Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte ich sicher auch in Ihrem Namen
den Handwerkern und den Technikern meine Bewunderung und Anerkennung zum Ausdruck bringen,
({0})
die innerhalb weniger Tage den Plenarsaal gleich zweimal umgebaut haben.
Ich habe noch einige technische Hinweise für die Gestaltung unserer Tagesordnung. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Haltung der Bundesregierung zur Verwendung der Überschüsse in der gesetzlichen
Krankenversicherung
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 30
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({2}), Rüdiger Veit, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Programm zur Unterstützung der Sicherung
des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts
- Drucksache 17/9029 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin GöringEckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurücknehmen
- Drucksache 17/9036 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Tarifrunde 2012 - Höhere Löhne durchsetzen,
jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektive bieten
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Praxisgebühr abschaffen
- Drucksache 17/9031 ZP 5 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Evaluierung der Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht
- Drucksache 17/8722 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Helga Daub, Joachim
Günther ({5}), Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Präsident Dr. Norbert Lammert
Weltwärts wird Gemeinschaftswerk
- Drucksache 17/9027 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 7 Vereinbarte Debatte
Hinrichtung der mutmaßlichen Metro-Attentäter von Minsk in Belarus
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Beziehungen zwischen Deutschland und
Namibia stärken und Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werden
- Drucksache 17/9033({7}) ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kleingruppenhaltung für Legehennen endgültig beenden
- Drucksache 17/9028 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Undine Kurth ({8}), Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verordnung zur Kleingruppenhaltung unverzüglich in Kraft setzen
- Drucksache 17/9035 Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 6 und 30 g werden abgesetzt. Darüber hinaus gibt es zwei Änderungen im
Ablauf: Der Tagesordnungspunkt 11 wird nach Tagesordnungspunkt 12 und der Tagesordnungspunkt 13 wird
nach dem Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen.
Schließlich mache ich noch aufmerksam auf eine
nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur
Zusatzpunktliste:
Der am 16. Dezember 2010 in der 81. Sitzung überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus ({9}) zur Mitberatung
überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Richtlinien zur konzerninternen Entsendung
und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten
- Drucksache 17/4190 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ich darf Sie fragen, ob Sie damit einverstanden sind. -
Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Kauder, Dr. Frank-Walter Steinmeier, Gerda
Hasselfeldt, Rainer Brüderle, Dr. Gregor Gysi,
Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im
Transplantationsgesetz
- Drucksache 17/9030 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes
- Drucksache 17/7376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte folgende Struktur vorgesehen: Zunächst soll in
einer ersten Runde aus jeder Fraktion einer der Initianten
dieses Gesetzentwurfes eine Redezeit von 10 Minuten
erhalten. Für die weitere Aussprache sind dann insgesamt 75 Minuten vorgesehen, die nach der üblichen Redezeitvereinbarung auf die Fraktionen aufgeteilt werden.
Da eine große Anzahl an Redewünschen einer nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit für die Aussprache
gegenübersteht - was ja schon einmal vorkommt -, haben sich die Parlamentarischen Geschäftsführer darauf
verständigt, dass die Reden derjenigen Kolleginnen und
Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Sind
Sie auch mit dieser Verfahrensvereinbarung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Volker Kauder.
({13})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Wir bringen heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf
in den Deutschen Bundestag ein, der von einer großen
Zahl von Kolleginnen und Kollegen direkt aus diesem
Haus heraus formuliert wurde und heute der ÖffentlichVolker Kauder
keit vorgestellt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf soll
eine breite Mehrheit in diesem Deutschen Bundestag erhalten. Deswegen haben wir von der Koalition von Anfang an darauf verzichtet, nur einen Koalitionsgesetzentwurf einzubringen. Vielmehr haben wir uns in diesem
Hause auf breiter Basis verständigt. Es geht darum, mit
einem höchst sensiblen Thema so umzugehen, dass bei
den Menschen die richtige Botschaft auch ankommt. Es
geht um die Frage: Unter welchen Voraussetzungen können wir Regelungen schaffen, um in der Transplantationsmedizin zu einem größeren Erfolg zu kommen?
Von 1963 bis 2010 wurden in Deutschland etwa
103 000 Organe transplantiert. Wenn man sich die Zahlen anschaut, was so durchschnittlich im Jahr an Transplantationen erfolgt, ist man auf der einen Seite angenehm überrascht, dass es so viele sind, und doch auch
wieder enttäuscht, dass es nur so viele sind. Etwa 1 300
bis 1 400 Transplantationen finden jährlich in Deutschland statt. Es warten aber etwa 12 000 Menschen auf ein
Organ, darauf, dass sie - bei Nierenproblematik - von
der Dialyse wegkommen können oder dass sie wieder
eine Perspektive haben, die ihnen das Leben erleichtert.
Wenn man die Diskussionen in den letzten Tagen verfolgte, hatte man manchmal den Eindruck, dass wegen
der Forderungen, dass mehr Transplantationen stattfinden könnten und mehr Organe zur Verfügung stehen
sollten, quasi ein Rechtsanspruch auf eine Transplantation besteht. Genau dies ist nicht der Fall. Wir haben in
diesem Gesetzentwurf größten Wert darauf gelegt, dass
niemand gezwungen werden kann. Es ist eine höchstpersönliche Entscheidung, ob jemand sein Organ zur Verfügung stellen will oder nicht.
({0})
Wenn ich heute von dem einen oder anderen, der sich
auf diesem Gebiet - auch als Ethiker - betätigt, die Forderung lese, da müsse mehr gemacht werden, es müsse
mehr Druck dahinter kommen, kann ich nur sagen: Das
ist die völlig falsche Richtung. Wir wollen nicht mehr
Druck, sondern wir wollen mehr dafür werben, dass
Menschen freiwillig und aus Überzeugung ihr Organ
spenden.
({1})
Das hat dazu geführt - fast ein Jahr diskutieren wir über
dieses Thema -, dass wir von der Zustimmungslösung,
die wir jetzt haben, zu einer Entscheidungslösung gekommen sind, allerdings zu einer, die auch beinhalten
kann, sich nicht zu entscheiden, sondern offenzulassen,
Ja, Nein oder auch gar nichts zu sagen. Da wird mancher
einwenden: Was soll sich denn dann eigentlich an der
jetzigen Situation verbessern? Ganz entscheidend ist,
dass wir in dem Gesetzentwurf die Krankenversicherungen - und zwar die gesetzlichen und die privaten - dazu
verpflichten, all ihre Mitglieder alle zwei Jahre anzuschreiben, zu informieren und dafür zu werben, Organspender zu werden.
Frank Steinmeier und ich, die wir die Diskussion begonnen haben, haben uns natürlich vorgestellt, dass wir
bei der Frage „Wie soll es dokumentiert werden, wie soll
nachgewiesen werden, dass ich Organspender bin?“ einen Schritt weiterkommen würden, als wir jetzt im Gesetzentwurf sind. Wir haben uns vorgestellt, dass man
die Zusage, Organspender zu sein, auf der Gesundheitskarte eintragen lassen kann, mussten dann aber feststellen, dass die technischen Voraussetzungen noch nicht so
weit sind, dass wir das schon jetzt machen könnten, weil
ein Extrafeld auf der Karte ausgewiesen werden muss.
Es mag nun den einen oder anderen enttäuschen, dass
wir noch nicht so weit sind. Andererseits sage ich: Wenn
wir nicht jetzt mit diesem Gesetzentwurf die Voraussetzung schaffen würden, würden wir auch in zwei Jahren,
wenn es so weit sein könnte, nicht so weit sein, wie wir
jetzt sind. Bis zu diesem Zeitpunkt, an dem die Gesundheitskarte auch für die Organspende zur Verfügung steht,
werden wir das bisherige System mit dem alten Organspenderausweis weiter beibehalten.
Ich glaube, das Entscheidende ist aber, dass wir die
Menschen durch direkte Ansprache bewegen, sich mit
diesem Thema auseinanderzusetzen. Natürlich sind auch
viele Fragen, Sorgen und Ängste mit der Organspende
verbunden. Wir hören oft genug, dass die Menschen sagen: Muss ich früher sterben, wenn ich Organspender
bin? Wird dann bei mir noch die Medizin wie bei den anderen angewandt, die sich nicht bereit erklärt haben? Genau darüber muss viel besser aufgeklärt und informiert
werden.
Wir haben uns für die Lösung entschieden, die freiwillige Entscheidung durch Information herbeizuführen. Wir haben uns gegen eine Widerspruchslösung entschieden. Es wird immer darauf verwiesen, dass die Zahl
der Spenderorgane in den Ländern, in denen es die Widerspruchslösung gibt, beispielsweise in Österreich und
Spanien, höher sei als bei uns. Auf der anderen Seite
wissen wir aber auch, dass in den Ländern, in denen es
die Widerspruchslösung gibt, die Angehörigen in fast allen Fällen, in denen es keine klare Aussage des Betroffenen gibt, gefragt werden. Deswegen ist dies nur scheinbar eine bessere Lösung.
Wir, die wir diesen Gesetzentwurf vorlegen, sagen:
Eine Widerspruchslösung entspricht nicht unserer Rechtsauffassung.
({2})
Wir wollen nicht, dass der Staat sagt: Jeder Mensch ist
zunächst einmal Organspender, und wenn er das nicht
sein will, dann muss er widersprechen. Wir wollen nicht,
dass die Menschen in einer solchen Frage einer staatlichen Entscheidung widersprechen müssen. Wir wollen
eine positive Zustimmung erhalten. Deswegen plädieren
wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, für
die Entscheidungslösung.
({3})
Ich finde es bemerkenswert, dass der Gesetzentwurf
jetzt, auch wenn es lange gedauert hat, im Deutschen
Bundestag eine so breite Unterstützung findet. In der
Anhörung wird sicher noch die eine oder andere Frage
vertieft behandelt werden müssen, beispielsweise die
Frage, wie das in der Praxis, in unseren Kliniken ablaufen soll. Es ist zu fragen, ob in dem einen oder anderen
Fall nicht doch ein bisschen mehr Spielraum eingeräumt
werden muss. Aber schon heute können wir die positive
Botschaft aussenden: Wir werben bei den Menschen intensiv dafür, sich als Organspender zur Verfügung zu
stellen. In einer Bürgergesellschaft ist es doch für jeden,
auch für jeden von uns, etwas Wunderbares, wenn er
durch eine Fußgängerzone gehen und sagen kann: Eine
ganze Reihe dieser Menschen ist bereit, mir zu helfen,
wenn ich wirklich Hilfe brauche.
Dass wir die Abläufe in unseren Kliniken verbessern
müssen, zeigt sich im zweiten Gesetzentwurf, der vom
Bundesgesundheitsminister vorbereitet und von der
Bundesregierung eingebracht wurde, wofür wir dankbar
sind. Wir wissen, dass der Erfolg nur durch ein gutes Zusammenwirken von Transplantationsgesetz, Aufforderung, Werben für die Organspende und verbesserten Abläufen in unseren Kliniken sichergestellt werden kann.
All das gehört zusammen.
({4})
Die Abläufe sollen durch die Einrichtung von Transplantationsbeauftragten in unseren Krankenhäusern verbessert werden. Dadurch wird deutlich, dass die Frage der
Transplantation eine Aufgabe aller Ärzte in einem Krankenhaus ist.
Aufgrund des neuen Gesetzes wird es nicht - vor dieser Hoffnung muss man warnen - von einem Tag auf den
anderen zu einem sprunghaften Anstieg der Organspendebereitschaft kommen. Ich glaube aber, dass wir mittelfristig eine verbesserte Situation schaffen können. Dazu
dient dieser Gesetzentwurf. Gleich in § 1 des Transplantationsgesetzes wird formuliert: Wir wollen, dass die
Bereitschaft der Menschen zur Organspende in Deutschland gefördert wird. Diesbezüglich befinden wir uns
- das wird am heutigen Tag deutlich - auf einem guten
Weg.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter
Steinmeier.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine noch relativ junge Frau schrieb:
Warum mache ich das durch? Diese Frage stellte
sich mir häufig, während der Krankenhausaufenthalte und der Wartezeit auf meine neue Lunge. Warum mache ich das durch? Natürlich aus Liebe zu
meiner Familie und zu meinen Freunden, mit denen
ich zusammenbleiben möchte, aber auch, weil das
Leben einfach spannend und toll ist!
