Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die gemeinsame Sitzung des Bundestages und des Bundesrates nach Art. 56
des Grundgesetzes.
Auch im Namen des Präsidenten des Bundesrates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland, die Besucher auf den Tribünen und die Zuschauer, die diese Veranstaltung an den Fernsehgeräten oder über das Internet
verfolgen. Ich heiße Sie alle herzlich willkommen.
Besonders herzlich begrüße ich Herrn Bundespräsidenten Dr. Joachim Gauck mit seiner Lebensgefährtin
Daniela Schadt und seinen Vorgänger im Amt, Herrn
Bundespräsidenten Christian Wulff, und seine Frau
Bettina sowie auf der Ehrentribüne die Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker, Professor Roman
Herzog und Professor Horst Köhler mit ihren Ehefrauen.
({0})
Ich begrüße die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela
Merkel, und das Kabinett und den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Voßkuhle.
Mit besonderer Freude heiße ich stellvertretend für
alle Ehrengäste den Staatssekretär beim polnischen Ministerpräsidenten und Beauftragten für den internationalen Dialog, Herrn Professor Bartoszewski, heute Morgen
im Deutschen Bundestag willkommen.
({1})
Verehrter Herr Bartoszewski, wir registrieren mit Respekt und Bewunderung, wie Sie sich auch vier Wochen
nach Ihrem 90. Geburtstag nach wie vor unermüdlich für
die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern einsetzen.
({2})
Meine Damen und Herren, die Vereidigung des Bundespräsidenten ist die erste und zugleich beste Gelegenheit, zweierlei zu verbinden: die guten Wünsche für das
neue Staatsoberhaupt und den Dank an den Vorgänger
im Amt. Für mich ist es auch und gerade mit Blick auf
die letzten Wochen ein Gebot der Redlichkeit wie der
politischen Kultur, Christian Wulff nicht nur für manche
nachwirkenden Initiativen und Impulse seiner Amtszeit
als Bundespräsident zu danken, sondern zugleich auch
für das, was er in drei Jahrzehnten politischer Arbeit für
seine Heimatstadt, für Niedersachsen und für unser Land
geleistet hat.
({3})
Das eingeübte Zusammenwirken von Bundestag und
Bundesrat mit verteilten Rollen zeigt sich heute in der
Verständigung darüber, dass ich mich zunächst an den
neuen, heute zu vereidigenden Bundespräsidenten wenden werde, dann im Anschluss der Herr Bundesratspräsident sich an dessen Vorgänger Christian Wulff.
Meine Damen und Herren, wir vereidigen heute den
elften deutschen Bundespräsidenten, den ersten, der
nicht aus dem Westen kommt und nicht direkt aus einem
anderen hohen politischen Amt. Es zeigt den eben doch
unaufhaltsamen Fortschritt der inneren Einheit unseres
geeinten Landes, dass Joachim Gauck das erste Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist, das in
der DDR aufgewachsen ist. Zum Verständnis seines bisherigen öffentlichen Wirkens ist seine Erfahrung des
Lebens unter den Bedingungen von Diktaturen nicht
wegzudenken. Joachim Gauck weiß aus eigener Anschauung, was ein Leben in Gängelung, Bevormundung
und Unfreiheit bedeutet und was die Kraft der Freiheit
vermag.
Sehr verehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr
Dr. Gauck, als Sie am 18. März 1990 bei der ersten
freien Wahl zur Volkskammer Ihre Stimme abgaben, da
sei, so haben Sie gesagt,
alle Freiheit Europas in das Herz des Einzelnen gekommen. Ich wusste: Nie, nie und nimmer wirst du
auch nur eine Wahl versäumen.
Diesen Satz haben Sie feierlich bekräftigt, als Sie,
22 Jahre später, in der Bundesversammlung selbst zur
Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert
Wahl standen - für das höchste Amt, das unser Land zu
vergeben hat. Vor wenigen Tagen wurden Sie mit überwältigender Mehrheit zum elften Bundespräsidenten der
Bundesrepublik Deutschland gewählt.
