fossilen Energieträger. In diesem Zusammenhang stelle ich
fest: Die Vorgänge, die sich derzeit in der Solarbranche
abspielen, werden nicht auf die Solarbranche beschränkt
bleiben. Reden Sie doch einmal mit Energieunternehmen! Ich jedenfalls mache das.
({11})
Sie sagen: Diese Bundesregierung verunsichert die
Märkte, sie schafft keine klaren Rahmenbedingungen nicht nur in der Solarindustrie, sondern auch in anderen
Bereichen. Das ist ein Riesenproblem für die Energiewirtschaft; denn wir brauchen in den nächsten Jahren Investitionen.
({12})
Das ist die Wahrheit. Deshalb sage ich: Wir brauchen
klare Rahmenbedingungen. Ich hoffe, dass das gelingt.
Das dritte Thema ist die Industriepolitik. Auch hier
will ich Ihnen einen Hinweis geben. Wer sich die Zahlen
im Hinblick auf die deutschland- und weltweit installierte Leistung anschaut, wird Folgendes feststellen: Im
Jahre 2011 wurden knapp 28 Gigawatt Photovoltaikleistung verbaut, davon 7,5 Gigawatt in Deutschland. 2010
lag dieser Wert noch bei 50 Prozent. Was ist passiert?
Die internationalen Märkte springen an. Wir haben die
Photovoltaik ja nicht nur gefördert, weil wir sie inländisch nutzen wollen, sondern auch, weil sie für deutsche
Unternehmen eine Riesenexportchance bedeutet, vorausgesetzt, dass diese Unternehmen noch existieren. Ich
möchte gerne, dass die Unternehmen existieren, damit
sie die Chancen auf den internationalen Märkten nutzen
können.
({13})
Wenn man sich die Zahlen vergegenwärtigt - 20 Milliarden Euro Umsatz, Investitionen in Höhe von
19,5 Milliarden Euro im Jahre 2010, 70 Prozent aller Investitionen im Bereich der Erneuerbaren in der Photovoltaikbranche - und ein bisschen volkswirtschaftlich
denkt, wird deutlich, dass diese Branche industriepolitisch ein sehr wichtiger Faktor ist. Das ist gerade für
Thüringen und die anderen neuen Bundesländer essenziell. Wir haben hier eine der wenigen Branchen mit Zukunftspotenzial aufbauen können. Entstanden ist dies im
sogenannten Solar Valley, einem der größten Solarcluster der Welt.
Jetzt erleben wir, dass Maßnahmen auf den Weg gebracht werden, die de facto zu einer Unterstützung chinesischer Solarhersteller führen; das ist die Konsequenz
aus Ihrer Politik.
({14})
Das gefährdet 30 bis 40 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze, sagt die Branche; das müssen wir im Auge
behalten.
Es handelt sich hier um eine industriepolitische, innovationspolitische und strukturpolitische Schlüsselaufgabe, die wir in den nächsten Jahren angehen müssen.
Das sage ich insbesondere als Minister eines neuen Bundeslandes. Ich bitte Sie darum, einmal neu darüber nachzudenken. In Frankreich wird zum Beispiel gerade über
eine Local-Content-Klausel diskutiert. Vielleicht ist das
ja nur Wahlkampfgeklingel, weil Herr Sarkozy im Wahlkampf steckt; ich weiß es nicht genau.
({15})
- Ich bin nicht im Wahlkampf, sondern Sie, Herr
Lindner. Ich war einmal im Wahlkampf. Wir haben gegen Sie gewonnen; das war das Schöne.
({16})
- Ist ja gut. Wir kommen schon noch; macht euch mal
keine Sorgen. 2 Prozent ist ja nicht so sehr stark.
Ich will auf Folgendes hinaus: In anderen Ländern
wird ernsthaft darüber diskutiert, wie man Industriepolitik macht, um die Branche zu unterstützen. Frankreich
habe ich bereits genannt; auch Italien hat eine LocalContent-Klausel, ebenso Kanada. Wir sollten ernsthaft
darüber diskutieren, ob es nicht auch in Deutschland
eine Local-Content-Klausel geben sollte, um diese
Schlüsselindustrie, die wir im 21. Jahrhundert brauchen,
voranzubringen.
Minister Matthias Machnig ({17})
Mit Blick auf den vorliegenden Gesetzentwurf will
ich eines sagen: Es gibt seit dem 23. März eine positive
Entwicklung; das will ich ausdrücklich festhalten. Ich
finde es gut, dass die Verordnungsermächtigungen gestrichen worden sind. Meine Vermutung aber ist die Folgende: Sie sind ohnehin nur hineingeschrieben worden,
damit die Fraktionen sie wieder herausstreichen können.
({18})
Das ist meine Vermutung, das kann ich natürlich nicht
beweisen.
({19})
Ich finde, dass sich die Übergangsfristen verbessert haben; das unterstütze ich sehr. Ich halte auch das eine oder
andere Element für richtig, zumindest ist es ein Schritt in
die richtige Richtung. In der Substanz aber kann dieser
Gesetzentwurf nicht so bleiben. Wir brauchen weitere
Schritte; sie sind dringend notwendig. Da will ich einige
Dinge ansprechen.
Ich halte das Festhalten am Deckel von 3 500 Megawatt für falsch, weil doch eines klar ist: Nur wenn es uns
gelingt, eine Economy of Scale aufzubauen, werden wir
in der Lage sein, die Kostendegression in den nächsten
Jahren voranzutreiben. Die Kostendegression bei der
Photovoltaik muss doch im Zentrum stehen, damit wir
schnell wettbewerbsfähige Preise haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
der CDU/CSU-Fraktion?
Matthias Machnig, Minister ({0}):
Ja, am Ende, wenn ich so weit bin.
Dann ist es ja keine Zwischenfrage mehr. Jetzt oder
nie!
Matthias Machnig, Minister ({0}):
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Minister Machnig, wollen Sie zur
Kenntnis nehmen, dass wir uns in einer Weltmarktsituation befinden, in der das Angebot in der Solarbranche
sehr stark die Nachfrage übersteigt, etwa um das Doppelte? Wollen Sie außerdem bitte zur Kenntnis nehmen,
dass wir, wenn Sie schon davon sprechen, die Industrie
zu schützen, auch sichere Rahmenbedingungen schaffen
wollen? Wenn Sie gerade verkünden, dass der Gesetzentwurf in seiner Ausprägung aus Ihrer Sicht nicht ausreichend ist, erweckt das den Anschein, dass Sie dem auf
Länderebene nicht zustimmen wollen, Matthias Machnig, Minister ({0}):
Das ist so, ja.
- was hieße, dass gegebenenfalls für Monate eine
rechtsunsichere Lage entsteht
({0})
und Sie damit der Branche eventuell einen Bärendienst
erweisen.
({1})
Matthias Machnig, Minister ({2}):
Ich finde, das ist ein tolles Argument. Dann will ich
einmal ein anderes Beispiel nennen: Im weltweiten Automobilmarkt haben wir seit Jahren Überkapazitäten. Es
käme in Deutschland niemand auf den Gedanken, die
deutsche Automobilindustrie wegen weltweiter Überkapazitäten zu schwächen. Niemand käme auf diesen Gedanken!
({3})
- Das ist doch die Wahrheit. Wir haben im Übrigen in
der Großen Koalition in einer schwierigen konjunkturellen Lage - das war auch nicht unumstritten - ein Programm zur Steigerung der Nachfrage nach neuen Fahrzeugen geschaffen.
({4})
- Ja, das ist klar. Das müssen Sie gerade sagen.
({5})
- Ja, wir sind alle Lobbyisten. Vielen Dank. Das sagt mir
jemand von der FDP.
({6})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth von der FDP? Das verlängert Ihre Redezeit.
Matthias Machnig, Minister ({0}):
Ja, gerne.
Herr Minister, die Ostthüringer Zeitung vom heutigen
Tage - sie kommt aus Ihrem Bundesland - schreibt: Solarzellenproduktion wächst immer noch. Unterüberschrift: Fachzeitschrift prognostiziert weitere Verlagerung nach Fernost und anhaltende Dominanz der
chinesischen Hersteller.
Patrick Kurth ({0})
({1})
Unter den Top 10 der Solarzellenproduzenten findet man
inzwischen sechs Chinesen. Ich frage Sie, inwieweit Sie
mit der EEG-Novelle, die Sie eventuell einbringen wollen, diesem Trend in der Produktion - nicht in der Innovation - entgegenwirken?
Eine zweite Frage: Können Sie mir, wenn Sie der
Auffassung sind, dass die Automobilproduktion trotz
weltweiter Nachfrage überdimensioniert ist, erklären,
wie viele Millionen Sie Opel Eisenach in diesem oder
auch im letzten Jahr überwiesen haben?
Matthias Machnig, Minister ({2}):
Das kann ich gerne machen. Wir können in Thüringen
weiter darüber diskutieren. Auch dafür stehe ich ein. Bei
Opel Eisenach werden im Übrigen gerade 200 Millionen
Euro investiert, um eine neue Produktlinie, ein neues
Produkt aufzubauen. Das, was wir da tun, ist richtig und
auch regionalpolitisch sehr vernünftig.
({3})
Wir können doch nicht die Entscheidung treffen, die
weltweiten Überkapazitäten zulasten der deutschen
Standorte abzubauen. Das ist keine Wirtschaftspolitik;
das ist gar nichts, überhaupt nichts.
({4})
Das Zweite ist: Ich glaube, dass wir bei den Fördersätzen ab dem 1. April zu viel tun. Ich bin für die Degression; das sage ich hier ganz klar. Mir geht es um ihre
Höhe.
({5})
Das Thema ist auch nicht unstrittig. Ich war einmal im
Bundesumweltministerium; da haben wir auch eine Degression vorgenommen. Die Frage ist, wie hoch die Degression ist.
Die höchste Wertschöpfung hat die deutsche Solarindustrie im Bereich kleinerer Anlagen, die auf den Dächern installiert werden. Wir sollten deswegen Regelungen suchen, damit gerade dieses Marktsegment, in dem
wir bei deutschen Herstellern die größte Wertschöpfung
haben, gefördert wird. Dort sollten wir die Vergütungssätze nicht absenken, sondern sogar leicht steigern. Das
ist meine Position in der Sache.
({6})
Mein letzter Punkt. Ich würde gerne darüber sprechen, wie wir Regelungen finden können, um wieder für
mehr Planungssicherheit zu sorgen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Matthias Machnig, Minister ({0}):
Ich weiß, ich will nur noch einen Gedanken ausführen. - Ich glaube nicht daran, dass das Modell des atmenden Deckels in dieser Form funktioniert. Das schafft
mehr Unsicherheit als Sicherheit.
({1})
Deswegen sollten wir zu der Regelung zurückkehren,
dass es zu bestimmten Stichtagen klar definierbare Absenkungen der Einspeisevergütung gibt. Ich glaube, es
wäre vernünftig - da gibt es durchaus eine Diskrepanz
zwischen der SPD-Bundestagsfraktion und einem Ländervertreter -, die Degression, die wir ohnehin im EEG
für 2012 beschlossen haben, zum 1. Juli einzuführen.
Herr Minister, Sie müssen zum Schluss kommen.
Matthias Machnig, Minister ({0}):
Ein letzter Satz. - Mir ist eines wichtig: Ich und
meine Landesregierung, wir wünschen uns - das kann
ich in Übereinstimmung mit meiner Ministerpräsidentin
sagen, die der CDU angehört -, dass wir über den Bundesrat die Chance bekommen, im Vermittlungsausschuss
noch einmal über das Paket zu reden.
({1})
Das möchte ich gerne, weil ich glaube, dass dies eine
Chance ist, zu einem breiteren Konsens in der Sache zu
kommen, den wir brauchen. Es muss der Grundsatz gelten:
Herr Minister, Sie müssen zum Schluss kommen.
Matthias Machnig, Minister ({0}):
- Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Wir alle sollten
uns ein bisschen ändern.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Machnig ist ja ein importierter Landesminister.
({0})
Er ist aus Berlin importiert, wo er Staatssekretär war. Als
Staatssekretär im Umweltministerium war er federführend für das EEG 2009 zuständig.
({1})
Damals hat Herr Gabriel gemeinsam mit Herrn Machnig
einen Zielkorridor für die Photovoltaik von 1 200 bis
1 900 Megawatt für das Jahr 2011 beschlossen.
({2})
Diese Koalition hat diesen Zielkorridor in etwa verdoppelt. Der Ausbau war dann noch einmal doppelt so hoch.
({3})
Das ist die Wahrheit. Schauen Sie doch ins Gesetz. Der
atmende Deckel, der gerade kritisiert wurde,
({4})
wurde in das EEG 2009 sozusagen in einer Kurzfassung
eingeführt. Basis für die Degression 2011 ist ein Anlagenzubau von 1 900 Megawatt als Obergrenze und
1 200 Megawatt als Untergrenze. Das kann jeder gerne
auf seinem iPhone nachlesen. Die ganze Diskussion ist
scheinheilig.
({5})
Als er Staatssekretär war, waren es 1 900 Megawatt.
Jetzt soll es keine Obergrenze geben, nur weil es vielleicht einen Hersteller gibt, den er hier als Landesminister vertritt. Das mag ja legitim sein, aber das ist keine
verantwortliche Politik für das ganze Land.
({6})
Die Mengen sind zwei Jahre hintereinander doppelt
so hoch gewesen, wie es das Gesetz vorsieht.
({7})
Es wäre ja schön, wenn sich das aus dem Markt heraus
entwickelt hätte, aber es ist doch nur deswegen so gekommen, weil die Preise für die Solaranlagen schneller
gesunken sind als die Vergütung.
({8})
Wenn die Preise für die Anlagen schneller sinken als die
Vergütung, dann machen sich diejenigen, die die Anlagen aufbauen, die Taschen voll, und die Rechnung wird
dem Endverbraucher präsentiert. Das will die SPD fortführen; das ist der Punkt. Das ist unsoziale Politik: Einige machen sich die Taschen voll, und andere müssen
es bezahlen. Das machen wir nicht mit.
({9})
Wenn die Preise für Anlagen sinken, dann finden wir
das gut, weil das technischen Fortschritt bedeutet. Das
genau ist es, was wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz erreichen wollen: dass Anreize für Innovationen geschaffen werden und die Kosten durch hohe Stückzahlen
sinken. Wenn die Kosten sinken, dann muss aber auch
die Vergütung sinken. Ansonsten wäre das aus meiner
Sicht gegenüber dem Normalbürger in unserem Land,
der am Schluss die Rechnung bezahlt, nicht vertretbar.
({10})
Deshalb müssen wir auch bei der Menge zu einem Umdenken kommen.
({11})
Eine Energiewende bedeutet, dass wir das gesamte
Energiesystem in einem gewissen Zeitrahmen auf erneuerbare Energien umstellen wollen. Dann müssen die erneuerbaren Energien aber nicht nur Masse, sondern auch
Qualität im Netz liefern. Deshalb brauchen wir einen
Energiemix der verschiedenen Formen der erneuerbaren
Energien. Für das Energiesystem ist es nicht gut, wenn
wir auf der einen Seite auf Teufel komm raus die Solarindustrie subventionieren und wenn auf der anderen
Seite andere Technologien keinen Raum haben.
({12})
- Beispielsweise die Solarthermie. Investitionen in diesem Bereich haben seit dem Boom der Photovoltaik
nachgelassen, weil es sich eben mehr lohnt, eine Photovoltaikanlage auf dem Dach zu installieren als eine Solarthermieanlage.
({13})
Deshalb müssen wir beim Ausbau der Versorgung durch
erneuerbare Energie zu einer Nachhaltigkeit kommen.
({14})
Wenn uns hier suggeriert wird, bei der Vergütungshöhe ginge es um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Solarindustrie, dann geht das leider völlig am
Thema vorbei. Die deutschen Solarunternehmen stehen
in Konkurrenz zu den Chinesen, egal wie hoch die Vergütung ist. Deutsche Verbraucher, die sich eine Solaranlage auf das Dach bauen, entscheiden nach Preis und
Qualität, ob sie eine deutsche oder eine chinesische AnMichael Kauch
lage kaufen. Wenn man nicht billiger ist als die Chinesen, dann muss man besser sein als die Chinesen. Das
heißt, dann muss man mehr Qualität liefern. Nur so werden die deutschen Solarunternehmen in diesem Land
eine dauerhafte und gute Zukunft haben.
({15})
Ich höre immer wieder, wir brauchten eine LocalContent-Klausel. Was bedeutet denn Local Content?
Local Content bedeutet: Ihr dürft hier nur dann eure Solaranlagen verkaufen und die entsprechende Vergütung
erhalten, wenn ihr hier produziert. - Wenn wir diese Logik auf alle Branchen der Wirtschaft ausweiten, dann ist
das das Ende der Exportnation Deutschland. Das macht
den Freihandel kaputt. Das, was hier gefordert ist, ist gegen die deutschen Interessen.
({16})
Es gibt nicht nur die Solarbranche; es gibt auch andere
Arbeitsplätze in der Industrie, und die vergessen Sie an
dieser Stelle. Ich muss sagen: Ich finde das beschämend,
({17})
gerade vor dem Hintergrund der nordrhein-westfälischen
Situation, nämlich wenn uns Ministerpräsidentin Kraft
aus Nordrhein-Westfalen immer wieder sagt: „Wir müssen die industriellen Kerne erhalten“, und dann Vorschläge gemacht werden, die am Schluss den Freihandel
zunichtemachen, aufgrund dessen diese Unternehmen
auf dem Weltmarkt bestehen. Das ist das Gegenteil von
kluger Industriepolitik.
({18})
Das Wort hat nun Dorothée Menzner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! 16 Gigawattstunden - das war gestern zwischen 12 und 13 Uhr in der Mittagszeit die Strommenge,
die Solaranlagen in Deutschland produziert haben.
16 Gigawattstunden entsprechen dem Jahresverbrauch
von 4 500 Haushalten. Für diesen sauberen Strom wurde
keine Kohle, kein Öl und kein Uran verbraucht und folglich auch kein CO2 freigesetzt. Für diejenigen, die auf
Atomkraft stehen: Bei Atomstrom wären dafür 11,3 Kilo
Atommüll angefallen.
Zur gleichen Zeit mussten die vier großen Energiekonzerne trotz Spitzenlastzeit fossile Großkraftwerke herunterregeln, und zur gleichen Zeit ist der Strompreis an
der Börse, der morgens um 9 Uhr noch 5 Cent je Kilowattstunde betrug, wegen des hohen Angebots an erneuerbaren Energien auf 2,5 Cent gefallen. Dass das die vier
großen Stromkonzerne Eon, RWE und Co. nicht besonders freut, die bisher in der Mittagszeit ihre größten Gewinne gemacht haben, ist vollkommen klar. Die Preise
sind gesunken; hier können sie keine Gewinne mehr machen. Nur so viel zu dem Märchen, man müsse aus Verbraucherschutzgründen den Zubau an Solaranlagen drosseln.
({0})
Das hat etwas mit der Preisbildung zu tun und nicht damit, dass dies für den Verbraucher so teuer wäre.
Wir beraten heute abschließend einen Gesetzentwurf,
der in Berlin Tausende von Mitarbeitern der Solarbranche zu Protesten auf die Straße gebracht hat. Dieser Gesetzentwurf ist fatal, selbst wenn man die Änderungen
- zum Teil waren das tatsächlich Verbesserungen - der
letzten 48 Stunden einrechnet. Daran wird aber auch
deutlich, mit welch heißer Nadel diese Koalition strickt.
Dass die Bundesregierung den Zubau von Solaranlagen begrenzen will, ist aus ihrer Sicht logisch; das muss
ich zugestehen. Die vier großen Energiekonzerne haben
schlicht und ergreifend den Zug der Zeit verpasst. Sie
kommen nicht hinterher und realisieren jetzt, dass ihr
Monopol allmählich bröckelt, weil die Bürgerinnen und
Bürger selbst zu Stromproduzenten werden. Das kann
Konzernlobbyisten nicht gefallen.
Die Koalition legt mit ihren Änderungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes seit 2009 ein Hü und Hott an
den Tag, das jeden Verbraucher, aber auch die Industrie
unnötig verunsichert. Wer heute eine PV-Anlage plant,
weiß nicht, mit welchem Satz er den eingespeisten
Strom in einigen Monaten vergütet bekommt. So dreht
man einer Branche den Hahn ab.
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz allein ist natürlich
nicht dazu in der Lage, die Photovoltaikbranche in diesem Land wettbewerbsfähig zu halten. Dazu gehört noch
sehr viel mehr. Dazu gehört zum Beispiel Industriepolitik.
({1})
Öffentliche Bürgschaften gehören dazu, Zertifizierungspflichten, Recyclingregelungen oder auch die Förderung
von Forschung und Entwicklung. Bei all dem herrscht
aber Fehlanzeige. Wenn wir nachfragen, heißt es immer,
dafür sei kein Geld da, das sei zu teuer.
Ich kann nur sagen: Ganz stimmen kann das nicht.
Entwicklungshilfe und internationale Zusammenarbeit
sind etwas sehr Sinnvolles; sie finden unsere Unterstützung. Wenn man sich hier hinstellt und sagt, dass für die
Solarindustrie kein Geld da sei, es aber woanders ausgibt, dann ist das absurd. Yingli - das ist ein chinesischer
Solarhersteller, einer der größten weltweit - macht fast
die Hälfte seines Umsatzes in Deutschland. Das Unternehmen kassierte einen 25-Millionen-Kredit der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft, einer
Tochter der öffentlich-rechtlichen KfW. Yingli geht es
nicht besonders schlecht. Das Unternehmen hat große
Werke, macht Umsatz und Gewinn, so viel, dass das Unternehmen sogar einer der Sponsoren des FC Bayern
München ist.
({2})
Wenn die KfW außerdem einen zinsgünstigen Kredit
über 75 Millionen Euro an die chinesische Staatsbank
gibt, die das Geld dann unter anderem an die größten
Konkurrenten der deutschen Unternehmen in der Solarwirtschaft weiterreicht, dann darf man diese Regierung,
so finde ich, getrost fragen, wieso keine Gelder da sind,
um die deutsche Industrie in den Bereichen Forschung
und Entwicklung zu unterstützen.
({3})
Wieso ziehen sie sich immer wieder mit dem Argument,
dass kein Geld da ist, zurück, und wieso versäumen Sie
es, Industriepolitik zu machen?
Frau Kollegin, würden Sie bitte zum Schluss kommen?
Sie würgen eine ganze Branche ab.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Gesetzesnovelle ist ein heftiger Schlag
gegen die erfolgreiche und innovative Solarbranche.
({0})
Schwarz-Gelb kennt kein Erbarmen mit den Arbeiterinnen und Arbeitern in dieser Branche, obwohl in den letzten Wochen weitere Solarfirmen Insolvenz und Kurzarbeit anmelden mussten.
({1})
Ihre radikalen und überzogenen Vergütungskürzungen
werden, verbunden mit einer fehlenden Industriepolitik,
weitere Insolvenzen verursachen. Deswegen werden wir
Grünen Ihrer Gesetzesnovelle nicht zustimmen.
({2})
Wir brauchen diese Branche, wenn wir den Atomausstieg schultern wollen. Statt einer drastischen Zubaubeschränkung, die Sie in Ihrem Gesetz vorsehen - sogar
die Planzahlen sind geringer -, benötigen wir einen verstärkten Zubau im Bereich der erneuerbaren Energien.
Sie wollen angeblich die Kosten senken. Sie erhöhen
aber die Belastung der Sozialkassen, indem Sie immer
mehr Insolvenzen, Kurzarbeiter und Arbeitslose schaffen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hirte von der CDU/CSU-Fraktion?
Gerne, Herr Kollege Hirte.
Sehr geehrter, lieber Kollege Fell, Sie haben gerade
ausgeführt, dass es in der Solarbranche schon Insolvenzen gab. Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass diese
vor der Novellierung des aktuellen EEG eingetreten
sind? Haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass das
etwas damit zu tun hat, dass das weltweite Angebot die
Nachfrage deutlich übersteigt? Das ist unabhängig davon, ob wir aktuell noch etwas ändern.
Wenn Sie genau zugehört hätten, Herr Kollege Hirte,
wüssten Sie, dass ich betont habe, dass es auch an der
fehlenden Industriepolitik dieser Bundesregierung liegt.
({0})
Da möchte ich mich auf Herrn Machnig beziehen, der
dies gerade sehr schön ausführen konnte, weil er mehr
Redezeit hatte. Ich kann das nicht so umfangreich ausführen.
Es ist klar: Der Wettbewerber aus China ist stark geworden. Wir sollten uns zunächst einmal freuen, dass
auch China groß in eine Klimaschutztechnologie investiert. Aber jetzt wird China einen großen starken Binnenmarkt aufbauen. Wir haben Freude daran, wenn unsere
Unternehmen dorthin exportieren können, aber bevor
dies in großem Rahmen stattfindet, wird ein Teil unserer
deutschen Solarfirmen vom Markt verschwunden sein.
Es kann doch nur ein Treppenwitz der Geschichte sein,
dass wir die Solarindustrie mit großen Geldern erst aufgebaut haben und Sie dann, wenn es um das Ernten in
der Exportwirtschaft geht, die Daumenschrauben bei
dieser Industrie ansetzen. Nein, das ist keine gute Industriepolitik.
({1})
Sie wollen Kosten senken, aber Sie erhöhen einfach
die Finanzierungskosten für die Solarinvestoren. Sie bejammern fehlende Netzintegration, aber Sie verweigern
sich der Einführung eines Speicherbonus. Sie wollen den
Mittelstand, die Handwerker und die kleinen Firmen
unterstützen, Sie senken aber in genau diesem Geschäftssegment überproportional. So sinkt nach Ihrem
Gesetzentwurf die Vergütung bei Freiflächen um etwa
24 Prozent, während Sie bei Dachflächen sogar um sage
und schreibe 32,5 Prozent kürzen.
Bei den Dachanlagen kommt auch noch die neue
Zwangsvermarktung hinzu. Ein Familienvater hat doch
gar keine Chance, seinen Solarstrom vom Hausdach an
der Börse zu vermarkten.
({2})
- Sie haben es als Marktintegration bezeichnet und sagen, er soll den Strom, wenn er ihn nicht verbrauchen
kann, vermarkten. Das ist hier verfehlt.
({3})
Ihre Zwangsvermarktung wirkt wie eine weitere
10- bis 20-prozentige Vergütungssenkung. Das alles
trifft die Hausbesitzer, die Mieter, die Vermieter, die
Bürgergenossenschaften, all diejenigen, die einen persönlichen Beitrag zum Atomausstieg leisten wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauch?
Lassen Sie mich diesen Gedanken vorher zu Ende
führen. - Es trifft vor allem die Handwerker, die gerade
hinsichtlich der Dachanlagen schon heute massive
Markteinbrüche befürchten.
({0})
Bitte, Herr Kollege.
Bitte schön, Kollege Kauch.
Herr Kollege Fell, ich schätze Ihr Engagement für die
erneuerbaren Energien, aber man muss bei der Wahrheit
bleiben.
({0})
Im Gesetz ist nicht vorgesehen, dass der Eigenheimbesitzer mit seinem Strom an die Börse geht. Wenn man
sich den entsprechenden Paragrafen im EEG, so wie er
hier heute beschlossen wird, anschaut, dann sieht man,
dass es bei den kleinen Dachanlagen natürlich um den
Eigenverbrauch geht.
({1})
Ich sage ganz deutlich: Es geht um eine Entlastung der
Netze und vor allen Dingen um Dezentralität, die gerade
die Photovoltaik schaffen soll. Dies soll entsprechend
gefördert werden.
Deshalb bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass
es hier um einen Eigenverbrauchsanteil von 20 Prozent
geht. Diesen Anteil kann jeder Hausbesitzer, der sich ein
bisschen um seinen Stromverbrauch kümmert, erreichen.
Dies kann auch von ihm gefordert werden, schließlich
bekommt er über die Verbraucherinnen und Verbraucher
erhebliche Mittel und hat deshalb eine gewisse Gemeinwohlverpflichtung zur Netzentlastung.
({2})
Herr Kollege Kauch, das gehört, wie so oft, in Ihre
theoretischen Begründungen, die mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben.
({0})
Ein Hausbesitzer, der jetzt in dieses Zwangsvermarktungsmodell kommt, muss zusätzliche Investitionen aufbringen, beispielsweise einen zweiten Zähler kaufen, der
nicht billig ist und über Jahre hinweg Zusatzkosten verursacht. Dadurch wird die Gesamtbelastung durch die
Investition erhöht, und die Renditen sinken. Die Anschaffung eines zweiten Zählers ist völlig unnötig; denn
der Hausbesitzer wird keine Chance haben, das, was er
nicht selbst verbraucht, zu vermarkten. Das haben Sie ja
selbst zugegeben. An die Börse - das wissen wir - kann
er nicht. Ja, an wen soll er denn verkaufen? An den
Nachbarn? Soll er ein Energieversorgungsunternehmen
oder so etwas werden? Das ist völlig abstrus, was Sie
hier vorlegen. Es wird keine Vermarktungschance für
diesen Teil der Dachbesitzer geben.
({1})
Damit ist Ihre Gesetzesnovelle genauso verfehlt wie das,
was Sie im Zusammenhang mit der Marktprämie gemacht haben. Auch da sagten Sie: Wir wollten eigentlich
die Integration in den Markt stärken. - Sie erzeugen nur
Zusatzkosten im Erneuerbare-Energien-Gesetz, aber
keine Marktintegration. Aber diese handwerklichen Fehler haben bei Ihnen ja Methode.
({2})
Herr Kauch, dass Sie selbst nichts von Ihrer sogenannten Marktintegration halten, haben Sie gezeigt, indem Sie die Zwangsvermarktung für große Freiflächen
nun gestrichen haben. Was Sie tun, ist immer dasselbe:
Die Großen werden bevorteilt, und die Kleinen werden
weiter belastet. Das ist lupenreine FDP-Politik, Herr
Kauch.
({3})
Es hätte nur noch gefehlt - hören Sie gut zu! -, dass Sie
auch die Hotelbesitzer von der Zwangsvermarktung befreit hätten.
({4})
Auch Herr Seehofer, der sich mit seiner CSU so gerne
als Beschützer der kleinen Leute und des Handwerks
darstellt, hat versagt. Noch am 14. März dieses Jahres,
bei der Eröffnung der Internationalen Handwerksmesse
in München, betonte er, die vom Kabinett angesetzten
Kürzungen seien zu hoch und setzten die falschen
Schwerpunkte. Recht hat er. Aber herausgekommen ist
bei den Verhandlungen zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten und den Koalitionsfraktionen das
glatte Gegenteil. Er hat die mittleren Segmente,
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- das, woran die Handwerker verdienen, noch stärker
belastet und damit in diesem Segment für eine Verschlechterung gesorgt.
Wir fordern Sie, meine Damen und Herren von der
CSU, auf: Wenn Sie es ernst meinen, dann organisieren
Sie eine Bundesratsmehrheit, um exakt dies zu korrigieren!
({0})
Das Wort hat nun Minister Norbert Röttgen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Alle Reden der Opposition, insbesondere die
von SPD und Grünen, die heute gehalten worden sind,
sind fast bis in die Formulierungen hinein - gerade bei
Ihnen, Herr Kollege Fell, war das so - vor zwei Jahren
schon einmal genauso gehalten worden.
({0})
Damals haben Sie angekündigt: Die Branche wird sterben, Deutschland wird seine Technologieführerschaft
verlieren, die Solarbranche wird keine Zukunft haben.
Nachdem Sie Ihre Reden vom Tod der Branche gehalten
haben, hat die Erfolgsgeschichte der Photovoltaik in diesem Land aber erst angefangen,
({1})
und zwar deshalb, weil wir diese Gesetzesänderungen
vorgenommen haben.
({2})
- Das sind die Fakten. Sehen Sie: Sie sprechen immer
von „glauben“, ich rede von den Fakten.
({3})
Zu den Fakten gehört, dass wir in den letzten beiden
Jahren 15 000 Megawatt zugebaut haben. Das ist deutlich mehr als das Doppelte von dem, was in all den Jahren zuvor, als SPD und Grüne regiert haben, zugebaut
wurde. Wir haben also in zwei Jahren mehr als doppelt
so viel geschafft, wie Sie in den Jahren Ihrer Regierungszeit zuwege gebracht haben, meine Damen und
Herren.
({4})
Darum: Sie können zwar reden. Aber von der Realität
haben Sie wenig Ahnung.
({5})
Der entscheidende Punkt ist: Der Erfolg ist nicht eingetreten, obwohl wir diese Änderungen vorgenommen
haben, sondern weil wir diese Änderungen vorgenommen haben. Sie waren die Bedingung des Erfolges.
({6})
Wenn es bei dem geblieben wäre, was ich übernommen
habe, als ich ins Amt kam, dann wäre dieser Erfolg nicht
eingetreten, sondern dann wäre die Photovoltaik heute
gescheitert, weil sie nicht mehr bezahlbar gewesen wäre.
({7})
Gerade die SPD nimmt ja für sich in Anspruch, eine
Partei der sozialen Verantwortung zu sein. Als ich ins
Amt gekommen bin und die Arbeiten von Gabriel und
Machnig übernommen habe,
({8})
gab es für einige wenige Investoren zweistellige Kapitalrenditen, garantiert für 20 Jahre.
({9})
Ich habe nichts gegen zweistellige Kapitalrenditen. Aber
ich habe etwas dagegen, dass die Stromverbraucherinnen
und -verbraucher dies mit ihrer Stromrechnung bezahlen.
({10})
„Dass einige wenige verdienen und alle anderen dafür
zahlen müssen, hat das mit sozialer Verantwortung zu
tun?“, frage ich Sie von der SPD. Wahrscheinlich nicht.
({11})
Die entscheidende These lautet, dass die Erfolgsgeschichte der Photovoltaik weitergehen wird und weitergehen soll, jedenfalls solange diese Koalition diese Politik macht.
({12})
Wir wollen, dass die Wertschöpfung in Deutschland
bleibt, und wir wollen die 110 000 Arbeitsplätze in diesem Bereich erhalten. Wir sind Technologieführer in diesem Bereich. All das ist unser Ergebnis.
({13})
Sie haben parteipolitisch keine Freude daran, aber freuen
Sie sich doch über den Erfolg für unser Land, den wir
auf diesem Gebiet haben. Das müssten Sie doch zuwege
bringen.
({14})
Dieser Erfolg wird durch Ihr konservatives Besitzstandsdenken, in Teilen auch Besitzstandslobbyismus, gefährdet.
({15})
Wer nicht anpassungsfähig ist und wer den Strukturwandel nicht gestaltet, der wird sein Opfer.
({16})
Mit dem Besitzstandslobbyismus, den Sie betreiben,
sind Sie eine Gefahr für die Solarenergie in Deutschland.
({17})
Es sind drei Punkte, die man gewährleisten muss: Erstens. Wir müssen die Kosten im Blick behalten. In den
gut zwei Jahren, von denen ich gesprochen habe, sind
die Vergütungssätze für die Solarenergie - in der Zeit, in
der sie ausgebaut wurde - um die Hälfte gesunken.
Glauben Sie denn, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher bereit wären, doppelt so viel zu bezahlen, obwohl das nicht durch die Marktpreise gerechtfertigt ist?
Wir müssen die Kosten der Energiewende im Blick behalten. Die Bürgerinnen und Bürger sind doch bereit, das
zu bezahlen. Aber alles, was nicht geboten ist, den Einzelinvestoren zu geben, gehört den Verbraucherinnen
und Verbrauchern und nicht Einzelnen, die Kapital haben. Den Bürgerinnen und Bürgern und nicht einigen
wenigen gehört die Rendite der Energiewende.
({18})
Zweitens. Versorgungssicherheit. Sie ist der zweite
fundamentale Aspekt und noch viel wichtiger als die
Kosten im Einzelnen, die nicht zu unterschätzen sind,
auch in der sozialen Dimension. Eine Energiewende
ohne soziale Dimension darf es nicht geben und wird mit
dieser Koalition auch nicht stattfinden.
({19})
In zwei Jahren haben wir in Deutschland doppelt bis
dreifach so viel Solarenergie zugebaut, als wir uns selber
als Zielmarke vorgegeben haben. Herr Kollege Kauch
hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das eine
deutlich anspruchsvollere Zielmarke als die war, die
Herr Kollege Machnig als Staatssekretär zu verantworten hatte. Sie waren bei der Solarenergie nie sehr ambitioniert.
({20})
Wir haben Sie mit unserer Ambition schon deutlich
übertroffen. Das alles sind die Fakten, Herr Kollege. Ich
kann es ja nicht ändern. Es mag Sie schmerzen, aber es
ist so.
({21})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie so schreien. Dadurch,
dass Sie schreien, werden Ihre Argumente nicht überzeugender. - Wir haben ungefähr das Vierfache Ihrer Ambition realisiert. Diese Ambition war aber auch nicht ehrgeizig. Darum nehme ich das nicht zum Maßstab. Wir
haben also das Zwei- bis Dreifache von dem erreicht,
was im Gesetz steht.
({22})
Wenn ich die volatile Stromeinspeisung aus Solarenergie und Windenergie in Deutschland addiere, dann
komme ich auf eine Kapazität von rund 55 Gigawatt.
Diese volatile Stromeinspeisung ist deutlich höher als
der Verbrauch in Zeiten schwacher Nachfrage. Der beträgt nämlich unter 40 Gigawatt. Die durchschnittliche
Nachfrage beträgt rund 60 Gigawatt. Das heißt, wir haben schon heute an bestimmten Tagen und in bestimmten Stunden von Tagen eine deutlich höhere volatile
Stromeinspeisung als Stromnachfrage. Wenn wir das
nicht in den Griff bekommen, wenn wir den zu schnellen
Ausbau stark volatiler Stromerzeugung nicht durch eine
vernünftige Entwicklung beenden und wenn wir die Entwicklung der Erzeugungskapazitäten nicht in eine Beziehung zum Netzausbau bringen, dann sind die Sicherheit
der Stromversorgung in Deutschland und die Stabilität
der Netze gefährdet.
({23})
Wissen Sie eigentlich, was es bedeutet, wenn die
Netzstabilität in Deutschland nicht mehr unbedingt gewährleistet ist? Das darf nicht in einer Minute im Jahr
passieren. Darum stehen wir für Versorgungssicherheit
und für Netzstabilität. Sie gefährden diese Güter unserer
Volkswirtschaft und Gesellschaft mit Ihrer Politik.
({24})
Das steht außerhalb jeden Zweifels. Mit Ihrem unkontrollierten Ausbau gefährden Sie die Sicherheit und die
Stabilität der Netze und der Stromversorgung in
Deutschland. Das ist unverantwortlich.
({25})
Drittens. Markt. Wir wollen 80 Prozent des Stroms
aus erneuerbaren Energien gewinnen. Darum müssen
wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz nach und nach zu
einem Marktordnungsgesetz machen.
({26})
Wir müssen die Technologien in den Markt einbringen.
Sie müssen wettbewerbsfähig werden. Das werden sie
auch, indem wir permanent Anpassungen vornehmen,
die Marktpotenziale nutzen, Vergütungen reduzieren und
Anreize schaffen. Sie müssen in den Markt eingebracht
werden.
({27})
Damit machen wir erstmalig Ernst. Sie haben wahrscheinlich noch nicht in den Gesetzentwurf hineingeschaut, mit dem wir nun das Marktintegrationsmodell
gesetzlich verankern wollen und nicht mehr 100 Prozent,
sondern 80 Prozent des produzierten Stroms vergüten
wollen.
({28})
Jeder normale Produzent muss irgendwann auch einmal anfangen, sich mit dem Produkt, das er herstellt, am
Verbraucher zu orientieren, meine Damen und Herren.
Das muss auch für diese Technologien gelten. Die Technologien können viel mehr, als Sie ihnen zutrauen. Darum ist Marktintegration genau das Richtige, was wir
machen. Das bringen wir nach vorne.
({29})
Ich will noch ein bisschen auf die Argumente von
Herrn Machnig eingehen. Ich weiß nicht, ob man fürchten oder hoffen soll, dass die SPD diese Argumente teilt.
Immerhin hat er aber für sie - das nehme ich doch einmal an - gesprochen. Ansonsten wäre ich daran interessiert, dass sich die SPD eindeutig distanziert von den
Thesen des SPD-Redners.
({30})
- Sie haben die Gelegenheit, sich davon zu distanzieren.
Herr Machnig hat vorgeschlagen, heimische bzw.
europäische Produkte gegenüber Importprodukten zu bevorzugen. Ich stelle hier die Frage an die SPD: Haben
Sie das schon einmal in Arbeitsplätzen ausgerechnet?
Haben Sie schon einmal ausgerechnet, was es kostet,
wenn unser Land, das vom Export lebt, das so wettbewerbsfähig ist wie nie zuvor, auf einmal auf Protektionismus setzt? Haben Sie das schon einmal in Wertschöpfung und Arbeitsplätzen ausgedrückt, meine Damen und
Herren?
({31})
Es ist unglaublich, was Sie hier einfach so einmal in
die Debatte werfen.
({32})
Herr Machnig scheint sozusagen der Oberökonom der
SPD geworden zu sein. Er ist vom Kollegen Hirte auf
die Überkapazitäten bei der Herstellung angesprochen
worden. Ein Problem der Solarenergie sind in der Tat die
globalen Überkapazitäten, Herr Kollege Hirte, die auch
den Preis unter Druck setzen. Darauf haben Sie Herrn
Machnig angesprochen. Darauf hat er gesagt, bei der
Automobilindustrie gebe es diese ja auch, und noch nie
sei jemand auf vergleichbare Ideen gekommen.
({33})
Erstens haben Sie offensichtlich auch von der Automobilindustrie wenig Ahnung. Zu behaupten, es gebe in
diesem Bereich vergleichbare Überkapazitäten, ist völliger Unsinn.
({34})
Zweitens ist es immer noch so, dass, wenn man sich ein
Auto kauft, man das Auto selbst bezahlen muss, während
der Photovoltaikstrom von allen Stromverbrauchern bezahlt wird. Ich finde, das ist ein großer Unterschied bei Ihrem Vergleich, den Sie auch berücksichtigen müssen.
Wenn das Auto von allen Verbrauchern bezahlt würde,
wäre das anders.
({35})
Zur Stichtagsregelung. Ich hoffe, dass der umweltpolitische Kompetenzabfall erst nach Ihrem Ausscheiden aus dem Umweltministerium eingetreten ist. Alle
haben gesagt, die Stichtagsregelung habe sich nicht bewährt, weil diese einen Schlussverkaufseffekt zur Folge
hat. Deshalb stimmen alle darin überein, die Stichtagsregelung abzuschaffen. Sie plädieren jedoch für die Beibehaltung dieser Regelung.
({36})
Das zeigt, wie weit Sie vom Markt, von der Realität und
von ökonomischer Vernunft entfernt sind, meine Damen
und Herren.
({37})
Wir treiben die Energiewende voran mit wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Verantwortung. Gut, dass
diese Koalition regiert.
({38})
Das Wort hat nun Dirk Becker für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
Die Energiewende hat wieder den Bundestag gefangen.
Manche sind anscheinend gefangen genommen von einer Ideologie, von der sie sich nicht verabschieden können.
({1})
Ich muss Ihnen eines sagen: Immerhin ist hier heute
einmal ein Minister aufgetreten, wenn auch ein Minister
aus einem Bundesland, der erkannt hat, dass die Energiewende mit ihren Herausforderungen angekommen ist.
Man will sie annehmen und nicht zulassen, dass die
rechte Seite des Hauses das kaputtmacht. Das ist zunächst einmal begrüßenswert.
({2})
Dass das wehtut, das verstehe ich.
({3})
Herr Röttgen, allen Ernstes: Mir fehlen eigentlich die
Worte bei dem, was Sie hier sagen, was Sie sich selbst in
die Tasche lügen. Seit heute hat das Wort Blindleistung
für mich eine neue Bedeutung. Davon haben Sie nämlich
gesprochen.
({4})
Man soll vorsichtig sein, wenn man die Aussagen von
Ministern vergleicht. Sie kritisieren die hohen Renditen,
die Sigmar Gabriel angeblich zu verantworten hat, bei
Investitionen in erneuerbare Energien. Die Eons und die
RWEs dieser Welt hatten zu Beginn Ihrer Amtsperiode
eine Rendite von rund 25 Prozent erzielt. Sie haben sie
mit der Laufzeitverlängerung doppelt vergoldet; davon
kein Wort. Sie sind doch einfach unglaubwürdig.
({5})
Was hat der Bundesumweltminister noch im November gesagt? Wir haben eine neue EEG-Novelle mit Wirkung ab dem 1. Januar 2012 gemacht, um den Herausforderungen Rechnung zu tragen. Das muss jetzt erst
einmal in Ruhe wirken, bis wir beurteilen können, wie es
wirkt. - Die Änderungen waren noch nicht einmal in
Kraft, als Sie das EEG erneut infrage gestellt haben. Ihnen passt das EEG nicht. Ihnen passt der Umstieg auf die
Erneuerbaren nicht. Insbesondere die PV ist doch Ihr
Hauptangriffsfeld.
({6})
Gerade Herr Rösler ist doch derjenige, der im Endeffekt Druck macht. Herr Röttgen, ich weiß, es tut weh,
aber in allen energiepolitischen Fragestellungen der letzten Monate war von Ihnen nichts als warme Worte zu
hören. Als es darum ging, zu liefern, waren die Taten
eben nicht so, wie Sie sie angekündigt haben. Sie haben
sich hier hingestellt und gesagt: Wir wollen den Ausbau
der Erneuerbaren vorantreiben. Diese Regierung ist die
Regierung, die am meisten für den Ausbau der erneuerbaren Energien tut. - Diese Novelle hat Sie enttarnt. Sie
wollen bremsen, wo es nur geht.
({7})
Sie machen dabei nicht einmal bei der Solarenergie
halt. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann wären
die sogenannten Instrumente der Marktprämie auf alle
anderen Bereiche der Erneuerbaren ausgeweitet worden.
Wozu hat diese Regelung bisher geführt? Es gab Fachkongresse von Banken, von Gesellschaften, die gesagt
haben: Mit der Ankündigung der Regierung und der Vorlage des Entwurfs sind massenhaft Finanzierungszusagen der Kreditinstitute zurückgezogen und gestrichen
worden, weil die Energiepolitik à la Röttgen die Investitionssicherheit am Markt beseitigt hat. Damit finden
keine Investitionen mehr statt. Herr Röttgen, mit dieser
Politik sind Sie höchstpersönlich zu einem Investitionsrisiko für Projekte der erneuerbaren Energien geworden.
({8})
Sie können sich hier ruhig hinstellen und lachen. Sie
wissen, wie das die Branche sieht.
Ein letzter Punkt. Es ist einfach, zu sagen, was alles
nicht geht, so angeblich die Local-Content-Regelung.
Wenn die Chinesen dies machen, um die Windindustrie
in China zu schützen: Kein Wort! Wenn das die Italiener
oder andere machen: Kein Wort! Warum geht das denn
in Deutschland nicht? Ich frage Sie: Was wollen Sie
stattdessen tun? Gehen Sie nach Brüssel, und setzen Sie
sich dafür ein, dass auf europäischer Ebene endlich eine
Klage wegen unlauteren Wettbewerbs eingereicht wird!
({9})
Machen Sie das? Nichts da! Nur Worte!
({10})
Ich sage Ihnen etwas ganz Entscheidendes zum
Schluss. Es gibt viele Dinge, über die wir hätten reden
können und müssen - ich bin da ganz nah bei Herrn
Machnig -: Sie haben das Gespräch erst gar nicht gesucht. Auch wir wollen die qualitative Weiterentwicklung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Wir wollen
den Eigenverbrauch stärken. Aber bei der Thematik Eigenverbrauch stärken ist für uns wichtig, in Zukunft
auch die Mieter und Mietshäuser mit in den Fokus zu
nehmen.
({11})
Da gibt Ihr Entwurf die falschen Antworten. Wir brauchen beispielsweise eine Größenklasse von 10 bis
100 Kilowatt. Wir brauchen einen ernsten Anreiz zur
Speicherförderung. Das, was Sie hier vorschlagen, ist
weiße Salbe; nicht finanziert, Absichtserklärungen. So
kann das nicht gelingen.
({12})
Von daher sage ich Ihnen: Sie reden sich diese Novelle schön. Sie ist nichts weiter als ein kaltes PV-Kürzungsprogramm, mehr nicht. Die Energiewende wird so
mit Ihnen nicht gelingen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Schritt, den wir heute mit der Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfes gehen, ist ein überfälliger Schritt;
denn die Höhe der Vergütung für Strom aus Photovoltaikanlagen hinkt dem Verfall der Systempreise seit zwei
Jahren hinterher. Die Renditen für Anlagenbetreiber waren, sind und bleiben attraktiv.
({0})
Daher musste dieser Schritt angemessen groß werden.
Die Vorlage der beiden Minister Dr. Rösler und
Dr. Röttgen war sehr im Sinne der Fraktionen von CDU/
CSU und FDP.
({1})
Eines wollten wir allerdings verhindern, nämlich dass
Unternehmen und Bürger, die im Vertrauen auf das gültige Gesetz neue Anlagen auf den Weg gebracht haben,
auf einen Schlag neuen Investitionsbedingungen gegenüberstehen. Für einen besseren Vertrauensschutz haben
wir deshalb Übergangsregelungen eingeführt. Das geschah besonders mit Rücksicht auf kleine und mittelständische Unternehmen.
({2})
Es wird nunmehr jedem, der Anfang des Jahres ernsthaft
eine Anlage bauen wollte, die Möglichkeit eingeräumt,
dies noch zu den alten Konditionen zu Ende zu bringen.
Meine Damen und Herren, Vertrauensschutz, ja, Anspruch auf lebenslange Förderung, nein.
({3})
Dies war das Leitmotiv für die vorliegende Einigung.
Wenn ich mir die Klagen der Opposition anhöre,
könnte ich zu der Auffassung gelangen, dass man den eigentlichen Sinn des EEG vergessen hat, nämlich die
Markteinführung der erneuerbaren Energien, und dass
man die gemütliche Hängematte der Einspeisevergütung
nie wieder abhängen wolle.
Wir müssen uns klar darüber sein, dass das EEG ein
Instrument bleiben muss, um die erneuerbaren Energien
an den Markt zu bringen, und dass es nicht dazu da ist,
sie durchzufüttern.
({4})
Um die Marktintegration von Photovoltaik voranzubringen, ohne dabei bestehende Umlagesysteme zu belasten oder gar neue Umlagesysteme aufzulegen, haben
wir die Gesetzesänderung mit einem Entschließungsantrag begleitet. Dessen Ziel ist es, technologieoffen den
effizientesten Speichertechnologien über bestehende
Hürden hinwegzuhelfen. Auch Speichersysteme müssen
in naher Zukunft die Marktreife erlangen. Wie wir dorthin kommen, soll im Rahmen einer Studie durch die
Bundesregierung geprüft werden. Wir erwarten von der
Bundesregierung noch in diesem Jahr Vorschläge für ein
Marktanreizprogramm für Speichersysteme. Die KfW
soll dies im Rahmen ihrer bestehenden Möglichkeiten
flankieren.
({5})
Die vorliegende Gesetzesänderung zeigt, dass die Koalition und die Bundesregierung auf dem allerbesten
Weg sind, die erneuerbaren Energien weiter an den
Markt zu bringen.
({6})
Das ist unser Ziel; darüber sind wir uns alle einig. Was
uns von den Plänen der Opposition aber besonders unterscheidet, ist, dass wir beim Umbau unserer Energieversorgung auch auf die Bezahlbarkeit achten.
({7})
Zum Schluss sage ich Ihnen noch eines, meine Damen und Herren: In vielen Gesprächen mit der Industrie
und den Projektoren sagten mir alle, dass eine kräftige
Kürzung jetzt und vermutlich auch in Zukunft notwendig ist.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin Wahlkreisabgeordneter aus Bitterfeld-Wolfen. Es ist
schon erwähnt worden: Da ist das Solar Valley beheimatet, wo mittlerweile rund 3 000 Beschäftigte arbeiten.
Herr Röttgen, ich glaube, wenn diese Beschäftigten
heute Ihre Rede gehört haben, dann denken sie: Das ist
der blanke Hohn für Menschen aus einer Region, die so
gebeutelt wie diese ist. - Unglaublich!
({0})
Die Region Bitterfeld-Wolfen hat seit 1990 die wohl
drastischsten ökonomischen, ökologischen, sozialen und
vor allem persönlichsten Umbrüche der Menschen in
diesem Land verkraftet. Über Nacht sind dort 50 000 Arbeitsplätze weggefallen. Im Landkreis Anhalt-Bitterfeld
ist die Arbeitslosenquote auch heute noch exorbitant
hoch, vor allem die der Langzeitarbeitslosen. Immer
noch verlassen täglich - das ist besonders dramatisch gut ausgebildete junge Leute diese Region.
Die gute Seite der Entwicklung ist - das ist in der Tat
anzuerkennen -, dass es dort mit der Ansiedlung, der
Förderung und dem Ausbau der Solarindustrie - die bekanntesten Unternehmen sind Q-Cells und Sovello - in
dieser so gebeutelten Region gelungen ist, den Aufbruch
hinzubekommen und einen sozial-ökologischen Umbau
zu initiieren. In diesen Betrieben sind Menschen beschäftigt, die zum Teil 10 bis 15 Jahre arbeitslos gewesen sind. Reden Sie einmal mit ihnen darüber, was sie
von Ihrer Politik halten!
({1})
Ihnen ist Ostdeutschland egal. Das ist doch das weitere Problem. Es ist in der Tat bemerkenswert. Etwas anderes als die Wirtschaftsliberalen ist von Ihnen ja nicht
übriggeblieben.
({2})
Reden Sie doch mit den Unternehmen! Reden Sie mit
den Beschäftigten! Reden Sie mit den Gewerkschaften,
wie sie Ihren Gesetzentwurf einschätzen, wenn Sie
schon nicht auf die Opposition hören wollen. Ihre Politik
ist erstens ein Anschlag auf die Entwicklung in Ostdeutschland und ganz konkret auch auf die in meinem
Wahlkreis, im Solar Valley.
({3})
Zweitens haben Sie sich das, was Sie heute exekutieren wollen, gar nicht selber ausgedacht, sondern das ist
Ihnen direkt von den Konzernzentralen der vier großen
Energieunternehmen aufgetragen worden, und Sie setzen
es eins zu eins um. Das ist die Situation.
({4})
Drittens kann einem das, was Herr Röttgen und Herr
Rösler miteinander aushandeln, eigentlich egal sein. Das
ist in der Tat zweitrangig. Was Sie aber heute machen,
um der Profilierung der mittlerweile zur Splitterpartei
FDP gewordenen Truppe willen,
({5})
machen Sie auf dem Rücken der Menschen in Ostdeutschland. Das werden wir nicht zulassen.
({6})
Deswegen freue ich mich auch als Bundestagsabgeordneter aus Sachsen-Anhalt, dass alle Bundestagsabgeordneten der Linken, der SPD und der Grünen erklärt haben, Ihrem Murks heute nicht zuzustimmen.
({7})
Ich bin gespannt, was die Abgeordneten der CDU/CSU
und FDP aus Ostdeutschland heute machen werden. Das
interessiert uns sehr.
({8})
Wir werden nicht mitmachen, und Sie können sicher
sein, dass sowohl die Beschäftigten als auch die Linke
Ihnen in dieser Frage und übrigens zunehmend auch in
anderen Fragen energischen Widerstand entgegensetzen
werden.
Schönen Dank.
({9})
Die Kollegin Bärbel Höhn hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass es heute etwas hitzig zugeht, hängt damit zusammen, dass wir über eine zentrale Weichenstellung für die
Energiewende reden. Zunächst einmal freue ich mich,
dass Sie überhaupt hier sind, Herr Röttgen. Das ist nämlich ein seltenes Ereignis.
({0})
In den letzten Debatten gab es immer wieder den
Zwischenruf: Wo steckt eigentlich Minister Röttgen? Im Umweltausschuss sagte gestern ein Kollege, und
zwar nicht einer von der Opposition, sondern einer von
der Koalition: Vom Bundesminister kommt momentan
nicht allzu viel. - Das hat auch etwas damit zu tun, dass
Sie sich nicht entscheiden können. Ein solches Amt, in
dem es um Themen wie die Energiewende geht, ist kein
Teilzeitjob. Sie haben sich zwischen der Bundespolitik
und Nordrhein-Westfalen zu entscheiden.
({1})
Herr Röttgen, wenn Sie über diejenigen, die die Interessen der Photovoltaik vertreten, sagen: „Das sind Besitzstandswahrer“,
({2})
dann sage ich Ihnen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht
mit Steinen werfen.
({3})
Wer nicht nach Nordrhein-Westfalen geht, weil er seinen
Besitzstand in Berlin wahren will, der sollte nicht anderen Besitzstandswahrung vorwerfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN
Herr Röttgen, Sie haben eben sehr viel über Erfolge
geredet. Sie sehen sich sowieso nur als Minister der Erfolge. Ein Blick auf Ihre Bilanz zeigt aber nur Misserfolge, einen nach dem anderen. Wer war für die AKWLaufzeitverlängerung? Sie nicht, aber Sie haben damals
gegen die Energiekonzerne verloren.
Wer will die Energiewende? Eigentlich Sie, aber wer
gewinnt, ist der Kollege Rösler von der 2-Prozent-Partei.
({4})
Die Energieeffizienz kommt nicht voran. Deutschland
blockiert die Energieeffizienz, weil wir die Energiepolitik von einer 2-Prozent-Partei und deren politischem
Überleben abhängig machen.
({5})
Das, was Sie jetzt bei den erneuerbaren Energien vorhaben - auch das ist ein Vorschlag von Minister Rösler -,
({6})
ist keine Absenkung mit Augenmaß. Das hat nichts mit
der Abkühlung eines überhitzten Marktes zu tun. Das,
was Sie vorhaben, ist Kahlschlag, meine Damen und
Herren. Sie gefährden Zehntausende von Arbeitsplätzen.
({7})
Deshalb sollten Sie sich den Begriff „soziale Verantwortung“ - Sie haben den anderen vorgehalten, Sie seien
der Einzige, der sich sozial verantwortlich verhielte selber einmal zu Herzen nehmen. Man trägt auch soziale
Verantwortung gegenüber Zehntausenden von Arbeitsplätzen, und die sollten Sie nicht einfach so gefährden.
({8})
Wir können bei der Photovoltaik eine Menge verändern. In den letzten vier Jahren sind die Zuschüsse um
60 Prozent gesenkt worden; das ist viel. Wir alle waren
übereinstimmend der Meinung, dass wir die Stromeinspeisevergütung im Jahre 2012 noch einmal um 30 Prozent senken können. Was Sie aber machen, ist keine Senkung um 30 Prozent, sondern zum Teil eine Senkung um
50 Prozent. Welche Technologie soll es schaffen, in einem Jahr eine Senkung der Zuschüsse um 50 Prozent
hinzunehmen? Das ist Kahlschlag.
({9})
Das führt auch zu einem Jo-Jo-Effekt, wie die taz
heute zu Recht schreibt; denn die massiven Kürzungen,
die Sie hier beschließen, führen bei denjenigen, die Solaranlagen installieren wollen, zu Torschlusspanik. Dann
wird schnellstmöglich alles gebaut. Für die Überhitzung
des Solarmarkts sind Sie verantwortlich. Für diese Ausbauzahlen sind Sie verantwortlich, weil Sie die Kürzungen nicht vernünftig ausgestalten. Das ist der Grund, warum wir in diese missliche Lage geraten sind. Deshalb ist
das, was wir hier erlebt haben, kein Erfolg, sondern ein
Armutszeugnis.
Ich komme zum Schluss und sage Ihnen nur eines,
Herr Röttgen: Ich habe in dieser Woche nachgelesen,
was Jürgen Hambrecht, der frühere Chef der BASF, in
der Financial Times gesagt hat. Er hat gesagt: Wenn die
Energiewende so weitergeht, dann müssen wir die
Atomkraftwerke am Ende doch länger laufen lassen. Ich unterstelle Ihnen, Herr Röttgen, nicht, dass Sie das
wollen. Aber mit Ihrem Versagen in der Energiewende
geben Sie Atomfreunden wie Herrn Hambrecht die
Hoffnung, dass es mit diesem atomaren Wahnsinn weitergehen könnte.
Frau Kollegin.
Dafür tragen Sie dann die Verantwortung.
Wir wollen eine Energiewende, die ganz und gar
funktioniert und nicht den Atomkonzernen die Oberhand
überlässt.
Frau Kollegin!
Danke schön.
({0})
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich vom Wahlkampf in NordrheinWestfalen wieder zu der Sache, die wir hier diskutieren
wollen, kommen,
({0})
obwohl, Frau Höhn, es gerade zum Wahlkampf gehört,
dass man bei der Wahrheit bleibt.
({1})
Zur Wahrheit gehört auch, dass Ihnen Norbert Röttgen
hier bei vielen Gelegenheiten die Leviten gelesen hat,
wenn wir um Energiepolitik gestritten haben,
({2})
und er hat dies genauso klar und glanzvoll getan wie
heute.
({3})
Ich möchte nun weg von Nordrhein-Westfalen und
auf Bayern zu sprechen kommen. Bei uns in Bayern
werden Solaranlagen momentan auf der Ostseite montiert. Nun, was schließt man daraus? Zum einen kann
man daraus schließen, dass Bayern mit Sonne gesegnet
ist. Das ist zwar auch ein richtiger Schluss, aber man
muss daraus insbesondere schließen, dass wir es mit einer erheblichen Überhitzung auf dem Markt zu tun haben und dass es einer Korrektur bedarf. Genau das machen wir, und zwar maßvoll, in Stufen und so, dass diese
Schlussverkäufe in Zukunft ausbleiben. Das bitte ich,
zur Kenntnis zu nehmen.
({4})
Zum anderen glaube ich, dass irgendwann Einigkeit
über ein bestimmtes Ziel hergestellt werden muss. Es
kann doch nicht sein, dass man Strom auf dem Dach produziert, diesen teuren Strom dann einspeist und anschließend billigen Strom vom Kraftwerk kauft. Das ist bis
dato gängige Praxis. Nach 14 Jahren der Solarförderung
wird es doch irgendwann einmal so weit sein können,
dass man den Strom, den man produziert, selber verbraucht und nur den, den man übrig hat, einspeist.
({5})
Genau an diesen Punkt, zu dem jeder vernünftige Bürger
nickt und sagt: „Jawohl, das ist der richtige Weg“, führen
wir die PV-Förderung mit dieser Novellierung des EEG.
Herr Minister Machnig hat recht: Die Akzeptanz der
Photovoltaik ist hoch. Nur, Herr Machnig, was schließen
wir daraus? Wir müssen doch unseren Beitrag dazu leisten, dass das so bleibt. Das geht nicht dadurch, dass man
hohe Renditen sichert, die nur Neid schüren, sondern das
geht dadurch, dass man eine vernünftige und nachvollziehbare Politik macht und die Potenziale nutzt, die die
Technologie letztendlich hergibt.
({6})
Gestatten Sie mir, eine Frage zu stellen: Wer glaubt
denn mehr an die Sinnhaftigkeit, an die Zukunftsfähigkeit der Photovoltaik, wer hat mehr Zutrauen darin, derjenige, der wie die linke Seite des Hohen Hauses sagt:
„Man muss einen hohen Subventionszaun bauen“ wenn es nach Ihnen ginge, wären wir immer noch bei
der Förderung von knapp 1 DM, wie Sie sie seinerzeit
eingeführt haben -, oder derjenige, der sagt: „Darin liegt
ein hohes Potenzial; wir reduzieren die Förderung der
Photovoltaik auf ein Niveau, auf dem man zu sinnvollen
Konditionen Strom produzieren kann“?
({7})
Letzteres ist das, was diese Koalition mit Kürzungen
um gut 40 Prozent in knapp zwei Jahren erreicht, und
zwar bei nach wie vor Rekordzubau. Beides findet
gleichzeitig statt. Insofern sind die Vorwürfe, die hier allenthalben erhoben wurden, schlicht und einfach falsch.
Es geht um Akzeptanz bei den Verbrauchern, aber
auch um Akzeptanz bei den Investoren. Diese Akzeptanz erreichen wir durch Übergangsvorschriften, durch
ein hohes Maß an Verlässlichkeit und durch Vertrauensschutz. Für die CSU stand immer fest: Vertrauensschutz
ist nicht verhandelbar. Deshalb sind wir hier sehr weit
gegangen. Ich bin mir sicher, dass mit den Regelungen,
die wir jetzt treffen, praktisch jeder, der im Vertrauen auf
das Gesetz, das zum 1. Januar in Kraft getreten ist, ein
Projekt in Planung hat, der schon im Vorfeld Geld darin
investiert hat, dieses Projekt auch umsetzen kann. Auch
das ist wichtig für die zukünftige Entwicklung der erneuerbaren Energien.
({8})
Da ich beim Stichwort „Akzeptanz“ bin: Ich räume
ein, dass innerhalb der Koalition der CSU-Vorschlag, im
Rahmen des EEG Speicher zu fördern, leider keine
Mehrheit gefunden hat.
({9})
Ich räume auch ein, dass die Gründe für mich und den
Kollegen Göppel - wir beide haben den Vorschlag vertreten - durchaus nachvollziehbar waren. Es wurde darauf hingewiesen, dass so das Risiko besteht, die EEGVergütung nach oben zu treiben. Dieses Risiko besteht;
das räume ich ein.
Wir sind einen anderen Weg gegangen. Wir haben uns
gemeinsam darauf verständigt, die Regierung aufzufordern, bis Oktober einen Vorschlag vorzulegen, wie wir
im Rahmen des Haushalts diese Förderung leisten wollen.
({10})
- Lieber Kollege Becker, regen Sie sich nicht auf!
({11})
Wenn dabei nichts herauskommt, weil die Haushaltsrestriktionen so sind, wie sie sind - zu Recht -, werden
wir bei der nächsten Novellierung des EEG - die kommt
bestimmt; das ist Erfahrungswissen - noch einmal über
die Förderung von Speichern diskutieren müssen; denn
das gehört zusammen. Ich habe eingangs erwähnt: Beim
Thema Eigenverbrauch leuchtet der Zusammenhang mit
der Speicherung aus meiner Sicht ein.
Wir wollen eine intelligente, eine bezahlbare Energiewende, eben keine rot-rot-grüne, sondern eine schwarzgelbe Energiewende. Diesen Weg gehen wir beherzt.
Ich darf mir abschließend wünschen, Herr Machnig,
dass der Bundesrat jetzt auch dem zustimmt, was wir
hier vorgelegt haben.
({12})
Ich bin der festen Überzeugung: Der Branche schadet
ein Verzögern des Verfahrens im Bundesrat erheblich
- Vermittlungsausschuss und das ganze Hin und Her -,
wenn man bedenkt, was dieses Gesetz an guten und
sinnvollen Neuerungen bringt.
({13})
In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung. Es geht
darum, verlässliche Grundlagen für diese Branche zu
schaffen. Dann geht es auch wieder vorwärts, so, wie wir
es gewohnt sind.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens
für Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren
Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien.
Hierzu liegen eine Reihe von Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung aus verschiedenen Fraktionen
vor.1) Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9152, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/8877 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Diejenigen, die zustimmen wollen, bitte ich um ihr
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen. Enthaltungen
waren jedenfalls von hier aus nicht zu erkennen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Die Schriftführerinnen und Schriftführer
haben offensichtlich ihre Plätze schon eingenommen.
Gibt es eine Urne, die noch nicht besetzt ist? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Abstimmung eröffnet.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgeben konnte? - Noch einige. Wir
haben hier vorne ganz viel Platz zum Abstimmen. Man
kommt hier vorne auch gut ins Fernsehen.
Ist jetzt noch jemand im Saal, der seine Stimme noch
nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)
Wir kommen nun zu einer Entschließung des Aus-
schusses und zu zwei Entschließungsanträgen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9152 empfiehlt der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Entschließung ist angenommen bei Zustimmung der Ko-
alitionsfraktionen; dagegen haben SPD und Grüne ge-
stimmt, die Linksfraktion hat sich enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge, zunächst den der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9157. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt bei Gegenstimmen der Koalitionsfraktio-
nen. Die Oppositionsfraktionen haben zugestimmt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9172. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? - Die Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
ebenfalls abgelehnt worden. Dagegen haben die Koali-
tionsfraktionen gestimmt, dafür die Oppositionsfraktio-
nen.
1) Anlagen 2 bis 4
2) Ergebnis Seite 20314 D
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/9152 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/8892 mit dem Titel
„Mut zum Aufbruch ins solare Zeitalter“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Die Op-
positionsfraktionen haben sich mehrheitlich enthalten.
Es gab einige Gegenstimmen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Betreuungsgeld einführen - Kinder und
Familie durch den Ausbau der Kindertagesbe-
treuung fördern
- Drucksache 17/9165 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Aufhebung der
Ankündigung eines Betreuungsgeldes
- Drucksache 17/1579 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0})
- Drucksache 17/8201 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Miriam Gruß
Katja Dörner
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone,
Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Auf die Einführung des Betreuungsgeldes verzichten
- Drucksachen 17/6088, 17/8201 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Miriam Gruß
Katja Dörner
Über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen werden wir später ebenfalls namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu
sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Katja Dörner vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben heute die Möglichkeit, die
Notbremse zu ziehen. Wir haben heute die Möglichkeit,
die Einführung einer Maßnahme zu verhindern, die eine
gleichstellungspolitische und eine bildungspolitische
Katastrophe wäre.
({0})
Das hat nicht nur Ministerin von der Leyen erkannt. Wir
haben heute vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit die Zahlen schwarz auf weiß bekommen. Es hat belegt, dass das Betreuungsgeld eine gleichstellungspolitische und bildungspolitische Katastrophe wäre. Es wäre
auch verfassungsrechtlich höchst bedenklich.
Wir werden gleich wieder hören, beim Betreuungsgeld gehe es um Wahlfreiheit. Dieses Argument kommt
gewichtig daher, aber es ist falsch.
({1})
Ich zitiere aus dem 8. Familienbericht, der uns druckfrisch vorliegt. In diesem Bericht steht ganz dezidiert:
Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbetreuungsplätze in hervorragender Qualität vorhanden sind,
haben Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit.
Investitionen in Kitas schaffen Wahlfreiheit und nicht
das Betreuungsgeld.
({2})
Ich vertrete hier auch die Anliegen des DGB, des Kinderschutzbundes, der IG Metall, der GEW, von pro familia, des Arbeitgeberverbandes, der AWO, des Landfrauenverbandes, der Industrie- und Handelskammer,
des Bundesforums Familie, des Deutschen Vereins, des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der Diakonie, des
Deutschen Juristinnenbundes, der AFET, des Bundes
Deutscher Wirtschaft, des Zukunftsforums Familie, des
Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter, des BDI
und vieler mehr.
({3})
Alle haben sich unisono und über ihre ansonsten erheblichen Differenzen hinweg gegen die Einführung des Betreuungsgeldes ausgesprochen. Auch die Kirchen kämpfen nicht für das Betreuungsgeld.
({4})
Unlängst schmollte die bayerische Sozialministerin in
der Würzburger Tagespost, selbst von dieser Stelle gebe
es keine Unterstützung. Die EU-Kommission zeigt der
Bundesregierung wegen des Betreuungsgeldes die Rote
Karte. Diese Phalanx müsste Sie doch endlich einmal
wachrütteln.
({5})
Wir erleben, dass eine Minderheit einer großen Mehrheit auf der Nase herumtanzt. CDU/CSU und FDP haben
sich wider alle Vernunft und wider besseren Wissens auf
einen durchsichtigen Deal eingelassen. Dieser Deal geht
zulasten der Kinder, der Familien und in erster Linie zulasten vieler Mütter. Ich finde das unfassbar.
({6})
In den Haushaltsplanungen ist das Betreuungsgeld
nicht seriös finanziert. Für 2013 sind 400 Millionen Euro
und für 2014 bereits 1,2 Milliarden Euro als globale
Minderausgabe zur Finanzierung vorgesehen. Den Haushältern müssten sich da eigentlich die Fußnägel hochrollen, das aber nur am Rande.
Was bedeutet in dem Zusammenhang „globale Minderausgabe“? Das bedeutet: Die Bundesregierung weiß
nicht, wie sie das Betreuungsgeld finanzieren soll. Das
bedeutet auch: Andere Leistungen müssen für die Einführung des Betreuungsgeldes bluten. Wir wissen nicht,
welche Leistungen das sein werden. Vielleicht ist es das
Elterngeld. Es gibt zwar Beteuerungen, das Elterngeld
solle nicht angetastet werden, aber wir wissen es nicht.
Wir wissen nicht, ob es die Sprachförderung in den Kitas
oder die Familienhebammen betreffen wird. Ich finde
dieses Vorgehen unverantwortlich.
({7})
Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen sehr
genau, dass man beides nebeneinander - den Kitaausbau
und das Betreuungsgeld - nicht seriös finanzieren kann.
In einer Emnid-Umfrage haben sich 80 Prozent der Befragten dafür ausgesprochen, statt des Betreuungsgeldes
lieber in die Kitas zu investieren. Das ist die richtige Prioritätensetzung.
({8})
Viele Kolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen wissen es ebenfalls besser. Ich möchte stellvertretend nur Frau Kramp-Karrenbauer als Kronzeugin
nennen, die am Montag - einen Tag nach der SaarlandWahl - vor der Einführung des Betreuungsgeldes gewarnt hat und die ihrer Sorge Ausdruck verliehen hat,
dass die Einführung des Betreuungsgeldes zu Einsparungen beim Elterngeld führen wird. Wenn Sie schon Oppositionspolitikerinnen nicht glauben, dann glauben Sie
wenigstens der wahrscheinlich zukünftigen Ministerpräsidentin des Saarlandes.
({9})
Frau Kollegin, Sie kommen bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte Sie dringend
auffordern, heute mit uns gemeinsam die Notbremse zu
ziehen. Machen Sie dem Spuk Betreuungsgeld ein Ende.
Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt; es ging um den Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Rechtsrahmens für Strom
aus solarer Strahlungsenergie und zu weiteren Änderungen im Recht der erneuerbaren Energien auf den Drucksachen 17/8877 und 17/9152. Abgegeben wurden
541 Stimmen. Mit Ja haben 305 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 235, es gab eine Enthaltung.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 541;
davon
ja: 305
nein: 235
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({24})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({25})
Michael Link ({26})
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({27})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Serkan Tören
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({28})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({29})
Nein
CDU/CSU
Veronika Bellmann
Josef Göppel
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({30})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({31})
Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({32})
Hubertus Heil ({33})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({34})
Frank Hofmann ({35})
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({36})
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({37})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({38})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({39})
Michael Roth ({40})
Anton Schaaf
Marianne Schieder
({41})
Werner Schieder ({42})
Silvia Schmidt ({43})
Carsten Schneider ({44})
Swen Schulz ({45})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff
({46})
Uta Zapf
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Heidrun Dittrich
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({47})
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({50})
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({51})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({52})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Enthalten
CDU/CSU
Andreas G. Lämmel
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Ich gebe das
Wort dem Kollegen Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion.
({53})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es kann überhaupt kein Zweifel bestehen - darüber besteht Einigkeit über alle Fraktionen hinweg -,
dass es erste Aufgabe der Eltern ist, darüber zu entscheiden, wie sie ihr Kind erziehen.
({0})
Nicht der Staat hat das Recht, darüber zu entscheiden,
sondern die Eltern haben das Recht.
({1})
Das ist hoffentlich die gemeinsame Meinung. Das steht
so auch in Art. 6 Grundgesetz.
({2})
Wenn die Eltern schon das Recht haben - ({3})
- Kann ich bitte Ruhe haben, das ist ja furchtbar. Sie
müssen doch in der Lage sein, sich wenigstens einmal
ein paar Argumente anzuhören. Ich habe wirklich den
Eindruck, dass in der Debatte über das Betreuungsgeld
sehr viel Verbohrtheit dabei ist.
({4})
- Bringen Sie doch Argumente, aber bitte keine Schlagwörter, wie wir sie jetzt schon über zwei Jahre lang hören. Keine Schlagwörter, sondern zurück zu Argumenten.
Mein erstes Argument ist, dass die Eltern die Entscheidungsfreiheit haben, ob sie ihr Kind in die Kita geben oder ob sie es daheim erziehen oder die Erziehung
anderweitig planen. Diese Entscheidungsfreiheit haben
die Eltern.
({5})
- Ich bedanke mich für den Applaus.
({6})
Der Staat hat nicht das Recht, zu entscheiden,
({7})
ob die Eltern ihr Kind in die Kita geben oder es daheim
erziehen; darüber darf der Staat nicht entscheiden.
({8})
- Ich bedanke mich für den Beifall. - Wenn das aber so
ist, dann hat der Staat auch die Verpflichtung, dafür
Sorge zu tragen, dass beides möglich ist.
({9})
- Na also! Sie klatschen mir Beifall und stimmen mir zu,
dass der Staat die Verpflichtung hat, auch die Eltern zu
unterstützen, die ihr Kind nicht in die Kita geben wollen,
sondern es lieber daheim erziehen wollen.
({10})
- Jetzt hören Sie auf zu klatschen; jetzt haben Sie es kapiert. Sie haben mir aber immerhin zugestimmt, dass erstens die Eltern die Entscheidungsfreiheit haben sollen
und dass zweitens der Staat da nicht hineinzureden hat.
Der Staat muss also drittens die Möglichkeit schaffen
- da haben Sie mir nicht mehr zugestimmt -, dass die Eltern diese Entscheidungsfreiheit nutzen können.
Genau das will das Verfassungsgericht. Hier ist immer die Rede davon, unser Verlangen sei verfassungswidrig. Das, was Sie wollen, ist verfassungswidrig.
({11})
In seiner Entscheidung vom 10. November 1998, vor
14 Jahren, hat das Verfassungsgericht festgelegt, dass
der Staat Sorge dafür tragen muss, dass die Eltern diese
Entscheidungsfreiheit haben. Es hat gesagt: Wenn sich
eine Frau dazu entschließt, ihre Erwerbstätigkeit zu unterbrechen, daheim zu bleiben und daheim ihr Kind zu
erziehen, hat der Staat die Verpflichtung, diese Frau zu
unterstützen.
({12})
Genau das wollen wir mit dem Betreuungsgeld leisten.
Was ist daran falsch?
Ich verstehe Ihre Logik wirklich nicht. Wenn Sie zunächst Beifall klatschen, dass der Staat nicht hineinzureden hat, dass der Staat die Entscheidungsfreiheit zu gewährleisten hat, dann müssen Sie auch Beifall klatschen,
wenn ich feststelle, dass der Staat aufgrund Art. 6
Grundgesetz die Verpflichtung hat, der Frau zu helfen,
die daheim bleibt und daheim ihr Kind erziehen will.
({13})
Genau das wollen wir mit dem Betreuungsgeld leisten.
Wir wollen auf der anderen Seite, dass die Frau, die ihre
Erwerbstätigkeit nicht unterbrechen will, ihr Kind in die
Kita geben kann.
({14})
Wir wollen, dass die Kitas gebaut werden. Sie werden
staunen: Bayern liegt insoweit an der Spitze.
({15})
- Da können Sie wohl nur lachen. Ich vermute, Sie lachen aus lauter Dummheit und weil Sie es nicht besser
wissen. Das ist der Hintergrund. Sie reden sich etwas
ein, aber übersehen völlig eine vernünftige Argumentation und auch die Wirklichkeit. Bayern steht beim Bau
von Kitas mit an der Spitze; nichts anderes ist wahr.
({16})
- Da brauchen Sie nicht so dumm zu lachen. Sie lachen
über Ihre eigene Dummheit. Das mag es wohl sein.