Dies sagte Claudia Kotter - sie ist manchen von Ihnen
möglicherweise bekannt -, die junge, tatkräftige, lebenslustige, allerdings auch schwerkranke Initiatorin der
Organspendeinitiative „Junge Helden“. Das Leben ist
spannend und toll. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Das
war eine Art Lebensmotto für sie. Daraus hat sie Kraft
geschöpft, nicht nur für sich selbst, sondern auch für
andere.
Im letzten Juni ist sie verstorben. Sechs Tage vor
ihrem Tod hat sie noch hier im Deutschen Bundestag in
einer Anhörung zum Thema Organspende ganz eindringlich und eindrucksvoll für Verbesserungen geworben. Ich will sagen: Es ist auch ihr Verdienst und das
Verdienst ganz vieler solcher Initiativen, dass wir jetzt in
der Lage sind, Verbesserungen in die Tat umzusetzen.
Deshalb gehört der Dank auch ihnen.
({0})
Ich möchte auch Ihnen hier im Hohen Hause danken
für unsere gute und, wie ich finde, am Ende erfolgreiche
Zusammenarbeit, für die Bereitschaft aller, sich über
Parteigrenzen hinweg zusammenzufinden und gemeinsam nach der besten Lösung zu suchen. Ich glaube,
Gegenstand zum Streit bleibt für uns genügend; daran
wird kein Mangel herrschen, nicht heute und auch nicht
in Zukunft. Aber heute können wir miteinander zeigen,
dass Politik Verantwortung für Menschen, die dringend
der Hilfe bedürfen, ernst nimmt. Deshalb ist das heute
ein wichtiges Zeichen für uns alle.
({1})
Der eine oder andere - Kollege Kauder hat das eben
angedeutet - sagt durchaus zu Recht: Organspende ist
nun wirklich nicht das einzige Problem der Gesundheitspolitik, es ist nicht einmal das Kernproblem der Gesundheitspolitik. Im Prinzip hat derjenige, der das sagt, durchaus recht. Trotzdem - auch das ist heute zu sagen -: Es
geht um mehr als nur Einzelschicksale. Es geht um mehr
als die 1 000 Menschen, die jährlich sterben, aber leben
könnten, wenn genügend Organe zur Verfügung stünden.
Es geht auch um mehr als die 12 000 Menschen, die auf
der Warteliste stehen, die auf den rettenden Anruf warten, dass endlich ein passendes Organ gefunden ist. Es
geht auch um mehr als die Tausende von Menschen, die
nicht einmal mehr auf eine Warteliste kommen, weil es
für sie völlig aussichtslos ist, mit einem Organ versorgt
zu werden. Es geht auch nicht nur um die Angehörigen,
die vielleicht in dem verzweifeltsten Moment, wenn
einer ihrer nahen Angehörigen gestorben ist, auch noch
über dessen Haltung zur Organspende rätseln müssen.
Um all das geht es natürlich, all das wäre sicherlich
Grund genug für unsere Initiative heute Morgen, aber in
Wahrheit geht es um noch mehr. Es geht um Verantwortung. Es geht um die Verantwortung, die wir für Menschen übernehmen, die unserer Hilfe bedürfen. Aus dieser Verantwortung - da hat Kollege Kauder recht entsteht noch keine Pflicht zur Spendebereitschaft, aber
ich finde, aus dieser Verantwortung entsteht die Erwartung an uns alle, dass wir uns entscheiden.
({2})
Organspende ist eine Frage der Mitmenschlichkeit,
und Politik hat diese Mitmenschlichkeit möglich zu
machen, das heißt, Hürden da abzubauen, wo sie noch
bestehen, und zu ermutigen, wo manche der Ermutigung
bedürfen. Ich bin sicher: Heute wird der eine oder andere
am Fernseher zuschauen oder oben auf der Tribüne sitzen, der selbst zu den Betroffenen gehört. Einige werden
ihr Leben zurückgewonnen haben dank einer Entscheidung von Spendern, die sich noch vor ihrem Tod für eine
Organspende nach ihrem Tod entschieden haben, oder
dank des Mutes von Angehörigen, die sich für das Leben
von Fremden entschieden haben, weil sie für das Leben
des Ehemannes, der Ehefrau oder der Kinder nichts
mehr tun konnten. Das ist Mitmenschlichkeit. Ich
glaube, diese verdient an diesem Tage unseren großen
Respekt.
({3})
Wir wissen aus Umfragen, dass es in Deutschland
noch viel mehr Bereitschaft gibt, diese Mitmenschlichkeit, zur Organspende bereit zu sein, zu zeigen. Mit den
Gesetzentwürfen, die wir heute ins parlamentarische
Verfahren einbringen, wollen wir es den Menschen in
Zukunft leichter machen, tatsächlich eine Entscheidung
zu treffen. Wir wollen nicht jeden automatisch zum
Organspender machen. Aber wir möchten, dass sich
jeder einmal in seinem Leben entscheidet: für oder
gegen die Bereitschaft zur Organspende. Ich möchte
noch einmal Claudia Kotter zitieren, die etwas provokant geschrieben hat:
Nicht der Mensch, der nicht spenden will, ist ein
schlechter Mensch, sondern der, der sich keine Gedanken macht.
({4})
Ich kann das alles individuell verstehen, meine
Damen und Herren. Nicht jeder beschäftigt sich gerne
mit der Endlichkeit des Daseins, mit dem eigenen Tod.
Das sind Fragen, die man gerne verschiebt. Deshalb
wandert der Organspendeausweis, den man zufällig einmal bei einer Behörde oder bei der Krankenkasse mitnimmt, zunächst einmal auf den Stapel noch nicht erledigter Papiere. Dann wandert er ein Stückchen weiter
hinunter, bis er ganz unten liegt. Am Ende wird er
unausgefüllt entsorgt. Weil das so ist und weil das ein
höchst menschliches Verhalten ist, finden wir: Mit diesem Gesetzentwurf ist es an der Zeit, dass wir informieren - ja -, dass wir aufklären - ja -, dass wir aber auch
nachhaken und bitten, eine Entscheidung zu treffen.
Mindestens das ist notwendig.
({5})
Wir wollen, dass die Entscheidung dokumentiert
wird. Solange das auf der elektronischen Gesundheitskarte noch nicht möglich ist, bleibt es bei der Praxis mit
dem Organspendeausweis, den Sie kennen. Manche
haben uns in dieser Diskussion geraten, es nicht dabei zu
belassen: nicht nur zu informieren, aufzuklären, zu werben und um eine Entscheidung zu bitten, sondern auch
Anreize zu setzen, etwa darüber nachzudenken, ob wir
Spendern Bonuszahlungen leisten sollten, ob wir sogar
eine Senkung des Krankenkassenbeitragssatzes in
Betracht ziehen sollten oder ob es bevorrechtigte
Ansprüche für Spender geben sollte, wenn sie selbst
krank werden und ein Organ brauchen. Meine Damen
und Herren, für solches Nachdenken mag es gute
Gründe geben. Wir haben uns in Gesprächen zwischen
den Parteien nach dem Nachdenken und nach den Diskussionen gegen solche Anreize entschieden; denn die
Organspende soll eine Spende bleiben.
({6})
Wir wollen die Verantwortung füreinander stärken.
Aber wir wollen nicht die Kommerzialisierung des eigenen Körpers, nicht durch Geldleistungen und nicht durch
privilegierten Zugang zu Gesundheitsleistungen. Organspende bleibt freiwillig. Sie ist und bleibt auch nach diesem Gesetz im Kern eine altruistische Entscheidung.
Das ist so gewollt.
({7})
Nicht weniger wichtig als Information, Aufklärung,
nachdrückliches Werben und die Befragung sind in der
Tat die organisatorischen Verbesserungen, die heute mit
auf den Weg gebracht werden; sie sind genauso wichtig.
Klare Verantwortlichkeiten in den Kliniken, die verpflichtende Bestellung von Transplantationsbeauftragten, die Pflicht der Entnahmekrankenhäuser zu aktiver
Mitwirkung, all das ist dringend notwendig und muss
jetzt mit auf den Weg gebracht werden.
({8})
Ich bin froh, dass es in letzter Minute sogar noch eine
Verständigung über die Verbesserung der Situation der
Lebendspender gegeben hat. Es gibt nämlich unterschiedliche Praktiken der Krankenkassen und der
Arbeitgeber, was die Übernahme der Kosten für eine
Lebendspende, die Lohnfortzahlung und ähnliche Dinge
angeht. Hier gibt es jetzt Einigkeit. Wir sind uns auch
einig, dass eine entsprechende Regelung im Laufe des
Verfahrens in den Gesetzentwurf eingefügt wird.
Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass wir nach
einjähriger Debatte an diesem Punkt angekommen sind.
Wir alle wissen um die Wirkung von Gesetzgebung. Wir
hoffen und gehen davon aus, dass dieses Gesetz einen
Beitrag dazu leisten wird, die Zahl der Organspender zu
erhöhen.
Das alles wird aber nicht ausreichen, wenn es uns
nicht gelingt, eine offene und ehrliche öffentliche
Debatte zu führen und auch in Schulen dafür zu werben,
dass dies ein Thema wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Rainer Brüderle erhält nun das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
ein guter Tag für 12 000 Menschen, die hoffen und bangen, dass sie ein Spenderorgan bekommen. Wenn man
Gelegenheit hatte, mit Betroffenen zu sprechen, dann
spürt man, welche Dramatik, ja Tragik damit verbunden
ist.
Der fraktionsübergreifende Gesetzentwurf zeigt, dass
das Parlament die Fähigkeit hat, bei ethischen Fragen
und bei Fragen der Existenz und des Miteinanders auch
außerhalb des politischen Wettbewerbs, der zur Demokratie und zum Parlament gehört, solche Regelungen auf
den Weg zu bringen. Das ist eine gute Übung des Parlaments und zeigt, dass wir auch die Fähigkeit zur
Gemeinsamkeit haben. Hier dominiert der Grundkonsens aller politischen Kräfte des deutschen Parlaments.
({0})
Ich möchte mich bei Jens Spahn, Dr. Carola Reimann,
Dr. Harald Terpe, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Martina
Bunge und, für meine Fraktion, Gabriele Molitor bedanken. Diese Kolleginnen und Kollegen haben konstruktiv
und sachlich gemeinsam eine Lösung im Kern erarbeitet.
Das ist vorbildlich und der Sache angemessen.
({1})
Das Bundesgesundheitsministerium hat das Parlament bei der Formulierung tatkräftig unterstützt. Ich
danke Bundesminister Daniel Bahr, der den Gesetzentwurf von Anfang an forciert und begleitet hat.
({2})
Daniel Bahr stellt sich damit in die gute Tradition von
Regierungsmitgliedern, die die Ethik des medizinischen
Fortschritts und die Ethik des Heilens immer wieder aufs
Neue in Einklang bringen müssen.
Als 1997 das Transplantationsgesetz verabschiedet
wurde, hat Horst Seehofer, damals als Gesundheitsminister, sinngemäß gesagt, dass die Politik nicht entscheiden könne, wann ein Mensch tot ist. Wir können
nur verantwortbare Kriterien suchen. - Der damalige
Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig hat seinerzeit darauf hingewiesen, dass „ein Mensch noch im Sterben
oder … am Rande des Todes einem anderen Menschen
das Leben retten“ kann. Damit ist das Spannungsfeld für
unsere politische Entscheidung, wie ich finde, treffend
beschrieben.
Das Thema Organspende rührt an der Urangst der
Menschen vor dem Tod. Diese Angst wird gerne verdrängt; das ist menschlich und zu verstehen. Alle hier im
Hause und am Bildschirm verstehen aber auch die Situation von Menschen, die sehnsüchtig auf ein Spenderorgan warten. Bei ihnen ist die Sorge um das Leben sehr
real und unmittelbar greifbar. Wer eine neue Niere oder
ein neues Herz braucht, der verdient die Unterstützung
der Gesellschaft. Selbstbestimmung, Freiheit und Würde
des Einzelnen sind hohe Güter. Sie müssen respektiert
werden und werden respektiert. Deshalb sollte es keinen
staatlich verordneten Entscheidungszwang zur Organspende geben.