Sie haben seit Wiederherstellung der deutschen Einheit stets dafür geworben, statt - Zitat - „Trübsal zu blasen“, sich über die gewonnene Einheit in Freiheit dankbar
zu freuen. Heute, lieber Herr Gauck, freuen sich viele in
unserem Land mit Ihnen. Ihre Wahl ausgerechnet am
18. März ist mehr als eine hübsche Pointe. Mit Ihrer Wahl
und Vereidigung zum Staatsoberhaupt schreibt die deutsche Einheitsgeschichte vielmehr ein weiteres, neues Kapitel.
Herr Bundespräsident, als erster Bundesbeauftragter
für die Stasi-Unterlagen haben Sie konsequent zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit den Mitteln des Rechtsstaates beigetragen. Dabei ist Ihnen und Ihren Mitarbeitern, den Beteiligten wie Betroffenen die Erfahrung
nicht erspart geblieben, dass der Rechtsstaat vieles leisten kann, aber seinen Prinzipien folgend selbst gesetzte
Grenzen respektieren muss, die nicht selten das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen verletzen. Für Sie
war es dabei stets handlungsleitend, wo immer möglich,
zurückzugeben oder wiederherzustellen, was in der Diktatur vielen genommen worden war: die Würde des
Menschen. Sie ist es, was zu Ihrem Lebensthema wurde,
als Pfarrer, Bürgerrechtler und als politisch denkender
und handelnder Mensch.
Die Würde des Menschen umfasst beileibe nicht nur,
aber doch wesentlich die Freiheit. Politisch bedeutet sie
in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft, dass es neben dem eigenen Standpunkt stets auch andere berechtigte und gut begründete Meinungen geben darf. Freie
Gesellschaften erlauben nicht nur Widerspruch, sie brauchen ihn.
Demokratie ist gerade kein Verfahren zur Vermeidung
von Streit, sondern ein Verfahren zur fairen Austragung
unterschiedlicher Interessen und Meinungen. Auch ein
Bundespräsident, der von einem großen Konsens getragen wird, kann den unverzichtbaren Grundkonsens für
den legitimen Streit in unserer Gesellschaft nicht alleine
stiften und bewahren, ohne den es keine stabile und lebendige Demokratie gibt, aber er kann durch die Autorität seines Amtes und seiner Person wesentlich dazu beitragen.
In einem Vortrag vor genau einem Jahr hat Joachim
Gauck festgehalten, dass wir - ich darf ihn zitieren - „so
gerne eine letzte Autorität“ hätten, „die wir anrufen können bei all diesen Streitfragen, wenn sich unsere Parteien
und Politiker nicht einigen. Aber ebendiese Unsicherheit
müssen wir aushalten.“ Tatsächlich ist in unserem demokratischen Gemeinwesen für eine solche letzte Autorität
kein Platz. Das gilt sogar für das Amt des Bundespräsidenten.
Lieber Herr Gauck, es ist gut, dass Sie gleich nach Ihrer Nominierung gesagt haben, Sie seien weder ein Supermann noch ein fehlerloser Mensch. Das eine ist so
beruhigend wie das andere.
({4})
Mit diesem Bekenntnis, das vielleicht manche überrascht hat,
({5})
haben Sie in Erinnerung gerufen, dass zu den notwendigen Voraussetzungen für die Übernahme einer politischen Funktion keine übermenschlichen Fähigkeiten gehören. Ämter werden von Menschen ausgefüllt, die mit
dem Amt zwar Verantwortung übernehmen, aber durch
das Amt weder unfehlbar noch unantastbar werden. Einen Anspruch auf Respekt und Würde haben im demokratischen Rechtsstaat nicht nur Staatsoberhäupter; aber
dieser selbstverständliche Anspruch muss sicher auch
für diejenigen gelten, die - durch Wahlen legitimiert für begrenzte Zeit hohe Ämter in diesem und für diesen
Staat ausüben.