Wenn es so ist, dass der Staat nicht hineinreden darf,
dann muss man sich schon die Frage stellen, warum Sie
dagegen sind. Warum sind Sie dagegen, dass die Frau
die Möglichkeit hat,
({17})
ihr Kind daheim zu erziehen und es nicht in die Kita geben zu müssen? Was soll daran falsch sein? Sie sagen
immer, nur in der Kita könne das Kind richtig erzogen
werden.
({18})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es handelt
sich hier um Kleinkinder, um Kinder zwischen ein und
drei Jahren. Diese Kinder brauchen zunächst einmal die
Bindung zu ihren Eltern.
({19})
Das ist nicht nur Erbgut der Menschheit insgesamt; das
können Sie auch in jeder Studie nachlesen.
({20})
Sie können also nicht behaupten, dass das Kind nur in
der Kita richtig erzogen werden kann.
({21})
Das ist eine Behauptung, die Sie für Ihre Ideologie brauchen, die aber nicht wahr ist.
Ich will einen weiteren Punkt dazu sagen. Sie befinden sich bei dieser Frage in einer wirklich seltsamen Allianz mit den Arbeitgeberverbänden; das will ich zugestehen. Aber den Arbeitgebern geht es darum, dass die
Frau als Arbeitskraft erhalten bleibt, auch in der Zeit, in
der sie das Kleinkind hat. Wir denken nicht an die Arbeitskraft der Frau, sondern zunächst an das Kind. Das
ist meiner Meinung nach die Aufgabe des Staates. Das
übersehen Sie.
({22})
Herr Kollege Geis, würden Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Ziegler von der SPD-Fraktion zulassen
wollen?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich habe nach Ihrer Meinung dumm gelacht.
({0})
Das zeigt schon den Intellekt auf Ihrer Seite.
({1})
Sie sagen, dass Bayern beim Ausbau der Kitas ganz
vorn liegt. Ich glaube, Sie wissen nicht, von welchem
Level ausgehend Bayern ganz vorne liegt, nämlich von
dem Level ganz unten. Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen und die Unterlagen einmal genau studieren.
Sie haben offensichtlich einen höheren IQ als alle anderen hier.
({2})
Sie liegen falsch. Beim Ausbau der Kitaplätze liegt
Bayern nicht von irgendeinem Level kommend, sondern
absolut gesehen an der Spitze.
({0})
- Es ist so. Sie haben leider keine Ahnung. Es hat keinen
Sinn, dass ich die Frage noch weiter beantworte; denn
Sie werden nicht klüger. Sie sind nicht bereit, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen.
({1})
Sie denken immer nur in eine Richtung, und das ist das
Problem.
Wenn der Staat bereit ist, die Frau zu unterstützen, die
daheim bleibt, um ihre Kinder zu erziehen, dann hat der
Staat auch die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass
der Frau der Wiedereinstieg in den Beruf gelingt. Das ist
eine viel wichtigere Verpflichtung als die, die Sie für
wichtig halten, nämlich Kitas auszubauen. Der Wiedereinstieg der Frau, die daheim geblieben ist, in den Beruf
scheint mir eine der zentralen Aufgaben zu sein.
({2})
Da sind wir hoffentlich einer Meinung.
Es ist wahnsinnig schwierig, sich hier Gehör zu verschaffen.
({3})
Man muss die Lautstärke seiner Stimme voll und ganz
einsetzen, um überhaupt noch zu Wort zu kommen. Es
ist nicht möglich, mit Ihnen hier in einer vernünftigen
Art und Weise zu diskutieren. Wir werden unsere Politik
weiterverfolgen. Wir müssen es allerdings aufgeben, Sie
von der Richtigkeit unserer Politik zu überzeugen. Es hat
offensichtlich keinen Sinn.
({4})
Die Kollegin Caren Marks hat jetzt das Wort für die
Fraktion der SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Geis,
wie gewohnt haben wir von Ihnen keine Argumente gehört - keiner hat sie wirklich erwartet -, sondern Ihre
verbohrte, verquaste Ideologie.
({0})
Seit dem 21. März ist die Katze aus dem Sack: Auch
Finanzminister Schäuble ist vor der CSU eingeknickt
und hat diesem wirklich unsinnigen Betreuungsgeld im
Kabinett grünes Licht gegeben. 2013 sollen hierfür
400 Millionen Euro und 2014 bereits 1,2 Milliarden
Euro zur Verfügung gestellt werden. Die Süddeutsche
Zeitung nannte den verabschiedeten Eckwertebeschluss
zum Haushalt völlig zu Recht „Buch der vertanen Chancen“. Grund dafür ist das - Zitat - „völlig sinnlose Betreuungsgeld“, das hier festgeschrieben wird. Wie das
Betreuungsgeld im Detail ausgestaltet wird und wie die
Gegenfinanzierung aussehen soll, bleibt weiterhin völlig
unklar. Ich sage Ihnen: Solide, verantwortungsvolle
Haushaltspolitik geht anders.
({1})
Es ist wirklich enttäuschend, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dass Sie diese Fernhalteprämie - und nichts anderes ist es - allein auf Druck
einiger Verbohrter in der CSU tatsächlich umsetzen wollen, und das trotz aller berechtigten Proteste. Ich will die
Verbände und Organisationen nicht im Einzelnen aufzählen, das hat bereits meine Kollegin Frau Dörner getan. Es hagelt zu Recht massive Kritik von Fachverbänden, der Wissenschaft, von Gewerkschaften und von
allen Arbeitgeberverbänden, auch von denen, die nicht
im Verdacht stehen, den Grünen, der SPD oder den Linken nahezustehen. Auch die Europäische Kommission
hat das Betreuungsgeld im Januar gerügt, doch Sie ignorieren das. Selbst einige Kolleginnen und Kollegen in Ihren eigenen Reihen schämen sich für diese unsinnige
Idee. Das machen sie uns in Gesprächen jedenfalls immer wieder deutlich.
Die Regierung hat der CSU nachgegeben, ungeachtet
der Tatsache, dass dieses Vorhaben bildungspolitisch,
gleichstellungspolitisch und integrationspolitisch schlicht
katastrophal ist.
({2})
Es ist eine Fehlinvestition; denn es soll für die Nichtinanspruchnahme eines Krippenplatzes gezahlt werden.
Welch absurde Idee! Welch absurde Ideologie!
({3})
Doch schön, dass Herr Geis direkt vor mir gesprochen
hat. Ein besseres Beispiel dafür, dass bei der CSU Ideologie vor Fachlichkeit kommt, konnten Sie hier nicht geben, Herr Geis. Herzlichen Dank für diese Steilvorlage!
({4})
Der Staat schafft damit finanzielle Anreize, die Bildungsbeteiligung von Kindern und die Erwerbstätigkeit
insbesondere von Müttern zu verringern. Zahlreiche Studien beweisen ganz aktuell, dass diese Gefahr wirklich
besteht. Zudem ist diese Fernhalteprämie, Herr Geis,
verfassungsrechtlich höchst problematisch; denn das
Gleichstellungsgebot - vielleicht schauen Sie noch einmal in unser Grundgesetz; es lohnt sich - wird konterkariert.
Mit diesem Unsinn zementieren Sie die veraltete Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Sie setzen
falsche Anreize, insbesondere für Frauen, länger zu
Hause zu bleiben und die eigene Existenzsicherung und
damit auch die eigene Alterssicherung zu vernachlässigen.
Stellen Sie sich einmal die Frage, welches Signal Sie
dem Arbeitsmarkt geben. Sie bauen Hürden für die Berufstätigkeit von Frauen auf. Ich frage mich: Wäre es
nicht die Pflicht dieser schwarz-gelben Bundesregierung, die Hürden abzubauen und vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern?
({5})
Doch dieses Ziel, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, erreichen wir nur mit dem wirklich
forcierten Ausbau der frühkindlichen Bildung. Hier
sollte Ihre Schwerpunktsetzung liegen.
Noch immer entscheidet viel zu häufig die soziale
Herkunft über den Bildungserfolg von Kindern. Wir alle
wissen: Auf den Anfang kommt es an. Wir brauchen
mehr Krippen- und Kitaplätze und insbesondere mehr
Ganztagsangebote. Die Qualität muss verbessert werden.
Nur so erhalten alle Kinder tatsächlich eine gute und verlässliche Förderung.
Ich warne Sie eindringlich: Wenn das Betreuungsgeld
kommt, dann konterkarieren Sie den notwendigen Ausbau, vor allem den Ausbau der frühkindlichen Bildung.
Sie wollen für Eltern einen finanziellen Anreiz schaffen,
ihr Kind nicht in eine Krippe zu geben. Das ist einfach
fatal und absurd.
({6})
Ich fordere Sie im Namen meiner gesamten Fraktion
und der gesamten Opposition auf: Verzichten Sie auf
dieses unsinnige und fatale Betreuungsgeld und investieren Sie die hierfür eingeplanten Mittel in den Ausbau der
frühkindlichen Bildung! Die Kinder in unserem Land
werden es Ihnen einmal danken, wenn Sie ein Einsehen
haben. Deutschland braucht weniger Ideologie, aber
deutlich mehr Chancengleichheit. Wir werden dem Gesetzentwurf der Grünen aus voller Überzeugung und zu
Recht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt Miriam Gruß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Bislang wissen wir über das Betreuungsgeld
nur, dass es kommen soll. Ich zitiere aus einer Vereinbarung der Koalitionsspitzen:
Als zusätzliche Anerkennungs- und Unterstützungsleistung erhalten Familien, die ihre Kinder
nicht in eine Krippe geben, ab 2013 zunächst
100 Euro ab dem zweiten Lebensjahr; ab 2014 erhalten sie 150 Euro für das zweite und dritte Lebensjahr des Kindes.
({0})
Darüber hinaus liegt kein konkretes Konzept vor. Ich
werde mich daher bei der heutigen namentlichen Abstimmung enthalten.
({1})
Meine Vorbehalte aus bildungs-, gleichstellungs- und
familienpolitischer Sicht sind lange bekannt, und ich
brauche sie hier nicht zu wiederholen.
Ich will aber einen weiteren Punkt anführen: Wir geben in Deutschland 187 Milliarden Euro für familienpolitische Leistungen aus. Trotzdem haben wir mit die
geringste Geburtenrate europaweit. Dank der Arbeit von
Ministerin Schröder erwarten wir in 2013 die Ergebnisse
der Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen. Dann gilt es, die gesamte Familienpolitik ohne
ideologische Scheuklappen effizienter zu gestalten; denn
bislang ist es tatsächlich so, dass wir in der einen Richtung etwas fördern und es mit einer anderen Maßnahme
wieder konterkarieren. Familienpolitik muss effizienter
gestaltet werden.
({2})
Im Vorfeld dazu eine neue milliardenschwere Leistung
einzuführen, halte ich im Sinne einer nachhaltigen, zukunfts- und generationengerechten Haushaltspolitik für
fragwürdig.
({3})
Auf Schuldenbergen können Kinder nicht spielen und
erst recht nicht lernen. Nichtsdestotrotz: Die Koalitionsspitzen haben es beschlossen. Es liegt nun an Ministerin
Schröder, ein verfassungsgemäßes Konzept vorzulegen.
An der Verfassungsmäßigkeit wird sich dieses Konzept
messen lassen müssen.
Ich bleibe skeptisch. Man kann ein Amt verlieren,
man kann ein Mandat verlieren, aber nicht seine Überzeugung.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Diana Golze hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Miriam, ich bin richtig stolz. - Ich sage das
einmal so.
({0})
Wir kennen uns aus der Kinderkommission. Ich bin sehr
froh, dass du dich heute so geäußert hast, dass du zu deiner Meinung stehst und dir nicht reinreden lässt. Ich
hoffe, dass ganz viele deiner Kolleginnen und Kollegen
deinem Beispiel folgen werden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema Wahlfreiheit ist schon einiges gesagt worden. Ich will diesen
Punkt nur kurz aufgreifen: Herr Geis, auch Sie sollten
sich die Zahlen wirklich noch einmal konkret anschauen.
Sie wissen: Es stehen längst nicht genügend Kitaplätze
zur Verfügung. Auch fehlt es an gut ausgebildetem Personal und guten Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Das heißt, wer tatsächlich Wahlfreiheit herstellen
will, muss in den Ausbau der Kindertagesbetreuung und
der Angebote investieren, weil die Eltern erst dann eine
Wahl haben. Beim Ausbau der Kindertagesbetreuung
wäre das Geld wirklich gut eingesetzt.
({2})
Ich möchte mich auf das Thema Anerkennung der
Betreuungsleistung der Eltern konzentrieren. Als zweifache Mutter möchte ich es noch einmal sagen: Auch erwerbstätige Eltern erbringen Betreuungs- und Erziehungsleistungen.
({3})
Auch ihnen gebührt Anerkennung. Erziehende und betreuende Eltern, die erwerbstätig sind und ihr Kind in die
Kita bringen, erhalten die Kitabetreuung nicht als Geschenk, sondern sie bezahlen Kitagebühren. Sie würden
doppelt bestraft: Sie müssten Kitagebühren bezahlen und
könnten kein Betreuungsgeld bekommen. Andere bekämen die Anerkennung und müssten keine Kitagebühren
bezahlen. Das fände ich sehr ungerecht.
({4})
Ich möchte den Fokus auf die Alleinerziehenden richten. Von einem Vertreter der Unionsfraktion ist hier eben
gesagt worden, es gehe Ihnen nicht um die Arbeitskraft
der Frauen, es gehe Ihnen um die Kinder. Dazu sage ich:
Wenn es wirklich so ist, sollten Sie sich eine Studie anschauen, die Ministerin Schröder heute in Berlin vorgestellt hat. Das ist eine Studie des Bundesfamilienministeriums, des Deutschen Roten Kreuzes und des Instituts
der deutschen Wirtschaft, das der Linken nicht wirklich
nahesteht. Nach dieser Studie könnten fast doppelt so
viele Kinder von Alleinerziehenden ein Gymnasium besuchen, wenn sie im Alter von ein bis zwölf Jahren ganztägig betreut würden. Das würde ihre Bildungschancen
verbessern. Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Steigern
Sie die Bildungschancen von diesen Kindern!
({5})
Investieren Sie in öffentliche Kindertagesbetreuung!
Schaffen Sie eine qualitativ gute Betreuung der Kinder!
Damit leisten Sie etwas für die Kinder. Sparen Sie sich
das Betreuungsgeld!
In diesem Zusammenhang ein kleiner Ausflug zu einem anderen Thema: 11 000 Verkäuferinnen und Verkäufer des Schlecker-Unternehmens sind verunsichert;
zum Großteil sind es Verkäuferinnen. Ich finde es wirklich krass, dass Sie es nicht fertigbekommen, 75 Millionen Euro für eine Transfergesellschaft für SchleckerVerkäuferinnen zusammenzubekommen,
({6})
aber 1,2 Milliarden Euro für diesen familien- und frauenpolitischen Schwachsinn ausgeben wollen.
({7})
Es wird vor dem Betreuungsgeld gewarnt. Umfragen
und Studien zeigen, dass es Mitnahmeeffekte geben
wird, dass auch Familien dieses Betreuungsgeld in Anspruch nehmen werden, die es eigentlich überhaupt nicht
brauchen, die sowieso nie vorhatten, ihr Kind in eine
Kita zu geben, die das Betreuungsgeld als zusätzliches
Taschengeld abgreifen. Im Übrigen werden das genau
dieselben sein, die vom Ehegattensplitting profitieren.
Für diese Gruppe ist das Betreuungsgeld ja eigentlich
auch gedacht.
Das Betreuungsgeld würde erwerbstätige Elternpaare
und Alleinerziehende zugunsten von Einverdienerehen
benachteiligen. Deshalb lehnen wir es ab.
({8})
Zum Schluss noch ein Wort zu der Formulierung im
Koalitionsvertrag, nach der es um die Förderung und die
Bildung gehen soll. In § 16 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes steht, dass es Angebote der Familienbildung geben soll. Dem können viele Kommunen nicht mehr so
nachkommen, wie sie es wollen, weil sie es sich nicht
mehr leisten können. Dieser Paragraf ist zur Sparbüchse
geworden. Deshalb ist es kein Ausweg, in Taschengeld
zu investieren. Vielmehr müssen wir den Kommunen ihren finanziellen Spielraum zurückgeben. Ich fordere Sie
auf: Verzichten Sie auf dieses milliardenteure Wahlgeschenk in 2013! Investieren Sie in Bildung, in Betreuung
und in die Kommunen!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Dr. Peter Tauber spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Meine
lieben Kollegen!
({0})
- Entschuldigung, Frau Marks, bei Ihnen nützt Schleimen sowieso nichts mehr; deswegen versuche ich es erst
gar nicht.
({1})
Es gibt gute Gründe, bei der Frage des Betreuungsgelds über unterschiedliche Ansätze oder auch über Alternativen zu reden. Natürlich kann man sagen: Das
Geld, das wir dafür bereitstellen, nutzen wir lieber, um
schneller einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen.
Natürlich kann man auch sagen: Wir wollen das Geld,
das wir dafür bereitstellen, an anderer Stelle verwenden,
zum Beispiel für eine Beschleunigung des Krippenausbaus.
({2})
Die dritte Alternative ist, zu überlegen, wie wir mit
den Familien umgehen, bei denen die Eltern gemeinsam
entschieden haben, dass sie ihr Kind bis zum dritten Lebensjahr selbst betreuen wollen.
({3})
Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, darüber nachzudenken, wie wir ihnen das ermöglichen können.
An der Stelle bin ich geneigt, zu sagen, dass es keinen
Abwägungsprozess zwischen diesen drei Alternativen
gibt. Denn hier wurde sehr schnell deutlich - dies wurde
auch in einigen Reden, wenn auch nicht in allen, aus den
Reihen der Opposition deutlich -, dass Sie nicht zwischen drei Maßnahmen abwägen wollen. Sie moralisieren und wollen die Form, wie sich Familien in diesem
Land zu organisieren haben, vorgeben.
({4})
Hier haben wir ein Problem; denn an der Stelle ist die
Diskussion nicht mehr sachlich, und wir wägen nicht
mehr ab.
({5})
Sie sagen selbst - Frau Marks hat es am Ende ihrer
Rede gesagt -: Die Eltern werden es uns danken,
({6})
wenn wir kein Betreuungsgeld einführen. Das heißt,
Frau Marks entscheidet, was Eltern in diesem Land wollen. Das finde ich beeindruckend, Frau Marks.
({7})
- Natürlich können wir uns über Umfragen unterhalten.
({8})
Ich weiß, dass die Lebenswirklichkeit in diesem Land
so aussieht, dass sich ein Großteil der Eltern diese Frage
gar nicht stellt und sie sich Betreuungsangebote wünschen,
({9})
weil sie beide arbeiten gehen wollen oder dies aus finanziellen Gründen müssen. Aber - auch das wird in den
Umfragen deutlich - es gibt auch eine signifikant große
Zahl an Eltern, die sagen: Wir wollen und können die
Betreuung unseres Kindes bis zum dritten Lebensjahr
selbst organisieren.
({10})
Es geht auch nicht darum - das unterstellen Sie immer -, dass im Idealfall einer zu Hause bleibt. Sie unterstellen weiterhin, dass es nach unserem Verständnis die
Frau sein müsste. Mitnichten ist das so.
({11})
Wir wollen, dass die Familien, die die Betreuung eines
Kindes bis zu dessen drittem Lebensjahr selbst organisieren können und wollen, weil die Großeltern in der
Nähe sind, weil es ältere Geschwister gibt, weil andere
Familienmitglieder in der Nähe wohnen oder
({12})
weil die Eltern aufgrund der beruflichen Situation von zu
Hause aus arbeiten können, Anerkennung erfahren und
die Gesellschaft ihnen zeigt, dass wir diese Erziehungsleistung honorieren und sie unterstützen.
({13})
Darum geht es im Kern. Sie hingegen moralisieren
und sagen, dass das weniger wert ist.
({14})
Das ist eine Unverschämtheit gegenüber den Eltern, die
die Betreuung selbst organisieren wollen.
({15})
Das ist der entscheidende Punkt in der Debatte. Hier besteht der Unterschied zwischen uns und Ihnen.
Ich sage Ihnen sehr ehrlich: Ich habe keinen Blankoscheck für ein Betreuungsgeld in der Tasche. Ich sage
auch nicht: Egal, wie es aussieht, ich mache da mit. Natürlich habe ich konkrete Vorstellungen davon, was ich
mir wünsche.
({16})
Nach meinem Verständnis sollte es beiden Elternteilen
möglich sein, arbeiten zu gehen, auch wenn sie die Betreuung ohne staatliche Institutionen organisieren.
({17})
Das wäre eine Möglichkeit.
Herr Kollege, Frau Ziegler würde Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen.
Wenn Frau Ziegler gerne eine Frage stellen möchte
und es der Wahrheitsfindung dient, dann sehr gerne.
({0})
Vielen Dank, Herr Dr. Tauber. - Sie sagten ja gerade,
mit dem Betreuungsgeld solle auch die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie sichergestellt werden. Können
Sie uns hier und heute erklären, wie das gewährleistet
werden soll? Sie sagten, Geschwister, Großeltern oder
andere Bezugspersonen könnten die Betreuung übernehmen.
({0})
Bei der Kitabetreuung stellt der Staat bisher hohe Anforderungen an die Qualifizierung des Betreuungspersonals, weil wir damit auch die frühkindliche Bildung verknüpfen.
({1})
Wie sollen Ihrer Auffassung nach die Anforderungen an
die Qualifikation der Betreuungspersonen, die das Betreuungsgeld erhalten, aussehen?
({2})
Diese Frage kann man relativ schnell beantworten,
Frau Kollegin.
({0})
Mir ist bis jetzt nicht bekannt, dass Eltern oder Großeltern eine Art Elternführerschein bzw. Großelternführerschein vorlegen müssen, um in diesem Land Kinder
großzuziehen.
({1})
Ich habe den Eindruck, auch beim Blick in diesen Saal,
dass das bei den meisten auch ohne einen solchen Führerschein ganz gut geklappt hat - zugegebenermaßen
vielleicht nicht bei allen. Aber bei den meisten hier im
Saal hat das auch ohne Eltern-TÜV ziemlich gut geklappt.
({2})
Von daher halte ich nichts davon,
Herr Kollege.
- Entschuldigung, diesen Halbsatz noch -, den Eindruck zu erwecken, wir würden abwägen: zwischen der
Herzenswärme von Eltern,
({0})
die nicht pädagogisch gebildet sind und vielleicht nicht
studiert haben, und der sehr großen Kompetenz der Erzieherinnen und Erzieher in den entsprechenden Einrichtungen.
({1})
Herr Kollege, auch Herr Lenkert würde Ihnen gern
eine Zwischenfrage stellen.
Na gut. Eine habe ich ja schon zugelassen. Dann lasse
ich noch eine zweite zu.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie sprachen gerade
von der Anerkennung der Erziehungsleistung. Meines
Wissens erziehen alle Eltern ihre Kinder. Ein Kindergartenkind bzw. Krippenkind besucht die Einrichtung im
Durchschnitt an 230 Tagen im Jahr, sagen wir acht Stunden täglich. Das macht, grob überschlagen, 2 000 Stunden im Jahr. Das ist ein Viertel des Jahres. Selbst wenn
ich in Rechnung stelle, dass das Kind nachts schläft, und
diese Zeit von der Erziehungsleistung abziehe, würde
ich die kühne Behauptung aufstellen, dass ein Kind, das
Vollzeit eine Betreuungseinrichtung besucht, mindestens
50 oder 60 Prozent des Jahres von seinen Eltern erzogen
wird.
Wollen Sie nicht auch diesen Eltern eine Anerkennung zuteilwerden lassen, indem Sie die Regelung treffen, dass sie die Hälfte des Betreuungsgeldes bekommen? Wenn es Ihnen um Anerkennung geht, müssten Sie
eigentlich der Auffassung sein, dass alle Eltern ein Betreuungsgeld bekommen sollten.
({0})
Zweitens möchte ich gern von Ihnen wissen, wie Sie
dazu stehen, dass Sie Eltern monatlich einen kleinen
dreistelligen Euro-Betrag an Betreuungsgeld zahlen wollen, während Sie bei dem so nicht genutzten Kindergarten- bzw. Krippenplatz gleichzeitig 800 Euro pro Monat
einsparen. Könnte es nicht sein, dass Sie das Betreuungsgeld lediglich als eine Art Silberling nutzen, damit
die Eltern auf die Inanspruchnahme der wesentlich teureren, für die Kinder aber besseren Kindergartenplätze
verzichten?
({1})
Lieber Kollege, danke für diese Fragen. Das war ja
nicht nur eine Frage, sondern das war eher ein Fragenbündel.
Man kann festhalten: Diese Gesellschaft honoriert es,
wenn sich Paare dafür entscheiden, Kinder zu bekommen, indem die Gesellschaft als Solidargemeinschaft
Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stellt. Daran beteiligen sich alle, die Steuern zahlen. Sie wissen genau,
dass jeder Betreuungsplatz im Schnitt mit 1 000 Euro
pro Monat subventioniert wird. Das ist eine Leistung, die
die Solidargemeinschaft für die Eltern erbringt.
Es stellt sich aber die Frage: Was machen wir mit denen, die sagen: „Wir freuen uns, dass die Solidargemeinschaft diese Leistung erbringt. Auch wir leisten durch
unsere Steuerzahlungen einen Beitrag dazu. Aber wir haben für uns ein anderes Modell gewählt. Wir wollen das
anders handhaben“? Sagen wir ihnen: „Das ist schön;
das könnt ihr tun“ - Gott sei Dank sind Sie ja noch nicht
so weit, den Eltern das verbieten zu wollen; das kommt
wahrscheinlich als Nächstes -,
({0})
oder sagen wir ihnen: „Gut, dann wollen wir euch eine
Form von Anerkennung zukommen lassen, die es euch
leichter macht, diese Aufgabe selbst zu übernehmen“?
Auch Eltern können Bildungsinhalte vermitteln. Es wäre
schlimm, wenn das nicht so wäre.
Wie ich sehe, haben Sie sich wieder hingesetzt. Ich
war mit der Beantwortung Ihrer Fragen eigentlich noch
nicht fertig; schließlich haben Sie nicht nur eine Frage
gestellt. Aber dann werde ich jetzt in meiner Rede fortfahren.
Am Ende bleibt es dabei: Man kann das gegeneinander abwägen. Man kann sagen: Wir verzichten auf das
Betreuungsgeld und sparen das Geld, um schneller die
schwarze Null zu erreichen. - Man kann auch sagen: Wir
setzen einen anderen Schwerpunkt. - Aber bei Ihnen
klingt durch, dass Sie den Eltern vorschreiben wollen,
wie Erziehung und Bildung in den ersten drei Lebensjahren des Kindes zu organisieren sind.
({1})
- Das ist so.
({2})
Sie verstecken sich hinter pro familia und hinter dem
Deutschen Gewerkschaftsbund. Sie vertreten aber nicht
die Interessen der Eltern, die gerne ein Betreuungsgeld
hätten. Das ist der entscheidende Punkt.
({3})
- Sie können sich hinter Lobbyisten verstecken, wie Sie
wollen.
({4})
Wir stehen für die Eltern, die sagen: Wir wollen das selber machen. - Ich sage Ihnen auch: Es ist mir herzlich
egal, was hierzu der BDI oder der Gewerkschaftsbund
sagen.
({5})
- Liebe Frau Marks, ich bin geneigt, meine Haltung zum
Betreuungsgeld vielleicht zu überdenken, wenn Sie mir
persönlich nachher noch einmal die Frage beantworten,
({6})
ob Sie zu Hause betreut worden sind oder in einer Einrichtung waren. Ihr Verhalten und Ihre Zwischenrufe lassen vielleicht Rückschlüsse darauf zu.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Nerven scheinen bei
Schwarz-Gelb blank zu liegen. In hitzigen Debatten
Zwischenrufe als ungezogen darzustellen, finde ich
schon etwas schräg.
({0})
Damit muss man umgehen können. Gerade wenn man
Argumente liefert, die zu Zwischenrufen animieren,
sollte man eine größere Gelassenheit haben.
({1})
Ich möchte auf ein paar Argumente eingehen, die gerade pro Betreuungsgeld genannt worden sind:
Erstens. Herr Geis, Sie haben mehrmals die Verfassung zitiert und gesagt, aus verfassungsrechtlichen
Gründen sei die Einführung des Betreuungsgeldes quasi
ein Gebot, weil wir die Verpflichtung hätten, die Frauen
- Sie haben es so formuliert - dafür zu belohnen, dass
sie zu Hause bleiben und sich dort um die Kinder kümmern. Von den Männern haben Sie nie gesprochen. Ich
weise auf einen Verfassungsgrundsatz hin, nämlich auf
die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Den
haben Sie anscheinend außer Acht gelassen.
({2})
Zweitens. Hier wird häufig davon gesprochen, dass es
sowohl auf der einen Seite als auch auf der anderen Seite
des Hauses Ideologien gibt und dass wir das Betreuungsgeld aus ideologischen Gründen ablehnen würden. Liebe
Kolleginnen und Kollegen insbesondere der CDU/CSU
- bei der FDP ist ja eine Einsicht vorhanden, zumindest
in großen Teilen -, wir haben den Ausbau der KrippenSönke Rix
plätze doch gemeinsam beschlossen. Warum stehen Sie
denn nicht dazu und tun jetzt so, als ob das der falsche
Weg gewesen ist?
({3})
Sie sind doch jetzt diejenigen, die ein neues Instrument
einführen und uns vorwerfen, wir hätten eine falsche
Ideologie. Wir sind von der gemeinsamen Beschlusslage
nicht abgewichen.
({4})
Das wollen Sie doch jetzt. Sie wollen doch jetzt plötzlich
den Konsens aufgeben.
Sie reden auch gerne von einem besonderen Familienbild und suggerieren mit einigen Aussagen, dass diejenigen Familien, bei denen ein Elternteil zu Hause
bleibt und auf die Kinder aufpasst, sie betreut und erzieht, etwas sehr Gutes tun. Sie verleugnen dabei aber,
dass es genügend Eltern gibt, die das einfach nicht können, weil sie arbeiten müssen.
({5})
Diesen quasi zu sagen: „Ihr bekommt keine Belohnung,
weil ihr eure Kinder erst nach der Krippenzeit betreut“,
finde ich eine Frechheit.
({6})
Das suggeriert doch, dass die Erziehung derjenigen, die
ihre Kinder in die Krippe geben, weniger wert ist als die
Erziehung derjenigen, die das nicht tun. Warum werden
sie denn nicht belohnt?
({7})
Ein Beispiel: Stellen wir uns einmal Familie Meier
vor. Die Kinder der Familie Meier gehen nie in eine Bücherei. Bekommen auch sie einen Bonus dafür, weil sie
die Bücherei nicht nutzen? Die gleiche Frage stelle ich in
Bezug auf die Kinder, die nicht in die Schwimmhalle
oder nicht ins Museum gehen. Wir halten öffentliche
Einrichtungen vor und wollen nicht diejenigen belohnen,
die diese nicht nutzen.
({8})
Über die Summe, die das Betreuungsgeld kostet, haben wir schon gesprochen. Es wäre sinnvoller angelegt,
wenn es in den Ausbau von Krippenplätzen gesteckt
würde. Die Kommunen warten auf weitere Signale
durch den Bund und die Länder. Wir müssen uns mit den
Ländern an einen Tisch setzen und Signale dafür senden,
dass es sich lohnt, weiter in Krippenplätze zu investieren, und dass wir Geld dafür bereitstellen - und nicht für
ein unsinniges Betreuungsgeld.
({9})
Zum Schluss möchte ich sagen, dass ich nicht hoffe,
dass Sie sich der Meinung der Lobbyisten wie der Kirchen, der Arbeitgeberverbände und der Unternehmensverbände anschließen. Es kann ja angehen, dass Sie
diese als Lobbyisten bezeichnen, Herr Tauber. Wir machen das aber nicht ausschließlich.
Vielmehr hoffe ich, dass Sie sich den Argumenten
von Frau von der Leyen anschließen. Sie hat nämlich gesagt, das Betreuungsgeld sei eine bildungspolitische Katastrophe. Sie sollten sich einmal daran erinnern, was
Ihre eigenen Leute zu diesem Thema sagen.
Sie haben nun die Chance, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Grünen zu, weil er auch von uns hätte sein können.
Danke schön.
({10})
Sibylle Laurischk hat jetzt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir heute über das Betreuungsgeld diskutieren, dann müssen wir uns auch den gesellschaftlichen
Realitäten stellen. Wir haben seit einigen Jahren ein
neues Unterhaltsrecht, das insbesondere Frauen nach einer Scheidung auferlegt, zu arbeiten. Das heißt, wir haben die klare Zielsetzung, dass die Berufstätigkeit von
Frauen gewünscht ist. Insofern ist zu überlegen, ob der
Weg, der mit dem Betreuungsgeld gewiesen werden soll,
nämlich zu Hause zu bleiben, der richtige Weg ist.
({0})
Ich persönlich bin der Meinung, dass wir die Rahmenbedingungen dahin gehend ausrichten müssen, dass
diese Realität lebbar ist. Dies betrifft den Weg der
Frauen in den Beruf und ihre eigenverantwortliche
selbstständige Lebensführung. Dies ist mit einer Eheschließung nicht immer gewährleistet.
Darüber hinaus gibt es eine weitere gesellschaftliche
Realität, nämlich die Notwendigkeit zur Integration. Das
heißt, viele Kinder, die zu Hause unzureichend gefördert
werden, weil ihre Eltern dazu einfach nicht in der Lage
sind, auch wenn sie das wollen, brauchen entsprechende
Bildungsangebote. In diesem Zusammenhang würde das
Betreuungsgeld nach meinem Dafürhalten falsche Anreize setzen.
({1})
Ich denke, diese Bundesregierung hat gerade mit der
Förderung der frühkindlichen Bildung das richtige Signal gesetzt, mehr Sprachförderung zu entwickeln und
den betroffenen Kindern frühzeitig ein Angebot in den
Kindergärten bzw. Kitas zu machen. Das Betreuungsgeld dagegenzusetzen, ist sicherlich problematisch.
({2})
Deshalb müssen wir uns genau überlegen, wie das
Betreuungsgeld aus verfassungsrechtlicher Sicht zu bewerten ist. Kann der Bund es denn überhaupt einführen?
Nur dann, wenn er dafür zuständig ist. An dieser Stelle
ist Art. 74 Abs. 1 des Grundgesetzes, die konkurrierende
Gesetzgebung, zu beachten. Nur dann, wenn die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet
oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im
gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung des Betreuungsgeldes erfordern - entsprechend
Art. 72 Abs. 2 des Grundgesetzes -, wäre die konkurrierende Gesetzgebung überhaupt gegeben.
Dies halte ich allerdings für zweifelhaft. Ich meine,
bei dieser Frage muss noch rechtliche Expertise eingeholt werden. Deswegen werde ich mich heute der
Stimme enthalten.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9165 an den Ausschuss für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Damit sind
Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entwurf
eines Dritten Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch -
Aufhebung der Ankündigung eines Betreuungsgeldes.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/8201, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1579 abzu-
lehnen.
Wir werden jetzt über diesen Gesetzentwurf abstim-
men, und zwar namentlich. Es liegen hierzu verschie-
dene Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor, unter anderem der Kolleginnen Gruß, Happach-
Kasan und Canel.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt?
({0})
- Wir stimmen über den Gesetzentwurf namentlich ab. -
Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind überall da? -
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Konnten denn jetzt alle ihre Stimmkarten abgeben? -
Das scheint mir der Fall zu sein. Dann schließe ich die
Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort, und zwar
über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache
17/8201. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6088 mit dem
Titel: „Auf die Einführung des Betreuungsgeldes verzichten“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Was macht Bündnis 90/Die Grünen?
({1})
- Wir waren jetzt bei der Drucksache 17/6088. Die Fraktion stimmt dagegen, nehme ich an.
({2})
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei
Zustimmung durch die Koalition und Ablehnung durch
die Oppositionsfraktionen.
Somit komme ich zu Tagesordnungspunkt 9:
Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausPeter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Europäische Finanzaufsicht stärken und effizient ausgestalten
- Drucksache 17/9151 Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
({3})
- Ich bitte darum, die Gespräche an der Regierungsbank
und im vorderen Teil des Saales zu verlagern, damit der
nächste Redner ausreichend zur Geltung kommt. - Vie-
len Dank.
1) Anlage 5 2) Ergebnis Seite 20328 C
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Ergebnis der Finanzkrise im Jahr 2008 war die Erkenntnis,
dass wir Finanzmärkte nur noch europäisch regulieren
können, und zwar deswegen, weil Finanzmärkte leider
nicht an Ländergrenzen haltmachen können. Noch besser wäre es gewesen, das Ganze international zu regeln.
Das ist aber leider nicht gelungen.
Europäische Regulierung bedeutet aber auch, dass wir
eine europäische Aufsicht brauchen. Genau so eine Aufsicht ist im Jahr 2010 für das Jahr 2011 auf den Weg gebracht worden. Wir haben Aufsichtsbehörden gegründet:
die EBA für die Banken, die EIOPA für die Versicherungen und die ESMA für die Wertpapiere. Wir haben diesen Aufsichtsbehörden auch Aufgaben zugewiesen: Sie
sind dafür verantwortlich, dass europäisches Recht einheitlich ausgeübt wird. Wir haben ihnen die Verantwortung für die Schlichtung von Streit zwischen nationalen
Aufsichtsbehörden zugewiesen, und wir haben ihnen
Eingriffsrechte im Fall von Krisen gegeben. Wir haben
dabei die nationalen Aufsichten weiterarbeiten lassen;
denn wir wissen genau, dass die Dinge vor Ort besser
von denen zu regeln sind, die auch vor Ort verhaftet
sind. Das ist gelebtes Subsidiaritätsprinzip.
Meine Damen und Herren, ich denke, dieses Konstrukt ist gelungen. Es ist gar nicht hoch genug zu bewerten, dass wir innerhalb eines Jahres - es geht um
Gründungen im Jahr 2011 - dazu gekommen sind, dass
diese drei Behörden arbeitsfähig sind, und das, obwohl
sie gleichzeitig Personal rekrutieren mussten und obwohl sie im Feuer standen, da sich die Finanzmärkte
weiterentwickelt haben. Insofern ist das eigentlich eine
gute Entwicklung.
Aber es gibt auch einige Dinge, die Anlass zur Sorge
geben. Diese Dinge möchten wir in unserem Antrag benennen. Wir möchten die Bundesregierung auffordern,
darauf hinzuwirken, dass diese Dinge sich nicht so
schlecht entwickeln, wie wir es uns vorstellen könnten.
Der erste Punkt. Es gibt eine europäische Aufsicht, es
gibt nationale Aufsichten, und da muss sich einiges zusammenruckeln. Jeder kämpft um Einfluss. Wir möchten
auf der einen Seite dafür sorgen, dass die nationale Aufsicht hier in Deutschland abgeben kann, dass sie erkennt:
Mehr Kompetenzen müssen auf die europäische Ebene
verlagert werden. Auf der anderen Seite möchten wir,
dass die europäische Aufsicht das macht, wofür sie zuständig ist, und nicht zu tief in die nationalen Belange
eingreift.
Der zweite Punkt; er ist besonders wichtig, wie ich
vielen Gesprächen mit Vertretern von Privatbanken,
Sparkassen und Volksbanken entnehmen kann. Wir haben nicht das Gefühl, dass auf europäischer Ebene die
Vielfalt der europäischen Bankenlandschaft zur Kenntnis genommen wird. Wir haben nicht das Gefühl, dass
zur Kenntnis genommen wird, dass wir sehr erfolgreiche
regionale, mittelständisch tätige Banken haben. Wir haben vielmehr das Gefühl, dass das Rollenmodell für die
Bankenregulierung viel zu sehr die nach britischem Vorbild formierte börsennotierte Aktiengesellschaft ist. Das
kann nicht sein. Wir müssen immer wieder darauf hinwirken, dass unsere mittelständischen Banken weiterhin
ihren Platz haben.
({0})
Das hat viel damit zu tun, dass wir insbesondere den
mittelständischen Banken durch neue Aufsichtsbehörden
viel Bürokratie aufhalsen. Auch das kann nicht sein.
Wenn mir Volksbanker sagen: „Ich kann mein Geschäft
nicht mehr machen, weil ich nur noch damit beschäftigt
bin, sämtliche Templates im Meldewesen auszufüllen“,
dann ist das nicht in unserem Sinne. Wir wollen einheitliche europäische Regeln haben. Wir wollen aber nicht,
dass insbesondere kleine und mittelständische Institute,
ob im Banken- oder im Versicherungsbereich, durch Bürokratie kaputtgemacht werden.
({1})
Auch das ist ein wichtiger Ansatz in unserem Antrag.
Es geht aber noch weiter. An dieser Stelle wird es
vielleicht etwas kompliziert, aber für uns als Parlamentarier sehr interessant. Wir haben den europäischen
Aufsichtsbehörden eigentlich nur zugewiesen, die Anwendung von Recht, das andere gesetzt haben, zu beaufsichtigen. Was wir momentan erleben, ist aber eine
andere Entwicklung: Im europäischen Gesetzgebungsprozess werden Vorlagen vom Rat, von der Kommission
und leider auch vom Parlament nur noch so aufgebaut,
dass ein grober Rahmen gesetzt wird und dass alles, was
in die Details geht, den Aufsichtsbehörden überlassen
wird mit der Folge, dass sie technische Standards setzen
und mit diesen Standards dann quasi demokratiefrei
Politik machen. Das ist nicht gut, und das ist nicht richtig. Wir sind der Meinung, dass auch auf europäischer
Ebene in der einen oder anderen Detailregelung dafür
gesorgt werden muss, dass die Parlamente weiter mitbestimmen können. Wir wollen kein Regime der Technokraten, meine Damen und Herren.
({2})
Ein weiterer Punkt, der uns im Zusammenhang mit
dem Antrag bewegt und der durchaus kritisch anzumerken ist, ist, dass in den Schlüsselpositionen der europäischen Aufsichtsbehörden nahezu keine deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertreten sind. Das ist im
Übrigen nicht nur ein Problem der europäischen Finanzaufsichtsbehörden, sondern dieses Problem besteht auch
an vielen anderen Stellen auf europäischer Ebene.
Wenn man davon ausgeht, dass unabhängig vom Ansehen der Nationalität die Besten dorthin gelangen sollen, ist das auf den ersten Blick vielleicht nicht schlimm.
Aber vielleicht ist es auch so, dass die Wahrnehmung der
mittelständisch strukturierten und regional aufgestellten
deutschen Bankenlandschaft mit Sparkassen, Volksban20328
ken und kleinen Privatbanken in Brüssel deswegen fehlt,
weil dieses Modell dort zu wenig vertreten wird. Das
hängt vielleicht wiederum damit zusammen, dass wir als
Deutsche nicht in Schlüsselpositionen vertreten sind.
Deswegen geht mein dringender Appell an das Finanzministerium, die BaFin und alle anderen, die dafür
verantwortlich sind, verstärkt dafür zu sorgen, dass deutsche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den europäischen Finanzbehörden und ebenso bei anderen europäischen Institutionen auch in Schlüsselpositionen zum
Zuge kommen. Ich denke, darin haben wir großen Nachholbedarf.
({3})
Ich komme zum letzten Punkt meiner Ausführungen.
Angesichts der Geschichte der europäischen Regulierung und der europäischen Rechtsetzung haben wir eines
festzustellen, nämlich dass wir in Deutschland immer
viel Zeit investiert haben, um zu verhindern, dass in
Europa etwas geregelt wird, was wir in Deutschland vermeintlich besser regeln können. Ich glaube, wir könnten
diese Zeit besser investieren, wenn wir uns bemühen
würden, die europäischen Regelungen für Deutschland
besser zu gestalten, statt zu versuchen, sie zu verhindern.
Dieser Antrag soll dazu dienen. Er ist proeuropäisch. Ich
freue mich auf die Diskussion.
({4})
Ich gebe Ihnen zwischenzeitlich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Aufhebung der Ankündigung eines Betreuungsgeldes - bekannt: Abgegeben wurden 537 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 231 Abgeordnete, mit Nein
haben gestimmt 297 Kolleginnen und Kollegen. Es haben sich 9 Kolleginnen und Kollegen enthalten. Damit
ist der Gesetzentwurf abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 538;
davon
ja: 232
nein: 297
enthalten: 9
Ja
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({0})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({1})
Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({2})
Hubertus Heil ({3})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({4})
Frank Hofmann ({5})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({6})
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({7})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({8})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({9})
Michael Roth ({10})
Anton Schaaf
Marianne Schieder
({11})
Werner Schieder ({12})
Silvia Schmidt ({13})
Carsten Schneider ({14})
Swen Schulz ({15})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff
({16})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Heidrun Dittrich
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({17})
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({18})
Volker Beck ({19})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({20})
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({21})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({22})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({23})
Manfred Behrens ({24})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({25})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({26})
Dirk Fischer ({27})
Axel E. Fischer ({28})
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({29})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({30})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({31})
Andreas G. Lämmel
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({32})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({33})
Bernd Neumann ({34})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({35})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({36})
Anita Schäfer ({37})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({38})
Dr. Andreas Schockenhoff
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Nadine Schön ({39})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({40})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({41})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({42})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({43})
Peter Weiß ({44})
Sabine Weiss ({45})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({46})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({47})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({48})
Michael Link ({49})
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({50})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Serkan Tören
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({51})
Enthalten
CDU/CSU
Anette Hübinger
Katharina Landgraf
Rita Pawelski
FDP
Nicole Bracht-Bendt
Sylvia Canel
Sibylle Laurischk
({52})
Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Ich gebe das
Wort dem Kollegen Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion.
({53})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema Finanzaufsicht ist wohl so etwas
wie das schwarze Loch der Koalition. Es hat viele Ankündigungen gegeben, und alles ist irgendwie verschwunden.
Ich will das Ganze ein bisschen nachzeichnen und beginne mit den Koalitionsverhandlungen am 8. Oktober
2009. Ich zitiere:
Die künftigen Koalitionäre CDU, CSU und FDP
haben sich auf ein erstes Vorhaben geeinigt: Die
Bankenaufsicht wird bei der Bundesbank konzentriert.
Mit dieser Position zur Finanzaufsicht ist SchwarzGelb in diese Koalition gestartet. Ich kann mich noch
sehr gut an Aussagen von Herrn Wissing erinnern - er ist
gerade nicht anwesend -, der im Finanzausschuss deutlich gemacht hat: Dies ist unser wichtigstes Reformvorhaben zur Regulierung der Finanzmärkte.
Wir müssen feststellen: Sie sind mit dieser Position
krachend gegen die Wand gefahren. Dieses Vorhaben,
das ich eben beschrieben habe, war schon damals falsch.
Dies haben wir als Sozialdemokraten von Anfang an
deutlich gemacht.
({0})
- Genau, andere auch.
Ich frage die Koalition: Warum gibt es eigentlich immer noch keinen Gesetzentwurf zur Finanzaufsicht? Es
gibt bisher nur einen Referentenentwurf. Zu dem nach
Ihrer Aussage wichtigsten Reformthema dieser Legislaturperiode gab es bisher nur heiße Luft.
({1})
Man kann weiterverfolgen, was dann passierte. Am
16. Dezember 2010 war sich die Koalition angeblich
über die Reform der nationalen Finanzaufsicht einig. Na
wie schön! Zehn Eckpunkte wurden der staunenden Öffentlichkeit präsentiert.
Was passierte dann? Gar nichts. Ein Jahr lang passierte gar nichts. Dann, am 13. Januar 2011, stand im
Handelsblatt unter dem Titel „Streit um Neuordnung der
Finanzaufsicht“ - ich zitiere -:
Die Koalition hat sich auf eine Reform der Finanzaufsicht verständigt, doch wichtige Fragen sind
noch nicht geklärt. Experten warnen bereits vor einem Kompetenzgerangel der Aufseher, das im Krisenfall wertvolle Zeit kosten könnte.
Jetzt sind wir wieder ein Jahr später, und ich muss
feststellen: Sie sind keinen Schritt weitergekommen.
({2})
Sie können sich innerhalb dieser Regierung offensichtlich nicht einigen. Dies ist ein eklatantes Armutszeugnis
für diese Koalition. Denn natürlich müssen Konsequenzen aus den Fehlern der Bankenaufsicht vor der Finanzmarktkrise gezogen werden; das ist ganz wichtig. Die
Rolle der BaFin muss präzisiert werden. Ihre Aufgaben
im Bereich von Aufsicht und Verbraucherschutz müssen
angepasst werden. Die Zusammenarbeit mit der Bundesbank muss präzisiert werden. Wir warten deshalb dringend auf Ergebnisse.
Ich kann vielleicht noch einmal einen nicht völlig unbekannten ehemaligen Kollegen zitieren. Er hat wörtlich
gesagt:
Ich kann es nicht nachvollziehen, wenn wir
- also Sie die notwendige Reform der Finanzaufsicht auf die
lange Bank schieben würden. … Das wäre eine ungute Situation.
So Herr Dautzenberg, ehemaliger finanzpolitischer Sprecher. - Diese ungute Situation haben Sie herbeigeführt.
({3})
Da Sie zu dem Thema nationale Aufsicht, welches
von der Regierung bearbeitet und vorgelegt werden
müsste, nichts beitragen konnten, beschäftigen Sie sich
in dem vorliegenden Antrag mit dem Verhältnis Europas
zur Bundesrepublik.
({4})
- Natürlich war es ein langer Anlauf. Aber das musste
man Ihnen noch einmal deutlich machen.
({5})
Jetzt haben Sie ein Problem. Denn die Sozialdemokraten haben einen Antrag zu Basel III und den Sparkassen eingebracht, der morgen diskutiert wird. Dabei geht
es um das, was Sie hier eben angesprochen haben,
({6})
nämlich um das Verhältnis der deutschen zur europäischen Aufsicht.
({7})
Dann haben Sie sich schnell überlegt, was Sie machen,
({8})
und sich dafür entschieden, einen eigenen Antrag einzubringen. Das will ich nicht kritisieren. Denn es ist nicht
schlecht, wenn es der Opposition gelingt, die Regierungsfraktionen vor sich herzutreiben.
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann stellt
man fest: Sie haben teilweise von uns abgeschrieben. Da
kann man sich nicht beklagen; die Quelle ist dann sicherlich richtig. Konrad Adenauer hat ja zu Recht gesagt:
Man soll niemanden daran hindern, klüger zu werden.
({9})
In Ihrem Antrag beschäftigen Sie sich mit dem Verhältnis zwischen der europäischen und der nationalen
Aufsicht. Ich stelle für uns fest: Wir begrüßen ausdrücklich die Reform des europäischen Aufsichtssystems.
Diese war überfällig. Grenzüberschreitend agierende
Banken müssen auch grenzüberschreitend überwacht
werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Dieses europäische Finanzsystem hat seine Arbeit am
1. Januar 2011 aufgenommen. Daher ist es nachvollziehbar, dass es auch nach über einem Jahr - verallgemeinernd würde man es so sagen - noch an vielen Punkten
quietscht und klemmt. Das gilt für die Ausgestaltung der
Arbeit - wer ist wofür zuständig? - und besonders für
die Zusammenarbeit mit den nationalen Aufsehern.
Sie haben es zu Recht gesagt: Da muss man seine
Claims abstecken und die Ellbogen ausfahren. Da
kommt es zu Problemen. - Aber wir müssen ganz klar
feststellen: Wir fordern, dass die mikroprudentielle Aufsicht auch in Zukunft von den nationalen Aufsichtsbehörden wahrgenommen wird; das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Es muss ebenso eine abgestufte Aufsichtsdichte erhalten bleiben. Was heißt das? Die Risikostufe des beaufsichtigenden Instituts muss beachtet werden. Es kann
nicht sein, dass SIFIs, also große international agierende
Banken, genauso behandelt werden wie eine kleine kommunale Sparkasse. Hier muss entsprechend differenziert
werden.
({10})
Wir hatten gehofft, dass Sie in Ihren Formulierungen
Konkretes von der Bundesregierung fordern. Aber diese
Hoffnung war vergeblich.
({11})
Wir diskutieren hier im Bundestag viele Anträge, aber
selten gibt es im Forderungsteil eines Antrags eine solche Ansammlung von Plattitüden und Gemeinplätzen
wie hier. Ich darf einmal zwei zitieren. Da wird gefordert, „darauf zu achten, dass die mit dem aufsichtlichen
Meldewesen verbundene bürokratische Belastung der
Finanzinstitute nicht außer Verhältnis zu dem mit dem
Meldewesen angestrebten Zweck steht“.
({12})
- Ja, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Da werfen
Sie aber schwer mit Wattebäuschchen.
({13})
Ich würde von Ihnen verlangen, dass Sie klare Forderungen in Richtung Bundesregierung stellen
({14})
und nicht in dieser allgemeinen Form formulieren „darauf hinzuwirken, dass die Arbeit des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken effektiv und transparent
gestaltet wird“. - Mein Gott!
({15})
- Das finde ich auch. Es ist wirklich eine grandiose Forderung. Man stelle sich vor, dieser Ausschuss würde
ineffektiv und intransparent arbeiten! Grauenvoll!
({16})
Wir als Sozialdemokraten hatten, als wir das gelesen
haben, ein kleines Problem. Wir haben nämlich beim
besten Willen keinen Grund gefunden, diesen Antrag in
der allgemeinen Form abzulehnen.
({17})
Wenn wir das ganze Thema etwas konkreter diskutieren
wollen, dann können wir das morgen tun, wenn wir uns
mit unserem Antrag zu diesem Thema befassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob wir diesen
Antrag beschließen oder ob in China ein Sack Reis
umfällt, ist völlig egal.
({18})
Damit aber die Reissäcke in China stehen bleiben können, werden wir dem Antrag zustimmen.
Ganz herzlichen Dank.
({19})
Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn ich jetzt etwas mehr Zeit als die sechs
Minuten hätte, Herr Kollege Zöllmer, dann würde ich
noch einmal die einzelnen Stationen aufzeigen, die uns
in diese Situation gebracht haben,
({0})
für die Sie Verantwortung tragen. Aber da ich nur sechs
Minuten habe, möchte ich viel lieber über unseren guten
Antrag sprechen.
Es ist schon gesagt worden: Eine ganz große Lehre
aus der Krise, in der wir uns befinden, ist, dass wir die
Aufsicht europäisch gestalten müssen, weil wir europäische Finanzstrukturen und Verflechtungen haben. Deswegen hat die Bundesregierung aktiv daran mitgewirkt,
darauf hingewirkt, dass das Europäische Finanzaufsichtssystem installiert wurde und seine Arbeit aufgenommen hat.
Auch in anderen Fällen hat die Bundesregierung bei
entscheidenden regulatorischen Maßnahmen vorn an der
Front gestanden, wenn es nämlich darum ging, die Dinge
zu regeln, zum Beispiel beim Thema Banken-Restrukturierungsgesetz, beim Thema Leerverkäufe, beim Thema
Selbstbehalt bei Verbriefungsverkäufen.
Aber obwohl das mit der europäischen Finanzaufsicht
ganz gut angelaufen ist, gibt es immer noch das eine
oder andere, wo Bedenken bestehen. Es holpert etwas.
Der Motor läuft noch nicht ganz rund. Diese Probleme
greifen wir mit dem Antrag auf und sagen der Bundesregierung, auf welche Punkte sie ein besonderes Augenmerk richten soll.
Wir gehen dabei davon aus, dass es ein einheitliches
Leitbild gibt, was da heißt: gleiches Geschäft - gleiche
Regeln. „Gleiches Geschäft“ bedeutet in dem Fall: Wenn
eine Organisation eine Bank, eine Versicherung oder ein
Wertpapierinstitut ist, dann gelten für die jeweilige
Organisation alle entsprechenden Regeln; sonst könnte
man beispielsweise auch auf eine andere Idee kommen.
Ein Vergleich: Jemand im Gastronomiebereich etwa
könnte sagen: Ich habe ein besonders hochwertiges Restaurant. Ich verwende keine Risikolebensmittel. Ich habe
einen ganz besonderen Kundenkreis. Deswegen gehe ich
sehr sorgfältig mit allem um. Da müssen die Hygienevorschriften für mich nicht gelten - anders als möglicherweise bei der grenzüberschreitend tätigen Imbisskette.
Das soll aber eben nicht sein. Die Regeln gelten für
alle gleich. Die Frage ist nur, wer häufiger und intensiver
kontrolliert wird, und das ist die Frage, um die es sich
hier im Kern dreht.
Es gibt in der Branche natürlich eine Sorge bzw. eine
Verunsicherung darüber, ob jetzt aus Europa, aus London, aus Paris oder vielleicht aus Frankfurt - die europäische Versicherungsaufsicht sitzt ja in Frankfurt; aber
das wird in Deutschland wahrscheinlich niemanden
schrecken, außer vielleicht einen Nordhessen wie mich kontrolliert wird,
({1})
ob es mehr Bürokratie gibt, was mit den deutschen
Besonderheiten passiert und wie man sich rechtlich wehren kann, wenn so eine EU-Behörde auf ein Institut
zukommt.
Diese Bedenken greifen wir mit dem vorliegenden
Antrag auf. Denn es gibt natürlich Besonderheiten in
unserem Markt. Wir haben das bewährte Drei-SäulenModell; wir haben bestimmte Formen der Trägerschaft,
die im EU-Raum nicht ganz so bekannt sind. Wir haben
im Versicherungsbereich eine breit gefächerte Struktur
von mittelständischen Versicherungen, die eben auch
Vorteile für den Konsumenten bietet: Es gibt einen Wettbewerb, es gibt bestimmte Spezialangebote und eben
keinen Einheitsbrei von nur drei, vier, fünf oder auch
zehn großen Versicherungen.
Es besteht eine berechtigte Sorge mit Blick auf die
Frage, ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen
Behörden auch immer das richtige Verständnis für diese
Besonderheiten haben. Wir haben dafür zwei Lösungsansätze: Zum einen ermutigen wir unsere guten und
bewährten Aufsichtsinstitute, die BaFin, die Bundesbank, ihr Know-how noch deutlich stärker als bisher in
das Europäische Finanzaufsichtssystem einzubringen.
Zum anderen sagen wir: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns gerade im Hinblick auf diese Fragen in
Europa personell noch stärker aufstellen als bisher, zum
Beispiel indem wir geeignete Kandidaten identifizieren,
sie qualifizieren und sie dann auch auf den entsprechenden Positionen unterbringen. Das muss optimiert werden.
Es gibt darüber hinaus die Sorge, dass willkürlich
Recht gesetzt wird. Es gab die Erfahrung mit dem EBAStresstest. Wir meinen, dass man darauf achten muss,
dass Rechtsetzung wirklich nur dann an eine nachgeordnete Behörde - nichts anderes ist es ja - delegiert wird,
wenn es um technische Standards geht, und nicht, wenn
es etwa um die Politik geht, auf die es ankommt. Hier ist
eine demokratische Legitimation notwendig. Ich ermuntere auch unsere Kollegen in den Parlamenten in Straßburg bzw. Brüssel, darauf zu achten, dass man ihnen da
nichts aus der Hand nimmt.
Wir wollen darüber hinaus regelmäßig evaluieren,
inwieweit diese Rechtsetzungsakte tatsächlich notwendig sind, ob man da eventuell nachsteuern muss.
Eine weitere große Sorge - ich sagte es schon betrifft die Frage, wie man sich rechtlich wehren kann.
Es ist verständlich, dass sich eine kleinere Volksbank
möglicherweise darüber Gedanken macht, wie sie sich
gegen Maßnahmen einer EU-Behörde wehren kann. Der
Weg bis zum Europäischen Gerichtshof nach
Luxemburg erscheint sehr weit. Deswegen fordern wir
die Bundesregierung auf, zu prüfen, inwieweit man die
Rechtshilfemöglichkeiten näher zu den Betroffenen
bringen kann.
Wir stehen zum Europäischen Finanzaufsichtssystem;
wir haben es mit dieser Bundesregierung initiiert. Wir
unterstützen die Bundesregierung aktiv dabei, es weiter
zu optimieren, weil wir seinen Erfolg wollen. Um diesen
Erfolg zu erreichen, müssen wir mögliche Akzeptanzprobleme beseitigen. Das tut und will dieser Antrag.
Herzlichen Dank.
({2})
Der Kollege Dr. Axel Troost hat das Wort für die
Fraktion die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag ist mit dem Titel „Europäische Finanzaufsicht stärken“ überschrieben. Wenn man sich aber den
Inhalt des Antrags anschaut, dann stellt man fest, dass
alles Mögliche relativiert wird und Aufsichtstätigkeiten
eher eingeschränkt werden. Deswegen stellt sich für
mich schon die Frage, was Sie denn nun wollen: Wollen
Sie die europäische Finanzaufsicht stärken, oder sehen
Sie darin eher eine Bedrohung für die national unterschiedlich ausgeprägten Finanzsysteme?
Ich bin ganz bei Ihnen, wenn die Zielsetzung ist, dass
die Europäische Bankaufsichtsbehörde, EBA, für eine
kleine Sparkasse im Schwarzwald nicht dieselben Maßstäbe anlegen darf wie für die Deutsche Bank oder für
französische oder britische Großbanken. Aber das tut sie
ja auch nicht. Die Sparkassen und Volksbanken waren
beim Bankenstresstest der EBA völlig zu Recht nicht auf
dem Prüfstand.
Ich habe den Eindruck, dass Sie ein grundsätzlich
richtiges Anliegen an der falschen Stelle viel zu spät vertreten. Das Problem ist nicht primär eine europäische
Finanzaufsicht, die zu wenig zwischen lokalen Volksbanken und globalen Investmentbanken unterscheidet.
Das Problem ist vielmehr eine europäische Finanzmarktregulierung - Stichwort Basel III oder CRD IV -, wo
weitgehend gleiche Spielregeln für diese so unterschiedlichen Bankentypen festgeschrieben werden. An dieser
Stelle haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, und Ihre Bundesregierung eher geschlafen.
({0})
Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, für die Sparkassen
und Genossenschaftsbanken bei den europäischen Verhandlungen, zum Beispiel zu Basel III, eine andere
Behandlung auszuhandeln. Genau dies ist sträflich versäumt worden.
({1})
Es ist zwar positiv, wenn Sie dieses Versagen jetzt
implizit eingestehen und nun versuchen, bei der Regulierung Veränderungen herbeizuführen, um das wiedergutzumachen. Es ist aber die falsche Stelle.
Mir fällt zudem auf: Ihr Antrag macht insgesamt
Stimmung gegen das Europäische Finanzaufsichtssystem und insbesondere gegen die Bankenaufsicht. Ich
kann zwar die Kritik an der EBA nachvollziehen, dass
der europäische Bankenstresstest nicht glücklich verlaufen ist und man sich wie ein Elefant im Porzellanladen
verhalten hat, aber das ist nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke. Die EBA ist selbstbewusst aufgetreten und hat den Großbanken - nicht den Sparkassen einen gehörigen Schreck eingejagt. Es ist genau das Auftreten, das wir aus meiner Sicht brauchen.
Wenn die Öffentlichkeit und auch die Banken den
Eindruck haben, dass die Finanzaufsicht die Finanzinstitute nur mit Samthandschuhen anfasst und mit Wattebäuschchen um sich wirft, dann läuft hier etwas schief.
({2})
Die Großbanker haben uns die teuerste Finanz- und
Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit eingebrockt. Trotz
vieler Aufseher werden sie nach wie vor vorsichtig
behandelt. Auch die Politik scheint sich immer zu entschuldigen, wenn es darum geht, Regulierungen endlich
vernünftig zu gestalten. Wir sollten froh sein, wenn die
Bankenaufsicht hier vernünftig handelt. So verschafft
man sich Respekt gegenüber der Branche, und man lehrt
der Branche an der einen oder anderen Stelle auch das
Fürchten.
Genau das brauchen die Großbanker: Sie sollen sich
ruhig vor einer strengen Finanzaufsicht fürchten.
({3})
Leider steht davon nichts in Ihrem Antrag, im Gegenteil.
Deswegen werden wir ihn ablehnen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir über die europäische Finanzaufsicht sprechen,
ist es wichtig, sich klarzumachen, warum wir sie brauchen. Es gibt hier einen Zielkonflikt, den man als das Trilemma der internationalen Finanzaufsicht bezeichnet,
und zwar gibt es drei Dimensionen, von denen man nur
zwei erreichen kann. Das sind die Stabilität des internationalen Finanzsystems, globale Finanzinstitute und
nationale Aufsichtsbehörden. Das kann zusammen nicht
funktionieren. Das können Sie im letzten Jahresgutachten
des Sachverständigenrates nachlesen. Dort steht - ich
zitiere -:
Wenn von wirtschaftspolitischer Seite ein stabiles
internationales Finanzsystem mit global tätigen
Finanzinstituten gewollt ist, dürfen Länder nicht
weiter auf der Souveränität der nationalen Aufsichtsbehörden beharren.
Und weiter heißt es:
Auf europäischer Ebene bedeutete dies die Schaffung einer umfassenden europäischen Finanzaufsicht mit sämtlichen Kompetenzen für global tätige
Finanzinstitute.
Genau das ist die Forderung von uns Grünen. Im
Gegensatz dazu schreiben Sie in Ihrem Antrag, es gebe
eine nicht ausreichende Beschränkung der Aufsichtstätigkeit der europäischen Finanzaufsichtsbehörden auf
ihre harmonisierende Funktion. Dazu schreibt der Sachverständigenrat, dass das der Versuch ist, die drei
Dimensionen mit der Harmonisierung zu verknüpfen.
Das muss natürlich scheitern. An dieser Stelle gibt es einen Dissens. Es ist keine gute Struktur, dass wir eine
Harmonisierung der Aufsicht für große wie für kleine
Banken anstreben. Bei großen Banken, die grenzüberschreitend tätig sind, brauchen wir eine knackige europäische Finanzaufsicht. Bei kleinen Banken, die nur regional tätig sind, ist es richtig, dass sie der Zuständigkeit
der nationalen Aufsichtsbehörde unterstehen. Das muss
man nicht von London aus machen.
({0})
An dieser Stelle ist es wichtig, sich noch einmal die
Unterschiede in der Größenordnung deutlich zu machen.
Auf der einen Seite steht beispielsweise die Volksbank
Mannheim-Sandhofen: 55 Mitarbeiter, Bilanzsumme etwa
200 Millionen Euro. Auf der anderen Seite steht ein
Konzern in der Größenordnung der Deutschen Bank: Bilanzsumme etwa 2 Billionen Euro, 10 000-mal größer,
etwa 100 000 Mitarbeiter, davon 8 500 in London.
Wie wollen Sie diese globalen Aktivitäten von
Deutschland aus sinnvoll beaufsichtigen? In London
sitzt keine Handvoll Aufseher der britischen Finanzaufsicht, die hierfür zuständig sind. Genau deswegen ist es
richtig, eine knackige europäische Finanzaufsicht zu haben.
({1})
Das Problem ist, dass sich die Bundesregierung in Brüssel dagegen ausgesprochen hat. In Ihrem Antrag wollen
Sie die Aufsichtstätigkeit auf eine harmonisierende
Funktion beschränken; aber Sie verweigern die direkten
Durchgriffsrechte auf die globalen Finanzinstitute.
({2})
Sie verweigern den Finanzaufsichtsbehörden genau die
Rechte, die sie hierfür brauchen. Hier liegt der Dissens.
({3})
- Deswegen habe ich ja genau zitiert. Sie sagen: Der
Bundestag ist besorgt, dass die Aufsichtstätigkeit der
ESAs nicht ausreichend auf die harmonisierende Funktion beschränkt ist. Sie schreiben überhaupt nichts zu
den stärkeren direkten Durchgriffsmöglichkeiten, die jedoch notwendig sind. Die Differenzierung zwischen
kleinen und großen Banken, die wir brauchen, nehmen
Sie an dieser Stelle gerade nicht vor.
An einer Stelle können wir dem Antrag aber zustimmen: Wir müssen dafür sorgen, dass die Kontrolle durch
das Parlament verstärkt wird. Es kann nicht sein, dass
Aufsichtsbehörden ein Eigenleben entwickeln. Wir Grünen setzen uns deswegen auf europäischer Ebene dafür
ein, dass die Kontrolle durch den Rat und insbesondere
durch das Parlament verstärkt wird. Jede Aufsichtsbehörde - das gilt für die Aufsichtsbehörden in Deutschland wie auch für die europäischen - braucht eine klare
Kontrolle durch demokratisch legitimierte Institutionen.
Das ist extrem wichtig.
Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung machen. Ich finde es schade, dass die Koalition erneut einen
Antrag zu europäischen Fragen vorlegt, bei dem nicht
versucht wurde, eine gemeinsame Position zu formulieren. Früher hatten wir immer wieder den Versuch unternommen, uns als Fraktionen zu europäischen Fragen gemeinsam aufzustellen. Vielleicht hätte das auch in dieser
Frage gelingen können, zumindest zu einer Reihe von
Punkten. Sie haben es nicht einmal versucht.
Ich würde mich freuen, wenn wir es in Zukunft wieder schaffen könnten, bei europäischen Fragen im
Finanzausschuss zu prüfen, ob der Bundestag nicht mit
einer gemeinsamen Stimme entscheidende konsensfähige Punkte anstoßen kann.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Peter Aumer spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren eines der großen Themen unserer Zeit, nämlich die Frage, wie die Finanzmärkte effektiv oder - wie Sie es sagen, Herr Dr. Schick - knackig
reguliert werden können.
Die Bundesregierung hat die Konsequenzen aus der
Krise gezogen und hat auf europäischer Ebene bei der
Umsetzung einer effektiven europäischen Finanzaufsicht
mitgewirkt. Vor allem hat sie Wert darauf gelegt, dass eines der tragenden Prinzipien Europas und unserer Gesellschaft, das Subsidiaritätsprinzip, beachtet wird. Für
uns als christlich-liberale Koalition ist es ganz wichtig,
dass man auf europäischer Ebene einheitliche Regelungen trifft, die auch greifen. Dennoch dürfen die nationalen Eigenheiten nicht vergessen werden. - Deshalb unser
Antrag.
Wir unterstützen selbstverständlich die Arbeit der neu
geschaffenen europäischen Aufsichtsbehörden. Wir wollen aber auch, dass dabei die deutschen Eigenheiten berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang muss
man den Zielkonflikt, den Sie, Herr Dr. Schick, angesprochen haben, selbstverständlich beachten. Man kann
nie alle Ziele gleichzeitig im Auge haben; es gilt ganz
klar auszutarieren.
({0})
Zielkonflikte wird es immer geben; diesen Konflikt
muss man aber so lösen, dass man den deutschen Eigenheiten, vor allem unserem dreigliedrigen Bankensystem,
nicht den Boden unter den Füßen wegzieht.
({1})
Herr Dr. Troost, wir haben in unserem Antrag sehr
klar dargelegt, was wir wollen. Ich glaube, Sie haben
den Antrag nicht wirklich gelesen. Auch in Bezug auf
Basel III haben Sie uns vorgeworfen, wir würden nicht
so verhandeln, dass unsere deutschen Eigenheiten - das
geht wieder in diese Richtung - berücksichtigt werden.
Da gibt es schon einmal einen Konflikt zwischen den
Linken und den Grünen.
({2})
Eigenheiten müssen beachtet werden - das ist ganz klar -,
damit wir den Weg unseres Bankensystems gemeinsam
erhalten können.
Dann kommt Herr Zöllmer mit seinem „schwarzen
Loch“. Ich kann kein schwarzes Loch erkennen. Vielleicht war es nur in Ihrer Rede, Herr Zöllmer. Mit Blick
auf die innerdeutschen Angelegenheiten haben wir eine
Regelung gefunden, die im Moment beraten wird und im
Sommer sicherlich kommen wird.
({3})
Sie von der SPD sagen, Sie hätten von Anfang an gewusst, wie man richtig reguliert; ich habe es mir extra
aufgeschrieben. Dann frage ich mich schon: Wie konnte
es zu dieser Krise kommen? Sie haben lange Zeit vor der
Krise die Regierung gestellt und hätten in dieser Zeit
eine Finanzaufsicht auf den Weg bringen können, die effektiv arbeitet und auch mit Blick auf Europa einen guten Weg einschlägt. Da würde ich um ein bisschen mehr
Bescheidenheit bitten. Man hätte von Anfang an etwas
tun können.
({4})
- Ja. Aber vorausschauende Politik bedeutet natürlich
auch, dass man rechtzeitig Lösungen auf den Weg
bringt, die tragen.
Wir haben vorausschauend einen Finanzkongress geplant - schon lange Zeit vor Ihrem Antrag zu Basel III,
der morgen diskutiert wird -, genau zu dem Thema des
heutigen Antrags: „Europäische Finanzaufsicht stärken
und effizient ausgestalten“, aber die Eigenheiten
Deutschlands berücksichtigen. Das ist lange vor Ihrem
Antrag diskutiert worden. Auch da sollte man vielleicht
ein bisschen bescheidener sein und nicht immer nur die
eigenen Dinge nach vorne stellen. Wir haben ganz bewusst ein Thema gewählt, das wichtig ist. Ich glaube,
man muss dieses wichtige Thema gemeinsam diskutieren.
Herr Dr. Schick, wenn Sie mir nicht den Rücken zukehren würden, dann würde ich Sie darin unterstützen,
dass man bei solchen wichtigen europäischen Themen
gemeinsame Wege gehen muss. Es ist für uns alle wichtig, dass man einen starken Aufsichts- und Regulierungsrahmen für Europa findet, der die deutschen Eigenheiten berücksichtigt.
({5})
Im Zusammenhang mit der Finanztransaktionsteuer hat
der Herr Minister heute früh ganz klar den Weg genannt.
({6})
Sie müssen ab und zu ein bisschen aufpassen, damit man
bei diesen Themen gemeinsam in eine gute Zukunft gehen kann. Sie wollen eher den Konflikt herbeireden, als
gemeinsam eine Lösung für Europa zu finden. Es muss
uns einmal bewusst werden - ich denke mir das bei vielen Diskussionen in diesem Haus -, dass von Ihnen
keine konstruktiven Vorschläge kommen, etwa wenn ich
mir die Debatte heute Morgen zum Fiskalpakt und zum
Stabilitätsmechanismus vor Augen führe. Da muss man
konstruktive Beiträge leisten, um Europa in eine gute
Zukunft zu führen.
({7})
- Na ja.
Herr Zöllmer, Sie haben gesagt, dass wir keine klaren
Forderungen gestellt haben. Wenn Sie unseren Antrag
genau gelesen hätten - ich habe ihn hier -, dann hätten
Sie gesehen: Darin wird in acht Punkten mit klaren Forderungen sehr ausdrücklich dargelegt,
({8})
wie wir es haben wollen: eine starke Aufsicht in Europa,
die die individuellen Aspekte Deutschlands mit berücksichtigt. Da ist die Dreigliedrigkeit unseres Bankensystems ein zentrales Thema. Wir wollen unser Netz regionaler Banken nicht noch stärker mit Bürokratie und
Anforderungen belasten, die eher die global agierenden
Banken zu erfüllen haben. Das ist ein wesentlicher
Punkt, auf den wir mit diesem Antrag aufmerksam machen wollten. Bürokratische Belastungen sollen nicht
überbordend sein.
Ein wichtiger Punkt, der heute noch nicht angesprochen wurde, ist, auch deutsches Personal in diese Institutionen zu bringen; deutsches Denken ist gerade im Finanzbereich ganz wichtig.
({9})
Wir fordern die Bundesregierung dazu auf. Hätten Sie es
doch angesprochen und dem Staatssekretär mit auf den
Weg gegeben!
({10})
- Der passt schon auf. Der Herr Staatssekretär kann beides zugleich: Zuhören und Tippen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
eine gute Lösung für die Finanzaufsicht in Europa gefunden. Wir gehen einen Weg, bei dem aber auch die
deutschen Interessen verwirklicht und berücksichtigt
werden. Deswegen bitte ich Sie, diesen Antrag zu unterstützen,
({11})
damit wir gemeinsam in eine gute Zukunft gehen, mit
stabilen Finanzen und einer guten Finanzaufsicht. Herzlichen Dank für die Zustimmung. Ich wünsche mir bei
Europafragen weiterhin ein gutes Miteinander.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksa-
che 17/9151 mit dem Titel „Europäische Finanzaufsicht
stärken und effizient ausgestalten“. Wer stimmt für die-
sen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch CDU/CSU,
FDP und SPD angenommen. Dagegen haben die Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt.
Enthaltungen gab es keine.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Edelgard
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ({1}) weiterentwickeln und mitge-
stalten
- Drucksachen 17/7360, 17/8507 -
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
und Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU wirksam kontrollieren
- Drucksachen 17/5387, 17/8807 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dietmar Nietan
Dr. Rainer Stinner
Dr. Frithjof Schmidt
Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Joachim Spatz für die FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Drei große Linien zeichnen sich als Herausforderungen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
ab. Die eine ist die multipolare Welt, die Neudefinition
von Beziehungen zu aufstrebenden Mächten, die zweite
Linie ist, dass wir erkennen müssen, dass wir in Zukunft
sehr viel stärker zivile Aspekte der Sicherheitspolitik
werden betonen müssen, und der dritte große Bereich ist
die europäische außen- und sicherheitspolitische Integration.
Wir haben in Bezug auf die außen- und sicherheitspolitische Integration der EU - wie in manchen anderen
Feldern - einen eher technokratischen Ansatz. Es wird
versucht, über technische Integration und über Versuche
der gemeinsamen Beschaffung bis hin - um das erfolgreichste Modell zu nennen - zur Integration der strategischen Lufttransporteinheiten mehr Kooperation und
mehr Gemeinsamkeiten zu etablieren, aus dem Bewusstsein, dass die Mittel für Verteidigung in Europa beschränkt sind und in dem Gedanken, dass wir mit mehr
Kooperation letztendlich Einsparpotenziale realisieren,
die wir anders nicht heben können.
Leider sehen wir auch bei den erfolgreichen Modellen, dass irgendwann eine Grenze erreicht ist. Wir haben
gestern im Verteidigungsausschuss das Thema angesprochen, ob wir bei der erfolgreichen Integration von Lufttransporteinheiten nicht irgendwann einmal daran denken könnten, nicht nur Flugzeuge, sondern auch
Hubschrauber zu integrieren. Aber man sieht schon: Je
näher sie an die „Front“ herankommt, je näher sie an den
Kriegseinsatz herankommt, desto schwieriger wird die
Integration, weil wir an einen Punkt kommen, an dem
die politische Integration gefragt ist.
Das ist aus unserer Sicht die Herausforderung, der wir
uns jetzt stellen müssen. Im Endeffekt haben wir uns als
Europäer viel zu lange um diese Fragen herumgedrückt.
Immer dann, wenn es zu Treffen und zu den wirklich
harten Entscheidungen kam, hat man wieder die alten
Reflexe in den nationalen Hauptstädten registrieren müssen. Das müssen wir endlich überwinden, um die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik voranzubringen.
Wir als Deutscher Bundestag haben auf Vorlage der
Koalitionsfraktionen eine Resolution zu einer parlamentarischen Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union verabschiedet, die vorsieht, dass sich die nationalen Parlamente mit
dem Europäischen Parlament zusammensetzen sollen,
das gerade im zivilen Bereich - ich betonte bereits die
steigende Notwendigkeit - eine starke Rolle spielt und
auch spielen sollte. Das kann eine Unterstützung sein für
das, was die Regierungen an Bemühungen an den Tag
legen, um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf europäischer Ebene zu formulieren.
Da ich vor Frau Cramon-Taubadel reden muss,
möchte ich folgenden Aspekt aufgreifen. Sie haben gestern in der Ausschusssitzung gesagt, dass es auf die
Größe der Delegation gar nicht ankomme, weil das ohnehin - das sei ein Erfahrungswert aus anderen parlamentarischen Versammlungen - sehr spärlich genutzt
werde. Frau Cramon-Taubadel, ich kann Ihnen nur sagen: Wer mit einem solchen Ansatz herangeht, hat die
Dimension des Problems nicht verstanden.