({3})
Für die Mitglieder unserer Fraktion war von Anfang an
klar, dass es eine solche persönliche Entscheidung nur
auf freiwilliger Basis geben kann.
Eine Pflicht zur Beschäftigung mit dem Thema, eine
Pflicht, dass man sich mit dem Thema auseinandersetzt,
können wir aber schon verlangen, wobei es völlig legitim ist, dass Bürger auch keine Entscheidung treffen.
Das gehört zur Selbstbestimmung. Es ist aber auch legitim für die Gesellschaft, nach einigen Jahren immer wieder nachzufragen und das Thema in Erinnerung zu bringen. So ist das Modell, das wir heute hier als Grundlage
haben, angelegt.
Jeder sollte sich mit dieser Frage intensiv auseinandersetzen. Das wird häufiger und eindringlicher als bisher geschehen. Neben den Krankenkassen werden auch
Behörden verstärkt über die Organspende informieren.
Wer einen neuen Pass bekommt, erhält gleichzeitig eine
Information zur Organspende. Das ist ein Ansatz, der
schon 1997 - damals auch von Schmidt-Jortzig - mit in
die Debatte eingeführt wurde. Es ist eine sanfte Aufforderung, über dieses Thema nachzudenken und etwas zu
tun. Es geht um Bürgerpflicht, nicht um Bürgerzwang.
({4})
Das ist der Leitgedanke dieses Gesetzentwurfs.
Ein weiteres sensibles Thema, das damit in Verbindung steht, ist der Datenschutz, Stichwort: elektronische
Gesundheitskarte. Zur Selbstbestimmung gehört zwingend die Verfügbarkeit über persönliche Daten. Der
mögliche Umgang der Krankenkasse mit sensiblen Daten, das sogenannte Schreibrecht, ist heikel. Es muss
meines Erachtens ebenfalls klar sein: Die Speicherung
der Daten darf nicht zum Ausgangspunkt für ein Organspenderregister werden.
Ich denke, auch hier haben wir einen gangbaren Weg
gefunden. Die Versicherten müssen persönlich zustimmen, bevor ein Sachbearbeiter sensible Daten auf die
Gesundheitskarte übertragen darf. Außerdem müssen bei
der technischen Umsetzung der Gesundheitskarte Verfahren gefunden werden, die höchsten Sicherheitsanforderungen genügen.
Wir konfrontieren die Menschen künftig häufiger und
systematisch mit dem Thema Organspende. Es geht auch
darum, ihnen Folgendes bewusst zu machen: Wer die
Entscheidung für eine Organspende trifft, nimmt auch
Druck von seinen Angehörigen. Sie können beispielsweise im Falle des Gehirntods in die Lage geraten, Entscheidungen für den Verstorbenen treffen zu müssen.
Ebenso wird Druck von den Ärzten genommen. Heute
müssen sie mit den Angehörigen Gespräche über die Organspende führen, während die Patientinnen oder die Patienten um ihr Leben kämpfen. Auch dies ist eine Situation, die für alle Beteiligten unerträglich sein kann.
Das neue Gesetz wird hoffentlich zu mehr Organspenden führen. In Deutschland sterben derzeit im
Schnitt jeden Tag drei Menschen, weil sie keine Organspende erhalten können. Ich wiederhole: Es sind jeden
Tag drei Menschen. Uns obliegt eine ethische und politische Verantwortung dafür, dass sich diese tragische Lage
ändert.
Gesundheitsminister Daniel Bahr legt gleichzeitig einen weiteren Gesetzentwurf vor. Dieser Gesetzentwurf
zielt auf die tapferen Menschen ab, die zu Lebzeiten Organe spenden. Für den Spender bedeutet ein solcher medizinischer Eingriff immer ein Risiko; 100 Prozent risikofrei, das geht nicht. Für diese tapferen Menschen
sollen die Ansprüche gegenüber den Kassen verbessert
werden, etwa beim Krankenhausaufenthalt. Wer sich zu
einem solchen mutigen Schritt entscheidet, muss entsprechend abgesichert sein.
({5})
Die Transplantationsmedizin wird heute von nahezu
niemandem mehr infrage gestellt. Auch das Kriterium
des Hirntodes wird meistens nicht infrage gestellt.
Meine Damen und Herren, im Raume stehen viele
Worte, die sperrig wirken - das sage ich gerade an die
Zuschauerinnen und Zuschauer draußen im Land gerichtet -: Entscheidungslösung, Widerspruchslösung, enge
bzw. erweiterte Zustimmungslösung.
Entscheidend ist: Organspenden retten Leben. Die Erkenntnis ist einfach. Die Entscheidung für eine Organspende kann aus unterschiedlichen Gründen und Motiven nicht einfach sein. Wir können, sollen und dürfen
die Menschen nicht aus der persönlichen Entscheidungsverantwortung entlassen, und wir dürfen sie ihnen auch
nicht abnehmen. Wir können, sollen und dürfen sie aber
mit diesen Themen beschäftigen: Selbstbestimmung,
Nächstenliebe, Bürgerpflicht, Verantwortung. Damit
muss sich eine offene Bürgergesellschaft auseinandersetzen. Die heutige Debatte ist ein wichtiger Beitrag.
Viele Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte heute teilnehmen, tragen den Spenderausweis stets
bei sich. Das Ganze ist ganz einfach. Ich will Ihnen diesen Ausweis kurz zeigen. - Er sieht wie eine Scheckkarte aus. Jeder kann ihn jederzeit in seiner Brieftasche
mit sich tragen und damit Klarheit schaffen. Ich bitte alle
Bürgerinnen und Bürger herzlich, das ernsthaft zu erwägen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile nun dem Kollegen Gregor Gysi das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In kaum
einem anderen Bereich hängen Fragen von Leben und
Tod, Verzweiflung und Hoffnung, Freud und Leid so eng
zusammen wie bei der Organspende und der Organtransplantation. Es geht um grundsätzliche Fragen der Ethik,
um moralische Maßstäbe, aber auch um Grundsätze der
Religion. Im Gesundheitswesen gibt es zweifellos viele
sehr grundsätzliche Probleme, um die es aber heute nicht
geht. Heute sprechen wir über Organspenden und -transplantationen.
Es gibt bei einigen Bedenken, dass Menschen, die Organe spenden, grob gesagt, als eine Art Ersatzteillager
missbraucht werden. Ich frage mich: Was sagen solche
Menschen Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau?
Warum soll er nicht berechtigt sein, das Leben seiner
Frau zu retten, die er liebt? Warum soll sie nicht berechtigt sein, diese Spende anzunehmen? Ich sehe dafür keinen Grund.
({0})
Aber selbst wenn man sagt: „Ich meine das nicht in
Bezug auf Lebende, sondern nur in Bezug auf Tote“,
frage ich mich: Was sagen diejenigen den jährlich etwa
1 000 Kranken in Deutschland, die mangels Organtransplantation sterben? Was sagen sie den 12 000 Personen,
die auf Wartelisten stehen und noch nicht wissen, ob sie
gerettet werden oder nicht? Meine ethische Überzeugung, meine Sicht der Solidarität besteht darin, dass die
Medizin alles Mögliche zu tun hat, um das Leben von
Menschen zu retten.
Nach den Umfragen gibt es eine große Mehrheit, die
bereit ist, Organe zu spenden. Aber nur wenige von ihnen teilen das auch schriftlich mit. Sie wissen, wie
schwer es in Krankenhäusern ist, wenn jemand gestorben ist und die Angehörigen nach dem Willen des Verstorbenen gefragt werden. Ich möchte die Angehörigen
vor dieser Befragung eigentlich schützen, indem ich die
Menschen animiere, sich selbst zu entscheiden oder zu
entscheiden, dass sie sich nicht entscheiden. Alles ist
eine Art der Entscheidung.
({1})
Woran liegt es, dass das so wenige mitteilen? Ich
denke, das Hauptproblem liegt in unserer Kultur, in unserer Zivilisation. Wir verdrängen Fragen, die mit dem
Tod zusammenhängen. Ein bisschen kann ich das verstehen. Für eine 25-Jährige oder einen 25-Jährigen liegen
diese Fragen so weit weg, obwohl auch sie jeden Tag unangenehm überrascht werden können. Aber ich sagte es
schon: Man verdrängt das. Man will sich damit gar nicht
beschäftigen. Fragen Sie doch einmal eine 25-Jährige
oder einen 25-Jährigen, wie sie oder er beerdigt werden
will. Dann wird sie oder er sagen: Darüber habe ich mir
noch keine Gedanken gemacht. - Das ist nachvollziehbar. Aber deshalb finde ich es nicht falsch, wenn die Gesellschaft den Menschen eine Frage stellt - um mehr
geht es nicht - und sie bittet, sich zu entscheiden; nur darum geht es.
({2})
Persönlich - das will ich Ihnen ebenfalls sagen - bin
ich für die Widerspruchslösung. Das bedeutet: Alle sind
grundsätzlich zur Organspende bereit, es sei denn, sie
widersprechen. Aber ich weiß: Ich habe gar keine
Chance auf eine Mehrheit, wahrscheinlich nicht in der
Gesellschaft, auf jeden Fall nicht im Bundestag. Deshalb
führe ich darüber keine Diskussion. Aber ich wollte das
der Ehrlichkeit halber gesagt haben.
Nun also liegt ein Gruppenantrag vor. Über Krankenkassen sollen Befragungen stattfinden. Wichtig ist: Es
bleibt vollständig beim Prinzip der Freiwilligkeit. Es ist
ein Angebot an jede Bürgerin und jeden Bürger, für sich
eine Entscheidung zu treffen oder bewusst keine Entscheidung zu treffen. Es geht nicht um mehr und nicht
um weniger. Beigefügt wird dem Anschreiben der Krankenkassen ein Organspendeausweis aus Pappe, in den jeder und jede seine bzw. ihre Entscheidung eintragen
kann oder eben sich verweigert, sie einzutragen.
Auf den Organspendeausweis aus Pappe hat insbesondere unsere Fachpolitikerin auch nach der von uns
abgelehnten, aber hier beschlossenen Einführung der
elektronischen Gesundheitskarte bestanden. Das ist
wichtig, weil nur mit dem Ausweis aus Pappe die völlige
Anonymität gewahrt werden kann; denn das Stückchen
Papier hinterlässt keinerlei Spuren:
({3})
nicht im Internet, nicht in Patientendateien, nicht in den
Verwaltungen der Krankenkassen, schon gar nicht zentral. Ich entscheide, ob und wem ich es mitteile.
Dennoch gibt es auch in meiner Fraktion größere Bedenken, dass das weitere, spätere Angebot, künftige Entscheidungen auch auf der elektronischen Gesundheitskarte vermerken lassen zu können, zu erheblichem
Datenmissbrauch führen und das verfassungsrechtlich
hohe Gut der informationellen Selbstbestimmung aushebeln könnte. Diese Bedenken sind aus mehreren Gründen berechtigt:
Erstens. Wo Daten erhoben und zentral gespeichert
werden, können sie auch kopiert, vervielfältigt und missbraucht werden.
Zweitens. Wir haben zusätzlich das Problem, dass wir
derzeit rund 200 gesetzliche und private Krankenkassen
haben und dass es erlaubt ist, die Kassen zu wechseln.
Das erschwert die Gewährleistung der Sicherheit der
personenbezogenen Daten erheblich. Es gibt nicht nur
eine Schwachstelle beim System der Datenerhebung,
sondern Hunderte. Daher soll nach dem Gesetzentwurf
bis Mitte nächsten Jahres geprüft werden, ob die Eintragung zugelassen werden soll. Sollte bei der Prüfung herauskommen, dass der datenrechtliche Schutz nicht
möglich ist, wird es den Eintrag auf der elektronischen
Gesundheitskarte nicht geben.
Wichtig ist aber, dass durch unseren Einwand auch
bei Zulässigkeit der Eintragung auf der elektronischen
Gesundheitskarte dauerhaft die Alternative erhalten
bleibt, den eigenen Organspendeausweis in Gestalt einer
Pappkarte statt der elektronischen Gesundheitskarte zu
nutzen; das ist uns besonders wichtig.
