Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/23/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die gemeinsame Sitzung des Bundestages und des Bundesrates nach Art. 56 des Grundgesetzes. Auch im Namen des Präsidenten des Bundesrates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland, die Besucher auf den Tribünen und die Zuschauer, die diese Veranstaltung an den Fernsehgeräten oder über das Internet verfolgen. Ich heiße Sie alle herzlich willkommen. Besonders herzlich begrüße ich Herrn Bundespräsidenten Dr. Joachim Gauck mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt und seinen Vorgänger im Amt, Herrn Bundespräsidenten Christian Wulff, und seine Frau Bettina sowie auf der Ehrentribüne die Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker, Professor Roman Herzog und Professor Horst Köhler mit ihren Ehefrauen. ({0}) Ich begrüße die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, und das Kabinett und den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Voßkuhle. Mit besonderer Freude heiße ich stellvertretend für alle Ehrengäste den Staatssekretär beim polnischen Ministerpräsidenten und Beauftragten für den internationalen Dialog, Herrn Professor Bartoszewski, heute Morgen im Deutschen Bundestag willkommen. ({1}) Verehrter Herr Bartoszewski, wir registrieren mit Respekt und Bewunderung, wie Sie sich auch vier Wochen nach Ihrem 90. Geburtstag nach wie vor unermüdlich für die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern einsetzen. ({2}) Meine Damen und Herren, die Vereidigung des Bundespräsidenten ist die erste und zugleich beste Gelegenheit, zweierlei zu verbinden: die guten Wünsche für das neue Staatsoberhaupt und den Dank an den Vorgänger im Amt. Für mich ist es auch und gerade mit Blick auf die letzten Wochen ein Gebot der Redlichkeit wie der politischen Kultur, Christian Wulff nicht nur für manche nachwirkenden Initiativen und Impulse seiner Amtszeit als Bundespräsident zu danken, sondern zugleich auch für das, was er in drei Jahrzehnten politischer Arbeit für seine Heimatstadt, für Niedersachsen und für unser Land geleistet hat. ({3}) Das eingeübte Zusammenwirken von Bundestag und Bundesrat mit verteilten Rollen zeigt sich heute in der Verständigung darüber, dass ich mich zunächst an den neuen, heute zu vereidigenden Bundespräsidenten wenden werde, dann im Anschluss der Herr Bundesratspräsident sich an dessen Vorgänger Christian Wulff. Meine Damen und Herren, wir vereidigen heute den elften deutschen Bundespräsidenten, den ersten, der nicht aus dem Westen kommt und nicht direkt aus einem anderen hohen politischen Amt. Es zeigt den eben doch unaufhaltsamen Fortschritt der inneren Einheit unseres geeinten Landes, dass Joachim Gauck das erste Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist, das in der DDR aufgewachsen ist. Zum Verständnis seines bisherigen öffentlichen Wirkens ist seine Erfahrung des Lebens unter den Bedingungen von Diktaturen nicht wegzudenken. Joachim Gauck weiß aus eigener Anschauung, was ein Leben in Gängelung, Bevormundung und Unfreiheit bedeutet und was die Kraft der Freiheit vermag. Sehr verehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr Dr. Gauck, als Sie am 18. März 1990 bei der ersten freien Wahl zur Volkskammer Ihre Stimme abgaben, da sei, so haben Sie gesagt, alle Freiheit Europas in das Herz des Einzelnen gekommen. Ich wusste: Nie, nie und nimmer wirst du auch nur eine Wahl versäumen. Diesen Satz haben Sie feierlich bekräftigt, als Sie, 22 Jahre später, in der Bundesversammlung selbst zur Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert Wahl standen - für das höchste Amt, das unser Land zu vergeben hat. Vor wenigen Tagen wurden Sie mit überwältigender Mehrheit zum elften Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Sie haben seit Wiederherstellung der deutschen Einheit stets dafür geworben, statt - Zitat - „Trübsal zu blasen“, sich über die gewonnene Einheit in Freiheit dankbar zu freuen. Heute, lieber Herr Gauck, freuen sich viele in unserem Land mit Ihnen. Ihre Wahl ausgerechnet am 18. März ist mehr als eine hübsche Pointe. Mit Ihrer Wahl und Vereidigung zum Staatsoberhaupt schreibt die deutsche Einheitsgeschichte vielmehr ein weiteres, neues Kapitel. Herr Bundespräsident, als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen haben Sie konsequent zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit den Mitteln des Rechtsstaates beigetragen. Dabei ist Ihnen und Ihren Mitarbeitern, den Beteiligten wie Betroffenen die Erfahrung nicht erspart geblieben, dass der Rechtsstaat vieles leisten kann, aber seinen Prinzipien folgend selbst gesetzte Grenzen respektieren muss, die nicht selten das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen verletzen. Für Sie war es dabei stets handlungsleitend, wo immer möglich, zurückzugeben oder wiederherzustellen, was in der Diktatur vielen genommen worden war: die Würde des Menschen. Sie ist es, was zu Ihrem Lebensthema wurde, als Pfarrer, Bürgerrechtler und als politisch denkender und handelnder Mensch. Die Würde des Menschen umfasst beileibe nicht nur, aber doch wesentlich die Freiheit. Politisch bedeutet sie in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft, dass es neben dem eigenen Standpunkt stets auch andere berechtigte und gut begründete Meinungen geben darf. Freie Gesellschaften erlauben nicht nur Widerspruch, sie brauchen ihn. Demokratie ist gerade kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, sondern ein Verfahren zur fairen Austragung unterschiedlicher Interessen und Meinungen. Auch ein Bundespräsident, der von einem großen Konsens getragen wird, kann den unverzichtbaren Grundkonsens für den legitimen Streit in unserer Gesellschaft nicht alleine stiften und bewahren, ohne den es keine stabile und lebendige Demokratie gibt, aber er kann durch die Autorität seines Amtes und seiner Person wesentlich dazu beitragen. In einem Vortrag vor genau einem Jahr hat Joachim Gauck festgehalten, dass wir - ich darf ihn zitieren - „so gerne eine letzte Autorität“ hätten, „die wir anrufen können bei all diesen Streitfragen, wenn sich unsere Parteien und Politiker nicht einigen. Aber ebendiese Unsicherheit müssen wir aushalten.“ Tatsächlich ist in unserem demokratischen Gemeinwesen für eine solche letzte Autorität kein Platz. Das gilt sogar für das Amt des Bundespräsidenten. Lieber Herr Gauck, es ist gut, dass Sie gleich nach Ihrer Nominierung gesagt haben, Sie seien weder ein Supermann noch ein fehlerloser Mensch. Das eine ist so beruhigend wie das andere. ({4}) Mit diesem Bekenntnis, das vielleicht manche überrascht hat, ({5}) haben Sie in Erinnerung gerufen, dass zu den notwendigen Voraussetzungen für die Übernahme einer politischen Funktion keine übermenschlichen Fähigkeiten gehören. Ämter werden von Menschen ausgefüllt, die mit dem Amt zwar Verantwortung übernehmen, aber durch das Amt weder unfehlbar noch unantastbar werden. Einen Anspruch auf Respekt und Würde haben im demokratischen Rechtsstaat nicht nur Staatsoberhäupter; aber dieser selbstverständliche Anspruch muss sicher auch für diejenigen gelten, die - durch Wahlen legitimiert für begrenzte Zeit hohe Ämter in diesem und für diesen Staat ausüben. ({6}) Herr Bundespräsident, Sie werden getragen von einer Woge der Sympathie. Es ist Ihnen und Ihrem Amt zu wünschen, dass dies so bleibt - nicht nur am Beginn einer fünfjährigen Amtszeit. Die Erwartungen, die an das Amt gestellt werden, sind hoch. Und die Hoffnungen, die sich auf Ihre Person richten, sind vielleicht noch größer. Wer ein Amt übernimmt, braucht das Vertrauen der Menschen, die er vertreten soll. Sie, lieber Herr Gauck, sehr geehrter Herr Bundespräsident, genießen dieses Vertrauen, und wir alle wünschen Ihnen bei Ihrer Amtsführung alles Gute und vor allem eine stets glückliche Hand zum Wohle der Menschen in unserem Land. Und ganz persönlich wünsche ich Ihnen, dass Sie - jedenfalls gelegentlich - auch Freude an der Wahrnehmung dieses hohen Amtes haben. Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, der in den letzten Wochen die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrgenommen hat. Damit verband sich, wie Sie, Herr Bundesratspräsident, lieber Herr Seehofer, bekannt haben, eine - Zitat - „schöne Erfahrung“ für die eigene politische Tätigkeit - aber natürlich auch eine zusätzliche Arbeitsbelastung. Ihre Aufgaben haben Sie mit bayrisch-präsidialer Souveränität fast unauffällig ausgeführt. ({7}) Dafür gebühren Ihnen unser Dank und unsere Anerkennung. In diesem Hause, meine Herren Präsidenten, wird nicht allzu häufig gelobt - schon gar nicht überparteilich. Deshalb genießen Sie alle miteinander diesen Tag. Es kommen auch wieder andere. ({8}) Herr Bundesratspräsident.