({0})
Wenn wir das so machen wie in anderen parlamentarischen Versammlungen, dann werden wir dieser Herausforderung nicht gerecht. Wer schon jetzt skeptisch ist, ob
wir - wie alle anderen - das erkennen, und kleine Brötchen bäckt, der wird das Thema verfehlen.
Der Druck wird noch wachsen. Die Amerikaner haben öffentlich mehrfach angekündigt, dass sie ihre
Schwerpunkte verlagern werden, und zwar in den pazifischen Raum. Da ist es völlig unausweichlich, dass auf
die Europäische Union ein Mehr an Herausforderungen
zukommen wird - im zivilen Bereich, aber auch im militärischen Bereich. Deshalb ist hier ein Mehr an Integration notwendig. Ich bezweifele aber nachhaltig, dass das
gelingen wird, wenn wir es nur den Regierungen überlassen, so wichtig die Exekutive hier ist. Ich glaube, dass
die Formulierung des europäischen Gemeinwohls in der
Außen- und Sicherheitspolitik mehr sein muss als die
Summe von nationalen Interessen.
({1})
Ich glaube, hier müssen die Parlamentarier, die dafür
Verantwortung tragen, entsprechend eine Mitgestaltungsmöglichkeit haben. Wenn das gewährleistet ist,
dann können wir auf der sachlichen Ebene gerne über
die nächsten Integrationsschritte reden, Kolleginnen und
Kollegen von der SPD.
Aber die Conditio sine qua non für die harten Themen, für den konkreten Einzelfall, bei dem der Deutsche
Bundestag gegebenenfalls eine Zustimmung für einen
Auslandseinsatz gibt, klären wir nicht auf administrative
und nicht auf technokratische Art und Weise, sondern
mit einem neuen Integrationsschub auf politischer Ebene
zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. So
werden wir wirklich vorankommen.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin dem Kollegen Spatz dankbar dafür, dass er nicht
das Hohelied der Erfolge der Bundesregierung gesungen
hat, sondern etwas Neues in die Debatte geworfen hat,
worüber wir einig sind: Wir wollen eine Parlamentarisierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union, weil sie ein Motor sein
kann, die Fortschritte zu erreichen, die wir bisher vermissen.
({0})
Auch diese Bundesregierung war nämlich nicht in der
Lage, sie wirklich anzustoßen. Aber wir wollen mehr
Europa in der Verteidigungs- und der Sicherheitspolitik.
Erstens. Warum brauchen wir das? - Wir leben nicht
mehr in einer bipolaren Welt, sondern wir leben heute in
einer multipolaren Welt. Europa soll einer der starken
Pole in dieser Welt sein, nicht Deutschland, nicht Frankreich, nicht Großbritannien, nicht Italien, nicht Spanien,
nicht Polen, sondern ein gemeinsames Europa, das wir
politisch schon geschaffen haben. Es gibt die Europäische Union in vielen Bereichen, aber außenpolitisch ist
sie noch schwach.
Zweitens. Wir erleben die neue amerikanische Sicherheitspolitik als eine Politik, die sich vielleicht nicht von
Europa abkehrt, die aber Europa aus gutem Grund nicht
mehr als ersten Adressaten für ihre Besorgnisse, aber
auch nicht mehr für ihre Bündnisse sieht, sondern sich
dem pazifischen Raum zuzuwenden scheint. Auch deshalb wird es für Europa wichtiger, sich um seine eigenen
Angelegenheiten zu sorgen. Wir werden uns nicht mehr
darauf verlassen können, dass die Amerikaner immer in
die Bresche springen oder dass sie dies gemeinsam mit
der NATO tun. Wir brauchen auch die EU als einen eigenständigen sicherheitspolitischen Akteur.
Drittens. Warum brauchen wir mehr Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik? - Wir brauchen sie,
weil wir alle die gleichen Probleme haben. Wir haben
die gleichen, zum Teil veralteten militärischen Strukturen, die reformiert werden. Wir haben die gleichen Einsätze zu bestehen, nämlich auf dem Balkan, am Horn
von Afrika, letztlich weltweit. Wir haben in allen europäischen Ländern die gleichen beschränkten Haushaltsmittel. Das heißt, eine Zusammenarbeit kann uns stärker
machen. Ich sehe kein anderes Mittel, um stärker zu werden. Wir werden nicht mehr Geld ausgeben als jede einzelne Nation, sondern wir werden durch Zusammenarbeit effizienter werden müssen. Aber da hat die jetzige
Bundesregierung eine Chance vertan.
Der verflossene Verteidigungsminister zu Guttenberg
hat vor der Verkündung der Ergebnisse der Bundeswehrreform als Anspruch sehr richtig formuliert:
Wir müssen jetzt handeln; es ist die Stunde Europas, das Bekenntnis zur europäischen Verteidigung
muss mehr sein als ein Lippenbekenntnis.
Im gleichen Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung fuhr er fort:
Wie können bestehende Redundanzen abgebaut
werden? Was sind militärische Kernfähigkeiten, die
weiterhin rein national bereitgestellt werden sollen?
Auf welche Fähigkeiten können wir in Zukunft verzichten, weil sie besser von anderen Partnern erfüllt
werden können?
Gute Fragen. Die neue Struktur, das neue Reformkonzept des Nachfolgers de Maizière gibt darauf aber keine
Antwort. Das ist eine rein nationale Reform. Genauso
führen die Briten und die Franzosen rein nationale Reformen ihrer Streitkräfte durch. Wir müssen spätestens
beim nächsten Mal - das soll keine Drohung sein - zu
europäischeren Lösungen kommen.
Wir Sozialdemokraten haben als, ich glaube, erste
Partei in Europa in unserem Grundsatzprogramm das
Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee formuliert.
({1})
- Auch im Grundsatzprogramm?
({2})
- Sie haben ein Grundsatzprogramm?
({3})
Das Grundsatzprogramm der FDP ist der Koalitionsvertrag. Das lerne ich jetzt und bin erfreut darüber, dass wir
einer Meinung sind.
({4})
Ich wollte eigentlich eine noch größere Autorität zitieren, die Frau Bundeskanzlerin, die sich sozialdemokratische Programmsätze immer gern zu eigen macht.
Bei der Verleihung des Karlspreises an den polnischen
Regierungschef Tusk in Aachen hat sie gesagt:
Und jenseits des Ökonomischen wagen wir vielleicht nach der gemeinsamen Währung weitere
Schritte, zum Beispiel den zu einer gemeinsamen
europäischen Armee.
Das steht bei uns im Programm, aber recht hat sie natürlich.
({5})
Wo steht Europa heute? Was geht schon? Kollege
Spatz hat es angesprochen. Wir diskutieren im Verteidigungsausschuss über ein gemeinsames europäisches
Lufttransportkommando. Dies ist das erste Jahr, in dem
es operativ tätig ist, und wir können sagen: Es scheint zu
funktionieren. Auch die gemeinsame Lufttransportlösung SALIS - schwerer strategischer Lufttransport, stationiert in Leipzig; hier haben sich etliche NATO-Staaten zusammengeschlossen - scheint zu funktionieren.
Das sollte man auf Dauer stellen. Die Lufthoheit über
dem Baltikum wird durch NATO-Geschwader gesichert,
weil es keinen Sinn macht, dass Staaten, die 1 Million
Einwohner haben, sich eine eigene Luftwaffe anschaffen. Das kann man gemeinsam, abwechselnd erledigen.
Es gibt ein paar Beispiele innerhalb der NATO, aber sie
sind rar. Das ist der AWACS-Verband; in Zukunft wird
vermutlich das Aufklärungssystem AGS dazugehören.
Sonst haben wir eigentlich noch nichts. Wir brauchen
neue, zusätzliche europäische Beispiele. Wir brauchen
einen starken Kern einer strukturierten Zusammenarbeit
im militärischen Bereich, auch einer technischen Zusammenarbeit.
Die Deutsch-Französische Brigade ist noch kein Beispiel dafür, wie es gehen soll. Die Tatsache, dass es sich
um eine deutsch-französische Brigade handelt, ist geradezu ein Hindernis, wenn es darum geht, sie einzusetzen.
Sie hat noch keine Aufgabe gefunden. In der neuen
Bundeswehrstruktur, die im Übrigen von Minister
de Maizière erarbeitet wurde, ist vorgesehen, dass ihre
Jägerbataillone im Falle des Einsatzes deutschen Brigaden unterstellt werden. Das entspricht gerade nicht der
europäischen Idee. Eigentlich müsste die Deutsch-Französische Brigade zum Beispiel als Reserve für das Kosovo dienen, sozusagen als ORF-Bataillon - hinter dem
Horizont -, das bei einer Lagezuspitzung eingesetzt werden kann. Das wäre eine wirkliche Funktion. Im Kosovo
haben wir erlebt, dass ein solcher Einsatz nötig werden
kann. Hier könnte die Deutsch-Französische Brigade
eingesetzt werden. Wir brauchen mehr Erfolgsgeschichten, die man weitererzählen kann. Die Brigade ist bisher
keine solche Erfolgsgeschichte.
Warum sollten wir nicht mit Polen, Dänemark oder
anderen skandinavischen Ländern gemeinsame einsatzfähige Einrichtungen schaffen? Das kann heißen, dass zu
einem Bataillon eine Kompanie aus einem anderen Land
hinzukommt. Oder eine Fähigkeit könnte in einem Land
stationiert werden, aus dem die Soldaten nicht kommen.
Das ist in Deutschland ja nicht anders: Nicht alle, die in
Schleswig-Holstein stationiert sind, kommen aus Schleswig-Holstein, und nicht alle, die in Bayern stationiert
sind, sind Bayern. Europa ist groß, aber nicht so groß,
dass man nicht hier und dort stationiert sein könnte. Insofern ist es gut, dass ein deutsches Bataillon in Frankreich stationiert sein kann, aber es ist schlecht, dass die
Franzosen ihre Stationierung in Deutschland komplett
aufgegeben haben. Dieses Stationieren in unterschiedlichen Ländern ist wichtig, um eine europäische Durchmischung herbeizuführen und das Ganze mit Leben zu erfüllen, damit man gemeinsam in Einsätze gehen kann.
Das ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen.
Wir haben in unserem Antrag einige technische Anforderungen, wie Kollege Spatz sagen würde, formuliert.
Ich glaube, diese Bedingungen sind nicht hinreichend,
aber notwendig, um weiterzukommen.
Wir brauchen ein europäisches Weißbuch. Wir brauchen eine Fortschreibung der Solana-Strategie, der europäischen Sicherheitsstrategie, die zu ihrer Zeit gut war.
Aber das war 2003; inzwischen hat sich vieles verändert.
Wir brauchen eine europäische Verteidigungsplanung.
Wir brauchen eigentlich auch eine gemeinsame europäische Rüstungsexportpolitik. Es kann nicht sein, dass wir
uns da noch Konkurrenz machen. Man müsste versuchen, sich in Europa auf die restriktiven deutschen Vorschriften zu verständigen. Dass jeder nach anderen Kriterien vorgeht, ist nicht vernünftig. Sich da Konkurrenz,
einen Unterbietungswettbewerb zu leisten - wer kann
noch ein bisschen mehr exportieren -, entspricht nicht
dem Gedanken einer Zivilmacht Europa, die wir - ich
glaube, hier sind wir uns fraktionsübergreifend einig anstreben. In unserem Antrag steht, dass die Regierung
da noch mehr tun muss. Da sind wir sicherlich einer
Meinung.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Roderich Kiesewetter für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen
zwei Anträge vor, wie sie gegensätzlicher wohl kaum
sein können. Es ist interessant, zu sehen, mit welch unterschiedlichen Ansätzen die Opposition an uns herantritt. Insbesondere der Antrag der Linken beinhaltet einige Punkte, auf die wir gar nicht weiter einzugehen
brauchen.
({0})
Ich frage mich, warum Sie fordern, militärische Einsätze
grundsätzlich abzulehnen. Schauen Sie einmal in Richtung bestimmter Einsatzgebiete wie Libyen. Sie stellen
auch fest, dass die Anzahl der Einsätze zugenommen
hat. Es kann doch nicht um die Quantität von Einsätzen
gehen. Es geht dabei um Fragen der Notwendigkeit und
um aktive europäische Gestaltungspolitik. Dies sieht
man zum Beispiel gut bei der Operation Atalanta.
({1})
In Ihrem Antrag geht es auch um parlamentarische
Kontrollrechte; Kollege Spatz hat das vorhin beeindruckend angesprochen, und auch Kollege Bartels ist darauf
eingegangen. Wir haben kein Zuwenig an parlamentarischer Kontrolle. Dieser Bundestag bestimmt über die
Einsätze wie jedes andere der 27 Parlamente auch. Jetzt
kommt es darauf an, dass man die gemeinsame Kontrolle ausübt. Wie das ausgestaltet wird, werden wir sehen. Der Bundestagspräsident hat gestern jedenfalls
überzeugend dargestellt, dass er sich dem Interesse unseres Parlaments angenommen hat. Wir warten jetzt auf
Vorschläge der polnischen Präsidentschaft. Ich glaube,
wir werden unsere deutschen Beiträge gut einbringen.
Lieber Herr Kollege Bartels, wenn Sie Ihren Antrag
so formuliert hätten wie Ihre Rede, dann sähe die Situation vielleicht etwas anders aus. Ihr Antrag ist viel düsterer formuliert als das, was Sie vorgetragen haben.
({2})
Ich denke, so pessimistisch sollte man die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik nicht sehen. Sie steht
nicht vor dem Zerfall. Vielmehr ist es die Kunst der Europäischen Union, 27 Politiken zusammenzubringen.
Dabei kommt es auch ganz wesentlich auf unseren Bundestag an.
Ich möchte einen strategischen Blick auf die GSVP
wagen. Es geht um den Dreiklang von Glaubwürdigkeit,
Vertrauen und Verlässlichkeit. Genau das macht Macht
aus. Macht ist nicht die Menge an militärischen Arsenalen, sondern Macht ist die Fähigkeit zur Kooperation.
Diese zeichnet uns Deutsche besonders aus.
({3})
Ich möchte auch sagen, dass wir diesen Teil der außenpolitischen Kultur - ich sage das als Außenpolitiker deutlicher bewerben müssen. Dann können wir auch die
Gefahr, die Sie ansprechen, Frankreichs und Großbritanniens Sonderweg, auffangen. Ich möchte das anhand von
vier Gedanken darstellen.
Erster Gedanke. Das bilaterale Vorgehen von Frankreich und Großbritannien ist sicherlich das Kernthema
für die Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aber, liebe Kollegen von der SPD,
Konzepte, die Großbritannien nicht berücksichtigen,
sind zum Scheitern verurteilt. Eine Fokussierung allein
auf das Weimarer Dreieck wird nicht reichen.
Zweiter Gedanke. Deutschland sollte sich noch stärker und proaktiver als Anlehnungspartner für andere in
der Europäischen Union profilieren. Wir sollten zusammen mit denjenigen europäischen Partnern vorangehen,
die bereits heute politisch dazu bereit sind. Diese Kooperation dürfen wir nicht als Gegensatz zum französischbritischen Vorgehen sehen, sondern wir müssen es als
Ergänzung betrachten. Aufgrund ähnlicher außenpolitischer Kulturen könnte ich mir - dies haben Sie vorhin
angesprochen - eine Kooperation mit Polen, den Niederlanden, Österreich und einigen skandinavischen Staaten
sehr gut vorstellen.
Dritter Gedanke. Unter ähnlicher außenpolitischer
Kultur - ich glaube, hier lohnt sich auch ein Blick auf
unsere Geschichte - kann der Vorrang für das Zivile und
die Art der parlamentarischen Entscheidungsfindung in
Deutschland verstanden werden. Unser behutsamer Ansatz baut insbesondere auf Verlässlichkeit und kann zu
einer größeren Bereitschaft führen, tiefere Abhängigkeiten von unserem Land einzugehen. Die Niederlande haben das bereits vorgemacht.
Ein vierter Gedanke. Auf diese Weise könnte unser
Land einen ganz zentralen Beitrag zur Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch zur
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU
leisten. Wir könnten unser Land damit zu einer Drehscheibe der europäischen Handlungsfähigkeit werden
lassen. Warum ist das so wichtig? Das ist wichtig, damit
wir auch unsere essenzielle Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika weiter ausgestalten. Deutschland könnte also verlässlicher Ansprechpartner sein, eine
Scharnierfunktion zwischen EU und NATO haben und
das, was wir bereits einbringen, deutlich weiterentwickeln. Damit könnten wir die GSVP, wenn ich diese
Abkürzung verwenden darf, erheblich dynamisieren.
Ich halte fest: Deutschland als Anlehnungspartner für
andere in Europa, Ergänzung und irgendwann vielleicht
Aufhebung der französisch-britischen Achse und damit
ihre europäische Wiedereinbindung, Behutsamkeit und
Verlässlichkeit sowie Scharnierfunktion für das Transatlantische Bündnis. Das könnte auch ein glaubwürdiger
Beitrag unseres Landes zu einer europäischen Sicherheitsstrategie sein.
Ein Letztes. Mit sehr großem Interesse habe ich die
Rede des SPD-Parteivorsitzenden, Herrn Gabriel, zur
GSVP vom 10. März dieses Jahres gelesen. Mich freut,
dass er sich für die Stärkung der GSVP einsetzt. Er geht
sogar einen erheblichen Schritt weiter: Er fordert die
Verankerung einer europäischen Armee als Staatsziel im
Grundgesetz. Hervorragende Theorie! Jetzt schauen wir
auf die Praxis. Ich würde mir wünschen, Sie würden bei
der Operation Atalanta Ihre im Verhältnis zu diesem
ganz wichtigen Vorhaben sehr kleinen Bedenken aufgeben und dieser ersten europäischen Marinemission
deutlich mehr Schwung verleihen,
({4})
statt große Theorien zu einer Verankerung als Staatsziel
im Grundgesetz zu entwickeln und sich in der Praxis,
wenn es darum geht, im Rahmen von Atalanta rasch zu
einer Lösung zu kommen, dermaßen zurückzuhalten.
({5})
Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stärken müssen. Ich
glaube auch, es gibt hier im Hause wenig Widerspruch,
wenn ich sage: Wir sollten darüber nachdenken, die parlamentarische Kontrolle zu verstärken und vor allen Dingen die Europäische Sicherheits- und VerteidigungspoliRoderich Kiesewetter
tik in ganz konkreten Projekten zusammenzuführen. Wir
sollten lieber einige wenige Projekte gut machen als eine
Vielfalt unterschiedlicher Initiativen, die weder zu kontrollieren noch in irgendeiner Weise zu finanzieren sind,
aufrechtzuerhalten.
Das schaffen wir, indem wir zum Beispiel das Baltic
Air Policing, also den Luftraumschutz über dem Baltikum, intensiver betreiben und vielleicht sogar gemeinsam durchführen, indem wir den Schutz der Außengrenzen an der Küste gewährleisten, indem wir gemeinsame
Ausbildungseinrichtungen schaffen, also auch junge
Menschen zusammenführen, und indem wir gemeinsame Hauptquartiere und gemeinsame Doktrinen entwickeln. Hier gibt es noch viel zu tun. Wir von der Union
sind mit ganzer Kraft dabei, diese Vorhaben zu unterstützen. Aber vor dem Hintergrund des erwähnten inneren
Widerspruchs - Sie formulieren große Ziele, sprechen
sogar von einer Verankerung im Grundgesetz, haben
aber im Kleinen Schwierigkeiten - haben wir noch etwas
Nacharbeit vor uns. Deswegen folgen wir der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Sevim Dağdelen das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Herr Kiesewetter, eines ist ganz deutlich geworden:
Unter Stärkung der parlamentarischen Kontrolle bei der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verstehen
Sie eigentlich nur die Durchsetzungskraft deutscher Interessen, aber nicht, eine echte parlamentarische Kontrolle
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einzurichten.
({0})
Während die Zahl der Missionen - vor allen Dingen
die der Militärmissionen im Rahmen der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch im Rahmen der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer weiter zunimmt und der Haushaltstitel für eine
global agierende Europäische Union mittlerweile milliardenschwer ist und jedes Jahr exorbitant steigt, fristet
die parlamentarische Kontrolle von GASP- und GSVPMissionen immer noch ein stiefmütterliches Dasein. Vor
diesem Hintergrund bedauert es die Linke, dass alle anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen
einen Antrag meiner Fraktion zur Etablierung einer
GASP-Versammlung mit wirklichen, echten parlamentarischen Kontrollrechten in den entsprechenden Ausschüssen unisono zurückgewiesen haben.
Im vorliegenden Antrag der SPD heißt es, die „gestalterische Kraft“ Deutschlands fehle ganz besonders „für
den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“. Sie schreiben, hier sei „seit Jahren nichts mehr
passiert“. Da fragt man sich: Wo leben Sie eigentlich?
Sie erwähnen in Ihrem Antrag doch selbst das Weimarer
Dreieck, und die Gent-Initiative zum Pooling und
Sharing ist an Ihnen offensichtlich ganz vorbeigegangen.
Im Kern geht es eben wohl doch darum, unter deutscher Vorherrschaft ein eigenständiges EU-Hauptquartier und ständig bereitstehende zivil-militärische Battle
Groups, also Kampftruppen, Schlachttruppen aufzustellen.
({1})
- Ja, so heißt das. Wie würden Sie denn „Battle Groups“
übersetzen? - Sie gehen sogar noch weiter mit der Forderung, dass Deutschland eine Vorreitergruppe beim
Ausbau gemeinsamer militärischer Fähigkeiten bilden
soll. Genau das treibt den Keil in die Europäische Union,
den Sie als tiefste Krise der EU seit ihren Anfängen
monieren.
Die Linke ist gegen eine deutsche Vorreiterrolle. Wir
wollen eine entmilitarisierte EU-Außenpolitik und ein
friedliches Europa.
({2})
Deshalb finden wir es eben auch skandalös, dass wir
gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Finanz- und
Wirtschaftskrise, während überall von Sparen und Spardiktaten gesprochen wird, in der Europäischen Union
eine Mammutbehörde haben, nämlich den Europäischen
Auswärtigen Dienst, der letztes Jahr rund eine halbe
Milliarde Euro „gefressen“ hat. Was könnte man hier in
Europa mit diesem Geld vor allen Dingen im sozialen
Bereich nicht alles erreichen!
({3})
Für die Militarisierung haben Sie immer Geld, an allem
anderen soll gespart werden.
({4})
Auch sonst kann nicht im Geringsten davon die Rede
sein, dass in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nichts passiert. Die EU hat ein umfangreiches
Sanktionsregime entwickelt, das in der Elfenbeinküste,
in Libyen, in Syrien die Eskalation zu Bürgerkriegen
begünstigt hat und in einen Krieg mit dem Iran zu münden droht.
({5})
- Das glauben auch nur Sie. Wovon träumen Sie eigentlich nachts? Sehen Sie sich die Elfenbeinküste an! - Die
EU hat Berater und Grenzschützer nach Libyen entsandt
und finanziert mit ihrer Sahel-Strategie die Militarisierung der Sahara. Sie bereitet gegenwärtig eine GSVPMission in Mauretanien, Niger und Mali vor, dort wo
gerade ein Aufstand und ein Putsch stattgefunden haben.
Sevim Da?delen
All das geschieht ohne jede Kontrolle des Europäischen
Parlaments oder der nationalen Parlamente.
Auch zum Horn von Afrika hat die EU mittlerweile
eine eigene Strategie entwickelt. Sie hat ein eigenes
Operationszentrum errichtet und plant ihre mittlerweile
dritte GSVP-Mission. Das erweiterte Mandat für die
Operation Atalanta wurde mit der somalischen Übergangsregierung abgestimmt und vom Rat beschlossen,
bevor es dem Bundestag auch nur ansatzweise vorlag.
Und da sprechen Sie hier von parlamentarischen Rechten!
Für die EU-Trainingsmission EUTM SOM für die
Übergangsregierung wurde niemals ein Mandat des
Bundestages eingeholt, und sie wurde über den Ablauf
des EU-Mandates hinaus stillschweigend fortgesetzt.
Unsere Kleine Anfrage zur geplanten Mission zur maritimen Aufrüstung der Verbündeten in der Region blieb
faktisch unbeantwortet.
Kollegin Dağdelen, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Spatz?
({0})
Das würde Ihnen die Redezeit tatsächlich verlängern.
Ja, sehr gern.
Auch wenn man das billigend in Kauf nehmen muss,
habe ich doch einmal eine Frage.
Was hätten Sie denn gesagt, wenn hier im Deutschen
Bundestag ein Mandat vorgelegt worden wäre, das mit
der somalischen Regierung nicht abgestimmt gewesen
wäre? Dann wäre genau das doch Ihr Vorwurf gewesen.
Sie müssen sich schon einmal entscheiden, ob Sie
Ownership so hoch hängen, wie wir das tun, und erst die
Betroffenen fragen oder ob Sie hier einfordern, dass das
Mandat gewissermaßen im Verhandlungsstadium hätte
vorliegen müssen.
Herr Kollege Spatz, Sie sprechen gerade etwas an,
worüber wir im Deutschen Bundestag überhaupt nicht
haben beraten können. Das ist ja meine Kritik.
({0})
- Sie sagen: „Das kommt ja noch.“ Die Mission EUTM
SOM läuft schon seit Jahren. Wir haben hier im Deutschen Bundestag nicht ein Mal eine Diskussion oder eine
Debatte über dieses Mandat gehabt. Es gibt einen Antrag
der Linksfraktion, darüber hier zu debattieren. Wir fordern, dass der Parlamentsvorbehalt endlich einmal wahrgenommen und ernst genommen wird.
({1})
Sie entparlamentarisieren das System und höhlen den
Parlamentsvorbehalt aus, indem eben nur noch auf europäischer Ebene über die Mandatierungen gesprochen
und abgestimmt wird und das Kabinett und nicht das
Parlament entscheidet. Das kritisiert die Linke hier. Wir
sind für echte parlamentarische Kontrollrechte. Das geht
nur, wenn Sie uns die entsprechenden Vorlagen liefern,
wir hier in den Ausschüssen und im Deutschen Bundestag darüber diskutieren und Sie nicht eine heimliche
Außenpolitik im Hinterzimmer betreiben. Herr Kollege
Spatz, das müssen Sie auch einmal ernst nehmen.
({2})
Deshalb fordert die Linke echte parlamentarische
Mitbestimmung und Transparenz in der europäischen
Außenpolitik, meine Damen und Herren. Dies kann mit
einer interparlamentarischen Versammlung, wie wir sie
in unserem Antrag fordern, erreicht werden, und zwar
mit ständigen Strukturen und substanziellen Kontrollund Vetorechten. Das wäre ein wirklicher Beitrag zum
Frieden.
Ich bitte Sie deshalb: Springen Sie einfach über Ihren
Schatten und stärken Sie Ihre eigenen parlamentarischen
Rechte! Entmachten Sie sich nicht weiterhin selbst
dadurch, dass Sie sich selbst Ihre parlamentarischen
Rechte beschneiden.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Cramon-Taubadel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir sind natürlich für eine echte parlamentarische
Kontrolle der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wenn wir aber hier über die WEU und die
Selbstauflösung der WEU sowie über die Idee des Lissabon-Vertrags sprechen und wenn wir das alles zueinanderbringen, dann kommen wir auf jeden Fall nicht zu
dem Ergebnis, das Sie uns in Ihrem Antrag präsentiert
haben. Die Frage der Umsetzung, also die Frage, wie wir
eine solche Versammlung gestalten, kann nicht darin
münden, dass wir sagen, dass wir ein vollständiges
Sekretariat haben wollen, dass wir uns vier Mal im Jahr
treffen wollen und dass wir große Delegationen brauchen.
Wer Mitglied in einer parlamentarischen Versammlung ist - ich bin Mitglied in zwei parlamentarischen
Versammlungen, und ich wiederhole das gerne noch einmal, wie ich es gestern im Ausschuss getan habe -, wird
merken, dass wir im Deutschen Bundestag gar nicht die
Abgeordneten finden, die diese parlamentarische Kontrolle auch ausüben wollen. Wenn wir in unseren Fraktionen geeignete und sehr motivierte Kolleginnen und
Kollegen heuern, die sich dann die Mühe machen, dort
auch mitzuarbeiten, ist das ganz bestimmt eine vernünftige Sache. Ich glaube aber nicht, dass wir angesichts
unserer Beteiligung in der WEU und angesichts dessen,
was in der WEU besprochen wurde, in dieser Form darüber diskutieren müssen.
({0})
Daher sind wir für die parlamentarische Kontrolle. Wir
sind außerdem sehr dafür, dass das Europäische Parlament in geeigneter Form eingebunden wird.
Was die Frage der Umsetzung angeht, brauchen wir
den Antrag der Linken nicht unbedingt ernst zu nehmen.
Er ist unrealistisch.
({1})
- Genau, sagt die Kriegspartei Grüne. Richtig. Das können wir hier festhalten.
Es steht also nicht gut um das deutsche Engagement
in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Der Motor stottert. Der Verteidigungsminister konzentriert sich im Augenblick noch
auf die Bundeswehrreform. Fragen nach Einsparungen
im EU-Rahmen spielen bislang keine Rolle. Der Verteidigungsminister sagt - ich zitiere -:
Wir müssen mehr können und mehr gemeinsam
können.
Allein uns fehlt der Glaube; denn wenige Tage zuvor
konnten wir ebenfalls von ihm lesen, und das klingt
schon deutlich skeptischer - ich zitiere wiederum -:
Die Wahrheit ist: Smart Defence spart kein Geld,
sondern reduziert allenfalls künftige Aufwendungen.
Das ist doch genau die Skepsis, die wir immer wieder
auf der Seite der Bundesrepublik feststellen, wenn es um
die Zusammenarbeit in der EU und in der NATO geht.
Das ist auch die Linie des Verteidigungsministeriums.
Das Projekt eines europäischen Hauptquartiers ist am
Widerstand Großbritanniens gescheitert. Das haben Sie
erwähnt. Das ist sicherlich richtig. Es ist sicher auch
richtig, dass wir es nicht schaffen, gemeinsame Battle
Groups aufzustellen. Das Pooling und das Sharing hat
noch Herr Minister zu Guttenberg angestoßen. Das ist
auch versandet. Es stockt also an allen Stellen. Von den
Mitgliedern der Konferenz der europäischen Verteidigungsagentur haben wir gehört, dass es keine neuen
Initiativen gibt.
Bei der Abstimmung über Ihren Antrag können wir
uns aber nur der Stimme enthalten, weil wir nicht erkennen können, dass der zivile Bereich in Ihrem Antrag
berücksichtigt wurde. Aus unserer Sicht liegen genau
hier die Dinge noch im Argen. Im Europäischen Auswärtigen Dienst fristen die für die zivilen Aspekte der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
zuständigen Abteilungen ein Schattendasein.
({2})
Wir sind der Meinung: Es muss endlich einen Pool für
Expertinnen und Experten aus Polizei, Verwaltung und
Justizwesen geben. Das gibt es im Moment nicht. Deutsche Justizbeamte und Polizisten, die sich bereit erklären, werden vielfach ausgebremst. Sie müssen Karrierepausen befürchten, anstatt befördert zu werden. Ein
Belohnungssystem sähe anders aus. An Vereinbarkeit
von Familie und Auslandstätigkeit ist nicht zu denken.
Wir sehen im Moment noch keine Bereitschaft aufseiten
der Koalition, da etwas zu ändern.
Wir wünschen uns, dass vor allem - - Entschuldigung, ich glaube, ich bin gerade etwas neben der Spur;
das tut mir leid.
({3})
Wir sehen, dass insbesondere Großbritannien darauf
drängt, dass den Einsatzkräften die Zerstörung der Piraterielogistik ermöglicht wird. Das sind aus unserer Sicht
unübersehbare Risiken. Diese führen dazu, dass der gesamte Erfolg der geplanten EU-Mission in Gefahr ist. Ich werde jetzt meine Rede beenden; das tut mir leid.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Wolfgang
Götzer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Bestehen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik tritt die Bundesregierung kontinuierlich für deren Weiterentwicklung im europäischen
Rahmen ein.
({0})
Dabei kommt der GSVP als operativem Arm der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine nicht zu
unterschätzende, ja zunehmende Bedeutung auch für das
europäische Einigungswerk und die Wahrnehmung der
EU als internationalem Akteur auf der Weltbühne zu.
Mit nunmehr über 20 zivilen Missionen und militärischen Operationen tritt die EU in Krisengebieten weltweit als Krisenmanager in Erscheinung. So zeigt die EU
seit Jahren Präsenz in Afghanistan, wo sie erfolgreich
afghanische Polizisten und Sicherheitskräfte ausbildet,
vor der Küste Somalias, wo sie Piraterie bekämpft und
Schiffen des Welternährungsprogramms sicheres Geleit
bietet, oder in Georgien, wo sie seit Oktober 2008 durch
eine Beobachtermission zur Stabilisierung der Lage
beiträgt.
Erst letzte Woche haben die Außenminister der EU
bei ihrem Treffen grünes Licht für einen weiteren Ausbau der GSVP-Einsätze, insbesondere in Afrika, gegeben. Von Stillstand oder fehlender „gestalterischer
Kraft“ in der GSVP, wie es im SPD-Antrag heißt, kann
also keine Rede sein.
Um diesen stetig wachsenden Herausforderungen und
Aufgaben gerecht werden zu können, braucht die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Struktur, und zwar sowohl zivile als auch militärische Fähigkeiten. Gerade in deren Vernetzung liegt eine große
Stärke der Krisenmanagementfähigkeiten der EU. Da die
GSVP nach wie vor Defizite im Bereich der militärischen Fähigkeiten hat, gilt es, diese zu stärken. Eine Entmilitarisierung, wie im Antrag der Fraktion der Linken
gefordert, wäre genau der falsche Weg.
({1})
Der Ausbau der militärischen Fähigkeiten geht Hand
in Hand mit dem Ausbau der parlamentarischen Kontrolle der GSVP. Auch hier sind sehr wohl in der jüngsten Zeit wichtige Schritte hin zu einer stärkeren Einbindung der nationalen Parlamente und des Europäischen
Parlaments unternommen worden. Richtungweisend war
vor allem der auf Antrag der Koalitionsfraktionen - der
Kollege Spatz hat das schon erwähnt - gefasste Beschluss zur Einrichtung einer interparlamentarischen
Konferenz aus Vertretern der nationalen Parlamente und
des Europäischen Parlaments zur GASP und zur GSVP.
Die Einrichtung eines Konvents oder anderer Gremien
zur Kontrolle der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist somit nicht erforderlich.
Um noch einmal auf den Antrag der SPD-Fraktion
zurückzukommen: Selbstverständlich hat es in den letzten Jahren Initiativen der Bundesregierung gegeben,
({2})
auch die Strukturen und Fähigkeiten der GSVP, gerade
in Zeiten der Finanzkrise, weiterzuentwickeln. Man
denke bloß an die GSVP-Initiative des Weimarer Dreiecks. In dieser schlugen Polen, Frankreich und Deutschland Ende 2010 vor, die Battle Groups zu reformieren,
ein EU-Headquarter aufzubauen, die EU-NATO-Beziehungen auszubauen und gemeinsam auf EU-Ebene militärische Fähigkeiten zu entwickeln, oder an die ebenfalls
von Deutschland mit initiierte Gent-Initiative, die zum
Ziel hat, gemeinsame Spar- und Kooperationspotenziale
durch Pooling and Sharing militärischer Fähigkeiten zu
optimieren. Wenn nun die SPD-Fraktion in ihrem Antrag
fordert, diesen Ansatz des Pooling and Sharing noch
stärker zu nutzen, so ist dazu zu sagen: Dies geschieht
bereits. Erst am 23. März dieses Jahres haben die Verteidigungsminister der EU die bedeutenden Fortschritte,
die die EU auf diesem Gebiet in jüngster Zeit erzielt hat,
lobend hervorgehoben. Darunter sind vor allen Dingen
die mithilfe der Europäischen Verteidigungsagentur,
EDA, zustande gekommenen Initiativen zur Luftbetankung, zur medizinischen Unterstützung und zur maritimen Überwachung.
Trotz dieser Fortschritte ist es uns wichtig, dass Pooling and Sharing nicht nur als Möglichkeit, in Zeiten der
Finanzkrise Kosten einzusparen, genutzt werden sollte,
sondern auch als ein Instrument zum Ausbau weiterer
militärischer Fähigkeiten.
({3})
Wenn wir jetzt aus der Not eine Tugend machen und
vor dem Hintergrund schrumpfender Verteidigungsbudgets den Schritt hin zu mehr europäischer Integration
im Verteidigungsbereich gehen, setzen wir damit auch
ein eindeutiges Signal für die Zukunft Europas.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ({0}) weiterentwickeln und mitgestal-
ten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8507, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7360 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Ge-
meinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU
wirksam kontrollieren“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8807, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5387
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
fraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und
Strafprozessrecht ({1})
- Drucksache 17/3355 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({2}), Tabea Rößner, Kai
Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von
Journalisten und der Pressefreiheit im Strafund Strafprozessrecht
- Drucksache 17/3989 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 17/9199 -
Vizepräsidentin Petra Pau
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Christian Ahrendt
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Pressefreiheit
- Drucksache 17/9144 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wenn die entsprechende Ruhe und Aufmerksamkeit
hier im Saale hergestellt ist, kann ich die die Aussprache
eröffnen. Ich bitte sowohl die Kolleginnen und Kollegen
in den Fraktionsreihen als auch diejenigen auf der Regierungsbank, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen. - Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine freie Presse ist für das Funktionieren des demokratischen Gemeinwesens unverzichtbar.
({0})
Unsere Verfassung schützt die Pressefreiheit ausdrücklich. Das gehört zu den konstitutiven Grundlagen unserer Verfassung.
Die Gefahren, die der Pressefreiheit drohen, gibt es
seit der Erfindung des Buchdrucks. Sie setzen sich im
21. Jahrhundert angesichts digitaler Kommunikation und
rasend schneller Verbreitung von Texten, von Arbeiten
von Journalisten fort. Zuletzt hat das Cicero-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts deutlich gemacht, dass auch
in Deutschland nach wie vor Gefährdungen bestehen.
({1})
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll nun
ein Einfallstor geschlossen werden, durch das die Arbeit
der freien Presse unmittelbar gefährdet wird. Wenn Journalisten ihnen zugespieltes Geheimmaterial verwendet
haben, wird ihnen nach bisher geltendem Recht „Beihilfe zum Geheimnisverrat“ vorgeworfen. Das ist dann
ein Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen, die natürlich gerade auch mit dem Ziel geführt werden, die eigentlichen Quellen, also gerade auch undichte Stellen in
verschiedenen Behörden oder öffentlichen Institutionen,
aufzudecken.
In vielen Fällen ist es in der Vergangenheit zu umfangreichen Ermittlungen gekommen. Dazu gehören
Durchsuchungen von Redaktionsräumen und die Beschlagnahme von Computern, Festplatten und wichtigem Recherchematerial bzw. von Notebooks mit Hinweisen auf Informanten. All das sind erhebliche
Beeinträchtigungen unabhängiger journalistischer Tätigkeit. Verurteilungen wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat hat es nicht gegeben.
Für Medienangehörige, die sich auf das Entgegennehmen und Verwenden eines Geheimnisses beschränken,
soll deshalb nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung künftig die Strafbarkeit der Beihilfe gestrichen
werden.
({2})
Wir wollen, dass dieser Vorwurf gegenüber Journalisten
nicht mehr benutzt wird, um Ermittlungen in andere
Richtungen zu tätigen. Damit unterbinden wir in unserem Strafgesetzbuch an der entscheidenden Stelle die
Möglichkeit, durch die es immer wieder - Sie kennen
die Verfahren, die es dazu gibt - umfangreiche Strafverfolgungsmaßnahmen gegeben hat.
Wir stärken damit den Quellen- und Informantenschutz. Das sichert zudem investigative Recherche und
kritische Berichterstattung. Das alles ist uns allen nicht
immer angenehm, aber es ist Bestandteil unseres demokratischen Rechtsstaats.
({3})
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schafft damit
Klarheit über strafrechtliche Grenzen, aber keine, wie
teilweise angeklungen ist, unangemessene Privilegierung von Medienangehörigen. Vielmehr wägen wir sehr
sorgfältig in dem Spannungsfeld zwischen der Freiheit
der Presseberichterstattung und der Arbeit von Journalisten auf der einen Seite und der Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden auf der anderen Seite, Delikte zu ahnden,
ab, die natürlich ermöglicht werden muss.
Wir wählen einen angemessenen und richtigen Weg.
Es gibt Gesetzentwürfe und Änderungsvorschläge aus
den Oppositionsfraktionen, von Bündnis 90/Die Grünen
und von der SPD. Ein Vorschlag ist, die Anstiftung zum
Geheimnisverrat durch Medienvertreter auch straflos zu
stellen.
Wir konzentrieren unseren Gesetzentwurf auf Beihilfehandlungen. Denn wir sind der Auffassung, dass der
Unrechtsgehalt einer Anstiftung anders zu bewerten ist,
wenn zielgerichtet versucht wird, aus Behörden heraus
mit verschiedensten Möglichkeiten Informationen zu bekommen, die der Geheimhaltung unterliegen, als wenn
einem Material zugespielt wird.
({4})
Deshalb haben wir die Anstiftung nicht straffrei gestellt.
Wir wenden uns weiterhin der Strafprozessordnung
zu und wollen bei der Beschlagnahme von Material, das
Journalisten von Informanten erhalten, die Hürden zugunsten der Pressefreiheit ein Stück höher legen. In Zukunft wird nicht mehr nur ein auf bestimmte Tatsachen
gestützter einfacher Tatverdacht gegen einen Journalisten ausreichen, sondern es muss ein dringender Tatverdacht vorliegen. Das heißt, es sind natürlich Beschlagnahmemaßnahmen möglich, aber für diese sind höhere
Hürden vorgesehen. Ich glaube, das zeigt, dass die Bundesregierung hier mit Augenmaß vorgegangen ist. Wir
setzen an den Stellen an, bei denen wir der Auffassung
sind, dass es richtig ist, die Pressefreiheit, die Recherchearbeit und das Vorgehen von Journalisten zu schützen
und zu würdigen. Das tun wir nach Abwägung aller Kriterien.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe der Opposition
wählen teilweise andere Ansätze oder gehen unserer
Meinung nach deutlich über das, was wir erreichen wollen, hinaus. Deshalb werbe ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Ingo Egloff
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich gebe der Ministerin an der Stelle recht, wo
sie die Bedeutung einer freien Presse und eines freien
Rundfunks für das Funktionieren eines demokratischen
Rechtsstaates hervorgehoben hat; ich glaube, hieran besteht in diesem Hause auch kein Zweifel. Das wird von
allen Fraktionen so gesehen.
Ich begrüße es auch ausdrücklich, dass hier alle Seiten Konsequenzen aus dem Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezogen haben, und die Entwürfe
zur Regelung der Fragen der Beihilfe, Beschlagnahme
und Durchsuchungen bei Medienangehörigen haben die
richtige Stoßrichtung. Der Regierungsentwurf, Frau
Ministerin, geht unseres Erachtens allerdings nicht weit
genug.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Cicero-Urteil
in dankenswerter Klarheit ausgeführt, dass das Risiko
bestehen könnte, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe mit dem ausschließlichen
oder überwiegenden Ziel einleitet, die Person des Informanten festzustellen.
Dies aber
- so das Bundesverfassungsgericht wörtlich widerspräche dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Informantenschutz … Der Schutz des Art. 5
Abs. 1 Satz 2 GG gebietet, dem Risiko entgegenzuwirken. Deshalb müssen die strafprozessualen Normen über Durchsuchung und Beschlagnahme
dahingehend ausgelegt werden, dass die bloße Veröffentlichung des Dienstgeheimnisses durch einen
Journalisten nicht ausreicht, um einen diesen Vorschriften genügenden Verdacht der Beihilfe des
Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen.
Zu fordern sind vielmehr spezifische … Anhaltspunkte für das Vorliegen einer vom Geheimnisträger bezweckten Veröffentlichung des Geheimnisses
und damit einer beihilfefähigen Haupttat.
So das Bundesverfassungsgericht zu Recht.
Der Entwurf der Bundesregierung schlägt eine Änderung des Strafgesetzbuches vor, mit der sichergestellt
werden soll, dass Journalisten ihnen vertraulich zugeleitetes Material veröffentlichen können, ohne sich strafbar
zu machen; dazu dient ihr Vorschlag zu § 353 b StGB.
Zudem wird das Beschlagnahmeverbot gegen Journalisten ausgeweitet, indem bei Verdacht der Verstrickung
nicht mehr der einfache Verdacht, sondern ein dringender Verdacht der Verstrickung bestehen muss. Hier,
meine Damen und Herren, setzt unsere Kritik an. Denn
ein solcher dringender Verdacht besteht sonst ausschließlich beim Haftbefehl, und wir erachten ihn bei
§ 97 Abs. 5 Satz 2 StPO als systemwidrig.
({0})
Der Kollege Montag hat im Rechtsausschuss zu Recht
von der Sortierung nach Berufsgruppen gesprochen. Das
lehnen wir ab.
Auch die Einfügung beim § 353 b StGB - die Grünen
haben das genauso gemacht - halten wir für rechtsdogmatisch falsch. Hier wird bei der Strafrechtsnorm auf die
Beihilfehandlung einer einzigen Berufsgruppe aus der
Gruppe der Berufsgeheimnisträger abgestellt. Unseres
Erachtens hätte das besser in der Strafprozessordnung
angesiedelt werden sollen, so wie es in unserem Entwurf
in Bezug auf die Änderung von § 160 a StPO vorgeschlagen wird.
({1})
Mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sind unterschiedliche Formen von Erhebungs- und Beweisverwertungsverboten geschaffen
worden, welche je nach Berufsgruppe unterschiedlich
gestaltet sind. Die Journalisten gehörten bisher zu der
Berufsgruppe, die nicht in dem Maße geschützt war, wie
dies bei Geistlichen, Verteidigern, Abgeordneten und
seit 2011 auch bei Anwälten der Fall ist. Das Gleiche gilt
im Übrigen auch für Ärzte und Psychotherapeuten.
Deswegen sind wir der Auffassung, dass diese Berufsgruppen, die auch Berufsgeheimnisträger sind, in
diesen Schutz des Beweiserhebungs- und -verwertungsverbotes einbezogen werden müssen, damit es nicht
dazu kommen kann, dass das Zeugnisverweigerungsrecht, das vor Gericht besteht, im Ermittlungsverfahren
leerläuft. Deshalb schlagen wir vor, dass das absolute
Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsgebot auch
bei Ermittlungsverfahren gegen Medienangehörige
greift.
({2})
Auch die Grünen haben die Änderung des § 353 b
StGB vorgeschlagen und dies dann noch - darauf hat die
Ministerin hingewiesen - um die Anstiftungshandlungen
erweitert. Ich bin in der Kritik bei Ihnen, was diese Frage
angeht: Auch wir Sozialdemokraten sehen es kritisch,
eine Anstiftung in diesem Zusammenhang auf diese Art
und Weise straffrei zu stellen. Das geht unseres Erachtens zu weit.
Ich teile die Kritik der Ministerin: Es ist ein substanzieller Unterschied, ob ein Medienangehöriger einen Geheimnisträger dazu anstiftet, Geheimnisse zu offenbaren,
oder ob dem Medienangehörigen solche Geheimnisse
zugespielt werden. Deswegen sollte man an der Stelle
vorsichtig sein, das Tor weiter zu öffnen.
({3})
Wir wollen die Beschlagnahme grundsätzlich in allen
diesen Fällen unter Richtervorbehalt stellen, um hier die
Schwelle zu erhöhen und die Berufe in diesen sensiblen
Bereichen zu schützen.
Wir hätten uns gewünscht, dass wir das nach dem
Vorlauf - das Ganze geht ja schon etliche Jahre - diese
Woche nicht sozusagen im Schweinsgalopp durch den
Ausschuss und hier durch das Plenum hätten bringen
müssen, sondern die Zeit gehabt hätten, das noch einmal
entsprechend zu diskutieren, zumal wir ja auch noch einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Diese Kritik haben
wir bereits im Rechtsausschuss angebracht.
Auch eine intensive Diskussion um die Frage, ob die
rechtssystematische Einordnung der Änderung richtig
ist, hätten wir uns gewünscht. Auch diese Diskussion
hätten wir führen können. Aber das war wahrscheinlich
aus koalitionsinternen Gründen nicht gewünscht, nachdem Sie im Koalitionsausschuss am 4. März 2012, anscheinend im Rahmen eines Tauschgeschäfts, sich darauf verständigt haben, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung ohne Änderung durchzudrücken. Gut
finden wir das nicht, meine Damen und Herren.
({4})
Der Deutsche Journalisten-Verband ist mit dem Gesetzentwurf der Regierung nicht einverstanden, weil, so
der DJV, der Schutz der Informanten und der Recherche
durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht verbessert wird. Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes, Michael Konken, forderte die Abgeordneten dazu auf, sich intensiv mit den Gesetzentwürfen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu befassen, weil
sie der Situation der Journalisten als Berufsgeheimnisträger besser gerecht werden. Nur wenn die Regelungen
in den Gesetzentwürfen der Opposition berücksichtigt
werden, so der DJV-Vorsitzende, ist in Deutschland ein
Mehr an Pressefreiheit erreicht. Der Mann hat recht.
({5})
Aber da die Koalition wild entschlossen ist, heute hier
die Sache durchzuziehen, werden wir auf einen umfassenden Schutz, wie der Journalisten-Verband und auch
wir ihn erwarten, noch ein bisschen warten müssen. Wir
arbeiten daran. Wir werden nicht nachlassen. Wir sehen
uns an dieser Stelle mit einem anderen Gesetzentwurf
wieder.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Ansgar Heveling hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Müsste ich entscheiden, ob wir eine Regierung
ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne Regierung haben sollten, ich würde nicht einen Augenblick zögern, Letzteres zu wählen.
So pointiert hat bereits der dritte Präsident der Vereinigten Staaten, Thomas Jefferson, zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Presse und der Pressefreiheit
für den demokratischen Staat formuliert, zu einer Zeit im
Übrigen, zu der in Kontinentaleuropa die Entwicklung
der Meinungs- und Pressefreiheit erst einmal noch eine
ganz andere Wendung nehmen sollte.
Bei uns musste diese Freiheit erst über einen langen
Prozess mit vielen Rückschlägen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erkämpft werden. Unter der Geltung des
Grundgesetzes sind Meinungs- und Pressefreiheit in
Deutschland allerdings - gottlob! - fest verankert und in
Art. 5 des Grundgesetzes auch als Grundrecht ausformuliert.
({0})
So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in einer
frühen Entscheidung zur Meinungsfreiheit klargestellt,
was ohne Weiteres auch auf die Pressefreiheit übertragen
werden kann:
Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als
unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten
Menschenrechte überhaupt … Für eine freiheitlichdemokratische Staatsordnung ist es schlechthin
konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige
geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist … Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt …
Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich-demokratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt
dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig
wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses
Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches
Gesetz ({1})
zu überlassen.
So weit das Bundesverfassungsgericht.
Das zeigt: Art. 5 des Grundgesetzes hat eine besondere Stellung in unserem Verfassungsgefüge. Er erfordert eine besondere Sensibilität von den staatlichen Ge20348
walten. Dem müssen wir als Gesetzgeber auch in
besonderem Maße gerecht werden. Es ist unsere Aufgabe, durch gesetzliche Regelungen sorgsam auszutarieren, wo die Relativierung durch einfaches Gesetz beginnt und wo es gerechtfertigt ist, der Pressefreiheit
gesetzliche Grenzen zu setzen.
Dazu ist zunächst einmal festzuhalten: Die Pressefreiheit in Deutschland ist stark. In der Bundesrepublik können Medien ihrer wichtigen Aufgabe ungehindert nachkommen. Die Presse ist frei. Jeder hat die Chance, die
unterschiedlichste veröffentlichte Meinung in den verschiedensten Medien ohne jegliche Repression wahrzunehmen. Das ist nicht in jedem Land so, aber bei uns ist
es so.
({2})
Allerdings ist auch klar, dass die Pressefreiheit in einem Spannungsverhältnis zu anderen Rechten steht, zum
Beispiel zum Interesse des Staates an einer wirksamen
Strafverfolgung. Hier gibt es keinen Automatismus, der
Medienangehörige generell und grundsätzlich außerhalb
des Geltungsbereichs strafrechtlicher und strafprozessualer Normen stellt.
Zu Recht wird in der Begründung des Gesetzentwurfs
darauf hingewiesen - ich zitiere -:
Dass das Strafverfolgungsinteresse grundsätzlich
hinter das Rechercheinteresse der Medien zurückzutreten hat, lässt sich verfassungsrechtlich nicht
begründen … Es ist zudem zu beachten, dass das
Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung durch
verfahrensrechtliche Vorschriften, die die Ermittlung der Wahrheit beschränken, empfindlich berührt werden kann. Solche Beschränkungen können
auch den im Rechtsstaatsprinzip begründeten Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Strafverfahren beeinträchtigen, weil Gegenstände, auf die sich
Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote beziehen, grundsätzlich nicht nur der Anklage, sondern auch der Verteidigung entzogen
sind.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen
nun nicht nur Verfahrensrechte geregelt werden. Es soll
auch vielmehr gesetzlich geregelt werden, dass Beihilfehandlungen zur Verletzung des Dienstgeheimnisses und
einer besonderen Geheimhaltungspflicht gemäß § 353 b
Strafgesetzbuch zukünftig nicht einmal mehr rechtswidrig sein dürfen. Damit reagiert die Bundesregierung unmittelbar auf eine Entwicklung in jüngster Zeit, bei der
Medienangehörige wiederholt Gegenstand der Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden gewesen
sind.
Die Bundesregierung hat deshalb die Notwendigkeit
gesehen, das Verhältnis von Pressefreiheit und Strafrecht
neu zu justieren. Ich will dabei keinen Hehl daraus machen, dass dies eine Abwägung ist und dass man bei jeder Abwägung der unterschiedlichen Rechtsgüter durchaus auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen
kann - insbesondere dann, wenn es sich im Wesentlichen
um Einzelfälle handelt.
Gleichwohl hat sich die Koalition entschieden, diese
Fälle zum Anlass zu nehmen, das Verhältnis zwischen
der Pressefreiheit und anderen Rechten gesetzlich neu
auszubalancieren. Das ist maßvoll geschehen, indem nur
Beihilfehandlungen aus dem Bereich der Rechtswidrigkeit herausgenommen wurden. Wir erteilen damit keinen
Freibrief, andere etwa zum Geheimnisverrat anzustiften.
({3})
Deswegen lehnen wir auch die weitergehenden Vorschläge vonseiten der Opposition ab.
Wenn das neue Gesetz also mehr Freiheit gewährt,
dann verbindet sich damit aber auch eine klare Verpflichtung - eine klare Verpflichtung an den Freiheitsadressaten. Je weiter dessen Freiheitsraum ist, umso größer ist auch seine Verantwortung, mit der Freiheit
verantwortungsvoll umzugehen.
({4})
Das hat der Gesetzgeber dann nämlich nicht mehr in der
Hand. Dessen sollten und müssen wir uns alle bewusst
sein.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute debattieren wir über drei Gesetzentwürfe zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht.
Ausgangspunkt für diese Initiativen ist folgendes Problem: Häufig sind Medienschaffende von der Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden betroffen.
Dies passiert immer dann, wenn jemand, der im Rahmen
seiner Tätigkeit zur Geheimhaltung verpflichtet ist,
trotzdem Dokumente oder Informationen an eine Journalistin oder einen Journalisten weitergibt und diese dann
veröffentlicht werden.
Die Rechtsprechung sagt gegenwärtig: Medienangehörige sind in einem solchen Fall Tatbeteiligte - das ist
hier schon angesprochen worden -, und zwar durch die
bloße Veröffentlichung der erhaltenen Informationen.
Dabei wird der Begriff Medienangehörige weit gefasst.
Es werden Personen subsumiert, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken,
Rundfunksendungen, Filmberichten oder berufsmäßig an
der Unterrichtung oder der Meinungsbildung dienenden
Informations- und Kommunikationsdienste mitwirken.
Letztlich haben alle hier im Hohen Haus vertretenen
Parteien erkannt, dass dies absurd ist und das hohe Gut
der Pressefreiheit infrage stellt. Pressefreiheit ist nicht
möglich, wenn Medienschaffende ihre Informantinnen
oder Informanten preisgeben oder verraten müssen, aus
welcher Quelle ihre Informationen stammen. Das sogeJörn Wunderlich
nannte Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
diese Auffassung und damit Pressefreiheit und Informantenschutz bestärkt. Deshalb muss künftig für
Medienangehörige die Rechtswidrigkeit von sogenannten Beihilfehandlungen ausgeschlossen werden. Wer
Informationen und Dokumente, die der Geheimhaltung
unterliegen, entgegennimmt, auswertet oder veröffentlicht, handelt nicht rechtswidrig.
Für die Linke gilt: Recherche fällt ebenso unter Auswertung. Eine solche Klarstellung oder Ergänzung wäre
besser gewesen als der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Das sehen auch die Grünen so; das
finden wir gut, und das unterstützen wir auch. Ebenso
finden wir - das ist schon erwähnt worden -, dass die
Anstiftung zur Weitergabe von Dokumenten oder Informationen, die der Geheimhaltung unterliegen, straffrei
sein soll; denn uns geht es nicht nur um den Schutz derjenigen, die veröffentlichen, uns geht es gleichermaßen
um den Schutz von Informantinnen und Informanten.
Darin sind wir uns mit den Grünen einig. Begrüßenswert
ist auch, dass die Grünen in ihrem Gesetzentwurf den
Informantenschutz durch die Einschränkung von Ermittlungsmaßnahmen über das Beschlagnahmeverbot hinaus
erweitern. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf
zustimmen.
Die vorgeschlagenen Änderungen sind uns gleichwohl nicht weitgehend genug; denn alle vorliegenden
Gesetzentwürfe erfassen einige Probleme nicht. Für uns
stellt beispielsweise die Beschränkung auf Medienangehörige, also auf eine Berufsgruppe, ein Problem dar. Sie
ist nicht mehr zeitgemäß, wenn man sich anschaut, wie
heutzutage Informationen verbreitet werden und wer
alles im digitalen Zeitalter die Möglichkeit hat, Informationen zu veröffentlichen. Deshalb sollten alle, die sich
dieser Möglichkeit bedienen, davon Gebrauch machen
können, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen, egal
ob es sich hierbei um Journalisten, Gelegenheitspublizisten, Bloggerinnen und Blogger, politische Aktivistinnen
und Aktivisten handelt. Wir sagen: Wer etwas öffentlich
macht, ist egal, wenn es sich dabei nicht um den Geheimnisträger oder die Geheimnisträgerin handelt.
Auch die einmalige Verbreitung von Informationen
mithilfe des Internets sollte von der Regelung erfasst
werden. Der Sachverständige Fiedler hat in der Anhörung gefordert, dass Gelegenheitspublizisten einbezogen
werden.
Sicher kann man darüber streiten, ob Leak-Plattformen und Blogs Journalismus sind oder nicht. Aber dieser Streit geht an der eigentlich wichtigen Frage vorbei:
Bewerten wir die Veröffentlichung von Informationen,
die der Geheimhaltung unterliegen, aber nicht vom Geheimnisträger selbst verbreitet werden, als Straftat oder
nicht? Darauf kann es nach Überzeugung der Linken nur
eine Antwort geben: die zugunsten der Pressefreiheit.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Tabea Rößner das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Eine Journalistin ruft einen Beamten an und bittet um Informationen. Der Beamte kommt ihrer Bitte nach, steckt
ihr möglicherweise eine vertrauliche Information und
begeht so einen Geheimnisverrat.
Der Informantenschutz - das ist hier schon angesprochen worden - soll gewährleisten, dass die Journalistin
kritisch berichten kann, ohne dass sie ihren Informanten
preisgeben muss. Sie soll nicht zum Ziel von Ermittlungen werden. Ermittler dürfen nicht ihren Computer beschlagnahmen und ihre Arbeitsräume durchsuchen, um
herauszufinden, von wem die Information stammt. Aber
genau das ist dem Journalisten Bruno Schirra im sogenannten Cicero-Fall passiert. Um Informationslecks zu
finden, werden wegen des Anfangsverdachts der Beihilfe oder der Anstiftung zum Geheimnisverrat immer
wieder Arbeits- und Privaträume von Journalisten durchsucht und Beweisstücke beschlagnahmt. Das Zeugnisverweigerungsrecht wird so unterlaufen. Ein solcher
Verdacht der Beteiligung an einer Straftat führt zu einer
erheblichen Einschränkung der Pressefreiheit. Schirra
konnte seiner Arbeit monatelang nicht nachgehen, weil
sein Büro quasi lahmgelegt war. Es existierte nicht mehr.
Genau das hat das Bundesverfassungsgericht kritisiert.
Man sollte glauben, dass uns die Pressefreiheit als
Grundpfeiler unserer Demokratie viel wert ist. Dennoch
befindet sich Deutschland laut Reporter ohne Grenzen
nicht unter den ersten 15 Staaten, die die Pressefreiheit
hochhalten. Das ist peinlich. Solange wir es aber zulassen, dass Journalisten Strafvorwürfen ausgesetzt sind,
wenn sie investigativ recherchieren, wird sich daran
auch nichts ändern. Mit unserem Gesetzentwurf wollen
wir Grünen sichergehen, dass Journalisten so etwas nicht
mehr passieren kann. Uns ist die Pressefreiheit wichtiger
als Strafverfolgung um jeden Preis.
({0})
Alle Fraktionen halten die Pressefreiheit hoch; das
haben wir heute gehört. Dennoch hat sich die Koalition
anderthalb Jahre lang über den eigenen Vorschlag gestritten und am Ende alles beim Alten gelassen. Das geht
uns Grünen nicht weit genug. Unser Gesetzentwurf ist
konsequenter. Wir wollen Journalisten - zu ihnen zählen
wir übrigens auch die Blogger - wirklich stärken. Wir
wollen nicht, dass gegen sie irgendein Tatverdacht erhoben werden kann, weder eine Beihilfe noch eine Anstiftung. Wer den Geheimnisverräter sucht, darf das nicht
auf dem Rücken von Medienangehörigen tun.
Es ist doch fern jeder Realität, während der Ermittlungen zu beurteilen, ob ein Journalist möglicherweise den
Wunsch, das Geheimnis zu verraten, erst hervorgerufen
hat. Dann nämlich könnte ihm nach dem Willen der
Bundesregierung weiterhin Anstiftung vorgeworfen
werden. Er würde dann einer Straftat verdächtigt, obwohl er einfach nur recherchiert hat. Wir alle wissen: In
Ermittlungsverfahren muss es sehr schnell gehen, und
was sich genau abgespielt hat, wird oft erst am Ende der
Ermittlungen klar. Dann ist die Pressefreiheit aber schon
beschädigt.
Auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, ist die Pressefreiheit nicht schützenswert genug.
Sie wollen ja nicht die Strafbarkeit als solche angehen,
sondern nur die Beschlagnahmemöglichkeiten. Mit
Ihren Änderungen im Strafprozessrecht schützen Sie die
Journalisten eben nicht vor Ermittlungen. Sie lassen Einschränkungen der Pressefreiheit somit weiter zu.
Wir wollen außerdem, dass Beschlagnahmen und
Durchsuchungen bei Medienangehörigen nur dann möglich sind, wenn der Richter dies anordnet, ausführlich
begründet und die Verhältnismäßigkeit prüft, auch in
Eilfällen. Dies darf nicht nur für Redaktionsräume gelten. Es ist inzwischen üblich, frei und mobil zu arbeiten.
Der Laptop darf also auch nicht im Café oder aus dem
Auto beschlagnahmt werden, ohne dass der Richter umfassend prüft.
Pressefreiheit heißt für uns aber noch mehr: Wir wollen Zufallsfunde bei Beschlagnahmen ausschließen, die
Berichterstattung bei laufenden Strafverfahren lockern
und Medienangehörige bei strafprozessualen Maßnahmen anderen Berufsgeheimnisträgern gleichstellen. Das
fehlt im Regierungsentwurf leider völlig.
Sie tun nichts für den Schutz von Medienangehörigen
im präventiv-polizeilichen Bereich, etwa im BKAGesetz. Die SPD greift beim Schutz von Berufsgeheimnisträgern einzelne Berufsgruppen heraus; das ist nicht
konsequent. Wir haben hier den weitestgehenden Gesetzentwurf vorgelegt. Wir drehen nicht nur an einem
Schräubchen, sondern meinen es ernst, damit Deutschland bald wieder zu den Top Ten in Sachen Pressefreiheit gehört.
Vielen Dank.
({1})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Freiheit der Medien ist ein hohes Gut, ein so hohes
Gut sogar, dass man etwas überhöhend von den Medien
in Deutschland als der vierten Gewalt spricht. Es ist die
originäre Aufgabe von Presse und Rundfunk, Geschehnisse in Politik und Gesellschaft kritisch zu hinterfragen
sowie offene Diskussionen und öffentliche Debatten zu
ermöglichen. Schrankenlos ist die Freiheit der Medien
aber nicht. Die Vertreter von Presse und Rundfunk müssen die allgemeinen Gesetze achten.
Es ist die Aufgabe sowohl des Gesetzgebers als auch
der Rechtspflege, diese grundgesetzlich verankerte Freiheit der Presse in einen angemessenen Ausgleich zu anderen Rechtspositionen zu bringen und sie zu gewährleisten. Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es um eine
Abwägung zwischen dem Grundrecht der Pressefreiheit
einerseits und dem Interesse an einer funktionstüchtigen
Strafrechtspflege und einer effektiven Strafverfolgung
andererseits. Fest steht, dass Ermittlungsmaßnahmen gegen Presseangehörige nicht missbraucht werden dürfen,
um die Identität von Informanten offenzulegen. Das hat
das Bundesverfassungsgericht mit seiner Cicero-Entscheidung aus dem Jahr 2007 unmissverständlich bekräftigt. Zu demselben Zweck befreien wir nun einen Teilbereich der Medientätigkeit von der Strafandrohung.
Indem wir die Rechtswidrigkeit von Beihilfehandlungen
ausschließen, die Medienangehörige bei der Entgegennahme, der Auswertung oder der Veröffentlichung von
Geheimnissen begehen, machen wir deutlich: Diese Beihilfehandlungen unterliegen von vornherein keinem
strafrechtlichen Unwerturteil mehr.
({0})
Dadurch, dass künftig Beschlagnahmen nur noch statthaft sind, wenn die Schwelle des dringenden Verdachts
einer Tatbeteiligung überschritten wird, sollen Einschüchterungen durch Beschlagnahmen im Pressebereich vermieden werden und soll dafür gesorgt werden, dass der beabsichtigte Schutz der Presse nicht ins
Leere läuft. Das ist die Zielsetzung unseres Gesetzes.
({1})
Ich will nicht ganz verhehlen, dass wir uns in der
Union die selbstkritische Frage gestellt haben, inwieweit
gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Hier ist zunächst festzuhalten, dass der Geheimnisschutz nach
§ 353 b StGB schon in seiner geltenden Fassung in der
Rechtspraxis sehr restriktiv angewandt wird. Wir sollten
auch die Kontrollmechanismen unserer Rechtsprechung
nicht unterschätzen. Das hat etwa das Gros der Sachverständigen im Rahmen der öffentlichen Anhörung Anfang vergangenen Jahres unterstrichen. In den fraglichen
Fallkonstellationen werden Versäumnisse und Fehler der
Eingangsinstanzen spätestens in der Berufungs- oder Beschwerdeinstanz repariert.
Hinzuweisen ist auch darauf, dass die bloße Entgegennahme oder Auswertung eines Geheimnisses nach
der Praxis der deutschen Staatsanwaltschaften nicht
strafbar ist. Mit der Cicero-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind die Strafverfolgungsbehörden
und Gerichte an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Seit dieser Entscheidung sind mir
jedenfalls keine weiteren Eingriffsmaßnahmen wegen
Beihilfe zum Geheimnisverrat bekannt geworden. Dennoch: Durch die ausdrückliche Normierung in Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung bringen wir als Gesetzgeber noch einmal zum Ausdruck, dass wir eine unberechtigte Beschränkung der Pressefreiheit nicht
tolerieren. Wir schließen damit Fehlinterpretationen von
vornherein aus.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
uns allerdings davor hüten, über das Ziel hinauszuschießen, wie es der Gesetzentwurf der Grünen tut. Der Vorschlag nämlich, nicht nur die Beihilfe, sondern auch die
Anstiftung zur Verletzung des Dienstgeheimnisses nach
§ 353 b Strafgesetzbuch für Medienvertreter straflos zu
stellen, würde die Balance der in Rede stehenden
Rechtsgüter, die ich vorhin angesprochen habe, zerstöThomas Silberhorn
ren. Denn die Anstiftung besitzt in der Regel einen höheren Unwertgehalt als die Beihilfe.
({3})
Durch die Anstiftung wird beim Täter der Tatentschluss
erst hervorgerufen. Deshalb wird nicht ohne Grund der
Anstifter grundsätzlich wie ein Täter bestraft, während
für den Gehilfen die Möglichkeit der Strafmilderung
vorgesehen ist.
({4})
Eine Straflosigkeit in den Fällen, in denen der Medienangehörige letztlich den Amtsträger erst zu seinem strafbaren Handeln anstiftet, zum Zwecke der Gewährleistung der Presse- und Rundfunkfreiheit ist weder geboten
noch überhaupt plausibel begründbar. Deswegen lehnen
wir diesen Vorschlag ab.
Inwieweit in der Abwägung zwischen Pressefreiheit
und Geheimschutz eine Straffreistellung für Beihilfehandlungen angezeigt ist, konnte bislang im Einzelfall
entschieden werden, im Rahmen eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens oder eines gerichtlichen Strafverfahrens.
Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Rößner?
Ich habe noch zwei Sätze. Dann nehme ich gerne eine
Frage entgegen.
Dann sind die 15 Sekunden um. Sie müssen jetzt eine
Abwägung treffen.
Dann würde ich gerne im Zusammenhang fortfahren.
Wenn wir jetzt eine pauschale Straffreistellung gesetzlich festlegen, dann sollten wir nicht ganz vernachlässigen, dass ein Mehr an Presse- und Rundfunkfreiheit
notwendigerweise ein Weniger an Geheimschutz bedeutet. Nun kann man sagen, dass staatliche Stellen das bis
zu einem gewissen Grade hinnehmen müssen. Zu beachten bleibt aber auch dann, dass hinter den durch einen
Amtsträger zu wahrenden Geheimnissen auch Geheimschutzinteressen Privater stehen können, etwa Persönlichkeitsrechte oder Betriebsgeheimnisse, die weiterhin
des Schutzes bedürfen.
Sie sehen, wir führen einen offenen Diskurs, so wie
wir auch die Medienfreiheit in aller Offenheit brauchen.
Dazu soll unser Gesetz zur Stärkung der Pressefreiheit
im Straf- und Strafprozessrecht einen Beitrag leisten.
Deswegen bitte ich um Zustimmung für diesen Gesetzentwurf.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Rößner
das Wort.
Ich möchte nur kurz feststellen, dass der Unterschied
zwischen der normalen Recherche eines Journalisten,
wenn er einen Beamten nach Informationen fragt, und
der Anstiftung zum Geheimnisverrat nicht klar ist. Ich
würde mir hier vonseiten der Bundesregierung eine
Klarstellung wünschen.
Danke.
Möchten Sie erwidern, Herr Silberhorn? - Das sieht
nicht so aus. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozess-
recht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9199,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/3355 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 11 a. Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zum Schutz von Journalisten und der Presse-
freiheit im Straf- und Strafprozessrecht. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9199, den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3989
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9144 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz
({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Vizepräsidentin Petra Pau
Für einen Hochschulpakt Plus - Zusätzliche
Studienplätze schaffen und Masterangebot
ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulpakt 2020: Für mehr Studienplätze und gute Arbeitsbedingungen - Hochschulen sozial öffnen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr
Studienplätze, bessere Studienbedingungen
und höhere Lehrqualität schaffen
- Drucksachen 17/7340, 17/7341, 17/6918,
17/9141 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Swen Schulz ({2})
Dr. Martin Neumann ({3})
Nicole Gohlke
Kai Gehring
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Priska Hinz ({5}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gute Lehre an allen Hochschulen garantieren - Eine dritte Säule im Hochschulpakt
verankern und einen Wettbewerb für herausragende Lehre auflegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Qualitätsoffensive für die Lehre starten Einheit von Forschung und Lehre sichern
- Drucksachen 17/4588, 17/1737, 17/9142 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Swen Schulz ({6})
Dr. Martin Neumann ({7})
Nicole Gohlke
Kai Gehring
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika
Grütters, Florian Hahn, Swen Schulz, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Dr. Peter Röhlinger, Nicole Gohlke und Kai
Gehring.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/9141. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7340 mit dem Titel „Für einen Hochschulpakt
Plus - Zusätzliche Studienplätze schaffen und Masterangebot ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/7341 mit dem Titel „Hochschulpakt 2020: Für mehr
Studienplätze und gute Arbeitsbedingungen - Hochschulen sozial öffnen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/6918 mit dem Titel „Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr Studienplätze, bessere Studienbedingungen und höhere Lehrqualität schaffen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/9142. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4588 mit dem Titel „Gute
Lehre an allen Hochschulen garantieren - Eine dritte
Säule im Hochschulpakt verankern und einen Wettbewerb für herausragende Lehre auflegen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/1737 mit dem Titel „Qualitätsoffensive für die Lehre
starten - Einheit von Forschung und Lehre sichern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
({8})
Zur Erklärung für diejenigen, die uns hier zuschauen
und sich wahrscheinlich fragen: Was tun die Parlamentarierinnen und Parlamentarier dort unten?
({9})
Wir sind jetzt in einem Marathon von Abstimmungen
über Beschlussempfehlungen und Überweisungen, da-
mit wir ab morgen in den Ausschüssen weiterarbeiten
können. Da sich das Ganze noch ein Weilchen hinziehen
wird, haben wir gerade die Verabredung getroffen, dass1) Anlage 6
Vizepräsidentin Petra Pau
wir bei den Punkten, bei denen wir die Reden zu Protokoll nehmen, darauf verzichten, die Namen der Kolleginnen und Kollegen zu verlesen. Das ist aber dann im
Protokoll nachlesbar. - Das akzeptieren Sie offensichtlich, meine Damen und Herren Abgeordneten.
Ähnliches gilt bei der Feststellung der Abstimmungsergebnisse. Ich stelle nur fest, welche Beschlüsse angenommen wurden und welche nicht. Alles andere, denke
ich, lässt sich dem Kontext entnehmen.
Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Siebten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds ({10})
- Drucksache 17/8839 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({11})
- Drucksache 17/9083 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9083 den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/8839 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist bei einer Enthaltung einstimmig ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Demokratie durch Transparenz stärken - Deklassifizierung von Verschlusssachen gesetzlich regeln
- Drucksache 17/6128 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({12})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Akteneinsichtsrechte Dritter in Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichtes stärken
- Drucksache 17/4037 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Wir haben interfraktionell vereinbart, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6128 und 17/4037 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Änderungen vom
30. September 2011 des Übereinkommens vom
29. Mai 1990 zur Errichtung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung
- Drucksache 17/8840 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({14})
- Drucksache 17/9176 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Es ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu geben.3)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9176, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8840 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({15}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Kai Gehring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Das Bildungs- und Teilhabepaket - Leistungen
für Kinder und Jugendliche unbürokratisch,
zielgenau und bedarfsgerecht erbringen
- Drucksachen 17/8149, 17/8831 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Zimmermann
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.4)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8831, den Antrag der Frak-
1) Anlage 7
2) Anlage 8
3) Anlage 9
4) Anlage 10
Vizepräsidentin Petra Pau
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8149
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Zentralrat der Juden in
Deutschland - Körperschaft des öffentlichen
Rechts - zur Änderung des Vertrages vom
27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Zentralrat der Juden in
Deutschland - Körperschaft des öffentlichen
Rechts - zuletzt geändert durch den Vertrag
vom 3. März 2008
- Drucksache 17/8842 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16})
- Drucksache 17/9081 Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Gabriele Fograscher
Dr. Stefan Ruppert
Wolfgang Wieland
Bericht des Haushaltsausschusses ({17})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9082 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Petra Merkel ({18})
Florian Toncar
Roland Claus
Wir nehmen die Reden zu Protokoll1) und kommen
zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9081, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8842 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
({19})
- Auch ich finde, Kollege Grund, wir haben Grund, uns
darüber zu freuen, dass wir diesen Gesetzentwurf einstimmig angenommen haben. Außerdem hatte ich so Gelegenheit, einmal Luft zu holen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Christiane RatjenDamerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wasser und Ernährung sichern
- Drucksache 17/9153 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({20})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Wasser ist Leben. Der menschliche Körper besteht zu
über 70 Prozent aus Wasser. Damit ist der Mensch ohne
Wasser nicht lebensfähig. Ein Mangel an Wasser führt
schnell dazu, dass die Funktionen des Körpers, die auf
Wasser angewiesen sind, eingeschränkt werden. Ein di-
rekter und problemloser Zugang zu Wasser ist für jeden
Menschen auf der Welt mehr als notwendig. Während
hierzulande eine problemloser Zugang zu sauberem
Wasser gewährleistet ist, leiden insbesondere Menschen
in ärmeren Gebieten der Erde unter einem unzureichen-
den Zugang zu Wasser. Das Umweltinstitut WWF hat
darauf aufmerksam gemacht, dass weltweit rund
50 bewaffnete Konflikte existieren, bei denen der Was-
sermangel eine Rolle spielt oder gespielt hat. Selbst
wenn der Zugang gesichert ist, heißt das nicht, dass das
Wasser auch für den Menschen und seinen täglichen Be-
darf brauchbar ist. In einigen Ländern erkranken die
Menschen, weil Trinkwasser verseucht ist. Weltweit
muss laut Angaben von WHO und UNIFEC knapp 1 Mil-
liarde Menschen verunreinigtes Wasser trinken.
Aufgrund dieser Erkenntnis haben sich die Entwick-
lungsländer und die Regierungen der Geberländer im
Rahmen der im Jahr 2000 verabschiedeten Millen-
niumsentwicklungsziele unter anderem dazu verpflich-
tet, den Anteil der Menschen ohne nachhaltigen Zugang
zu sauberem Trinkwasser und sanitärer Versorgung bis
2015 auf die Hälfte zu reduzieren.
Unlängst wurde festgestellt, dass dieses Entwick-
lungsziel, den Anteil der Menschen ohne dauerhaft gesi-
cherten Zugang zu hygienisch einwandfreiem Trinkwas-
ser von 65 Prozent auf 32 Prozent zu reduzieren,
inzwischen erreicht wurde. Einen wichtigen Anteil an
diesem Ergebnis hat die bilaterale Entwicklungszusam-
menarbeit, für die der Wassersektor ein traditioneller
Schwerpunkt ist. Das bisher Erreichte ist zwar überaus
erfreulich, reicht jedoch nicht aus, um zukünftigen Pro-
blemfeldern zu begegnen.
Neben dem Trinkwasser müssen wir berücksichtigen,
dass global gesehen 70 Prozent des Wassers für die Er-1) Anlage 11
zeugung von Nahrungsmitteln eingesetzt wird. Damit
wird deutlich, dass die zunehmende Verknappung von
Wasser ein zentrales Thema für die Welternährung ist.
Der sichere Zugang zu Wasser wird zu einer Schlüsselfrage der Welternährung, betonte gerade auch der Deutsche Bauernverband zum Weltwassertag. Nahrung kann
ohne Wasser nicht erzeugt werden. Mit steigender Bevölkerungszahl steigt auch die Nachfrage nach Wasser
und Nahrungsmitteln. Setzt sich der Nachfrageanstieg
unverändert fort, wird der weltweite Wasserbedarf im
Jahr 2030 das Angebot um rund 40 Prozent übersteigen.