({4})
Ich fasse zusammen:
Erstens. Der Gesetzentwurf sichert, dass jede bzw. jeder selbstbestimmt entscheidet, ob sie bzw. er entscheiden will oder nicht.
Zweitens. Der Gesetzentwurf sichert, dass die- bzw.
derjenige, die bzw. der eine Entscheidung treffen will,
sich für oder gegen eine Organspende entscheiden kann.
Drittens. Der Gesetzentwurf sichert, dass auch nach
dem Zeitpunkt der Einführung der von uns kritisierten
elektronischen Gesundheitskarte zunächst geprüft werden muss, ob ein Eintrag der vorhandenen oder fehlenden Bereitschaft zur Organspende vollständig datenrechtlich geschützt werden kann; wenn nicht, wird der
Eintrag unzulässig.
Viertens. Im Falle der Zulässigkeit entscheidet weiterhin jede oder jeder, ob sie bzw. er sich entscheiden will,
und im Falle einer Entscheidung, ob sie oder er die Entscheidung auf einer elektronischen oder auf der Pappkarte dokumentiert.
Diesem Entwurf kann ich deshalb zustimmen, weil
ich nicht berechtigt bin, jemandem gegebenenfalls seine
Entscheidung für einen Eintrag auf der elektronischen
Gesundheitskarte zu verbieten bzw. sie zu unterbinden.
Auch wenn ich es für falsch halte, muss ich doch auch
dieses Selbstbestimmungsrecht der oder des anderen
respektieren.
Nur durch die auf unser Drängen hin eingeführte Alternative wird doch das Selbstbestimmungsrecht der
Bürgerinnen und Bürger gestärkt und die Bedeutung der
elektronischen Gesundheitskarte reduziert, indem man
sich ausdrücklich gegen die elektronische Gesundheitskarte und für die Pappkarte entscheiden kann.
Aus verschiedenen Gründen werden wir die Novelle
zum Transplantationsgesetz in der jetzigen Fassung
ablehnen. Beispielsweise müssen bei der HirntoddiaDr. Gregor Gysi
gnostik die Anwendungen modernster Verfahren vorgeschrieben werden. Warum gibt es beispielsweise die
verpflichtende apparative Diagnostik durch EEG oder
SPECT anders als in anderen Ländern in Deutschland
nicht? Nur dadurch wäre man sich sicher. Das ist nur ein
Beispiel. Es gibt noch andere Kritikpunkte.
Wir werden über beide Gesetzentwürfe noch diskutieren. Es wird noch die eine oder andere Änderung geben.
Aber ich bitte Sie alle im Saal letztlich um die Zustimmung zum Gruppenantrag, erstens, um zu erreichen,
dass Tausende Menschen, die auf ein lebensrettendes
Organ warten, berechtigt darauf hoffen können, dass sie
die Transplantation erhalten werden, und, zweitens, um
jeden Handel mit Organen auszuschließen. Wir müssen
verhindern, dass Reiche, egal wo, Organe von Menschen
aus armen Ländern kaufen, die zur Spende zumindest
unzulässig unter Druck gesetzt wurden.
({5})
Wenn wir das verhindern wollen, dann müssen wir es in
unserer Gesellschaft so organisieren, dass jede und jeder
unabhängig von ihrer oder seiner sozialen Lage die gleiche Chance hat, zügig eine lebensrettende Transplantation zu erhalten.
Wir wenden uns an die Bürgerinnen und Bürger mit
der Bitte, sich bewusst zu entscheiden. Wie sie sich entscheiden, ist ihre Sache. Aber eine Entscheidung sollten
sie treffen.
Danke schön.
({6})
Der Kollege Jürgen Trittin ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangspunkt ist ein Konsens zwischen allen Mitgliedern
dieses Hauses. Wir haben uns auf eine freiwillige Entscheidungslösung verständigt. Meine Vorredner haben
die Zahlen bereits genannt. Es gibt in Deutschland
12 000 Menschen, die im Schnitt fünf Jahre darauf warten, dass ihnen ein lebensnotwendiges Organ transplantiert wird. Für viele ist das zu lang; sie sterben vorher.
Sie sterben, auch weil es eine Kluft zwischen der verbalen Bereitschaft, zu spenden, und der dokumentierten
Bereitschaft, zu spenden, gibt. Wir wissen aus vielen
Umfragen, dass die Bereitschaft höher ist als die tatsächliche Anzahl der Spenderinnen und Spender. Ich glaube,
das hat viel mit mangelnder Aufklärung zu tun. Dem
wollen wir mit diesem Gesetz entgegenwirken. Wir wollen die Diskussion um die Organspende nicht nur in die
Öffentlichkeit, sondern auch in die Familien tragen,
wenn sie eine neue Gesundheitskarte bekommen, wenn
sie einen neuen Ausweis oder Pass beantragen.
Wir wollen niemanden mit dieser schwierigen Entscheidung allein lassen. Jeder soll die Möglichkeit zu einer ergebnisoffenen und unabhängigen Beratung haben.
Ich glaube, nur so, wenn wir uns allen Fragen stellen
können, wird es mehr Akzeptanz und mehr Transparenz
geben. Nur so kann die Zahl der Organspender erhöht
werden. Wir werden die angesprochene Lücke nicht
vollständig schließen können; darüber sollte man sich
keine Illusionen machen. Wir wollen aber die Lücke
zwischen Bedarf und Spendenbereitschaft verringern.
Das ist der Grund, warum wir heute sehr geschlossen einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt haben.
Wichtig ist die Freiwilligkeit. Die Entscheidung zur
Organspende ist keine leichte Sache. Wenn man einen
Organspendeausweis ausfüllt, dann muss man zwangsläufig an die Situation denken, in der er nötig sein wird,
wenn man also dem Tod näher als dem Leben ist, wenn
nur noch Apparate dafür sorgen, dass der Körper nicht
endgültig versagt. Diese Beschäftigung mit dem eigenen
Ende ist herausfordernd; sie verstört. Man hält sich doch
selbst für „unkaputtbar“. Welch ein Irrtum! Wir sind
sterblich, alle.
Übrigens fällt die Beschäftigung damit in dieser Gesellschaft sehr unterschiedlich aus. Wenn man sich anschaut, wer seine Bereitschaft zur Organspende erklärt,
dann stellt man fest, dass es sich zu 80 Prozent um
Frauen handelt. Schauen Sie sich im Gegenzug einmal
die Empfänger an. Bei denen handelt es sich zu 80 Prozent um Männer. Wir haben also gemeinsam die Aufgabe, den geschlechtsspezifischen Unterschied in der
Spendenbereitschaft zu verändern und auch Männer
dazu zu bringen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Insofern ist die vorgeschlagene Regelung eine Zumutung. Ja, es ist eine Zumutung, sich mit dem eigenen
Ende zu beschäftigen. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass diese Zumutung für die Menschen gerechtfertigt ist. Ihr Zweck liegt darin, anderen das Leben zu retten.
Diese Zumutung, in einem Satz gesagt, lautet: Jede
und jeder muss sich fragen lassen - mehrfach in seinem
Leben -; aber niemand muss antworten. Es ist legitim,
wenn Menschen sagen: Ich will mich zu dieser Frage
nicht äußern. Es ist eine freiheitliche Regelung, die wir
vorschlagen. Es war uns wichtig, dass es eine solche
freiheitliche Regelung ist.
Wir müssen in diesem Zusammenhang auch Missverständnisse ausräumen. Ja, es geht nicht nur um diejenigen, die auf Organe angewiesen sind, oder diejenigen,
die für sich selbst etwas erklären. Es geht auch und gerade um die Angehörigen potenzieller Spender. Diejenigen, die sich zu dieser Frage äußern, ersparen auch ihren
Angehörigen, ihren engsten Mitmenschen eine vielfach
schwer erträgliche Situation.
({0})
Ich habe es vor einigen Jahren erlebt, dass meine ehemalige Lebensgefährtin bei einem Fahrradunfall ums
Leben kam. Ich musste ihrer Tochter, ihren Eltern und
ihren besten Freundinnen diese Nachricht überbringen.
Wenn ich mir vorstelle, dass ich in dieser Situation auch
noch ihren Willen hätte interpretieren müssen, dann
wäre ich froh darüber gewesen, eine klare und unmissverständliche Botschaft zu haben. Für diese Botschaft
werben wir, auch im Namen der Angehörigen.
({1})
Den klassischen Organspendeausweis muss und soll
es weiter geben. Die Spendenbereitschaft kann künftig
allerdings auch auf der Gesundheitskarte vermerkt werden. Wir können das selber eintragen. Wir können es
auch nach strengen Regeln durch Ärzte eintragen lassen.
Ich will ausdrücklich betonen: Dieser Eintrag kann vorgenommen werden; er muss es aber nicht. Er kann jederzeit geändert werden, und er kann jederzeit widerrufen
werden.
Wir sollen und wollen ein Verfahren prüfen, das klarstellt, ob ein solcher Eintrag auch durch eine Rückmeldung an die Krankenkasse möglich ist. Wir Grünen haben, glaube ich, mit dazu beigetragen, dass sichergestellt
ist, dass es kein eigenständiges Schreibrecht der Krankenkassen bezüglich der E-Card gibt. Der nun gefundene Kompromiss lässt die Krankenkassen nur im direkten Auftrag der Patientinnen und Patienten tätig werden.
Er sichert, dass jede Bürgerin und jeder Bürger selbst
über ihre oder seine Daten entscheidet. Noch einmal:
Die wichtigste Entscheidung ist, dass niemand gezwungen ist, seine Entscheidung auf der E-Card zu dokumentieren. Alle, die das wollen, können ihre Spendenbereitschaft auch weiterhin im Ausweis dokumentieren.
Wir sollten in den Ausschussberatungen noch einmal
schauen, ob die vorgetragenen Vorbehalte das Projekt
E-Card gefährden können. Wir haben im Zusammenhang mit ELENA hier an dieser Stelle unsere Erfahrungen gemacht. Wir sollten vermeiden, dass mit den
Regelungen zur Organspende die Akzeptanz der elektronischen Krankenversicherungskarte selbst gefährdet
wird.
Meine Damen und Herren, jede und jeder entscheidet
selbst. Alle werden informiert. Alle werden sich fragen
lassen müssen; aber niemand muss antworten. Das ist
die Entscheidungslösung. Von den 12 000 Menschen,
die auf ein Spenderorgan warten, sterben jeden Tag 3.
Wenn es uns gelingt, mit diesem Gesetzentwurf diese
Zahl zu mindern, dann haben wir, glaube ich, gemeinsam viel gewonnen. Ich glaube, dass es auch mit Blick
auf die Menschen in diesem Lande wichtig ist, dass es in
dieser Frage einen über alle Fraktionen hinweggehenden
Konsens im Deutschen Bundestag gibt.
Vielen Dank.
({2})
Der Bundesminister Daniel Bahr erhält nun das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In meiner Heimatstadt Münster gibt
es den Verein „Herzenswünsche“, der schwerkranken
Kindern einen Wunsch erfüllt. Er gibt ihnen damit häufig in schwieriger Lage neue Hoffnung und neue Kraft.
Eines dieser Kinder ist Fatmanur. Das Mädchen ist acht
Jahre alt und braucht dringend eine neue Niere. Jeden
zweiten Tag muss sie für fünf Stunden zur Dialyse.
Draußen spielen, eine normale Kindheit, das erlebt sie
derzeit nicht, weil sie auf ein neues Organ warten muss.
Viel zu viele Menschen warten viel zu lange auf ein
Organ. Viel zu viele Menschen in Deutschland warten
vergeblich auf ein Organ. Deswegen ist die große Einigkeit heute hier im Deutschen Bundestag kein Zeichen
von Langeweile, sondern ein ganz starkes Signal an die
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, dass das Thema
Organspende ein so wichtiges Thema ist, dass wir als
Gesetzgeber auch erwarten können, dass sich die Menschen in Deutschland mindestens einmal im Leben mit
dem Thema Organspende auseinandersetzen und wir sie
dazu auffordern können, sich bei diesem Thema einmal
im Leben zu entscheiden.