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Meine sehr verehrten Herren Präsidenten! Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Ich möchte in dieser gemeinsamen Sitzung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates Ihnen, lieber Herr Bundespräsident Gauck, zuallererst im Namen des Bundesrates, der vollständig angetreten ist, zu Präsident des Bundesrates Horst Seehofer Ihrer Wahl herzlich gratulieren und Ihnen für Ihr Amt alles Gute wünschen. ({0}) Ich möchte zugleich Ihrem Vorgänger im Amt, Herrn Bundespräsidenten Christian Wulff, und seiner Frau Bettina Wulff danken. Sehr geehrter Herr Bundespräsident Wulff, Sie haben in Ihrer Amtszeit wichtige Impulse für Zusammenhalt und Integration gesetzt, Impulse, die bleiben werden. Sie haben immer wieder für den Dialog der Kulturen geworben. Es ging Ihnen um ein Deutschland, das offen für die Vielfalt der Traditionen und Kulturen ist, das sich der Welt zuwendet, um gemeinsame Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit voranzubringen. In Erinnerung bleibt Ihr mutiges Eintreten für die Grundwerte einer offenen Gesellschaft, für Toleranz, für Religionsfreiheit, für die Menschenrechte im In- und Ausland. Lieber Herr Bundespräsident Wulff, ich danke Ihnen für das, was Sie für Deutschland geleistet haben in unserem Land und in der ganzen Welt. ({1}) Verehrte Frau Wulff, mit Souveränität und Herzlichkeit haben Sie die Sympathie der Menschen in unserem Lande gewonnen. Sie haben dem modernen Deutschland ein Gesicht gegeben. Ihr soziales Engagement gehört zu den besonderen Verdiensten, die ich hervorheben möchte. Ich nenne nur Ihren Einsatz für Kinder in schwierigen sozialen Lagen, Ihr Wirken für UNICEF Deutschland und in vielen weiteren Stiftungen. Sie haben Ihre Aufgabe an der Seite des Bundespräsidenten mit viel Herzblut und Überzeugungskraft zum Wohle der Menschen in unserem Lande erfüllt. Auch Ihnen möchte ich ganz herzlich für diesen Dienst danken. ({2}) Sehr verehrter Herr Bundespräsident Gauck, lieber Herr Gauck, im 23. Jahr nach dem Fall der Mauer ist nach meiner Einschätzung Ihre Wahl ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte unseres Landes. Sie haben zu unserem Vaterland eine ganz besondere, aus Ihrer Lebensgeschichte gewachsene tiefe Beziehung. Sie stehen heute wie kaum ein Zweiter für den Satz der friedlichen Revolution 1989 „Wir sind ein Volk!“. Sie sind für viele ein Vorbild, eine Identifikationsfigur. Sie werben bekanntlich für Freiheit und Verantwortung, wo immer Sie können; eine Freiheit, die sich an das Gemeinwohl bindet, eine Freiheit zur Verantwortung, ohne die eine menschliche Gemeinschaft nicht vorstellbar ist, eine Freiheit, die mit Freude und Tatkraft erfüllt wird. Es ist unser aller Auftrag, die Fackel dieser Freiheit an kommende Generationen weiterzugeben. Lieber Herr Gauck, Sie stehen für Mut und Zukunftsoptimismus. Sie glauben an die Kraft des Einzelnen und die Stärke der Menschen. Sie stehen für Zutrauen statt Misstrauen. Sie stehen für Respekt und den würdevollen Umgang miteinander. Genau deshalb sind Sie mit überwältigender Mehrheit zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Unsere Hoffnungen begleiten Sie zum Amtsantritt als Staatsoberhaupt des ganzen, des vereinten Vaterlandes. Ich erlaube mir noch einen zarten Hinweis aus der Sicht der Bundesländer, des Bundesrates: Deutschlands Stärke liegt in seiner regionalen Vielfalt und in der Eigenständigkeit seiner Länder. ({3}) - Das ist ein praktiziertes Minderheitenrecht in diesem Hause. ({4}) Deshalb wiederhole ich: Deutschlands Stärke liegt in seiner regionalen Vielfalt und in der Eigenständigkeit seiner Länder. Die föderale Ausrichtung des Präsidialamtes, die Zusammensetzung der Bundesversammlung und die Bestimmungen zur Vereidigung des Staatsoberhauptes sind ein klares Bekenntnis zur föderalen Vielfalt. Der Bundespräsident, lieber Herr Gauck, wird von den Menschen in allen Ländern getragen. Ich wünsche Ihnen im Namen des Bundesrates aus tiefem Herzen Glück, Erfolg und Gottes Segen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Vielen Dank, Herr Bundesratspräsident. Meine Damen und Herren, am 18. März dieses Jahres hat die Bundesversammlung Herrn Dr. h. c. Joachim Gauck zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Herr Dr. Gauck hat vor der Bundesversammlung die Wahl angenommen und damit das Amt des Bundespräsidenten angetreten. Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsident, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten, und darf auch den Herrn Bundesratspräsidenten dazubitten. ({0}) Herr Bundespräsident, ich halte in meinen Händen die Urschrift unseres Grundgesetzes und darf Sie bitten, den in Art. 56 vorgesehenen Eid zu leisten.