Somit ist es mehr als geboten, dass Thema Wasser und
Nahrungssicherheit verstärkt in den internationalen Fokus zu nehmen. In diesem Jahr hat folgerichtig die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen den Weltwassertag unter dem Motto
„Wasser und Nahrungssicherheit“ durchgeführt. Unter
diesem Motto wurde darauf aufmerksam gemacht, dass
die internationale Gemeinschaft eine nachhaltige Wassernutzung gewährleisten muss, um genug Nahrung für
die rasch zunehmende Weltbevölkerung zu erwirtschaften. „Jeder von uns trinkt zwei bis vier Liter Wasser täglich“, schreibt die Welternährungsorganisation FAO.
„Aber es sind 2000 bis 5000 Liter Wasser nötig, um die
tägliche Nahrung für einen Menschen zu produzieren.“
Derzeit leben etwa 7 Milliarden Menschen auf der Erde;
bis 2050 könnten es nach FAO-Angaben 9 Milliarden
sein. Um diese satt zu bekommen, müsse die Menschheit
lernen, besser mit dem Wasser umzugehen. Dazu zähle,
mehr Nahrung mit weniger Wasser zu produzieren und
weniger Lebensmittel wegzuwerfen. „30 Prozent der
weltweit produzierten Lebensmittel werden nie gegessen, und das dafür benötigte Wasser ist definitiv verloren“, schreibt dazu die Organisation UN-Water.
Die Kommission der Europäischen Union hat die
Frage nach dem zukünftigen Umgang mit der zunehmenden Nachfrage nach Wasser und einer ressourcenschonenden Nutzung auf die Agenda der in diesem Jahr
stattfindenden UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro - kurz Rio plus 20 - eingebracht.
Mit unserem jetzt vorgelegten Antrag wollen wir diese
Initiative unterstützen, damit sich die internationale Gemeinschaft im Rahmen des Klimawandels noch stärker
für einen besseren und nachhaltigeren Umgang mit der
Ressource Wasser einsetzt.
Die internationale Klimapolitik hat sich bereits zur
Begrenzung der globalen Erderwärmung auf weniger
als zwei Grad gegenüber dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung verständigt; denn es ist klar, dass durch
die Erderwärmung Wasser in vielen Gegenden knapper
wird. Deshalb muss ein entsprechendes Bewusstsein für
den sorgsamen Umgang mit Wasser geschaffen werden.
Klimapolitische Entscheidungen müssen auch im Hinblick auf die globalen Wasservorkommen getroffen werden. Es muss allgemein bewusst sein, dass Entscheidungen auf dem einen Gebiet auch auf andere Bereiche
Auswirkungen haben.
Die Förderung der Ernährungssicherheit bedarf einer verbesserten, effizienteren Wassernutzung. Ein Drittel der Erdbevölkerung lebt bereits jetzt in Wassermangelgebieten. Die Probleme des Bevölkerungswachstums
können mithilfe einer verbesserten Agrartechnik und einer sinnvolleren Nutzung des Ökosystems abgefedert
werden. In vielen Teilen der Welt geht Wasser auf dem
Weg zum Feld in maroden Kanälen verloren - um nur
ein Beispiel zu nennen. Weiterhin versickert oder verdunstet oft bis zu dreiVierteln des Wassers aufgrund falscher Bewässerung. Jedoch gibt es Bewässerungssysteme, die dies verhindern können. Wir müssen
gemeinsam projektieren und investieren, damit entsprechend angepasste Bewässerungssysteme auch in Entwicklungsländern genutzt werden. Zudem vergrößern
sich die Gebiete, in denen mehr Wasser entnommen
wird, als durch Zufluss wieder angefüllt wird. Der AralSee in Zentralasien ist zum Beispiel in den vergangenen
Jahren so stark geschrumpft, dass heute die früheren
Häfen 100 Kilometer vom Ufer entfernt liegen.
Eine wichtige Quelle für die Bewässerung ist auch
das vorhandene Abwasser. Für etwa 10 Prozent der bewässerten Gesamtfläche in Entwicklungsländern wird
diese Ressource genutzt. Zwar bietet dies von Wassermangel betroffenen Bauern unmittelbare Vorteile. Dennoch muss der Umgang mit Abwasser mit Bedacht erfolgen. Das verwendete Abwasser darf nicht unbehandelt
auf die Felder gegossen werden, sondern muss entsprechend technisch aufbereitet werden, damit es nicht zu einer Belastung der Böden kommt.
In einigen Regionen mit intensiv betriebener Landwirtschaft seien die Grenzen der Wasserversorgung bereits erreicht oder überschritten, heißt es in einem
Bericht des UN-Umweltprogramms und des Internationalen Instituts für Wassermanagement. Deshalb müssen
Möglichkeiten zum schonenden Umgang mit Wasser entwickelt und vor Ort umgesetzt werden. Richtige Anreize
können dazu beitragen, umweltschonender zu wirtschaften. Nur mit internationalem Handeln kann dafür ein
Bewusstsein geschaffen werden.
Die jährlich stattfindende World Water Week in Stockholm widmet sich in diesem Jahr im August ebenfalls
dem Thema Wasser und Ernährungssicherheit. Es ist
also erkennbar, dass dieses Thema verstärkt in einem internationalen Kontext diskutiert wird.
In diesem Umfeld ist es richtig und wichtig, dass der
Bundestag selbst aktiv wird und die Neuausrichtung der
internationalen Politik durch eigene Aktivitäten unterstützt. Mit unserem Antrag wollen wir dazu beitragen,
dass sich die Bundesregierung noch stärker mit weiteren
Schritten für die Wasser- und Ernährungssicherheit
einsetzt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung engagiert sich seit
Jahren traditionell stark für eine Entwicklungszusammenarbeit im Wassersektor. Wasserbezogene Entwicklungsvorhaben waren in den vergangenen Jahren der
zweitgrößte Investitionsbereich der gesamten deutschen
Entwicklungszusammenarbeit. Deutsches Know-how
und deutsche Expertise im Wassersektor sind weltweit
führend. So hat beispielsweise die entwicklungspolitische Zusammenarbeit zwischen Jordanien und Deutschland vor allem im Wassersektor den Schwerpunkt. Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft können
daher die Entwicklung eines effizienten WassermanageZu Protokoll gegebene Reden
ments in Jordanien entscheidend voranbringen. Wir begrüßen dieses Engagement des BMZ und fordern, solche
Projekte weiter auszudehnen.
Dabei sind auch alle Kooperationen hilfreich, bei denen die Verbindung zwischen modernen Technologien
mit der Privatwirtschaft und entwicklungspolitischer
Arbeit synergetische Fortschritte bringen. Die Deutsche
Klimatechnologieinitiative - um ein Beispiel herauszugreifen - arbeitet mit dem Ziel, Rahmenbedingungen für
den Einsatz von Technologien für den Klimaschutz zu
schaffen. Es werden innovative Technologien deutscher
Unternehmen mittels bilateraler Technologiepartnerschaften in Länder vermittelt, die diese benötigen. Dies
zeigt gelungene Beispiele, die auch auf dem Sektor der
Bewässerungssysteme in Zukunft verstärkt genutzt werden sollen. Die Deutsche Klimatechnologieinitiative ist
dabei eine enge Kooperation von BMU und BMZ. Insoweit wird deutlich, dass eine gute Kooperation mehrerer
Ministerien erfolgreich in der Lage ist, Technologien für
Entwicklungsländer nutzbar zu machen. Für die zukünftige Ernährungssicherung durch besseres Wassermanagement könnte deshalb eine weitergehende Kooperation der projektaktiven Ministerien wie BMU, BMZ und
BMELV noch größere Erfolge erzielen. Ministerien und
Behörden sollten den engen Zusammenhang von Klima,
Energie, Wasser und Nahrung stärker in den Blick nehmen und nicht mehr nur als Einzelelemente betrachten.
Zu diesem Ergebnis kommt auch die Nexus-Konferenz,
die unter Federführung der Bundesregierung vergangenen November in Bonn stattfand.
Deutschland ist zwar von einer Verknappung der
Wasservorräte nicht direkt betroffen. Dennoch wird jedoch häufig übersehen, dass viele Industriestaaten ihren
steigenden Bedarf mit Wasser aus ärmeren Ländern decken. Dies wird besonders deutlich bei der Berechnung
des Wasserfußabdrucks eines jeden Landes. Mit dem Import von Lebensmitteln aus anderen Ländern wird
zwangsläufig auch das für die Produktion genutzte Wasser importiert. Zum Beispiel werden in Südspanien in
großem Umfang Erdbeeren für den Markt in Deutschland produziert, obwohl Südspanien schon lange unter
Wassermangel leidet. Seit Jahren sinkt der Grundwasserspiegel, und immer öfter trocknen die Zuflüsse aus.
Für diese Situation sind wir durch unser Konsumverhalten mitverantwortlich. Industriestaaten und damit
Deutschland sind deshalb auch indirekt zum Handeln
verpflichtet, um Wasserknappheit in anderen Regionen
der Welt zu bekämpfen.
Die ständige Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser ist für uns in Deutschland eine absolute Selbstverständlichkeit. Jeder von uns verbraucht im Durchschnitt
127 Liter pro Tag. Davon nutzen wir nur den kleinsten
Teil, nämlich etwa 5 Liter, zum Trinken und Kochen also als Lebensmittel. Der weitaus größte Teil wird zum
Duschen, Wäschewaschen, für die Toilettenspülung oder
auch zum Blumengießen im Garten verwendet. Es ist so
einfach: Wir drehen den Wasserhahn auf, und das Wasser ist da.
Für rund 900 Millionen Menschen auf der Welt aber
ist sauberes Wasser alles andere als Normalität. Für sie
ist der tägliche Kampf ums Überleben auch ein täglicher
Kampf um Trinkwasser. Noch weit größer ist die Zahl
derer, die keinen Zugang zu sanitärer Grundversorgung
haben.
Die Folgen sind dramatisch: dreckiges Trinkwasser
und mangelnde sanitäre Ver- und Entsorgung verursachen Krankheiten bis hin zu Seuchen. Und es ist wie so
oft: Es sind die Ärmsten der Armen, die unter der ungerechten Verteilung der wertvollen Ressource Wasser leiden. Während sich der weltweite Zugang zu sauberem
Wasser grundsätzlich in den letzten Jahren stark verbessert hat, liegt die Versorgung in vielen Ländern Afrikas,
insbesondere in den ländlichen Gebieten südlich der Sahara, noch immer erst bei 60 Prozent.
Nun haben wir uns sicher alle gefreut, als kürzlich
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon das siebte der Millenniumsentwicklungsziele hinsichtlich der Zielvorgabe,
bis 2015 den Anteil der Menschen um die Hälfte zu senken, die keinen Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser
und grundlegenden sanitären Einrichtungen haben,
schon jetzt für erfüllt erklärt hat. In der Tat hat sich die
Versorgungslage insgesamt verbessert; aber die Lage in
Afrika ist - obwohl auch hier Fortschritte erzielt werden
konnten - nach wie vor besorgniserregend. Keinesfalls
dürfen wir uns also auf dem bislang Erreichten ausruhen, sondern müssen weiter für jeden Tropfen sauberen
Wassers kämpfen. Das Menschenrecht auf Trinkwasser
wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nation 2010 offiziell anerkannt. Es darf kein Lippenbekenntnis bleiben.
So gesehen ist es sicherlich zu begrüßen, dass sich die
Koalition des Problems in einem Antrag angenommen
hat. Leider muss man sagen: Problem erkannt, aber mit
den Forderungen, die die Koalition stellt, nicht gebannt.
Der Problemaufriss ist in weiten Teilen richtig, die
Schlussfolgerungen sind dürftig und bleiben leider zu oft
unkonkret. Wenn es etwa in Punkt 15 heißt, Regelwerke
im Wassersektor sollten weiterentwickelt werden, dann
wäre es schon interessant, zu wissen, was damit konkret
gemeint ist. Etwas mehr Mut im Forderungsteil hätte
man sich schon gewünscht, zumal Deutschland im Wassersektor einen bis dato guten Ruf zu verteidigen hat.
Seit vielen Jahren schon ist der Wassersektor ein
Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Das deutsche Engagement reicht dabei von Infrastrukturmaßnahmen bis hin zur Unterstützung bei der
Ressourcenverwaltung. Im Wassersektor ist das umfassende integrierte Wasserressourcenmanagement schon
seit langem das Leitbild. Insofern haben wir durch jahrelanges kontinuierliches Wirken in diesem Bereich
wohl einen nicht unerheblichen Anteil an dem, was in
unseren Partnerländern erreicht werden konnte. Es ist
zu hoffen, dass die Bundesregierung den Weg weitergeht und zwar nicht nur durch bi-, sondern auch durch multilaterale Zusammenarbeit.
Wichtig ist, dass wir Wasser als Gut der öffentlichen
Daseinsvorsorge begreifen. Wasser ist Leben, und es ist
erste Pflicht des Staates, seinen Bürgern ein menschenZu Protokoll gegebene Reden
würdiges Leben zu ermöglichen. Für das Lebensmittel
Wasser heißt das, dass es in erster Linie bezahlbar sein
muss, damit jeder die Möglichkeit hat, sich zu versorgen. Ob daher die Beschränkung auf private Versorger,
wie von der Koalition vorgesehen, der Königsweg ist,
muss bezweifelt werden. Knappe Ressourcen und gewinnorientierte Privatunternehmen auf der einen und der
Kampf der Ärmsten ums Überleben auf der anderen
Seite - das geht nicht zusammen. Mindestens ebenso
wichtig wie regulierte Tarifsysteme für private Anbieter,
wie von der Koalition vorgeschlagen, ist daher die Einbeziehung kommunaler Versorger und genossenschaftlicher Modelle.
Nicht nur an dieser Stelle bleibt der vorliegende Antrag hinter seinen Möglichkeiten zurück. Man würde
sich insgesamt von der Koalition einen weiteren Blick
auf die Dinge wünschen. Der Zugang zu Trinkwasser ist
eben nur ein Glied in einer ganzen Kette von entwicklungspolitischen Maßnahmen, die zusammenwirken
müssen. So wird etwa nur sehr am Rande die Problematik des Landgrabbing gestreift. Die aber lässt sich nicht
von der Frage der Wasserknappheit abtrennen. Landgrabbing geht naturgemäß oft mit Watergrabbing einher,
wenn riesige Ländereien bewirtschaftet und dementsprechend auch bewässert werden. Wenn Betriebe aus dem
Ausland im großen Stil Ackerland nehmen und Wasser
beanspruchen, bleiben für die lokale Landwirtschaft oft
nur noch trockene, unbrauchbare Flächen. Hier brauchen wir in Zukunft strengere Regeln für die Nutzung sowohl von Land als auch von Wasser. Die FAO hat kürzlich einen Aufschlag gemacht und neue Leitlinien
formuliert. Ich empfehle der Koalition, dort einmal hineinzuschauen.
Gleiches gilt übrigens auch für den Bereich der industriellen Produktion, der neben der Landwirtschaft
der größte Wasserverbraucher ist. Es ist absolut enttäuschend, dass im Antrag keinerlei verbindliche Regeln
für die Nutzung von Wasser durch die Industrie entworfen werden. Die Koalition vertraut stattdessen auf - wie
es heißt - ein enges und vernetztes Zusammenspiel von
Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Allein auf freiwillige Selbstbeschränkung zu setzen, wird aber kaum reichen. Es ist naiv, das zu glauben.
Letztlich muss man festhalten: Der Antrag, den wir
heute debattieren, hat wie die meisten seiner Vorgänger
auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Sämtliche schwarzgelben Anträge, all die schönen Strategiepapiere und
Konzepte des Ministeriums, sie klingen gut - die Worte
hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wer es im
Haushalt nicht schafft, für die nötigen Aufwüchse in der
Entwicklungszusammenarbeit zu sorgen, der kann noch
so viele Papiere schreiben, sie werden folgenlos bleiben.
Die vielleicht gut gemeinten Ansätze bleiben auf der
Strecke, wenn man nicht die Mittel hat, sie umzusetzen.
Leider werden wir auch in diesem Jahr wieder erleben,
dass die Bundesregierung nicht die erforderlichen Mittel
in den Haushalt einstellen wird, die nötig wären. Von
dem Versprechen, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungszusammenarbeiten bereitzustellen, ist Deutschland heute weiter
entfernt denn je. Ich appelliere daher an die Kolleginnen
und Kollegen von Union und FDP: Stellen Sie die Mittel
zur Verfügung, dann können wir weiterreden. Alles andere ist unglaubwürdig.
Was gute Entwicklungszusammenarbeit im Wassersektor bewirken kann, konnte ich mir erst kürzlich während einer Reise nach Äthiopien anschauen. An unter
anderem durch die Welthungerhilfe eingerichteten Wasserkiosken wird zu fairen Preisen sauberes Trinkwasser
an die Bevölkerung verkauft. Mussten früher die Frauen
kilometerweit laufen, um mühselig Wasser zu besorgen,
ist der Zugang nun wesentlich vereinfacht. Das bringt
eine enorme zeitliche und damit wirtschaftliche Ersparnis für die Familien. Hinzu kommt, dass denen, die bislang in Tanklastern vorfuhren und zu völlig überteuerten
Preisen eine dreckige Brühe als Trinkwasser verkauft
haben, damit endlich das Handwerk gelegt ist.
Es sind solche Taten und nicht wohlfeile Worte, mit
denen wir dazu beitragen, dass das Millenniumsziel
„Wasser“ nicht nur statistisch erreicht ist, sondern auch
spürbar bei den Menschen ankommt.
So selbstverständlich, wie wir in den Industrieländern den Wasserhahn zu Hause aufdrehen, so wenig
selbstverständlich ist die Versorgung mit Wasser in den
meisten Entwicklungsländern. Wenn wir uns hier im
Reichstag die Hände waschen möchten, dann brauchen
wir uns nur zweimal umzuschauen, und schon sehen wir
den nächsten Wasserhahn. Für die Menschen in den Entwicklungsländern hingegen entscheidet es sich jeden
Tag neu, ob sie genügend Wasser zum Trinken, für die
Bewässerung von Pflanzen oder zum Tränken für ihre
Tiere vorfinden. Und auch hier sind - wie so oft, wenn
wir über Armut sprechen - die Frauen die am stärksten
betroffene Bevölkerungsgruppe. Die Frauen sind es, die
für die häusliche Wasservorsorge zuständig sind. Im
Durchschnitt legen Frauen und Mädchen täglich sechs
Kilometer Fußweg zurück, um 20 Liter Wasser nach
Hause zu tragen. Je problematischer die Wassersituation ist, desto weiter müssen sie gehen, und desto weniger Zeit bleibt den Mädchen für den Schulbesuch oder
den Frauen für Erwerbsarbeit, die sie unabhängig machen könnte.
Der diesjährige Weltwassertag, der jedes Jahr am
22. März von den Vereinten Nationen ausgerufen wird,
stellt den Zusammenhang zwischen Wasser und Nahrungssicherheit in den Vordergrund, genauso wie der
ihnen vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen. Bei
einer steigenden Weltbevölkerung muss die Wasserversorgung immer im Zusammenhang mit der Nahrungssicherheit betrachtet werden. Besonders die Produktion
von Nahrungsmitteln verknappt die vorhandenen Wasservorräte. Für die Produktion von einem Kilogramm
Weizen werden 1 500 Liter benötigt, für die Produktion
von einem Kilogramm Rindfleisch sogar 15 000 Liter
Wasser.
Es wird in Zukunft darum gehen, dass wir in der westlichen Welt mit unseren Ressourcen und mit denen in den
Entwicklungsländern schonender umgehen. Die Kampagne der Bundesministerin Aigner „Zu gut für die Tonne“
Zu Protokoll gegebene Reden
geht da in die richtige Richtung. Wir können es uns nicht
leisten, Lebensmittel wegzuwerfen und zu vernichten.
Und es wird in Zukunft immer mehr auf die technologische Entwicklung in diesem Bereich ankommen. Speziell
in den Entwicklungsländern lässt sich hier mit vergleichsweise wenigen Mitteln viel für den effizienteren
Wassereinsatz tun.
Ferner benötigt insbesondere die Industrie einen erheblichen Anteil der Wasserressourcen. Hier bedarf es
einer engen und vernetzten Zusammenarbeit zwischen
Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Wir brauchen ein
nachhaltiges Zusammenspiel von Landwirtschaft und
Industrie um die Ressource Wasser aufzubauen.
Das siebte Milleniumsentwicklungsziel, den Anteil
der Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitäre Grundversorgung haben, zwischen
1990 und 2015 um die Hälfte zu senken, haben wir vor
einigen Wochen erreicht. Das ist ein großer Erfolg.
Doch noch immer haben fast 900 Millionen Menschen
auf der Welt keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser
und 2,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu adäquaten sanitären Einrichtungen. Sauberes Trinkwasser ist
eine Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben. Viele,
auch tödliche, Krankheiten ließen sich durch eine saubere Trinkwasserversorgung von Vorneherein verhindern. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden
im Jahr 2025 zwei Drittel der Weltbevölkerung von Wasserknappheit betroffen sein.
Gleichzeitig gibt es berechtigte Warnungen der Weltgemeinschaft, dass der Streit um den Zugang zu Wasser
und um die Nutzungsrechte von Wasser eine immer größere Bedrohung für den Frieden auf der Welt sein wird.
Dürren, Überschwemmungen und Mangel an Trinkwasser können demnach in den kommenden Jahrzehnten zu
Instabilität führen und Konflikte schüren. So könnten
stromaufwärts gelegene Nationen die Wasserverteilung
als Druckmittel gegen ihre stromabwärts gelegenen
Nachbarn einsetzen.
Daher fordern wir, dass die weltweite Wasserversorgung weiter in den Fokus der internationalen Gemeinschaft gerückt wird, Krisenpläne bei Dürren oder
Überschwemmungen weiter integriert werden, die Desertifikationen zurückgedrängt werden, die Forschung
in Technik und Pflanzen vorangetrieben wird, der Technologieaustausch verstärkt wird, noch mehr Unterstützung bei Bewässerungs- und Kanalisationssystemen
geleistet wird und die Stärkung von Wasserversorgungssystemen in den Entwicklungsländern weiter vorgenommen wird. Wasser ist die Quelle allen Lebens. Der
Mensch kann fast 30 Tage ohne Nahrung überleben,
aber nur 3 Tage ohne Wasser.
Unser Antrag zeigt einen Weg auf, wie wir in Zukunft
das Recht auf den Zugang zu sauberem Wasser weltweit
umsetzen können. Ich bitte Sie daher um die Unterstützung unseres Antrags.
Ich möchte eines klar feststellen zu Beginn meiner
Rede: Für uns, die Linke, ist das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung nicht nur eine
Floskel. Wir müssen es auch weltweit umsetzen. Deshalb
muss die Wasserversorgung überall auf der Welt als öffentliche Aufgabe, als Teil der Daseinsvorsorge, begriffen werden. Eine ausreichende Trinkwasserversorgung
ist für jeden Menschen so existenziell, dass nur die Staaten selbst sie gewährleisten dürfen. Private Konzerne
sind aufgrund ihres Profitstrebens völlig ungeeignete
Akteure auf diesem Gebiet. Das gilt für Berlin ebenso
wie für Chochabamba in Bolivien. Denn private Konzerne gewährleisten nicht, dass arme Teile der Bevölkerung an Wasser kommen; sie verteuern die Preise, um
Gewinne zu machen, und hängen damit die Ärmsten ab.
Der vorliegende Antrag der Koalition weist richtigerweise sehr ausführlich auf die Probleme eines eingeschränkten Zugangs zu Wasser und die daraus resultierenden negativen Folgen für die betroffenen Menschen
hin. Als Lösungsvorschläge bietet er technische Maßnahmen wie effizienteres Wassereinzugsgebietsmanagement oder moderne Verteilungsnetze. Doch für Regionen, in denen heute schon beständig Wassermangel
herrscht, werden diese Vorschläge keine Verbesserungen bringen, zumal sie im Süden nicht finanzierbar sind.
„Wasser sparen“ ist hier der einzig erfolgversprechende
Weg. Und eben dies blendet der vorliegende Antrag aus.
Auch in wasserarmen Regionen ist es häufig nicht die lokale Fehlnutzung, die zu Wassermangel führt, sondern
der Anbau von Agrarrohstoffen für den Konsum in den
Industrieländern, oder auch von Rosen oder wasserintensiven Exportpflanzen wie Kaffee oder Baumwolle.
Dass dabei auch zumeist von kleinbäuerlicher Landwirtschaft auf Industrielandwirtschaft umgestellt wird, steigert die Wasserverschwendung zusätzlich. In ganzen
Landstrichen in Afrika, Asien und Lateinamerika wird
mittlerweile etwa Palmöl zur Biokraftstoffherstellung
angebaut, Tendenz steigend. Wasserökonomisch bedeuten diese Projekte den Super-GAU für ganze Regionen.
Sie fördern Landraub und damit einhergehend Wasserraub. Kein Wort dazu in Ihrem Antrag.
Der Fortschritt wird’s schon richten, wir hier können
auf jeden Fall so weitermachen wie bisher so, lässt sich
die Haltung der Koalition zusammenfassen. Denn wie
beim Thema Klimawandel wollen Sie eines nicht wahrhaben: Es ist primär der Lebensstil in den reichen Ländern mit seiner Wachstums- und Konsumfixierung, der
die Grenzen des globalen Ökosystems aufzeigt. Wir hier
in Deutschland verursachen einen großen Teil der Wasserprobleme in Entwicklungsländern. Das gilt es anzuerkennen, will man brauchbare Lösungsvorschläge machen.
Entgegen der Erkenntnis zahlreicher Studien sollen
gentechnisch veränderte Pflanzen die Ernährungssituation in Dürreregionen verbessern. Was für eine Fehleinschätzung! In der Praxis benötigen die Zauberpflanzen
von Montsanto und Konsorten oft von Jahr zu Jahr mehr
Insektenschutzmittel, die die leichten Vorteile im Ertrag
schnell überwiegen. Nur eines ist am Ende sicher: Der
Gewinn der beteiligten Konzerne steigt. Die Selbstmordwelle unter Kleinbauern zum Beispiel in Indien ist die
tragische Folge einer solchen Politik.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bei näherer Betrachtung erweisen sich auch ihre
Forderungen alles andere als innovativ. Das Konzept
„Integriertes Wasserressourcenmanagement“ etwa
wurde bereits 1992 von Global Water Partnership entwickelt. Und die Vorschläge der 2030 Water Resources
Group in den Planungen des Entwicklungsministeriums
zukünftig zu berücksichtigen, lehnen wir selbstverständlich grundsätzlich ab. Unternehmen wie The Coca-Cola
Company, The International Finance Corporation,
McKinsey & Company, Nestlé S.A., New Holland Agriculture und die Syngenta AG sind Mitglieder dieser
Gruppe. Sie sind naturgemäß daran interessiert, Profit
zu machen. Und ich sage es nochmal: Mit der Wasserversorgung sollte niemand Profit machen.
Stattdessen sollte das Entwicklungsministerium lieber die Vorschläge von kleinbäuerlichen Organisationen
wie Via Campesina berücksichtigen. Auch beim Thema
Wassermanagement findet man hier die kompetentesten
Ansprechpartner. Die Zukunft der Entwicklung des ländlichen Raums liegt in einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die in erster Linie die Versorgung der lokalen Bevölkerung sicherstellt und sparsam mit Ressourcen wie
Wasser umgeht, und eben nicht in der industriellen
Landwirtschaft und Grüner Gentechnik. Doch die von
Wasserknappheit betroffenen Bevölkerungsgruppen sind
erkennbar nicht das Hauptaugenmerk der Koalition.
Denn auch die Forderung nach der Stärkung der Eigentumsrechte dient letztendlich vor allem industriellen
Großprojekten und deren Investoren. In den meisten
Entwicklungsländern sind Land- und Wassernutzungsrechte gewohnheitsrechtlich geregelt. Eine Stärkung der
Eigentumsrechte im herkömmlichen Sinne geht deshalb
in den meisten Fällen zulasten von indigenen Gruppen,
Nomaden, Kleinbauern, Landlosen. Aber Sie nennen
diese Bevölkerungsgruppen nicht einmal beim Namen.
Das sagt viel über die Geisteshaltung in ihrem Antrag
aus.
Die Bundesregierung hat einen Antrag zum Thema
„Wasser und Ernährung sichern“ vorgelegt. Es ist gut,
dass sie dieses Thema aufnimmt. Die weltweite Wasserund Nahrungskrise gehört zu den größten Herausforderungen der internationalen Gemeinschaft. Ich richte
mein Augenmerk hier auf die menschenrechtlichen
Aspekte.
Zunächst die gute Nachricht: Die internationale Gemeinschaft hat ihr für 2015 gesetztes Millenniumsentwicklungsziel erreicht, den Anteil der Menschen mit
mangelhaftem Zugang zu sauberem Trinkwasser zu halbieren. 89 Prozent der Weltbevölkerung haben Zugang
zu sauberem Trinkwasser. 2 Milliarden mehr Menschen
können heute sauberes Wasser trinken als noch 1990.
Weniger Kinder sterben oder werden krank, und mehr
Mädchen können Zeit in ihre Ausbildung investieren, anstatt Wasser für den häuslichen Bedarf zu organisieren.
Dagegen ist das Ziel, den Anteil der Menschen ohne Sanitärversorgung zu halbieren, leider noch lange nicht
erreicht.
Der Erfolg in der Wasserversorgung blendet ein wenig. Da der Zugang zu Wasser vor allem in China und
Indien verbessert werden konnte, täuschen die Zahlen
leicht über weiterhin schlechte Bedingungen in Subsahara-Afrika und über Rückschritte in Zentralasien oder
Ozeanien hinweg. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass vor allem die Reicheren von einer besseren
Versorgung profitieren. Leidtragende sind noch immer
die Ärmsten der Armen, die Landbevölkerung sowie
Frauen und Kinder. Fortschritte gehen ausgerechnet an
denjenigen vorbei, die besonders auf sie angewiesen
sind.
Quantitative Ziele sind wichtig, aber sie bergen die
Gefahr, dass sich Staaten vor allem auf die leicht zugänglichen Armen, etwa in Großstädten, konzentrieren.
Auch wenn der Staat seine Versorgungsstatistik damit
insgesamt verbessert hat - die Bevölkerung in weniger
gut zugänglichen Regionen geht oft leer aus. Ein Menschenrechtsansatz darf die Versorgungsdiskrepanzen
zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht aus
dem Blick verlieren. Er richtet den Fokus explizit auf Benachteiligte, Marginalisierte und Diskriminierte.
Im Antrag der Bundesregierung wird das Menschenrecht auf Nahrung nicht erwähnt. Doch es macht einen
Unterschied, ob wir von Nahrungsmitteln als Gnade
oder als rechtliche Ansprüche sprechen. Nach dem Menschenrecht auf Nahrung sind Regierungen aufgefordert,
alle möglichen Schritte zu unternehmen, um sicherzustellen, dass niemand Hunger leidet und dass für jede
und jeden Einzelnen das Recht auf angemessene Nahrung sobald wie möglich verwirklicht wird.
Für Kinder aus den ärmsten 20 Prozent der Haushalte in Entwicklungsländern ist das Risiko, vor dem Erreichen des fünften Lebensjahrs an Hunger zu sterben,
mehr als doppelt so hoch wie für Kinder aus den reichsten 20 Prozent der Haushalte. Auch die Staatengemeinschaft ist verpflichtet, gemeinsam und einzeln zu handeln, um das Recht auch außerhalb ihres eigenen
Landes zu unterstützen und umzusetzen. Bei der Vielzahl
an Organisationen und Staaten, die sich im Kampf gegen Hunger engagieren, kann das Menschenrecht auf
Nahrung als bindender Referenzrahmen Orientierung
geben und zur Harmonisierung und Kohärenz der verschiedenen Politiken beitragen.
Als einflussreiches Industrieland tragen wir eine besondere Verantwortung für eine gerechte Wirtschaft.
Wer es mit dem Kampf gegen Hunger ernst meint, darf
nicht an Agrarexportsubventionen oder spekulativen Finanzinvestitionen auf Agrarmärkten festhalten. Es gilt,
vor allem eine kleinbäuerliche, klimaverträgliche Landwirtschaft zu fördern. In ländlichen Gebieten sind Kinder doppelt so häufig untergewichtig wie in städtischen
Gebieten.
Die Menschenrechte auf Wasser und Nahrung erscheinen vielen als abstrakte Normen, die in endlosen
internationalen Konferenzen verhandelt werden, aber
kaum konkrete Auswirkungen in der Praxis haben. Inzwischen ist die Argumentation mit rechtlichen Ansprüchen auf Wasser und Nahrung aber zu einem viel genutzten Instrument vor allem der Zivilgesellschaft avanciert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das ist gut so. Denn nach wie vor klafft eine Lücke zwischen geäußerten Absichten und tatsächlichem politischen Willen. Menschenrechte auf Wasser und Nahrung
bleiben eine ständige Herausforderung. Sie müssen immer wieder gegen Widerstände erkämpft, eingefordert
und beharrlich in Erinnerung gerufen werden. Sie erfordern einen langen Atem und den unbedingten Willen zur
Veränderung. Dann helfen sie, Mauern einzureißen, die
den Weg zu gerechteren Lösungen der weltweiten Wasser- und Nahrungskrise versperren.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9153 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Dr. Eva Högl, Michael Roth ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ berücksichtigen
- Drucksache 17/9154 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9154 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 19. September 2011
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Türkei zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/8841 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 17/9140 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({4})
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.
Dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Gesetzent-
wurf zur Ratifikation eines neuen Doppelbesteuerungs-
abkommens mit der Republik Türkei vor.
Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen
dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten
für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden.
Damit können die internationale wirtschaftliche Zusam-
menarbeit verbessert und Investitionshemmnisse auf-
grund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden.
Deutschland ist mit einem Handelsvolumen von rund
26 Milliarden Euro im Jahr 2010 der wichtigste Han-
delspartner der Republik Türkei. Die Zahl deutscher
Unternehmen in der Türkei liegt bei über 4 700. Beein-
druckend ist auch das deutsche Investitionsvolumen:
rund 6,3 Milliarden Euro.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte bereits seit
1985 ein Doppelbesteuerungsabkommen mit der Türkei,
das jedoch fundamentale Steuervorteile für die türkische
Seite enthielt. Diese Regelungen entsprachen in den
letzten Jahren nicht mehr der deutschen Doppelbesteue-
rungspolitik und auch nicht einmal mehr der Praxis, wie
sie gegenüber Entwicklungsländern angewendet wird.
Unter anderem gab es die Möglichkeit, „fiktive“ Steu-
ern, also in der Türkei nicht gezahlte Steuern, in
Deutschland steuermindernd geltend zu machen.
Mit der türkischen Regierung konnte in drei Revi-
sionsverhandlungen von 2007 bis 2008 keine Einigung
erzielt werden, weshalb dann 2009 das alte Doppelbe-
steuerungsabkommen mit der Türkei gekündigt wurde,
mit dem Angebot und Ziel, Verhandlungen über ein
neues Abkommen aufzunehmen. Aus diesem Grund galt
eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2010, in der
das alte Abkommen weiter angewendet wurde.
In Verhandlungen mit der Türkei wurde ein neues Ab-
kommen erarbeitet, das die kritisierten Punkte aufnahm
und auf der Höhe der aktuellen deutschen Abkommens-
politik ist. Das neue Doppelbesteuerungsabkommen,1) Anlage 12
das am 19. September 2011 unterzeichnet wurde, hält
sich im Wesentlichen an das OECD-Musterabkommen.
Ziel des neuen Abkommens ist einerseits die Vermeidung einer Doppelbesteuerung von deutschen
Unternehmen und Privatpersonen in der Türkei und andererseits eine Verbesserung der Bekämpfung von Steuerhinterziehung.
Lassen Sie mich die wichtigsten Änderungen kurz erläutern:
Das Besteuerungsrecht von Dividenden wurde für
den Quellenstaat auf 5 Prozent begrenzt. Das entspricht
dem OECD-Musterabkommen. Hierfür muss der Nutzungsberechtigte eine Gesellschaft sein, die mindestens
25 Prozent der Anteile an der ausschüttenden Gesellschaft hält; ansonsten beträgt der Quellensteuersatz
15 Prozent des Bruttoertrages der Dividenden.
Ruhegehälter oder Renten können nun auch im Quellenstaat, also dem auszahlenden Land, besteuert
werden. Bisher musste die Steuer im Wohnsitzstaat abgeführt werden. Das bedeutet für Deutschland etwa,
dass die Renten, die in die Türkei überwiesen werden, in
Deutschland versteuert werden. Beispielsweise kann die
Rente des ehemaligen türkischen Gastarbeiters in
Deutschland, der seinen Ruhestand in der Türkei verbringt, mit dem neuen Abkommen erstmals von den deutschen Steuerbehörden besteuert werden, wie das im
Übrigen beim Großteil der Renten schon geschieht, die
ins Ausland überwiesen werden. Allerdings fällt die Besteuerung erst ab einer Höhe von mehr als 10 000 Euro
an und beträgt maximal 10 Prozent. Der steuerfreie Teil
der Rente ist jedoch anzurechnen. Deutschland zahlte im
Jahr 2010 mehr als 53 000 Renten mit einem Volumen
von circa 335 Millionen Euro in die Türkei. Diese
Summe kann jetzt also in Deutschland teilweise versteuert werden.
Erstmalig erhält die Bundesrepublik Deutschland die
Möglichkeit mithilfe einer Umschwenkklausel, einseitig
von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode überzugehen. Hierfür ist erst eine Konsultation mit der Türkei
notwendig. Dieser Fall würde verhindern, dass Einkommen in keinem der beiden Vertragsstaaten besteuert
würden.
Wie bisher wird eine Doppelbesteuerung bei den
wichtigsten Einkünften durch Freistellung vermieden.
Beispiele wären Einkünfte aus selbstständiger und unselbstständiger Arbeit oder Gewinne aus Betriebsstätten
in der Türkei oder Deutschland.
Bei Einkünften, die nicht von der deutschen Steuer
freigestellt werden, wird die türkische Steuer auf die
deutsche Steuer angerechnet. Das gilt etwa für Zinsen,
Lizenzgebühren, Vorstandsvergütungen oder Gagen von
Sportlern oder Künstlern.
Die deutsche Steuerfreistellung wird also nur bei aktiver Tätigkeit in der Türkei gewährt. Das alte Abkommen
sah hier bisher die Anrechnung von fiktiven, nicht gezahlten, türkischen Steuern auf Streubesitzdividenden, Zinsen
und Lizenzgebühren vor, die in Deutschland angerechnet
werden konnten - das ist jetzt nicht mehr möglich.
Auf der anderen Seite eröffnet das neue Doppelbesteuerungsabkommen bessere Möglichkeiten des Informationsaustausches in Steuersachen. Informationen,
die zur Durchführung des Abkommens notwendig sind,
aber auch Informationen, die zur Verwaltung und
Durchsetzung von Steuern jeder Art erforderlich sind,
werden unter den entsprechenden Behörden ausgetauscht. Keiner der beiden Staaten kann sich auf ein
Bankgeheimnis berufen. Neu vereinbart wurde auch die
Amtshilfe bei der Steuererhebung zwischen der Türkei
und der Bundesrepublik.
Mit diesem Abkommen wird es Steuerbetrügern wieder ein Stück schwerer gemacht, ihr Vermögen am Finanzamt vorbeizumanövrieren.
Die Türkei entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten
zu einer Industrienation und einem großen Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland. Sie gilt zudem als
Stabilitätsfaktor im Nahen Osten. Es ist deshalb gut und
recht, ein neues Doppelbesteuerungsabkommen zu ratifizieren, das beide Staaten gleichstellt. Deutschland ist
für viele ehemalige türkische Gastarbeiter zu ihrer
Heimat geworden, viele haben hier Geschäfte eröffnet die Türkei ist für deutsche Unternehmen ein guter Wirtschaftsstandort und Handelspartner. Wir möchten die
wirtschaftliche Verbindung der beiden Länder stärken
und setzten deshalb auf dieses faire und sinnvolle
Doppelbesteuerungsabkommen. Das ist gut so.
Wir beraten heute abschließend über den Regierungsentwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
19. September 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen. Die SPDBundestagsfraktion unterstützt diese Vorlage der Bundesregierung, weil wir die Grundsätze und die Arbeitsrichtung des Gesetzes richtig finden - auch wenn uns
noch einige Verbesserungsvorschläge zu Einzelaspekten
des Vertragsgesetzes einfallen, die in den Verhandlungen mit der Türkei aber leider nicht aufgegriffen
wurden. Das Abkommen mit der Türkei enthält gute
Regelungen, die die Steuereinnahmen der öffentlichen
Haushalte in Deutschland stärken, den Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten und die Zusammenarbeit bei der Steuererhebung zwischen den Verwaltungsbehörden verbessern, den Besteuerungsinteressen
beider Seiten im Kompromiss entgegenkommen und
steuerliche Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und
Deutschland abbauen helfen.
Unsere Zustimmung zu einem Vorschlag der Bundesregierung ist auch deshalb erwähnenswert geworden, da
es die Bundesregierung und die sie tragenden Regierungsfraktionen von CDU, CSU und FDP der Opposition in den letzten Wochen und Monaten häufig sehr
schwer gemacht haben, ihren schlechten, zögerlichen,
unvollständigen oder gleich ganz fehlenden Verhandlungsergebnissen auf europäischer und internationaler
Bühne zuzustimmen. Das ist eine bedauerliche EntwickZu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
lung; denn es gibt in der sozialdemokratischen Fraktion
ein grundsätzliches Bekenntnis zu europäischer und internationaler Solidarität und eine Bereitschaft, sinnvolle
Regelungen zu unterstützen, mit denen sich unsere
gemeinsamen Interessen in der Steuerpolitik, in der
Finanzmarktregulierung, in der Bewältigung der Finanzkrisen im Ausland gemeinsam vertreten lassen.
Allerdings streut die lärmende Uneinigkeit in der Regierungskoalition immer wieder Sand ins Getriebe bei der
Suche nach einheitlichen und abgestimmten Positionen,
die Deutschlands Wahrnehmung als verlässlichen und
berechenbaren Partner in Europa stärken.
Ich bin daher über jedes zustimmungsfähige Verhandlungsergebnis froh und erleichtert, das die Bundesregierung vorlegt. Mein Dank geht daher an dieser Stelle an
meine Kolleginnen und Kollegen im Finanzausschuss
und insbesondere auch an die Fachbeamtinnen und
Fachbeamten des Bundesfinanzministeriums, denen wir
das gute Verhandlungsergebnis mit der Türkei verdanken. Obwohl stets mehr wünschbar ist - diese Verhandlungsleistung der Finanzbeamten und Finanzbeamtinnen ist umso höher einzuschätzen, als wir gegenwärtig
mit Westerwelle und Niebel auf dem Tiefpunkt deutscher
Außendarstellung und -politik angekommen sind.
Das alte, aus dem Jahr 1985 stammende und im Jahr
2009 gekündigte Abkommen mit der Türkei hat der
rasanten Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen
und der engen gesellschaftlichen Verflechtungen zwischen der Türkei und Deutschland nicht mehr angemessen Rechnung getragen. Es ist Ende 2010 ausgelaufen
und wird durch das heute beschlossene neue Abkommen
ersetzt. Das rückwirkende Inkrafttreten zum 1. Januar
2011 gewährleistet Rechtssicherheit und stellt sicher,
dass keine Lücke in der Rechtsanwendung entsteht.
Das Abkommen mit der Türkei schafft neue Möglichkeiten zur Besteuerung von Sozialversicherungsrenten
und Ruhegehältern auch im Quellenstaat. Bislang lag
das Besteuerungsrecht ausschließlich beim Wohnsitzstaat; die gesetzliche Rente des Arbeitnehmers, der seinen wohlverdienten Ruhestand im milden Klima der türkischen Riviera genießt, unterlag in Deutschland also
nicht der Besteuerung - und ich kann verstehen, wenn
sich mancher Rentner im deutschen Winter ungerecht
behandelt fühlt, dessen Rente hierzulande in zunehmendem Umfang steuerlich belastet wird. Die Türkei hat in
den Verhandlungen das deutsche Besteuerungsinteresse
anerkannt; im Gegenzug hat man sich im Kompromiss
darauf verständigt, den Steuersatz im Quellenstaat auf
10 Prozent zu beschränken. Außerdem greift die Besteuerung erst bei Leistungen über 10 000 Euro; allerdings
wird der steuerfreie Teil der Rente nach § 22 Nr. 1 Satz 3
EStG auf diesen Freibetrag angerechnet.
Art. 25 des Abkommens enthält wichtige Passagen
zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das Abkommen orientiert sich am Musterabkommen, MA, der
Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, OECD-MA, das einen international akzeptierten Standard für den umfassenden Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten definiert. In den Verhandlungen mit der Türkei wurde eine Klausel über den
Informationsaustausch gemäß dem OECD-Standard aus
dem Jahr 2008 aufgenommen, OECD-MA 2005. Damit
wird ein Austausch von Informationen auf Anfrage möglich, die zur Durchführung dieses Abkommens und des
innerstaatlichen Besteuerungsrechts der Vertragsstaaten erforderlich sind. Betroffen sind Steuern aller Art
und Bezeichnung, nicht nur diejenigen, auf die sich das
DBA bezieht. Ein Bankgeheimnis darf sich nicht dahin
gehend auswirken, dass diese Informationen nicht übermittelt werden können. Im Zusammenwirken mit Art. 26
des Abkommens, der die wechselseitige Amtshilfe bei
der Erhebung von Steuern regelt, sind dies wichtige
Fortschritte, die bei der einheitlichen Anwendung unseres Steuerrechts helfen.
Leider ist der Informationsaustausch aber nicht so
umfassend, wie wir uns das in der SPD-Fraktion vorstellen, nämlich im Sinne eines automatischen Informationsaustauschs, bei dem steuerlich relevante Daten
übermittelt werden, ohne dass es eine konkrete Anfrage
der jeweiligen Behörde zur Aufklärung eines Sachverhaltes geben muss oder ohne dass es einen begründeten
Anfangsverdacht auf Steuerhinterziehung oder -betrug
geben muss. Der automatische Austausch ist nach
Art. 26 OECD-MA möglich und mit Blick auf die enge
wirtschaftliche Verflechtung zwischen der Türkei und
Deutschland und der nicht nur geografischen Nähe der
Türkei zum einheitlichen Wirtschafts- und Verwaltungsraum der Europäischen Union auch wünschenswert. In
der Europäischen Union ist der automatische Informationsaustausch bei Zinseinkünften in einer Richtlinie
geregelt - auch wenn es immer noch Staaten gibt, die
sich der lückenlosen Anwendung dieser Regel und der
Einbeziehung weiterer Arten von Kapitaleinkünften aus
Eigeninteresse widersetzen. Eine entsprechende Einigung mit der Türkei wäre hier in der Auseinandersetzung um die Weiterentwicklung der Zinsrichtlinie sicherlich hilfreich gewesen.
Meine Nachfrage in den Beratungen im Finanzausschuss nach den Unterschieden zum OECD-Musterabkommen haben folgende Klarstellungen ergeben:
Deutschland und die Türkei haben Quellsteuersätze auf
Lizenzgebühren vereinbart, die im Musterabkommen
nicht vorgesehen sind. Außerdem konnte die Bundesregierung ein eigenes Besteuerungsrecht erzielen, das
nach dem Musterabkommen nur dem Wohnsitzstaat zusteht. Weitere Abweichungen bestehen bei der Definition
von Betriebsstätten: Die türkische Seite hat in diesem
Punkt ihre Besteuerungsinteressen verteidigt.
Das Abkommen bringt auch einige wichtige Verbesserungen für die Besteuerung von Kapitaleinkünften aus
dem unternehmerischen Bereich, wovon wir uns Mehreinnahmen für die öffentlichen Haushalte in Deutschland versprechen: Bei Zinseinkünften wird der Quellensteuersatz, der in dem Land erhoben wird, aus dem die
Zinsen zufließen, von 15 auf 10 Prozent reduziert,
Art. 11. Zudem hat sich die Türkei bereit erklärt, auf
eine Besteuerung von Zinsen aus Hermes-Bürgschaften
und Zinszahlungen an die Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW, Deutsche Entwicklungsgesellschaft, DEG,
Bundesregierung und Bundesbank zu verzichten. Es geht
dabei um Zinsen, die in Deutschland steuerpflichtige
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({1})
Unternehmen als „Gegenleistung“ für Unterstützungszusagen der öffentlichen Hand zahlen müssen. Diese
Garantien spielen eine wichtige Rolle dabei, die finanziellen Risiken für deutsche Unternehmen bei einem Engagement im Ausland zu verringern - eine sinnvolle
Einrichtung, von der sowohl deutsche Unternehmen als
auch die Staaten profitieren, in denen sie investieren.
Bei Einnahmen aus Dividenden, die eine türkische
Tochtergesellschaft an ihre deutsche Konzernmutter
ausschüttet, wird das Besteuerungsrecht des Quellenstaats von 15 auf 5 Prozent des Bruttobetrags begrenzt,
wenn das begünstigte Unternehmen mit mehr als
25 Prozent an der ausschüttenden Gesellschaft beteiligt
ist. Bislang galt für Dividendenausschüttungen aus diesen sogenannten Schachtelbeteiligungen eine Mindestbeteiligungsquote von 10 Prozent. Bei Beteiligungen unterhalb dieser Grenze, sogenannten Streubesitzdividenden, gilt ein von 20 auf 15 Prozent reduzierter
Quellensteuersatz. Diese Regelung ist ein guter Verhandlungserfolg, da sie den Kreis miteinander
verflochtener Unternehmen einengt, die von einem
günstigeren Steuersatz profitieren; außerdem wird der
türkische Quellensteuersatz, der auf die deutsche Steuerschuld angerechnet werden kann, reduziert. Beide
Maßnahmen stärken die deutsche Einnahmeseite. Für
Dividenden, die in umgekehrter Richtung fließen, reduziert sich hingegen die Kapitalertragsteuerbelastung;
damit ist zwar ein Rückgang an Steuereinnahmen verbunden, der mit Blick auf die Kapitalverkehrsbilanz und
darauf, dass die Dividendenströme in der Regel in stärkerem Maße in Richtung Deutschlands fließen, vermutlich aber mehr als kompensiert wird.
Art. 22 des Abkommens enthält eine wichtige „Umschwenkklausel“, die im Zusammenwirken mit den geänderten Regelungen zur Dividendenbesteuerung die
deutsche Steuerbasis stärkt und Gestaltungsmöglichkeiten verschließt, mit denen steuerpflichtige Unternehmen
ihre Steuerbelastung künstlich reduzieren können. Die
Möglichkeit der Anrechnung fiktiver türkischer Quellensteuer wurde gestrichen. Bei der Ermittlung der Steuerbelastung eines Unternehmens in Deutschland wurde in
der Vergangenheit so getan, als ob aus der Türkei zufließende Dividenden dort besteuert worden seien - was in
der Realität allerdings nicht geschah. Diese Einkünfte
wurden dann in Deutschland steuerfrei gestellt, was
wirtschaftlich gesehen wie eine doppelte Nichtbesteuerung wirkte. Deutschland verzichtete mit dieser Regelung quasi auf die Ausübung von Besteuerungsrechten
und die Festlegung von Steuersätzen; es galten vielmehr
die Steuersätze des Quellenstaats, auch wenn diese wie
bei der Türkei effektiv „null“ betrugen. Diese Regelung
ermöglichte es der Türkei, durch einen Verzicht auf eine
Besteuerung ihre Attraktivität als Investitionsstandort
für deutsche Unternehmen zu verbessern; für deutsche
Unternehmen entstanden steuerliche Anreize, Tochtergesellschaften in der Türkei anzusiedeln, insgesamt eine
Lösung, die als - zeitlich befristetes - Instrument der
Außenhandelsförderung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Staaten sinnvoll eingesetzt
werden kann. Die Rahmenbedingungen haben sich
allerdings angesichts der starken Wachstumsdynamik
der türkischen Volkswirtschaft geändert; ein entsprechender steuerrechtlicher Nachvollzug der neuen Konstellation in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten ist damit erforderlich geworden. Der
Übergang zur Anrechnungsmethode ist seit einigen Jahren ein wichtiger Aspekt der deutschen Verhandlungsposition, wenn es um die Revision bestehender Doppelbesteuerungsabkommen und den Abschluss neuer
Vereinbarungen geht.
Deutschland kann künftig von der Freistellungs- zur
Anrechnungsmethode übergehen, um eine doppelte
Nichtbesteuerung zu vermeiden. Das heißt, die in der
Türkei fiktiv gezahlte Quellensteuer führt nicht mehr zu
einer Steuerfreistellung in Deutschland, sondern wird
auf die deutsche Steuerschuld angerechnet. Im Ergebnis
erhöht sich zwar die gesamte Steuerbelastung für das
Unternehmen - allerdings nur auf ein Niveau, das auch
für Unternehmen ohne Tochtergesellschaften im Ausland gilt.
Die Freistellungsmethode gilt im Prinzip bei allen
aktiven Einkünften. Darunter fallen Einkünfte aus
selbstständiger und nichtselbstständiger Arbeit sowie
Einkünfte aus einer Betriebsstätte in der Türkei, bei Dividendenausschüttungen einer in der Türkei ansässigen
Gesellschaft, bei der eine Beteiligung von mindestens
25 Prozent besteht - allerdings unter beschriebenem
Vorbehalt der „Umschwenkklausel“. Die Anrechnungsmethode gilt im Grundsatz bei Einkünften, die nicht der
Freistellung unterliegen, das heißt für Dividenden in
Streubesitz, Zinsen, Lizenzgebühren sowie bei Einkünften von Sportlern und Künstlern.
Doppelbesteuerungsabkommen sind Kompromisse manchmal gute, manchmal schlechte, manchmal reife,
manchmal faule. Es gab schon Abkommen, bei denen
uns die Zustimmung schwerer gefallen ist als bei dieser
Vereinbarung mit der Türkei.
Die Türkei ist ein starker und aufstrebender Wirtschaftspartner für Deutschland, und durch das Anwerbeabkommen, welches vor kurzem 50-jähriges Jubiläum
feierte, sind diese beiden Länder auf eine ganz besondere Weise verbunden. Dies schlägt sich auch sehr deutlich in der Wirtschaft nieder. So gibt es unter den in
Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen
Deutschen auch zahlreiche Unternehmer, die neue Möglichkeiten schaffen und die Wirtschaftsbeziehungen der
beiden Länder intensivieren. Auch kehren viele türkischstämmige, junge Deutsche in die Heimat ihrer Eltern zurück, um unternehmerisch aktiv zu werden, und eine
große Zahl von Firmen fungiert als Brückenbauer, wenn
sie die Bedürfnisse dieser Selbstständigen mit festen
Bindungen zu zwei Ländern bedient und mit ihnen zusammenarbeitet. Der Außenhandel beider Länder untereinander ist in den letzten Jahren stetig und kräftig gewachsen, und Deutschland ist noch vor dem großen
Rohstofflieferanten Russland der wichtigste Handelspartner der Türkei. Zudem lässt das boomende Wirtschaftswachstum der letzten Jahre von bis zu 11 Prozent
die Türkei zu einem immer wichtigeren Absatzmarkt für
Zu Protokoll gegebene Reden
deutsche Unternehmen werden. Viele deutsche Firmen
haben dies erkannt und sind vermehrt auch mit Niederlassungen und Mitarbeitern vor Ort aktiv.
Diese intensive Beziehung macht eine zeitgemäße Regulierung der Besteuerung zwischen den beiden Nationen zu einem wichtigem Thema, dem wir uns auch gerne
gewidmet haben. In dieser Überarbeitung des Doppelbesteuerungsabkommen von 1985 wird primär die Besteuerung von Einkommen neu geregelt, was zahlreiche
Selbstständige, Unternehmer und Angestellte in beiden
Ländern betrifft. Durch klare Regelungen, die den bürokratischen Aufwand vermindern und die Mehrfachbesteuerung von Einkommen verhindern, möchten wir
Steine für unternehmerische lnnovationen aus dem Weg
räumen und einen reibungslosen Ablauf des Handels
und der Investitionen garantieren. Wenn ein Leistungsträger den großen Schritt wagt und im Ausland unternehmerisch aktiv wird oder als Angestellter ein wichtiges Projekt im Ausland übernimmt, bringt er damit den
wirtschaftlichen Fortschritt, von dem alle profitieren,
voran. Daher sollte man diese Menschen nicht abschrecken und für eindeutige Regeln sorgen, damit sie sich in
einer neuen und unbekannten Situation nicht auch noch
mit unsinniger Bürokratie herumschlagen müssen.
Inhaltlich basiert das Abkommen im Wesentlichen auf
dem OECD-Musterabkommen. Durch die Anpassung
verschiedener Besteuerungssätze bei Dividenden- und
Zinszahlungen ist aufgrund eines höheren Zahlungsstroms aus der Türkei nach Deutschland mit einem positiven Saldo für die Bundesrepublik zu rechnen. Die Abschaffung der Möglichkeit zur Anrechnung fiktiver,
tatsächlich nicht gezahlter türkischer Steuern auf die
deutsche Steuer, welche bisher bestand, dürfte ebenfalls
für Mehreinnahmen im deutschen Haushalt sorgen.
Weite Teile des alten Abkommens wie beispielsweise Informationspflichten für Unternehmen bleiben jedoch unverändert.
Dieses Abkommen ist ein vernünftiger Schritt im Rahmen einer stetig wachsenden Beziehung binationaler
Zusammenarbeit. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Steuerverweigerung ist nicht nur ein leichtes Vergehen, sondern unsolidarisch und eine - ich zitiere Professor Bryde, Richter des Bundesverfassungsgerichts „Kampfansage gegen die Grundlagen der staatlichen
Ordnung“. Unsere heutige globalisierte und hochindustrialisierte Welt ist von starkem internationalem Warenund Kapitalverkehr geprägt. Dazu bedarf es dementsprechender Regelungen der Staatengemeinschaften, so
auch im Steuersystem. Die Länder haben unterschiedliche Steuersysteme. Dies führt mitunter zur Steuerhinterziehung und bedeutet unter anderem für Deutschland
jedes Jahr mehrere Milliarden Euro Steuereinbußen. Ich
erinnere auch an die heißbegehrten Steuer-CDs. Sie sind
ein Beispiel dafür, dass der Staat dringend mehr gegen
Steuerflucht und Steuerhinterziehung unternehmen
muss. Damit allerdings keine Doppelbesteuerung erfolgt, existieren zahlreiche Doppelbesteuerungsabkommen, kurz DBA, zwischen Deutschland und anderen
Ländern. Das hier vorliegende Doppelbesteuerungsabkommen mit der Türkei, welches sich an das OECDMusterabkommen von 2005 und 2008 anlehnt, soll das
bereits gekündigte DBA ersetzen.
Noch einmal kurz zur Rolle von Doppelbesteuerungsabkommen: Einerseits ist zu verhindern, dass Staatsbürger, sofern sie in einem anderen Land arbeiten, übermäßig besteuert werden. Gleichzeitig sollen sie verhindern,
dass jemand Vermögen ins Ausland schafft und somit
der Besteuerung im Ursprungsland entzieht.
Der Knackpunkt bei der tatsächlichen Verhinderung
von Steuerumgehung ist der Informationsaustausch
zwischen den Steuerbehörden der Länder. Hier steckt
der Teufel wie so oft im Detail. Selbst nach OECDMusterabkommen erfolgt kein automatischer Informationsaustausch, sondern lediglich ein Austausch auf
Ersuchen. Das heißt, zuerst muss die Steuerverwaltung
einen begründeten Verdacht hegen, um dann im betreffenden Land nachfragen zu können. Das ist bürokratisch, kostet Zeit, frisst viele Ressourcen und unterstützt
die Steuerumgehung. Deshalb fordert die Linke seit langem einen automatischen Informationsaustausch.
Was soll nun im DBA mit der Türkei geregelt werden?
Neu im Vergleich zu anderen DBA enthält dieses hier
auch eine Regelung zur Verhinderung der Doppelbesteuerung von Renten. Die Politik der Bundesregierung besteht hier - unter Verweis auf den Übergang zur
nachgelagerten Besteuerung - seit geraumer Zeit darin,
Rentenbezüge aus Deutschland auch dann besteuern zu
können, wenn sie an Empfängerinnen und Empfänger im
Ausland fließen.
Dieses DBA ist zwar im Vergleich zum alten DBA ein
Fortschritt, aber immer noch unzureichend. Denn es
wurde keine verbindliche Umsetzung von Spontanauskunft und automatischem Informationsaustausch vereinbart. Zudem wird im Wesentlichen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung das Freistellungsverfahren angewendet und nicht, wie wir fordern, das Anrechnungsverfahren. Ich frage mich auch, warum in dieses Abkommen
nicht die Erbschaft- und Schenkungsteuer aufgenommen
worden ist. Und ich frage mich, warum hinsichtlich des
Informationsaustausches der Standard des OECDMusterabkommens von 2005 genommen wurde und
nicht der von 2008. Das alles sind triftige Gründe, dem
Gesetz nicht zuzustimmen. Wir werden uns daher bei
diesem Gesetzentwurf aus den genannten Gründen enthalten.
Zum Schluss noch etwas Allgemeines, aber sehr
Wichtiges: Damit die geltenden Steuergesetze auch vernünftig umgesetzt werden können, brauchen wir eine
besser ausgestattete Finanzverwaltung, die diese Arbeit
tatsächlich erledigen kann. Dabei lohnt sich diese Investition auch noch. Im Falle der Betriebsprüfungen zum
Beispiel trieb jeder Finanzbeamte im Jahr 2009 rund
1,4 Millionen Euro an Steuernachzahlungen ein. Das
heißt: Wird bei Finanzämtern gespart und gibt es weniger Planstellen, dann geht Deutschland viel Steuergeld
durch die Lappen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Türkei ist ein überaus interessanter Wirtschaftsstandort. Mit einem Volumen von rund 243 Milliarden
Dollar war das BIP im ersten Quartal dieses Jahres
etwa so groß wie die türkische Wirtschaft im gesamten
Jahr 2003. In der Rangfolge der größten Volkswirtschaften der Welt liegt die Türkei inzwischen auf Platz 17.
Umso wichtiger ist es für die beiden Länder, für
Deutschland und die Türkei gleichermaßen, mit einem
Doppelbesteuerungsabkommen die Steuerfragen mit
dem Ziel der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen
aufgrund von unterschiedlichen steuerlichen Regeln in
beiden Ländern zu regeln. Die engen Beziehungen beider Länder, verbunden mit einer hohen Anzahl türkischer Einwanderer sowie deutscher Staatsbürger, die in
der Türkei leben, erhöhen die Notwendigkeit eines funktionierenden Rahmens, der sowohl Doppelbesteuerung
vermeidet als auch eine doppelte Nichtbesteuerung verhindert.
Beim vorliegenden Entwurf gehen einige Änderungen
gegenüber dem bisher geltenden Doppelbesteuerungsabkommen aus dem Jahr 1985 in die richtige Richtung.
So steigt die Beteiligungshöhe für das Schachtelprivileg
von 10 auf 25 Prozent, und die Anrechnung fiktiver
Quellensteuern in der Bundesrepublik wird abgeschafft.
Diese hat sich als ein wenig erfolgreiches Instrument
der Entwicklungspolitik erwiesen. Außerdem war es notwendig, dass die Besteuerung von Renten geregelt wird,
was mit dem Abkommen geschehen ist. Besonders vor
dem Hintergrund, dass viele Gastarbeiter Rentenansprüche in der Bundesrepublik erworben haben, aber
zurück in die Türkei gezogen sind oder dies planen, ist
die Regelung erforderlich geworden.
Das ausgehandelte Doppelbesteuerungsabkommen
enthält aber auch Schwächen. Besonders kritisch ist die
Absenkung der Quellensteuersätze. Bei Dividenden sinkt
er von 20 auf 15 Prozent, und bei Zinsen sinkt er von
15 auf 10 Prozent. Damit liegt der Steuersatz noch unter
der in der Bundesrepublik gültigen Abgeltungsteuer, was
nur schwer nachvollziehbar ist. Insgesamt werden so die
Möglichkeiten, die eine Quellensteuer zur Vermeidung
von Steuerflucht oder Steueroptimierung bietet, nicht
ausgenutzt. Da in Europa bei der Zinsrichtlinie eine
35-prozentige Quellensteuer vorgesehen ist, sind die
ausgehandelten Steuersätze auch kein Zeichen für eine
schnellere Integration der Türkei in die EU, sei es als
Vollmitglied oder als privilegierter Partner. Hier hätten
wir von der Bundesregierung mehr Weitsicht erwartet:
sei es durch eine fest vereinbarte Öffnungsklausel oder
noch besser durch eine Angleichung der Regelung an
europäische Muster. Auch die Türkei wäre gefordert,
denn auch sie will eine Annäherung an die EU erreichen, zumindest auf dem Gebiet der Wirtschaft. Deshalb
könnten wir den Partner fordern. Dies ist aber seitens
der Bundesregierung offensichtlich nicht geschehen.
Beim Informationsaustausch zwischen beiden Staaten
entspricht das neue Abkommen dem OECD-Standard,
weist aber in Richtung Europa ähnliche Mängel wie die
Quellenbesteuerung auf. Es sieht keinen automatischen
Informationsaustausch beider Länder vor, wie er in der
EU mit der Zinsrichtlinie eingeführt werden soll. Damit
wurde auch hier die Möglichkeit verpasst, ein Zeichen
zu setzen, dass eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU
oder eine privilegierte Partnerschaft ein Stück näher
rückt.
Mit diesen Mängeln können wir dem Abkommen nicht
zustimmen. Insgesamt ersetzt und verbessert das Doppelbesteuerungsabkommen zwar manche überkommene
Regelungen aus dem DBA von 1985. Dies begrüßen wir
ausdrücklich. Meine Fraktion bewertet aber einige Stellen sogar als eine Verschlechterung gegenüber den alten
Regelungen. Darüber hinaus vermissen wir Lösungen,
die eine zügige Angleichung an die EU erlauben. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9140, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8841 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine soziale Revision der Entsenderichtlinie
- Drucksachen 17/1770, 17/4755 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll.
Auslöser heftiger Debatten zur Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge waren das Rüffert- und das
Laval-Urteil des Europäischen Gerichtshofs in den Jahren 2007 und 2008. Mit ihnen stellt der EuGH klar: Tariftreue ist ein vergabefremder Aspekt - sie verstoße gegen europäisches Recht. Bund und Länder dürfen
demnach die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht an die
Tarifbindung koppeln. Damit widerspricht der EuGH
dem Bundesverfassungsgericht, das im Jahr 2006 in
einem Urteil gesetzliche Regelungen zur Tariftreue bei
öffentlichen Aufträgen als Gemeinwohlziel ansieht und
das aus meiner Sicht zu Recht.
Die Urteile des EuGH führten dazu, dass die Europäische Kommission zu einer Überprüfung der Entsenderichtlinie aufgefordert wurde. Ein solches Anliegen teilt
auch die SPD in ihrem Antrag. Grundsätzlich sind wir
uns einig: Mit der Entsenderichtlinie sollen der Schutz
der Arbeitnehmer vor Ausbeutung flankiert sowie Wettbewerbsverzerrungen und Sozialdumping im Binnenmarkt vermieden werden. Als ein wichtiges Instrument
sind hier die nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
festgesetzten branchenspezifischen Mindestlöhne zu nennen. National festgesetzte Mindestlöhne ermöglichen es,
Missbrauch bei der Entsendung zu begegnen und einen
Mindestschutz für entsandte Arbeitnehmer sicherzustellen.
Doch wie verfahren in Branchen, in denen es keine
Mindestlöhne bzw. für allgemeinverbindlich erklärte
Tarifverträge gibt? Auch wenn das Urteil des Europäischen Gerichtshofs Pflöcke einschlägt, heißt es nicht,
dass uns mit der bestehenden Entsenderichtlinie die
Hände gebunden sind. Neben der Möglichkeit, Aufträge
nur an Unternehmen zu vergeben, die sich verpflichten,
ihren Beschäftigten mindestens branchenspezifische
Mindestlöhne zu zahlen, könnte eine Vergabe öffentlicher Aufträge an einen vergabespezifischen Mindestlohn gekoppelt werden. Ein solcher findet bereits in einigen Bundesländern Anwendung. Dies stellt für mich einen gangbaren Weg dar, den wir weiter beschreiten
sollten.
Problematischer dürfte sich die Kontrolle gestalten,
ob entsprechende tarifliche Vereinbarungen vor Ort eingehalten werden. Dies werde oftmals als Argument gegen eine Tarifbindung als Vergabekriterium angeführt.
Das ist für mich nicht hinnehmbar, genauso wie es für
mich nicht nachzuvollziehen ist, warum die Erhaltung
sozialer Standards in der Praxis gerechtfertigt werden
muss, während ökonomische Argumentationen hingegen
beinahe schon einen axiomatischen Charakter haben.
Daher: Wenn Regeln nicht eingehalten werden, dann
müssen wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen,
dass deren Einhaltung besser kontrolliert werden kann.
Unternehmen, welche die Tarifbindung etwa durch Freischichten ihrer Mitarbeiter zu unterlaufen versuchen,
missbrauchen das Vertrauen ihrer Arbeitnehmer. Tariftreue ist für mich eine Selbstverständlichkeit, die einem
Unternehmer gegenüber nicht begründet werden muss.
Schließlich profitieren auch sie davon, wenn seine
Mitbewerber unter gleichen Voraussetzungen antreten
müssen.
Für wenig hilfreich halte ich die Forderung der Sozialdemokraten, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für
alle Branchen zu öffnen. Meines Erachtens ist es sinnvoller, wenn wir zeitnah ein Gesetz für eine Lohnuntergrenze auf den Weg bringen. Eine Lohnuntergrenze kann
dann auch als tariflicher Maßstab bei der Ausschreibung öffentlicher Aufträge herangezogen werden. Tariftreue wäre dann nicht mehr länger ein vergabefremder
Aspekt, sondern systemimmanent.
Sicherlich wäre es auch wünschenswert, wie die Sozialdemokraten in ihrem Antrag fordern, Briefkastenfirmen zu unterbinden. Ob die Entsenderichtlinie hierfür
das Mittel erster Wahl darstellt, möchte ich bezweifeln.
Das Ziel ist gewiss lohnenswert, aber über den Weg sollten wir an anderer Stelle streiten - ebenso wie über eine
von der SPD geforderte zeitliche Begrenzung der Entsendung.
Abschließend möchte ich drei Punkte deutlich
machen. Erstens darf im Interesse der Arbeitnehmer
eine Revision der Entsenderichtlinie keinesfalls zu einer
Abschwächung bestehender Schutzstandards oder zu einer Verminderung unserer nationalen Kontrollmöglichkeiten führen. Wir werden uns daher den Entwurf einer
Revision, den die EU-Kommission sicherlich in nächster
Zeit vorlegen wird, sehr genau anschauen.
Zweitens sollten die Bundesländer den weiteren Ausbau europarechtskonformer Tariftreuegesetze forcieren.
Der vergabespezifische Mindestlohn stellt hierfür ein
probates Mittel dar.
Drittens zeigt die Debatte, dass eine Lohnuntergrenze
für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen
vorteilhaft wäre; denn sie würde im europäischen Wettbewerb der Schmutzkonkurrenz durch Dumpinglöhne
Einhalt gebieten. Daher gilt es nun, ein entsprechendes
Gesetz auf den Weg zu bringen.
Wir sind uns mit den Sozialdemokraten einig im Ziel.
Wir wollen den Schutz der Arbeitnehmer vor Ausbeutung flankieren; Lohndumping ist inakzeptabel. Was die
Wahl der Mittel angeht, unterscheiden wir uns jedoch
punktuell. Die SPD stellt in ihren Antrag einige Forderungen, die gut gemeint sind, aber nicht zwingend an
eine Revision der Entsenderichtlinie zu koppeln sind.
Daher werden wir den Antrag der SPD ablehnen.
Unsere Fraktion sieht in der Entsenderichtlinie sowie
dem hierzu ergangenen nationalen Arbeitnehmer-Entsendegesetz einen Schutz der Arbeitnehmer in Deutschland und Europa, da die durch die Entsenderichtlinie
geltenden Mindestlöhne auch von ausländischen Dienstleistungserbringern einzuhalten sind. Und ich möchte
darauf hinweisen, dass in den Art. 3 und 152 ausdrücklich die soziale Marktwirtschaft, sozialer Fortschritt und
die Rolle der Sozialpartner erwähnt werden. Der Vertrag von Lissabon wertet die sozialen Grundrechte der
Arbeitnehmer also auf.
Wie ist der Sachverhalt? Im EU-Binnenmarkt genießen Unternehmen die Freiheit, Dienstleistungen in
anderen Mitgliedstaaten zu erbringen. Das schließt die
Möglichkeit ein, Arbeitnehmer vorübergehend in anderen Mitgliedstaaten einzusetzen, damit sie dort
bestimmte Projekte durchführen. Unternehmen haben so
die Möglichkeit, ihre besonderen Dienstleistungen
innerhalb des gesamten EU-Binnenmarktes anzubieten,
was wiederum zu größerer Effizienz und Wirtschaftswachstum beiträgt. Es ist gerade diese Freiheit des EUBinnenmarktes, die zum wirtschaftlichen Erfolg der Mitgliedsländer führt. Insbesondere für Deutschland als
Exportnation ist es von äußerster Wichtigkeit, dass wir
nicht unnötig Hemmnisse innerhalb von Europa aufbauen. Unsere wirtschaftliche Stärke beruht auf unserer
Zu Protokoll gegebene Reden
Exportstärke, auch von Dienstleistungen. Auch darauf
sind die derzeit sprudelnden Steuereinnahmen zurückzuführen. Und ausreichende Steuereinnahmen sind Voraussetzung für die sozialen Leistungen, die in Deutschland gewährt werden.
Nach Feststellung der EU gibt es aber auch schwarze
Schafe, die diese Freiheiten ausnutzen wollen. Durch
Umgehung der Vorschriften werden die Arbeitnehmer
vor allem im Baugewerbe daran gehindert, ihre vollen
Rechte, zum Beispiel bei Bezahlung oder Urlaub, in
Anspruch zu nehmen. Deshalb hat die EU-Kommission
nach einer Prüfung der Situation in Europa jetzt neue
Regeln vorgeschlagen, um vorübergehend ins Ausland
entsandte Arbeitnehmer besser zu schützen. Wenn es um
den EU-Binnenmarkt geht, sind Arbeitnehmerschutz und
fairer Wettbewerb zwei Seiten ein und derselben
Medaille.
Studien zeigen jedoch, dass für die rund 1 Million
entsandten Arbeitnehmer in der EU die Mindestarbeitsund Beschäftigungsbedingungen nicht immer eingehalten werden. Als Antwort auf diese spezielle Problematik
hat die Kommission konkrete, praktische Vorschläge in
eine Durchsetzungsrichtlinie gepackt, mit der die Überwachung und Einhaltung der Bestimmungen verstärkt
und die Anwendung der für entsandte Arbeitnehmer geltenden Bestimmungen in der Praxis verbessert werden
sollen. Damit werden gleiche Ausgangsbedingungen für
die betroffenen Unternehmen geschaffen und Firmen,
die sich nicht an die Regeln halten, ausgeschlossen.
Deshalb ist der Antrag der SPD überholt. Wie im Ausschuss schon mehrfach angesprochen, rate ich den Kolleginnen und Kollegen der SPD zu etwas mehr Geduld.
Auf der Grundlage der Evaluierung der EU müssen wir
jetzt prüfen, welche Konsequenzen dies für Deutschland
hat.
Auch wenn Ihr Antrag von der Entwicklung überholt
ist, möchte ich anmerken, dass die SPD scheinbar
Abstand nimmt von ihrer Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn und auf den von uns favorisierten Weg der tariflichen Mindestlöhne einschwenkt.
Diese Einsicht begrüße ich ausdrücklich. Auch wenn Ihr
Antrag für die Debatte zur Entsenderichtlinie keine
Bedeutung mehr hat, hoffe ich, dass Sie den Standpunkt
der tariflichen Mindestlöhne, wie in Ihrem Antrag
beschrieben, weiterhin favorisieren.
Das Thema der Entsenderichtlinie ist in der vergangenen Woche wieder hochaktuell geworden. Die
EU-Kommission hat zwei Vorschläge vorgestellt, um
bessere Arbeitsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer
zu schaffen. Nur, leider gilt hier: Gut gemeint ist nicht
gut gemacht.
Bei der Verbesserung von Arbeitsbedingungen generell, aber besonders für entsandte Arbeitnehmer beobachte ich oft das gleiche Spiel: Jeder betont in Grußworten und Sonntagsreden, dass gute Arbeitsbedingungen
und faire Löhne wichtig sind für ein soziales Europa.
Die Umsetzung dieser Sonntagsreden an den Wochentagen funktioniert jedoch nicht, wie wir auch am Vorschlag der Kommission für eine Monti-II-Verordnung
sowie an dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Durchsetzung der Entsenderichtlinie sehen.
Die Entsenderichtlinie war ursprünglich dazu gedacht, Lohn- und Sozialdumping in Europa zu verhindern. Es sollte ein fairer Wettbewerb in Europa entstehen, bei dem die Unternehmen um Innovation und
bessere Produkte konkurrieren und sich nicht bei den
Löhnen unterbieten, um möglichst günstig zu sein. Der
Europäische Gerichtshof hat die Richtlinie aber in mehreren Urteilen zu einer Maximalrichtlinie uminterpretiert, sodass nur noch niedrige Standards eingehalten
werden mussten. Entsandte Arbeitnehmer sind dabei die
Leidtragenden, da sie oft deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen und Löhne in Kauf nehmen müssen, als in
dem Land, in das sie entsandt sind, üblich sind.
Die Beispiele aus der Praxis sind zahlreich. Wir kennen alle die erschreckenden Berichte aus Zeitungen,
wenn wieder einmal ein Missbrauchsfall ans Tageslicht
kommt. Oft sind dies Fälle in der Bauwirtschaft, zuletzt
auch beim Bau des neuen Berliner Flughafens. Irgendwelche windigen Subunternehmer ziehen in Dörfer vorzugsweise in Osteuropa und erzählen den Menschen
dort etwas von guter Entlohnung in Deutschland. Hier
werden die Menschen dann in überteuerten Unterkünften untergebracht, unterschreiben keinen Arbeitsvertrag, sondern eine Anmeldung als Selbstständige, und
arbeiten dann oft 12 bis 13 Stunden am Tag auf der Baustelle. Häufig werden auch ihre Pässe eingezogen, und
die Entlohnung erfolgt erst ganz zum Schluss, falls überhaupt, sodass die Menschen keine Chance haben, den
Missbrauch anzuzeigen.
Bisher wird dann in der öffentlichen Debatte darauf
verwiesen, dass das schwarze Schafe bei den Arbeitgebern seien, die einen solchen Missbrauch von entsandten Arbeitnehmern betreiben. Es kann aber nicht sein,
dass wir sehenden Auges einen solchen Missbrauch in
unserem Land zulassen und uns dann darauf berufen,
dass das nur Einzelfälle seien. Es ist unsere Aufgabe als
Politiker, dafür zu sorgen, dass ein solcher Missbrauch
gar nicht erst geschieht! Denn jeder Mensch muss rechtlich geschützt sein vor Ausbeutung.
Dazu gehört die Einführung von Beratungsbüros für
entsandte Beschäftigte. Hier leisten die Gewerkschaften
und insbesondere die dort angestellten mehrsprachigen
Berater eine hervorragende Arbeit, indem sie die entsandten Beschäftigten über ihre Rechte aufklären und
sie in Fällen des Missbrauchs unterstützen. Wir brauchen aber auch mehr Aufsicht durch die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit sowie eine Generalunternehmerhaftung,
damit die Ketten von Subunternehmern, die oft bei Missbrauchsfällen von entsandten Arbeitnehmern involviert
sind, endlich für die Arbeitnehmer zu durchschauen sind
und es am Ende einen gibt, der für den Missbrauch haftet.