({0})
Ja, wir wissen, dass viele Menschen Ängste und Sorgen beim Thema Organspende haben und manche Menschen viele offene Fragen haben. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit diesem Gesetzentwurf dazu beitragen,
dass erstmals alle Deutschen über 16 Jahre von ihrer
Krankenversicherung angeschrieben werden und ihnen
ein Organspendeausweis zugeschickt wird, damit sie
diesen Organspendeausweis einmal in der Hand haben,
damit der Organspendeausweis Thema im Familien- und
Freundeskreis wird und damit man sich am Frühstückstisch einmal darüber unterhält, wie man sich selbst beim
Thema Organspende entscheiden möchte. Es ist ein klares und starkes Signal, das der Bundestag hier sendet, indem er gemeinsam einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Ich danke all denjenigen, die sich dazu bereit
erklärt haben, Brücken zu bauen und gemeinsam diesen
Kompromiss zu finden. Das war nicht immer leicht.
Wir wissen: Jeder Organspender ist ein Lebensretter.
Jeder, der sich für die Organspende oder gegen die Organspende zu Lebzeiten entscheidet, lastet diese Entscheidung nicht seinen Angehörigen auf, die häufig in
einer ganz schwierigen Situation im Krankenhaus gefragt werden. Wer seinen Angehörigen diese Situation
ersparen möchte, der sollte sich zu Lebzeiten mit der
Frage der Organspende selbst auseinandersetzen und
eine Entscheidung treffen. Wenn mehr mitmachen, dann
müssen weniger warten. Das ist das Signal, das dieser
gemeinsame Gesetzentwurf heute sendet. Die Organspende ist ein Akt der Nächstenliebe, zu dem man sich
aktiv entscheidet. Es gibt keinen gesellschaftlichen Anspruch auf eine Organspende; aber es gibt die gesellschaftliche Erwartung, dass sich Menschen einmal im
Leben mit dem Thema Organspende auseinandersetzen.
Die Krankenkassen werden also die Versicherten auffordern, sie werden sie regelmäßig anschreiben und informieren, damit Ängste und Sorgen genommen werden,
damit über das Thema Organspende aufgeklärt wird und
die Menschen Bescheid wissen, wie diese abläuft, wie
sie entscheiden können und was sie tun können. Wir wissen, dass die Bereitschaft der Menschen in Deutschland
sehr hoch ist, ein Spenderorgan anzunehmen, wenn sie
auf ein solches angewiesen sind. Aber die Bereitschaft
der Menschen, sich deswegen für einen Organspendeausweis zu entscheiden, ist in Deutschland noch viel zu
gering.
Das zeigt: Es muss noch mehr für Aufklärung und Information getan werden. Das wird nicht nur durch die
Krankenversicherungen geschehen, weil sie dazu verpflichtet werden, sondern auch durch uns, weil wir dafür
sorgen, dass die Behörden in Deutschland zukünftig Informationsmaterial und Organspendeausweise in geeigneter Form auslegen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird begleitend eine breite
Öffentlichkeitskampagne durchführen, um die Menschen über das Thema Organspende aufzuklären.
Die Bereitschaft der Menschen, ein Organ entgegenzunehmen, wenn sie es brauchen, zeigt, dass wir uns aufeinander verlassen wollen. Diese Solidarität ist aber
keine Einbahnstraße, sondern diese Solidarität muss gelebt werden, am besten dadurch, dass man sich für eine
Organspende entscheidet.
Deshalb ist es richtig, dass wir auch die Möglichkeit
geben, den Organspendeausweis auf der elektronischen
Gesundheitskarte zu speichern. Damit erhalten die
Krankenkassen jedoch nicht etwa ein Zugangs- oder
Schreibrecht für hochsensible Gesundheitsdaten, wie es
diskutiert und kritisiert wurde, sondern wir sorgen dafür,
dass die hohen Datenschutzstandards bei den hochsensiblen Gesundheitsdaten weiter gewahrt bleiben. Die
Krankenkassen haben auch künftig keine Möglichkeit,
auf die Gesundheitsdaten der Versicherten bzw. Patienten zuzugreifen. Es bleibt das Grundprinzip erhalten:
Herr der Gesundheitsdaten bleibt der Versicherte selbst.
Er entscheidet, wer Zugriff auf die Daten hat. Die Krankenkassen alleine haben diese Möglichkeit nicht.
({1})
Wir sorgen durch bessere Information und ständige
Konfrontation dafür, dass Menschen sich mit dem
Thema Organspende auseinandersetzen. Wir fordern sie
auf, sich zu entscheiden, aber wir üben keinen Zwang
aus. Wir müssen akzeptieren, dass es Menschen gibt, die
sich vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt noch
nicht entscheiden können. Deswegen ist es richtig, dass
wir die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig auf dieses
Thema ansprechen und sie dazu anschreiben. Ich bin seit
vielen Jahren in der Initiative „No Panic for Organic“
aktiv. In dieser Initiative haben wir die Erfahrung
gesammelt, dass man diese Panik, diese Sorge, die der
eine oder andere vor der Organspende hat, dem Menschen dadurch nehmen kann, dass man ihn ganz konkret
anspricht, ihm einen Organspendeausweis in die Hand
gibt, ihn ganz konkret informiert. Genau so wollen wir
das jetzt auch mit diesem Gesetzentwurf machen.
Aber der Gesetzentwurf alleine reicht noch nicht. Der
Gesetzentwurf kann die Organspendebereitschaft erhöhen. Damit hätten wir schon sehr viel erreicht. Noch
wichtiger ist es, dass wir mit dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung und der Unterstützung durch die Fraktionen - ich bin auf die Beratungen sehr gespannt und
will auch sehr offen mit Ihnen in die Beratungen gehen,
damit wir hier große Einigkeit erreichen - dafür sorgen,
dass auch die Abläufe in den Krankenhäusern verbessert
werden.
({2})
Wir stellen fest, dass es in Deutschland in ein und derselben Stadt Krankenhäuser gibt, die viele potenzielle
Organspender melden, und Krankenhäuser gibt, die
kaum oder keine Organspender melden. Die Abläufe
und die Organisation in den Krankenhäusern müssen
unbedingt besser werden, damit wir ganz konkret eine
höhere Zahl an Organspenden erreichen.
({3})
Wir sehen im Gesetzentwurf deshalb vor, dass in
jedem Krankenhaus künftig ein Transplantationsbeauftragter zu bestellen ist, damit es in jedem Krankenhaus
jemanden gibt, der für die Abläufe zuständig ist und
dabei für Anreize sorgt, dass im Krankenhause darauf
geachtet wird: Wer ist ein potenzieller Organspender?
Wie können wir die Abläufe verbessern? Darüber hinaus
wird es in Fragen der Vergütung, der Organisation weitere Verbesserungen geben.
In den vergangenen Legislaturperioden haben wir
auch im Deutschen Bundestag, zum Beispiel in der
Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“, über die Frage der Lebendspende diskutiert.
Ich bin Ihnen, lieber Herr Steinmeier, sehr dankbar. Sie
haben uns nämlich durch Ihre Reputation und Ihre
Öffentlichkeitsarbeit geholfen, das Thema Lebendspende
in die öffentliche Diskussion zu bekommen.
({4})
Ein gemeinsames Ziel dieses Gesetzentwurfes zur Änderung des Transplantationsgesetzes ist es auch, dass wir
endlich dazu beitragen, dass für denjenigen, der sich für
die Lebendspende entscheidet, der dies aus altruistischen
Gründen tut, keine Nachteile in Versicherungsfragen
oder in rechtlicher Hinsicht entstehen. Derjenige, der
sich für die Lebendspende entscheidet, darf keine Nachteile erleiden.
({5})
Deswegen sorgen wir dafür, dass grundsätzlich die
Versicherung des Empfängers zuständig ist, wenn es um
Krankenbehandlung, Vor- und Nachbetreuung, Rehabilitation oder Übernahme von Fahrtkosten geht. Wir sorgen
erstmals dafür, dass die Gewährung von Lohnfortzah19870
lung und Krankengeld selbstverständlich wird. Wir sorgen auch dafür, dass bei der gesetzlichen Unfallversicherung eine klare und unzweideutige Regelung für die
versicherungsrechtliche Absicherung erfolgt.
Ich bin deshalb sehr froh und optimistisch, dass es uns
mit beiden Gesetzentwürfen gelingen wird, sowohl die
Organspendebereitschaft als auch die Anzahl der Organspenden zu erhöhen; denn jeder, der auf einer Warteliste
in Deutschland steht und dringend auf ein Organ wartet,
ist einer zu viel. Es ist ein starkes Signal, dass wir hier
gemeinsam daran arbeiten, die Situation in Deutschland
zu verbessern. Das ist ein Hoffnungsschimmer für die
vielen Menschen, die als Betroffene möglicherweise gerade an den Fernsehschirmen dieser Debatte zuschauen.
Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Vielen Dank für diese gemeinsame Einigkeit! Das tut
den Menschen und insbesondere den Betroffenen ganz
besonders gut.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Carola Reimann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
Organspende und die Reform des Transplantationsgesetzes beschäftigen uns hier im Hause in den verschiedenen
Gremien schon seit vielen Jahren. Für mich persönlich
zählt die Organspende zu den Themen, die mich seit
Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit begleiten, sowohl
als Mitglied des Gesundheitsausschusses als auch in der
Zeit der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der
modernen Medizin“. Umso mehr freut es mich, dass es
jetzt gelungen ist, einen Gesetzentwurf in erster Lesung
zu beraten, der von einer breiten Mehrheit der Mitglieder
aller Fraktionen getragen werden kann. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein starkes und positives Signal
für die Förderung der Organspende in Deutschland.
({0})
Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Vertretern
aller Fraktionen bedanken, die bei den nicht immer einfachen Gesprächen dieses wichtige gemeinsame Ziel
nicht aus den Augen verloren haben. Ich bin davon überzeugt, dass diese fraktionsübergreifende Einigung auch
ein gutes Zeichen für die Politik insgesamt hier im
Hause ist.
({1})
Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen:
Etwa 12 000 Menschen in Deutschland müssen auf ein
passendes Organ warten. Viel zu viele sterben, weil
ihnen kein Spenderorgan übertragen werden kann.
In den letzten Wochen und Monaten habe ich viele
Zuschriften von Betroffenen erhalten und hatte auch die
Gelegenheit, einige von ihnen persönlich zu sprechen.
Da geht es nicht allein um Fakten und Zahlen, sondern
um bewegende persönliche Schicksale, um Menschen,
die schon seit vielen Jahren auf ein Organ warten, darunter auch Kinder. Für Betroffene wie Angehörige ist das
eine extreme Belastung, die den Alltag und das Familienleben bestimmt. Sie alle verfolgen die gegenwärtige
Debatte sicher sehr aufmerksam, und natürlich erwarten
sie von uns, dass wir handeln und unseren Beitrag zur
Förderung der Organspende leisten.
Uns erreichen aber auch andere Zuschriften. Es
schreiben uns Menschen, die die Sorgen und die Not der
Betroffenen verstehen, aber fürchten, dass ihre freie Entscheidung bei einer so sensiblen Frage in Gefahr ist.
Dies sind Menschen, für die die Frage, ob sie Organe
spenden, den intimsten Bereich ihrer menschlichen
Selbstbestimmung berührt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, breite gesellschaftliche Akzeptanz für eine Neuregelung erreichen wir nur,
wenn wir beides berücksichtigen: das Ziel der Förderung
der Organspende und das Recht auf freie Entscheidung
und Selbstbestimmung. Ich bin überzeugt, dass der hier
vorliegende Gruppenantrag zur Entscheidungslösung
beiden Anforderungen gerecht wird. Ich freue mich, dass
so viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
unseren Vorschlag unterstützen.
Wir wissen, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land der Organspende positiv
gegenübersteht. Allerdings klafft - auch das ist heute
schon gesagt worden - zwischen der in Umfragen ermittelten Spendenbereitschaft der Bevölkerung und der tatsächlichen Dokumentation dieses Willens, beispielsweise auf einem Organspendeausweis, eine große
Lücke. Mit der Entscheidungslösung wollen wir diese
Lücke schließen oder zumindest verkleinern.