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Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herzlichen Dank und alle guten Wünsche! ({0}) Herr Bundespräsident, Sie haben den vom Grundgesetz vorgesehenen Eid geleistet. Das Haus, alle anwesen20082 Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert den Mitglieder von Bundestag und Bundesrat, auch die Gäste, begleiten Sie mit ihren zum Ausdruck gebrachten guten Wünschen. Wir freuen uns nun auf Ihre Ansprache.

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Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem In- und Ausland! Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen Dank für die unnachahmliche Führung dieser Sitzung und für das leuchtende Beispiel in unser Land hinein, dass Politik Freude machen kann. ({0}) Herr Bundesratspräsident, Sie haben Worte gefunden, die bei mir und sicher auch bei Herrn Bundespräsidenten Wulff ein tiefes und nachhaltiges Echo hinterlassen haben. Ich danke Ihnen. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen „unser Land“? Geht die Vereinzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten? Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden? Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt eine Fülle neuer Ängste und Sorgen hervor. Manche ersinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein Lebensthema Freiheit ist dann für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung. Ich verstehe diese Reaktion, doch ich will ihr keinen Vorschub leisten. Ängste - so habe ich es gelernt in einem langen Leben - vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum. Stattdessen - da ich das nicht will - will ich meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges gelungen ist. In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Erstes den Namen „Wirtschaftswunder“. Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten, erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße. Allerdings sind für mich die Autos, die Kühlschränke und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land vor allem als ein Land des „Demokratiewunders“. Anders als es die Alliierten damals nach dem Kriege fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland West wurde Teil der freien westlichen Welt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit blieb allerdings defizitär. Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Naziregimes prägten den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen unsere Nachbarn im Inneren wie im Äußeren vergingen. Es war und blieb das Verdienst dieser Generation, der 68er: Es war ein mühsam errungener Segen, sich neu, anders und tiefer erinnern zu können. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er auch verbunden haben, hat sie die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt. ({1}) Diese auf Fakten basierende und an Werten orientierte Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nicht nur richtungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland. Sie wird auch als beispielhaft von vielen Gesellschaften empfunden, die ein totalitäres oder despotisches Joch abgeschüttelt haben und nicht wissen, wie sie mit der Last der Vergangenheit umgehen sollen. Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa ist ein weiteres kostbares Gut der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein Erinnerungsgut, das uns wichtig bleiben sollte. Konrad Adenauer, Kanzler des Landes, das eben noch geprägt und dann ruiniert war vom Nationalismus, wird zu einem der Gründungsväter einer zukunftsgerichteten europäischen Integration. Dankbarkeit und Freude! So wie später - 1989, dieser nächste Schatz in unserem Erinnerungsgut. Da waren die Ostdeutschen zu einer friedlichen Revolution imstande, zu einer friedlichen Freiheitsrevolution. Wir wurden das Volk, und wir wurden ein Volk. Und nie vergessen: Vor dem Fall der Mauer mussten sich die vielen ermächtigen. Erst wenn die Menschen aufstehen und sagen: „Wir sind das Volk“, werden sie sagen können: „Wir sind ein Volk“, werden die Mauern fallen. ({2}) Damals wurde auf ganz unblutige Weise auch der jahrzehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des Kalten Krieges gelöscht, und die aus ihr erwachsende Kriegsgefahr wurde besiegt und beseitigt. Wenn ich so spreche, ist der Sinn dessen, dass ich nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versagen sprechen möchte. Auch jener Teil unserer Geschichte darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer politischen Kultur der Freiheit, die gelebte VerantworBundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck tung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres Volkes umfasst. Das ist kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung. Sie soll uns ermutigen: Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie nach besten Kräften - wenn auch nicht gleich ideal - zu lösen, das ist eine große Ermutigung auch für uns in der Zukunft. ({3}) Wie soll es nun also aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen? Es soll „unser Land“ sein, weil „unser Land“ soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern der eines Sozialstaates, der vorsorgt und ermächtigt. Wie dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind. Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn was Gerechtigkeit - auch soziale Gerechtigkeit - bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näherzukommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, nur in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. „Unser Land“ muss also ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen. ({4}) Sodann: In „unserem Land“ sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa. ({5}) Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unseren Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen. Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat bereits Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede vor zwölf Jahren eindrücklich und deutlich hingewiesen. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten lassen. Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr Bundespräsident Wulff, dieses Ihr Anliegen wird auch mir beständig am Herzen liegen. ({6}) Unsere Verfassung, meine Damen und Herren, spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir. ({7}) Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht, nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine „wahre Schule“ des Miteinanders auf engstem Raum. „Mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben“ - darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Europa gilt es nun ebenfalls zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. ({8}) Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen. ({9}) Mit Freude sehe ich, dass gerade auch die Mehrheit der Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und weiter Zukunft gibt. Europa war für meine Generation Verheißung - aufbauend auf abendländischen Traditionen, dem antiken Erbe einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christlichen und jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Lebenswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn. Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen sollen? Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. ({10}) Bundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkommenheit, sondern dass es sich um ein lernfähiges System handelt. Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus. Und: Anders als die Demokratie von Weimar verfügt unser Land über genügend Demokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen - aus unterschiedlichen politischen oder religiösen Gründen -: Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir stehen zu diesem Land. ({11}) Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. ({12}) Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein, und unsere Demokratie wird leben. ({13}) Die Extremisten anderer politischer Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet den Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht. ({14}) Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. „Was?“, so hören wir es oft im privaten Raum, „du gehst zur Sitzung eines Ortsvereins?“ „Wie bitte, du bist aktiv in einer Gewerkschaft?“ Manche finden das dann „uncool“. Ich frage mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft ohne derlei Aktivitäten? ({15}) Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz. Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen und klar, dann kann verlorengegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden. ({16}) Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins - Verantwortung zu leben. ({17}) Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten - um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie alle, mutig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in sich selbst zu setzen. Nach einem Wort Gandhis kann nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte machen und Erfolge haben. Dies gilt für einen Menschen wie für ein Land, so Gandhi. Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes Geld oder Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, davon haben wir nicht nur geträumt, das haben wir gelebt und gezeigt. Gott und den Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident. - Für die Wahrnehmung Ihrer Aufgaben in den kommenden Jahren wünsche ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses die Autorität dieses Amtes, eine glückliche Hand, das Vertrauen der Menschen und vor allem Gottes Segen. Wir singen nun unsere Nationalhymne. ({0}) Mit den besten Wünschen für ein hoffentlich noch gemütlicheres Wochenende schließe ich die gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat. In einer halben Stunde ist wieder Alltag. Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages ein für heute, 10.30 Uhr. Diese Sitzung ist geschlossen. ({1})