All das reicht aber nicht aus, wenn wir nicht auch auf
europäischer Ebene vorankommen. Ich habe daher bereits im Juli 2010 hier dazu gesprochen, dass eine soziale
Revision der Entsenderichtlinie dringend notwendig ist.
Die Entsenderichtlinie muss wieder ihre ursprünglichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Ziele erhalten, nämlich das Verhindern von Lohndumping und die Schaffung von gleichen Löhnen und gleichen Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen
Ort. Leider gehen die Vorschläge der Kommission teils
in die falsche Richtung, teils reichen sie nicht aus.
Bei der Monti-II-Verordnung ist ein System herausgekommen, das Streiks diskreditiert. Es soll zum ersten
Mal ein EU-weiter Mechanismus geschaffen werden, mit
dem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, Streiks, die
„das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes schwerwiegend beeinträchtigen“, an andere betroffene Mitgliedstaaten und die EU-Kommission zu melden. Zum einen ist meiner Meinung nach ziemlich
unklar, was alles „das ordnungsgemäße Funktionieren
des Binnenmarktes beeinträchtigen“ kann. Zum anderen
ist unklar, was mit dieser Information dann geschehen
soll. Will die Kommission dann bewerten, ob ein Streik
verhältnismäßig ist? Für mich ist klar, dass das Streikrecht nicht angetastet werden darf. Die Kommission täte
gut daran, die Monti-II-Verordnung zurückzunehmen
und neu mit der Arbeit zu beginnen, um festzulegen, dass
soziale Rechte und der Binnenmarkt zusammengehören
und eben nicht, wie es in der derzeitigen Fassung der
Verordnung geschieht, gegeneinander ausgespielt werden. Es darf nicht sein, dass Wirtschaftsfreiheiten und
Wettbewerbsregeln über den sozialen Grundrechten stehen. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, bei den
Verhandlungen über die Verordnung eine klare Position
pro Streikrecht einzunehmen!
Der Richtlinienvorschlag zur besseren Durchsetzung
der Entsenderichtlinie ist so, wie er derzeit vorliegt, leider ein zahnloser Tiger. In unserem Antrag, den wir
heute debattieren, fordern wir eine soziale Revision der
Entsenderichtlinie, damit diese Richtlinie sicheren
Schutz bietet, wenn es darum geht, Lohndumping und
Ausbeutung von entsandten Arbeitnehmern zu verhindern. Die Durchsetzungsrichtlinie beschränkt sich jedoch darauf, die Zusammenarbeit nationaler Behörden
besser zu regeln und eine Generalunternehmerhaftung
nur im Baugewerbe einzuführen. Das reicht bei weitem
nicht aus, um die Richtlinie wieder ihrem ursprünglichen Ziel zuzuführen.
Zudem gibt es bei der Zusammenarbeit nationaler
Behörden einen Pferdefuß: Die Kontrollbefugnisse der
nationalen Behörden sollen eingeschränkt werden.
Wenn wir die Missbrauchsfälle sehen, die in Deutschland passieren, und wenn wir mit den Menschen sprechen, die bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim
Zoll arbeiten, ist klar, dass wir mehr Kontrollen und
mehr Personal brauchen, aber definitiv nicht weniger
Kontrollrechte! Daher fordere ich die Bundesregierung
auf, die Einschränkung der Kontrollrechte der Finanzkontrolle Schwarzarbeit bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene zu verhindern und sich für eine echte
soziale Revision der Entsenderichtlinie anstatt der nun
vorliegenden Durchsetzungsrichtlinie einzusetzen, damit das soziale Europa nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch unter der Woche stattfindet.
Endlich schließen wir die Debatte um den Antrag der
SPD ab. Ihr wesentliches Anliegen hat sich ja vollkommen erledigt. Die schwarz-gelbe Koalition hat eine gute
Regelung für die Zeitarbeit gefunden, die auch für aus
dem EU-Ausland entsandte Arbeitnehmer gilt. Hieran
zeigt sich einmal mehr der entscheidende Unterschied
zwischen der Regierungskoalition und der Opposition.
Das kann man ruhig so allgemein sagen, obwohl es sich
um einen SPD-Antrag handelt, weil die Grünen ohnehin
dem Ganzen zustimmen und die Linke trotz ihrer Enthaltung den Zielen ihres Antrags grundsätzlich und ausdrücklich zugestimmt hat. Der Unterschied liegt einfach
darin, dass wir für Probleme angemessene Lösungen
finden und Sie jedes Problem dadurch bekämpfen wollen, dass Sie hektisch ein größeres Problem schaffen.
Mein Kollege Heinrich Kolb hat es Ihnen in der ersten
Lesung im Juli 2010 schon gesagt, und ich muss es noch
einmal wiederholen: Es ist nicht der Fall, dass das soziale Europa durch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten
bedroht sei oder an den Rand gedrängt würde. Und es
wäre falsch, vermeintlichen sozialen Schutz durch blanken Protektionismus schaffen zu wollen.
Genau das möchte ich heute gerne noch einmal thematisieren. Denn was einen doch ziemlich stören muss,
ist der gesamte Ton, den Sie, liebe Opposition, im Vorfeld der Arbeitnehmerfreizügigkeit für unsere östlichen
Partner angeschlagen haben. Erst einmal möchte ich
zum Abschluss der Debatte festhalten, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine wichtige Errungenschaft, ja
eine wichtige Freiheit ist, die wir alle durch die Europäische Union erhalten haben. Das ist die entscheidende
Botschaft. Besonders ärgerlich finde ich es da, wenn
zum Beispiel Sie, liebe Frau Pothmer, sich im November
2010 vor allem mit der Warnung vor einer osteuropäischen Billigkonkurrenz zitieren ließen. Und in der Plenardebatte im Juli 2010 sprachen Sie von „Sendboten des
Lohndumpings“. Ich muss sagen, diese arbeitsmarktpolitische Deutschtümelei von Ihnen habe ich damals für
völlig unangebracht gehalten und halte ich auch nach
wie vor für vollkommen unangebracht. So jedenfalls
schafft man keine Willkommenskultur.
Leider ist dies bei SPD und Linkspartei keinesfalls
besser gewesen. Sie beide haben das in diversen Vorlagen deutlich gemacht. Nicht umsonst hat die Zeitung
„Das Parlament“ - sozusagen unsere Hauszeitung,
liebe Kolleginnen und Kollegen - in ihrer Ausgabe vom
26. April 2011 festgehalten, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit bei den Abgeordneten aller Oppositionsparteien vor allem ein „mulmiges Gefühl“ hinterlassen
würde. Schön, dass wir aus heutiger Sicht festhalten
können, dass sich die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen nicht durch diese Bauchschmerzen haben kirre machen lassen. Mit anderen Worten: Sie sind heute klüger, wir waren es schon damals.
Letztes Jahr schon hat das IAB einen Kurzbericht
vorgelegt. Und da heißt es: „Die Zuwanderung aus den
EU-8-Ländern ist nach den Angaben des Ausländerzentralregisters seit Einführung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit nur moderat gestiegen.“ Es ist also
das Gegenteil von dem passiert, was Sie immer behaupZu Protokoll gegebene Reden
Johannes Vogel ({0})
tet haben. Dagegen hat das IAB festgestellt, dass seither
die Beschäftigung aus den EU-8-Ländern deutlich stärker zugenommen hat als die Zuwanderung. Das heißt,
dass eine Menge Menschen, die ohnehin schon bei uns
waren, nun eine Arbeit aufgenommen haben oder auch
aus einer Selbstständigkeit heraus eine Beschäftigung
begonnen haben. Übrigens haben die Forscher aus
Nürnberg nicht nur festgestellt, dass das von vielen an
die Wand gemalte Horrorszenario reiner Unfug gewesen
ist, sondern, dass vielleicht sogar eine andere Politik
hätte eingeschlagen werden müssen. Man hätte nicht unbedingt die volle Frist bei der Abschottung des deutschen
Arbeitsmarkts ausnutzen müssen. Das IAB jedenfalls
meint: „Angesichts des vergleichsweise hohen Qualifikationsniveaus der jungen Kohorten aus den EU-8-Staaten
ist die geringe Zuwanderung aus diesen Ländern vermutlich ein erheblicher Verlust für die deutsche Volkswirtschaft.“
Aber gut, inzwischen ist ja eigentlich jedem klar, dass
Deutschland mehr gesteuerte Zuwanderung braucht, um
hochqualifizierte Fachkräfte ins Land zu locken. Ich bin
glücklich, dass meine Partei bei der Diskussion um die
Arbeitnehmerfreizügigkeit schon einmal ein gutes Beispiel abgegeben und die Willkommenskultur gemehrt
hat. Die aktuellen Beschlüsse zur Bluecard begrüße ich
deswegen ausdrücklich. Sie sind der Einstieg in ein bedarfsabhängig gesteuertes Zuwanderungssystem. Das
ist auch allemal wichtiger als Ihr Antrag, liebe SPD, den
wir guten Gewissens ablehnen werden.
Bei der Entsenderichtlinie geht es an ganz zentraler
Stelle um die Rechte der europäischen Beschäftigten:
Die Entsendung von Beschäftigten über Grenzen hinweg
birgt die Gefahr von Lohndumping, wenn Beschäftigte
nach den Löhnen des Herkunftslandes bezahlt werden
und nach den dortigen Arbeitsbedingungen hier arbeiten.
Am Beispiel des Möbelriesen Ikea lässt sich das wunderbar darstellen: In dessen Europalager in Dortmund
wurde der Fall einer litauischen Logistikfirma bekannt.
Ihre Beschäftigten machen die Nachtschicht auf Werkvertragsbasis für 6,50 Euro die Stunde. Ikea spart sich
so die Nachtarbeitszuschläge und die höheren Tariflöhne, die regulär laut deutschem Tarifvertrag fällig wären.
Das könnte von der Bundesregierung eingedämmt
werden: zum einen durch die Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeit unserer Tarifverträge und zum anderen
durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von
10 Euro die Stunde. Es ist schlicht unglaublich, dass
Schwarz-Gelb hier beharrlich blockiert.
Entsendete Beschäftigte brauchen zudem eine gute
Beratung. Nur so können sie ihre Rechte auch einfordern. Viele Beschäftigte, gerade aus Osteuropa, werden
zu gnadenlosem Lohndumping missbraucht. Es gibt Arbeitgeber, die sie systematisch um ihre Rechte und ihre
Löhne betrügen. Bisher werden diese Beschäftigten allein vom Deutschen Gewerkschaftsbund beraten. Dieses
DGB-Projekt wird aber nur für drei Jahre gefördert was ist dann? Unternehmen aus anderen EU-Ländern,
die hier Dienstleistungen anbieten wollen, bekommen
schon seit Jahren eine großzügige, dauerhafte Beratungsinfrastruktur zur Verfügung gestellt. Warum haben
das die Beschäftigten nicht? Beratung für entsandte Beschäftigte braucht es flächendeckend und auf Dauer.
Das ist doch sonnenklar!
Die Linke setzt darüber hinaus auf eine Revision der
Entsenderichtlinie. Wir wollen, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ auch in
der Europäischen Union volle Gültigkeit erlangt. Dadurch kann Lohndumping zulasten der Beschäftigten
wirkungsvoll verhindert werden. Es darf Arbeitgebern
nicht länger erlaubt sein, Beschäftigte zu den Bedingungen ihres Herkunftslandes zu entsenden, und es darf
auch nicht sein, dass für entsandte Beschäftigte nur die
absoluten Minimalbedingungen gelten.
Schließlich muss verhindert werden, dass die Entsenderichtlinie Streikrecht und Tarifverträge aushebelt. Die
Entsenderichtlinie definiert den Mindeststandard - weitergehende Regelungen auf nationaler Ebene, die für die
Beschäftigten günstiger sind, müssen möglich sein.
Darüber hinaus ist auch eine Änderung der EU-Verträge nötig, um zu verhindern, dass soziale Grundrechte
mit Verweis auf die Binnenmarktfreiheiten ausgehebelt
werden. Soziale Grundrechte müssen durch eine soziale
Fortschrittsklausel in den EU-Verträgen einen klaren
Vorrang vor den Freiheiten der Unternehmen bekommen. Es greift zu kurz, wenn die SPD fordert, soziale
Grundrechte sollen nur gleichrangig neben den Unternehmensfreiheiten stehen.
Das sieht man am aktuellen Beispiel der Monti-IIVerordnung. In dem letzte Woche von der EU-Kommission vorgelegten Vorschlag wird das Streikrecht nach
dem Gleichrangigkeitsprinzip wie folgt geregelt: Streiks
sollen demnach nur gestattet sein, wenn sie verhältnismäßig sind. Arbeitgeber könnten dies in Zukunft bei Gericht prüfen lassen. Gewerkschaften müssten künftig bei
Streikaktionen mit dem Risiko von Schadenersatzforderungen rechnen, die ihre Existenz bedrohen. Wir lehnen
das ab.
Ich frage Sie: Wird künftig das Grundrecht auf Unternehmensfreiheit auch anfechtbar? Wird in Zukunft das
Verhalten eines Unternehmens in Europa per Gericht
auf Verhältnismäßigkeit geprüft und im Zweifelsfall eingeschränkt? Nein, ich fürchte, das wird es nicht geben.
Die sogenannte Gleichrangigkeit ist daher in Wahrheit eine massive Einschränkung des Streikrechts von
Beschäftigten und Gewerkschaften. Um dies zu verhindern, braucht es eben den Vorrang von sozialen Grundrechten. Dieser Vorrang fehlt leider im Antrag der SPD.
Die Linke sagt hingegen: Soziale Grundrechte müssen Vorrang haben. Wir machen eine klare Politik: Menschen vor Profite!
Zu Protokoll gegebene Reden
Nur ein soziales Europa schafft Vertrauen. Aber genau dieser notwendige soziale Aspekt von Europa wurde
durch eine Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs zu den Regelungen in der 1996 beschlossenen
Entsenderichtlinie infrage gestellt. Der EuGH hat in den
Rechtssachen Viking, Laval und Rüffert einen Vorrang
der Dienstleistungsfreiheit vor einschlägigen Bestimmungen zu den Arbeitsbedingungen im Gaststaat erkannt. Die Interpretation, dass die Entsenderichtlinie
Maximalstandards anstelle von Minimalstandards enthält und eine Unterordnung sozialer Kriterien unter
wirtschaftliche Freiheiten, können wir nicht akzeptieren.
Streikrecht, Tarifautonomie und Arbeitnehmerschutz
müssen gewahrt bleiben und dürfen nicht gegen andere
Freiheiten abgewogen werden. Wir fordern daher - wie
die Gewerkschaften in Europa auch - eine soziale Fortschrittsklausel und eine Überarbeitung der Entsenderichtlinie.
Am vergangenen Mittwoch hat nun die Europäische
Kommission mit dem Entsendepaket zwei Vorschläge öffentlich gemacht, wie die angemahnte soziale Dimension in Europa gestärkt werden soll. Das Ergebnis ist
aber enttäuschend und bleibt hinter den Erwartungen
zurück. Kommissionspräsident Barroso hatte dem Parlament im Vorfeld seiner Wiederwahl versprochen, dass
er die Probleme beheben wird, die mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen der Entsenderichtlinie entstanden sind. Die vorliegenden Vorschläge aber sind genau das Gegenteil, denn bereits
jetzt werden zwei neue Angriffe auf die sozialen Rechte
der Beschäftigten offenkundig.
Erstens. Die sogenannte Monti-II-Verordnung sollte
eigentlich das Streikrecht wahren und nationale Rechtsvorschriften unberührt lassen. Fakt ist aber, dass das
Streikrecht gegen wirtschaftliche Freiheiten abgewogen
werden soll. Eine Art Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen einem sozialen Grundrecht und wirtschaftlichen
Interessen darf und kann es nicht geben. Damit würde
das Streikrecht infrage gestellt und in der Folge die
Rechte der Beschäftigten geschwächt. Ein soziales Europa geht anders.
Zweitens. Der Vorschlag zur Durchsetzung der Entsenderichtlinie listet eine Reihe von Kontrollmaßnahmen auf, die die Mitgliedstaaten durchführen können,
um die Einhaltung von Arbeits- und Entlohnungsstandards zu gewährleisten. Darüber hinausgehende Maßnahmen - und hier liegt das Problem - sollen nicht mehr
möglich sein. Für Deutschland bedeutet das konkret:
Die Kontrollbefugnisse der nationalen Behörden würden eingeschränkt. Die bewährte Kontrolle des Zolls vor
Ort in den Betrieben wäre in dieser Form nicht mehr
möglich. Der Kampf gegen Schwarzarbeit und
Lohndumping muss aber gestärkt werden und darf nicht
ans Gängelband europäischer Regelungen genommen
werden.
Die Bundesregierung ist also aufgefordert, sich in
den weiteren Verhandlungen auf EU-Ebene und im Rat
vehement für Veränderungen einzusetzen und Einschnitte beim Streikrecht und bei den nationalen Kontrollbefugnissen zu verhindern. Sie darf nicht zulassen,
dass weitere nationale Standards infrage gestellt werden. Sie muss bei den Verhandlungen in Brüssel einen
klaren Kurs zur Bewahrung und Stärkung der Arbeitnehmerrechte vertreten. Denn das deutsche Sozialmodell ist ein hohes Gut, das es zu bewahren und auszubauen gilt, anstatt sinnvolle Regelungen über Bord zu
werfen.
Die Bundesregierung muss aber auch zu Hause ihre
Hausaufgaben erledigen. Es muss endlich eine Mindestlohnregelung auf den Tisch. Wir brauchen Vereinfachungen im Verfahren für mehr branchenspezifische Mindestlöhne und für mehr allgemeinverbindlich erklärte
Tarifverträge. Die nationale Kontrollbehörde, Finanzkontrolle „Schwarzarbeit“, muss personell und materiell gestärkt werden. Das Prinzip von gleichem Lohn
für gleiche Arbeit am gleichen Beschäftigungsort muss
effektiv umgesetzt werden. Die in Deutschland geltenden
und unter den Tarifparteien ausgehandelten Mindestarbeitsbedingungen in Bezug auf Ruhezeiten, Urlaubstage, Arbeitsschutzvorschriften dürfen durch die Anwendung der Entsenderichtlinie nicht unterlaufen werden.
Viele berechtigte Forderungen, die wir Grünen im
Bereich der Arbeitnehmerrechte haben, sind im vorliegenden Antrag der SPD aufgegriffen. Sie sind auch vor
dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen nach wie
vor gültig und wichtig. Wir werden dem Antrag daher
zustimmen; denn nur ein soziales Europa schafft Vertrauen und Gerechtigkeit.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4755, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1770 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Vorschlag für
eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die Konzessionsvergabe
KOM({1}) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11
- Drucksachen 17/8515 Nr. A.36, 17/9069 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Nink
Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll.
„Und wöchentlich grüßt die Konzessionsrichtlinie“ so könnte man in Abwandlung des mittlerweile fast zum
Klassiker gewordenen Filmtitels „Und täglich grüßt das
Murmeltier“ bei dem heute wieder einmal vorliegenden
Tagesordnungspunkt sagen. Dabei sind alle Argumente,
vor allem die gegen den Richtlinienentwurf, längst ausgetauscht und bekannt, die Frontlinie gegen den Vorschlag steht auf nationaler wie auf europäischer Ebene
wie selten in großer, überparteilicher Einigkeit - mit einer kleinen Ausnahme: Das FDP-geführte Bundeswirtschaftsministerium und damit leider auch unser Koalitionspartner, die FDP-Bundestagsfraktion, können sich
mit der breiten Mehrheitsmeinung im Deutschen Bundestag, im Bundesrat, ja auch im Europäischen Parlament sowie bei allen kommunalen Spitzenverbänden und
sämtlichen kommunalen Wirtschaftsverbänden nicht anfreunden und zeigen sich dem Vorschlag der EU-Kommission gegenüber zumindest offen, wenn nicht gar
hörig. Das hat unsere Debatte um einen Entschließungsantrag zu dem Richtlinienentwurf einer EU-weiten Konzessionsvergabe deutlich gezeigt - bedauerlicherweise.
Die von der SPD als Antrag vorgelegte Subsidiaritätsrüge hätte ich inhaltlich - das muss ich deutlich
sagen - gerne unterstützt; ebenso im Inhalt den Antrag
der Grünen, die Bundesregierung dazu anzuhalten, die
Richtlinie im Rahmen ihrer Verhandlungen in Brüssel zu
kippen. Mittlerweile hat der Bundesrat am 2. März 2012
eine Subsidiaritätsrüge nach Art. 6 des Protokolls Nr. 2
des Vertrags von Lissabon beschlossen. Ich glaube, da
sitzen auch noch einige Länderkollegen aus der FDP
mit drin. Warum sehen die das offenbar anders als die
Kollegen in ihrer Bundestagsfraktion?
Mit Rücksicht auf unseren Koalitionspartner haben
wir im Wirtschaftsausschuss den ursprünglich von CDU/
CSU formulierten, Ihnen in der Drucksache 17/9069 vorliegenden, von den FDP-Kollegen aber deutlich abgeschwächten Entschließungsantrag angenommen, in dem
die Bundesregierung im Ergebnis lediglich „ersucht“
wird, „bei ihren Verhandlungen im Europäischen Rat
darauf hinzuwirken, dass in dem Richtlinien-Vorschlag
zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen den besonderen Belangen insbesondere der Wasserversorgung
... Rechnung getragen wird.“
Allerdings hat die Wasserwirtschaft „besondere Belange“. Wenn es um so sensible und lebensnotwendige
Bereiche wie die Trinkwasserversorgung, die Abwasserentsorgung oder auch die Rettungsdienste geht, dann ist
bei mir die Diskussion um die Frage einer EU-weiten
Ausschreibung schnell beendet.
Die im internationalen Vergleich qualitativ herausragende Trinkwasserversorgung in Deutschland ist das
beste Beispiel, dass im Sinne des Subsidiaritätsprinzips
auf kommunaler Ebene ein nicht nur funktionsfähiges,
sondern ausgezeichnetes Versorgungssystem aufrechterhalten wird - auch ohne Vorschriften aus Brüssel.
Vordergründig argumentiert die Kommission, mehr
Transparenz und Wettbewerb auf den öffentlichen Beschaffungsmärkten herstellen, den Binnenmarkt vorantreiben und mehr Rechtssicherheit schaffen zu wollen.
Die FDP-Kollegen lesen in der Begründung der Kommission nur „mehr Wettbewerb“ und schreien Hurra. Ist
mehr künstlich erzeugter Wettbewerb aber immer ein
Hurra? Ich bezweifele das: Nehmen wir doch die geplante Verschärfung des Vergaberechts im Bereich der
Trinkwasserversorgung her: Eine EU-weite Ausschreibungspflicht sorgt eben nicht für mehr Transparenz, sondern für mehr Bürokratie, weil höherer Verwaltungsaufwand, und damit für höhere Kosten für die Verbraucher.
Und nicht nur das: Die europaweit führende Trinkwasserqualität in Deutschland wird doch nicht gerade
dadurch gesichert, dass ein griechisches Wasserunternehmen den Zuschlag für die Wasserversorgung zum
Beispiel in Freiburg, in St. Peter-Ording, in Wismar
oder in Leverkusen erhält und dann von Athen aus die
Trinkwasserqualitätskriterien in Deutschland überwachen soll. Meinen Sie, das funktioniert in allen Fällen so
gut wie bisher? Gerade bei der Wasserversorgung kann
man doch nicht von grenzüberschreitendem Dienstleistungsverkehr sprechen!
Gerade weil unsere Kommunen die Gestaltungshoheit über die Trinkwasserversorgung für ihre Einwohner
vor Ort haben und damit im Sinne einer besonderen Fürsorgepflicht für „ihre“ Bürger besonders auf ein Topniveau des Trinkwassers achten, haben wir in Deutschland
einen europaweit führenden Qualitätsstandard des
Trinkwassers. Wollen wir dieses über Jahrzehnte erarbeitete Topniveau wegen dieser fadenscheinigen Argumente der EU-Kommission wieder aufgeben?
Ebenso bei Rettungsdienstleistungen: Sollen denn
Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser, Arbeiter-SamariterBund oder die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft
ihre Rettungsdienstleistungen und ihre Alten- und Behindertentransporte an einen rumänischen Bewerber
abgeben, der nach den Vergabekriterien den Zuschlag
erhalten hat? Dann haben Sie Ihren totalen Wettbewerb,
werte Freunde der FDP. Hurra? Ich weiß nicht …
Der jetzt vorliegende Richtlinienvorschlag ist aus
mehreren Gründen überflüssig, ja kontraproduktiv für
uns alle. Mit einem solchen Rechtsakt würde der Gestaltungsspielraum unserer Kommunen - auch wenn von der
Kommission anders behauptet - erheblich eingeschränkt.
Dienstleistungskonzessionen haben - wie die Grünen in
ihrem Antrag richtig schreiben - lange Laufzeiten. Das
liegt in der Natur der Sache. Die Laufzeiten der Konzession können die Konzessionsgeber, also die Kommunen,
mit dem Konzessionsnehmer nach geltendem Recht vertraglich frei bestimmen. Mit der vorgelegten Richtlinie
wäre damit Schluss. Es würden bestimmte Laufzeiten
EU-rechtlich festgelegt.
Erschwerend kommt hinzu: Im Rahmen eines solchen
EU-weiten Vergabeverfahrens könnten alle sich benachteiligt fühlenden Mitbewerber aus dem EU-Raum gegen
die Vergabe dieser oder jener Konzession klagen. Damit
könnte eine Flut von Klagefällen auf die Vergabekammern und auf unsere Städte und Gemeinden zukommen.
Die Dienstleistungskonzessionen wären also faktisch
vollständig dem Vergaberecht unterworfen. Unsere
Kommunen wären damit an enge Ketten gelegt - und das
bei so unverzichtbaren Aufgaben wie der Wasserversorgung, der Abwasserentsorgung oder bei so fundamentalen Gesundheitsdienstleistungen wie Rettungsdiensten.
Das ist und bleibt falsch und wäre nicht nur in meinen
Augen unverantwortlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
In der Begründung der von der SPD vor kurzem vorgelegten Subsidiaritätsrüge erkennt die Fraktion „das
Bestreben der Kommunen an, effiziente, kundenorientierte und wettbewerbsfähige kommunale Unternehmen
und Einrichtungen zu betreiben“. Da kommunale Unternehmen an das Örtlichkeitsprinzip gebunden sind, sind
sie tatsächlich in ihrer Existenz gefährdet, wenn finanzstarke Unternehmen oder Investoren aus dem EU-Ausland die ausschreibungspflichtigen Konzessionen übernehmen und das örtliche Unternehmen die Konzession
verlieren würde. Das kann uns doch nicht egal sein!
Es geht mir nicht um patriotischen Protektionismus
unserer kommunalen Unternehmen oder um Rekommunalisierung als Prinzip, wie es von linker Seite gerne betrieben wird, sondern um die Aufrechterhaltung unserer
fundamentalen Grundgüterversorgung. Das ist die Basis, auf der unsere Diskussion fußen sollte; die meisten
Fraktionen haben das ja auch erkannt. Eine Subsidiaritätsrüge des Deutschen Bundestages hätte hier noch ein
weiteres, wichtiges Ausrufezeichen gesetzt. Aber liberale Kräfte haben daraus ein Fragezeichen geformt.
Schade.
Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat nachvollziehbarerweise bislang auf sekundärrechtliche Regelungen der
Vergabe von Dienstleistungskonzessionen verzichtet.
Wieder verweise ich an dieser Stelle auf die bisherige
Rechtsprechung des EuGH: Danach gelten im Vergaberecht schon jetzt die aus den Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der EU abzuleitenden primärrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und
der Transparenz. Ein besonderer Regelungsbedarf für
Dienstleistungskonzessionen ist nach dem EuGH also
nicht erforderlich. Dazu darf ich aus dem Urteil des Gerichts vom 10. März 2011 zitieren. Hier heißt es:
„Es ist hinzuzufügen, dass Verträge über Dienstleistungskonzessionen beim gegenwärtigen Stand des
Unionsrechts zwar von keiner der Richtlinien erfasst
werden, mit denen der Unionsgesetzgeber das öffentliche Auftragswesen geregelt hat, die öffentlichen Stellen,
die solche Verträge schließen, aber gleichwohl verpflichtet sind, die Grundregeln des AEU-Vertrags, insbesondere die Art. 49 AEUV und 56 AEUV, sowie die daraus
fließende Transparenzpflicht zu beachten, wenn … an
dem betreffenden Vertrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht.“
Gegen einen wie jetzt vorgelegten Rechtsakt spricht
sich auch das Europäische Parlament unter anderem in
seinem am 18. Mai 2010 beschlossenen Initiativbericht
zum Vergaberecht, dem sogenannten Rühle-Bericht, aus.
Vielmehr sollten die Kommunen nach Auffassung des
Europäischen Parlaments nach Maßgabe der aktuellen
Rechtsprechung des EuGH zusammenarbeiten.
So auch der Bundesrat, der in seinem Beschluss vom
12. Februar 2010 an die Kommission appelliert - ich zitiere -, „den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten,
Regionen und lokalen Gebietseinheiten nicht durch legislative Eingriffe einzuschränken“, was „insbesondere
auf Dienstleistungskonzessionen gerichtete Regulierungsbestrebungen der Kommission“ gemünzt ist. Diese
Haltung hat der Bundesrat in seinem Beschluss vom
11. Februar 2011 bekräftigt. Hier hat der Bundesrat mit
Blick auf Art. 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der
EU besonders auf das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen verwiesen. Ich zitiere:
„Im Vertrag von Lissabon wird das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen anerkannt. Vor allem im Interesse der Kommunen ist daher darauf zu achten, dass
die EU ihre Regelungskompetenz betreffend Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht
zu Steuerungszwecken einsetzt und versucht, für den
sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge eigene Qualitäts- und Sozialstandards einzuführen. Die Daseinsvorsorge muss im Entscheidungsbereich der Mitgliedstaaten und dort insbesondere der Kommunen verbleiben.
Nur so kann auch dem Subsidiaritätsgedanken Rechnung getragen werden.“ Die schon genannte, jüngst am
2. März 2012 beschlossene Subsidiaritätsrüge des Bundesrates spricht in diesem Sinne für sich.
Ich hatte mich zu diesem Thema in den letzten Monaten, ja Jahren, bereits mehrfach an die Bundesregierung
gewandt, bevor die Kommission dann doch einen Richtlinienentwurf auf den Tisch gelegt hat. In ihren Antworten haben mir der frühere Bundeswirtschaftsminister
Rainer Brüderle, sein Nachfolger Dr. Philipp Rösler und
der zuständige Staatssekretär Dr. Bernhard Heitzer immer wieder versichert, dass der Gestaltungsspielraum
der Kommunen auch mit einer solchen Richtlinie erhalten bleibe, denn die Kommunen könnten ja weiterhin
selbst darüber entscheiden, ob sie Leistungen der
Daseinsvorsorge wie die Wasserversorgung selbst erbringen oder Dritte - natürlich unter Beachtung des
Vergaberechts - damit beauftragen. So hat auch
EU-Kommissar Michel Barnier mir gegenüber geantwortet - um dann doch einen Richtlinienvorschlag vorzulegen.
Was können wir nationale Parlamentarier dann also
tun, wenn der Entwurf dann doch vorliegt? Ein von mir
initiierter und von CDU/CSU intern so beschlossener
Entschließungsantrag hatte auch den Auftrag an die
Bundesregierung, die Richtlinie in Brüssel ganz zu verhindern oder wenigstens Ausnahmeregelungen für so
sensible Bereiche wie die Wasserversorgung oder Rettungsdienste zu schaffen. Was aus unserem Antragsentwurf geworden ist, können Sie in der Beschlussempfehlung und in dem Bericht, die wir heute als Drucksache
17/9069 debattieren, nachlesen. Das ist politisch enttäuschend und in der Sache fahrlässig, wenn nicht gefährlich. Wenn sich Teile einer kleinen Fraktion und eine
Reihe von Ministerialbeamten gegen den „Rest“ des
Parlaments, gegen die Länder, gegen die Kommunen,
gegen die kommunalen Spitzen- und Wirtschaftsverbände, gegen die Mehrheit des Europäischen Parlaments und gegen die Intentionen der bisherigen Rechtsprechung stellen, dann müssen sich unsere Freunde von
der FDP schon deutlicher erklären als bisher.
Der Vorschlag der Europäischen Kommission für
eine Konzessionsrichtlinie steht heute ein weiteres Mal
auf der Tagesordnung des Bundestages. Die geplante
Zu Protokoll gegebene Reden
Richtlinie ist vor allem für unsere Städte, Kreise und Gemeinden von großer Bedeutung, denn sie ist in erster
Linie ein Angriff auf die kommunale Selbstverwaltung.
Das hat meine Fraktion bereits vor vier Wochen mit
dem Antrag einer Subsidiaritätsrüge im Bundestag zum
Ausdruck gebracht. Die SPD hat sich damit für die
Kommunen und die kommunalen Unternehmen stark
gemacht.
Sehr geehrte Damen und Herren von CDU, CSU und
FDP, nur aus Koalitionsdisziplin haben Sie unseren
Antrag abgelehnt. Das hat der Kollege Nüßlein in der
Debatte am 1. März mit seiner Rede, die er zu Protokoll
gegeben hat, sehr deutlich gemacht. Kollege Nüßlein,
ich danke Ihnen für diese offenen Worte über den aktuellen Gemütszustand der Koalition.
Immerhin konnten Sie, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen der Koalition, sich im Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie zu einem Entschließungsantrag durchringen, der Teil der Beschlussempfehlung des Ausschusses ist. Mit diesem bleiben Sie aber hinter den Forderungen der Opposition zurück. Anders als wir haben Sie
keine grundsätzlichen Probleme damit, dass eine solche
Konzessionsrichtlinie kommen soll.
So schreiben Union und FDP in ihrem Entschließungsantrag wörtlich: „Ordnungspolitisch ist es sinnvoll, Konzessionen aufgrund ihres wirtschaftlichen
Potentials in einem transparenten und von Wettbewerb
geprägten Markt zu vergeben. Ob die von der Europäischen Kommission anvisierten Ziele mit dem vorgelegten Richtlinienentwurf erreicht werden können, bedarf
einer eingehenden Prüfung und Diskussion.“
Lassen Sie uns diese Diskussion gerne führen. Die
Aushöhlung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts
und der Versuch, die Wasserwirtschaft in Europa durch
die Hintertür zu liberalisieren, waren bereits Teil der
Kritik der Subsidiaritätsrüge der SPD. Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt insbesondere einen Gesetzgebungsakt im Bereich der Dienstleistungskonzessionen
ab. Diese sind durch die Prinzipien des Primärrechts
und die gültige Rechtsprechung ausreichend geregelt.
Die Argumente der SPD und der anderen Oppositionsparteien in diesem Bereich sollten hinlänglich bekannt
sein. Ich möchte mich hier deshalb nicht wiederholen,
sondern lieber auf weitere wichtige Kritikpunkte am
Richtlinienentwurf hinweisen.
Die Europäische Kommission hat als Ziel formuliert,
mehr Rechtssicherheit mit dieser Richtlinie schaffen zu
wollen. Ich habe meine Zweifel, dass das gelingen kann.
Der Kommissionsvorschlag ist sehr komplex. Er ist zu
komplex, geht zu weit und ist in Teilen auch ungenau.
Meine Kritik bezieht sich dabei unter anderem auf die
Laufzeitregelung, aber vor allem auch auf den gesamten
Bereich der interkommunalen Zusammenarbeit und der
Inhouse-Vergabe. Hier müsste die Kommission viel deutlicher machen, dass solche Fälle von der Richtlinie nicht
erfasst werden. Es darf hier nicht zu einer Verschärfung
kommen, die die Handlungsmöglichkeiten der öffentlichen Stellen weiter einschränken würde. Wir Sozialdemokraten wollen im Gegenteil die interkommunale
Zusammenarbeit stärken und halten das auch mit Blick
auf unsere bestehenden deutschen Strukturen für den
richtigen Weg.
Weitere Ziele, die die Europäische Kommission mit
dieser Richtlinie verfolgt, sollen eine Vereinfachung des
Vergaberechts und größere Transparenz sein. Der
geplante massive Aufbau von Bürokratie muss dabei
unweigerlich auf Kritik stoßen. Die Europäische Kommission fordert stets und ständig den Abbau von Bürokratie. Mit ihrem Vorschlag bezweckt sie jedoch genau
das Gegenteil. Die Bekämpfung von Korruption im
Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe ist ein wichtiges Ziel. Und auch die Herstellung von Transparenz ist
wichtig. Aber Meldungen, Statistiken und Berichte sind
sicherlich nicht Teil eines Bürokratieabbauprogramms.
Weder für die öffentlichen Auftraggeber noch für die
Auftragnehmer wird das Verfahren dadurch erleichtert.
Das passt also hinten und vorne nicht zusammen.
Diskussionswürdig ist aus meiner Sicht außerdem die
Frage der Ausnahmen vom Anwendungsbereich der
Richtlinie. Im Entschließungsantrag von CDU/CSU und
FDP heißt es - ich zitiere -: „Die strukturellen Auswirkungen der Richtlinie auf bestimmte Bereiche staatlichen Handels und einzelne Branchen, darunter insbesondere auch auf die Wasserversorgung, sind zu
bedenken.“
Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
muss die Forderung nicht vielmehr lauten, die Wasserwirtschaft vom Anwendungsbereich der Richtlinie gänzlich auszunehmen? Das wäre meiner Meinung nach eine
konsequentere Haltung und eine Forderung mit Substanz. Warum trauen Sie sich nicht, die Bundesregierung
mit dieser eindeutigen Position des Bundestages zu den
Verhandlungen nach Brüssel zu schicken? Das müssen
Sie erklären.
Und wo wir schon bei Ausnahmen für einzelne Branchen sind, möchte ich einen weiteren Bereich nennen,
der unbedingt in den Ausnahmekatalog gehört: die Rettungsdienste. Die Organisation des Rettungsdienstes ist
Ländersache. Und da ist der Rettungsdienst gut aufgehoben. Wir brauchen keine Ausschreibungspflichten für
Dienstleistungskonzessionen in diesem Bereich. Es geht
um die innere Sicherheit und den Katastrophenschutz.
Eine Kommerzialisierung ist der falsche Weg. Kostendrückerei zulasten der Qualität können wir uns hier
nicht erlauben. Es sind die vielen ehrenamtlichen
Kräfte, die durch ihr unermüdliches Engagement die
hohe Qualität der Rettungsdienste vor Ort sichern. Die
wichtige Stütze des Ehrenamtes wäre mit der Richtlinie
infrage gestellt. Ein System, das dem Ehrenamt vertraut
und ihm eine breite Anerkennung in der Bevölkerung
verleiht, würde kaputtgemacht.
Das alles sind Punkte, an denen die Bundesregierung
dringend Nachbesserungen und Ausnahmeregelungen in
Brüssel durchsetzen muss, wenn sie sich nicht in der
Lage sieht, die Konzessionsrichtlinie komplett abzulehnen und zu verhindern.
An dieser Stelle muss ich mich dann doch wiederholen: Die SPD-Bundestagsfraktion sieht durch die RichtZu Protokoll gegebene Reden
linie die Prinzipen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit verletzt. Insbesondere die Regelungen zur
Ausschreibungspflicht für Dienstleistungskonzessionen
sind vollkommen unnötig und ein Angriff auf das Recht
der kommunalen Selbstverwaltung.
Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen durch eine Richtlinie der EU zu regeln. Das sehen nicht nur wir so. Es
gibt eine breite Front gegen diese Richtlinie: von den
Kommunalverbänden aus Deutschland, Frankreich und
Österreich über den DGB bis hin zum Bundesverband
der Energie- und Wasserwirtschaft. Und auch der Bundesrat und das Europäische Parlament haben diese
Richtlinie abgelehnt. Ich will hier nur mal das Europäische Parlament zitieren, das erklärt, „dass ein Vorschlag für einen Rechtsakt über Dienstleistungskonzessionen nur dann gerechtfertigt wäre, wenn durch ihn
etwaige Verzerrungen beim Funktionieren des Binnenmarkts abgestellt würden“. Da diese bisher noch nicht
festgestellt worden seien, sei ein Rechtsakt über Dienstleistungskonzessionen folglich auch nicht notwendig.
Und viele Kolleginnen und Kollegen der Union sehen
das doch genauso, wenn sie ehrlich sind. Das war schon
eine interessante Beratung im Wirtschaftsausschuss. In
der ersten Version des Entschließungsantrags hatte die
Koalition die Bundesregierung noch aufgefordert, „bei
ihren Verhandlungen im Europäischen Rat darauf hinzuwirken, dem Richtlinien-Vorschlag zur Vergabe von
Dienstleistungskonzessionen keine Abstimmungsmehrheit zu verschaffen bzw. zumindest darauf hinzuwirken,
dass der sensible Bereich der Wasserversorgung aus
einer solchen Regelung ausgenommen bleibt.“ Dem hätten wir gerne zugestimmt. Doch leider haben Sie diesen
Antrag zurückgezogen und in der neuen Version ihres
Entschließungsantrags auf die Ablehnung des Richtlinienvorschlags verzichtet. Wenn die Union da nicht
schon wieder einmal vor der FDP und ihrem Wirtschaftsminister eingeknickt ist!
Energie-, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sind grundlegende Aufgaben der Daseinsvorsorge.
Die Koalition weist in ihrem Antrag im Ausschuss zu
Recht darauf hin, „dass der hohe und europaweit führende Qualitätsstandard des Trinkwassers in Deutschland letztlich auf die von den Kommunen verantwortete
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zurückzuführen“ ist. Bei einer europaweiten Ausschreibung sei
zu befürchten, „dass die Qualität dieser Versorgung zum
Nachteil der Verbraucher signifikant sinkt“. Trotz dieser
Analyse verlangt die Koalition jetzt nur noch, „dass in
dem Richtlinien-Vorschlag den besonderen Belangen,
insbesondere der Wasserversorgung Rechnung getragen“ werden soll. Das ist vor dem Hintergrund, dass es
um elementaren Belange geht gelinde gesagt eine armselige Formulierung.
Tatsache ist, dass die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen durch das bestehende Primärrecht der EU
und die ständige Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes hinreichend rechtssicher geregelt ist. Es
ist nicht angemessen, mit dieser Richtlinie die Gestaltungsspielräume der Kommunen einzuschränken und im
Bereich der Daseinsvorsorge eine Dienstleistungskonzessionspflicht einzuführen. Ich freue mich, dass dies
alle Oppositionsfraktionen so sehen und wir einen
gemeinsamen Antrag in den Ausschuss dazu einreichen
konnten.
Prinzipiell muss der Nutzen von Öffentlich-PrivatenPartnerschaften grundsätzlich hinterfragt werden.
Meistens wird die Dienstleistung teurer und schlechter,
zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Die Gewinne werden privatisiert, die Kosten verbleiben bei der öffentlichen Hand. Deshalb fordern wir die Bundesregierung
weiterhin auf, sich im Europäischen Rat gegen eine
Richtlinie für Dienstleistungskonzessionen auszusprechen.
Die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen ist derzeit bewusst vom Anwendungsbereich des EU-Vergaberechtes ausgenommen. Sie sind, im Gegensatz zu der
öffentlichen Beschaffung, auch nicht in den internationalen Verträgen fixiert. Durch das bestehende Primärrecht der Europäischen Union, also Gleichbehandlung,
Nichtdiskriminierung und Transparenz und die ständige
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hierzu,
sind Dienstleistungskonzessionsvergaben hinreichend
rechtssicher geregelt. So sieht es auch der Europäische
Gerichtshof selbst. Die EU-Kommission hatte am
20. Dezember 2011 ihre Vorschläge zur Modernisierung
des öffentlichen Vergaberechts vorgelegt. In diesem Gesamtpaket unterbreitet die Kommission auch einen umfänglichen Richtlinienvorschlag zur Vergabe von Konzessionen, der in das Selbstverwaltungsrecht der
Kommunen eingreift und unseres Erachtens nicht verhältnismäßig ist. Hier wird auf 98 Seiten bürokratisch
geregelt, was in der Praxis schon jetzt gut funktioniert.
Darüber hinaus beschränkt sich der vorgelegte Vorschlag der Kommission nicht darauf, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes umzusetzen, sondern geht weit darüber hinaus.
Die Kommission begründet ihren Rechtsetzungsvorschlag damit, dass die bisherige Regelungslücke
schwerwiegende Verzerrungen des EU-Binnenmarkts
zur Folge habe. Allerdings sind in den Bereichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge, auf die der Vorschlag
zielt, schwerwiegende Wettbewerbsverzerrungen oder
eine Marktabschottung, die eine solche Regulierung gegebenenfalls erfordern würden, bislang nicht erkennbar
und von der EU-Kommission auch nicht nachgewiesen
worden. Ähnliche Bewertungen haben aktuell der Bundesrat am 2. März 2012 und das Europäische Parlament
sogar mehrmals, so zum Beispiel im Bericht „Neue Entwicklungen im öffentlichen Auftragswesen“ vom
18. Mai 2010 sowie im Bericht „Über die Modernisierung im Bereich des öffentlichen Auftragswesens“ vom
25. Oktober 2011, abgegeben.
Im Bereich der Dienstleistungskonzessionsvergabe
besteht keine Notwendigkeit einer weiteren Verrechtlichung mit den entsprechenden bürokratischen BelastunZu Protokoll gegebene Reden
gen für öffentliche Auftraggeber und Unternehmen. Darüber hinaus wird die Gestaltungsfreiheit der
Kommunen im Bereich der Daseinsvorsorge, beispielsweise in den Bereichen Wasser- und Energieversorgung,
beschränkt. Das lehnen wir ab und haben im Wirtschaftsausschuss zusammen mit SPD und Linken die
Bundesregierung aufgefordert, den Richtlinienvorschlag im Europäischen Rat abzulehnen, und diesen Antrag auch bereits im Plenum zur Abstimmung gestellt.
Union und FDP haben unsere Anträge abgelehnt.
Dabei hatte ursprünglich der gesamte Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages
unsere Positionierung mitgetragen und bereits am
1. Dezember 2010 in einem gemeinsamen Schreiben an
den Kommissar für den Binnenmarkt und Dienstleistungen, Michel Barnier, zum Ausdruck gebracht. Der
Ausschuss hatte sich dafür ausgesprochen, dass die Rechtsetzungsinitiative zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen kein Regelungstatbestand der Europäischen Union
sein sollte. Leider haben nun bei Vorliegen des Richtlinienvorschlags die Koalitionsfraktionen von Union und
FDP einen Rückzieher gemacht und ein einheitliches
und klares Signal des Bundestages an den Europäischen
Rat und an das Europäische Parlament verhindert. Die
von der Koalition formulierten Nachbesserungsforderungen an der Richtlinie sind nicht ausreichend; damit
ist den Kommunen nicht geholfen. Die Koalition verlässt
damit die von allen Fraktionen gemeinsam getragene
Linie des Wirtschaftsauschusses, eine weitere Regulierung der Vergabe von Konzessionen klar abzulehnen.
Wir werden die Beschlussempfehlung des Ausschusses
deshalb ablehnen.
Die Bundesregierung dankt dem Deutschen Bundestag für seine Einschätzung zur geplanten Konzessionsrichtlinie. Auch die Bundesregierung hat sich schon seit
längerem eingehend mit dem Für und Wider einer
gesetzlichen Regelung zur Vergabe von Konzessionen
auseinandergesetzt.
Aus Sicht der Bundesregierung ist es ordnungspolitisch sinnvoll, Konzessionen in einem transparenten und
von Wettbewerb geprägten Markt zu vergeben. Mehr
Rechtssicherheit bei der Konzessionsvergabe und ein
besserer Zugang zu den Konzessionsmärkten sind Ziele,
denen sich Deutschland nicht verschließen darf. Es freut
mich, dass der Bundestag im Grundsatz diese Auffassung teilt.
Ich möchte aber keinen Hehl daraus machen, dass
wir uns einen schlankeren und praxisgerechteren Text
gewünscht hätten. Auch die geplante Konzessionsrichtlinie muss sich an dem Ziel der Europäischen Kommission messen lassen, das Vergaberecht insgesamt zu vereinfachen. Diese Vereinfachung ist bisher leider nicht
ausreichend gelungen. Je komplexer aber die Regeln
sind, desto größer ist der Anreiz für die Kommunen, auf
Auftragsvergaben an private Unternehmen ganz zu verzichten, um keine Angriffsfläche für vergaberechtlichen
Rechtsschutz zu bieten. Das Vorhaben läuft daher in seiner jetzigen Fassung Gefahr, Märkte abzuschotten,
anstatt mehr Wettbewerb zu schaffen. Auch lassen sich
Widersprüche zum allgemeinen Vergaberecht nicht ausschließen.
Die Sorge der Kommunen vor einer Einschränkung
ihrer Handlungsspielräume haben wir immer sehr ernst
genommen. Wir haben diese Befürchtungen wiederholt
in Brüssel deutlich gemacht. Auch aufgrund unserer
Intervention bei der Kommission respektiert der aktuelle
Richtlinienentwurf die kommunale Handlungsfreiheit:
Auch künftig werden die Kommunen frei darüber entscheiden können, in welcher Form sie öffentliche Aufgaben erbringen. Für uns sind neben der kommunalen
Selbstverwaltung aber auch die Wettbewerbschancen
privater Unternehmen beim Zugang zu Konzessionen
sehr wichtig.
Das ordnungspolitische Ziel der Richtlinie, Rechtssicherheit zu schaffen und den europaweiten Zugang zu
Konzessionsmärkten zu verbessern, ist richtig. Aber ihre
jetzige Ausgestaltung ist zu bürokratisch und schwerfällig. Wir werden uns daher mit Nachdruck dafür einsetzen, dass der Text deutlich verschlankt und praxisgerechter wird. Auch die weiteren Überlegungen des
Deutschen Bundestages, insbesondere zu den strukturellen Auswirkungen auf einzelne Branchen wie beispielsweise die Wasserwirtschaft, werden wir bei den Verhandlungen in Brüssel angemessen berücksichtigen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9069, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Jens Petermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Berichts- und Zustimmungspflicht für Amtshilfe und Unterstützungsleistungen der Bundeswehr im Inneren
- Drucksache 17/4884 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Innenausschuss ({1})
Federführung strittig
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.
Seit Jahrzehnten ist es geübte und bewährte Praxis,
dass die Bundeswehr in besonderen Situationen Amtshilfe und Unterstützung im Inland leistet. Ich erinnere
an die Flutkatastrophe in Norddeutschland von 1962,
als der damalige Hamburger Innensenator, spätere Verteidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt
kurzerhand Streitkräfte der NATO anforderte, was zur
Anita Schäfer ({0})
Rettung unzähliger Menschenleben beitrug, obwohl Altbundeskanzler Schmidt als damaliger Innensenator zu
diesem Schritt verfassungsrechtlich gar nicht befugt
war. Aufgrund dieser Erfahrung wurde 1968 Art. 35 des
Grundgesetzes geändert, um für die Zukunft eine solide
rechtliche Grundlage zu schaffen. Auf dieser Grundlage
haben Soldaten der Bundeswehr seither vielfach Hilfe
im Innern geleistet, ob bei Waldbränden oder zahlreichen weiteren Flutkatastrophen wie 1997 an der Oder,
als sie - teilweise unter Lebensgefahr - entscheidend
zur Rettung der Deiche im Oderbruch beitrugen.
Die Bundeswehr hat unter anderem technische Hilfe
beim Zugunglück von Eschede im Jahr 1998 geleistet
und während der Vogelgrippe 2006 Fahrzeuge dekontaminiert und verendete Vögel eingesammelt, um die Bedrohung durch das Virus einzudämmen. Sie hat mit den
Wärmebildgeräten von Tornado-Aufklärern nach Vermissten gesucht und auch sonst in vielen Fällen Polizei
und Hilfsorganisationen mit speziellen Fähigkeiten und
Manpower unterstützt, all das in den engen Grenzen, die
Art. 35 vorgibt, der ein Tätigwerden der Bundeswehr
aus eigener Befugnis, insbesondere unter Einsatz von
Waffen, ausschließt. Bewaffnete Inneneinsätze werden
bekanntlich in noch engeren Grenzen von Art. 87 a
Abs. 4 des Grundgesetzes geregelt. So weit, so gut.
Nun kommt also die Linke und beklagt in ihrem vorliegenden Antrag zunächst eine angebliche Zunahme
der Bundeswehreinsätze nach Art. 35. Sie schafft das,
ohne auch nur mit einem einzigen Wort die ungezählten
Hilfeleistungen bei Naturkatastrophen und anderen
Großschadensereignissen zu erwähnen, geschweige
denn die dabei von unseren Soldaten geretteten Menschenleben. Stattdessen fabuliert sie von der mutmaßlichen Absicht, die Öffentlichkeit an das Auftreten der
Bundeswehr im Inland zu gewöhnen. Angesichts des
Ausmaßes, in dem die Bundeswehr seit der Wiedervereinigung Deutschlands aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, kann man das nur als bizarr bezeichnen.
Im Rahmen der gegenwärtigen Streitkräftereform
sind wir gerade dabei, weitere 31 Standorte zu schließen. In der zukünftigen Struktur wird es nur noch maximal 185 000 Soldaten in der ganzen Bundeswehr geben,
verglichen mit 500 000 allein in Westdeutschland während des Kalten Krieges. Die meisten hier werden sich
noch an Zeiten erinnern, in denen es in jedem Landkreis
mindestens eine Kaserne gab. Heute sind auch Politiker
der Linken vor Ort heilfroh um jeden erhaltenen Standort.
Ihr saarländischer Landesvorsitzender Rolf Linsler
wollte vor kurzem noch Ministerpräsidentin KrampKarrenbauer daran messen, wie sehr sie sich in Berlin
für die Saarlandbrigade einsetzt. Der Wittenberger
Landrat Jürgen Dannenberg hat sich dankbar gezeigt,
dass man beim Erhalt des örtlichen Standortes Gehör in
Berlin gefunden habe, obwohl „wir uns noch mehr erhofft und gewünscht“ hatten. Und, man höre und staune:
Dieser Standort habe „für die Sicherheit Deutschlands
und den Katastrophenschutz in der Region eine hohe Bedeutung“, Recht hat er, Ihr Landrat.
Und angesichts dessen, was die Bundeswehr mit viel
zu wenig Anerkennung für unser aller Sicherheit im Inund Ausland leistet, wird sie in ihrer künftigen Stärke jedes bisschen Öffentlichkeit dringend nötig und verdient
haben. Das ist aber natürlich nicht der Grund für Unterstützungsleistungen nach Art. 35, sondern jeweils ganz
konkrete Erfordernisse.
Zusammen zeigt das alles nachdrücklich die Geschichtsvergessenheit der Linken. Lieber versucht sie
sich an semantischen Konstruktionen, die in Abwesenheit realer Tatsachen ein Bedrohungsgefühl herbeibeschwören sollen, etwa dass Amtshilfe der Bundeswehr
für die Polizei an militärische Inlandseinsätze erinnere.
Sodann beklagt sie, dass das parlamentarische Fragerecht sich als unzureichend für eine wirksame und zeitnahe parlamentarische Kontrolle erwiesen habe, dies
von einer Partei, die jedes Quartal eine regelmäßige Anfrage zu Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen der
Bundeswehr im Inland stellt, die die Bundesregierung
ebenso regelmäßig pflichtgetreu auf 30 bis 40 Seiten beantwortet, ganz zu schweigen von zahllosen weiteren
Anfragen zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten, bis hin zu Veranstaltungen im Rahmen von Patenschaften zwischen Einheiten der Bundeswehr sowie
Städten, Gemeinden und Landkreisen, was nicht unerheblich zu dem parlamentarischen Papierberg beiträgt,
den Bundestagspräsident Lammert zu Anfang dieser Legislaturperiode einmal zart hinterfragt hat.
Damit aber nicht genug, fordert die Linke nun jeweils
im Vorfeld einer Unterstützungsleistung die Unterrichtung des Bundestages mit der Möglichkeit, dass dieser
die Durchführung untersagen kann. Das muss man sich
einmal vorstellen: Bei der nächsten Oder-Flut stünde
dann ein weiterer Hilfseinsatz der Bundeswehr unter
dem Vorbehalt eines parlamentarischen Entscheidungsganges, weil die Linke befürchtet, die möglichen Opfer
könnten dabei ein positives Bild von unseren Soldaten
gewinnen. Oder noch zugespitzter formuliert: Lieber ein
Dorf weggespült als eine Uniform in der Öffentlichkeit.
Ich nehme an, nach Ihrem Willen wird die Beteiligung
von Soldaten an öffentlichen Müllsammelaktionen und
Veranstaltungen zur Integration von Behinderten bei
den Patengemeinden ihrer Einheiten auch gleich mit
verboten. Gerade bei uns in Rheinland-Pfalz gibt es sehr
viele dieser Patenschaften zwischen Einheiten der Bundeswehr und Kommunen, und ich begrüße diese lebendigen Verbindungen ausdrücklich.
Im Übrigen ist die Anforderung von Kräften der Bundeswehr zu Unterstützungsleistungen im Rahmen von
Art. 35 Sache der Länder. Der Bundestag sollte sich hier
aus gutem Grund sehr zurückhalten. Im noch nie eingetretenen Fall von Abs. 2 dieses Artikels, bei dem die
Bundesregierung die Länder zum Einsatz von Einheiten
der Bundespolizei oder Bundeswehr anweisen kann,
wäre es denn auch das Recht des Bundesrates als Ländervertretung, die Einstellung dieser Maßnahme zu verlangen.
Der Weg über die Landesparlamente und Landesregierungen, um in diesem Gremium Kontrollrechte auszuüben, steht Ihnen selbstverständlich frei, meine DaZu Protokoll gegebene Reden
Anita Schäfer ({1})
men und Herren von der Linken. Dieser Antrag ist
dagegen nur ein weiterer Mosaikstein in dem Bild, das
Sie abgeben. Je mehr Sie Ihre Felle davonschwimmen
sehen, desto mehr reiten Sie auf Ihrem politischen Alleinstellungsmerkmal herum: Angriffe auf unsere Bundeswehr und die Ablehnung all dessen, was sie tut, selbst
wenn es sich um Hilfe für ganz konkret bedrohte Menschen handelt.
Es wird Sie nicht überraschen, wenn auch dieser Antrag mit breiter Mehrheit in diesem Haus abgelehnt
wird. Und ich möchte diese Ablehnung ausdrücklich mit
einem Dank an die Zehntausenden Soldaten verbinden,
die in den vergangenen Jahrzehnten der Bundesrepublik
Menschen aus Gefahr für Leib und Leben gerettet haben.
Heute hat die Fraktion Die Linke das Thema der
Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen der Bundeswehr im Inneren auf die Tagesordnung gesetzt. Bedauerlicherweise beschäftigt sie sich dabei aber nicht etwa
mit den Möglichkeiten der Verbesserung der zivil-militärischen Zusammenarbeit in Deutschland oder beispielsweise mit den zukünftigen Herausforderungen im
Bereich des Katastrophenschutzes. Den Linken geht es
vielmehr um eine Berichts- und Zustimmungspflicht bei
Anträgen auf Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen
der Bundeswehr.
Sie fordern, dass das Parlament in Zukunft über
Anträge, die von Behörden oder Dritten an die Bundeswehr gestellt werden, im Vorfeld informiert werden soll.
Nach den Vorstellungen der Linken soll der Deutsche
Bundestag zudem ein Vetorecht erhalten. Hinzu kommt
die Forderung nach einer umfassenden Berichtspflicht
der Bundesregierung nach dem Abschluss einer Unterstützungsleistung.
Der Hintergrund ihres Antrags sei der rasante
Anstieg der Hilfeleistungen der Bundeswehr in den letzten Jahren, der nach Ansicht der Linken rein politisch
motiviert ist. Genau das führt uns zur eigentlichen Motivation für den vorliegenden Antrag: Im Grunde spricht
die Fraktion Die Linke davon, dass durch die Amtshilfeund Unterstützungsleistungen Inlandseinsätze der Bundeswehr durch die Hintertür eingeführt würden. Überdies wirft sie der Bundesregierung vor, die Bevölkerung
durch die vermehrte Präsenz der Bundeswehr an den
Anblick uniformierter Soldaten gewöhnen zu wollen.
Diese Vorwürfe kann ich nur entschieden zurückweisen. Ich lehne den Antrag daher ab.
Die Bundeswehr ergänzt in Deutschland den zivilen
Sicherheits- und Katastrophenschutz, der eine gesamtstaatliche Aufgabe darstellt. Den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011 ist zu entnehmen, dass zum entsprechenden Beitrag der Bundeswehr subsidiäre
Aufgaben im Inland im Rahmen geltender Gesetze gehören. Zu diesen zählt die Amtshilfe in Fällen von Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen, zum Schutz
kritischer Infrastrukturen und bei innerem Notstand. Ein
solcher Einsatz der Bundeswehr ist im Grundgesetz in
Art. 35 geregelt. Die von der Fraktion Die Linke in
ihrem Antrag aufgeführten Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen der letzten Jahre bewegten sich alle im
Rahmen der Vorgabe des Art. 35, auch wenn einige von
ihnen politisch umstritten waren. Zudem möchte ich
darauf hinweisen, dass die Unterstützungsleistungen
nicht von der Bundeswehr selbst konzipiert werden, sondern von den zuständigen zivilen Stellen vor Ort. Deshalb sehe ich keine Notwendigkeit zur Änderung des bisherigen Verfahrens.
In ihrem Antrag zielt die Linke demnach erneut darauf ab, das Bild einer Bundesregierung zu zeichnen, die
eine Militarisierung der Gesellschaft vorantreiben
möchte. Die Befürchtungen, die die Fraktion Die Linke
in ihrem Antrag anführt, werden aber durch meine Erfahrungen aus der Praxis in keiner Weise bestätigt.
In meinem Wahlkreis werden insbesondere die
Gemeinden, die direkt an der Donau im Hochwassergebiet liegen, seit jeher im Katastrophenfall von Soldaten der Bundeswehr unterstützt. Die Bundeswehr
genießt aufgrund dieser Unterstützungsleistungen ein
sehr hohes Ansehen in der Region. Wenn ich mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort spreche, dann äußert niemand - im Gegensatz zur Fraktion Die Linke - Befürchtungen über eine zu starke Präsenz der Bundeswehr. Der
letzte große Einsatz war beim Pfingsthochwasser 1999.
Vielmehr wird immer wieder die Sorge an mich herangetragen, dass nach dem Wegfall der Wehrpflicht der
Katastrophenschutz nicht in gleichem Maße aufrechterhalten werden kann wie bisher. Das sind die Probleme,
die die Bevölkerung bewegen, und um die kümmern wir
uns als christlich-liberale Koalition. Dieses Thema ist
mir persönlich ein großes Anliegen.
Das Bundesverteidigungsministerium muss bei der
Reform darauf achten, dass die Bundeswehr auch in
Zukunft ihren Beitrag zum Sicherheits- und Katastrophenschutz leisten kann. Bei dem, was ich sehe, ist das
auch der Fall. Dafür möchte ich der Bundesregierung
herzlich danken.
Unsere Aufgabe als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sollte es sein, die Bundeswehr bei der Erfüllung ihrer Hilfeleistungen und dem Schutz unser Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen.
Mit ihrem Antrag reagiert die Linkspartei auf die
nach ihrer Ansicht unangemessene und verfassungswidrige Amtshilfe der Bundeswehr beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und bei einer steigenden Anzahl von
Amtshilfeersuchen an die Bundeswehr. Die Verfassungswidrigkeit des Einsatzes von 2007 hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil von 2010 eindeutig verneint
Die Linke spricht von einer „schleichenden Militarisierung der Gesellschaft“ und „von einem Gewöhnen
der Gesellschaft an ein Tätigwerden der Bundeswehr im
Innern“ durch diese vermehrten Amtshilfeersuchen und
Unterstützungsmaßnahmen. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion sind beide Argumente nur als völlig absurd
Zu Protokoll gegebene Reden
zu bezeichnen. Weder wird die Gesellschaft schleichend
militarisiert noch besteht die politische Absicht, die Bevölkerung an Bundeswehreinsätze im Innern zu gewöhnen. Jede Hilfe durch die Bundeswehr geht zurück auf
ein konkretes Hilfeersuchen einer Behörde, von der kleinen Kommune bis zum Land. Ein durch die Bundesregierung koordiniertes Verfahren, das ja vorhanden sein
müsste, wenn die beiden Argumente der Linken zuträfen,
ist für mich nicht einmal in Ansätzen erkennbar.
Um welche Hilfeleistungen der Bundeswehr handelt
es sich eigentlich, die hier so vehement kritisiert werden? Amtshilfe kann von der Bundeswehr als technischlogistische Unterstützung einer Amtshandlung, das heißt
einer hoheitlichen Verwaltungstätigkeit der anfordernden Behörde, geleistet werden. Hierbei können zum Beispiel Auskünfte erteilt, Liegenschaften, Transportkapazität und andere Sachleistungen bereitgestellt sowie
personelle Unterstützungen geleistet werden. Die Bundeswehr stellt Hilfeleistungen stets subsidiär insoweit
und solange bereit, als zivile Ressourcen nicht in ausreichender Anzahl oder mit den benötigten Fähigkeiten zur
Verfügung stehen.
Ein Beispiel hierfür war die Unterstützung der Bundeswehr bei der Bombenentschärfung Ende letzten Jahres in Koblenz. Hier stellte sie unter anderem Lautsprecherwagen zur Verfügung sowie Liegenschaften
außerhalb des Evakuierungsraums zum Abstellen von
Fahrzeugen des Rettungs- und Katastrophendienstes
und als Ruheraum für das Personal. Dieses wurde zudem aus der Truppenküche mit verpflegt.
Zur Hilfe bei Naturkatastrophen oder besonders
schweren Unglücksfällen können nach Art. 35 Abs. 1, 2
und 3 des Grundgesetzes Truppenteile und Dienststellen
der Bundeswehr zur Rettung von Menschenleben und
von Tieren sowie zum Schutz und zur Erhaltung von für
die Allgemeinheit wertvollem Material und lebenswichtigen Einrichtungen eingesetzt werden. Gleiches gilt für
die Abwehr von Gefährdungen, die durch eine unmittelbar bevorstehende Katastrophenlage eintreten können.
Naturkatastrophen sind unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse wie zum Beispiel Erdbeben, Hochwasser, Eisgang, Unwetter, Wald- und
Großbrände durch Selbstentzündung, Blitze oder Dürre
ausgelöst werden. Die verschiedenen Hochwassereinsätze der Bundeswehr in den vergangenen Jahren sind
hier nur in zu guter Erinnerung.
Besonders schwere Unglücksfälle sind Schadensereignisse von großem Ausmaß und von Bedeutung für
die Öffentlichkeit, die durch Unfälle, technisches oder
menschliches Versagen ausgelöst oder von Dritten absichtlich herbeigeführt werden. Hierunter fallen zum
Beispiel besonders schwere Verkehrsunfälle, schwere
Flugzeug- oder Eisenbahnunglücke, Stromausfall mit
Auswirkungen für lebenswichtige Einrichtungen, Großbrände, Unfälle in Industrieanlagen mit giftigen oder in
sonstiger Form lebensbedrohlichen Stoffen, Unfälle in
Kernenergieanlagen, andere Unfälle mit Strahlenrisiko
und Großschadenslagen nach terroristischen Anschlägen.
In allen diesen Fällen kann die Bundeswehr auf Antrag der zuständigen Behörden unterstützend mit Hilfeleistungen tätig werden. Hinzu kommen noch Fälle der
dringenden Nothilfe, die als Hilfeleistung weniger Bundeswehrangehöriger, gegebenenfalls mit Fahrzeugen,
Luftfahrzeugen, Wasserfahrzeugen und Geräten, zum
Beispiel zur Rettung von Menschenleben oder zur Vermeidung schwerer gesundheitlicher Schäden sowie erheblicher Beeinträchtigungen der Umwelt oder des Verlustes von für die Allgemeinheit wertvollem Material,
insoweit und solange zulässig sind, als geeignete zivile
Hilfskräfte und geeignetes Material der zuständigen Behörden oder Hilfsorganisationen nicht ausreichend oder
nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen. Nach Abschluss
der Hilfeleistung ist ein Ersuchen der Behörde nachzureichen. Am bekanntesten sind hier sicherlich die Suche
nach vermissten Personen mittels Wärmebildkameras
zum Beispiel durch Tornadoflugzeuge.
Aber was verfolgt die Linke nun aber konkret mit ihrem Antrag? Sie fordert die Vorlage eines Gesetzentwurfes, mit dem Amtshilfeersuchen an und Unterstützungsleistungen der Bundeswehr nach Art. 35 Abs. 1 bis 3
grundsätzlich unter einen Parlamentsvorbehalt gestellt
werden. Der Bundestag sei unverzüglich nicht nur über
den Eingang des Antrags, sondern umfassend auch über
Inhalt, Zweck und Ablauf sowie konkrete Tätigkeiten, die
die Soldatinnen und Soldaten zu verrichten hätten, Ort,
Datum, Anzahl des erforderlichen Personals und die anfallenden Kosten zu informieren. Dabei soll dem Bundestag sogar ein Vetorecht im Einzelfall eingeräumt
werden, das sich sogar gegen einzelne der beantragten
Leistungen der Bundeswehr im Rahmen solcher Maßnahmen richten kann. Dazu ist der Bundestag über den
Abschluss der durchgeführten Maßnahmen umgehend zu
informieren, und eventuelle Abweichungen gegenüber
dem ursprünglichen Antrag sind auch zu begründen. Ist
dieser Vorschlag der Linken überhaupt umsetzbar? Aus
meiner Sicht: Nein. Der Verteidigungsausschuss und der
Bundestag müssten sich ja dann mit jedem einzelnen Antrag auseinandersetzen. Oder soll ein Sondergremium
für diese Fälle geschaffen werden? In welchem Zeitraum
soll die Prüfung geschehen? Was geschieht bei Fällen
der Nothilfe? Nein, hier entstände ein überflüssiges bürokratisches Verfahren, das Hilfeleistungen der Bundeswehr unmöglich macht. Aber das ist ja auch der Sinn
dieses Antrags, oder?
Diesen im Antrag der Linken aufgezeigten Weg wird
die SPD-Bundestagsfraktion auf keinen Fall mitgehen.
Um es vorweg zu sagen: Dem Ansinnen der Fraktion
Die Linke können und wollen wir uns nicht anschließen.
Der vorliegende Antrag ist ein weiterer untauglicher
Versuch, die Bundeswehr in Misskredit zu bringen und
ihr Wirken als regelmäßig repressiv zu verunglimpfen.
Die Bundesregierung hat in etlichen Stellungnahmen
klargestellt, dass die Unterstützungsleistungen, die im
Rahmen der technischen Amtshilfe erbracht werden,
unter der Einsatzschwelle des Art. 87 a Satz 2 des
Grundgesetzes verbleiben. Auch verweist die Bundesregierung fortwährend darauf, dass der unterstellte AufZu Protokoll gegebene Reden
wuchs von sogenannten Inlandseinsätzen schlicht falsch
ist. Diese Aussage wird regelmäßig durch detailliertes
Zahlenmaterial dokumentiert und bestätigt. Die FDPBundestagsfraktion hat nicht den geringsten Anlass, an
der Richtigkeit der gemachten Angaben zu zweifeln. Im
Gegenteil: Die Bundesregierung genießt unser volles
Vertrauen. Wir sind überzeugt davon, dass die verfassungsmäßig auferlegte Beschränkung des Art. 87 a
Satz 2 des Grundgesetzes stets eingehalten und die Bundeswehr verantwortungsbewusst nur unter klar umrissenen Kriterien im Sinne der Amts- und Unterstützungsleistung im Innern zum Einsatz gebracht wird. Damit
erfüllt die Bundeswehr nicht nur einen ihr übertragenen
Auftrag, sondern leistet einen wichtigen Beitrag zum
Wohle unseres Landes. Dafür möchte ich mich an dieser
Stelle herzlich bedanken.
Die Antragsteller dagegen haben offensichtlich ein
Problem damit, die Bundeswehr als Teil der Gesellschaft
anzuerkennen und die von ihr auf vielfältige Art und
Weise geleistete Unterstützung zu akzeptieren. Die von
den Antragstellern implizit vermutete Tendenz zur
schleichenden Militarisierung der Gesellschaft zieht
sich wie ein roter Faden durch den Antrag. In welcher
Form diese Unterwanderung vonstattengehen soll,
bleibt allerdings schwammig. Die Vermutung, dass etwa
die Präsenz der Bundeswehr bei Großveranstaltungen
wie dem 34. Europäischen Jugendtreffen der Kommunität von Taizé im vergangenen Oktober durch die Bereitstellung von Warmhaltethermen für 2 000 Liter Tee zur
Imagepflege oder gar Nachwuchsgewinnung missbraucht wird, ist schlicht lebens- und realitätsfremd und
zeugt von ideologisch verbrämtem Misstrauen. Tatsache
ist, dass Hilfeleistungen der Truppe nicht von der Bundeswehr angeregt oder gar veranlasst werden, sondern
ausschließlich auf Nachfrage durch die für die Veranstaltung verantwortlichen zivilen Stellen geleistet werden. Die von den Antragstellern unterstellte „verstärkte
Amtshilfebewilligung“ für Maßnahmen der Bundeswehr
bei gesellschaftlichen Großveranstaltungen wie Kirchentagen oder sportlichen Massenveranstaltungen zur
„Imagepflege“ geriert sich angesichts der vorherrschenden Genehmigungspraxis und des ständig artikulierten Bedarfs vonseiten der Länder und Gebietskörperschaften mehr als kurios und grenzt an
Verschwörungstheorie.
Die im Antrag geforderte Dokumentationspflicht in
Form unzumut- und unleistbarer Berichtspflichten wäre
darüber hinaus ein nie da gewesener Akt des Bürokratieaufbaus und soll offenkundig zur Verhinderung der
Amtshilfe durch die Bundeswehr beitragen. An dieser
Stelle ist schon erlaubt, zu fragen, wie sich die Antragsteller - etwa im Falle von Naturkatastrophen - das von
ihnen erdachte Antrags- und Berichtswesen vorstellen.
Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem
Ausmaß, die durch Naturereignisse wie Erdbeben,
Hochwasser, Eisgang, Unwetter, Wald- und Großbrände
durch Selbstentzündung, Blitze oder Dürre ausgelöst
werden, sind regelmäßig schlicht nicht vorhersehbar, in
ihrem Ausmaß kaum abzuschätzen und daher, etwa
bezogen auf die Dauer und die anfallenden Kosten, stets
auch erst im Nachgang festzustellen. In diesen Fällen
erfolgen Hilfsmaßnahmen der Streitkräfte zur Unterstützung der für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden
im Wege der Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 des Grundgesetzes, bei der die Streitkräfte allerdings keine hoheitlichen Befugnisse ausüben. Keine Amtshilfe erfolgt
dagegen, wenn dienstliche Belange unter angemessener
Berücksichtigung des Anliegens der ersuchenden
Behörde entgegenstehen oder eine andere Behörde die
Hilfe wesentlich einfacher oder mit wesentlich geringerem Aufwand leisten kann als die Bundeswehr. Diese
Praxis stellt einen weiteren Beleg dafür dar, dass die
Amtshilfe der Bundeswehr keinen Selbstzweck im Sinne
eines verstärkten Auftretens von Soldatinnen und Soldaten zur Gewöhnung an die Tätigkeit der Bundeswehr im
Innern darstellt, sondern eine subsidiäre Hilfeleistung
in Form von fähigkeitsbezogenen Kräften und Mitteln,
sofern zivile Mittel nicht zur Verfügung stehen.
Die Linke will, dass sogenannte Amtshilfemaßnahmen der Bundeswehr besser vom Parlament kontrolliert
werden können und der Bundestag die Möglichkeit hat,
ein Veto gegen solche Maßnahmen einzulegen. Denn mit
der rasanten Zunahme von Amtshilfeeinsätzen werden
politische Absichten verfolgt, die nicht dem Auftrag der
Bundeswehr entsprechen. Und: Es ist nicht immer Amtshilfe drin, wo Amtshilfe draufsteht. Das haben wir ganz
deutlich beim Heiligendamm-Einsatz der Bundeswehr
im Jahr 2007 festgestellt, als beim G8-Gipfel weit über
1 000 Bundeswehrsoldaten, Kampfflugzeuge und Spähpanzer gegen Demonstranten eingesetzt wurden. Aus
unserer Sicht war das ein verfassungswidriger Inlandseinsatz. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage
offen gelassen. Offenkundig wird jedoch, dass es hier
eine Kontrolllücke im Bereich der inneren Verwendungen der Bundeswehr gibt.
Im Moment kann die Bundesregierung Amtshilfeersuchen anderer Behörden nach eigenem Gutdünken erfüllen oder ablehnen. Das Parlament wird weder gefragt, noch wird es überhaupt darüber informiert. Da
kann ein Militäreinsatz noch so politisch brisant sein,
wie jener in Heiligendamm - die Abgeordneten und die
Öffentlichkeit erfahren nichts davon, bis zur letzten
Minute, bis er dann konkret durchgeführt wurde.
Diese Kontrolllücke will die Linke schließen. Die
Bundesregierung soll jeweils vor einem solchen Einsatz
mitteilen, wann und wo er stattfinden soll, wie viele Soldaten eingeplant sind und was sie genau machen werden. Wenn der Bundestag zum Schluss kommt, dass er
diesen Einsatz aus politischen oder rechtlichen Gründen
ablehnt, muss er das Recht haben, ihn zu unterbinden
oder seinen Abbruch zu erwirken. Ich bin mir sicher:
Der Heiligendamm-Einsatz wäre nicht durchgeführt
worden, hätte er vorher mitgeteilt werden müssen.
Es geht aber nicht nur um den HeiligendammEinsatz. Die Linke erkundigt sich seither jedes Quartal
nach durchgeführten und beantragten Maßnahmen. Die
Antworten der Bundesregierung zeigen eindeutig, dass
die Zahl der Amtshilfeeinsätze in den letzten Jahren rasant nach oben gestiegen ist. Ende der 90er-Jahre gab
Zu Protokoll gegebene Reden
es eine einzige solche Maßnahme pro Jahr. In unserer
Antragsbegründung nennen wir den Stand des Jahres
2009. Da waren es schon 44. Im Jahr 2010 wurde die
bisherige Höchstmarke mit 71 erreicht, im vorigen Jahr
waren es 68. Es liegt ja auf der Hand, dass diese Zunahme nicht an Sachzwängen liegt. Niemand in diesem
Haus wendet sich dagegen, dass Bundeswehrsoldaten,
wenn es nottut, bei der Abdichtung von Deichen helfen.
Aber Hilfe bei Katastrophen - und dazu zähle ich jetzt
auch solche Fälle wie das Entschärfen von Weltkriegsblindgängern macht weniger als ein Drittel dieser
Einsätze aus. Ansonsten handelt es sich entweder um
prestigeträchtige Maßnahmen wie Hilfe bei Sportveranstaltungen oder um Unterstützungsmaßnahmen bei sogenannten Großlagen; das kann die Fußball-EM sein,
aber auch größere Gipfeltreffen, Staatsbesuche und
Großdemonstrationen. Auch wenn die Soldaten dabei
nicht unmittelbar gegen Demonstranten vorgehen, besteht ihre Funktion doch darin, den Polizeieinsatz logistisch und materiell zu unterstützen. Das ist aber nicht
der primäre Verwendungszweck der Bundeswehr.
Die Linke sieht diese Entwicklung im Zusammenhang
mit immer wieder aufflammenden Diskussionen über einen Inlandseinsatz der Bundeswehr. Die Gefahr besteht
in einem Gewöhnungseffekt: Die Soldaten gewöhnen
sich daran, eine aktive Rolle im Bereich der inneren
Sicherheit zu spielen. Die Polizei gewöhnt sich daran,
bei der Wahrnehmung ihrer Kernaufgabe auf militärische Ressourcen zuzugreifen. Und die Öffentlichkeit gewöhnt sich daran, dass die Bundeswehr immer mit von
der Partie ist, wenn es eine sogenannte Großlage gibt.