Ich weiß, dass diese Entscheidung für viele nicht einfach ist; denn sie setzt voraus, dass sich jeder mit seinem
eigenen Lebensende, mit seinem eigenen Tod befasst.
Gerade weil das für viele Menschen eine große Hürde
ist, wollen wir es ihnen ein bisschen leichter machen,
indem wir mit dem Thema stärker und systematischer
auf die Menschen zugehen. Jeder wird angeschrieben,
jeder wird informiert, und jeder wird aufgefordert, eine
Entscheidung, seine Entscheidung, zu treffen. Diese Entscheidung soll dokumentiert werden: zunächst auf dem
klassischen Organspendeausweis und später, wenn die
technischen und datenschutzrechtlichen Voraussetzungen geschaffen sind, auch auf der elektronischen
Gesundheitskarte. Ziel ist es, sowohl die Entscheidungsfindung als auch die Dokumentation zu erleichtern und
zu unterstützen.
Natürlich wünsche ich mir, dass sich die positive
Grundhaltung zur Organspende dann auch in einer höheren dokumentierten Organspendebereitschaft ausdrückt.
Am Ende bleibt dies aber die ganz persönliche EntscheiDr. Carola Reimann
dung jedes Einzelnen. Die Botschaft ist klar: Jede dokumentierte Entscheidung hilft; denn sie befreit die Angehörigen von der Last einer Entscheidung im Moment der
Trauer und stellt sicher, dass allein die bewusst getroffene, selbstbestimmte Entscheidung Anwendung findet.
Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt,
dass wir mit dem Gruppenantrag zur Entscheidungslösung eine gute und tragfähige Lösung gefunden haben.
So werden wir unser Ziel, die Entscheidung zur Organspende zu erleichtern, erreichen.
Zusammen mit dem Gesetzentwurf zu den technischorganisatorischen Fragen der Organspende bringen wir
ein gutes Paket auf den Weg, das wichtige und richtige
Impulse zur Förderung der Organspende enthält. Ich
hoffe, dass diese erste Lesung nicht nur der Startpunkt
einer parlamentarischen Beratung in diesem Hause ist,
sondern dass mit Ihrer Hilfe die Debatte vor Ort, in den
Wahlkreisen geführt wird und dieses Thema damit weiterhin die benötigte Aufmerksamkeit erhält; denn das,
glaube ich, ist das zentrale Anliegen.
Danke.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Jens Spahn.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gibt es ein Recht des Staates, sich in die sehr individuelle Entscheidung zur Organspende einzumischen und
eine Entscheidung abzufragen? Ich denke: Ja, dieses
Recht gibt es, und zwar aus drei Gründen:
Zum einen haben die, die auf eine Organspende warten - weil etwa die Niere nicht mehr funktioniert und sie
alle zwei Tage zur Dialyse müssen -, die hoffen und
natürlich auch deren Angehörige, die mit leiden, mit hoffen und mit warten, einen Anspruch darauf, dass wir uns
mit diesem Thema beschäftigen. Es ist schon gesagt
worden: Allein in Deutschland warten 12 000 Menschen
auf eine Organspende; jeden Tag sterben drei von ihnen.
Wir machen das auch aus Solidarität zu anderen europäischen Ländern, weil wir mit diesen einen Verbund
haben. Insofern werden deutlich mehr Menschen von der
Regelung, die wir treffen wollen, profitieren. Es gibt
einen Anspruch dieser Menschen, dass sich jeder Einzelne von uns, aber auch die Gesellschaft insgesamt mit
diesem Thema beschäftigt, nicht weil es ein Anrecht auf
Organspende gibt, nicht weil jemand einen Anspruch
hat, ein Organ zu bekommen, sondern weil es eine
Verpflichtung der anderen gibt, sich aus Nächstenliebe
- wenn man dieses schöne Wort benutzen will - mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Deswegen ist heute
mit diesem gemeinsamen Gesetzentwurf ein guter Tag
für diejenigen Menschen in Deutschland, die auf eine
Organspende warten.
({0})
Zum Zweiten gibt es für uns im Deutschen Bundestag
einen Grund, sich damit zu beschäftigen, weil es - das
ist schon gesagt worden - eine offensichtliche Lücke
gibt zwischen der in Umfragen dokumentierten Bereitschaft zur Organspende, bei denen drei Viertel der
Bevölkerung sagen, sie könnten sich vorstellen, Organspender zu sein, und der tatsächlich erklärten und dokumentierten Bereitschaft, Organspender zu sein. Wir wollen und müssen Zeitpunkte und Orte schaffen, um über
die Entscheidung zur Organspende zu diskutieren. Das
wollen wir vor allem tun, indem wir diese Debatte in die
Familien, in die Freundeskreise bringen; denn mit dem
Versenden einer Karte ist gleichzeitig die Aufforderung
verbunden, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und
werden Informationen gegeben. Es ist ganz wichtig: Wir
wollen nicht überreden, wir wollen überzeugen, Organspender zu werden, vielleicht aber etwas penetranter, als
wir es bisher getan haben. Wir müssen gerade in den Familien und Freundeskreisen Zeitpunkte und Orte für Entscheidungen schaffen.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich in meinem
Freundeskreis zwei Stunden intensiv über das Thema
Organspende diskutiert habe. Man kann in solchen Diskussionen nicht immer alles rational erklären. Ich selber
habe einen Organspendeausweis. Für mich habe ich die
Spende des Herzens ausgeschlossen. Ich kann Ihnen
nicht erklären, warum. Manchmal ist dies eine sehr emotionale und individuelle Entscheidung. Wichtig ist aber,
diese Debatte zu führen und eine Entscheidung zu treffen.
Denjenigen, die sagen, dass es eigentlich zu wenig
sei, die Leute anzuschreiben und abzufragen, sage ich,
dass sie das nicht unterschätzen sollen. Für viele ist es
schon eine Zumutung, regelmäßig angeschrieben und
gefragt zu werden. Es gibt nicht besonders viele Themen, bei denen wir als Staat, als Gesellschaft sagen: Wir
schreiben dich regelmäßig an. Wir fordern dich regelmäßig auf. Jedes Mal, wenn du einen Personalausweis
oder einen Führerschein beantragst, wirst du in Zukunft
auch Informationen - hier: zur Organspende - bekommen. - Das machen wir - weiß Gott! - nicht bei jedem
Thema, sondern nur ganz speziell bei diesem. Das ist
schon eine deutliche Qualitätsveränderung im Vergleich
zu dem, was wir heute haben. Wie gesagt: Einige erleben
schon das als Zumutung.
Deswegen glaube ich, dass insgesamt ein guter Kompromiss entstanden ist: mehr zu informieren, mehr aufzuklären, manchmal vielleicht sogar ein wenig zu nerven, aber immer in der Absicht, zu überzeugen und nicht
zu überreden, am Ende nicht mit Zwang zu arbeiten,
sondern mit der Verpflichtung, sich mit dem Thema zu
beschäftigen. Wir jedenfalls halten das für einen guten
Kompromiss.
({1})
Es gibt einen dritten wichtigen Aspekt, warum es gut
ist, dass wir uns heute mit diesem Thema beschäftigen.
In diesem Zusammenhang bin ich auch vielen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar, die gesagt haben, sie
würden gerne über die Widerspruchslösung diskutieren,
wie sie in Spanien praktiziert wird. Aber alle Beteiligten
haben gesagt: Wir sind bereit, gemeinsam zunächst diesen ersten Schritt mit der Entscheidungslösung zu gehen:
mehr zu informieren, aufzuklären und abzufragen.
Gleichzeitig geht es darum - das ist sehr wichtig; es
wurde bereits gesagt -, die Abläufe in den Kliniken zu
verbessern und dort Transplantationsbeauftragte zu bestellen. Insgesamt soll in den Krankenhäusern besser als
bisher darauf geschaut werden: Wo ist tatsächlich die
Möglichkeit zur Organspende vorhanden?
Es geht also darum, gemeinsam zu schauen, ob diese
beiden Maßnahmen - Information der Bürgerinnen und
Bürger und bessere Abläufe in den Kliniken - nicht tatsächlich zu einer höheren Zahl von Organspendern in
Deutschland führen. Dadurch würden sich vielleicht
viele andere Debatten erübrigen, die am Ende deutlich
schwieriger wären, auch in der Abwägung, und die
ethisch grundsätzlich noch weiter eingreifen würden. Ich
bin angesichts der Erfahrungen, die andere Länder gemacht haben, was diese beiden Maßnahmen angeht, optimistisch, dass es gelingen kann, die Zahl der Organspender in Deutschland Schritt für Schritt - das wird
nicht von heute auf morgen gehen - über die nächsten
Jahre zu erhöhen.
Es ist ein schönes, ein deutliches Zeichen - da bin ich
den Vorsitzenden aller Fraktionen und allen Kolleginnen
und Kollegen, die an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, sehr dankbar -, dass wir das Ganze hier im
Deutschen Bundestag in großer Einigkeit auf den Weg
bringen und dass wir gemeinsam sagen: Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir wollen, dass ihr euch mit dem
Thema beschäftigt und damit auseinandersetzt, dass ihr
in der Familie und mit Freunden die Debatte darüber
führt. Denn - auch das ist schon gesagt worden - wenn
man sich nicht selbst entscheidet, muss die Familie,
müssen die Angehörigen die Entscheidung treffen. Das
ist wahrlich keine einfache Situation, wenn es denn dann
zum Fall der Fälle kommt.
Deswegen noch einmal einen herzlichen Dank an alle,
die mitgeholfen haben, dass dieses gemeinsame Werk
gelungen ist!
({2})
Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute reden wir über den Gesetzentwurf zur Einführung
der Entscheidungslösung bei der Organspende. Ich
möchte erklären, warum ich - wie viele Mitglieder meiner Fraktion - diesem so nicht zustimmen kann, und
möchte für Veränderungen werben.
Wenn wir über Organspende reden, dann müssen wir
auch über Ethik reden. Wir dürfen uns als gewählte Abgeordnete bei Fragen von Leben und Tod nicht darum
herumdrücken, dass uns das Grundgesetz in Art. 1 einen
besonderen Auftrag gegeben hat. Da heißt es: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar.“
Den Anspruch auf Würde kann ein Mensch nicht verlieren. Sie steht ihm jederzeit und uneingeschränkt zu,
und es ist unser Auftrag, sie zu schützen. Weil der Prozess des Sterbens ein Teil des Lebens ist, gilt das Gebot
des Würdeschutzes gerade auch für Sterbende. Im Umgang mit Sterben und Tod offenbart sich unser Verständnis von Menschlichkeit. Menschen dürfen nicht zum Objekt fremder Interessen gemacht werden, weil das ihre
Würde verletzt.
({0})
Deswegen müssen wir beim Thema Organspende ganz
besonders sensibel mit diesem Spannungsfeld umgehen.
Auf der einen Seite gibt es die 12 000 schwerkranken
Menschen, die sich von einer Organtransplantation die
Chance auf wenigstens noch ein paar Lebensjahre, auf
mehr Lebensqualität erhoffen. Die bloße Zahl gibt uns
aber keine gute Vorstellung davon, was die Hoffnung auf
ein Spenderorgan für diese Menschen und ihre Angehörigen bedeutet. Sie wissen: Damit ich leben kann, muss
jemand anderes sterben - jemand, der ein gesundes
Herz, eine gesunde Niere oder eine gesunde Leber hat,
die dann in meinem Körper weiterarbeitet und mich rettet. - Ich habe in meinem Bekanntenkreis, liebe Kolleginnen und Kollegen, mehrere Betroffene, die diese Situation erleben oder erlebt haben. Ich wünsche jedem
Einzelnen wirklich von Herzen das große Glück, durch
ein passendes Organ gerettet zu werden.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, denen diese
Organe entnommen werden sollen. Sie sind mit derselben Würde und denselben Rechten wie diejenigen ausgestattet, die die Organe empfangen sollen.