({6})
Herr Bundespräsident, Sie werden getragen von einer
Woge der Sympathie. Es ist Ihnen und Ihrem Amt zu
wünschen, dass dies so bleibt - nicht nur am Beginn einer fünfjährigen Amtszeit. Die Erwartungen, die an das
Amt gestellt werden, sind hoch. Und die Hoffnungen,
die sich auf Ihre Person richten, sind vielleicht noch größer. Wer ein Amt übernimmt, braucht das Vertrauen der
Menschen, die er vertreten soll. Sie, lieber Herr Gauck,
sehr geehrter Herr Bundespräsident, genießen dieses
Vertrauen, und wir alle wünschen Ihnen bei Ihrer Amtsführung alles Gute und vor allem eine stets glückliche
Hand zum Wohle der Menschen in unserem Land. Und
ganz persönlich wünsche ich Ihnen, dass Sie - jedenfalls
gelegentlich - auch Freude an der Wahrnehmung dieses
hohen Amtes haben.
Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, der
in den letzten Wochen die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrgenommen hat. Damit verband sich, wie
Sie, Herr Bundesratspräsident, lieber Herr Seehofer, bekannt haben, eine - Zitat - „schöne Erfahrung“ für die
eigene politische Tätigkeit - aber natürlich auch eine zusätzliche Arbeitsbelastung. Ihre Aufgaben haben Sie mit
bayrisch-präsidialer Souveränität fast unauffällig ausgeführt.
({7})
Dafür gebühren Ihnen unser Dank und unsere Anerkennung.
In diesem Hause, meine Herren Präsidenten, wird
nicht allzu häufig gelobt - schon gar nicht überparteilich. Deshalb genießen Sie alle miteinander diesen Tag.
Es kommen auch wieder andere.
({8})
Herr Bundesratspräsident.
Meine sehr verehrten Herren Präsidenten! Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin! Exzellenzen! Meine Damen
und Herren! Ich möchte in dieser gemeinsamen Sitzung
des Deutschen Bundestages und des Bundesrates Ihnen,
lieber Herr Bundespräsident Gauck, zuallererst im Namen des Bundesrates, der vollständig angetreten ist, zu
Präsident des Bundesrates Horst Seehofer
Ihrer Wahl herzlich gratulieren und Ihnen für Ihr Amt alles Gute wünschen.
({0})
Ich möchte zugleich Ihrem Vorgänger im Amt, Herrn
Bundespräsidenten Christian Wulff, und seiner Frau
Bettina Wulff danken.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Wulff, Sie haben
in Ihrer Amtszeit wichtige Impulse für Zusammenhalt
und Integration gesetzt, Impulse, die bleiben werden. Sie
haben immer wieder für den Dialog der Kulturen geworben. Es ging Ihnen um ein Deutschland, das offen für die
Vielfalt der Traditionen und Kulturen ist, das sich der
Welt zuwendet, um gemeinsame Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit voranzubringen. In
Erinnerung bleibt Ihr mutiges Eintreten für die Grundwerte einer offenen Gesellschaft, für Toleranz, für Religionsfreiheit, für die Menschenrechte im In- und Ausland. Lieber Herr Bundespräsident Wulff, ich danke
Ihnen für das, was Sie für Deutschland geleistet haben in unserem Land und in der ganzen Welt.
({1})
Verehrte Frau Wulff, mit Souveränität und Herzlichkeit haben Sie die Sympathie der Menschen in unserem
Lande gewonnen. Sie haben dem modernen Deutschland
ein Gesicht gegeben. Ihr soziales Engagement gehört zu
den besonderen Verdiensten, die ich hervorheben
möchte. Ich nenne nur Ihren Einsatz für Kinder in
schwierigen sozialen Lagen, Ihr Wirken für UNICEF
Deutschland und in vielen weiteren Stiftungen. Sie haben Ihre Aufgabe an der Seite des Bundespräsidenten
mit viel Herzblut und Überzeugungskraft zum Wohle der
Menschen in unserem Lande erfüllt. Auch Ihnen möchte
ich ganz herzlich für diesen Dienst danken.