Solche Gewöhnungsprozesse sind außerordentlich
bedrohlich. Dass sich ein Szenario wie 2007 in Heiligendamm nicht mehr wiederholt hat, liegt nämlich genau daran, dass der Militäreinsatz damals große Empörung hervorgerufen hat und weithin als Skandal
empfunden wurde. Wenn man jetzt Schritt für Schritt die
Bundeswehr als Hilfspolizei aufbaut, droht ein solches
Szenario seine Skandalträchtigkeit zu verlieren.
Wer parlamentarische Kontrolle ernst nimmt, kann
nichts dagegen haben, dass der Bundestag über die inneren Verwendungen der Bundeswehr genau in Kenntnis
gesetzt wird. Das entspricht dem parlamentarischen
Prinzip und dem Primat der Politik. Die Linke verbindet
mit dem Antrag natürlich auch die Hoffnung auf eine
disziplinierende Wirkung: Manche Einsätze würden womöglich ausfallen, wenn sie öffentlich würden.
Eines sei noch angemerkt: Ich habe schon ausgeführt, dass niemand etwas gegen Soldaten haben wird,
die in der unmittelbaren Katastrophenhilfe unterstützen.
Wir müssen aber immer danach fragen, warum so etwas
notwendig wird. Die Gefahr besteht doch, dass Kapazitäten im zivilen Katastrophenschutz eingespart werden,
weil man darauf hofft, im Ernstfall aufs Militär zurückzugreifen. Das ist freilich eine trügerische Option, weil
militärische Kapazitäten nach militärischem und nicht
nach zivilem Bedarf eingeplant werden. Wenn es darauf
ankommt, sind die vielleicht gerade in Afghanistan.
Also: Im Zweifelsfall muss der zivile Katastrophenschutz
gestärkt werden.
Keine Bundeswehreinsätze im Innern, das ist eines
der Grundprinzipien grüner Innenpolitik. Der militärische Auftrag, die Ausbildung der Soldatinnen und
Soldaten und die entsprechende Ausrüstung vertragen
sich einfach nicht mit polizeilichen Aufgaben. Wir haben
immer dagegen gekämpft, die Bundeswehr als Polizei
einzusetzen, und wir haben uns beharrlich gegen eine
paramilitärische Bewaffnung und Ausrichtung der Polizei eingesetzt. Für uns gilt: Die Bundeswehr ist keine
Polizei, und sie soll es auch niemals werden.
Das Grundgesetz ist da auch ganz eindeutig, und wo
es deutungsbedürftig ist, da hat Karlsruhe für die notwendige Klarheit gesorgt. Nach Art. 35 des Grundgesetzes kann die Bundeswehr in Amtshilfe bei Notlagen tätig
werden, die von den Ländern und der Polizei nicht zu
bewältigen sind. Die klassischen Beispiele kennen wir
alle. Erinnert sei nur an den Schutz der Deiche im Oderbruch, bei dem Abertausende von Soldaten im Einsatz
waren und mit THW, Feuerwehr und vielen anderen
Sandsack um Sandsack aufgeschichtet haben, um noch
Schlimmeres zu verhüten, und es wird hier hoffentlich
niemand sagen wollen, dass das falsch oder verfassungswidrig war.
Mir wird nicht klar: Was will dieser Antrag der Linkspartei? Die Bundeswehr hat eine militärische Aufgabe
- von der Linkspartei übrigens ja nicht nur im Innern
abgelehnt -, und sie übernimmt im zivilen Bereich Amtshilfe. Sie ist als Armee eine Parlamentsarmee. Ihr Einsatz für militärische Zwecke bedarf der Zustimmung des
Deutschen Bundestages, und das ist auch richtig so. Es
geht um Leben und Gesundheit der beteiligten deutschen
Soldatinnen und Soldaten, um die Interessen der Bundesrepublik und um den Einsatz militärischer Gewalt
gegen andere. Das sind gute Gründe, den Marschbefehl
nicht einfach der Regierung zu überlassen, sondern
diese schweren Entscheidungen hier zu debattieren und
zu treffen. Aber darum geht es in dem Antrag nicht; denn
dafür gibt es schon ein Parlamentsbeteiligungsgesetz.
Es geht in diesem Antrag um die Amtshilfeeinsätze im
Innern. Die sind grundsätzlich nicht militärischer
Natur; denn genau das hat das Bundesverfassungsgericht 2006 verboten. Der Einsatz spezifisch militärischer
Bewaffnung ist ja eben nicht erlaubt. Über die wollen
Sie nun das Parlament entscheiden lassen? Warum?
Weil Sie sagen - nicht ganz falsch, aber auch mehr in
der Begründung als im Beschlusstext -, es gibt zu viele
solche Einsätze. Und Sie sagen: Manche davon sind
fragwürdig, auch das ist nicht falsch. Aber wieso ist
denn die Konsequenz daraus, dass für den Einsatz der
Beschluss des Parlamentes nötig werden soll? Wenn ein
Einsatz nicht legal ist, gehört er vor Gericht. Und wenn
ein Einsatz illegitim ist, dann gehört die Regierung dafür angeprangert. Aber wie um alles in der Welt soll
denn der Beschluss des Bundestages hier Abhilfe schaffen?
Endgültig skurril wird es bei Ihren Forderungen zur
Öffentlichkeitsarbeit und zu Einsätzen im Kontext von
Demonstrationen. Für Letztere gilt das schon Gesagte:
Diese Einsätze, wenn sie nicht rechtmäßig sind, wenn sie
Zu Protokoll gegebene Reden
die Ausübung von Grundrechten beeinträchtigen, sind
schlicht zu unterlassen. Und für Erstere gilt: Die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr mag man mögen oder
nicht, aber wollen Sie allen Ernstes den Bundestag darüber entscheiden lassen? Ist das nicht ganz eindeutig
Aufgabe der Bundeswehr und des Verteidigungsministers? Was soll das mit dem Gesetzgeber zu tun haben?
Kritik an falscher Praxis ist gut und richtig; da kann
ich mich vielem anschließen. Wenn die Linkspartei hier
gesagt hätte: „Es gibt einfach zu viele Einsätze der Bundeswehr bei Großlagen; das ist nicht immer nötig“,
wenn sie gesagt hätte: „Der Auftrag ist eben nicht immer Amtshilfe; das grenzt - wie in Heiligendamm - an
Einschüchterung und damit an einen Eingriff in die
Bürgerrechte“, wenn sie gesagt hätte: „Wir wollen enge
Richtlinien für die Entscheidung über Amtshilfe, und wir
wollen detaillierte Berichte über jeden Einsatz“, wenn
sie all das gesagt hätte, dann hätten wir dem zugestimmt.
Aber in der Form, wie der Antrag jetzt vorliegt, ist er ein
Gemischtwarenangebot in einem zu großen Schaufenster,
aber mit zu wenig Ware.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
hier jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU, FDP
und SPD wünschen Federführung beim Verteidigungsausschuss. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim Innenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD, Federführung beim Verteidigungsausschuss, abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt
auf solide Datenbasis stellen
- Drucksache 17/9155 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.
Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der
SPD lassen einen ratlos zurück. Viele Worte für einen
Sachverhalt, nämlich die Fertigstellung und Veröffentlichung der Mediendatenbank, der eigentlich nicht der
Rede wert ist, und da, wo ein klares politisches Bekenntnis gefragt wäre, die Themen Pressefusionsrecht und vor
allem Leistungsschutzrecht der Verlage, findet sich
nichts Konkretes. Das ist medienpolitisch dürftig.
Die Bundesregierung muss durch den Antrag der Oppositionsfraktionen nicht gedrängt werden, die Mediendatenbank zu veröffentlichen. Die Bundesregierung hat
immer erklärt, auch im Lichte eines Beschlusses des
Haushaltsausschusses, dass sie die Studien des HansBredow-Instituts und des Formatt-Instituts unverzüglich
nach deren Fertigstellung veröffentlichen wird. Dies
steht unmittelbar bevor.
Politisch entscheidend ist doch aber ein ganz anderer
Sachverhalt. Sie unterstellen, die Bundesregierung
könne oder dürfe sogar in Sachen Pressefusionskontrolle und Leistungsschutzrecht nicht handeln, bevor
eine Mediendatenbank erstellt ist. Das ist abwegig. Die
Frage, ob man etwa Verlagen ein Leistungsschutzrecht
einräumen will, setzt doch in erster Linie eine medienpolitische Entscheidung voraus und ist nicht von den Angaben einer Mediendatenbank abhängig. Wir als CDU/
CSU bekennen uns klar und eindeutig zu einem solchen
Leistungsschutzrecht, wie wir es auch schon in der Koalitionsvereinbarung angekündigt haben. Wir müssen
gerade auch in der digitalen Welt für einen fairen Interessenausgleich zwischen Verlagen und gewerblichen
Anbietern im Netz sorgen, um die Pressevielfalt und
Leistungsfähigkeit der Verlage zu stärken. Und ich bin
sehr dafür, dass wir uns auch in diesem Bereich dazu bekennen, dass das Netz genauso eine Ordnung braucht,
wie es für uns in der analogen Welt selbstverständlich
ist.
So wie wir selbstverständlich es richtig finden, dass
man etwa für die Verwendung von Zeitungsartikeln in
Pressespiegeln eine Abgabe an die VG Wort zahlt, muss
es auch in Zukunft selbstverständlich sein, dass Suchmaschinenbetreiber und News-Aggregatoren für die Verbreitung von Zeitungsartikeln im Internet ein Entgelt an
die Verlage zahlen. Die Presseverlage werden damit an
den Gewinnen gewerblicher Internetdienste beteiligt,
die diese nur erzielen können, weil es Journalisten gibt,
die einen Anspruch darauf haben, dass ihr schöpferischgeistiges Eigentum geschützt wird, wobei ich hier gerne
hinzufügen möchte, dass ich es persönlich als selbstverständlich ansehe, dass Verlage, die in Zukunft durch eine
Verwertungsgesellschaft Einnahmen generieren, ihre
Mitarbeiter daran beteiligen. Aus Sicht der Verlage ist
die Durchsetzung eines Leistungsschutzrechts noch
überzeugender und glaubwürdiger, wenn man sich nicht
automatisch von seinen redaktionellen Mitarbeitern alle
Rechte an den Artikeln abtreten lässt.
Im Kern geht es doch darum, dass in einem Land, das
nicht über sehr viele Rohstoffe verfügt, der Rohstoff
geistiges Eigentum geradezu unter die Schutzpflicht des
Staates gestellt werden muss. Und das ist doch in Wahr20382
heit der Grund für die sehr merkwürdige Abfassung ihres Antrags. Sie flüchten sich in die Einforderung der
Mediendatenbank, um die eigentliche Kernfrage nicht
beantworten zu müssen: Wie halten Sie es mit dem Leistungsschutzrecht?
SPD und Grüne sind nach den Erfolgen der „Piraten“ in einer Zwickmühle. Sie wollen einerseits das Abwandern der Netzgemeinde zu den „Piraten“ verhindern und wollen andererseits eine Klientel, die lange
Zeit zu ihren politischen Stammkunden gehörte, nämlich
die Vertreter der Kreativwirtschaft, die Künstler, Musiker oder Designer, nicht verprellen. Aber Sie werden
sich entscheiden müssen. Die Haltung der CDU/CSU in
dieser Frage ist völlig eindeutig: Gerade im Bereich des
Leitungsschutzrechts steht für uns das geistige Eigentum
nicht zur Debatte. Wir sind die Anwälte des geistigen Eigentums. Ich will deshalb mit allem Nachdruck angesichts der Beschlüsse des Koalitionsausschusses betonen, dass wir vom zuständigen Bundesministerium der
Justiz jetzt auch erwarten, dass die entsprechenden Gesetzesentwürfe zügig vorgelegt werden. Daran dürfen,
bei allem Respekt vor unserem geschätzten Koalitionspartner, auch bayerische Landesparteitagsbeschlüsse
nichts ändern.
Dabei ist es wiederum mit Blick auf die sogenannte
Netzgemeinde wichtig, zu differenzieren, dass es hier
auch um eine klare Trennung zwischen privater und gewerblicher Nutzung des Netzes gehen muss. Das Internet
ist für viele Privatleute eine wunderbare Einrichtung,
um sich schnell und präzise und vor allem selbstbestimmt zu informieren. Dabei soll es selbstverständlich
bleiben. Hier soll es keine Einschränkungen in Form
von etwaigen Gebührenverpflichtungen geben. Etwas
anderes ist freilich die gewerbliche Nutzung fremden
geistigen Eigentum und ich denke, dass dafür die wahrhaft Toleranten im Netz auch Verständnis haben.
Was die Frage des Pressefusionsrechts anbelangt, ist
es mir ebenso schleierhaft, weshalb man ernsthaft
glaubt, hierbei ohne eine Mediendatenbank nicht zu guten Ergebnissen zu kommen. Die Bundesregierung hat in
diesem Zusammenhang selbstverständlich den Rat sowohl der großen überregionalen Verleger als auch der
lokalen Zeitungsverlage eingeholt. Diese haben sich auf
einen Kompromiss verständigt, den wir jetzt im Wesentlichen übernommen haben.
Ich will dabei nur auf das Sondergutachten der Monopolkommission vom Januar 2012 verweisen. Dort
wird eindeutig festgehalten, dass es auch künftig gewährleistet bleibt, dass die Übernahme kleiner Verlage
durch Großverlage kontrollpflichtig bleibt. Die Vorschläge werden als wettbewerbspolitisch vertretbar bezeichnet, und es wird betont, dass mit unserem Gesetzesvorhaben die in unserer deutschen Medienlandschaft
vorherrschende Prägung durch kleine und mittlere Verlage nicht beeinträchtigt wird. Das ist wichtig, weil die
Fusionskontrolle im Pressebereich zum Erhalt einer
vielfältigen Zeitungslandschaft unerlässlich ist. Für die
gesellschaftliche und politische Willensbildung ist es
schlichtweg konstituierend, dass eine Vielzahl von öffentlichen Informationsquellen eröffnet wird.
Mit der Reform der Pressefusionskontrolle werden
dabei angemessene Spielräume der Verlage zur Stabilisierung ihrer wirtschaftlichen Basis durch Zusammenschlüsse erweitert und wird die Wettbewerbsfähigkeit
gegenüber anderen Medien gesteigert. Dadurch wird
Medienvielfalt erhalten und nicht gefährdet.
SPD und Grüne fordern im vorliegenden Antrag, die
Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt auf eine
solide Datenbasis zu stellen. Allein von dieser Grundaussage ausgehend ist das eine durchaus wünschensund unterstützenswerte Forderung - wenn nicht schon
längst genau das unternommen worden wäre! Ihr Antrag
ist im Ganzen gesehen, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen - Sie erlauben mir bitte die regionale Abwandlung eines Zitates
aus einer altgriechischen Komödie -, wie Wasser in die
Pegnitz schütten. Er ist nicht notwendig in seinen Forderungen, weil diese im Kern alle erfüllt sind bzw. kurz vor
der Umsetzung stehen. Und er ist nicht notwendig in seiner Kritik, denn bei den für Sie kritischen Punkten bringen Sie kein Fleisch an den Knochen in den inhaltlichen
Fragen, denen Sie kritisch gegenüberzustehen scheinen.
Lassen Sie mich das im Einzelnen begründen.
Sie listen eine Reihe von Zitaten aus Antworten der
Bundesregierung in der Fragestunde vom 7. März auf,
die sich um die Themen Mediendatenbank, Pressefusionsrechtsänderungen in der 8. GWB-Novelle und um
das angestrebte Leistungsschutzrecht für Verlage drehen. Damit glauben Sie Nachweise zu führen, dass die
Bundesregierung die beiden letztgenannten Gesetzgebungsvorhaben ohne ausreichende Kenntnis der Situation der deutschen Medienlandschaft plane. Im Grunde
genommen steht dahinter Ihr Versuch, die Bundesregierung in einen Kontext zu setzen, wonach sie gegen Vielfalt und Transparenz in der deutschen Medienlandschaft
sei. Das Gegenteil ist der Fall; das zeigen gerade diese
beiden Gesetzesvorhaben. Aber darauf werde ich im
Weiteren noch eingehen.
Mit der soliden Datenbasis, die Sie ansprechen, ist
die 2009 beschlossene Einrichtung und Veröffentlichung
einer Mediendatenbank bis 2011 gemeint. Dafür wurden
in den letzten drei Jahren regelmäßig Mittel im Bundeshaushalt eingestellt. Die Mediendatenbank ist Beschluss
und Auftrag des Deutschen Bundestages an den Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Seien Sie versichert, meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen:
Nichts liegt dem BKM ferner, als diesem Auftrag nicht
nachzukommen! Er muss und er wird die Datenbank ins
Netz stellen.
Der Beauftragte hat Anfang März mitgeteilt, dass die
beiden bestandaufnehmenden Studien des HansBredow-Institutes und des Formatt-Institutes als Basis
für die Einrichtung der Mediendatenbank nunmehr vorliegen. Sie unterstellen, dass die Bundesregierung die
Daten nicht veröffentlichen wolle, und fordern nachdrücklich die öffentliche Zugänglichmachung der Mediendatenbank. Genau das aber soll doch vollkommen
Zu Protokoll gegebene Reden
auftragsgemäß demnächst passieren. Allerdings müssen
die Studien erst freigegeben werden. Zur korrekten Ausführung dieses Bundestagsbeschlusses bedarf es nun
einmal auch einer Prüfung der Untersuchungen, bevor
die Ergebnisse veröffentlicht werden können. Darin liegt
nichts Verwerfliches, sondern es zeugt von besonderer
Sorgfalt, zumal öffentliche Mittel für Datenerhebungen
geflossen sind.
Sie unterstellen außerdem, die Bundesregierung habe
den Entwurf zur 8. GWB-Novelle, der gestern im Bundeskabinett beschlossen worden ist, und den Beschluss
zum Leistungsschutzrecht im Koalitionsausschuss vom
4. März ohne ausreichende Datengrundlagen vorgenommen.
Dazu kann ich eigentlich nur sagen: Schließen Sie
nicht so vorschnell von sich auf andere, und vermuten
Sie bei der Bundesregierung nicht die gleiche Oberflächlichkeit, wie Sie sie in Ihrem Antrag an den Tag legen! Denn der enthält in Wirklichkeit nichts anderes als
eine Reihe von Schnellschüssen.
Die Einführung des Leistungsschutzrechts wurde bereits im Koalitionsvertrag formuliert und Anfang März
im Koalitionsausschuss beschlossen. Verlage sollen
hiernach im Onlinebereich nicht schlechter gestellt sein
als andere Werkvermittler. Mit einem Leistungsschutzrecht für Presseverlage soll der Schutz von Presseerzeugnissen im Internet verbessert werden. Gewerbliche
Nutzer wie Suchmaschinenbetreiber sollen künftig dafür
bezahlen, dass sie beispielsweise Presseartikel im Internet verbreiten. Die Presseverlage werden also beteiligt
an den Gewinnen aus ihren Erzeugnissen, die die Internetdienste bislang allein und für sich erzielen. Wohlgemerkt: Die private Nutzung von Zeitungsartikeln wird
damit nicht gebührenpflichtig, aber es soll eine Besserstellung der Verlage beim Leistungsschutz gegenüber
den gewerblichen Nutzern ihrer Erzeugnisse erreicht
werden. Erklären Sie mir bitte, wo das nicht der Medienvielfalt und Stärkung der deutschen Presselandschaft
dient! In die derzeitige Erarbeitung dieses Entwurfes
können sämtliche Informationen aus den beiden Datenerhebungen zur Mediendatenbank einfließen. Natürlich
müssen noch einige Dinge geklärt werden, bevor der
Entwurf rund ist. Ich denke da beispielsweise an die
Frage „gewerblich oder nichtgewerblich“, wenn es um
die journalistischen Beiträge von Bloggern geht. Denn
Blogger sind meinem Verständnis nach ein fester Bestandteil unserer Medienlandschaft. Aber wie gesagt,
die Detailfragen werden wir in den kommenden Wochen
in dem hierfür vorgesehenen parlamentarischen Verfahren klären.
Bei der 8. GWB-Novelle ist das zwar leider nicht
mehr möglich, denn der Referentenentwurf liegt bereits
seit Oktober letzten Jahres vor, während die Studienergebnisse des Hans-Bredow- und des Formatt-Institutes
erst seit Ende Februar bekannt sind. Nichtsdestotrotz
wurde der Entwurf lange und sorgfältig vorbereitet und
unter Einbeziehung aller zur Verfügung stehenden Daten und Informationen erarbeitet. Eines der wichtigsten
Anliegen der Bundesregierung ist die kartellrechtliche
Unterstützung des Strukturwandels im Pressesektor, und
dieses Bereiches nimmt sich der Entwurf zur 8. GWBNovelle im besonderen Maße an. Die Erhöhung der Aufgreifschwelle, ab der Fusionen im Pressebereich genehmigungspflichtig sind, von 25 Millionen auf 62,5 Millionen Euro wird ein Beitrag zur Medienvielfalt sein. Denn
diese maßvolle Anhebung der Aufgreifschwelle hilft gerade kleineren und mittleren Verlagen, sich angesichts
der großen investiven Herausforderungen, die unter anderem das Internet an ihre Wettbewerbsfähigkeit stellt,
am Markt zu behaupten. Das sollte doch auch in Ihrem
Sinne sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen.
In Ihrem Antrag kommt aber nur zum Ausdruck, dass
Sie an der Sinnhaftigkeit und Stoßrichtung beider Gesetzgebungsvorhaben zweifeln. Nichtsdestotrotz sind
von Ihnen eigene inhaltliche Anmerkungen oder Verbesserungsvorschläge nicht zu vernehmen.
Die Bundesregierung hingegen hat ihre Vorhaben von
Anfang an klar formuliert und den Willen deutlich gemacht, den Presseverlagen einerseits den wirtschaftlich
notwendigen Strukturwandel zu erleichtern und andererseits die Vielfalt der deutschen Medienlandschaft zu
stärken. So sind beispielsweise die Änderungen im
Pressefusionsrecht - das war der Bundesregierung besonders wichtig - nach einer Einigung der großen und
der lokalen Verleger zustande gekommen. Sie sind als
Kompromiss zwar nicht sehr weitreichend, aber dennoch ein Fortschritt im Sinne der kleineren und mittleren
Verleger. Die Änderungen stehen also auf breiter und
sorgfältig erarbeiteter Basis.
Was nun die baldige Veröffentlichung der Mediendatenbank anbetrifft: Ich freue mich darauf und bin schon
sehr gespannt. Die Möglichkeiten, die sie ihren Nutzern
bietet, sind ein großer Beitrag zu mehr Transparenz, und
diese Transparenz wird die Vielfalt der Medienlandschaft wahren und stärken helfen. Ganz besonders gespannt bin ich aber auf eines: nämlich wie Ihre Partei,
meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der
SPD-Fraktion, es selbst mit der Meinungsvielfalt und
mit der Transparenz hält. Die Mediendatenbank wird
auch offenlegen, wie stark die Verflechtungen der Sozialdemokratischen Partei in der Medienbranche sind.
Es wird sich zeigen, ob die oftmals nicht klar erkennbaren Medienbeteiligungen Ihrer parteieigenen Druckund Verlagsgesellschaft einem fairen Wettbewerb entsprechen. In meinen Augen sind sie ein Widerspruch zur
Meinungsvielfalt in Deutschland. Seien Sie versichert:
Wir freuen uns auf diese Transparenz!
Mit ihrem gemeinsamen Antrag fordern die Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen eine belastbare Datengrundlage für wichtige medienpolitische
Entscheidungen. Insbesondere sollen die durch das
Hans-Bredow-Institut und das Formatt-Institut erstellten Datenerhebungen zur Errichtung der Mediendatenbank im Deutschen Bundestag unverzüglich vorgelegt
und die Mediendatenbank der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aktueller Anlass für unseren Vorstoß ist der zwischenzeitlich vom Bundeskabinett verabschiedete Gesetzentwurf zur Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB. Darin enthalten ist eine
Änderung der Pressefusionsrechts. Fusionen von Presseunternehmen werden hierdurch erheblich erleichtert.
Künftig soll das Bundeskartellamt einen Zusammenschluss zwischen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen
erst ab einem gemeinsamen weltweiten Umsatz der beteiligten Presseunternehmen von 62,5 Millionen Euro
prüfen statt wie bisher ab 25 Millionen Euro. Zusätzlich
wird auch die Bagatellmarktschwelle im Pressebereich
von 750 000 Euro auf 1,875 Millionen Euro angehoben.
Begründet werden die beabsichtigten Gesetzesänderungen mit veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf den Pressemärkten. Das Internet als bedeutendes Informationsmedium führe zu einer gewachsenen
Konkurrenz durch neue Anbieter, andere Mediengattungen sowie ein geändertes Mediennutzungsverhalten.
In der Tat hat die Digitalisierung insbesondere die
Printpresse vor große Herausforderungen gestellt. Der
Auflagenverlust ist enorm und anhaltend. Von 1995 bis
2010 haben die Kaufzeitungen gut ein Drittel ihrer Auflage eingebüßt, die Abonnementzeitungen etwa ein
Fünftel. Zudem ging alleine von 1998 bis 2008 der Umsatz durch Werbeerlöse um 1,7 Milliarden Euro und damit mehr als ein Viertel zurück.
Auch die SPD-Bundestagsfraktion betrachtet diese
Entwicklung mit Sorge, vor allem auch deshalb, weil ein
erheblicher Qualitäts- und Vielfaltsverlust damit verbunden ist. Wir beobachten insgesamt einen Abbau redaktioneller Ressourcen bei Printmedien. Redaktionen
werden zusammengelegt, Stellen abgebaut und Lohnkosten gesenkt. Oft lösen Reporterpools, die allen Titeln eines Konzerns zuarbeiten, eigenständige Redaktionen ab,
um Kosten zu sparen. Insbesondere im lokalen Bereich
ist der Vielfaltsverlust gravierend. Gerade vor diesem
Hintergrund ist es notwendig, dass wir alle vernünftigen
Möglichkeiten nutzen, um Medienvielfalt im Printbereich zu erhalten und zu stärken. So haben die Fraktionen von SPD und von Bündnis 90/Die Grünen kürzlich
einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der eine gesetzliche Absicherung des Presse-Grosso vorsieht.
Durch dieses Vertriebssystem wird sichergestellt, dass
kleine und große Verlage ihre Zeitschriften gleichberechtigt an die Verkaufsstellen bringen können.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird prüfen, ob und inwieweit eine Änderung des Pressefusionsrechts sinnvoll
und notwendig ist, um das wirtschaftliche Fundament
kleinerer und mittlerer Presseverlage zu stabilisieren.
Allerdings nehmen wir auch die Hinweise des Bundeskartellamts sehr ernst, das in seiner Stellungnahme zum
Referentenentwurf zur GWB-Novelle die beabsichtigten
Änderungen der Anmeldeschwelle für Fusionen im Pressebereich und erst recht darüber hinaus gehende Forderungen kritisch bewertet hat. Es sei zu befürchten, dass
dadurch der Wettbewerb und die Pressevielfalt eingeschränkt würden.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, so
weitreichende Änderungen beim Pressefusionsrecht
sollten auf einer möglichst soliden Datengrundlage erfolgen. Von daher halten wir es für irritierend und wenig
nachvollziehbar, dass die Bundesregierung ihr bekannte
Zahlen über den Medienbereich noch nicht vorgelegt
hat.
Ich will daran erinnern, dass der Ende 2008 vorgelegte Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung die bestehenden Informationsdefizite im Bereich der traditionellen und der neuen Medien
ausdrücklich bestätigt hat. Gerade aus diesem Grund
hat der Deutsche Bundestag die Einrichtung einer Mediendatenbank beschlossen. Sie soll - aufbauend auf den
Ergebnissen der Medien- und Medienkonzentrationsforschung - belastbare Daten zu den Angebots- und Anbieterstrukturen enthalten. Eigentlich sollte diese Mediendatenbank bereits Ende 2011 auf der Homepage des
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien veröffentlicht werden. Beim Einstellen der Mittel
für die Mediendatenbank im Haushalt 2009 hatte der
Haushaltsgesetzgeber ausdrücklich das Ziel vorgegeben, dass diese belastbare Informationen und Datengrundlagen für medien- und kommunikationspolitische
Entscheidungen bieten soll.
Mit den Gutachten sollten insbesondere die Defizite
im Bereich der vielfaltsrelevanten Daten abgebaut werden. Dabei sollten die multimedialen Angebots- und Anbieterstrukturen auf lokaler Ebene untersucht und das
gesamte klassische und onlinegestützte örtliche Medienangebot sowie crossmediale Verflechtungen und Entwicklungen detailliert beschrieben und für die Mediendatenbank auch kartografisch dargestellt werden. Dabei
sollte es vor allem darum gehen, nicht nur die lokalen
Verhältnisse, sondern auch generelle nationale Trends
der Angebots- und Anbieterentwicklung unter Vielfaltsaspekten zu erfassen. Zugleich sollte in einer zweiten Studie die Nutzerseite untersucht und aufgezeigt
werden, wie die Nutzer im Medienwandel Angebote rezipieren und in ihrer Relevanz für Meinungsbildung und
Meinungsvielfalt einschätzen. Damit sollten insbesondere die Veränderungen der Informationsrepertoires der
Bevölkerung aufgezeigt werden, um gegebenfalls Rückschlüsse auf die Vielfaltsrelevanz klassischer und onlinegestützter Angebote und Anbieter ziehen zu können.
Nun ist die vom Hans-Bredow-Institut in Kooperation
mit dem Formatt-Institut in zwei Studien durchgeführte
Bestandsaufnahme zwar abgeschlossen, wurde aber
dem Deutschen Bundestag immer noch nicht vorgelegt.
Auch ist nicht erkennbar, dass die Bundesregierung die
erhobenen Daten zur Grundlage ihres Gesetzentwurfes
gemacht hätte. Vielmehr hat die Bundesregierung offensichtlich bestimmte Forderungen von Verlegerverbänden aufgegriffen, ohne dass aus der Begründung
absehbar wäre, welche Folgen die Änderung des Pressefusionsrechts für die Medienvielfalt in Deutschland
hätte. Gerade diese Folgen sind aber entscheidend bei
der Beurteilung, inwieweit eine Änderung des Pressefusionsrechts Medienvielfalt stärkt oder schwächt. Deshalb fordern wie die Bundesregierung nochmals auf,
jetzt unverzüglich Klarheit über die Ergebnisse der Studien zu schaffen und die Mediendatenbank schnellstmöglich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. WeitZu Protokoll gegebene Reden
reichende Änderungen des Pressefusionsrechts sollten
auf eine möglichst belastbare Datengrundlage gestellt
werden. Uns allen sollten der Erhalt und die Förderung
einer vielfältigen Medienlandschaft ein wichtiges Anliegen sein.
Für die Liberalen ist Vielfalt ein Leitmotiv. Eine vielfältige Medienlandschaft ist die Grundvoraussetzung
des Meinungspluralismus und damit unserer demokratischen Grundordnung. In Deutschland erfreuen wir uns
an einer Medienvielfalt, die im globalen Vergleich
herausragend ist. Der Schutz und die Förderung dieser
Vielfalt ist deshalb ein richtiges, gemeinsames Anliegen
des Deutschen Bundestags, das wir als FDP-Fraktion
ausdrücklich verfolgen. Ziel muss sein, dem Bürger eine
freie Meinungsbildung aus unterschiedlichen Quellen
seiner Wahl zu ermöglichen.
Wir beschränken uns dabei nicht auf eine Sicherung
des Status quo, sondern erkennen die Chancen, die der
dynamische Digitalisierungs- und Konvergenzprozess
im Internet eröffnet hat. So ist zum Beispiel der Rundfunk nicht länger an knappe Frequenzen gebunden, sondern kann im Internet auf unerschöpfliche Ressourcen
ausweichen. Bewegte Bilder lassen sich sehr günstig
produzieren, und lange Texte engagierter Blogger finden
im Internet auch ohne Verleger ihren Weg zum Leser.
Der Mediennutzer ist in der Auswahl der konsumierten
Medien so frei wie nie, auch weil mit den Verlegern und
privaten Anbietern engagierte Unternehmer wirtschaftlich in Vorleistung gehen. Den Digitalisierungsprozess
und die daraus folgenden Verschiebungen auf dem
Mediensektor wollen wir konstruktiv begleiten, einseitige Fehlentwicklungen gesetzgeberisch korrigieren und
dort regulierend eingreifen, wo Meinungsmacht zum
Nachteil der Bürgerinnen und Bürger konzentriert zu
werden droht.
Der vorliegende Antrag hingegen ist nur nach seinem
äußeren Anschein auf die Förderung der Meinungsvielfalt gerichtet und findet deshalb nicht unsere Unterstützung. So geht der Antrag von der irrigen Annahme aus,
die Bundesregierung würde vorliegende Erkenntnisse
ohne sachlichen Grund zurückhalten. Dies ist nicht der
Fall. Die durch das Hans-Bredow-Institut und das Formatt-Institut erstellten Datenerhebungen zur Einrichtung der Mediendatenbank werden dem Deutschen
Bundestag in Kürze vorgelegt werden. So hat es Staatsminister Neumann glaubhaft bekundet, und so gibt es im
Übrigen auch der Beschluss des Haushaltsausschusses
vor. Sinnvollerweise wird dies im Anschluss an die Prüfung und Freigabe der Studie durch den Auftraggeber
geschehen. Bekanntermaßen kann es hierbei zu Verzögerungen kommen, die uns jedoch keinesfalls an der baldigen, umfassenden Unterrichtung im Ausschuss für Kultur und Medien zweifeln lassen.
Des Weiteren impliziert der vorliegende Antrag, dass
die fraglichen Studien Voraussetzungen der laufenden
Gesetzgebungsverfahren zum Pressefusionsrecht und
zum Urheberrecht waren. Auch diese Annahme trifft
nicht zu. Die für die laufenden Gesetzesinitiativen benötigten Daten liegen längst vor. Es gab zahlreiche Stellungnahmen und Anhörungen, die in die Entwürfe eingeflossen sind oder noch beraten werden.
Im Falle der GWB-Novelle liegt dem Beschluss des
Koalitionsausschusses der Referentenentwurf vom
Herbst letzten Jahres zugrunde. Die Koalition setzt
damit ihre Ankündigungen um, der internen Einigung
der Branche zu folgen, und reagierte nicht unmittelbar
auf die erst kurz zuvor zugestellten Studienergebnisse.
Die Datenerhebungen des Hans-Bredow-Instituts und
des Formatt-Instituts wurden dem BKM erst Ende Februar zugestellt, während der Referentenentwurf zur
8. GWB-Novelle bereits im Oktober seitens des BMWi
vorgelegt wurde. Damit konnten die Studienergebnisse
schon zeitlich nicht in den Gesetzentwurf einfließen.
Sollten die Studien allerdings zusätzlich relevante
Erkenntnisse bringen, dann werden alle Fraktionen
Gelegenheit haben, diese im parlamentarischen Verfahren einfließen zu lassen.
Auch bei der Reform des Urheberrechts setzen wir
den Koalitionsvertrag um und verbessern die Rahmenbedingungen der Medienbranche im digitalen Zeitalter.
Auch hier wurden mit dem Beschluss des Koalitionsausschusses Eckpunkte festgelegt, denen nicht kurzfristig
eingegangene Datenerhebungen, sondern der Koalitionsvertrag zugrunde liegt. Wir wollen die Verleger bei
der Bewältigung der Herausforderungen des digitalen
Zeitalters unterstützen und setzen uns daher seit Jahren
für eine Anpassung des Urheberschutzes ein. Weitere
parlamentarische Beratungen werden auch hier folgen.
Zum Abschluss möchte ich nochmals betonen, dass
wir die Förderung der Medienvielfalt sehr ernst nehmen
und die kommenden Beratungen zur GWB-Novelle entsprechend sorgfältig angehen werden. Ich lade meine
Kolleginnen und Kollegen ein, sich konstruktiv in die
Debatte einzubringen, damit wir die bestmöglichen
Voraussetzungen zum Erhalt der Medienvielfalt in
Deutschland schaffen.
Eine solide Datenbasis sollte überall Grundlage politischer Entscheidungen sein. Insofern mutet es höchst
erstaunlich an, dass im Zusammenhang mit Presse- und
Internetdienststrukturen sowie generell zu Konzentrationsprozessen im Medienbereich heute offenbar nicht
klar ist, in welcher medienwirtschaftlichen Situation wir
uns überhaupt befinden. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschäftigt sich unter einem eher zurückhaltenden Titel faktisch mit einem Skandal. Seit
1996 gibt es durch die Einstellung der Pressestatistik
des Statistischen Bundesamtes keine gültigen parlamentsamtlichen Daten über die Verschmelzungen und
Verzahnungen der Presse- und Medienkonzerne mehr.
Die Errichtung einer Mediendatenbank - längst überfällig und europäische Standards nachholend - ist vom
Deutschen Bundestag beschlossen worden und trotzdem
noch nicht zugänglich. Das Parlament ist in Auswertung
der Medien- und Medienkonzentrationsforschung daher
auf externe Erhebungen angewiesen, wie zum Beispiel
Zu Protokoll gegebene Reden
die Basisdaten zur Mediensituation 2011 der Zeitschrift
„Media Perspektiven“.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich die antragstellenden
Fraktionen für ihren Vorstoß nun beglückwünschen soll
oder ob es nicht vielmehr angemessener wäre, angesichts des Versagens sämtlicher Bundesregierungen seit
1996 von einer vorsätzlichen Vernachlässigung elementarer Auskunftspflichten gegenüber den Mandatsträgern
zu sprechen, die offensichtlich seit 16 Jahren in der Medienpolitik Entscheidungen treffen, ohne gesichert zu
wissen, auf welcher Grundlage sie das tun. Von dieser
Kritik können die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen natürlich nicht ausgenommen werden, da
sie zwischen 1998 und 2005 selbst die Regierung bildeten.
Nichtsdestoweniger ist es natürlich sehr erhellend,
wenn wir als Medienpolitikerinnen und Medienpolitiker
erfahren müssen, dass, so heißt es in dem Antrag, „derzeit nicht einmal die Frage nach der Anzahl der Tageszeitungen in Deutschland beantwortet werden“ kann,
„wenn darunter Zeitungen mit jeweils eigenständigem
redaktionellen Angebot verstanden werden“. Es muss
die dringende Frage erlaubt sein, wie ich bei diesen Zuständen fachpolitisch argumentieren soll. Und solange
die beschlossene Mediendatenbank noch keine Daten
liefert, müsste man eigentlich allen politisch Verantwortlichen größte Zurückhaltung bei der sachgerechten
Bewertung vorliegender medienpolitisch relevanter Gesetzentwürfe empfehlen. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen hat hier der Tendenz nach die richtigen Fragen aufgeworfen, und erfreulich ist auch, dass
explizit die bestehenden Defizite an Information sowohl
für die traditionellen als auch für die neuen Medien festgestellt werden.
Das Informationsdefizit ist umgehend zu beseitigen
und die Datengrundlage im Mediensektor signifikant zu
verbessern. In dieser Hinsicht stimmt die Fraktion Die
Linke dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
zu. Wir stimmen auch darin zu, dass die fehlende Datengrundlage das gesamte Verfahren der Neufassung der
Pressefusionskontrolle im Rahmen der Novellierung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB,
fragwürdig macht, welche ja eine Erleichterung von
Pressefusionen in einem Maße vorsieht, wonach der
Konzentrationswert im Pressewesen deutlich angehoben
werden kann. Damit ist nun eine weitere Einschränkung
des Wettbewerbs und der Pressevielfalt zu befürchten,
die möglicherweise auch Auswirkungen auf den Gesamtverbund der Medienlandschaft hat. Bekanntlich
nehmen crossmediale und gerätekonvergente Medienangebote im Zeitalter der Digitalisierung stark zu. Diese
Erkenntnis werden sich Bundesregierung und Parlament
jedoch aus anderen Quellen als den eigens finanzierten
Datenerhebungen erschließen müssen - und wenn das
nicht skandalös ist, dann weiß ich nicht, wie man das
sonst nennen soll.
Kritisch anzumerken wäre vonseiten meiner Fraktion
zum wiederholten Male, dass Presse- und Medienvielfalt
bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen nachgerade ein
Wert an sich zu sein scheinen. Aber Vielfalt allein garantiert weder Qualität, noch ist damit gesichert, dass die
medialen Angebote auch tatsächlich den kulturellen und
informationellen Ansprüchen der Bevölkerung dienen.
Das Plädoyer für die unbedingte Aufrechterhaltung der
Presse- und Medienvielfalt kaschiert meiner Ansicht
nach zu oft den durchaus spekulativen Charakter vieler
Medienprodukte, wohingegen herrschaftskritische Medieninhalte nicht selten im breiten Strom der Meinungsund Medienpluralität schlicht durch fehlende Wahrnehmungsmöglichkeit untergehen.
Abzulehnen ist die in dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen suggerierte Verbindung zu einem
Leistungsschutzrecht für Presseverlage. Die Fraktion
Die Linke sieht hierfür keinerlei Regelungsbedarf, da
sich die Presseverlage etwas rechtlich schützen lassen
wollen, das genau genommen keine eigene Leistung darstellt oder, wenn doch, dann bereits durch das Urheberrecht abgedeckt ist. Unverhohlen handelt es sich beim
Leistungsschutzrecht um einen Lobbyistenwunsch der
Verlage, die durch Onlinemedien verstärkt Konkurrenzdruck verspüren. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die
Bundesregierung aufgefordert wird, auch andere Instrumente zur Medienstabilität als Pressefusionskontrollerleichterung und Leistungsschutzrecht zu prüfen.
Die Entscheidungen dieses Hauses haben weitreichende Auswirkungen: Sie betreffen die Umwelt, die
Europäische Union, das Land und vor allem die Menschen. Wir müssen deshalb Entscheidungen nach bestem
Wissen und Gewissen treffen. Das mit dem Gewissen
muss jede und jeder selbst mit sich abmachen. Das mit
dem Wissen geht einfacher, beispielsweise durch die
Erhebung von Daten. Und wenn man diese Daten hat,
muss man sie nutzen. Das klingt konsequent, aber konsequentes Handeln ist nicht gerade die Stärke dieser Bundesregierung.
Konkret: Bereits 2009 hatte der Bundestag mit grüner
Unterstützung eine Mediendatenbank beschlossen. Aufbauend auf den Ergebnissen der Medienkonzentrationsforschung, sollte diese belastbare Daten zu Angebotsund Anbieterstrukturen im Medienbereich enthalten, vor
allem zu Formen der crossmedialen Zusammenarbeit
und Verflechtungen. Die Datenbank ist dringend nötig,
wenn wir über die Zukunft der Presse reden; denn eine
valide Datengrundlage ist rar. Die Verlage legen ihre
Zahlen nicht offen, und seit die Pressestatistik 1996
abgeschafft wurde, fehlt uns dringend benötigtes Zahlenmaterial. Die Datenbank aber, sie kommt und kommt
nicht, obwohl sie bereits Ende 2011 auf der Webseite des
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien online sein sollte. Staatssekretär Neumann sagte
in der Fragestunde am 7. März 2012, sie sei vor kurzem
abgeschlossen worden. Noch drei Tage vorher hatte der
Koalitionsausschuss zwei Projekte beschlossen, die angesichts der Digitalisierung den Presseverlagen den
„wirtschaftlich notwendigen Strukturwandel erleichtern“ sollen: eine Erleichterung der Pressefusionskontrolle und das immer wieder angekündigte Leistungsschutzrecht für Verlage.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich frage mich allerdings: Woher will die Bundesregierung wissen, was den Verlagen hilft, wenn sie nicht
mal genau weiß, wie es ihnen wirtschaftlich geht? Die
Bundesregierung hat offenbar ihre Vorschläge zur Neuregelung der Pressefusionskontrolle ohne jede Zahlenerhebung vorgelegt, die die Situation auf den einzelnen
Medienmärkten überhaupt darstellt. Sie hatte dementsprechend auch keine Daten, auf deren Basis sie
hätte abwägen können, welche Instrumente die Situation
verbessern könnten. Dabei sollte die Mediendatenbank
auf ausdrücklichen Wunsch des Gesetzgebers vor allem
als Grundlage für medien- und kommunikationspolitische Entscheidungen dienen. Die Bundesregierung hat
auch nicht näher erläutert, warum sie die beiden Instrumente Leistungsschutzrecht und Erleichterungen bei der
Pressefusionskontrolle für geeignet hält, um Vielfalt zu
erhalten oder zu fördern.
Ja, die Presse steckt in einer großen Krise. Vor allem
die kleinen Verlage kämpfen um ihr Überleben. Die Auflagen sinken kontinuierlich, ebenso die Werbeeinnahmen, weil Nutzungsgewohnheiten sich ändern und
Werbetreibende ihre Werbung lieber bei Google oder
anderen zugriffsstarken Onlineportalen platzieren. Die
meisten kleineren Onlineangebote schreiben rote Zahlen. Die Verlage bauen vor allem Mitarbeiter ab oder
strukturieren die Redaktionen um. Das heißt, sie produzieren weniger Qualität. Genau diese bräuchten sie
aber, um im Wettbewerb - auch online - bestehen zu
können. Diese strukturellen Probleme möchte die Bundesregierung lösen, indem sie vor allem den großen Verlagen Geschenke macht.
Es ist zweifelhaft, ob ein Leistungsschutzrecht den
kleinen, lokalen Verlagen hilft. Warum? Weil prozentual
die am meisten abbekommen werden, die die meisten
Artikel mit der höchsten Klickzahl online stellen, erst
recht dann, wenn die Bezahlung der gewerblichen
Anbieter nicht pauschal läuft und zudem über Verwertungsgesellschaften - wie es die FDP zu wollen scheint.
Denn dann müssen die Verlage die unrechtmäßige
gewerbliche Nutzung ihrer Leistung einzeln verfolgen
und Klage erheben. Gerade das aber macht schon jetzt
den kleinen Verlagen bei Urheberrechtsverstößen
Schwierigkeiten. Sie haben weder die finanzielle Ausstattung noch die personellen Ressourcen, um lange
Gerichtsverfahren anzustrengen. Vielfalt und Qualität
sind mit dem Leistungsschutzrecht also nicht gewonnen.
Die Journalistinnen und Journalisten erhalten im
Zweifel wenig bis nichts aus den Einnahmen. Denn: Was
eine angemessene Beteiligung an der Vergütung sein
soll, müsste bilateral verhandelt werden, wenn das
Gesetz bereits beschlossen wäre. Im Gesetz selbst wird
dazu nichts stehen. Liebe Bundesregierung, selbst dann,
wenn nur die großen Verlage profitieren von einem Leistungsschutzrecht und Sie genau dies bezwecken: Glauben Sie wirklich, dass es Springer, „WAZ“ und Co. im
Kampf gegen die digitale Konkurrenz von Suchmaschinen und Social Networks hilft? Woher nehmen Sie diese
Gewissheit?
Mit den Änderungen bei der Pressefusionskontrolle,
die das Kabinett gestern mit dem Entwurf zum Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB, beschlossen
hat, werden nach Schätzungen des Bundeskartellamtes
rund 20 Prozent der bislang anmeldepflichtigen Fusionen in diesem Bereich nicht mehr der Fusionskontrolle
unterliegen. Ich sehe darin - ähnlich wie das Kartellamt
in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf - die
Gefahr von noch mehr Konzentration und weniger Vielfalt auf den Märkten. Anstatt den Davids unter den Verlagen noch größere Goliaths gegenüberzustellen, hätte
die Bundesregierung wenigstens die etwa in Frankreich
oder Österreich übliche direkte und indirekte Presseförderung prüfen müssen.
Nebenbei ist auch nichts zu einer gesetzlichen Regelung des Presse-Grosso enthalten, wie wir es in unserem
Antrag zur gesetzlichen Absicherung desselben fordern.
Auch hier verpasst die Koalition eine Gelegenheit, die
Pressevielfalt zu stärken.
Wissen ist Macht, heißt es. Wissen haben, aber daraus
nichts machen - das ist eine große medienpolitische
Dummheit. Wie schade, meine Damen und Herren von
der Regierung, dass Sie sich dem Wissen nicht verpflichtet fühlen. Denn dann könnten wir bei der Bewältigung
der Pressekrise schon einen Schritt weiter sein. Es wäre
angesichts des Vormarsches von Google und Co. dringend nötig.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9155 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesundheitsforschung an den Bedarfen der
Patientinnen und Patienten ausrichten - Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung überarbeiten
- Drucksachen 17/5364, 17/9143 Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
Dr. Peter Röhlinger
Krista Sager
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.
Der Antrag der SPD entbehrt jeder Tatsache. Das
Rahmenprogramm Gesundheitsforschung wird im Antrag der SPD an vielen Stellen ins Gegenteil verkehrt. Es
heißt, das Programm orientiere sich zu nahe an der
Wirtschaft und nutze vor allem den Pharmaunterneh20388
men. Erstens ist das falsch, und zweitens widerspricht
der Vorwurf dem, was die SPD in Ihrer Regierungszeit
mit vorangetrieben hat. In Ihrem Antrag setzen Sie darauf, dass die Menschen das Gesundheitsforschungsrahmenprogramm nicht gelesen haben, und kritisieren
Punkte, die im Programm bereits stehen. Damit will sich
die SPD wohl als Erfinder der Programmpunkte hervortun. Ich kann das nicht für gut befinden, denn ich finde,
wie Ministerin Schavan im April 2011 schon ausgeführt
hat, das Thema Gesundheit für die Menschen in unserem
Land sollte überparteilich zur Gemeinsamkeit führen.
Die Menschen setzen große Hoffnung in das rund 6 Milliarden schwere Programm. Hier sind parteitaktisches
Kalkül, Kleinkariertheit und Nörgelei völlig fehl am
Platz.
Das Leitmotiv des Gesundheitsforschungsprogramms
ist klar: Wir wollen die Wege zum Patienten verkürzen.
Wenn von Translation und Wissenstransfer die Rede ist,
dann geht es nicht um verkaufbare Produkte, sondern
um neue Therapien, um neue Leitlinien für Diagnostik
und Therapien und der Beschleunigung der Herstellung
bzw. der Marktreife von Medikamenten, mit dem Ergebnis, Verbesserungen für den Patienten zu erzielen. Das
ist unser Leitmotiv. Doch die SPD stellt es in ihrem Antrag falsch dar. Dort heißt es: Das Leitmotiv sei die Stärkung der Gesundheitswirtschaft. Das ist ein Nebeneffekt, ja. Denn die Gesundheitswirtschaft schafft und
sichert Arbeitsplätze, und wir wollen natürlich auch,
dass sich die Branche gut entwickelt. Das primäre Ziel
ist und muss sein, Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung für kranke Menschen weiter zu steigern.
Dabei ist es unerlässlich, die Produktivität der Wirtschaft zum Wohle der Menschen zu nutzen.
Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,
wollen Sie die Zielsetzung des Rahmenprogrammes der
Gesundheitsforschung nicht wahrnehmen? Ich zitiere
aus dem gemeinsamen Vorwort von Ministerin Schavan
und dem damaligen Gesundheitsminister Rösler: Aus
der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entstehen die Ansätze, die bei entsprechender Weiterentwicklung und erfolgreicher Übertragung in die medizinische Praxis den Menschen in
unserem Land ein beschwerdefreies, selbstbestimmtes
und langes Leben ermöglichen. Damit nimmt das Programm den Menschen als Ganzes in den Fokus.
Die Koalition hat beispielsweise den öffentlichen Zugang zu Studiendaten beleuchtet und gehandelt. In
§ 42 b Arzneimittelgesetz mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes haben wir diesen Zugang
herbeigeführt. Denn wenn man nichtkommerzielle Forschung fördert, sollte man auch im Bereich nichtarzneimittelbezogener Forschung ein Interesse an öffentlichen
Daten haben. Das gesamte aus Studien resultierende
Wissen muss zur Verfügung stehen, ohne den Patienten
durch unnötige Doppeluntersuchungen zu belasten.
Weiterhin werden mit dem gemeinsamen Programm
der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des BMBF
vorrangig Studien über psychische Erkrankungen gefördert.
Der Vorwurf, dass die Erforschung von vernachlässigten und seltenen Erkrankungen vordergründig kommerziellen Interessen diene und nicht genug Beachtung
fände, kann ich hier nicht so stehen lassen. Die Produktentwicklungsstudien der klinischen Phasen 1 bis 3
beziehen sich auf vernachlässigte und seltene Erkrankungen, bei denen der Mensch im Mittelpunkt des Interesses steht.
Und natürlich haben wir auch immer mehr den Menschen in einer alternden Gesellschaft im Blick. Das
Deutsche Zentrum für Neurogenerative Erkrankungen
für Parkinson, Demenz, Alzheimer und das Deutsche
Zentrum für Diabetesforschung sind bereits gegründet,
und vorgestern erst wurde das Deutsche Zentrum für
Lungenforschung eröffnet.
„Gesundheitsforschung an den Bedarfen der Patienten ausrichten“, so lautet der Antrag der SPD. Das tun
wir doch. Eine Überarbeitung ist überflüssig. Das Stichwort heißt hier individualisierte Medizin, wie im Aktionsfeld 2 beschrieben. Dieses Aktionsfeld ist der ganzheitlichen Behandlung gewidmet. Die Forschung weiß
inzwischen, dass Krankheiten und deren Verläufe individuell entstehen können. Dabei spielen offensichtlich Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund und die genetische
Disposition eine große Rolle. Daher werden Diagnostik
und Therapie künftig stärker individuell ausgerichtet
werden.
Wir sprechen über ein Forschungsfeld, welches die
humane Entwicklung unserer Gesellschaft betrifft. Was
wir brauchen, sind ein parteiübergreifender Konsens,
eine gute Zusammenarbeit zwischen Forschung und
Staat, eine gute Verbindung der Forschung mit dem Gesundheitssystem und der Gesundheitsversorgung. Was
wir nicht brauchen, ist das Zerreden des Rahmenprogramms der Gesundheitsforschung. Deshalb ist der Antrag der SPD abzulehnen.
Gesundheit - das wünschen wir uns gegenseitig bei
den verschiedensten Gelegenheiten, und das nicht ohne
Grund. Denn krank sein bedeutet häufig Schmerzen, Unannehmlichkeiten und oft auch Unsicherheit. Darüber
hinaus hält uns Krankheit von der Teilnahme am sozialen Leben und der Arbeit ab. Der Staat wie auch die Bürgerinnen und Bürger haben deshalb ein großes Interesse
an einem gut funktionierenden und finanzierbaren Gesundheitssystem.
In Deutschland sind wir in der glücklichen Lage, dass
jeder von uns zum Arzt gehen kann, Medikamente in der
Apotheke erhältlich sind und, wenn es ganz schlimm
wird, ein Krankenhaus in der Nähe ist. Aus einem Kranken wird in Deutschland also schnell ein Patient und
dann hoffentlich bald wieder ein Gesunder. Im Vergleich
zu vielen, auch europäischen Ländern existiert in
Deutschland ein sehr gutes Gesundheitswesen. Dazu
hat, wie so oft, auch die Forschung einen großen Teil
beigetragen.
Auf diesen Strukturen können und sollten wir uns
aber nicht ausruhen. Denn auch im aktuellen GesundZu Protokoll gegebene Reden
heitssystem gibt es viele Schwachstellen. So gibt es insbesondere auf dem Lande und in sozial schwachen
Stadtgebieten immer noch einen Ärztemangel. Wenn wir
gleichzeitig um den Zusammenhang von Bildung, Armut
und Gesundheitszustand der Menschen wissen, ergeben
sich neue Forschungsfelder. Auch die speziellen Herausforderungen bei der Pflege von Demenzkranken spiegeln sich immer noch nicht im Gesundheitssystem wider.
Da helfen auch keine Pflegereförmchen à la Minister
Bahr. Und die Privilegien der Privatversicherten sind
gesamtgesellschaftlich so unsozial, dass sie längst abgeschafft gehören.
Neben den aktuellen Problemen kommen aber auch
neue Herausforderungen auf unser Gesundheitssystem
zu. Zu nennen ist dabei der demografische Wandel, der
einerseits zu einem Ausbau der Geriatrie, insbesondere
im Bereich Demenz, führen wird, aber andererseits auch
den Fachkräftemangel im Bereich des Pflege- und Medizinpersonals noch weiter verschärfen wird. Darüber hinaus steigen mit neuen Diagnose- oder Therapiemöglichkeiten häufig auch die Kosten, übrigens auch für die
so hoch gepriesene personalisierte Medizin. Es muss somit ein Ausgleich zwischen der Ausweitung des Therapie- und Behandlungsspektrums auf der einen Seite und
den begrenzten Ressourcen eines auf Beitrags- und Steuerzahlerinnen und -zahlern basierenden Gesundheitsversorgungssystems auf der anderen Seite gefunden
werden. Langfristig werden wir diese Herausforderungen nur durch die Unterstützung der Forschung, zum
Beispiel im Bereich der Allokation, meistern können.
Aus diesem Grund waren wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten auf das Gesundheitsforschungsprogramm der Bundesregierung sehr gespannt. Die Vorarbeiten dazu hatten noch unter der Großen Koalition
begonnen, weshalb wir durchaus Hoffnung auf ein solides Programm hatten. Umso enttäuschter waren und
sind wir über das Resultat. Es zeigt sich, dass die Verfasserinnen und Verfasser nicht aus der Sicht von Patientinnen und Patienten gedacht haben, sondern sich zu
stark von wirtschaftlichen Interessen haben leiten lassen. Die Handschrift einer markt- und verwertungsorientierten FDP scheint an vielen Punkten durch. Das
Programm ist außerdem viel zu allgemein gehalten. Inhaltlich wichtige Fragen werden, wenn überhaupt, nur
gestreift. Als Reaktion haben wir deshalb den hier vorliegenden Antrag zur Überarbeitung des Gesundheitsforschungsprogrammes in den Deutschen Bundestag
eingebracht.
Während der Diskussion im Plenum und im Ausschuss haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Regierungskoalition, sich redlich bemüht, unsere Kritikpunkte am Gesundheitsforschungsprogramm als unzutreffend darzustellen. Leider, auch im Sinne der Gesundheitsforschung in Deutschland, ist Ihnen dies nicht
gelungen. Ihre verzweifelten Versuche, die positiven Aspekte des Programms herauszustellen, haben im Gegenteil gezeigt, wie groß die Leerstellen in Ihrem Konzept
sind.
Anbei möchte ich unsere Kritik noch einmal an einigen Beispielen illustrieren. Frau Schavan konzentriert
sich mit dem Gesundheitsforschungsprogramm stark auf
die Einführung neuer medizinischer Produkte. Das ist
nicht grundsätzlich falsch. Aber neue Produkte sind
nicht die einzige und nicht immer die beste Lösung für
Patientinnen und Patienten, insbesondere wenn sie die
Kosten für das Gesundheitssystem unverhältnismäßig
erhöhen, ein großer Teil der Bevölkerung sie sich gar
nicht mehr leisten kann und sie dann in vielen Fällen
auch nur geringen Nutzen erbringen. Deshalb fordern
wir in unserem Antrag, dass die Bundesregierung Forschungsprojekte auflegt, die der Kommerzialisierung
von medizinisch notwendigen Gesundheitsleistungen
entgegenwirken.
In den letzten Jahren wird viel über die Stärkung der
Patientenautonomie diskutiert. Dies ist wichtig. Denn
auch hier gibt es noch viel Verbesserungs- und Forschungsbedarf. Unser Ziel ist die mündige Patientin
bzw. der mündige Patient, aber die Realität in den Praxen sieht oft anders aus. Viele medizinische Eingriffe
sind mittlerweile so komplex, dass viele Patientinnen
und Patienten - und wohl auch nicht mehr jede Ärztin
und jeder Arzt - überhaupt bis ins letzte Detail verstehen, welche Konsequenzen Ihre Unterschrift mit sich
bringt. Unklar ist Patientinnen und Patienten daneben
ebenfalls oft, welche Alternativen sie zu den angepriesenen Eingriffen eigentlich haben. Besonders schwer ist
diese Entscheidung für Menschen mit körperlichen oder
geistigen Gebrechen. Deshalb sprechen wir uns in unserem Antrag dafür aus, Fördermaßnahmen zu entwickeln,
die in dem zunehmend komplexeren medizinischen Versorgungsystem das Ziel eines informierten und selbstbestimmten Patienten fördern.
Statt des technikzentrierten Ansatzes von Frau
Schavan brauchen wir breite Lösungsansätze, die auch
sozialwissenschaftliche Fragen mit einbeziehen. Es
kann doch zum Beispiel nicht sein, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Krankenhäusern unter Arbeitsbedingungen arbeiten und behandeln, die sie in absehbarer Zeit selbst krank machen. Das ist doch nicht
nachhaltig. Strukturen und Arbeitsbedingungen, die
Menschen krank machen, existieren aber auch in anderen Bereichen. Auch diese müssen in einem ganzheitlichen Gesundheitsforschungsprogramm angegangen
werden. Insbesondere die Arbeitsforschung muss deshalb im Sinn des gesundheitlichen Präventionsansatzes
massiv ausgebaut werden. Auch hier findet man im Programm der Bundesregierung nur Leerstellen und hübsche Bildchen.
Man könnte noch viele weitere Beispiele nennen, an
denen das aktuelle Gesundheitsforschungsprogramm
zum Wohle der Menschen in diesem Land verbessert
werden könnte und müsste. Es liegt jetzt an Frau Bundesministerin Schavan und der Regierungskoalition, die
vielen Kritikpunkte aus den Diskussionen aufzunehmen
und in die Konkretisierung des Programmes einfließen
zu lassen. Wir sind auf das Resultat gespannt.
Vor einem Jahr haben wir hier über das Gesundheitsforschungsprogramm der Bundesregierung gesprochen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Damals haben Sie Ihren Antrag eingebracht und Ihre
Kritik am Gesundheitsforschungsprogramm formuliert.
Demnach meinen Sie, das Programm diene mehr der
Stärkung der Gesundheitswirtschaft als dem Ziel, kranken Menschen schnell neu entwickelte Hilfsangebote
zugänglich zu machen. Sie sehen da offenbar einen Gegensatz, den es meiner Meinung nach so nicht gibt. Wissenschaftler, die Krankheiten erforschen und Unternehmen, die Produkte und Geräte für Diagnose und
Therapie herstellen und vertreiben, tun das, um kranken
und hilfebedürftigen Menschen zu helfen. Den Bedarf
dieser Menschen zu decken ist das Ziel. Was denn sonst?
Dabei kann man unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Der Schwerpunkt, den die Forschungspolitik setzt,
ist die Gesundheitsforschung - mit Betonung auf Forschung.
Es ist richtig, dass wir die Steigerung der Lebenserwartung in Deutschland in den letzten 100 Jahren in erster Linie der Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen zu verdanken haben. Dafür müssen wir uns
heute mit den Problemen einer alternden Gesellschaft
auseinandersetzen. Wir können uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen, sondern müssen unseren Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft richten.
Daraus folgt, dass wir uns im Hinblick auf unsere
Gesellschaft verstärkt um die sogenannten Volkskrankheiten zu kümmern haben. Schwerpunkt des Gesundheitsforschungsprogramms der Bundesregierung ist
deshalb die Einrichtung von Zentren zur Erforschung
von neurodegenerativen Erkrankungen, zum Beispiel
Parkinson, Demenz, Alzheimer, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Infektions- und Lungenkrankheiten. Es ist schön, dass Sie den Auf- und Ausbau
dieser Zentren grundsätzlich begrüßen. Dass die Entwicklung der Zentren und die Arbeit dort beobachtet und
evaluiert werden muss, ist selbstverständlich. Dass nicht
alles, was wünschenswert wäre, realisiert werden kann geschenkt.
Das Ziel ist, dass Forschungsergebnisse in Zukunft
schneller aus der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung in die medizinische Regelversorgung
und damit zu den Patienten kommen. Dieser Prozess,
der in der Vergangenheit manchmal Jahrzehnte gedauert hat, soll durch neue Strukturen und neue Formen der
Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beschleunigt werden.
In ihrem Antrag vermissen Sie Maßnahmen, die zum
Beispiel die pflegerischen Leistungen für chronisch
Kranke verbessern. Inzwischen sind wir ein Jahr weiter
und wie Sie wissen, werden solche Maßnahmen im
Gesundheitsministerium vorbereitet. Auch im Hinblick
auf die Verbesserung der Situation der Menschen in Entwicklungsländern, die Sie ebenfalls vermissen, sind wir
inzwischen weiter. Wir unterstützen sowohl die Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung als
auch die Forschung zur Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Erkrankungen.
Für das Gesundheitsforschungsprogramm stehen im
Zeitraum 2011 bis 2014 über 5,5 Milliarden Euro zur
Verfügung. Ich bin davon überzeugt, dass diese Mittel
gut angelegt sind. Die Patienten stehen im Mittelpunkt.
Partner der Bundesregierung sind in erster Linie die
Forschungseinrichtungen. Aber wir haben auch ein
ungestörtes Verhältnis zu den Unternehmen als Partner
bei der Lösung so außerordentlich komplizierter Vorhaben. Ich meine, wir sollten das Programm jetzt nicht
überarbeiten, sondern wir sollten es sich entfalten lassen. Ihren Antrag lehnen wir deshalb ab.
Vor etwa einem Jahr haben wir hier im Plenum des
Bundestages das neue Gesundheitsforschungsprogramm diskutiert. Alle Oppositionsfraktionen kritisierten dessen Kürze und Unkonkretheit. Viele der bereits
bestehenden Förderinstrumente und -programme werden in diesem kurzen Text anschaulich erklärt. Zudem
definiert die Bundesregierung sechs Aktionsfelder, die
auf die großen Herausforderungen im Gesundheitsbereich reagieren. Diese Felder sind durchaus richtig benannt, es fehlt jedoch die eigentliche programmatische
Aussage. Wie will die Bundesregierung diese Herausforderungen konkret meistern? Nun, mehr als ein Jahr nach
Beschluss und Debatte des Programms, zeigen sich die
großen Schwächen eines solchen missionsorientierten
Rahmenprogramms. Niemand, nicht mal wir Profis,
kann anhand der uns zugänglichen Informationen nachvollziehen, wie das Rahmenprogramm mit Leben gefüllt
wird.
Wir kennen die enorme Zahl von etwa 1,2 Milliarden
Euro, die für Gesundheitsforschung verausgabt werden
sollen. Aber welche Schwerpunkte Sie in Zukunft setzen
wollen, wofür ein Großteil des Geld ausgegeben werden
soll - diese wichtigen Prioritätensetzungen sind für uns
Parlamentarier kaum nachvollziehbar, geschweige denn
für Ottilie Normalbürgerin. Das neue Rahmenprogramm Gesundheitsforschung ist in Sachen Transparenz, verglichen mit der Vorgängerin, der Roadmap
Gesundheitsforschung, und verglichen mit den diesbezüglichen Debatten von 2007 ein großer Schritt zurück.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat einmal versucht, am Beispiel der Tuberkuloseforschung festzustellen, wie intensiv sich Deutschland an der Lösung großer
internationaler Probleme der Gesundheitsversorgung
beteiligt. Die Kolleginnen und Kollegen mussten aufwendige Expertengespräche mit diversen Beteiligten
aus Ministerien, Forschungsorganisationen und Hochschulen führen, um einen auch nur halbwegs aussagekräftigen Überblick über die Tuberkuloseforschung zu
bekommen. Und selbst dieser, so die Selbsteinschätzung,
sei noch mit Unwägbarkeiten verbunden. Transparenz,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sieht anders aus.
Seitens des Forschungsministeriums wird stets darauf
verwiesen, dass man sich ja auf ihrer Seite die Informationen holen könne. Nun ja. Auch das ist ein wenig mühevoll, denn so gut ist die Suchfunktion der ministeriellen Seiten nicht. Wie auch immer, mit zielstrebiger Suche
kann man sich über manches im Nachhinein informieren. So habe ich nach den geförderten Projekten in der
Präventionsforschung gesucht. Immerhin lassen sich die
Zu Protokoll gegebene Reden
vergleichsweise lächerlichen Gesamtsummen von etwa
4 bis 6 Millionen Euro jährlich in diesem Bereich rekonstruieren. Aber nicht genug, dass diese extrem niedrig
angesetzt sind, enden diese Förderungen alle im ersten
Halbjahr 2012. Was das Ministerium zukünftig in diesem Bereich fördern will, darüber haben wir keine Informationen erlangen können.
In der Versorgungsforschung, die immerhin als sogenannter Schwerpunkt gilt, sieht es etwas besser aus.
Hier lassen sich Informationen über die bis 2014 geltenden Förderausschreibungen abrufen. Volle 10 Millionen
Euro stehen dafür zur Verfügung. Das sind etwa zwei
Tausendstel der Gesamtförderung für die Gesundheitsforschung - beileibe nicht das, was einen Schwerpunkt
bzw. ein Aktionsfeld ausmachen sollte.
An diesen Zahlen zeigt sich: Erst durch eine offene
und transparente Debatte über Prioritäten und Posterioritäten, also nachgelagerte Schwerpunkte, über konkrete Fördervorhaben kann das blumige Rahmenprogramm Gesundheitsforschung mit Inhalt füllen.
Gerade aus dem Pharma- und Biotechbereich sowie
die Medizintechnik, in denen die Mammutausgaben der
Forschungsförderung erfolgen, haben wir weder über
Projekte noch über Adressaten zufriedenstellende Informationen. Es ist geradezu symptomatisch, dass vor einem Jahr Abgeordnete der Regierungsfraktionen auf
Nachfrage keine konkreten neuen Fördervorhaben in
der Gesundheitsforschung, geschweige denn Zahlen
dazu nennen konnten. Ministerin Schavan argumentierte
in der damaligen Debatte, niemand könne angesichts
schnelllebiger wissenschaftlicher Entwicklung die Förderbedarfe voraussehen. Dem muss ich entgegenhalten,
dass zumindest ein Zeitraum der kommenden fünf Jahre
nicht unüberschaubar ist. Zudem haben auch Förderausschreibungen lange Vorläufe im Ministerium und decken in der Förderperiode mehrjährige Zeiträume ab.
Eine offene Darstellung der Förderplanung sollte in solchen Zeiträumen in jedem Fall möglich sein.
Es erscheint eher so, als dass sich das Forschungsministerium hier Handlungsfreiheit und eine gewisse Abschottung gegenüber lästigen Nachfragen aus Parlament und Zivilgesellschaft schaffen möchte. Fakt ist:
Der Forschungsbereich ist in Bezug auf die Finanzen eines der intransparentesten Politikfelder. Wir leben jedoch in Zeiten offener Daten - diese müssen auch in der
Forschungsförderung Einzug halten. Es darf nicht sein,
dass immer mehr Fördergelder mit immer weniger
Transparenz einhergehen.
Unser ehemaliger Kollege Wolfgang Wodarg fordert
heute in der „taz“ pointiert ein Register für Forschungsausgaben. Auch meine Fraktion hat eine solche Plattform und eine Offenlegung des ministeriellen Informationsstandes immer wieder angemahnt. Dabei geht es
insbesondere um die Verknüpfung der quasi unüberschaubaren Fördervielfalt in Projekten, außeruniversitären Instituten und bei Drittmittelförderern wie der
DFG.
Innovationsprozesse dürfen zukünftig nicht mehr
ohne die Zivilgesellschaft, ohne betroffene Patientinnen
und Patienten, ohne gesundheitsökonomische Expertise
und Akteure aus Versorgung und Forschung vorbestimmt werden. Dies gilt sowohl für den privaten wie den
öffentlichen Bereich. Wenn darüber hinaus mit Steuermitteln gefördert wird, muss das Gemeinwohlinteresse
in besonderer Weise im Vordergrund stehen. Diesem Ansatz wird die Bundesregierung mit ihrer Förderpolitik
nur unzureichend gerecht.
Im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
Bundesregierung sehen wir Grüne positive, aber auch
eine Reihe kritischer Aspekte. Positiv hervorzuheben ist,
dass die Bereiche Prävention, Versorgung sowie globale
Herausforderungen - und hierunter auch das Thema
vernachlässigte Krankheiten - aufgerufen und als wichtige Aktionsfelder der Gesundheitsforschung identifiziert werden. Angesichts ihrer finanziellen Ausstattung
muss man andererseits allerdings auch feststellen: Um
eine angemessene und echte Fokussierung auf diese Felder handelt es sich dabei noch nicht. Das ist ausbaufähig und sollte weiter vorangebracht werden.
Noch unterbelichtet sind im Rahmenprogramm bislang Forschungsperspektiven, die sozial-medizinische
Dimensionen von Krankheit und Gesundheit in den
Blick nehmen. Ich denke da an Beiträge, die die
Forschung dazu leisten kann, um bei Prävention und
Versorgung mehr Zugangs- und Teilhabegerechtigkeit zu
gewährleisten. Wie können Prävention, rehabilitative
Ansätze und Versorgungsansätze beispielsweise so verbessert werden, dass davon nicht allein Menschen aus
der Mittelschicht profitieren, dass sie auch Bedürfnisse
und Lebenslagen von Menschen berücksichtigen, für die
gesunde Lebensweise oder die Inanspruchnahme von
Unterstützungsangeboten weniger selbstverständlich
sind? Das sind wichtige Forschungsfragen.
Wie wären aber auch partizipative Gestaltungsprozesse, also Verfahren, bei denen Nutzerinnen und
Nutzer bzw. Patientinnen und Patienten in der Entwicklung von medizinischen Produkten und Dienstleistungen
einbezogen werden, im Bereich der Gesundheitsforschung besser zu integrieren? Oder: Wie kann altersspezifische Aufklärung gelingen? Wie können Erkenntnispotenziale der Genderforschung im Gesundheitsbereich
besser genutzt werden?
Ein differenziert ausgearbeiteter inklusiver und partizipativer Anspruch mit Ideen für ambitionierte Konzepte
fehlt dem Rahmenprogramm zur Gesundheitsforschung
leider gänzlich.
Unterbelichtet sind im Rahmenprogramm nicht zuletzt Schmerz- und Pflegeforschung. Die älter werdende
Gesellschaft, die Zunahme von chronisch Erkrankten,
Pflegebedürftigkeit, Multimorbidität im Alter und Debatten um mehr Lebensqualität in all diesen Situationen
erfordern, dass wir die Anstrengungen hier verstärken.
Die Zahl pflegebedürftiger Menschen könnte sich bis
zum Jahr 2050 mehr als verdoppeln. Das macht den
Handlungsdruck, unter dem wir stehen, deutlich. Die
meisten Menschen möchten auch im Pflegefall ein
Höchstmaß an Selbstbestimmung und Selbstständigkeit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Und dem sollte
auch die strategische Ausrichtung des Rahmenprogramms zur Gesundheitsforschung Rechnung tragen. Dabei ist die Frage, wie der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand auch in die Qualifizierung und
Weiterbildung des Fachkräftepotenzials integriert werden kann, von besonderer Bedeutung.
Der größte Anteil der finanziellen Mittel für das Gesundheitsforschungsrahmenprogramm fließt in die sogenannten Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung,
DZG. Ich wiederhole, was ich in den zurückliegenden
Beratungen dazu betont habe: Die Schwerpunktsetzung
auf die großen Volkskrankheiten und Bündelung von
Kräften und Ressourcen, um die translationale Forschung zu verbessern, ist prinzipiell richtig. Die DZG
werfen strukturell aber weiterhin Probleme, Fragen und
Konflikte auf, die bis heute nicht gelöst werden konnten.
So stellt sich angesichts des starken Top-DownAnsatzes, der bei den DZG verfolgt wurde, prinzipiell
die Frage: Haben sich die Partner in den Netzwerken
tatsächlich zusammengefunden mit dem Ziel, ihre Forschungskooperationen personell und inhaltlich auszubauen und durch den Austausch qualitativ bessere Bedingungen für die Translation zu schaffen? Oder führen
sie im Wesentlichen genau das fort, was sie auch ohne
das Netzwerk getan haben? Geht es den Beteiligten also
primär um die pragmatische Erschließung zusätzlicher
Forschungsgelder, zu denen die Partner einzeln keinen
Zugang hätten, und weniger um echte Forschungskooperation? Die Antwort darauf ist entscheidend für
die Frage, ob die geförderten Netzwerke tatsächlich zu
einem forschungspolitischen Mehrwert führen.
Darüber hinaus sind Zweifel angebracht, ob der
hehre Anspruch der Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“
und zu „fairen“ Bedingungen tatsächlich in der Praxis
umgesetzt und durchgehalten wird. Denn es besteht die
Gefahr, dass die Helmholtz-Zentren angesichts ihrer
Doppelrolle als potenzielle Geldgeber und Beteiligte die
Zentrenpartner, insbesondere die universitären, dominieren. In jedem Fall birgt der Top-Down-Ansatz die
Tendenz zu spannungsanfälligen Hierarchisierungen.
Dies würde sich aber gerade im Feld Translation kontraproduktiv auswirken. Denn die translationale
Forschung kann nur in enger und fairer Kooperation mit
den Universitäten und der klinischen Praxis funktionieren. Insbesondere den Universitätskliniken kommt eine
Schlüsselrolle zu: bei der schnelleren Überführung
medizinischer Forschungsergebnisse in die klinische
Praxis wie auch bei der Rückkopplung klinischer Fragestellungen in die Forschung.
Offen ist ferner die Frage, welche langfristigen Folgen es für die Exzellenzentwicklung im Forschungsfeld
Translation hat, dass die Helmholtz-Zentren von vornherein als Partner der DZG gesetzt waren. Sie mussten
sich nicht in gleicher Weise wie die anderen Partner
einer Hinterfragung ihrer Exzellenz und einem wissenschaftsgeleiteten Wettbewerb um eine Beteiligung in den
DZG stellen.
Außerdem bestehen Befürchtungen, es könnte zu einem Braindrain des besonders guten wissenschaftlichen Nachwuchses von den Universitäten und Universitätskliniken zu den Helmholtz-Zentren kommen. Dabei
geht es aber auch um Detailfragen wie: Welchen Partnern werden die aus den DZG hervorgehenden gemeinsamen Forschungsleistungen am Ende überhaupt zugerechnet? Publikationen spielen für die wissenschaftliche
Reputation von Personen und Einrichtungen nun mal
eine zentrale Rolle. Wer erscheint aber in der Autorenliste künftig als Erster bei Veröffentlichungen in renommierten Zeitschriften mit hohem Impact-Faktor? Um
abzusehen, ob ein produktives Verhältnis zwischen
Helmholtz und ihren Partnern, insbesondere den universitären Partnern bzw. den Universitätskliniken, gelingt,
brauchen wir eine frühzeitige unabhängige Evaluation
sowohl der Leistungen als auch der Folgen und Risiken
der neuen Strukturen.
Eine solche kritische Überprüfung ist vor allem unter
Nachhaltigkeitsgesichtspunkten wichtig: Schließlich
macht es keinen Sinn, so viel Geld in eine so umstrittene
und wenig erprobte Struktur zu geben, wenn diese sich
am Ende als ein problematischer Pfad herausstellen
könnte, aber dann kaum noch korrigiert werden kann
nach dem Motto: Wo schon so viel Geld in den Aufbau
von neuen Forschungsstrukturen geflossen ist, kann die
Förderung nicht mehr eingestellt werden.
Daher plädieren wir nachdrücklich dafür, die DZGStrukturen beizeiten zu evaluieren.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9143, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5364 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rücknahmepflicht der Händler für Alt-Energiesparlampen durchsetzen
- Drucksache 17/9058 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
diese Reden zu Protokoll.
Die heutige Debatte ist die Fortsetzung einer gewissen Grundsatzdebatte, in der wir uns insgesamt noch
nicht verständigt haben.