Das Kriterium des Hirntods - der Hirntod ist nach
dem Transplantationsgesetz eine Voraussetzung für die
Organentnahme - belässt uns einen Rest an Unsicherheit, ob ein Mensch noch lebend oder schon tot ist. Wir
dürfen diesen Menschen also nicht zum Objekt machen,
sondern müssen ihn so behandeln, wie er es vermutlich
selbst entscheiden würde. Deswegen ist es ethisch absolut geboten, die Entscheidung, ob ich Organspender oder
Organspenderin sein will, freiwillig, selbstbestimmt und
gut informiert zu treffen, und zwar dann, wenn ich es
noch selbst kann. Das haben schon mehrere Kolleginnen
und Kollegen gesagt: Es entlastet die Angehörigen; es
schafft Rechtssicherheit für das Krankenhauspersonal.
Vor allem ist es für diejenigen, die die Organe bekommen sollen, wichtig, zu wissen, dass diese ihnen aus reiner Mitmenschlichkeit gegeben werden.
In einem Gesundheitswesen, das zunehmend nach
rein wirtschaftlichen Erwägungen geführt wird, verlieren leider viele Menschen das Vertrauen, dass sie vom
ersten bis zum letzten Moment ihres Lebens mit voller
Achtsamkeit umsorgt und auch im Sterben als Mensch
behandelt werden.
({1})
Ich bin überzeugt, dass das allerbeste Mittel zur Förderung der Organspendebereitschaft ein solidarisches Gesundheitssystem ist,
({2})
eines, in dem der Mensch immer, unter allen Umständen
und zu jedem Zeitpunkt, im Mittelpunkt steht. Denn wer
die Gewissheit hat, dass alles Notwendige getan wird,
um ihn am Leben zu erhalten, um seine Würde zu wahren und ihn auch dann zu versorgen, wenn sich das einmal nicht mehr rechnet, der kann sich leichter mit dem
Gedanken anfreunden, die eigenen Organe am Ende des
Lebens jemand anderem zu überlassen und diesem damit
weitere Lebenszeit zu schenken.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll jetzt die
bisherige Zustimmungslösung durch eine Entscheidungslösung ersetzt werden. Das heißt, dass die Krankenversicherungen ihre Versicherten regelmäßig über
Organspende informieren und zu einer Entscheidung
auffordern sollen. So weit kann ich und kann auch die
große Mehrheit meiner Fraktion absolut mitgehen.
({3})
Schließlich ist Aufklärung die Voraussetzung für eine
selbstbestimmte Entscheidung.
Aber es gibt bei uns auch erhebliche Kritik an diesem
Gesetzentwurf. Selbstverständlich kann solch ein Gesetz, das von allen Fraktionsvorsitzenden gemeinsam
eingebracht wird, immer nur ein Kompromiss zwischen
unterschiedlichen Auffassungen sein. Aber ich habe den
Eindruck: Hier wurde so lange nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht, dass das Ergebnis nicht
mehr den hohen Erwartungen entspricht.
So gibt es doch einen gewissen Widerspruch zwischen der ausgewiesenen Zielsetzung, die Zahl der Organspender zu erhöhen, und der Maßgabe, die Beratung
ergebnisoffen zu führen. Auch können wir uns eine qualifizierte Beratung eigentlich nicht vorstellen, ohne dass
es dafür Mittel gibt. Aber das ist gerade nicht vorgesehen. Wir brauchen doch ein Netz von Beratungsstellen,
bei denen sich Menschen von Angesicht zu Angesicht
beraten lassen können, ob sie eine solche Entscheidung
treffen wollen.
Mittel in unbestimmter Höhe stellen Sie aber für den
weiteren Ausbau der Telematikinfrastruktur für die elektronische Gesundheitskarte zur Verfügung. Zudem sollen
künftig auch Krankenkassenmitarbeiter ein Schreibrecht
bekommen.
({4})
- Auch wenn das zunächst geprüft werden soll: Wir haben Erfahrungen gemacht, wie in diesem Projekt mit
Prüfungen umgegangen wird. - Ich meine, die Schaffung einer zentralistischen Telematikinfrastruktur für das
Gesundheitswesen ist und bleibt ein Irrweg; das wird
auch nicht besser, wenn man die Karte mit weiteren
Funktionen ausstattet.
({5})
Im Übrigen gibt es keinen sachlichen Grund, warum
eine Organspendeerklärung in einer verschlüsselten Datei auf einem Chip oder Server zweckmäßiger sein sollte
als der gute, alte Organspendeausweis, den uns Herr
Brüderle vorhin gezeigt hat. Denn im Gegenteil: Die
elektronisch gespeicherte Erklärung bedeutet weniger
Selbstbestimmung, weniger Auseinandersetzung und
weniger Sicherheit.
Wie muss ich mir das vorstellen? Wenn in Zukunft
ein Azubi seine erste eigene Krankenversicherung abschließt, soll er erklären, ob er Organspender ist oder
nicht. Weil er sich damit bisher noch nicht so richtig beschäftigt hat, trifft er vielleicht aus dem Bauch heraus
die eine oder andere Entscheidung. Das wird auf der
Karte eingetragen und ist damit für ihn erst einmal erledigt; aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn er dann mit
30 erstmals anfängt, sich mit der eigenen Sterblichkeit
zu beschäftigen, hat er vielleicht schon vergessen, dass
er sich schon einmal entschieden hat. Wenn er mit 40 bei
der Arbeit auf einer niederländischen Baustelle einen
tödlichen Unfall erleidet, dann kann dort niemand feststellen, wie seine Entscheidung aussah; denn die deutsche E-Card funktioniert nur zusammen mit einem deutschen Heilberufsausweis. Außerdem schaffen Sie durch
eine solche Regelung unterschiedliche Dokumentationsstandards nicht nur in Europa, sondern auch für gesetzlich und privat Versicherte; denn die privaten Versicherungsunternehmen machen bei der E-Card gar nicht mit.
Für mich ergibt dies alles nur einen Sinn, wenn man
die Speicherung der Erklärung doch irgendwann nutzen
will, um die Menschen zu kontrollieren und gegebenenfalls Druck auf sie auszuüben.
({6})
Herr Steinmeier hat darauf hingewiesen, dass es durchaus Debatten in diese Richtung gibt, zum Beispiel über
finanzielle Anreize und Ähnliches. Er hat vollkommen
recht, wenn er sagt, dass eine solche Entwicklung unbedingt abzulehnen ist.
({7})
Es wäre auch absolut nicht geeignet, das Vertrauen in
unser Gesundheitssystem zu verbessern und die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Entscheidung zur
Organspende für sie der richtige Weg und menschlich
ist.
Es heißt, kein Gesetzentwurf verlasse dieses Haus so,
wie er hineingekommen ist. Deswegen werde ich mich
mit anderen Kolleginnen und Kollegen im weiteren Verfahren für die Streichung des Art. 2 des gemeinsamen
Gesetzentwurfs einsetzen. Ich bitte dafür um Ihre Unterstützung.
Ich danke Ihnen.
({8})
Und nun hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gruppenantrag zur Entscheidungslösung haben wir einen Kompromiss gefunden,
der die Freiheit der persönlichen Entscheidung über eine
Organspende bewahrt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, war nicht selbstverständlich; denn die öffentliche
und auch die interne Diskussion der letzten Monate war
sehr komplex. Es wurde eine verpflichtende Erklärung
gefordert, es wurde von Aufklärung und Erklärung bei
der Ausgabe des Führerscheins gesprochen, und nicht
zuletzt wurde auch die Widerspruchslösung thematisiert.
Es ist ein Erfolg, dass es zu alledem nicht gekommen ist.
Es war uns Grünen ein wichtiges Anliegen, dass die Organspendeerklärung auch weiterhin strikt freiwillig
bleibt. Dazu gehört auch das Recht, sich nicht zu entscheiden. Der Gesetzgeber darf niemanden verpflichten,
sich in dieser höchst persönlichen Frage zu äußern.
({0})
Für uns ist noch ein weiterer Punkt zentral. Es darf
keinerlei moralischer Druck auf die Bürgerinnen und
Bürger ausgeübt werden. Es darf niemand gedrängt werden, der Organspende zuzustimmen, weil eigentlich nur
ein Ja die richtige Entscheidung ist. Ich persönlich bin
Organspenderin. Andere Menschen aber lehnen die Organspende ab oder wollen nur bestimmte Organe spenden. Die Gründe dafür sind immer sehr persönlich, und
für mich ist jede persönliche Entscheidung vorbehaltlos
zu akzeptieren.
({1})
Niemand sollte sich zu einer Bewertung dieser persönlichen Entscheidung eines anderen Menschen aufschwingen. Darum muss die Aufklärung über die Organspende,
die wir in diesem Gesetzentwurf stärken, ergebnisoffen
und wertfrei sein. Ich bin sehr froh, dass wir uns am
Ende darauf einigen konnten, die Aspekte „Freiwilligkeit der Entscheidung“ und „ergebnisoffene Aufklärung“ in den Gesetzentwurf aufzunehmen.
Allerdings haben einige von uns Grünen - so auch
Harald Terpe und ich - noch erhebliche Bedenken zu einem Teil der geplanten Regelungen. Ab 2016 soll es ein
Verfahren geben, das es den Krankenkassen ermöglicht,
die Organspendeerklärung eines Versicherten auf der
elektronischen Gesundheitskarte zu speichern und zu löschen. Es soll zwar nur mit der ausdrücklichen Zustimmung der Versicherten möglich sein, aber es ist auch
jetzt schon so geplant, dass die Zustimmung der Versicherten immer notwendig ist. Das ist kein Ausnahmezustand.
({2})
Dennoch: Diese Zugriffsberechtigung stellt einen Bruch
mit den strengen Datenschutzregeln dar, die bisher aus
guten Gründen für die Gesundheitskarte gelten. Eine
dieser Regeln besagt, dass die Krankenkassen keinerlei
Zugriff auf sensible Versichertendaten erhalten.
({3})
Dies wird unserer Meinung nach mit dieser Regelung
verletzt.
({4})
Wir befürchten, dass damit nicht nur das sehr fragile
Vertrauen der Bevölkerung in die Gesundheitskarte, sondern gleichzeitig auch das Vertrauen in die Organspende
Schaden nehmen könnte. Außerdem halte ich persönlich
den Nutzen dieser Maßnahme im Zusammenhang mit
der Organspende für sehr überschaubar. Ich denke, dass
wir darauf durchaus verzichten können.
Wir werden einen Änderungsantrag einbringen, der
die Streichung der vorgesehenen Schreibrechtregelung
vorschlägt. Dieser Antrag ist genau wie der Gesetzentwurf ein Gruppenantrag. Deshalb werden wir diesen
Änderungsantrag allen Mitgliedern dieses Hauses zur
Verfügung stellen. Wir freuen uns sehr über Ihre Unterstützung.
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Mit dem
Änderungsantrag stelle ich persönlich den vorliegenden
Gesetzentwurf nicht infrage. Ich stehe zu dem Konsens,
ich habe ihn mit verhandelt, ich werde ihn unterzeichnen, und ich werde ihm auch meine Stimme geben. Das
Ziel unseres Änderungsantrages ist es, den Gesetzentwurf an sich zu verbessern.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, mit dem vorliegenden Kompromiss wird die
wichtige Debatte zur Organspende tiefer in die Gesellschaft und in die Familien getragen. Ich bin der Auffassung: Die Familien sind der richtige Ort; dort gehört
diese Debatte hin. Es ist wichtig, über die Entscheidung
für oder gegen eine Organspende mit den nächsten Angehörigen zu sprechen; denn das schafft Klarheit, und
das nimmt auch den Druck, für jemanden entscheiden zu
müssen.
Ob es durch den vorliegenden Gesetzentwurf zu mehr
Organspenden kommen wird, werden wir sehen. Uns allen muss aber auch klar sein, dass uns die Anzahl von
3 000 bis 5 000 hirntoten Menschen pro Jahr auch die
Grenzen der Organspende aufzeigt. Das müssen wir
auch akzeptieren.