({2})
Sehr verehrter Herr Bundespräsident Gauck, lieber
Herr Gauck, im 23. Jahr nach dem Fall der Mauer ist
nach meiner Einschätzung Ihre Wahl ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte unseres Landes. Sie haben zu
unserem Vaterland eine ganz besondere, aus Ihrer Lebensgeschichte gewachsene tiefe Beziehung. Sie stehen
heute wie kaum ein Zweiter für den Satz der friedlichen
Revolution 1989 „Wir sind ein Volk!“.
Sie sind für viele ein Vorbild, eine Identifikationsfigur. Sie werben bekanntlich für Freiheit und Verantwortung, wo immer Sie können; eine Freiheit, die sich an
das Gemeinwohl bindet, eine Freiheit zur Verantwortung, ohne die eine menschliche Gemeinschaft nicht vorstellbar ist, eine Freiheit, die mit Freude und Tatkraft erfüllt wird. Es ist unser aller Auftrag, die Fackel dieser
Freiheit an kommende Generationen weiterzugeben.
Lieber Herr Gauck, Sie stehen für Mut und Zukunftsoptimismus. Sie glauben an die Kraft des Einzelnen und die Stärke der Menschen. Sie stehen für Zutrauen statt Misstrauen. Sie stehen für Respekt und den
würdevollen Umgang miteinander. Genau deshalb sind
Sie mit überwältigender Mehrheit zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden.
Unsere Hoffnungen begleiten Sie zum Amtsantritt als
Staatsoberhaupt des ganzen, des vereinten Vaterlandes.
Ich erlaube mir noch einen zarten Hinweis aus der
Sicht der Bundesländer, des Bundesrates: Deutschlands
Stärke liegt in seiner regionalen Vielfalt und in der Eigenständigkeit seiner Länder.
({3})
- Das ist ein praktiziertes Minderheitenrecht in diesem
Hause.
({4})
Deshalb wiederhole ich: Deutschlands Stärke liegt in
seiner regionalen Vielfalt und in der Eigenständigkeit
seiner Länder. Die föderale Ausrichtung des Präsidialamtes, die Zusammensetzung der Bundesversammlung
und die Bestimmungen zur Vereidigung des Staatsoberhauptes sind ein klares Bekenntnis zur föderalen Vielfalt.
Der Bundespräsident, lieber Herr Gauck, wird von
den Menschen in allen Ländern getragen. Ich wünsche
Ihnen im Namen des Bundesrates aus tiefem Herzen
Glück, Erfolg und Gottes Segen.
({5})
Vielen Dank, Herr Bundesratspräsident.
Meine Damen und Herren, am 18. März dieses Jahres
hat die Bundesversammlung Herrn Dr. h. c. Joachim
Gauck zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik
Deutschland gewählt. Herr Dr. Gauck hat vor der Bundesversammlung die Wahl angenommen und damit das
Amt des Bundespräsidenten angetreten.
Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten
Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den
vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsident, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten, und darf
auch den Herrn Bundesratspräsidenten dazubitten.
({0})
Herr Bundespräsident, ich halte in meinen Händen die
Urschrift unseres Grundgesetzes und darf Sie bitten, den
in Art. 56 vorgesehenen Eid zu leisten.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herzlichen Dank und alle guten Wünsche!
({0})
Herr Bundespräsident, Sie haben den vom Grundgesetz vorgesehenen Eid geleistet. Das Haus, alle anwesen20082
Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert
den Mitglieder von Bundestag und Bundesrat, auch die
Gäste, begleiten Sie mit ihren zum Ausdruck gebrachten
guten Wünschen. Wir freuen uns nun auf Ihre Ansprache.
Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem In- und Ausland!
Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen
Dank für die unnachahmliche Führung dieser Sitzung
und für das leuchtende Beispiel in unser Land hinein,
dass Politik Freude machen kann.