Im Kern geht es um die Frage, in welcher Form wir
zum Schutz von Ressourcen, und nicht zunächst zur AbMichael Brand
wendung von gesundheitlichen Risiken, die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Wirtschaft und die
Kommunen per Zwang zur Einhaltung möglichst optimaler Umweltziele anhalten bzw. veranlassen wollen.
Wie bei den Energiesparlampen, so geht es auch bei
den nicht minder diskutierten Themen Mehrweg und
Einweg, Mobiltelefone und vielen anderen Konsumgütern bzw. deren Zuleitung in die Kreislaufwirtschaft
nach der Verwendungsphase um die Frage: Was schreiben wir zwingend vor? Wie stark erzeugen wir Druck auf
die Beteiligten? Und, nicht weniger bedeutsam: Mit welcher Strategie erzielen wir die besten Rahmenbedingungen zu ressourcenschonendem Verhalten? Mit welchen
Vorgaben schützen wir die Umwelt und die Gesundheit
der Menschen, die mit Produkten oder Abfällen in Berührung kommen?
Beim Thema Energiesparlampen gibt es, nach meinen
privaten wie politischen Erfahrungen, eine zusätzliche
Komponente: Die Energiesparlampen sind nicht wirklich so akzeptiert bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern, auch nicht bei vielen Umweltorganisationen
und Testern, wie uns die Protagonisten der neuen Beleuchtungsära hatten glauben machen wollen. Offen angesprochen: Es gibt auch Stimmen, die von einer Fehlentwicklung sprechen, von den im Vergleich zur alten
Glühbirne und zur im Kommen befindlichen LEDLampe viel zu hohen Gesundheitsrisiken für Familien
und Betriebe, wenn es um möglichen Bruch der Energiesparlampen geht.
Wer einmal selbst - wie auch ich - einen Glasbruch
bei einer Energiesparlampe im Wohnraum, zum Beispiel
durch spielende Kinder, erlebt und den beißenden Geruch des Gases nach dem Austritt von Schadstoffen gerochen hat, der wird sich zumindest um die lieben Kleinen etwas Sorgen machen.
Das Gleiche gilt natürlich auch für die Menschen bei
den Recyclern, die mit diesen Energiesparlampen umzugehen haben. Der entscheidende Unterschied zwischen
dem Transport zum Kunden vor der Nutzung und dem
Umgang mit Energiesparlampen als Abfall ist ja, dass
die schützende Verpackung bzw. die Fixierung im Gewinde fehlt.
Dadurch - das spielt bei diesem Antrag eine nicht zu
unterschätzende Rolle in der Praxis - ist der Bruch dieser in der Tat hauchdünnen Ummantelung ein immanentes Risiko. Wir haben es hier nicht mit Glas im herkömmlichen Sinne zu tun, sondern mit einer hochfeinen und
hochbruchgefährdeten Ummantelung, aus der im Schadensfall beißendes Gas austritt.
Diese besondere Kombination bzw. Konsistenz aus
bruchgefährdeter Ummantelung und Austritt giftigen
Gases macht die Frage der Rücknahme von Energiesparlampen im Handel zu einer deutlich anderen Frage
als beispielsweise die Rücknahme von Batterien, Pfandflaschen oder anderen Dingen. Es ist völlig klar, dass die
Rückführung des Materials in geordneter und besonders
vorsichtiger Form zu erfolgen hat. Es ist deshalb auch
völlig klar, dass diese Energiesparlampen angesichts
der bekannt gefährlichen Stoffe nun gar nichts in der
Abfalltonne und auch nichts im Altglascontainer zu suchen haben.
Allerdings haben diese mit giftigen Stoffen befüllten
Energiesparlampen auch nicht so einfach etwas im Einzelhandel zu suchen. Denn sonst wäre die Folge: Es
müssten nicht nur Tausende Beschäftigte mit diesen niedergefährlichen Stoffen umgehen und wären dem Gesundheitsrisiko ausgesetzt, sondern es wären auch, gerade wegen des extrem hohen Bruchrisikos, besondere
Vorrichtungen und Einrichtungen im stationären Handel
erforderlich, die an anderer Stelle bereits vorgehalten
werden. Wer das Elektrogesetz und die WEEE-Richtlinie
der EU über den Umgang mit Elektro- und Elektronikgeräteabfall richtig betrachtet und richtig umsetzt, dem
fallen deutlich bessere Wege und Verfahren auf, als es
der typisch kurzatmige Ansatz dieses Antrages versucht:
Die Recyclingprofis müssen sich mit dieser relativ neuen
und relativ gefährlicheren Art von Lampe befassen.
Im Übrigen gelten Regeln analog inzwischen natürlich auch für den internetgestützten Fernabsatz. Auch
hier ergeben sich seltene Probleme, wenn hochbruchgefährdetes Glas nun auf den Rückweg zum Händler gebracht werden soll.
Die Verweise im SPD-Antrag sind unzureichend:
Finnland ist in punkto Recycling und Erfassung solcher
Energiesparlampen ebenso wenig mit unserer stark
kommunal und mittelständisch geprägten Struktur zu
vergleichen wie zum Beispiel unser Nachbar Frankreich. Und dass bereits die Absicht einer - aus unserer
Sicht falschen - Pfandpflicht der in diesen Fragen nicht
immer nur vorbildlichen schwedischen Partner herhalten muss, um SPD-ähnliche Forderungen in Europa auszumachen, dokumentiert auch, dass diese Frage nicht so
einfach und nicht einheitlich zu beantworten ist.
In der Tat allerdings ist festzuhalten: Die herstellende
Industrie hat noch zu wenig getan, um ihrer Produzentenverantwortung im vollen Maße gerecht zu werden. Insofern muss die Kritik am nicht ausreichenden Aufbau
der Rücknahmesysteme, und hier auch konkret von
Lightcycle, ernst genommen und die Industrie aufgefordert werden, jenseits von Internetpräsentationen auch in
der Realität mehr zu tun, um die gefahrlose Rücknahme
zu unterstützen. Dass dies mit Kosten verbunden ist,
steht außer Frage. Allerdings stehen vor den Entsorgungskosten bekanntlich Umsatz und Ertrag aus dem
Absatz der im Übrigen auch auf massive Veranlassung
der Industrie durch Verbot der Konkurrenzprodukte indirekt geförderten Energiesparlampen. Hier sind konkret Milliarden an Investitionen der Konsumenten in
Gang gesetzt worden; aus diesen Umsätzen ist nach dem
Prinzip der Produzentenverantwortung auch das Ende
des Produktzyklus zu finanzieren.
Insgesamt ist also Nachholbedarf und hier und da
auch Korrekturbedarf gegeben. Was aber gar nicht geht,
ist, die im SPD-Antrag zu Recht genannte Gefährdung
der Beschäftigten in den Wertstoffhöfen als so stark anzusehen, dass diese, und das zu Recht, auf toxische Einwirkungen durch Energiesparlampenbruch untersucht
werden sollen - während im selben Antrag der kleine
und mittelständische Händler oder Versender, der dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Fachbetrieb im Umgang weit unterlegen ist, dem Risiko
ausgesetzt wird.
Eines ist auch klar: Wer diese Vorschrift tatsächlich
umsetzen wollte, der würde den Konzentrationsprozess
im Handel befördern. Denn den aus Gesundheits- wie
aus Logistikgründen zweifelsfrei erforderlichen zusätzlichen Platzbedarf für das Handling dieser toxischen Abfälle würden die großen Händler mit ihren Großflächen
natürlich besser einrichten können als der kleine Einzelhandel vor Ort. Ob das alles von den antragstellenden
Kolleginnen und Kollegen bedacht wurde, da sind auch
laute Zweifel anzubringen.
Also kommen wir zum Fazit und zur Bewertung des
Antrages. Die konkrete Prüfung und der Praxistest zeigen: Es muss den Antragstellern und anderen - uns
eventuell auch - noch das eine oder andere Licht aufgehen, bis wir einen optimierten Weg zur Entsorgung der
Energiesparlampen erreichen. Daran müssen wir weiter
arbeiten - allerdings liegt der Weg sicher mehr im Bereich der vor allem mittelständischen Recyclingexperten
gemeinsam mit den kommunalen Strukturen wie den
fachlich gut aufgestellten Abgabestellen in kommunalen
oder privaten Entsorgungseinrichtungen.
Eine konkrete Entwicklung der letzten Zeit ist aber
vor allem zu begrüßen und gegebenenfalls zu unterstützen: der möglichst rasche Ersatz dieser riskanteren Beleuchtungsmittel durch energieeffizientere, wesentlich
besser zu recycelnde Beleuchtung wie unter anderem die
neuartigen Halogen-Xenon-Glühbirnen und mehr noch
durch LED-Leuchtmittel - die im Übrigen auch ein
Lichtspektrum realisieren, das dem menschlichen Wohlbefinden erheblich mehr entspricht als die doch auch
von vielen als dumpf empfundene Lichtausbeute der
Energiesparlampen.
Die Entwicklung geht rasant voran und das Thema
ESL wird uns womöglich nicht so lange aufhalten, wie
dies vor wenigen Jahren noch geglaubt bzw. befürchtet
wurde. Bis dahin ist an der einen oder anderen Stelle
noch anzupacken - aber bitte in der richtigen Art und
Weise und nicht mit Vorschlägen, die als gefährliche Nebenwirkung die Gesundheitsgefährdung der Beschäftigten im Einzelhandel mit sich bringen. Eine ordentliche
Beratung sollte uns zu besseren Ergebnissen bringen.
Wir als CDU/CSU bleiben für die fachliche Erörterung
offen und der Bundesumweltminister mit uns.
Viele Menschen haben in der Vergangenheit aus den
unterschiedlichsten Gründen Energiesparlampen abgelehnt. Einer dieser Gründe war die Angst vor dem
Quecksilber aus zerbrochenen Energiesparlampen. Die
Gefahr einer Gesundheitsgefährdung durch eine
einzelne in unserer Wohnung zerbrochenen Energiesparlampe ist absolut gering. Von der einzelnen Energiesparlampe geht weder in der Wohnung noch in der
Mülltonne eine Gesundheitsgefährdung aus. Bei einem
ordnungsgemäßen Umgang geht von Energiesparlampen weder im Gebrauch noch bei der Entsorgung eine
Gefahr aus. Damals wurden Ängste geschürt, um Stimmung gegen die Energiesparlampe zu machen.
Die Situation sieht inzwischen anders aus. Die Umsetzung der EU-Verordnung Nr. 244/2009 der Kommission vom 18. März 2009 zur Durchführung der Richtlinie 2005 32/EG des Europäischen Parlamentes und
des Rates ist inzwischen weit fortgeschritten. Inzwischen
sind zum Beispiel Glühlampen mit mehr als 40 Watt
nicht mehr im Handel erhältlich. Seitdem ist die Anzahl
der verkauften Energiesparlampen stark angestiegen.
Diese Entwicklung begrüße ich. Sie hilft, Energie einzusparen. Gleichzeitig stellt sich die Frage der Entsorgung
von Altenergiesparlampen angesichts dieser aus meiner
Sicht positiven Entwicklung erneut.
Schauen wir uns die derzeitige Situation bei der Entsorgung von Altenergiesparlampen an. Wie alle anderen
Elektro- und Elektronikaltgeräte müssen die Altenergiesparlampen zu den kommunalen Wertstoffhöfen gebracht werden. Dies ist die Rechtslage. Die Realität
sieht aber anders aus. Genaue Untersuchungen über
den Verbleib der alten Energiesparlampen gibt es in
Deutschland nicht. Die wenigsten Bürger bringen
jedoch ihre Altenergiesparlampen zum kommunalen
Wertstoffhof. Vielmehr werden sie aus Bequemlichkeit in
die Restmülltonne geworfen oder in den Glascontainern
entsorgt.
Im Gegensatz zu Deutschland wurde in Skandinavien
inzwischen der Verbleib der gebrauchten Energiesparlampen untersucht. Diese Untersuchungen in Finnland
und Schweden haben ergeben, dass rund die Hälfte der
Altenergiesparlampen im Hausmüll oder Glascontainern landen, und dies trotz Aufklärungskampagnen. Ich
vermute, dass der Anteil falsch entsorgter Energiesparlampen in Deutschland noch höher liegt. In Skandinavien ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass millionenfach falsch entsorgte Energiesparlampen zu einer
Gesundheitsgefährdung führen können. Insbesondere
die Beschäftigten in der Entsorgungsbranche, und hier
wiederum die Beschäftigen beim Glasrecycling, sind
durch Quecksilber gefährdet. Diese Erkenntnisse haben
in Schweden zu einer intensiv geführten Diskussion über
die ungefährliche Entsorgung von Energiesparlampen
geführt. Im Schweden wird sogar über die Einführung
einer Pfandpflicht nachgedacht.
Und was geschieht in Deutschland? Die Bundesregierung hat es mehrfach abgelehnt, weitergehende
gesetzliche Regelungen für die Entsorgung von Altenergiesparlampen umzusetzen. Begründet wird dies mit
angeblich gut funktionierenden freiwilligen Rücknahmesystemen. Konkret verweist das Bundesumweltministerium auf Lightcycle. Bei meinen Anfragen wurde besonders auf die stetige Zunahme von Teilnehmern an diesem
Rücknahmesystem verwiesen. Aber schauen wir uns das
doch mal genauer an. Klicken Sie auf die Internetseite
von Lightcycle und geben Sie ihre Heimatstadt an. Wenn
Sie Glück haben, gibt es in 10 bis 20 Kilometer Entfernung fünf oder sechs Geschäfte, welche alte Energiesparlampen zurücknehmen. In vielen Kommunen oder
Kreisen ist es aber auch nur eine Rücknahmestelle, und
diese ist über 20 Kilometer entfernt.
Auch wenn die Zahl der freiwilligen Rücknahmestellen zugenommen hat, wird doch wohl niemand behaupZu Protokoll gegebene Reden
ten, dass dies ein gut funktionierendes System ist. Lightcycle ist nicht mit der freiwilligen Rücknahme bei
Altbatterien zu vergleichen. Es ist zu umständlich, zu
lückenhaft. Auch bei einer weiteren Zunahme der Zahl
der Rücknahmestellen ist durch Freiwilligkeit kein
Entsorgungssystem zu schaffen, das eine sichere,
Gesundheitsgefährdung ausschließende Entsorgung ermöglicht.
Meine Damen und Herren von Union und FDP, damit
gefährden Sie die Akzeptanz von Energiesparlampen.
Sie ignorieren die Gesundheitsgefährdung der Beschäftigten. So kann es nicht weitergehen. Es muss eine Rücknahmepflicht des Handels geben. Ohne Internetrecherche, ohne lange Wege muss die Entsorgung für den
Endverbraucher einfach sein: Dort, wo ich Energiesparlampen kaufe, kann ich die alten zurückgeben.
Vor zwei Monaten hat das EU-Parlament in zweiter
Lesung die sogenannte WEEE-Richtlinie beschlossen.
Diese wird wahrscheinlich Mitte 2012 offiziell im Amtsblatt verkündet werden. Gegenstand der Richtlinie sind
unter anderem eine sehr begrüßenswerte Verschärfung
der Exportregeln für gebrauchte Elektrogeräte und die
erweiterte Rücknahmepflicht des Einzelhandels. Inwieweit diese Rücknahmepflicht auch für Energiesparlampen gelten wird, ist noch offen.
Der Antrag der SPD knüpft hieran an. Sie fordert eine
Rücknahmepflicht an allen Verkaufsstellen, eine Informationspflicht für die Produzenten der Energiesparlampen und die Erstellung einer Studie hinsichtlich der
Gesundheitsgefährdungen der Beschäftigten in der
Recyclingindustrie bei zu Bruch gegangenen Energiesparlampen.
Mir missfällt der Antrag aus drei Gründen:
Erstens wird behauptet, das freiwillige Rücknahmesystem sei wieder einmal gescheitert. Ich habe den Eindruck, die SPD unterstellt ganz generell jedem freiwilligen System das Scheitern. Nur der staatliche Zwang
führt angeblich zum Erfolg. Angesichts der Missstände
beispielsweise bei der staatlichen Vollziehung der Verpackungsverordnung oder auch anderer Gesetze wäre
ich vorsichtig mit solchen Behauptungen. Den staatlichen Behörden immer neue und weitere Aufgaben zukommen zu lassen, funktioniert nur dann, wenn ich für
diese Aufgaben auch die entsprechenden Personalstellen schaffe. Und wir wissen alle: Hierfür fehlt es fast
überall an Mitteln. Im Klartext: Wenn Sie jeden Kleinstladen - und das will die SPD in ihrem Antrag - zur
Rücknahme von Energiesparlampen verpflichten, brauchen Sie jemanden, der das kontrolliert. Sonst haben Sie
die schwarzen Schafe, die aus illegalem Vorgehen Wettbewerbsvorteile ziehen. Denken Sie an die Verpackungsverordnung: Nur zwei Drittel der Hersteller lizensieren
und zahlen für die Entsorgung ihrer Verpackungen.
Gerade in SPD-geführten Ländern wie Berlin wird die
Verordnung faktisch nicht vollzogen. Darum empfehle
ich gerade Ihnen ganz besonders, freiwillige Rücknahmesysteme etwas differenzierter zu betrachten.
Ein zweiter Aspekt ist der Zeitpunkt Ihres Antrags.
Wie ich schon ausgeführt habe, ist die Richtlinie, die
Grundlage für die Novellierung des Elektro- und Elektroaltgerätegesetzes sein wird, bisher noch nicht einmal
verkündet. Und es geht beileibe nicht nur um Energiesparlampen, sondern um die Gesamtheit der Elektroaltgeräte. Wie Sie aus eigener Erfahrung wissen sollten,
sind auch die Kapazitäten der Bundesministerien nicht
unendlich. Wenn man - wie die Koalition - eine Novellierung des gesamten Gesetzes anstrebt, benötigt man
für seriöse Gesetzgebung auch ein entsprechendes Zeitfenster. Sie wollen offenkundig den Teilbereich der Energiesparlampen vorziehen und im Anschluss die ohnehin
zwingende Novellierung für die Umsetzung der Richtlinie vornehmen. Mit Verlaub: Das ist nicht sehr clever
und uneffektiv.
Drittens ist Ihr Rundumschlag gegenüber freiwilligen
Rücknahmesystemen in der Sache falsch und in der
Schlussfolgerung zu undifferenziert. Mich stört nicht,
dass Sie eine Rücknahmepflicht für alle Geschäfte fordern. Das dürfen Sie, auch wenn Sie in meinen Augen
über das Ziel hinausschießen. Was mich allerdings
ärgert, ist Ihre überzogene Kritik an dem Versuch, das
Recycling von Energiesparlampen zu verbessern. Auch
das ist natürlich noch verbesserungsfähig. Sie unterschlagen aber alle Positivmeldungen. Ich möchte Ihnen
das einmal mit Zahlen belegen: Vor Gründung des nicht
gewinnorientierten freiwilligen Rücknahmesystems
„Lightcycle“ wurden in Baden-Württemberg 168 Tonnen Lampen gesammelt. Im Jahr nach der Gründung
war es mit 355 Tonnen mehr als das Doppelte. Bereits im
Jahr 2010 lag die Zahl bei 411 Tonnen. Mit 4 300 Kleinsammelstellen und 400 Großsammelstellen ist bundesweit ein großes flächendeckendes Netz an Rücknahmestellen aufgebaut worden.
Was ist jetzt die Schlussfolgerung? In meinen Augen
ist es sinnvoll, dieses Netz weiter auszubauen - auch mit
einer Ausweitung der Rücknahmepflicht. Aber nicht für
jede Verkaufsstelle! Gerade in kleineren Ladengeschäften mit geringerem Umsatz ist ein schneller Abholrhythmus logistisch und ökonomisch nicht sinnvoll. Das heißt
aber im Umkehrschluss, dass die Tonnen mit den quecksilberhaltigen Energiesparlampen über einen längeren
Zeitraum im Ladengeschäft stehen. Ich sehe darin eine
nicht unerhebliche Belastung für die Gesundheit der
Beschäftigten und der Kunden. Nur in größeren Geschäften und Großmärkten sind Abläufe denkbar, die
eine regelmäßige und sichere Abholung gewährleisten.
Dabei kann bei der Rücknahmepflicht, wie auch in der
WEEE-Richtlinie erfolgt, an die Größe des Ladengeschäfts angeknüpft werden. Der Antrag schießt an
dieser Stelle über das Ziel hinaus.
Abschließend noch ein Wort zur Energiesparlampe im
Allgemeinen. Die heutige Diskussion zeigt wieder einmal, dass gerade die Entsorgung der quecksilberhaltigen Lampen Probleme bereitet. Hier ist sowohl auf europäischer wie auch nationaler Ebene ein Umdenken
erforderlich. Es bringt uns doch nichts, die ehrwürdige
alte Glühbirne einzudampfen und sich mit der Quecksilberbelastung ein überflüssiges Problem heranzuzüchten. Für mich liegt die Zukunft nicht in der quecksilberZu Protokoll gegebene Reden
haltigen Energiesparlampe. Es muss gelingen, derartige
Stoffe aus Artikeln herauszubekommen, die jeder Haushalt nutzt. Dann - aber auch nur dann - steht einer
Rücknahmepflicht der kleineren Läden nichts mehr entgegen.
Rund 2 Tonnen hochgiftiges Quecksilber landen mittlerweile jedes Jahr mit alten und verbrauchten Energiesparlampen im Hausmüll. Der Grund: Es gibt kaum geeignete Möglichkeiten der Entsorgung. Kommunale
Sammelstellen sind schwer erreichbar, und der Handel
verweigert meist die Rücknahme. Ein Teil des Giftes reichert sich deshalb in Luft, Wasser und Boden an und findet den Weg zurück zum Menschen. Das ist nicht hinnehmbar. Energiesparen darf nicht der Gesundheit
schaden. Schon 5 Millionstel Gramm im Körper gelten
als gesundheitsbedenklich.
Und das Problem und die Gefahr wachsen. Mit der
europaweiten Abschaffung der Glühbirne nimmt die
Zahl der quecksilberhaltigen Leuchtmittel zu. Die Hersteller sind dennoch nicht bereit, den Gehalt des hochgiftigen Stoffes deutlich zu verringern.
Die Linke fordert deshalb, endlich das Verursacherprinzip anzuwenden: Wer Produkte auf den Markt
bringt, die Schadstoffe beinhalten, der muss sie nach
Gebrauch auf seine Kosten wieder einsammeln und entsorgen.
Bereits im Juni 2010 hatte die Linke mit einem Antrag
eine „verbraucherfreundliche Rücknahmepflicht des
Handels für Energiesparlampen“ gefordert. CDU/CSU
und FDP lehnten ihn mit der Begründung ab, es gebe
eine Aufklärungskampagne der Hersteller und Sondermüllsammelstellen. Es sei ausreichend, die fachgerechte
Entsorgung „besser zu kommunizieren“.
Die Untätigkeit der Bundesregierung hat das Problem inzwischen noch verschärft. Noch immer werden
neun von zehn Energiesparlampen über die Hausmülltonnen entsorgt, und die Menge des quecksilberhaltigen
Mülls steigt drastisch an. Das Verhalten von SchwarzGelb kann nur als gesundheitsschädlich betrachtet werden.
Wir, die Linke, begrüßen deshalb, dass die SPD das
Thema erneut auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die
Bundesregierung erhält damit noch einmal die Gelegenheit, einen gravierenden Fehler zu beheben.
Die Linke fordert, dass der Handel zur Rücknahme
der quecksilberhaltigen Lampen verpflichtet wird. Hier
muss endlich das Verursacherprinzip angewendet werden. Die Hersteller müssen mit dem Verkauf eine dichte
und leicht verschließbare Rückgabeverpackung mitliefern. So wird sichergestellt, dass auf dem Rückweg zum
Verursacher kein Quecksilber austreten kann.
Die Bundesregierung muss den Herstellern die Verringerung des Quecksilberanteils in den Lampen ins
ökologische Hausgabenheft diktieren. Auch sinnvolle
Alternativen wie die LED-Leuchten sind kostengünstiger anzubieten. Es reicht nicht, den Verbraucherinnen
und Verbrauchern sowie den klammen Kommunen das
Problem überzustülpen und den Schwarzen Peter zuzuschieben.
Wir begrüßen den heute vorgelegten Antrag der SPD
ausdrücklich und können ihm aus voller Überzeugung
zustimmen.
Das Thema Rücknahme von Energiesparlampen ist ja
nicht neu. Wir haben es bereits in dieser Legislaturperiode und auch in der davor beraten. Doch trotz aller
Willensbekundungen und aller freiwilligen Initiativen
und Aufklärungsaktionen werden bisher kaum Energiesparlampen zurückgenommen. Schon vor knapp zwei
Jahren haben wir Grüne die Bundesregierung in unserem Antrag „Bürgerfreundliches Rücknahmesystem für
gebrauchte Energiesparlampen im Handel einrichten“
auf das Problem deutlich hingewiesen. Damals haben
wir gefordert, einen gesetzlichen Rahmen für ein verbessertes Angebot an Rücknahmestellen für gebrauchte
Energiesparlampen im Handel zu schaffen. Doch was ist
passiert? Natürlich nichts - bei dieser Regierung!
Die Koalition lehnte unseren Antrag nach lang andauernden Beratungen ab. Die FDP setze damals, wie in
der Beschlussempfehlung des Umweltausschusses nachzulesen ist, auf „Überzeugung und Einsicht“ der Unternehmer und Verbraucher, die CDU/CSU-Fraktion auf
Gesprächsrunden mit allen Beteiligten und Öffentlichkeitsarbeit und das Bundesumweltministerium auf den
„gut laufenden freiwilligen Prozess“.
So gut ist dieser Prozess aber scheinbar doch nicht
gelaufen, denn verbessert hat sich kaum etwas. Stolz
wird regelmäßig beispielsweise von Lightcycle verkündet, wie stark sich die Sammelzahlen erhöht hätten. Setzt
man dies aber in Relation mit der stark zunehmenden
Zahl der in Umlauf befindlichen Lampen, bleibt nicht
viel übrig vom Erfolg. Die Rücknahmequoten sind weiterhin sehr bescheiden, und die Rücknahmestellen, insbesondere im ländlichen Raum, muss man mit der Lupe
suchen. Wenig überraschend wird häufig der Weg in die
Schublade oder im Zweifel in die Restmülltonne gewählt, mit den bekannten negativen Folgen für die Umwelt.
Dabei liegt die einfache Lösung auf dem Tisch. Wir
möchten uns der Forderung der SPD an die Bundesregierung anschließen, endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Einzelhandel verpflichtet, gebrauchte
Energiesparlampen zurückzunehmen, und zwar unentgeltlich und verbraucherfreundlich.
Dass so eine Rücknahme machbar ist, zeigen die wenigen Vorreiter im Einzelhandel, die schon jetzt verbraucherfreundliche Rücknahmesysteme anbieten. Auch das
Europäische Parlament und der Europäische Rat erwägen mittlerweile, entsprechende Rücknahmepflichten
einzuführen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktion und insbesondere Sie, Minister Röttgen,
falls Sie überhaupt noch Zeit zur Beschäftigung mit
solch speziellen umweltpolitischen Fragen haben vor
Zu Protokoll gegebene Reden
lauter Wahlkampf, geben Sie sich doch einmal einen
Ruck, schauen Sie sich die Rücknahmezahlen doch einmal genauer an, und denken Sie dann noch einmal neu
über das Thema nach!
Kommen Sie bitte nicht wieder, wie beim letzten Antrag zum Thema Energiesparlampen, mit der immer
gleichen Parole von Überzeugung und Einsicht, von der
Kraft der Freiwilligkeit und des ach so gut laufenden
Dialogs. Das nimmt Ihnen wirklich keiner mehr ab. Lassen Sie sich nicht weiter von angeblichen Erfolgen, die
nur auf den ersten Blick als solche erscheinen, blenden,
und denken Sie ernsthaft darüber nach, ob etwas mehr
Rücknahmepflicht hier nicht der bessere Weg ist, um das
gemeinsame Ziel, mehr Schutz für die Umwelt, zu erreichen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9058 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mieten und zur Begrenzung von Energieverbrauch und Energiekosten
- Drucksache 17/6371 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/8953 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.
Wir behandeln heute den Entwurf eines Gesetzes zur
Sicherung bezahlbarer Mieten und zur Begrenzung von
Energieverbrauch und Energiekosten - eingebracht von
der Fraktion Die Linke. Ich kann mich an dieser Stelle
recht kurz halten, denn über diesen Gesetzentwurf haben
wir bereits im Sommer letzten Jahres hier im Plenum in
erster Lesung debattiert.
Ich habe damals deutlich gemacht, dass der Entwurf
nicht nur wortwörtlich von einer Bundesratsinitiative
des Landes Berlin abgeschrieben, sondern vor allem
auch handwerklich schlecht gemacht ist und sogar die
selbstgesetzten Ziele verfehlt. Wir haben den Entwurf
daher abgelehnt.
An dieser Einschätzung hat sich seitdem nichts geändert. Die Linke ignoriert bei ihrem Gesetzentwurf
wieder einmal, dass sich die Welt zwischenzeitlich weitergedreht hat. Bei ihren mietrechtlichen Forderungen
nimmt sie schlicht nicht zur Kenntnis, dass wir damals
wie aktuell über einen konkreten Gesetzentwurf zur
Novellierung des Mietrechts diskutieren. Statt inhaltlich
und konstruktiv auf die dortigen Vorschläge und Forderungen einzugehen, beraten wir heute in zweiter und
dritter Lesung alte und nicht mehr dem aktuellen Diskussionsstand entsprechende Bundesratsinitiativen.
Konstruktive Oppositionsarbeit sieht wirklich anders
aus!
Im Gesetzentwurf der christlich-liberalen Koalition
wägen wir jeden Eingriff in das Mietrecht sorgfältig ab.
Denn nur so kann der gebotene Ausgleich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen gewährleistet
bleiben. Das ist auch notwendig, denn das Mietrecht
betrifft fast alle: Es gibt rund 24 Millionen Mietwohnungen in Deutschland, und viele andere Menschen in unserem Land sind Vermieter. Ein ausgewogenes und soziales Mietrecht hat für viele Menschen daher eine
existenzielle Bedeutung. Die Wahrung der sozialen
Ausgewogenheit des Mietrechts ist daher eine Selbstverständlichkeit für uns.
Das, was uns hingegen die Linke präsentiert, wird der
notwendigen gesellschaftlichen Ausgewogenheit in keiner Weise gerecht. Die Linke schafft es gerade nicht,
dem eigenen Anspruch zu genügen, einen gerechten Interessenausgleich zwischen den Beteiligten zu erreichen.
Im Gegenteil: Die geforderten Änderungen im Mietrecht
führen zur einseitigen Belastung der Vermieter.
So will die Linke etwa die Umlagemöglichkeiten von
Modernisierungskosten erschweren. Dazu soll die Umlagefähigkeit von 11 auf 9 Prozent reduziert werden.
Aber was hat das zur Folge? Wirtschaftlich stehen
hinter der Errichtung und der Bewirtschaftung von
Mietwohnraum erhebliche Investitionen und dauerhafter finanzieller Aufwand. Wenn nun Anreize für Vermieter gesenkt werden, Modernisierungen vorzunehmen,
weil sie die Kosten nurmehr eingeschränkt umlegen können, werden diese nicht mehr sondern weniger investieren. Das aber gefährdet den Erhalt eines qualitativ
hochwertigen Wohnungsbestandes. Als wäre das nicht
schon schlimm genug, wird damit auch das - von uns allen sicherlich geteilte - Ziel des Klimaschutzes gefährdet. Denn auch energetische Sanierungen werden so
unattraktiver. Das Klima schützen wir mit Ihren
Anträgen daher nicht. Im Gegenteil: Wollen wir Eigentümer zu den notwendigen, aber teuren Modernisierungsmaßnahmen motivieren, müssen diese für Vermieter auch wirtschaftlich tragbar sein. Deswegen bedarf
es wirtschaftlicher Anreize dafür und nicht zusätzlicher
Hürden!
Allerdings: Angesichts erheblicher Mietsteigerungen
gerade in den Ballungszentren wie Berlin, München
oder Hamburg soll es auch dabei bleiben. Mehr als
11 Prozent Kostenumlage wird es nicht geben, denn wir
wollen diese Situation für Mieter nicht noch zusätzlich
verschärfen.
Der Gesetzentwurf der Linken enthält noch so manchen wirtschaftlichen Unsinn. Ich erspare Ihnen die
Details. Darüber haben wir ja auch schon diskutiert.
Hinweisen möchte ich aber noch darauf, dass die von
Ihnen vorgeschlagenen Regelungen Mieter zum Teil sogar schlechter stellen, als es nach geltendem Recht bzw.
nach unseren Vorschlägen der Fall ist. Offenbar haben
Sie vieles in Ihrem Antrag nicht zu Ende gedacht.
Wenn Sie zum Beispiel in Bezug auf die gewerbliche
Wärmelieferung das Contracting fordern, dass die anfallenden Kosten dafür die bisherigen Heizkosten nicht
übersteigen dürfen, hätten Sie den Gesetzentwurf der
Koalition zum Mietrecht lesen sollen. Denn da ist Ihre
Forderung nach Kostenneutralität längst erfüllt.
Tatsächlich geht unser Gesetzentwurf sogar noch
weiter. Bei uns gilt strikt und ohne Ausnahme, dass die
Betriebskosten nach der Umstellung aufs Contracting
nicht höher sein dürfen als vorher. Bei Ihnen kann das in
bestimmten Fällen sehr wohl erlaubt sein. Sie bleiben
also hinter Ihrem selbstgesteckten Ziel des Mieterschutzes zurück.
Und weiter: Sie fordern, dass ein Mietvertrag erst
dann wirksam zustande kommt, wenn dem Mieter ein
Energieausweis ausgehändigt wurde. In der Konsequenz
führt das dazu, dass bei einem Verstoß des Vermieters
gar kein wirksamer Mietvertrag zustande kommt. Wenn
es schlecht läuft, kann sich der Mieter wieder auf
Wohnungssuche begeben. Sie greifen mit Ihrer Forderung auch willkürlich ein Kriterium heraus, nach dem in
der Praxis keiner fragt. Das geht nicht nur an den
Menschen, die Sie angeblich im Blick haben, völlig vorbei, sondern im Ergebnis verkürzen Sie Mieterrechte
damit sogar. Solche absurden Forderungen machen wir
nicht mit.
Die christlich-liberale Koalition hat anders als die
Linke einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sehr ausgewogen ist. Wir befördern die energetische Sanierung, um
dem gesamtgesellschaftlichen Ziel des Klimaschutzes
Rechnung zu tragen. Wir berücksichtigen dabei die berechtigten Interessen der Mieter und verhindern, dass
sich die Mietpreisspirale weiter dreht. Das war mir als
Berliner Abgeordneter - Berlin ist ja bekanntlich eine
Mieterstadt - sehr wichtig. Gleichzeitig übervorteilen
wir aber auch nicht die Vermieter. Ohne sie gibt es keine
Investitionen - und die brauchen wir zum Erhalt und zur
Modernisierung unseres Wohnungsbestandes und damit
letztlich für den Schutz unseres Klimas.
Mein Fazit zum Gesetzentwurf der Linken lautet daher nach wie vor: Er ist abgeschrieben, handwerklich
schlecht gemacht und verfehlt die selbstgesteckten Ziele.
Wir werden ihn daher ablehnen.
Es freut mich sehr, dass sich bei der Bundesregierung
die Einsicht durchgesetzt hat, dass der Klimawandel
nicht ohne politischen Einsatz und Engagement vollzogen werden kann. Die Einhaltung der Klimaschutzziele
erfordert neben einer gesellschaftlichen Bewusstseinsveränderung nicht zuletzt auch gesetzgeberische Maßnahmen. Zur Umsetzung der klimapolitisch notwenigen
Gebäudesanierung wird die Bundesregierung voraussichtlich im Mai 2012 das sogenannte Mietrechtsänderungsgesetz vorlegen. Dieses Gesetz ist bereits vor
Einbringung in den Bundestag auf massive Kritik gestoßen - und dies zu Recht!
Dieser Gesetzentwurf ist sozialpolitisch fehlgeschlagen und im höchsten Maße unsozial: Die Gebäudesanierung soll ausschließlich durch die Mieter und Mieterinnen finanziert werden. Vermieter und Vermieterinnen
sowie staatliche Subventionen bleiben weitestgehend
außen vor. Nachdem die staatliche Förderung durch die
KfW-Bank in den vergangenen Jahren gedrosselt wurde,
soll nun nach dem Willen der Bundesregierung die Finanzierung der energetischen Häusersanierung durch
Mieterhöhungen an die Mieterschaft weitergegeben
werden. Dieses Vorgehen ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht tragbar! In
Deutschland leben 53 Prozent der Menschen in Mietwohnungen. Der deutsche Mietwohnungssektor ist einer
der größten Europas. Daneben bietet der deutsche
Mietraumsektor eine weitere Superlative, die besorgniserregend ist: Die Wohnkosten in Deutschland gehören
im europaweiten Vergleich zu den höchsten. Im Durchschnitt müssen Mieter knapp 30 Prozent ihres Nettoeinkommens auf die monatliche Miete verwenden.
Das Mietrecht hat eine soziale Funktion, und die Vorschläge der Bundesregierung werden diesem Anspruch
in keinster Weise gerecht. Daher fordern wir, die Höhe
der Umlage, die die Vermieter und Vermieterinnen auf
die Miete legen können, von 11 auf 9 Prozent zu begrenzen. Dahin gehend verfolgt der hier zur Debatte
stehende Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke das
richtige Ziel.
Fest steht: Eine Beteiligung des Mieters an der Finanzierung der Sanierungskosten darf nicht in einer versteckten Mieterhöhung münden. Genau das wird aber
passieren, da die schwarz-gelbe Bundesregierung dem
Vermieter das Recht einräumen will, zeitlich unbegrenzt
die Umlage einzufordern. Konkret bedeutet das: Der
Mieter zahlt auch nach Amortisierung der Sanierungskosten, und das ist unstrittig eine Form der Mieterhöhung. Nicht ohne Grund begrenzt das Mietrecht die
Möglichkeit, die Miete nach Belieben zu erhöhen, und
knüpft für die Zulässigkeit einer Mieterhöhung an
strenge Voraussetzungen.
Geht es nach der Bundesregierung, droht den Mietern
im schlimmsten Fall eine doppelte Mieterhöhung: Der
Vermieter kann die Kosten seiner energetischen Sanierung auf den Mieter abwälzen und zusätzlich noch von
dem regulären Recht der Mieterhöhung in Höhe von
20 Prozent Gebrauch machen. Dies kann nicht sein! Vor
dem Hintergrund, dass Mietverhältnisse in Deutschland
der Regelfall sind, müssen Mieten bezahlbar bleiben.
Als Berliner Abgeordnete erlebe ich regelmäßig die
tiefe Sorge der Menschen, dass ihr Einkommen in naher
Zukunft nicht mehr für die Finanzierung ihrer Wohnungen reichen wird. Die Menschen haben Angst, aus ihren
Kiezen in die Randbezirke verdrängt zu werden und
damit ihr vertrautes Wohn- und Arbeitsumfeld zu verlieZu Protokoll gegebene Reden
ren. Das ist, was die Menschen in ihrem Alltag wirklich
beschäftigt. Gerade in Berlin sind in den letzten Jahren
die Mieten für Wohnraum in attraktiven städtischen
Lagen rasant gestiegen. Wir erleben eine Entwicklung,
die zur massiven Verdrängung der alten Mieter führt und
längerfristig die Gefahr von sozialen Unruhen birgt. Als
Gesetzgeber sind wir gefordert, soziale Ausgrenzung zu
verhindern.
In Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Köln, die
eine starke Mieterfluktuation aufweisen, brauchen wir
dringend eine Deckelung der Miethöhen bei Wiedervermietung. Denn mit jedem neuen Mietvertrag kann der
Vermieter unbegrenzt die Miete anheben.
Zudem müssen wir dem Phänomen der Ferienwohnungen in Wohngebieten entgegentreten. Der Wohnraummangel darf in zentralen Innenstadtlagen nicht
auch noch durch die Ferienwohnungen verschärft werden. Gerade in den Berliner Innenbezirken hat die Nutzung von Wohnfläche zum Zwecke der Beherbergung
von Touristen Hochkonjunktur. Die Landesregierungen
müssen ermächtigt werden, nicht nur für Gemeinden,
sondern auch für einzelne Bezirke individuell angepasste Genehmigungspflichten einzuführen.
Wohnraum darf kein Luxus sein!
Die Entwicklung in Deutschland zeigt zwei klare Tendenzen auf: In Ballungsräumen prosperiert die Wirtschaft, der Wohnungsmarkt boomt, die Mietpreise steigen, und viele können bei nur gering steigendem
Einkommen Miete und Energiekosten kaum bezahlen.
Auf der anderen Seite stehen Abwanderungsgebiete mit
steigender Arbeitslosigkeit, Sanierungsrückzug und
Mehrbedarf an altersgerechtem und barrierefreiem
Wohnraum aufgrund demografischer Veränderungen.
Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der gesellschaftlichen Teilhabe und das tatsächliche Erleben unserer Demokratie entscheiden sich in den Stadtteilen und Wohnquartieren. Das verfügbare Einkommen bestimmt die
Auswahlchancen und Auswahlentscheidungen auf dem
Wohnungsmarkt, entscheidet über gute und schlechte
Adressen und Lebensperspektiven. Hier muss Politik
- müssen wir - handeln!
Es gilt, unseren Wohnraum zukunftsfähig zu gestalten - bezahlbar, umweltschonend, ökonomisch sinnvoll
und barrierearm.
Im Gebäudebestand müssen wir die energetische Sanierung voranbringen, wenn wir unsere Klimaschutzziele erreichen wollen. Mehr Sanierung bedeutet mehr
CO2-Einsparung. Aber hier sind nicht einzelne Leuchtturmprojekte die Beschleuniger, sondern Maßnahmen in
der Breite. Investitionen in die energetische Gebäudesanierung müssen wesentlich stärker als zu den jetzigen
Zeiten einer schwarz-gelben Koalition gefördert und angeregt werden.
Jeder über die KfW-Programme zur energetischen
Sanierung geförderte Euro löst mehr als das Sechsfache
an weiteren Investitionen aus. Dies kommt besonders
der regionalen Wirtschaft zugute. Wer sein Haus anpackt und energetisch effizient gestaltet, spart nicht nur
klimaschädliche Emissionen, sondern auch Energiekosten ein. Aber wir wissen auch, dass jemand, der wirtschaftlich denkt, nicht nur energetisch saniert, sondern
gleichzeitig auch alters- und familiengerecht umbaut.
Die Eigentümer orientieren sich an der Lebensdauer
von Heizungsanlagen und Bauelementen, um insgesamt
eine Verbesserung der Wohnqualität zu erreichen. Somit
geht die schlichte Rechnung, dass Mieter und Eigentümer automatisch profitieren, nicht auf. Die Einsparungen bei den Energiekosten kompensieren meist nicht die
durch Sanierungskosten steigenden Mieten. Und regional sehr unterschiedlich stellt sich der Mehrwert für die
Immobilie durch die Sanierung dar.
SPD-Politik heißt, explodierenden Mieten in Wachstumsregionen entgegenzuwirken, energetische Sanierungen regional spezifisch und qualifiziert zu unterstützen und voranzubringen. Bezahlbarer Wohnraum und
bezahlbare Energiepreise - keine Überforderung des
Einzelnen! Nicht erst, wenn Mieter sich ihre energetisch
sanierten Wohnungen nicht mehr leisten können und aus
den Quartieren verdrängt werden, wenn die Kosten der
energetischen Sanierung den Wert der Immobilie übersteigen, müssen wir handeln, sondern jetzt!
Die Lebensbedingungen und -chancen entstehen in
unseren Quartieren. Es geht letztendlich um unser Zusammenleben, eine stabile Nachbarschaft und um ein
lebenswertes Wohnquartier. Stadtsanierung, Energiegewinnung und Energieversorgung müssen im Zusammenhang gesehen und in einem Quartiers- und Regionalbezug umgesetzt werden.
Das Mietrecht darf nicht zulasten der Mieter verändert und seine soziale Funktion darf nicht ausgehöhlt
werden.
Ziel der Linksfraktion ist es, mithilfe des vorliegenden
Gesetzentwurfes die Mieten bezahlbar zu halten, Energie einzusparen und Energiekosten zu senken. Ich bin
der Überzeugung, dass Sie Ihr Ziel mit dem Vorschlag
nicht erreichen können. Lassen Sie mich an einigen
Punkten erklären, weshalb die FDP-Bundestagsfraktion
Ihren Antrag ablehnt. Der erste Punkt betrifft das
Thema Energieausweis. Der Entwurf der Linken sieht
vor, dass ein Mietvertrag über Wohnraum nur wirksam
ist, wenn der Vermieter bei Abschluss des Vertrags dem
Mieter einen Energieausweis für den Wohnraum vorlegt.
Eine solche Regelung hätte aber im Umkehrschluss zur
Folge, dass immer dann, wenn bei Abschluss des Vertrags kein Energieausweis vorgelegt wird, auch kein
wirksamer Mietvertrag zustande kommt. Man muss sich
einmal überlegen, was das für die Altfälle, also für die
schon bestehenden Mietverträge, bedeutet. Muss dann
der Energieausweis nachgereicht werden? Welche Konsequenzen stehen den Parteien bevor, wenn kein Energieausweis nachgereicht wird? Das ist ein Punkt, der zumindest bei der Übergangsregelung zu bedenken wäre.
Dazu sagt Ihr Entwurf aber nichts.
Der zweite Punkt betrifft faktische Mietverhältnisse,
also solche Fälle, in denen bei Eingehung des MietverZu Protokoll gegebene Reden
trags ein Energieausweis nicht vorgelegt wird, weil die
Parteien es nicht bedenken, die Vorschriften nicht kennen, sie ihnen gleichgültig sind oder keiner von beiden
Wert darauf legt. Kommt es dann zu einem Rechtsstreit
zwischen Mieter und Vermieter, wäre der Mieter durch
den Antrag der Linken faktisch rechtlos, weil er im Falle
des Beendigungswunsches des Vermieters auf keinen
wirksamen Mietvertrag zurückgreifen kann. Die Linke
verfehlt nicht nur ihr Ziel, die Rechte der Mieter zu stärken. Sie verkehrt es durch den Antrag sogar ins Gegenteil, indem sie für eine Vielzahl von Mietverhältnissen
eine erhebliche Rechtsunsicherheit herbeiführt.
Der dritte Punkt betrifft die Vorschläge der Linksfraktion zu Contracting-Verträgen. Wir halten es für
sehr erstaunlich, dass Ihr Entwurf es zulässt, dass dem
Mieter für Wärme-Contracting höhere Nebenkosten entstehen dürfen.
Da verfolgt die Koalition andere Ziele. Wir wollen erreichen, dass sich der Vertrag beim Wärme-Contracting
für den Mieter kostenneutral auswirkt. Die Linke fordert, dass im Rahmen von Energie-Contracting-Verträgen der Primärenergiebedarf um mindestens 15 Prozent
sinken muss und dass bei größeren Mietobjekten die
Hälfte der Mieter zustimmen muss. Solche apodiktischen
Voraussetzungen würden jedoch den Modernisierungsanreiz mindern. Im Ergebnis bestünde dadurch sogar die
Gefahr, dass genau das verhindert wird, was wir wollen:
die energetische Sanierung des Wohnraums in Deutschland.
Ein weiteres Problem ist für die FDP-Bundestagsfraktion der Vorschlag der Linken zur Kappungsgrenze.
Bislang darf die Miete innerhalb von drei Jahren um
maximal 20 Prozent erhöht werden. Die Linke will, dass
die Miete innerhalb von vier Jahren um maximal 15 Prozent erhöht werden darf. In diesem Zusammenhang muss
man sich vergegenwärtigen, was auf dem Mietmarkt geschieht. Die Anschaffung von Wohnungsmietraum in
Form einer Immobilie ist für den Vermieter zunächst
eine Geldanlage. Diese Geldanlage gilt im Vergleich zu
anderen Anlageformen zwar als sicher, aber eher als
renditeschwach. Wir müssen in diesem Zusammenhang
bedenken, dass diese Anlageform mit anderen Anlageformen konkurrieren muss. Und wir müssen bedenken,
dass Gewinnerzielung nichts Illegitimes ist. Die Linke
will die Obergrenze der Mieterhöhung ändern. Wir sagen: Eine wirksame Begrenzung der Mieten findet über
den Markt statt. In vielen Regionen Deutschlands gibt
der Mietmarkt sogar viel weniger her als die gesetzlich
erlaubte Erhöhung. Das ist nur eine Obergrenze. Die eigentliche Obergrenze für Mieterhöhungen bildet aber
der Markt. Wenn der Vermieter die Miete zu stark erhöht, riskiert er Mietleerstand und Mietausfälle gerade
in Gegenden fernab der Innenstädte großer Städte. Dieses Risiko trägt der Vermieter ebenfalls. Das ist als eigentliche Kappungsgrenze anzusehen.
Der letzte Punkt sind die Modernisierungskosten.
Derzeit können bis zu 11 Prozent dieser Kosten auf die
Jahresmiete umgelegt werden. Die Linke will den Anteil
auf 9 Prozent senken. An dieser Stelle muss man sich vor
Augen halten, was die Miete wirtschaftlich betrachtet
ist. Die Miete ist eine Abzinsung, die der Mieter auf die
Anschaffungskosten des Vermieters entrichtet. Deswegen heißt es auch Mietzins. Der Vermieter schafft Eigentum an, das er finanzieren muss. Er hat Kapitalkosten,
muss Zinsen zahlen sowie Investitionskosten und vielleicht auch Kosten für Instandhaltung und Instandsetzung tragen. Wenn Reparaturen an der Wohnung nötig
werden, trägt der Vermieter zusätzlich das Risiko, dass
der Mieter die Miete mindert. Darüber hinaus trägt der
Vermieter auch das Mietausfallrisiko, wenn der Mieter
kündigt oder zahlungsunfähig wird. Diese Aufwendung
darf der Vermieter refinanzieren. Wenn wir diese Möglichkeiten beschneiden, riskieren wir, dass immer weniger Eigentümer bereit sind, in Wohnraum zu investieren.
Dies würde zu einer Verschärfung der Lage auf dem
Mietmarkt führen und kann daher nicht im Interesse der
Mieter sein.
Aus diesen Gründen lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den Entwurf der Linken ab.
Seit der ersten Lesung des hier zu behandelnden Antrags am 7. Juli vorigen Jahres haben sich die Umstände, die den Anlass für diesen Antrag gaben, keineswegs verbessert. Im Gegenteil: Wohnen ist in vielen
deutschen Großstädten zum Luxusgut geworden. Selbst
„Normalverdiener“ können es sich in Städten wie München, Hamburg, Düsseldorf, Potsdam und zunehmend
auch in Berlin nicht mehr leisten, in diesen Städten, nah
bei Ihrer Arbeit, zu wohnen.
Das Problem der Verdrängung aus traditionell guten
Wohnlagen ist zum Beispiel in Berlin längst nicht mehr
nur eins in Mitte oder im Prenzlauer Berg. Nein, auch
sogenannte gutbürgerliche Gegenden wie Wilmersdorf
oder Charlottenburg und die dort seit langem lebenden
und sozial verwurzelten Mieterinnen und Mieter sind
davon betroffen.
Da hilft kein regierungsamtlicher Verweis auf die gewachsene Zahl von Baugenehmigungen im letzten Jahr.
Man muss schon hinsehen, was gebaut wird und für wen,
vor allem in den Großstädten: 80 Prozent des Wohnungsneubaus erfolgen nämlich im Luxussegment. Hier
zeigt sich einfach „eine Flucht ins Betongold“ oder, wie
es der Präsident des Deutschen Mieterbundes ausdrückt: „Reich baut für reich.“
Die Forderung nach Wohnen zu bezahlbaren Mieten,
die Furcht, sich die „eigenen vier Wände“ in der gewohnten Umgebung nicht mehr leisten zu können, sind
mitten in der Gesellschaft angekommen. Für Menschen
mit niedrigen Einkommen oder für die, die auf Transferleistungen angewiesen sind, wird Wohnen gar zu einem
Armutsrisiko. 40, 50 Prozent des Haushaltseinkommens
oder sogar mehr für Wohnkosten aufwenden zu müssen,
ist längst keine Seltenheit mehr in unserem Land. Nach
Recherchen einer aktuellen Studie des Pestel Instituts
Hannover, die dort im Auftrag der Kampagne „Impulse
für den Wohnungsbau“ erstellt wurde, sind circa 44 Prozent der deutschen Mieterhaushalte davon betroffen.
Und diese Haushalte haben keine Reserven. Was sie für
Zu Protokoll gegebene Reden
Wohnkosten aufwenden, müssen sie sich von anderen
notwendigen Ausgaben absparen.
Neue Wohnungsnot und zunehmende Armut sind
keine links erfundenen Horrorszenarien, sondern sie
hängen zusammen und sind eine sich ausbreitende gesellschaftliche Realität. Die erwähnte Studie bezeichnet
die Tatsache, dass immer mehr Haushalte - selbst mit
mittleren Einkommen - einen immer größeren Anteil davon fürs Wohnen ausgeben müssen, als dramatisch - und
das, obwohl die Bruttokaltmieten in den meisten ländlichen Regionen gar nicht gestiegen sind.
Die flächendeckende Erhöhung der Wohnkosten in
den letzten Jahren, selbst dort, wo hoher Wohnungsleerstand herrscht, ist überwiegend auf eine starke Steigerung der Energiekosten zurückzuführen. Wenn jetzt auch
noch nach energetischen Sanierungsmaßnahmen, die
grundsätzlich ja zu begrüßen sind, die Kosten dafür vollständig auf die Mieter abgewälzt werden sollen, sprengt
das deren finanzielle Leistungsfähigkeit vollends.
Da hilft auch kein „Gesetz über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die
vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“, wie
das die Regierungskoalition plant. Das geht völlig an
der Realität vorbei und treibt unnötig einen Keil zwischen Vermieter und Mieter.
Was wir in Deutschland wirklich brauchen, ist eine
zukunftsorientierte und bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung des sozialen Wohnungsbaus durch Bund und
Länder, eine aufgabengerechte öffentliche Förderung
der energetischen Sanierung und des klimaschonenden
Wohnungsneubaus ohne Überforderung von Vermietern
und Mietern und ein ausgewogenes Mietrecht, das Vermieter- und Mieterinteressen gleichermaßen schützt,
statt sie gegeneinander auszuspielen.
Dazu soll dieser Antrag einen Beitrag leisten. Er geht
auf eine Bundesratsinitiative des Landes Berlin aus der
Regierungszeit von SPD und Linken im Jahr 2010 zurück. Das ist ja auch der SPD-Bundestagsfraktion nicht
entgangen, die diesen von ihren Genossen im Berliner
Abgeordnetenhaus mit verfassten Antrag im Verkehrsausschuss noch beargwöhnt, ihm im Rechtsausschuss
aber schon zugestimmt hat. Weiter so!
Und wenn auch Bündnis 90/Die Grünen sich zu ihren
eigenen Anliegen konsequent verhalten, dann könnten
der Untätigkeit der Bundesregierung oder ihrem Agieren in die falsche Richtung wirksame Alternativen entgegengesetzt werden.
Die Lage der Wohnungsmärkte in wachsenden Regionen spannt sich zunehmend an. Das belegt auch der
Wohngeld- und Mietenbericht 2010. Die Anzahl der
Kreise mit hohen Mietsteigerungen nimmt seit 2009 zu,
und eine neue Dynamik ist feststellbar. Wir haben in
diesen Wohnungsmärkten Verknappungstendenzen, die
einkommensschwachen Haushalten den Zugang zu
Wohnraum erschweren. Die Bundesregierung hat auf
diese drängenden Fragen keine Antworten. In ihrem
vorgelegten Referentenentwurf für eine Mietrechtsnovelle ignoriert sie diese Thematik sogar völlig. Dabei ist
bezahlbares und klimafreundliches Wohnen möglich.
Die Fraktion Die Linke hat mit ihrem Gesetzentwurf,
der auf einer Bundesratsinitiative des Landes Berlin
basiert, versucht, Antworten zu finden.
Doch bevor ich auf die einzelnen Forderungen eingehe, möchte ich kurz meine Verwunderung über das uneinheitliche Abstimmungsverhalten der SPD-Bundestagsfraktion in den Ausschüssen zum Ausdruck bringen.
Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat
sie sich enthalten, und im federführenden Rechtsausschuss hat die SPD zugestimmt. Ich bin guter Hoffnung,
dass wenigstens die SPD künftig zu einer einheitlichen
Positionierung im Mietrecht findet.
Die Fraktion Die Linke hat leider mehrere und sich
widersprechende mietrechtliche Forderungen in dieser
Wahlperiode ins parlamentarische Verfahren eingebracht.
Nun zu den einzelnen Forderungen im Antrag sowie
zur Begründung unseres Abstimmungsverhaltens. Den
Vorschlägen zur Änderung von § 5 Wirtschaftsstrafgesetz stimmen wir zu. Zusätzlich wollen auch wir, dass
Energieausweis an Bedeutung gewinnt. Darüber hinaus
soll er, flächendeckend für alle Gebäude eingeführt, bei
Vermittlung sowie Verkauf verpflichtend vorgelegt werden. Auch in der Weiterentwicklung des Contractingmarktes sehen wir eine Chance, die energetische Gebäudesanierung weiter voranzutreiben.
An anderen Stellen hingegen sind die Linke und auch
die SPD des Landes Berlin inkonsequent. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen geht hingegen entschieden in Richtung Bezahlbarkeit und Klimaschutz.
Zum Bespiel reicht es nach unserer Einschätzung nicht
aus, die Modernisierungsumlage einfach von 11 auf
9 Prozent abzusenken. Wir wollen sie auch auf die energetische Sanierung und den altersgerechten Umbau
konzentrieren. Auch bei den Vorschlägen zur ortsüblichen Vergleichsmiete wird lediglich vorgeschlagen, die
Kappungsgrenze von 20 auf 15 Prozent abzusenken sowie den Schonungszeitraum von drei auf vier Jahre zu
verlängern. Auch wir schlagen eine Absenkung der Kappungsgrenze vor; aber wir wollen auch, dass die energetische Gebäudebeschaffenheit als Vergleichsvariable in
die ortsübliche Vergleichsmiete aufgenommen wird.
Das sind für uns zentrale mietrechtliche Stellschrauben, mit denen die unbedingt notwendige energetische
Sanierung vorangetrieben, die Bezahlbarkeit des Wohnens aber gleichsam erhalten werden kann. Deswegen
haben wir uns beim Antrag der Linken in den Ausschussberatungen enthalten und werden das auch heute tun.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8953, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/6371 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge20402
Vizepräsidentin Petra Pau
lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Hans-Joachim Hacker, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Sicherheit auf Kreuzfahrtschiffen verbessern
- Drucksache 17/9158 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll.
In diesen Tagen jährt sich zum 100. Mal der Untergang der „Titanic“. Dieser schreckliche Unfall hat
- wie kaum ein anderes Unglück - die Menschen für die
Grenzen der Technik sensibilisiert. Wir gedenken heute
hier der mehr als 1 500 Opfer.
Sie sind bis heute für uns eine ständige Mahnung, die
Sicherheit auf See immer weiter zu verbessern. Bei den
Bemühungen um die Sicherheit auf See darf es niemals
Stillstand geben. Die Sicherheit auf See muss dem technischen Fortschritt immer wieder angepasst werden.
Dabei werden wir niemals nachlassen!
Die Havarie der „Costa Concordia“ am 13. Januar
dieses Jahres hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
- völlig zu Recht - auf die Sicherheit von Kreuzfahrtschiffen gelenkt. Weltweit verkehren circa 500 Kreuzfahrtschiffe auf den Ozeanen. Alle Experten gehen davon aus, dass sich diese Zahl in den nächsten Jahren
noch erhöhen wird.
Nicht nur die Zahl der Schiffe hat zugenommen, sondern auch ihre Größe: Die „Costa Concordia“ gehört
mit circa 5 000 Personen an Bord noch nicht einmal zu
den größten Kreuzfahrtschiffen. Derzeit gibt es schon
Schiffe, die fast 8 500 Personen an Bord haben. Damit
ist aber noch nicht genug: In Planung befinden sich
schon wahre Giganten der Meere, die circa 10 000 Personen an Bord haben werden. Dies entspricht der Bevölkerung einer Kleinstadt.
Es ist völlig klar, dass diese Dimensionen ein völlig
neues Denken erfordern. Dies gilt nicht nur für die
Verhinderung von Unfällen, sondern auch für die Versorgung der Opfer im Falle eines Unglücks. Sogar die
hervorragend ausgebaute Infrastruktur eines Industrielandes wäre mit mehreren Tausend Opfern an einem einzigen Punkt überfordert. Wie dies in weniger privilegierten Teilen dieser Welt wäre, mag man sich gar nicht
vorstellen.
Sie sehen, dass die Sicherheit auf See ein in seiner
Bedeutung kaum zu überschätzendes Thema ist. Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer hat daher auf internationaler Ebene schon bemerkenswerte Initiativen ergriffen. Ich selbst stehe deshalb schon seit einiger Zeit in
Kontakt mit den Spitzenvertretern des Verbands der
Deutschen Reeder. Bei so vielen Aktivitäten der Union
zugunsten der Schiffssicherheit sahen auch die Sozialdemokraten die Notwendigkeit, einen Antrag zu diesem
Thema in letzter Minute mit heißer Nadel zu stricken. So
ist er dann auch geworden.
Dagegen hebt sich das langfristige und strategische
Vorgehen unseres Verkehrsministers doch wohltuend ab:
Auf dem Weltverkehrsforum in Leipzig Anfang Mai und
bei der Tagung der Internationalen SeeschifffahrtsOrganisation Mitte Mai dieses Jahres wird er außerdem
ein Maßnahmenpaket vorstellen, um möglichst schnell
zu einem neuen, weltweiten Sicherheitsstandard für
Kreuzfahrtschiffe zu kommen. Peter Ramsauer ist klar,
dass wir nicht auf dem Sicherheitsstandard von 1980
verharren dürfen!
Deutschland bringt sich schon seit langem mit seiner
maritimen Kompetenz in die Internationale Seeschifffahrts-Organisation ein. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation entwickelt in einem ganzheitlichen
Ansatz Regelungen für die Sicherheit von Fahrgastschiffen. Die Vorschriften zur baulichen Beschaffenheit für
den Brandschutz sowie zur Dauer der Schwimmfähigkeit
nach einem Wassereinbruch wurden bereits angepasst.
Derzeit entwickelt die Internationale SeeschifffahrtsOrganisation unter anderem neue Vorschriften für
Evakuierungsmöglichkeiten, Rettungsmittel und die
Zuverlässigkeit aller technischen Komponenten.
Dies lässt hoffen, ist aber bei weitem noch nicht genug. Maßnahmen, die die bauliche Beschaffenheit von
Schiffen betreffen, wirken sich nur auf neue Schiffe aus.
Schiffe, die sich bereits in Betrieb befinden, genießen
Bestandsschutz.
Bauliche Maßnahmen greifen also nur langfristig.
Das hat niemand klarer erkannt als Peter Ramsauer. Er
macht sich daher in seinem Maßnahmenpaket für die
Verbesserung von operativen Maßnahmen an Bord auch
von solchen Schiffen, die sich schon in Betrieb befinden,
stark. Das ist praktizierte Verantwortung für die Menschen.
Peter Ramsauer fordert die Simulation von Evakuierungsszenarien. Was bei Flugzeugen und Großveranstaltungen selbstverständlich ist, muss auch für Kreuzfahrtschiffe verbindlich werden. So können schon im
Vorfeld Schwachstellen erkannt und im Interesse der
Menschen an Bord beseitigt werden.
Dies gilt auch für die an Bord befindlichen Rettungsmittel. Hier wurden die Vorschriften seit mehr als
30 Jahren dem technischen Fortschritt nicht angepasst.
Dies kann nicht so bleiben. Neuartige Rettungskonzepte,
die der Größe und dem Einsatz von Kreuzfahrtschiffen
entsprechen, werden benötigt. Entscheidendes Kriterium muss dabei die möglichst schnelle Rettung einer
möglichst großen Anzahl von Personen mit Rettungsmitteln, die der jeweiligen Weltregion entsprechen, sein.
Besonderen Wert legt unser Bundesverkehrsminister
auch auf die Fortentwicklung von elektronischen Seekarten, da sie die Sicherheit des Schiffsverkehrs entscheidend erhöhen können. Hier ist nicht die Ausrüstung
der Schiffe das Problem, sondern das Vorhandensein
von elektronischen Seekarten für Gegenden abseits der
Hauptschifffahrtsrouten.
Diese und andere Vorschläge wird er auf der 90. Sitzung des Schiffssicherheitsausschusses der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, die das Thema
Kreuzfahrtschiffssicherheit noch kurzfristig auf ihre
Tagesordnung gesetzt hat, präsentieren. Das ist ein
Beispiel für konstruktive Politik zugunsten der Menschen an Bord.
Doch was macht die Sozialdemokratie aus diesem
ernsten Thema? Sie frönt ihrem Lieblingsthema: der Regulierung. Da soll die Bundesregierung doch tatsächlich
zusammen mit den Gewerkschaften den Reedereien vorschreiben, welche Menschen sie nach welchen Kriterien
in Führungspositionen berufen. Mir ist durchaus klar,
dass es ein alter Traum der Sozialdemokratie ist, privaten Unternehmen vorzuschreiben, welche Leute sie einstellen und welche sie entlassen sollen. Wie spätestens
seit dem Untergang der DDR klar ist, hat das auf Land
nicht geklappt.
Doch dies ist für unsere sozialdemokratischen
Freunde kein Grund zur Einsicht. Jetzt versuchen sie es
auf unseren Schiffen. Das würde in kurzer Zeit auch einen bemerkenswerten Erfolg bringen: das vollständige
Verschwinden unserer Handelsmarine.
Noch vor der Unterschrift des Bundespräsidenten
unter eine solche Regelung hätten sich die deutschen
Reeder nicht nur an den Kopf gefasst, sondern auch alle
ihre Schiffe ausgeflaggt. Dies ist ein Beispiel dafür, dass
nicht nur die Sicherheitsvorschriften auf hoher See angepasst werden müssen, sondern - noch viel schneller das wirtschaftliche Verständnis der Sozialdemokraten.
Ich bin der Erste, der eine verstärkte Rückflaggung
von Kreuzfahrtschiffen nach Deutschland begrüßen
würde. Die geeignetste Maßnahme dafür brauche ich
nicht zu prüfen, die kenne ich schon jetzt: die Überantwortung solcher sozialdemokratischer Forderungen an
den nächsterreichbaren Papierkorb.
Das wirtschaftliche Unverständnis der Sozialdemokratie zeigt sich auch an der Forderung, eine Werbekampagne zugunsten der Berufe der Seeschifffahrt in
der Öffentlichkeit zu starten und so das Image der Branche zu verbessern. Was soll denn der Staat noch alles
tun? Wenn der Staat heute den Beruf des Kapitäns bewirbt, muss er - schließlich gilt gleiches Recht für alle morgen den Beruf des Arztes, übermorgen den des Gewerkschaftssekretärs und am Ende der Woche die
Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen bewerben. Bei der Vielfalt der Berufe
in unserem Land ist davon auszugehen, dass dieser wunderbare Vorschlag dazu führen würde, dass alle
147 Jahre ein Tag für die Imagekampagne zugunsten der
Berufe der Seeschifffahrt zur Verfügung stünde. Das ist
ein wirklich sensationeller Fortschritt. Solche Vorschläge braucht das Land - ganz gewiss nicht!
Ein wesentlicher Bestandteil sozialdemokratischer
Folklore ist auch die ständige Forderung nach Subventionen für Branchen, in denen sie Wähler vermutet. Als
konservativer Traditionalist freue ich mich, dass die
Damen und Herren von der Opposition auch in diesem
Antrag nicht darauf verzichtet haben und zum Schluss
nach Staatsknete schreien.
Als Mensch, der aus der Wirtschaft kommt, schreie
ich ob dieser Uneinsichtigkeit. Subventionen sind wie
hochdosierte Medikamente: Im akuten Ernstfall mögen
sie helfen; die dauernde Anwendung führt jedoch zu
unkalkulierbar Nebenwirkung und schweren gesundheitlichen Schäden. Fragen Sie Herrn Lauterbach, der
wird Ihnen das bestätigen!
Peter Ramsauer dagegen wird Ihnen bestätigen, dass
seine Politik der konstruktiven Schritte mehr zur Sicherheit der Passagiere auf Kreuzfahrtschiffen beiträgt als
ein Imagetag für Kapitäne.
Wir von der Union blicken bei diesem ernsten Thema
nicht auf die partikularen Interessen einzelner sozialdemokratischer Ortsvereine, sondern möchten die
Sicherheit auf See erhöhen, möchten Unfälle verhüten
und Leben retten.
Uns allen werden sicherlich die Bilder vom havarierten Kreuzfahrtschiff Costa Concordia nicht aus dem Gedächtnis gehen. Auf diesem schmucken Schiff haben
mehrere Tausend Menschen die schönste Zeit des Jahres, ihren Urlaub, verbracht - und von einer Stunde zur
anderen wurde aus schönster Urlaubserholung ein
grauenhaftes Schrecken. Über 30 Menschen haben ihr
Leben verloren. Noch wissen wir nicht genau, wie es zu
diesem Unglück gekommen ist. Dies werden die italienischen Behörden jetzt detailliert untersuchen. Aber trotz
dieses schrecklichen Unglücks müssen wir auch feststellen: Die Kreuzfahrtschifffahrt ist und bleibt eine attraktive und sichere Reiseform.
Urlaube auf Kreuzfahrtschiffen, sei es auf hoher See
oder auf größeren Flüssen, erfreuen sich steigender Beliebtheit. Im vergangenen Jahr machten 1,8 Millionen
Bundesbürger eine Kreuzfahrt, das war ein Zuwachs um
12 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies zeigt zugleich,
dass die Kreuzfahrten längst aus der Ecke des elitären
Luxusurlaubs herausgekommen sind. Das ist auch gut
so, und ich möchte die Reeder nur ermuntern, diesen erfolgreichen Weg fortzusetzen.
Kreuzfahrten sind auch sicher: Bei 200 Millionen
Übernachtungen auf Kreuzfahrtschiffen seit dem Jahr
2000 hat es insgesamt 40 Todesfälle gegeben, in den vorangegangenen sechs Jahren vor dem Unglück der
Costa Concordia keinen einzigen Todesfall. Deshalb
sollten wir uns auch davor hüten, nach einem Unglück
- so schrecklich es auch ist - Panik zu verbreiten. Bevor
nicht die italienischen Behörden ihre Auswertung vorgelegt haben, wird man keine abschließenden Konsequenzen aus diesem Unglück ziehen. Immerhin gibt es erste
Zu Protokoll gegebene Reden
Hinweise auf menschliches Fehlverhalten. Dagegen helfen kaum die besten Sicherheitsvorkehrungen. Dennoch
beschäftigen sich die Reeder mit dem Thema Sicherheit,
und das auch aus eigenem Interesse. Sie kommen ihrer
Verantwortung nach. Vor wenigen Tagen haben wir auf
einem Parlamentarischen Abend in der Hamburger Landesvertretung viel gehört, wie sich Reeder dieser Verantwortung stellen.
Und auch die Bundesregierung handelt. Bundesverkehrsminister Ramsauer hat unabhängig vom konkreten
Fall der Costa Concordia das Thema Sicherheit bei der
internationalen Meeresorganisation IMO angemeldet:
Der Schiffssicherheitsausschuss wird sich im Mai mit
diesem Thema befassen.
Die Kreuzfahrtschiffe werden immer größer. Demnächst werden Schiffe mit mehr als 10 000 Personen an
Bord auf dem Wasser verkehren. Dies ist allemal Anlass,
Sicherheitsstandards zu überprüfen. Es geht um Rettungsmittel. Die SOLAS-Bestimmungen sollen überprüft
werden.
Es geht um Evakuierungsszenarien: Die Simulation
von Evakuierungen soll zur Pflicht werden. Aber es ist
zweifelhaft, ob die schon diskutierte Verpflichtung, Evakuierungen real zu üben, wirklich zielführend wäre.
Schließlich haben wir bei Kreuzfahrten auch regelmäßig
wechselnde Gäste. Schließlich üben wir auch nicht in
Krankenhäusern oder Flugzeugen reelle Evakuierungen, obwohl im Katastrophenfall auch hier schnelle
Evakuierungen notwendig sind. Entscheidend kommt es
darauf an, dass die baulichen Voraussetzungen für
schnelle Evakuierungen vorhanden sind und dass das
Personal mit den Situationen angemessen umgehen
kann.
Und es geht auch um die Fortentwicklung elektronischer Seekarten, eine wichtige Hilfe für die Navigation.
Dies gilt insbesondere für entlegene Routen, zum Beispiel in der Antarktis oder der Arktis.
Diese Beispiele zeigen, dass die Bundesregierung ihrer Verpflichtung nachkommt, sie handelt, aber mit Bedacht, nicht mit Schnellschüssen, die nur einen falschen
Eindruck erwecken würden. Vor diesem Hintergrund erscheint der Antrag der Sozialdemokraten genau ein solcher Schnellschuss zu sein. Schnell ein Thema besetzen,
schnell etwas zusammenschreiben, auf den Inhalt kommt
es ja nicht an. Der Antrag enthält viele Selbstverständlichkeiten, die bei der Bundesregierung bereits längst in
guten Händen sind, und es ist eine Vielzahl von Punkten
aus dem Zettelkasten früherer Anträge aufgenommen,
die mit dem Thema Sicherheit der Kreuzfahrtschiffe nur
am Rande zu tun haben. Natürlich haben auch wir ein
Interesse an der Fortführung des maritimen Bündnisses,
und wir haben dazu im Haushalt 2012 auch eine wesentliche Grundlage gelegt.
Gestern haben wir im Tourismusausschuss auch über
dieses Thema diskutiert. Dort hat der Kollege Hacker
von der SPD ausdrücklich gesagt, vor Abschluss der italienischen Untersuchungen könne man keine Konsequenzen ziehen. Sie haben auch von Schnellschüssen abgeraten. Aber warum kommen Sie dann heute mit diesem
Antrag? Das ist doch genau so ein Schnellschuss, ohne
die Untersuchungsergebnisse abzuwarten.
Meine eindringliche Bitte zum Abschluss ist: Bei allem gemeinsamen Bemühen um Sicherheit in der Kreuzfahrtschifffahrt sollten wir nichts tun, was unnötige Verunsicherung erzeugt. Unsere Kreuzfahrtschiffe sind ein
sicheres Reisemittel und bieten den Menschen heute und
in Zukunft eine großartige Möglichkeit für schöne Urlaubserlebnisse.
Wir brauchen einen klaren Kurs für mehr Sicherheit in
der Kreuzfahrtschifffahrt. Nach der Havarie der Costa
Concordia gehören die Sicherheitsabläufe und -standards
auf den Prüfstand. Die SPD hat dazu aktuell einen Forderungskatalog vorgelegt, der helfen soll, die Sicherheit
für Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord der
Schiffe zu erhöhen. Dies ist vor dem Hintergrund der
dynamischen Entwicklung der Branche sprichwörtlich
von existenzieller Bedeutung. Denn die Größe moderner
Kreuzfahrtschiffe nimmt zu, und auch die Zahl der Passagiere und der Besatzung an Bord wächst stetig. Hinzu
kommt, dass sich die Kreuzfahrt als eines der am stärksten wachsenden Segmente der Tourismuswirtschaft
durch einen extrem hohen Wettbewerbsdruck auszeichnet. Zunehmende Konkurrenz darf aber nicht zulasten
der Sicherheit gehen.
Das offenkundig miserable Notfallmanagement auf
der havarierten Costa Concordia hat zahlreichen Menschen das Leben gekostet. Jetzt muss es darum gehen,
alles dafür zu tun, dass sich ein solches Unglück nicht
wiederholt. Die Tragödie hat insbesondere die Sicherheitsabläufe an Bord und das Krisenmanagement der
Besatzungen in den Blick gerückt. Die ständige Einhaltung der Vorschriften und die Weiterentwicklung der
Sicherheitsprozeduren stellt die Grundlage für einen
unfallfreien und sicheren Schiffsbetrieb dar. Im Bereich
der Sicherheitsübungen in der internationalen Seefahrt wurden bereits Änderungen umgesetzt, sodass die
Einweisungen in Rettungswege und Rettungsmittel inzwischen generell vor dem Auslaufen erfolgen. Doch alle
Sicherheitsregelungen helfen nur dann, wenn sie auch
richtig und rechtzeitig angewendet werden.
Bei mehr als 75 Prozent aller Schiffsunglücke weltweit ist menschliches Versagen im Spiel. Zu diesem
Ergebnis kommt eine aktuelle Studie über die vergangenen 100 Jahre Schifffahrt. Der Unfall der Costa Concordia hat gezeigt: Das Risiko reist mit. Sicherheit von
Schiffen ist nicht allein mit Hightech zu gewährleisten.
Menschliches Versagen ist ein wesentlicher Risikofaktor,
und hier müssen alle weiteren Maßnahmen zur Optimierung der Sicherheit ansetzen.
Die Hauptverantwortung für die Sicherheit an Bord
obliegt dem Kapitän. Er muss in der Lage sein, Gefahrensituationen zu erkennen und im Notfall rasch zu
reagieren und für eine zügige Evakuierung des Schiffes
zu sorgen. Dies kann er aber nur dann leisten, wenn er
insbesondere in der Führung von großen Menschenmengen, aber auch in den Bereichen Fahrgastsicherheit,
Krisenbewältigung und sozialer Kompetenz hervorraZu Protokoll gegebene Reden
gend und auf dem aktuellsten Niveau geschult ist. Notwendig ist daher zum einen eine regelmäßige Überprüfung und Schulung der Kapitäne und eine optimierte
Selbstkontrolle der Reedereien in Bezug auf die Schiffssicherheit.
Die SPD fordert die Bundesregierung in diesem
Zusammenhang auch auf, gemeinsam mit den Sozialpartnern Handlungsempfehlungen für die Reedereien zu
formulieren, um künftig einheitliche Kriterien bei der
Personalauswahl für die Schiffsführung zu schaffen.
Diese muss sorgfältig, transparent und an objektiven
Kriterien ausgerichtet erfolgen. Dazu gehört aber zum
anderen auch eine hochwertige Ausbildung der Kapitäne und Schiffsoffiziere in Deutschland. Um diese
sicherzustellen, brauchen wir eine angemessene finanzielle und personelle Ausstattung der Ausbildungsstätten - Fachhochschulen und Seefachschulen - und ein
verstärktes Engagement der Schifffahrtsunternehmen im
Bereich der Ausbildung.
In dem Wettbewerbsumfeld, in dem die Kreuzfahrtbranche derzeit agiert, wird die Konkurrenz um Passagiere zunehmend über den Preis entschieden - und der
wird nicht zuletzt auch über die Löhne der Seeleute
bestimmt. Doch nur motiviertes, gut geschultes und gut
bezahltes Personal ist in der Lage, die hohen Anforderungen in Bezug auf Sicherheitsstandards zu erfüllen.
Wir dürfen daher nicht zulassen, dass an dieser Stelle an
der Sicherheit gespart wird. Deshalb muss die Bundesregierung endlich den bereits für 2011 angekündigten
Entwurf eines neuen Seearbeitsgesetzes vorlegen, um
das internationale Seearbeitsübereinkommen noch in
diesem Jahr in deutsches Recht umzusetzen, das weltweit geltende Mindeststandards zur Verbesserung der
Arbeitsbedingungen an Bord der Schiffe vorschreibt.
Angesichts wachsender Schiffsgrößen kommen Praxistests für die Evakuierung von Kreuzfahrtschiffen eine
große Bedeutung zu. Entscheidend sind eine realistische
Evakuierungsanalyse und eine konsequente Evakuierungsplanung.
Wir als SPD fordern klare Standards für den Einsatz
von Simulationsprogrammen im Bereich der Kreuzfahrtschifffahrt. Mithilfe dieser Programme ist es möglich,
Schwachstellen bei Neubauten zu identifizieren und die
Dauer einer Evakuierung der Kreuzfahrtschiffe zu
berechnen. Diese modernen Methoden helfen, die
Sicherheitsstandards weiter zu erhöhen. Die Passagiere
sollen mit dem Gefühl an Bord gehen: Es wird mit
Sicherheit eine gute Reise.
Eine Schiffshavarie ist immer eine schreckliche Sache. Und natürlich muss immer alles getan werden, um
eine solche gar nicht erst geschehen zu lassen. Nur so
kann man Menschenleben retten und Passagieren, Besatzungen und Angehörigen viel Leid und Schmerz ersparen. Es wird jetzt aber auch abzuwarten sein, was die
endgültigen Ursachen für die letzten Havarien waren.
Die Untersuchungen laufen. Aber unabhängig davon,
was dabei als Ergebnis stehen wird, bleibt es dennoch
Aufgabe und Pflicht von Politik und Behörden, immer
wieder zu hinterfragen, wie so etwas verhindert werden
kann, und zwar regelmäßig und nicht erst, wenn ein Unfall geschehen ist. In diesem Zusammenhang kann ich
feststellen, dass dies in Deutschland auch erfolgreich
geschieht. Daher mutet der Antrag der SPD schon nach
schneller Effekthascherei auf dem Rücken der Betroffenen an. Dies wird insbesondere dadurch unterstrichen,
dass Sie schon im beschreibenden Teil fragwürdige Behauptungen aufstellen. So wird von Ihnen zum Beispiel
die Situation an den nautischen Fachhochschulen völlig
falsch dargestellt. Das Problem besteht doch nicht im
fehlenden nautisch geschulten Personal. Es ist genügend da, auch deutsches. Es ist bloß zu teuer, weshalb
die Absolventen nicht zum Zuge kommen. Aber so richtig
deutlich wird das Ganze erst im Forderungsteil. Hier
wird ein großer bunter Strauß an Forderungen unterschiedlicher Art aufgestellt. Diese reichen von platten
Selbstverständlichkeiten wie der regelmäßigen Überprüfung der geltenden Sicherheitsbestimmungen bis hin
zu äußerst fragwürdigen Forderungen wie den Handlungsempfehlungen für die Führungskräfteauswahl oder
die Überprüfung der sozialen Kompetenz. Ich wage zu
bezweifeln, dass dies wirklich hilfreich ist. Aber vermutlich werden Sie uns das ja noch ausführlich erläutern.
Ich denke, darüber wird in den jetzt anstehenden Beratungen intensiv zu reden sein. Wir werden herausfinden müssen, was notwendig, was sinnvoll und was
weniger geeignet ist, um die Sicherheit in der Kreuzfahrtschifffahrt tatsächlich zu erhöhen. In diesem Sinne
wünsche ich uns allen gute Beratungen.
Bereits im Jahr 2007 beschäftigte sich der Bundestag
mit dem Thema Kreuzfahrtschifffahrt. Grundlage war
ein Antrag von CDU/CSU und SPD „Kreuzfahrttourismus und Fährtourismus in Deutschland voranbringen“,
({0}). Das Thema Sicherheit spielte in
dem Antrag vor fünf Jahren keine herausgehobene
Rolle, obwohl ich in meiner Rede am 20. September
2007 durchaus auf einige kritische Konsequenzen aus
dem so rasant wachsenden Tourismussektor hinwies.
Dazu gehörte der Verweis auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Crewmitglieder. Bereits damals verwies
die Linke auf einen Bericht aus der Bundeszentrale für
politische Bildung, laut dem unabhängige Arbeitsvermittler das billige und willige Personal für die Kreuzfahrtschifffahrt vor allem aus den verarmten Ländern
des Südens und des Ostens besorgen. Untersuchungen
der Arizona State University zufolge war es nicht ungewöhnlich, wenn die bis zu tausendköpfige Besatzung eines Luxusliners aus mehr als 40 verschiedenen Nationen
stammt. Weil aufgrund dieser Völker- und Sprachenvielfalt an Bord keine effektive gewerkschaftliche Arbeitnehmervertretung möglich sei, ließen sich sehr niedrige
Löhne bei gleichzeitig sehr langen Arbeitszeiten und
fragwürdigen Lebensbedingungen an Bord durchsetzen.
Diese Strategie zur Gewinnmaximierung führt auch zu
niedrigen Standards bei der Sicherheit und erhöht die
Gefahr für Leib und Leben bei Havarien. An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nun zeigt sich die SPD wiederholt als Experte für den
Kreuzfahrtschifffahrtstourismus. Sicher stehen ihr dabei
der Kapitän und die Besatzung der unter portugiesischer Flagge fahrenden MS Princess Daphne zur Seite,
welche ihre Reisen beim SPD-Reiseservice verkauft. Sicher wird niemand im Bundestag dagegen sein, mehr für
die Sicherheit der Passagiere und Besatzungsmitglieder
sowie für die von der Kreuzfahrtschifffahrt betroffenen
Anrainer und deren Umwelt zu tun, auch die Linke nicht.
Zustimmung von mir gibt es sowohl zu dem Punkt 2, wo
es um den Schutz und die Sicherheit für Passagiere mit
Behinderungen geht, als auch für viele weitere einzelne
Forderungen. Ob aber Ursachenbenennung, Schlussfolgerungen und alle Maßnahmen, welche die Bundesregierung laut diesem Antrag ergreifen soll, die richtigen
sind, stelle ich infrage. Das fängt mit der Frage an, ob
die sich seit mehreren Jahren vollziehende Entwicklung
in diesem Tourismussektor „gottgegeben“ ist und ob
man als Politik in diesen Prozess noch beschleunigend
eingreifen muss, wie es CDU/CSU und SPD bereits vor
fünf Jahren schon forderten. Müssen mit unseren Steuern immer mehr und größere Kreuzfahrtschiffe und die
dafür nötige Infrastruktur gefördert werden, während
für die Förderung von Kinder- und Jugendreisen, für die
Schaffung einer barrierefreien touristischen Infrastruktur sowie für sozial, ökologisch, arbeitsmarktpolitisch
und bildungspolitisch wertvolle Inlandsreisen meist das
Geld fehlt?
Und man muss auch mal über den Tellerrand
schauen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
Wenn Sie in ihrem Antrag schreiben, dass sich der
Kreuzfahrtmarkt durch einen hohen Wettbewerbsdruck
auszeichnet und Sie dann weiter ausführen, „zunehmender Wettbewerb darf jedoch nicht zu Lasten von Sicherheit gehen. Das gilt insbesondere für die Kreuzschifffahrt“, dann muss ich Ihnen entgegnen, dass dies
typische Merkmale für alle Bereiche einer kapital- bzw.
profitorientierten Wirtschaft sind. Wettbewerbsdruck
und Gigantismus und damit auch das Risiko von
menschlichem oder technischem Versagen mit zunehmend gravierenderen Auswirkungen für Mensch und
Natur haben wir in allen anderen Bereichen des Personenverkehrs, haben wir beim Handel, in der Nahrungsmittelindustrie und auch in so sensiblen Bereichen wie
den Atomkraftwerken. Ähnliche Verantwortung wie der
Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes haben auch die Kapitäne von Flugzeugen oder die Fahrerinnen und Fahrer
von Eisenbahnzügen, U-Bahnen und Bussen.
Deswegen unterstützt die Linke einerseits eine Reihe
von Forderungen aus dem Antrag, fordert aber andererseits, sich beim Thema Tourismus einschließlich der
Branche Kreuzfahrttourismus umfassend mit den damit
verbundenen wirtschaftspolitischen, ökologischen und
sozialen Fragen und Problemen - dabei sind die Fragen
der Sicherheit eingeschlossen - auseinanderzusetzen.
Am 13. Januar dieses Jahres kollidierte das italienische Kreuzfahrtschiff Costa Concordia mit einem Felsen
vor der Insel Giglio in Italien. Die Folgen waren
schwerwiegend, da das Schiff binnen kurzer Zeit auf
Grund lief. Eine Umweltkatastrophe konnte im letzten
Moment noch verhindert werden. Über die Gründe des
Unfalls kann nur spekuliert werden, solange die Seeunfalluntersuchung noch nicht abgeschlossen ist. Den Passagieren, die zu diesem Zeitpunkt an Bord waren,
möchte ich an dieser Stelle meine Anteilnahme ausdrücken. Bei dem Unglück verloren wohl 32 Menschen ihr
Leben. Alle anderen Reisenden mussten ihre Urlaubsreise abbrechen und fuhren mit den schrecklichen Erlebnissen wieder nach Hause. Nicht nur die Reederei des
Unglücksschiffes, sondern die gesamte Kreuzfahrtbranche hat seitdem mit starken Imageverlusten zu kämpfen.
In den vergangenen Jahren hat sich die Kreuzfahrtschifffahrt zu einem großen Markt entwickelt. Kaum ein
anderer Tourismussektor legte ein solch rasches Wachstum hin. Allein in Europa gab es zwischen den Jahren
2005 und 2010 eine Steigerung der Passagierzahlen um
fast 100 Prozent, damit sogar eine deutlich stärkere Entwicklung als weltweit. Durch den rasanten Anstieg an
Passagieren verstärkt sich auch die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen: Der Kostendruck
wird größer, die Vorteile der Economies of Scale wirken
sich entsprechend aus. Das heißt, je größer die Schiffe
sind, desto niedriger sind die Kosten des Reiseveranstalters pro Fahrgast. Die Schiffsgrößenentwicklung ging
daher unbegrenzt weiter. Die Entwicklung der Schiffsgröße legt den Verdacht nahe, dass Sicherheitsbestimmungen nicht ausreichend angepasst wurden in der
Kürze der Zeit. So gibt es für die Evakuierung von Fährschiffen aktuellere Simulationsmodelle als für die in den
letzten Jahren ständig größer werdenden Kreuzfahrtschiffe. Dies passt so nicht zusammen, und die Vorschriften für die Kreuzfahrtschifffahrt müssen dringend angepasst werden.
Reiseveranstalter und Werften überboten sich beim
Bau neuer Kreuzfahrtriesen. Schiffe mit 8 000 Menschen
an Bord sind inzwischen auf den Weltmeeren unterwegs.
Dies erfordert sehr gute Managementsysteme und bedeutet eine große Anforderung für die Besatzung an
Bord.
Lösungsvorschläge für eine sichere Kreuzfahrtschifffahrt sind:
Vorziehen der Sicherheitsübungen an Bord bereits
vor Ablegen des Schiffes; für den Ablauf der Evakuierungsmaßnahmen müssen die Simulationsprogramme
entsprechend auch für Kreuzfahrtschiffe aktualisiert
werden; Verschärfung der Sicherheitsvorschriften für
Rettungsmaßnahmen und -ausrüstung beim Neu- und
Umbau zukünftiger Kreuzfahrtschiffe.
Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion zieht keine
vorzeitigen Schlüsse aus dem Unfall der Costa Concordia, sondern zählt die Schwachstellen der in den letzten
Jahren anscheinend zu schnell gewachsenen Branche
auf. Auf allen Ebenen, also von nationaler Gesetzgebung über die europäische Ebene bis zur Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, IMO, muss nach
Lösungen gesucht werden, um die Kreuzfahrtschifffahrt
frühestmöglich sicherer zu gestalten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aus der Katastrophe von Giglio müssen nach Bekanntwerden der Seeunfalluntersuchung die richtigen
Schlüsse gezogen werden. Aber schon jetzt ist klar, dass
die Kreuzfahrtschifffahrt vor neuen Aufgaben steht und
sich in puncto Sicherheit dringend neu aufstellen muss.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9158 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation
- Drucksache 17/9066 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Ich stelle mit Erstaunen, aber auch mit Freude fest,
dass die Fraktion Die Linke immer häufiger - wenn
auch noch in deutlich ausbaufähigem Umfang - Themen
auf den Plan ruft, die sich mit den Interessen der Koalition durchaus decken. Sie kommen zwar mit Ihren Forderungen, auf die ich gleich noch näher eingehen werde,
etwas verspätet. Nichtsdestotrotz sollte man positive
Bemühungen ja auch mit der ihnen angemessenen Würdigung erwähnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Linksfraktion, Sie fordern die Bundesregierung in Ihrem
Antrag auf, ein neues Seearbeitsgesetz vorzulegen, das
das bisherige Seemannsgesetz ablösen solle. Das Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, das im Jahre 2006 verabschiedet wurde, soll
damit umgesetzt werden. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Seeleuten auf Schiffen sind zum Teil recht
hart. Es ist uns in der Union ein wichtiges Anliegen, für
diese Menschen angemessene Mindeststandards für die
von ihnen zu verrichtende schwere körperliche und
manchmal auch psychische Arbeit zu schaffen. Mit dem
derzeit gültigen Seemannsgesetz besteht bisher eine gute
Regelungsgrundlage für die Seeleute, die auf einem
Schiff unter deutscher Flagge fahren. Es schreibt unter
anderem vor, welche Voraussetzungen Seeleute für eine
Tätigkeit an Bord erfüllen müssen, und trifft unter
Berücksichtigung der besonderen Bedingungen der
Arbeit auf hoher See fernab der Heimat insbesondere
Regelungen über die Begründung und Beendigung des
Heuerverhältnisses, die Vergütung, die Mindestanforderungen an Verpflegung, Unterbringung und medizinische Versorgung, über Urlaub und Landgang, Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten sowie über den
Arbeitsschutz.
Darüber hinaus hat Deutschland die überwiegende
Zahl der Einzelübereinkommen aus den Jahren 1920 bis
1997, aus denen sich das Seearbeitsübereinkommen
zusammensetzt, ratifiziert. Der Änderungsbedarf im
Zuge der Umsetzung hält sich deshalb in Grenzen, wenn
auch noch ein paar Lücken aus der Vergangenheit bestehen, die jetzt im Umsetzungsverfahren geschlossen werden müssen. Diese Lücken resultieren insbesondere aus
der Zeit, als Deutschland der Internationalen Arbeitsorganisation, abgekürzt ILO, nicht angehörte, also zwischen dem Austritt im Jahre 1935 und dem Wiedereintritt im Jahre 1951.
Die Fachleute im Bundesarbeitsministerium befinden
sich bereits mitten in den Vorbereitungen eines Gesetzgebungsverfahrens, in dem ein neues Gesetz das bisherige Seemannsgesetz ablösen soll. Die Bestimmungen
des Seearbeitsübereinkommens können damit umgesetzt
werden. Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen
und Herren der Linksfraktion, dass die Bundesregierung
einen Schritt weiter ist als Sie.
Fairer Wettbewerb und angemessene Arbeitsbedingungen haben und hatten schon immer einen hohen Stellenwert für die Union. Dafür setzen wir uns ein, was Sie
an diesem Beispiel einmal mehr erkennen können. Mit
der alsbaldigen Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens werden dann die Weichen dafür gestellt, dass
diese Arbeitnehmerrechtecharta in Kraft treten und
weltweite Geltung erlangen kann. Auf 65 000 Handelsschiffen werden in Zukunft 1,2 Millionen Seeleute unter
global festgeschriebenen und vereinheitlichten Mindeststandards arbeiten. Wie diese meiner Auffassung nach
aussehen könnten, möchte ich Ihnen gerne näher an
einigen Beispielen erläutern.
Zu begrüßen wären beispielsweise übersichtlichere
Regelungen im Bereich des Arbeitszeit- und Ruherechts.
Zwar wurden hier erst im Jahre 2002 einige Bestimmungen an das Seearbeitsübereinkommen angepasst. Dennoch finden sich nach wie vor an den unterschiedlichsten
Stellen im Seemannsgesetz zahlreiche Sondervorschriften für bestimmte Schiffskategorien, die gebündelt werden müssten. Damit schafft man eine bessere Übersicht
und klarere Abgrenzungen.
Ich würde mir auch wünschen, dass für diejenigen
Seeleute, die aus persönlichen, beruflichen oder gesundheitlichen Gründen aus dem Dienst ausscheiden, eine
Regelung gefunden wird, unter welchen zeitlichen,
finanziellen und organisatorischen Bedingungen diese
Personen in ihre Heimat zurückkehren können.
Ferner könnte man bei der Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall, also der sogenannten Heuerfortzahlung,
eine Lücke schließen und diese auch auf die nicht versicherten Seeleute erstrecken. Ein solcher Anspruch
ergibt sich aus der ILO-Konvention 55 über die VerZu Protokoll gegebene Reden
pflichtung des Reeders bei Krankheit, Unfall oder Tod
von Schiffsleuten. Aufgrund der vorhin erwähnten Zeitspanne von 16 Jahren, in denen Deutschland nicht der
Internationalen Arbeitsorganisation angehörte, wurde
die während dieser Zeit verabschiedete Konvention
noch nicht von Deutschland ratifiziert. Dieses Versäumnis könnte nun nachgeholt werden.
Mit der von den Linken - aufgrund der Vorarbeiten
der Bundesregierung - überholten Forderung nach
einer Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens werden zwei weitere wichtige Neuerungen erfolgen. Es wird
im Bereich der seeverkehrsrechtlichen Überwachung
eine grundlegende Neuerung geben. Die Staaten, die das
Seearbeitsübereinkommen ratifiziert haben, verpflichten
sich nämlich dazu, die Einhaltung des ILO-Abkommens
auf den Schiffen unter ihrer Flagge zu überprüfen und
deren Erfüllung zu bescheinigen. Dies wird als Flaggenstaatkontrolle bezeichnet.
Hierzu ergänzend ist die Hafenstaatkontrolle zu nennen. Diese stellt sicher, dass Schiffe aus Drittstaaten,
also aus Ländern, die das Seearbeitsübereinkommen
nicht ratifiziert haben, an den Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens gemessen werden. Jedes ausländische Schiff, das den Hafen eines Staates anläuft,
der das ILO-Abkommen ratifiziert hat, wird auf die Einhaltung der ILO-Vorschriften überprüft. Es soll dadurch
ausgeschlossen werden, dass Schiffe aus Nichtvertragsstaaten günstiger behandelt werden als Schiffe aus Vertragsstaaten.
Unser Beitrag, der Beitrag unserer Bundesregierung,
wird folglich dazu beitragen, dass die Mindestarbeitsund -lebensbedingungen des Seearbeitsübereinkommens
weltweite Anwendung finden und ein Unterschreiten
dieses Normenwerkes durch Schiffe in der internationalen Fahrt nicht mehr möglich sein wird.
Ihr Antrag, meine verehrten Kollegen der Linksfraktion, in allen Ehren - er ist vom Ansatz her nicht
schlecht, aber er kommt eindeutig zu spät und kann
infolgedessen nur abgelehnt werden.
Wir debattieren heute den Antrag der Fraktion Die
Linke: „Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisationen“. Sehr geehrte Damen und Herren der Linken,
mit diesem Antrag und Ihrer damit verbundenen Forderung nach einem Gesetzentwurf zur Ratifizierung des
Seearbeitsübereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, vom 23. Februar 2006, Ihrer Forderung nach einem Gesetzentwurf für ein neues Seearbeitsgesetz sowie Ihrer Forderung nach einem Einsatz
der Bundesregierung zur umgehenden Umsetzung der
Ratifizierung gegenüber Drittstaaten rauben Sie diesem
Hohen Haus einmal mehr mit einem weder zielführenden noch notwendigen Antrag seine kostbare Zeit. Denn,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,
ich darf Sie an dieser Stelle beruhigen und Ihnen mitteilen, dass die Bundesregierung bereits mit Hochdruck an
der Fertigstellung des Artikelgesetzes zur Umsetzung
des Seearbeitsübereinkommens 2006, Maritime Labour
Convention - MLC, arbeitet und das Gesetz noch diesen
Sommer vom Kabinett verabschiedet werden und auch
noch dieses Jahr in Kraft treten soll.
Das Seearbeitsübereinkommen, SAÜ, der Internationalen Arbeitsorganisationen, ILO, ist am 23. Februar
2006 angenommen worden. Es fasst nahezu alle das maritime Arbeitsrecht betreffenden Instrumente der ILO zusammen und entwickelt diese fort. Das Übereinkommen
regelt die Mindestanforderungen für die Arbeit von Seeleuten auf Schiffen, Beschäftigungsbedingungen, Regelungen für Unterkunft, Freizeiteinrichtungen, Verpflegung und Bedienung, Gesundheitsschutz, medizinische
und soziale Betreuung, Gewährleistung der sozialen Sicherheit sowie die Erfüllung und Durchsetzung dieser
Anforderungen. Letztere sollen sicherstellen, dass die
Vorschriften des Übereinkommens auch eingehalten
werden. Über die Nichtbegünstigungsklausel kann der
Hafenstaat selbst dann gegen Schiffe vorgehen, die die
Mindestanforderungen des Übereinkommens unterlaufen, wenn der Flaggenstaat diesem nicht beigetreten ist.
Das Abkommen tritt in Kraft, wenn es von 30 Ländern
ratifiziert wurde, die mindestens ein Drittel der Welttonnage in der Handelsschifffahrt repräsentieren. Laut ILO
wurde es bisher von 25 Ländern ratifiziert, zuletzt am
11. August 2011 vom Inselstaat Antigua und Barbuda,
unter dessen Billigflagge viele deutsche Schiffe unterwegs sind.
Deutschland gehört zu den größten und erfolgreichsten Schifffahrtsstandorten der Welt, und wir von der
christlich-liberalen Koalition setzen alles daran, dass
das so bleibt. Um dies zu erreichen, wollen wir den Beruf des Seemannes attraktiv gestalten. Die Bundesregierung plant daher trotz knapper Haushaltsmittel bei der
Neuausrichtung der maritimen Förderpolitik die Ausbildungsplatzförderung als bewährtes Instrument beizubehalten. Um den künftigen Ausbildungsbedarf abdecken
zu können, ist zudem eine weitere Steigerung der Aktivitäten im Ausbildungssektor bzw. im Übergang von der
Ausbildung ins Berufsleben notwendig.
Ein wesentlicher Meilenstein ist das hier zu debattierende Seearbeitsübereinkommen, mit dessen Hilfe weltweit einheitlich geltende Mindeststandards die Arbeitsund Lebensbedingungen der über 1,2 Millionen Seeleute
verbessert werden sollen, um hierdurch die Sicherheit
auf Schiffen zu verstärken. Die Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens wird in Deutschland dazu führen,
dass - auch aufgrund der grundlegenden Veränderung
des Seemannsberufes - eine Vielzahl von Gesetzen und
Verordnungen angepasst und aktualisiert werden müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken,
die unionsgeführte Bundesregierung arbeitet bereits an
der Fertigstellung des Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens und nimmt diesen Prozess zum
Anlass, das existierende Seemannsrecht insgesamt
gründlich zu überarbeiten und zu modernisieren - ganz
bewusst auch unter dem Gesichtspunkt der Entbürokratisierung. Neuer zentraler Bezugspunkt des nationalen
Seemannsrechts wird ein neues Seearbeitsgesetz sein,
welches das alte aus den frühen 50er-Jahren stammende
Zu Protokoll gegebene Reden
Seemannsgesetz ersetzt. Dieses wird strukturell an der
MLC ausgerichtet sein. Zugleich werden die bestehenden Verordnungen im Bereich des Seearbeitsrechts überarbeitet. Das deutsche Recht wird an die verbindlichen
Anforderungen der MLC zur Herstellung verbindlicher
arbeits- und sozialrechtlicher Mindeststandards für Seeleute in der Schifffahrt angepasst.
Des Weiteren sollen diese Mindeststandards durch
Hafenstaatkontrollen auch auf Schiffe von Drittstaaten
angewandt werden, die die MLC nicht ratifizieren. Hierdurch soll Sozialdumping unterbunden und ein fairer
Wettbewerb gewährleistet sein.
Vor diesem Hintergrund, meine sehr geehrten Damen
und Herren der Fraktion Die Linke, hätte es Ihrer Anregungen nicht bedurft.
Ich verfolge seit langem die Arbeit der Internationalen Arbeitsorganisation. Erst im vergangenen Jahr waren wir vom Ausschuss für Arbeit und Soziales auf einer
Ausschussreise bei der Internationalen Jahreskonferenz
in Genf. Auch die Bundeskanzlerin hat dort eine Rede
gehalten und sich feiern lassen - als erste deutsche
Regierungschefin überhaupt. Es ist schön, dass die Bundesregierung die ILO offensichtlich so wichtig findet,
dass sich die Kanzlerin dort in Szene setzt. Umso beschämender ist es, wenn man sieht, dass die Ratifizierung der Übereinkommen der ILO bei der Bundesregierung keinen besonders hohen Stellenwert hat.
Das Seearbeitsübereinkommen ist ein Paradebeispiel
dafür: 2006 wurde es von der ILO beschlossen. Die zuständigen, damals SPD-geführten Bundesministerien,
nämlich das Ministerium für Arbeit und Soziales und
das Verkehrsministerium, hatten 2006 angekündigt, dass
die Ratifizierung zügig eingeleitet wird. Gewerkschafter,
Reeder und Politik haben damals an einem Strang gezogen: Das Übereinkommen solle zügig ratifiziert werden,
da dadurch Lohn- und Sozialdumping von Seeleuten und
die zunehmende Ausflaggung von Schiffen bekämpft
werden können. Seit dem Regierungswechsel zu
Schwarz-Gelb passiert jedoch nicht mehr viel. Schon
mehrfach hat die Bundesregierung uns versprochen,
dass endlich das Verfahren zur Ratifikation eingeleitet
sowie der Entwurf für ein neues Seearbeitsgesetz ins
Parlament eingebracht wird. Wir haben das sogar
schriftlich in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom
Januar 2011. Da sagt die Bundesregierung, dass im
Frühjahr 2011 ein Gesetzentwurf vorliegen solle. Das ist
nachweislich nicht geschehen! Liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP, sorgen Sie endlich dafür,
dass Ihre Regierung das einhält, was sie öffentlich verspricht, und hier nicht andauernd verzögert!
Ich weiß nicht, wer genau in der Regierung das Seearbeitsübereinkommen blockiert. Die FDP hat sich in
der Vergangenheit ja gerne an maritimen Metaphern bedient. Jeder von uns erinnert sich an die Worte von
Guido Westerwelle: „Auf jedem Schiff, das dampft und
segelt, gibt's einen, der die Sache regelt. Und das bin
ich.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, offensichtlich ist Ihnen ja bekannt, dass man auf Schiffen
klare Regeln braucht. Dazu gehören auch klare Regeln
zu Arbeits- und Sozialbedingungen von Seeleuten. Leider setzt sich die FDP aber trotz der Freude an Metaphern mit Schiffen nicht dafür ein, dass klare Regeln für
Matrosen und Kapitäne geschaffen werden. Das gilt im
Übrigen nicht nur für das Seearbeitsübereinkommen,
sondern auch für das Maritime Bündnis, dem die Bundesregierung massiv die Gelder gekürzt hat und wo
keine fortschrittliche maritime Politik mehr gemacht
wird. Kurz und gut: Die ganze Politik für die See liegt
brach. Ich appelliere daher an meine Kolleginnen und
Kollegen von der FDP: Sorgen Sie dafür, dass klare Regeln für alle deutschen Schiffe kommen und nicht mehr
nur für Ihr eigenes sinkendes FDP-Schiff!
Das Seearbeitsübereinkommen ist die Grundlage für
einen fairen Wettbewerb im Bereich der Schifffahrt und
ein Meilenstein für die Arbeits- und Sozialrechte von
1,2 Millionen Seeleuten weltweit. Denn wir beobachten
im maritimen Sektor die gleichen Entwicklungen wie in
der gesamten Wirtschaft: Der Wettbewerb wird zunehmend auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen.
Einige Arbeitgeber versuchen, die Löhne und die
Arbeitsbedingungen so zu drücken, dass sie dadurch
günstiger als ihre Konkurrenz sind. Andere anständige
Reeder, die gerne faire Lohn- und Arbeitsbedingungen
bieten wollen, sind durch die Konkurrenz in eine Abwärtsspirale gezwungen. Ich kämpfe an Land und auf
See dafür, dass diesem unlauteren Wettbewerb auf dem
Rücken der Beschäftigten endlich ein Riegel vorgeschoben wird. Wir brauchen stattdessen einen Wettbewerb,
der auf Innovation und besseren Produkten beruht, nicht
aber auf Lohndumping!
Nicht weniger als das Schaffen von menschenwürdiger Arbeit auf See ist das Ziel des Seearbeitsübereinkommens. So werden Regelungen zu Nachtarbeit,
Mindestalter, Beschäftigungsverträgen, Schiffssicherheit, Höchstarbeitszeit, Kündigungsregeln, Ruhezeiten,
Gesundheitsschutz, Unfallverhütung, Heimschaffung,
Unterkunft und vieles mehr getroffen. Das Übereinkommen ist ein Musterbeispiel dafür, wie wir auf internationaler Ebene dafür sorgen können, dass weltweit faire
Arbeitsbedingungen vorherrschen. Denn nicht nur die
Anforderungen sind fortschrittlich, sondern es ist auch
geregelt, wie diese neuen Vorschriften eingehalten und
überprüft werden. Diese Kontrollmechanismen sollten
beispielgebend für weitere ILO-Übereinkommen sein.
Denn es gilt sowohl das Flaggstaatsprinzip als auch das
Hafenstaatsprinzip. Das bedeutet, dass die Einhaltung
der Arbeitsbedingungen nicht nur von dem Staat, in dem
das Schiff geflaggt ist, kontrolliert wird, sondern auch in
den Häfen, die das Schiff anläuft. Jedes Land muss
damit ein wirksames System für die Überprüfung der
Arbeitsbedingungen einrichten.
Hervorheben möchte ich auch, dass die Ratifizierungsregelungen bei diesem Übereinkommen sehr fortschrittlich geregelt sind. Das Übereinkommen tritt in
Kraft, wenn 30 Staaten die Ratifizierung vorgenommen
haben und diese Staaten über mindestens 33 Prozent der
Welthandelstonnage verfügen. Die Anforderung der
Tonnage ist mit den Staaten, die das Abkommen bisher
ratifiziert haben, schon gegeben. Noch in diesem Jahr
Zu Protokoll gegebene Reden
werden weitere Staaten das Abkommen ratifizieren, sodass auch das Kriterium der 30 Staaten erfüllt sein wird.
Wenn das geschehen ist, gilt das Seearbeitsübereinkommen sowieso auch für Deutschland. Wir haben also zwei
Möglichkeiten: Entweder ratifizieren wir schnell das
Übereinkommen, setzen es in nationales Recht um und
springen noch auf den fahrenden Zug - oder besser
gesagt das auslaufende Schiff - auf. Oder wir machen
uns dadurch ein bisschen zum Gespött der internationalen Seewelt, dass wir es offensichtlich nicht schaffen,
das Übereinkommen zu ratifizieren. Die Anforderungen
gelten so oder so auch für unser Land, von daher ist hier
dringendes Handeln geboten! Auch die Reeder haben im
Übrigen Bedenken, wenn wir nicht ratifizieren: Sie
fürchten, dass sie dann an einigen Häfen besonders genau kontrolliert werden, weil das Übereinkommen in
Deutschland noch nicht umgesetzt wurde. Das verzögert
die Fahrt von Schiffen unter deutscher Flagge und stört
den Handel unserer Reeder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
daher appelliere ich an Sie: Treten Sie Ihrer Regierung
auf die Füße, damit hier endlich etwas geschieht! Es
kann nicht sein, dass die ILO nur zur Inszenierung der
Kanzlerin genutzt wird und bei der Umsetzung der
Übereinkommen hier in Deutschland verzögert wird, wie
es nur geht!
Deutschland besitzt eines der detailliertesten und
ausführlichsten Arbeitsrechte der Welt. Dies gilt an
Land wie auf See. Darum hat sich Deutschland auch intensiv in die Verhandlungen bei der Internationalen
Arbeitsorganisation eingebracht. Unsere guten Standards sollen auch für andere gelten - und vor allem soll
Sozialdumping auf See verhindert werden.
Das ILO-Übereinkommen zum Internationalen Seearbeitsrecht ist darum ein Meilenstein für die Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen von Seeleuten
weltweit. Eben weil wir in Deutschland ein weit ausdifferenziertes Arbeitsrecht haben, dauern die Anpassungen des deutschen Rechts an das Übereinkommen und
die Ratifizierung dessen noch an.
Es ist zwar bedauerlich, dass die nationale Umsetzung sich jetzt schon Jahre hinzieht, aber das Problem
ist nicht durch solche überflüssigen Anträge wie jetzt der
von den Linken vorliegende zu lösen. Erforderlich ist
eine konsequente Facharbeit in den betroffenen Ministerien. Deshalb wurde die Arbeit an der Umsetzung in dieser Legislaturperiode intensiviert. Ein Referentenentwurf ist fast fertig, und demnächst wird es die üblichen
Anhörungen der betroffenen Sozialpartner und Verbände geben. Ein Kabinettsentwurf soll noch vor der
Sommerpause erfolgen, was bedeutet, dass eine Ratifizierung bzw. Umsetzung in nationales Recht noch vor
dem 1. Januar 2013 realisiert werden kann. Und darauf
kommt es an.
Wir werden die Ratifizierung und den Gesetzentwurf
nutzen, um notwendige Modernisierungen und Anpassungen vorzunehmen, ob das nun Regelungen aus der
Zeit der Frachtsegler angeht oder die Seediensttauglichkeitsuntersuchungen. Dies ist gleichzeitig die
Chance für Deutschlands Seeleute und Reeder, in diesem
besonderen Bereich der Schifffahrt für Bürokratieabbau
zu sorgen.
In dem Zusammenhang muss darauf hingewiesen
werden, dass die Fraktion Die Linke offensichtlich nicht
über die nötige Sachkompetenz verfügt, die Ratifizierung Deutschlands im Gesamtzusammenhang richtig
einzuschätzen.
Es ist richtig, dass 30 Staaten mit mindestens 33 Prozent der weltweiten Tonnage über 200 BRZ zustimmen
müssen. Das Tonnagekriterium ist im Übrigen bereits
übererfüllt. Es ist aber ein Zeichen von Unwissenheit,
wenn die Fraktion Die Linke in der Begründung behauptet, dass Deutschland „mit circa 3 768 Schiffen über die
größte Handelsflotte der Welt“ verfüge, „wovon jedoch
lediglich 542 Schiffe im Deutschen Schiffsregister eingetragen sind.“ Weder hat Deutschland die „größte Handelsflotte der Welt“, noch sind die 3 768 deutsch bereederten Schiffe unter deutscher Flagge. Weniger als die
genannten 542 Schiffe sind es derzeit. Die anderen sind
bei unterschiedlichen Flaggenstaaten beheimatet.
Es wird daher niemanden verwundern, wenn wir einem solch mangelhaft begründeten Antrag nicht zustimmen wollen.
Seeleute sind unverzichtbar. Sie reisen mit allen möglichen Gütern um die Welt, von Bananen über Öl, Gas
und Baumaterialien bis hin zu Textilien, Getreide und
tiefgekühltem Fleisch. Als Arbeitnehmer sind sie praktisch unsichtbar. Was auf See passiert, entzieht sich fast
immer den Blicken der Ordnungsbehörden, sodass sich
die Reeder gefahrlos, ohne Angst vor Entdeckung, über
die Rechte der Seeleute hinwegsetzen können. Sie arbeiten häufig sieben Tage in der Woche, sind monatelang
auf See und haben kaum Kontakt zu ihren Familien. Sie
leben an Bord auf engstem Raum, meistens ohne ihre gewohnte kulturelle Umgebung und Sprache.
Damit menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und
Menschenrechte durchgesetzt werden können und gleichzeitig die Reeder vor Dumpingkonkurrenz geschützt werden, haben Gewerkschaften und Reederverbände verhandelt. Sie haben den Inhalt von 45 unterschiedlichen
Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO - das ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen -, und Empfehlungen für die Schifffahrt in
einem einzigen Übereinkommen zusammengefasst. Dieses Werk wurde vor sechs Jahren von der ILO ohne Gegenstimmen beschlossen. Wir fordern die umgehende
Ratifizierung des Abkommens. Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie dem Deutschen Bundestag spätestens bis zum 30. Juni 2012 einen Gesetzentwurf für
ein neues Seearbeitsgesetz vorlegt.
Auf hoher See gelten auf den Schiffen die Arbeitsbedingungen des Staates, unter dessen Flagge sie fahren.
Deutschland verfügt mit rund 3 800 Schiffen über die
größte Handelsflotte der Welt, Stand November 2011,
doch davon fährt kaum eines unter deutscher Flagge.
Lediglich 542 Schiffe sind im Deutschen Schiffsregister
eingetragen. Nur auf diesen Schiffen hat die Besatzung
Anspruch auf das nationale Arbeitsrecht und auf Arbeitsbedingungen nach Tarifverträgen. Ein großer Teil
der Flotte der deutschen Reeder ist in Ländern wie Panama, Liberia, den Marschallinseln oder den Bahamas
registriert. Für sie gelten die Regelungen ihrer Heimatländer. Der Ecklohn für einen Seemann unter Billigflagge liegt mit einem Tarifvertrag der Internationalen
Transportarbeiterföderation, ITF, bei 1 577 Dollar im
Monat. Ohne Tarifvertrag sind es gelegentlich kaum
mehr als 500 Dollar.
Internationale Organisationen wie die IMO, die Internationale Seeschifffahrts-Organisation, oder die ITF
versuchen, dagegen anzugehen, können jedoch erst
dann tätig werden, wenn Missstände oder menschenunwürdige Arbeitsbedingungen offenkundig werden.
Alljährlich treiben ITF und die ihr angeschlossenen
Gewerkschaften im Namen von Seeleuten Heuernachzahlungen und Abfindungen für Unfälle mit Todesfolge
oder Personenschäden in Millionenhöhe ein. Diese Arbeitsbedingungen müssen verschwinden. Und sie können verschwinden, wenn das Seearbeitsrechtsübereinkommen in Kraft treten kann - und zwar weltweit.
In Deutschland wurde immer wieder angekündigt,
dass sowohl die Ratifizierung als auch die Umsetzung
schon seit langem geplant seien. Erst hieß es Ende 2009,
dann sollte es im Jahr 2010 ratifiziert werden. Diese
sechsjährige Hängepartei ist völlig untragbar. Wir fordern Sie auf, sich auch gegenüber Staaten, die das Seearbeitsübereinkommen noch nicht ratifiziert haben, für
eine umgehende Ratifizierung und Umsetzung einzusetzen. Wenn Sie dies nicht tun, verhindert das Land mit der
größten Handelsflotte der Welt weiterhin, dass Mindeststandards für die Arbeits- und Lebensbedingungen für
über 1,2 Millionen Seeleute nicht wirksam werden können und einheitliche Wettbewerbsbedingungen in der
Schifffahrt geschaffen werden.
Die Linke will, dass auf Schiffen menschliche Arbeitsbedingungen herrschen und Löhne bezahlt werden, von
denen Besatzungen leben können. Sechs Jahre lang
schon müssen Seeleute darauf warten. Das muss jetzt ein
Ende haben. Handeln Sie jetzt!
Die Schifffahrtsindustrie gehört zu den wenigen wirklich globalen Industriezweigen der Welt. 1,2 Millionen
Seeleute aus der ganzen Welt transportieren Tag für Tag
Waren über Ozeane und über Landesgrenzen hinweg.
Die Schiffe liegen in der Regel nur wenige Stunden oder
Tage in Häfen, bis die Ladungen gelöscht und die Schiffe
wieder beladen werden. Nur in dieser Zeit können die
Seeleute an Land gehen, ihre Freizeit nutzen und genießen. Die meiste Zeit jedoch sind die Schiffe auf hoher
See. In dieser Zeit sind die Seeleute auf die Unterkünfte,
Freizeiteinrichtungen und die medizinische Betreuung
auf den Schiffen angewiesen. Sie müssen die Arbeitsbedingungen und die soziale Infrastruktur an Bord hinnehmen, wie sie sind. Die Arbeits- und Lebensbedingungen
sind aber von Schiff zu Schiff verschieden und sehr unterschiedlich ausgestaltet. Deswegen war es dringend
notwendig, dass weltweit gültige Arbeitsnormen und
Mindestanforderungen an Beschäftigungsbedingungen
und die Infrastruktur an Bord geschaffen wurden.
Am 23. Februar 2006 war es endlich so weit. Das
Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, wurde in Genf ohne Gegenstimmen
angenommen. Es ist ein Meilenstein. Endlich erhalten
die Seeleute weltweit verbindliche soziale Rechte. Es
fasst mehr als 60 geltende Rechtsinstrumente zusammen, die seit 1920 von der ILO verabschiedet wurden.
Mit dem Übereinkommen sollen weltweite Mindeststandards geschaffen werden, die die Arbeits- und Lebensbedingungen für Seeleute erhöhen, die Sicherheit steigern
und dem Lohn- und Sozialdumping einen Riegel vorschieben. Allerdings nützen die besten Normen nichts,
wenn sie nicht in Kraft sind. Es ist nicht verständlich,
dass es weder die CDU/CSU, die seit 2006 durchgängig
an der Bundesregierung beteiligt ist, noch die FDP geschafft haben, das Seearbeitsübereinkommen zu ratifizieren. Die Untätigkeit ist auch deshalb unverständlich,
weil die ILO-Übereinkommen von Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgebern gleichermaßen und somit in breitem Konsens verhandelt werden. Bisher haben
lediglich 23 Staaten das Übereinkommen ratifiziert. Damit das Übereinkommen in Kraft treten kann, muss es
aber von mindestens 30 Staaten ratifiziert werden, die
zusammen über eine Bruttoraumzahl, BRZ, von mindestens 33 Prozent der Welthandelstonnage verfügen. Deswegen fordern wir - wie die Fraktion Die Linke - die
Bundesregierung auf, endlich tätig zu werden. Sie muss
ihrer Verantwortung für die Seeleute gerecht werden und
vor allem auch ein Vorbild in der Welt sein.
Statt die Ratifizierung von Jahr zu Jahr zu verschleppen, sollte sich die Bundesregierung vielmehr in der Europäischen Union und bei den wichtigsten Handelspartnern für die Ratifizierung des Übereinkommens
einsetzen. Die Staaten, insbesondere Deutschland, müssen den 1,2 Millionen Seeleuten endlich die verdiente
Wertschätzung entgegenbringen. Ohne sie würde der
Welthandel zum Erliegen kommen, die mittlerweile stark
ausdifferenzierte internationale Arbeitsteilung zusammenbrechen und globale Wertschöpfungsketten auseinandergerissen.
Wir fordern alle an der maritimen Wirtschaft beteiligten Akteure auf, sich an einem maritimen Bündnis aktiv
zu beteiligen. Sie müssen dafür sorgen, dass das Seearbeitsübereinkommen in Deutschland erfolgreich umgesetzt und auf alle über 3 000 in deutschem Besitz befindlichen Schiffe, von denen derzeit nur circa 500 unter
deutscher Flagge fahren, angewendet wird. Darüber hinaus müssen die Ausflaggung erschwert, Einflaggung
erleichtert und Anreize geschaffen werden, Schiffe umweltfreundlicher und ökologischer zu betreiben.
Wir befürworten ebenfalls die Schaffung eines Seearbeitsgesetzes, das das bestehende Seemannsgesetz ablöst und das Seearbeitsübereinkommen in nationales
Recht umsetzt. Im Zuge der Einführung des Gesetzes
müssen die betreffenden Verordnungen an den neuen
Zu Protokoll gegebene Reden
Gesetzestext angepasst werden. Und selbstverständlich
muss dieser Prozess in enger Abstimmung mit den Tarifpartnern gestaltet werden. Das ILO-Übereinkommen
darf nicht weiter ignoriert werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9066 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla
Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen - Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten - Einfluss der Beschäftigten stärken
- Drucksachen 17/8880, 17/9131 Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Vogel ({1})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der vorliegende Antrag der Linken zeigt in sehr deutlicher Art und Weise die politische Sicht und das wirtschaftliche Verständnis der Linken. Zusammenfassend
fordern die Linken die Enteignung von Firmen, zumindest ab einer bestimmten Größenordnung und Überführung in die Hand der Betriebsmitarbeiter. Man hat den
Eindruck, die Linken haben aus der Vergangenheit der
DDR nicht das Geringste gelernt.
Der Fall Schlecker hat uns in unserem Ausschuss
schon häufiger beschäftigt, weniger die wirtschaftlichen
Entscheidungen der Firmenleitung als die Personalführung, und wir waren uns alle darin einig, dass die Methoden - Drehtüreffekt -, die angewandt wurden, nicht
zulässig sind. Dass das Schlecker-Management Fehler
gemacht hat, ist allen offensichtlich. Deshalb aber
unsere bewährte soziale Marktwirtschaft durch Staatswirtschaft zu ersetzen, kann auch nur den SED-Nachfolgern einfallen.
Es ist schlimm, wenn bei einer Firmeninsolvenz über
11 000 Arbeitsplätze verloren gehen. Wichtig ist, dass
die bisherigen Schlecker-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so schnell wie möglich eine neue Arbeit finden.
Aber das gelingt nicht dadurch, dass wir unser erfolgreiches Wirtschaftssystem aufgeben. Unverfroren halte ich
den Hinweis der Linken, der Nachfolgepartei der SED,
dass sich die Suche nach dem Vermögen von Anton
Schlecker lohnen würde. Lohnender erscheint mir die
Suche nach dem SED-Vermögen, dass Ihre Vorgängerpartei hat verschwinden lassen und bei deren Aufklärung Sie, vorsichtig formuliert, nicht gerade geglänzt
haben, sondern untergetaucht sind.
Das Insolvenzverfahren bei uns in Deutschland hat
sich bewährt. Ein erfahrener Konkursverwalter ist
dabei, zumindest große Teile des Einzelhandelsimperiums zu sanieren und wieder flottzumachen. Die Chancen sind derzeit nicht schlecht. Ob es gelingen wird, eine
Auffanggesellschaft zu gründen und damit die Arbeitslosigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verhindern, ist offen. Es wäre jedoch zu begrüßen, wenn
alle Bundesländer an einem Strang ziehen und es zu
einer gemeinsamen Lösung zugunsten der SchleckerMitarbeiter käme. Die von den Linken vorgeschlagene
Beteiligung ist kontraproduktiv.
Dass Sie unser Wirtschaftssystem bis heute nicht verstanden haben und Sie in Ihrem kommunistischen Denken weiterhin verhaftet sind, wird deutlich durch Ihre
Aussagen, dass der Einzelhandel „auf Kosten der
Beschäftigten ein enormes Vermögen angehäuft“ hat. Im
Rahmen unserer sozialen Marktwirtschaft ist es vielen
deutschen Familienunternehmen gelungen, im Nachkriegsdeutschland ein Firmenimperium aufzubauen.
Diese Pionierleistung konnte nur gelingen, weil auf der
einen Seite weitsichtige Persönlichkeiten etwas gewagt
haben und auf der anderen Seite die Beschäftigten mit
ihrem Fleiß den Erfolg ermöglicht haben. Heute würde
man von einer Win-win-Situation sprechen. Unternehmer, Angestellte und unsere Gesellschaft haben davon
profitiert. Und viele dieser Pioniere der Nachkriegszeit
haben sich sozialen Projekten gewidmet. Hierzu gehört
Schlecker leider nicht.
Ebenfalls in der Nachkriegszeit hat die SED die
Bevölkerung der DDR unterdrückt und die Wirtschaft in
den Sand gesetzt. Aber scheinbar wollen Sie wieder
dahin zurück, wie sonst ist Ihre Forderung zu verstehen,
dass für „Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten
- unabhängig von der Rechtsform - zwingend eine echte
paritätische Mitbestimmung vorgeschrieben werden“
soll. Das ist eine kalte Enteignung. Es ist schade, dass
Sie aus Ihrer diktatorischen Vergangenheit nichts
gelernt haben. Dies zeigt sich auch in Ihrer Aussage,
dass aus Ihrer Sicht „Konkurrenz innerhalb der Branche
… ganz offensichtlich zu ihrer Destabilisierung“ beiträgt. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist der Fall! Konkurrenz belebt das Geschäft und inspiriert zu Höchstleistungen.
Das bisherige System aus Mitbestimmungsgesetz, Drittelbeteiligungsgesetz, Montan-Mitbestimmungsgesetz und
Mitbestimmungsergänzungsgesetz hat sich bewährt.
Auch die Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung - Biedenkopfkommission 2006 - hat trotz intensiver Beratungen keine
Änderung der Schwelle für das Eingreifen der paritätischen Mitbestimmung vorgeschlagen. Die wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission haben dafür votiert,
im Grundsatz am bestehenden System festzuhalten.
Meine lieben Kollegeninnen und Kollegen von den
Linken, tun Sie sich und uns allen einen kleinen Gefallen
und schmeißen Sie Ihren antiquierten Antrag in die
Tonne, und arbeiten Sie mit uns konstruktiv am Ausbau
der sozialen Marktwirtschaft und der Schaffung von vielen Arbeitsplätzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
„Ihr Antrag geht an dem Anliegen der Beschäftigten
vorbei“. Meine Damen und Herren von den Linken, so
lautete einstimmig das Urteil aller anderen Fraktionen
im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen
Bundestages am 21. März. Auch in der Diskussion dort
wurde deutlich, dass es Ihnen nicht wirklich ernsthaft
um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der SchleckerGruppe geht. Sie waren auf der Suche nach einem
Aufhänger, unter anderem für den Weltfrauentag. Sie
verraten sich schon im ersten Satz Ihres Antrags, meine
Damen und Herren von den Linken. Dort heißt es - ich
zitiere -: „Der Deutsche Bundestag unterstützt gerade
und besonders am Internationalen Frauentag den
Kampf der mehrheitlich weiblichen Schlecker-Beschäftigten um ihre Arbeitsplätze.“ Meine Damen und Herren
von den Linken, was wäre eigentlich gewesen, wenn die
Mitarbeiterschaft bei Schlecker in der Hauptsache
männlich gewesen wäre? Oder der Internationale Frauentag schon gewesen wäre? Für die Union sage ich sehr
deutlich, dass uns die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land - egal ob sie weiblich oder
männlich sind, egal bei welchem Unternehmen sie
arbeiten - für uns nicht nur an Gedenktagen von Bedeutung sind. Diese können sich auf uns verlassen, nicht
erst seit der Eröffnung der Insolvenz.
Ein solcher Antrag wurde am 23. und 26. Januar
2012 beim Amtsgericht Ulm für die Anton Schlecker
e. K., die Schlecker XL GmbH, die Schlecker Home
Shopping GmbH und die „Ihr Platz“ GmbH + Co KG
gestellt. Davon betroffen sind circa 33 000 Mitarbeiter
in der Unternehmenszentrale in Ehingen und 7 000 Filialen deutschlandweit. Vor Anton Schlecker gab es nur
in größeren Städten kleine Sortimente zu hohen Preisen.
Mit Kleinstfilialen im ländlichen Raum entstanden zwar
Tausende neuer Arbeitsplätze. Dieses Flächenwachstum
ohne Rücksicht auf Deckungsbeiträge und Erträge war
dann aber auch das Verhängnis. In den letzten drei Jahren wurden wegen sinkender Umsätze bereits mehr als
1 000 Filialen geschlossen. Jetzt steht die Entlassung
von vielen Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
an. Diese ist für die Betroffenen dramatisch.
Auf die unternehmerischen Entscheidungen von
Schlecker hatte die Bundesregierung keinen Einfluss.
Aber uns beschäftigte und beschäftigt die Frage, wie
den vom Personalabbau bei Schlecker betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schnell geholfen
werden kann. Hierzu steht das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales in engem Kontakt mit der Bundesagentur für Arbeit, BA. Die BA hat bereits die notwendigen Vorkehrungen getroffen. So wurden umfassende
Informationsmaterialien für Veranstaltungen mit Betriebsräten und Mitarbeitern der Schlecker- und „Ihr
Platz“-Filialen zur Verfügung gestellt. Die BA steht in
intensivem Kontakt mit der Insolvenzverwaltung, Betriebsräten und Gewerkschaften. Die Agentur für Arbeit
Ulm ist vorbereitet, eine Koordinierungs- und Vermittlungsagentur in der Schlecker-Zentrale einzurichten.
Ziel ist die schnelle Hilfe vor Ort durch Bearbeitung des
Insolvenzgeldes und - für den Fall von Kündigungen die individuelle Beratung und Vermittlung der Betroffenen. Handel und Dienstleistungen sind nach Aussage
der BA aufnahmefähige Branchen am Arbeitsmarkt. Insofern sind strukturelle Auswirkungen in keiner Region
Deutschlands zu erwarten. Die BA kann bei der Vermittlung auf gute Geschäftsbeziehungen zum Handel zurückgreifen.
Es ging weiter um die Frage, ob eine Transfergesellschaft finanziert werden kann, in der die Betroffenen bei
der Suche nach einer neuen Beschäftigung unterstützt
und qualifiziert werden. Nicht geklärt war die Finanzierung. Die Insolvenzverwaltung hatte den Finanzbedarf
für eine sechsmonatige Transfergesellschaft auf circa
70 Millionen Euro geschätzt. Ich hatte Ihnen gesagt,
dass wir uns dafür einsetzen werden, dass der Bund die
finanziellen Mittel für eine Transfergesellschaft zur Verfügung stellen wird. Dazu war und ist der Bund bereit,
und zwar über die KfW. Die einzige Bedingung war: Es
müssen Bürgschaften der Länder vorliegen. Dies entspricht einer Praxis im Umgang mit Finanzierungsanfragen von Filialunternehmen, die in der Vergangenheit
regelmäßig so zwischen Bund und Ländern geübt wurde.
Es gibt klare Absprachen zwischen Bund und Ländern:
An erster Stelle ist das jeweilige Sitzland des Unternehmens gefordert, Hilfestellung zu leisten. Da Schlecker
seinen Sitz in Baden-Württemberg hat, liegt die Verantwortung beim Land Baden-Württemberg, das ja auch in
der Vergangenheit von Steuereinnahmen profitiert hat.
Es lag bzw. liegt bei den Ländern, vorneweg beim Land
Baden-Württemberg, dass eine Auffanglösung zustande
kommt. Leider erreichte uns heute die Nachricht, dass
diese Lösung gescheitert ist. Ich bedaure auch im
Namen meiner Fraktion sehr, dass das Land BadenWürttemberg nicht gestanden hat, als es zum Schwur
kam.
Über alle diese oder andere Maßnahmen steht in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von den Linken,
nichts. Die Bereitstellung von Krediten wird in einem Nebensatz erwähnt. Ihr Antrag hilft also wirklich niemandem. Aber darauf kommt es Ihnen auch offensichtlich
nicht an. Sie suchten einen weiteren Aufhänger, und zwar
für den sozialistischen Umbau unserer Gesellschaft. So
wollen Sie einen Gewaltritt durch das Mitbestimmungsrecht. Sie fordern in Ihrem Antrag die Einführung der
paritätischen Mitbestimmung für Unternehmen ab
100 Beschäftigten. Sie zeigen damit einen bedenklichen
Realitätsverlust. Das bisherige System aus Mitbestimmungsgesetz, Drittelbeteiligungsgesetz, Montan-Mitbestimmungsgesetz und Mitbestimmungsergänzungsgesetz
hat sich bewährt. Auch die Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung, die
sogenannte Biedenkopfkommission, hat trotz intensiver
Beratungen keine Änderung der Schwelle für das Eingreifen der paritätischen Mitbestimmung vorgeschlagen.
Die wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission haben dafür votiert, im Grundsatz am bestehenden System
festzuhalten. Es wäre gut gewesen, wenn Sie sich vor
Antragstellung die Mühe gemacht hätten, sich besser zu
informieren. Aber Sie haben sich offensichtlich damit
begnügt, einfach aus einem Ihrer Vorgängeranträge zu
kopieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch Ihre Forderung, meine Damen und Herren von
der Linken, einen Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte gesetzlich festzuschreiben, ist nicht neu. Seit
Einführung des Mitbestimmungsgesetzes im Jahre 1976
wird diese Diskussion geführt. Das Aktiengesetz wurde
mehrfach geändert. Heute muss der Aufsichtsrat oder
die Satzung bestimmen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen. Dies sind in der Regel wichtige
und zentrale Entscheidungen, wie zum Beispiel Investitionsplanungen oder Kreditaufnahmen. Hierdurch besteht auch für den Aufsichtsrat selbst die Möglichkeit,
sachgerecht auf die Führung der Geschäfte der Gesellschaft durch den Vorstand Einfluss zu nehmen. Dabei
kann ein individueller, auf die jeweilige Gesellschaft zugeschnittener Katalog festgelegt werden. Die bei der jetzigen Gesetzeslage mögliche Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedingungen wie zum Beispiel Größe,
Branche oder Struktur der verschiedenen Gesellschaften
wäre bei einer gesetzlichen Festlegung eines bestimmten
Kataloges zustimmungsbedürftiger Geschäfte nicht mehr
realisierbar. Angesichts der unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Unternehmen ist eine sachgerechte,
für alle Gesellschaften anwendbare Formulierung nur
schwerlich möglich. Auch die wissenschaftlichen Mitglieder der Biedenkopfkommission hatten bewusst keine
Empfehlung ausgesprochen, einen bestimmten Katalog
zustimmungsbedürftiger Geschäfte festzulegen.
Auch Ihre Forderung nach einer Verlagerung der
Entscheidungskompetenz vom Aufsichtsrat auf die Belegschaft zeugt von mangelndem Sach- und Rechtsverständnis. Die Aufsichtsratsmitglieder werden von den
Wahlberechtigten regelmäßig in einer demokratischen
Wahl ermittelt und erhalten ihr Mandat für eine bestimmte Zeit. Sie sind dem Unternehmensinteresse und
damit auch dem Belegschaftsinteresse verpflichtet. Die
Verlagerung der Entscheidungskompetenz in bestimmten Fällen auf die Belegschaft würde für die Arbeitnehmer möglicherweise harte, aber im Unternehmensinteresse sachlich gebotene Entscheidungen unmöglich
machen. Die geforderte Zweidrittelmehrheit würde zudem auf ein rechtlich problematisches Vetorecht der
Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat hinauslaufen. Die Interessenvertretung der Arbeitnehmer über gewählte Vertreter hat sich - gerade in Krisenzeiten - bewährt; der
Einführung von - ich zitiere - „mehr Basisdemokratie
im Unternehmen“ bedarf es nicht.
Mit Ihrer Forderung nach einem erzwingbaren Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in wirtschaftlichen
Fragen zeigen Sie einmal mehr Ihr mangelhaftes
Rechtsbewusstsein, meine Damen und Herren von den
Linken. Bereits nach geltendem Recht stehen Betriebsrat
und Wirtschaftsausschuss umfangreiche Beteiligungsrechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu. Ich nenne
nur beispielhaft das Beratungsrecht des Wirtschaftsausschusses nach § 106 Betriebsverfassungsgesetz, die Verpflichtung des Unternehmers, bei einer geplanten Betriebsänderung über einen Interessenausgleich mit dem
Betriebsrat zu verhandeln - § 111 BetrVG -, und das
zwingende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats hinsichtlich eines Sozialplans, § 112 BetrVG. Eine beliebige
Erweiterung der Beteiligungsrechte in wirtschaftlichen
Angelegenheiten ist aber wegen des damit verbundenen
Eingriffs in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit
aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich.
Dies gilt auch für die Forderung, dass Betriebsschließungen und Verlagerungen des Betriebs oder von Betriebsteilen der Zustimmung des Betriebsrats bedürfen.
Was halten Sie von einem Intensivseminar in den
Rechtswissenschaften, meine Damen und Herren von
den Linken? Dann wüssten Sie, dass die geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen schon heute eine - ich zitiere - „Fortführung von Unternehmen bzw. von Unternehmensteilen in Belegschaftshand“ uneingeschränkt zu
lassen. Rechtsformen für - ich zitiere - „eine gemeinschaftliche Übernahme von Betrieben durch die
Beschäftigten“ mit dem Ziel einer Unternehmensfortführung stehen mit den im Gesetz vorgesehenen Gesellschaftsformen wie Handelsgesellschaften mit und ohne
Rechtspersönlichkeit sowie mit der Rechtsform der Genossenschaft in großer Zahl zur Verfügung. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des
insolvent gewordenen Rechtsträgers lässt sich eine Unternehmensfortführung durch die Belegschaft insbesondere im Wege einer sogenannten übertragenden Sanierung erreichen. Das Unternehmen, dessen Rechtsträger
insolvent geworden ist, wird dann ganz oder in Teilen
durch Arbeitnehmer über einen von diesen bereitgestellten Rechtsträger fortgeführt. Hätten Sie doch Ihre Hausaufgaben gemacht, meine Damen und Herren von den
Linken.
So bleibt der Befund: Ihr Antrag ist nicht nur rechtlich dilettantisch, sondern menschlich verwerflich. Denn
Ihnen dient die Insolvenz der Schlecker-Gruppe, die persönliche Betroffenheit von vielen Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur zur Selbstinszenierung. Ihr
Antrag hilft niemandem. Deshalb lehnen wir diesen ab.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist der Versuch,
aus der Insolvenz der Drogeriekette Schlecker und dem
damit drohenden Arbeitsplatzverlust der Beschäftigten
Aufmerksamkeit für die eigene Fraktion zu erheischen.
Leider ist der Antrag nicht an der Lösung der Probleme
orientiert und damit nicht in der Lage, den vor dem
Verlust ihrer Arbeitsplätze stehenden Beschäftigten zu
helfen. Die Fraktion Die Linke unterbreitet dem Deutschen Bundestag Vorschläge, die keinen Beitrag zur
Lösung des konkreten Problems bieten.
Zu allererst hätte die Finanzierung der Transfergesellschaft geklärt werden müssen. Die Bundesregierung
ist durch ihr zögerliches Verhalten und die Weigerung
des Wirtschaftsministers, konstruktiv an einer Lösung
für das Gesamtunternehmen Schlecker mitzuarbeiten,
ihrer Mitverantwortung für die über 25 000 Arbeitnehmerwinnen und Arbeitnehmer nicht gerecht geworden.
Auch die Linke machte hier keinen konkreten Versuch,
zur Lösung des Problems beizutragen. Der Insolvenzverwalter und die Länder haben eine gemeinsame Lösung zur Absicherung einer Transfergesellschaft für die
Zu Protokoll gegebene Reden
bereits gekündigten Schlecker-Beschäftigten gesucht.
Diese ist heute gescheitert.
Die Fraktion der Linken verlangt in ihrem Antrag von
der Politik, ein Zukunftskonzept für das Unternehmen
Schlecker zu erarbeiten. Auch wenn man der Bundesregierung vorwerfen muss, ihrer Verantwortung für die
Weiterqualifizierung und -bildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht gerecht zu werden, so gilt
doch, dass es nicht Aufgabe der Politik ist, ein unternehmerisches Konzept für eine Einzelhandelskette auszuarbeiten. Sie wäre damit wohl auch überfordert.
Die Linke fordert in ihrem Antrag weiter die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung und die Einrichtung von Aufsichtsräten ab einer Betriebsgröße von
100 Beschäftigten. Wir brauchen in der Tat mehr demokratische Teilhabe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in ihren Unternehmen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat daher den Antrag „Demokratische Teilhabe
von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehmerischen Entscheidungen stärken“, Drucksache 17/2122,
schon am 16. Oktober 2010 vorgelegt, der den Schwellenwert für das Mitbestimmungsgesetz auf 1 000 Beschäftigte verringert. Die Linke hat im Ausschuss für
Arbeit und Soziales für unseren Antrag gestimmt. Hier
fordern Sie nun den Schwellenwert auf 100 Beschäftigte
zu legen. Eine belastbare Begründung dafür liefert sie
nicht. Sinnvoller scheint es mir hier, die Möglichkeiten
der Betriebsräte und ihrer Wirtschaftsausschüsse in mittelständischen Unternehmen auszuweiten.
Die Linke fordert einen Mindestlohn von 10 Euro die
Stunde. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche
Institut, WSI, der Hans-Böckler-Stiftung des DGB fordert in seinen Studien einen Mindestlohn von 8,50 Euro.
Von einem allgemeinen Mindestlohn in dieser Höhe
würden 15,8 Prozent aller Beschäftigten profitieren.
Wenn das DGB-eigene Institut einen Mindestlohn in dieser Höhe fordert, kann man natürlich trotzdem politisch
einen höheren fordern, setzt sich jedoch dem Verdacht
aus, einen Betrag zu nennen, der mehr an den Interessen
der eigenen Fraktion orientiert ist als an denen der circa
5 Millionen Betroffenen.
Der Antrag der Linken unter dem Titel „SchleckerVerkäuferinnen unterstützen - Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten - Einfluss der Beschäftigten stärken“
befasst sich mit einem Thema, das wir ja auch tagesaktuell in allen Medien finden. Das ist aber auch das
einzig Positive, was über den Antrag zu sagen ist. Ich
kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie mit
durchschaubaren Absichten den Fall des Unternehmens
Schlecker und der vielen Beschäftigten zur Grundlage
genommen haben, um Forderungen aufzustellen, die Sie
schon lange in den Schubladen haben und immer wieder
gerne hervorholen, die aber nichts mit dem konkreten
Fall zu tun haben.
Die Forderungen in Ihrem Antrag zielen auf eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes und des Mitbestimmungsrechts in Betrieben. Mit Ausnahme von zwei
Forderungen, bei denen wir inhaltlich allerdings auch
anderer Meinung sind, befasst sich Ihr Antrag überhaupt nicht mit der Situation bei Schlecker. Sie machen
hier Schaufensterpolitik, indem Sie ein aktuelles Thema
aufgreifen, aber keine Lösungen anbieten.
Wohl kein zweites Unternehmen hat uns in unserem
Arbeitsbereich in dieser Legislaturperiode so sehr beschäftigt wie das Unternehmen Schlecker. Immer wieder
haben wir von Schikanen gegenüber Mitarbeitern gehört und vor allem von Problemen im Umgang mit den
Betriebsräten. 2010 hat uns dann das Thema der Zeitarbeit bei Meniar, einer Tochtergesellschaft von Schlecker,
beschäftigt. Diese fragwürdige und politische nicht gewollte Konstruktion, bei der Mitarbeitern von Schlecker
gekündigt wurde, um sie dann zu einem niedrigeren
Lohn bei Meniar anzustellen und wieder an Schlecker zu
verleihen, hat diese christlich-liberale Koalition gesetzlich unterbunden.
Schlagzeilen machte Schlecker auch immer wieder
wegen Überfällen auf die Filialen. Die Geschäfte hatten
lange Zeit aus Spargründen nicht mal ein Telefon, bis
bei einem vereitelten Diebstahl eine Verkäuferin starb,
weil sie niemanden zu Hilfe rufen konnte.
All dies führt mich zu meiner Einschätzung, dass
Anton Schlecker zwar sein Unternehmen als eingetragener Kaufmann führte, aber sicher kein ehrbarer
Kaufmann war. Und es gehört zu einer sozialen Marktwirtschaft dazu, dass Unternehmen, die nicht erfolgreich sind, nicht dauerhaft bestehen. Schlecker hat sich
in den vergangenen Jahren durch sein Geschäftsmodell
selbst in Verruf gebracht, und die Menschen in unserem
Land wollten dieses Geschäftsmodell nicht mehr unterstützen und haben bei anderen Unternehmen eingekauft.
Das ist Marktwirtschaft.
Zur sozialen Marktwirtschaft gehört aber auch, dass
wir uns um die Beschäftigten von Schlecker kümmern.
Sie können nichts für die unternehmerischen Fehler und
sind jetzt die Leidtragenden. Die Verhandlungen über
eine Kreditbürgschaft der Länder zur Errichtung einer
Transfergesellschaft für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schlecker sind heute Nachmittag erfolglos beendet worden. Die Kollegen aus den Ländern Bayern,
Niedersachsen und Sachsen haben dafür gewichtige
Gründe vorgetragen. Vielfach wurde die mangelnde
Transparenz des Insolvenzverwalters angesprochen. Es
ist richtig, mit Steuergeldern sorgsam umzugehen, zumal
die Fälle Holzmann und Quelle gezeigt haben, dass eine
staatliche Unterstützung nicht automatisch erfolgversprechend ist.
Roland Pichler schreibt dazu heute in der „Stuttgarter Zeitung“ sehr treffend: „Zu einfach macht es sich die
Landespolitik, wenn sie den Bundeswirtschaftsminister
und die Länder mit FDP-Beteiligung als Buhmänner
brandmarkt. Diejenigen, die mit dem Scheck winken,
sind nicht automatisch die Guten. Hehre Motive helfen
bei Schlecker nicht weiter. An Bürgschaften müssen
hohe Anforderungen gestellt werden. Es geht dabei
schließlich um das Geld der Steuerzahler. Dass Schlecker im Rampenlicht steht, verdankt die Kette allein ihrer Größe. Bei kleinen Einzelhändlern und Handwerksbetrieben, von denen jeden Tag viele dichtmachen
Zu Protokoll gegebene Reden
müssen, schaut der Wirtschaftsminister nicht vorbei. Zur
Ordnungspolitik gehört die Gleichbehandlung. Nicht die
Großunternehmen schaffen die meisten Arbeitsplätze,
sondern der Mittelstand. Deshalb ist es falsch, die Großen ständig zu bevorzugen.“ Dieser Analyse schließe
ich mich uneingeschränkt an.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Schlecker möchte ich sagen, dass eine Transfergesellschaft
nicht die beste Alternative für sie ist. Hilmar Schneider,
der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit, hat
gestern auf eine Studie seines Instituts verwiesen, die besagt, dass Transfergesellschaften keine besseren Vermittlungsperspektiven bieten als die Bundesagentur für
Arbeit. Vielmehr würde die Bundesagentur eine schnelle
und kompetente Vermittlung in Arbeit gewährleisten,
weswegen er den Schlecker-Mitarbeitern rate, nicht in
eine Transfergesellschaft zu gehen. Zudem hat das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Raimund
Becker, heute erst wieder bestätigt, dass es gute Vermittlungschancen für die Schlecker-Beschäftigten gibt.
Derzeit gibt es nach Angaben der BA bundesweit
125 000 offene Stellen für Verkäufer und Verkäuferinnen. Allein im letzten Jahr sind 60 000 neue Stellen in
der Branche geschaffen worden.
Ich bin mir im Klaren darüber, welche Belastung die
derzeitige Situation für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schlecker darstellt, und bedauere dies sehr.
Der Antrag der Linken würde Ihnen aber auch nicht
dienlich sein. Als FDP setzen wir vielmehr auf eine
wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, die Arbeitsplätze entstehen lässt. So entstehen auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schlecker Perspektiven.
Ihnen wünsche ich alles Gute.
Was wir in den letzten Tagen und Wochen im Fall
Schlecker erlebt haben, ist kaum in Worte zu fassen.
Nachdem die Politik es zugelassen hat, das ein Großunternehmen wie eine Würstchenbude geführt wird und so
für die Schlecker-Pleite mitverantwortlich ist, wurden
die Schlecker-Beschäftigten von der Bundesregierung
und den meisten Landesregierungen hingehalten. Am
Ende wurde ihnen die Hilfe verweigert. Das ist ein Armutszeugnis. Milliarden flossen für die Banken, der Exbundespräsident Christian Wulff erhält bis an sein Lebensende einen Ehrensold, aber die Politik schafft es
nicht, einen Kredit von 70 Millionen Euro zur Verfügung
zu stellen. Die Bundesregierung mit einer Frau an der
Spitze der Regierung und des verantwortlichen Ministeriums hat sich geweigert, die staatseigene Kreditanstalt
für Wiederaufbau anzuweisen, eine Bürgschaft für die
Transfergesellschaft zu übernehmen. Damit stellt die
Bundesregierung unter Beweis, dass ihr Frauenarbeitsplätze in den Dienstleistungsberufen weniger wert sind.
Es geht hier nicht um Anton Schlecker. Er und seine
Familie fallen weich. Zehntausende Beschäftigte, die für
diese Familie den Rücken krumm gemacht haben, müssen um ihre Existenz bangen. Die Bundesregierung behauptet, dass die Schlecker-Frauen gute Chancen auf
dem Arbeitsmarkt haben, und verweist auf 25 000 offene
Stellen in den Verkaufsberufen. Sie verschweigt, dass in
dieser Berufssparte zugleich bereits über 300 000 Menschen arbeitslos gemeldet sind.
Die Bundesregierung behauptet, dass es keinen Sinn
macht, mit öffentlichen Geldern die Arbeitsplätze bei
Schlecker zu fördern. Sie verschweigt aber, dass auch
Arbeitslosigkeit die Gesellschaft Geld kostet. Bis zu
113 Millionen Euro können es sein, unterstellt man, dass
jede zweite Beschäftigte, die bei Schlecker ihren Arbeitsplatz verliert, keinen neuen Job findet. Die dreisteste
Lüge, die Vertreter von FDP und Union verbreiteten, ist,
die Politik habe mit der Schlecker-Pleite nichts zu tun;
sie sei ein Ergebnis der Marktwirtschaft.
Die Wahrheit ist: Die Politik hat die gesetzlichen Regelungen zu verantworten, nachdem Anton Schlecker
ein Unternehmen mit Zehntausenden Beschäftigten wie
eine Würstchenbude führen konnte. Schlecker meldete
sein Unternehmen als „eingetragener Kaufmann“ an.
So konnte er die für Großunternehmen sonst üblichen
Vorschriften zur Rechungsführung und einer Kontrolle
durch einen Aufsichtsrat umgehen. Als „eingetragener
Kaufmann“ war Anton Schlecker auch nicht verpflichtet, Insolvenz anzumelden, und kann nicht für eine Insolvenzverschleppung strafrechtlich belangt werden. Das
alles hat die Politik zu verantworten, denn sie macht die
Gesetze. Auch deshalb steht sie in einer besonderen
Pflicht, sich für den Erhalt der Arbeitsplätze einzusetzen.
Unsere Forderungen sind klar. Erstens. Der Gesetzgeber ist gefordert, alle Schlupflöcher zu schließen, mit
denen Großunternehmen einer umfassenden Transparenzpflicht und Kontrolle entgehen können. Dazu muss
auch eine Stärkung der Mitbestimmung der Beschäftigten gehören. Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten müssen zwingend einen Aufsichtsrat einrichten, der
zur Hälfte aus Vertretern der Beschäftigten besteht.
Zweitens. Nach dem Scheitern der Transfergesellschaft brauchen wir ein alternatives Zukunftskonzept für
Schlecker, das zusammen mit den Beschäftigten und beteiligten Akteuren wie zum Beispiel den Kommunen entwickelt werden kann. Statt Kahlschlag zu betreiben,
muss es darum gehen, möglichst viele Filialen und Arbeitsplätze zu erhalten. Ein mögliches neues Unternehmensmodell ist auch mit staatlichen Geldern zu unterstützen, sofern die Belegschaft Einfluss auf die
Geschäftspolitik bekommt. Es geht bei der Unternehmensrettung um Zehntausende Beschäftigte und ihre Familien, nicht um Anton Schlecker.
Die FDP hat null Erfolg bei Wahlen und schafft es
nicht mehr in die Parlamente, aber da, wo sie noch
mitzureden hat, exekutiert sie mit letzter Kraft eine brachiale Marktwirtschaft und verhindert die Einrichtung
einer Transfergesellschaft für die entlassenen SchleckerBeschäftigten. Das ist unterlassene Hilfeleistung. Ich
finde es skandalös, dass die Union nicht eingegriffen hat
und die FDP auf den Pfad der Tugend zurückgeführt
hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Anfang März war in der „Süddeutschen Zeitung“ zu
lesen, dass Bundesarbeitsministerin von der Leyen „bis
Ende der Woche“ - das war vor drei Wochen - Klarheit
über die Einrichtung einer Transfergesellschaft schaffen
will. Frau Connemann von der CDU-Fraktion hat in der
Plenardebatte hier im Bundestag am 8. März gesagt:
„Wir in der Union werden dafür sorgen, dass Gelder für
diese Transfergesellschaft bereitstehen.“ Und auch Herr
Seehofer hat immer wieder dicke Backen gemacht und
Unterstützung angekündigt. Aber offenbar ist verlassen,
wer sich auf die Union verlässt.
Ich frage mich: Warum haben die CDU-Ministerpräsidenten aus Niedersachsen und aus Sachsen dem
Marktradikalentreiben ihrer FDP-Wirtschaftsminister
keinen Riegel vorgeschoben, warum hat Bundesarbeitsministerin von der Leyen nicht ernsthaft interveniert, und
warum hat sich Bundeskanzlerin Merkel nicht vor die
Schlecker-Frauen gestellt, so wie vor die Opel-Männer?
Wer es auch nur im Entferntesten ernst meint mit
Gerechtigkeit und mit der sozialen Marktwirtschaft, der
hätte die Opfer der Schlecker-Pleite mit aller Kraft
unterstützen und zusätzliche Qualifizierungsoptionen
für sie schaffen müssen. Genau dafür wäre die Einrichtung von Transfergesellschaften ein wichtiger Baustein
gewesen, auch wenn sie natürlich kein Allheilmittel sind.
Es ging nicht darum, das miserable Geschäftsmodell des
Schlecker-Patriarchen zu retten, sondern es ging darum,
neue Chancen für diejenigen zu eröffnen, die all die
Jahre unter dem Missmanagement gelitten haben und
die jetzt vor dem Nichts stehen. Für sie hätte die Politik
mit Bürgschaften für einen Massekredit in die Bresche
springen müssen. Und es ist übrigens nicht so, dass
Beschäftigte in mittelständischen Unternehmen keine
öffentliche Unterstützung bekommen. Ich erinnere hier
nur an das Programm WeGebAU, mit dem vor allem die
Qualifizierung von Beschäftigten in kleinen und mittelständischen Betrieben gefördert wird.
Bei der Hilfe für die Schlecker-Frauen ging es um
eine Bürgschaft in Höhe von circa 70 Millionen Euro.
Das ist kein Pappenstiel, und bei der Verwendung von
Geldern der Steuerzahler müssen Kosten und Nutzen
selbstverständlich sorgfältig abgewogen werden. Aber:
Diese 70 Millionen sind nur ein Bruchteil dessen, was
an Kohlesubventionen für den Bergbau, als Abwrackprämie zur Unterstützung der Autobauer oder für die
Bankenrettung verausgabt wurde. Wohlgemerkt, ich
finde diese staatlichen Unterstützungsmaßnahmen nicht
alle falsch; sie waren aber auch nicht alle richtig. Schon
gar nicht waren oder sind sie vereinbar mit einer Ideologie des freien Spiels der Märkte.
Daher ist es aus meiner Sicht in keiner Weise verhältnismäßig, wenn bei drohendem Verlust von Männerarbeitsplätzen in den Industriebranchen mit Milliardensummen eingegriffen wird, aber wenn es um Frauenjobs
im Dienstleistungssektor geht, ein Riesengezänk um die
reine Lehre des Wettbewerbs losgeht mit dem Ergebnis,
dass man die Frauen, die jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren, eiskalt abserviert. Das ist nicht gerecht und tendenziell diskriminierend. Darum fordere ich, dass es in
Deutschland nicht nur den gleichen Lohn für gleiche
Arbeit geben muss, sondern auch die gleiche Hilfestellung für Männer und Frauen, wenn es um den Erhalt von
Arbeitsplätzen geht.
Jetzt hat sich die FDP-Männerriege gegen die Verkäuferinnen durchgesetzt. Diese Männer kämpfen im
Sinne einer falsch verstandenen Marktwirtschaft um die
letzten Wählerstimmen und ignorieren dabei vollkommen die Sorgen und Nöte der Menschen. Damit muss
Schluss sein. Der Politikwechsel für mehr Gerechtigkeit
ist überfällig.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9131, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8880 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen
- Drucksache 17/9150 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu
geben.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9150 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich recht herzlich für die gute Zusammenarbeit bei den letzten Tagesordnungspunkten.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. März 2012, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.