({0})
Herr Bundesratspräsident, Sie haben Worte gefunden,
die bei mir und sicher auch bei Herrn Bundespräsidenten
Wulff ein tiefes und nachhaltiges Echo hinterlassen haben. Ich danke Ihnen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie soll es denn
nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und
Enkel einmal sagen sollen „unser Land“? Geht die Vereinzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die
Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer
fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten?
Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die
europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein
neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in
Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden?
Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt
eine Fülle neuer Ängste und Sorgen hervor. Manche ersinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein
Lebensthema Freiheit ist dann für sie keine Verheißung,
kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung. Ich verstehe diese Reaktion, doch ich will ihr keinen Vorschub
leisten. Ängste - so habe ich es gelernt in einem langen
Leben - vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides
ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für
Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im
politischen Raum.
Stattdessen - da ich das nicht will - will ich meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns
zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine
lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land
nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges gelungen ist. In
Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Erstes den Namen „Wirtschaftswunder“. Deutschland kam
wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten, erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden
Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße.
Allerdings sind für mich die Autos, die Kühlschränke
und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das
Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land
vor allem als ein Land des „Demokratiewunders“. Anders als es die Alliierten damals nach dem Kriege fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken
nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde
keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen
eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland West
wurde Teil der freien westlichen Welt.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte
in dieser Zeit blieb allerdings defizitär. Die Verdrängung
eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern
des Naziregimes prägten den damaligen Zeitgeist. Erst
die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals
war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation
unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen
unsere Nachbarn im Inneren wie im Äußeren vergingen.
Es war und blieb das Verdienst dieser Generation, der
68er: Es war ein mühsam errungener Segen, sich neu,
anders und tiefer erinnern zu können. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er auch verbunden haben, hat sie die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt.
({1})
Diese auf Fakten basierende und an Werten orientierte
Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nicht nur richtungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland. Sie
wird auch als beispielhaft von vielen Gesellschaften
empfunden, die ein totalitäres oder despotisches Joch abgeschüttelt haben und nicht wissen, wie sie mit der Last
der Vergangenheit umgehen sollen.
Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa ist
ein weiteres kostbares Gut der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein Erinnerungsgut, das uns wichtig bleiben
sollte. Konrad Adenauer, Kanzler des Landes, das eben
noch geprägt und dann ruiniert war vom Nationalismus,
wird zu einem der Gründungsväter einer zukunftsgerichteten europäischen Integration. Dankbarkeit und Freude!
So wie später - 1989, dieser nächste Schatz in unserem Erinnerungsgut. Da waren die Ostdeutschen zu einer friedlichen Revolution imstande, zu einer friedlichen
Freiheitsrevolution. Wir wurden das Volk, und wir wurden ein Volk. Und nie vergessen: Vor dem Fall der
Mauer mussten sich die vielen ermächtigen. Erst wenn
die Menschen aufstehen und sagen: „Wir sind das Volk“,
werden sie sagen können: „Wir sind ein Volk“, werden
die Mauern fallen.
({2})
Damals wurde auf ganz unblutige Weise auch der jahrzehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des
Kalten Krieges gelöscht, und die aus ihr erwachsende
Kriegsgefahr wurde besiegt und beseitigt.
Wenn ich so spreche, ist der Sinn dessen, dass ich
nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versagen sprechen möchte. Auch jener Teil unserer Geschichte
darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer
politischen Kultur der Freiheit, die gelebte VerantworBundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck
tung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres
Volkes umfasst. Das ist kein Paradigmenwechsel in der
Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung.
Sie soll uns ermutigen: Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit
anzunehmen und sie nach besten Kräften - wenn auch
nicht gleich ideal - zu lösen, das ist eine große Ermutigung auch für uns in der Zukunft.
({3})
Wie soll es nun also aussehen, dieses Land, zu dem
unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen? Es soll
„unser Land“ sein, weil „unser Land“ soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg
dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik,
sondern der eines Sozialstaates, der vorsorgt und ermächtigt. Wie dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen
den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht
mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt,
wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht
dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien
nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder
behindert sind.
Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn was Gerechtigkeit - auch soziale Gerechtigkeit - bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näherzukommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, nur
in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte
klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit
unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die
Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr
Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten
Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. „Unser Land“ muss also ein
Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung
für Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.
({4})
Sodann: In „unserem Land“ sollen auch alle zu Hause
sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche
deutschsprachige und christliche Tradition Religionen
wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich
immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner
Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit
entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen
bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren
Staat in Europa.
({5})
Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unseren
Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in
Solidarität miteinander leben wollen.
Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus
Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen
Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat
bereits Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner
Rede vor zwölf Jahren eindrücklich und deutlich hingewiesen. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir
uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und
negativen Projektionen leiten lassen. Für eine einladende,
offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff
in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr
Bundespräsident Wulff, dieses Ihr Anliegen wird auch
mir beständig am Herzen liegen.
({6})
Unsere Verfassung, meine Damen und Herren, spricht
allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen,
woher sie kommen, woran sie glauben oder welche
Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung
für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch
nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere
Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und
berechtigt zur Teilhabe wie wir.
({7})
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht,
nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine „wahre Schule“ des Miteinanders auf engstem Raum. „Mit dem Anderen leben, als
der Andere des Anderen leben“ - darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Europa gilt es nun ebenfalls zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des
Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das
europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem
der Solidarität nicht gestaltbar.
({8})
Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr
Europa wagen.
({9})
Mit Freude sehe ich, dass gerade auch die Mehrheit der
Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und
weiter Zukunft gibt.
Europa war für meine Generation Verheißung - aufbauend auf abendländischen Traditionen, dem antiken
Erbe einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christlichen und jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa
längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Lebenswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn.
Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen sollen? Nicht
nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus
ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete
System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen
auszugleichen.
({10})
Bundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck
Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkommenheit, sondern dass es sich um ein lernfähiges System
handelt.
Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer
Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen
Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber
auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie
und gleichen Mängel aus. Und: Anders als die Demokratie von Weimar verfügt unser Land über genügend Demokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen
und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen - aus unterschiedlichen politischen oder religiösen Gründen -:
Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir
stehen zu diesem Land.
({11})
Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen
ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben.
Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer
Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass
ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich.
({12})
Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet
Vergangenheit sein, und unsere Demokratie wird leben.
({13})
Die Extremisten anderer politischer Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel
der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und
die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker
ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet den Zug
vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr
ihn nicht.
({14})
Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen
Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. „Was?“, so hören wir
es oft im privaten Raum, „du gehst zur Sitzung eines
Ortsvereins?“ „Wie bitte, du bist aktiv in einer Gewerkschaft?“ Manche finden das dann „uncool“. Ich frage
mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft
ohne derlei Aktivitäten?
({15})
Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz.
Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen
und klar, dann kann verlorengegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden.
({16})
Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid
nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer
ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins - Verantwortung zu leben.
({17})
Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten - um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um
Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um
Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung
tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern
dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen
Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie alle, mutig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in
sich selbst zu setzen. Nach einem Wort Gandhis kann
nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte machen
und Erfolge haben. Dies gilt für einen Menschen wie für
ein Land, so Gandhi.
Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes Geld
oder Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber
dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, davon haben wir nicht nur geträumt, das haben wir gelebt und gezeigt. Gott und den
Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten.
({18})
Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident. - Für die
Wahrnehmung Ihrer Aufgaben in den kommenden Jahren wünsche ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses die
Autorität dieses Amtes, eine glückliche Hand, das Vertrauen der Menschen und vor allem Gottes Segen.
Wir singen nun unsere Nationalhymne.
({0})
Mit den besten Wünschen für ein hoffentlich noch gemütlicheres Wochenende schließe ich die gemeinsame
Sitzung von Bundestag und Bundesrat.
In einer halben Stunde ist wieder Alltag. Ich berufe
die nächste Sitzung des Bundestages ein für heute,
10.30 Uhr.
Diese Sitzung ist geschlossen.
({1})