Insgesamt denke ich, dass die organisatorische Verbesserung in den Kliniken eine wesentlich größere Bedeutung haben wird. Dazu werden wir mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung die richtigen Schritte
gehen. Entscheidend ist, dass wir jede und jeden dazu
anregen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen - ohne
Zwang und ohne jemanden zu einer bestimmten Entscheidung zu drängen. Diese Debatte heute kann nicht
alle Fragen und auch Probleme der Organspende lösen
bzw. klären. Wir werden weiter darüber diskutieren; aber
heute ist ein erster wichtiger Schritt getan.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Zöller.
({0})
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Unser erfreulicherweise gemeinsames Ziel ist
es, möglichst vielen der etwa 12 000 Menschen, die auf
der Warteliste stehen, durch eine Organtransplantation
eine Chance zum Überleben zu geben. Dieses Ziel ist
nur durch eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zu
erreichen. Ich hoffe daher, dass die große, fraktionsübergreifende Mehrheit im Deutschen Bundestag eine Signalwirkung nach außen entfacht.
Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir Antworten
auf Fragen besorgter Bürger: Wieso sind laut Umfragen
74 Prozent der Bevölkerung bereit, nach ihrem Tod Organe zu spenden, aber warum handeln nur 25 Prozent
danach? Warum sterben 21 Menschen pro Woche unter
uns, die vergeblich auf Organe warten? Was machen andere Länder besser, die mehr Spender haben als wir? Wir
haben nur rund 15 Spender auf 1 Million Einwohner und
befinden uns damit international im unteren Drittel. Die
Antworten sind sicher vielfältig. Aus Bequemlichkeit?
Aus Unwissenheit? Aus Verunsicherung durch offene
Fragen: Wann bin ich tot? Lassen mich die Ärzte womöglich zu früh sterben, wenn ich einen Organspenderausweis habe? Es geht aber auch um die Frage: Wer
zahlt meinen Lohnausfall, wenn ich wegen einer Lebendspende Einkommensausfälle habe? Ärzte machen
sich Gedanken: Soll ich die Eltern eines sterbenden Kindes wirklich mit einer solchen Frage belasten und sie ansprechen?
Es sind sehr persönliche Fragen, deren Nichtbeantwortung aber viele abhält. Dabei geht es zum Beispiel
um die Frage: Wird mein Körper durch eine Organ- oder
Gewebeentnahme entstellt? Nicht alle wissen, dass die
Entnahme in einem normalen Operationssaal stattfindet
und dass das Transplantationsteam respektvoll mit dem
Körper der Toten umgeht.
Um die Beantwortung der von mir genannten Fragen
geht es auch heute. Mit dem Transplantationsgesetz wollen wir gemeinsam die Strukturen in den Krankenhäusern verbessern, und mit der Entscheidungslösung wollen wir möglichst viele potenzielle Spender gewinnen.
Zur Erhöhung der Akzeptanz halte ich es für sehr
wichtig, dass die Einwilligung freiwillig bleibt. Ja oder
Nein zu sagen, sich später oder gar nicht zu erklären, das
bleibt jedem überlassen; denn es handelt sich weiterhin
um eine freiwillige Spende aus Solidarität und Nächstenliebe. Niemand wird verpflichtet. Ich halte nichts von
Zwang. Damit entkräftet man Vorbehalte nicht, sondern
baut emotionale Hürden auf. Freiwilligkeit setzt eine
transparente Information voraus, damit eine individuelle
und qualifizierte Entscheidung möglich ist.
Viele gehen dem Thema aus dem Weg, verkennen
aber, dass im Todesfall die nächsten Angehörigen die
Entscheidung treffen müssen.
Eine besonders wirksame Verbesserung sehe ich in
der Bestellung von Transplantationsbeauftragten in Entnahmekrankenhäusern, die den gesamten Ablauf professionell und - das ist noch viel wichtiger - menschlich
begleiten.
({0})
Dadurch wird das gesamte Personal besser vorbereitet,
und die Angehörigen werden so angemessen begleitet.
Dies ist im Übrigen einer der Hauptgründe, warum in
Spanien mehr als doppelt so viele Spenderorgane zur
Verfügung stehen als in Deutschland. Dort werden die
Transplantationsbeauftragten geschult. Sie lernen zum
Beispiel, wie man Angehörige rechtzeitig in die Entscheidung einbindet.
({1})
Auch die Absicherung von Lebendspendern wird
deutlich verbessert. Einkommensausfälle werden durch
die Einbeziehung der Spender in das Entgeltfortzahlungsgesetz kompensiert, und Unklarheiten hinsichtlich
der Sozialversicherung werden beseitigt.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dies ein guter
Tag für alle ist; denn jeden kann es treffen. Jeder kann
von diesen Gesetzesänderungen profitieren, als Lebenschenkender oder als -empfänger. Lassen Sie mich mit
einem Zitat von Franz Beckenbauer schließen.
({2})
- Sie werden sich jetzt vielleicht wundern. Ich könnte
natürlich sagen: Nach dem Fußballergebnis von gestern
Abend ist mir das eine besondere Freude. - Franz Beckenbauer hat gesagt:
Als Organspender bin ich selbst am Ende meines
Lebens noch reich. Ich kann einem anderen das Leben schenken.
Vielen Dank.
({3})
Marlies Volkmer ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Ziel ist es, dass sich mehr Menschen in Deutschland
für eine Organspende entscheiden und das auch dokumentieren.
({0})
Wir wollen, dass nicht länger so viele Menschen mit einer stark eingeschränkten Lebensqualität jahrelang hän19876
deringend auf ein Organ warten oder gar versterben,
während sie auf der Warteliste stehen.
In der Öffentlichkeit ist viel über die Entscheidungslösung gesprochen worden, auch heute hier. Das ist auch
nicht verwunderlich; denn diese Entscheidungslösung
betrifft jeden von uns ganz unmittelbar, und sie ist in der
Öffentlichkeit leicht darstellbar. Die Fraktionsvorsitzenden haben sich dieses Themas persönlich angenommen.
Es ist gut, dass wir eine fraktionsübergreifende Lösung
gefunden haben.
Um eine Entscheidung treffen zu können, benötigt
man Informationen; denn sonst entscheidet man aus dem
Bauch heraus. Deswegen ist eine bessere Aufklärung der
Bevölkerung über die Organspende Teil des Gesetzentwurfs zur Regelung der Entscheidungslösung.
Zum Thema Aufklärung möchte ich zwei Punkte besonders hervorheben.
Erstens. Jedem Menschen muss bewusst sein: Wenn
er sich nicht selbst für oder gegen eine Organspende entscheidet, erlegt er diese Entscheidung seinen Angehörigen auf. Mit der eigenen Nichtentscheidung zwinge ich
andere, diese Entscheidung für mich zu treffen.
Zweitens. Wer eine Patientenverfügung verfasst, dem
muss bewusst sein: Ein ausnahmsloser Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen schließt in der Regel
auch Organspenden aus. Patientenverfügungen haben im
letzten Jahr zu einer Abnahme der Zahl der Organspenden beigetragen. Aber das muss nicht so sein. Durch entsprechende Formulierungen lässt sich das miteinander
vereinbaren.
Die vorgesehene Regelung zur Entscheidungslösung
ist allerdings nur ein - wenn auch ein ganz wichtiger Baustein zur Förderung der Organspende. Wie wir an
den unterschiedlichen Aufkommen an Spenderorganen
in den Bundesländern sehen, spielt die Organisation der
Abläufe um eine Organspende eine Rolle. So schwankt
die Zahl der Organspender je 1 Million Einwohner zum
Beispiel zwischen 11 in Baden-Württemberg und 24 in
Thüringen. Daher befasst sich ein zweiter Gesetzentwurf
mit der Novellierung des bestehenden Transplantationsgesetzes. Die vorliegende Novelle hat das Ziel, einheitliche Standards im Transplantationsprozess sicherzustellen und die Abläufe der Organspende zu verbessern.
Die grundsätzliche Verpflichtung für alle Krankenhäuser mit Intensivstationen, mindestens einen Transplantationsbeauftragten zu bestellen, ist sicherlich eine
der wichtigsten Regelungen des Gesetzentwurfs. Transplantationsbeauftragte stehen für eine Verbesserung der
Abläufe. Sie sind die „Kümmerer“, die für alle Belange
der Organspende vor Ort, innerhalb des Krankenhauses,
zuständig sind. Durch ihre Tätigkeit können sie ihre Kolleginnen und Kollegen, von der Reinigungskraft bis zur
Chefärztin, für die Belange der Organspende sensibilisieren. Zum Beispiel können sie verdeutlichen, dass ein
völlig sinnloser Unfalltod nicht mehr ganz so sinnlos ist,
wenn dadurch ein anderes Leben gerettet werden kann.
Es ist auch wichtig, dass die Transplantationsbeauftragten zur frühzeitigen Erkennung potenzieller Spender
beitragen. Wir haben in Deutschland 1 400 Krankenhäuser mit Intensivstationen, hatten aber im vorigen Jahr nur
1 900 Meldungen in Bezug auf potenzielle Organspender. Nicht einmal die Hälfte aller Krankenhäuser mit Intensivstationen beteiligt sich überhaupt daran, potenzielle Organspender zu melden. Die Zahl derer, die als
Spender in Betracht kommen, liegt nach Schätzungen
von Experten doppelt so hoch, wie Meldungen erfolgen.
Angesichts der 12 000 Menschen, die dringend auf ein
Organ warten, ist das nicht hinnehmbar.
Leider fehlen bisher in dem vorliegenden Gesetzentwurf die von Minister Bahr angekündigten Verbesserungen für Lebendspender, also Menschen, die beispielsweise einem ihrer Angehörigen eine Niere spenden.
Diese Menschen handeln in einem hohen Maße selbstlos. Wir sind es ihnen schuldig, Unklarheiten und Unsicherheiten, die im Rahmen ihres Versicherungsschutzes
bestehen, zu beseitigen.
({1})
Sobald der Empfänger Mitglied in der privaten Krankenversicherung ist, die Unterbrechung der Arbeitstätigkeit
des Spenders mehr als einen Monat dauert oder es nach
Jahren Komplikationen gibt, kommt es zu Schwierigkeiten. Diesen Zustand wollen wir ändern.
({2})
Unser Ziel ist es, dass die Spender materiell nicht
schlechter gestellt werden, als wenn sie kein Organ gespendet hätten.
Diese wichtigen Änderungen sollen im weiteren Verfahren eingebracht werden. Da die gemeinsamen Gespräche zwischen den Fraktionen bisher sehr konstruktiv
verlaufen sind, gehe ich davon aus, dass wir uns bei diesen noch offenen Punkten einigen können. Am Ende
kommt es nicht darauf an, wer seine Position am meisten
durchgesetzt hat, sondern darauf, wie vielen Menschen
wir besser helfen können.
({3})
Die Kollegin Gabriele Molitor ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt Ereignisse, die sich im Gedächtnis
einbrennen, zum Beispiel die Landung des ersten Menschen auf dem Mond oder die erste Herztransplantation.
({0})
- Genau. - Der südafrikanische Chirurg Christiaan
Barnard nahm sie 1967 vor. Diese medizinische Sensation löste damals eine heftige Diskussion aus. Seither ist
die medizinische Forschung enorm vorangekommen.
({1})
Die Debatte in unserer Gesellschaft ist ebenfalls vorangeschritten. Mittlerweile können viele schwerkranke
Menschen durch eine Organspende gerettet werden.
Aber - die Umfrage ist hier schon mehrfach genannt
worden -: 74 Prozent der Bevölkerung würden einer Organspende zustimmen, aber nur 25 Prozent haben tatsächlich einen Organspendeausweis bei sich. Diese Lücke möchten wir verkleinern. Deswegen legen wir den
Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz vor. Wir wollen,
dass sich die Menschen mit dem Thema auseinandersetzen. Wir wollen sie dafür gewinnen, sich für die postmortale Organspende zu entscheiden.
Die Krankenkassen sollen die Menschen zukünftig
regelmäßig anschreiben, ihnen Ausweisvordrucke mitschicken, und sie auffordern, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Diese flächendeckende Befragung ist ein Novum. Ich glaube, dass wir auf diesem Weg letztlich mehr
Menschen dafür gewinnen können, einen Organspendeausweis zu unterschreiben.
Manchen geht dieser Gesetzentwurf nicht weit genug.
Ich kann sehr gut verstehen, dass schwerkranke Menschen mehr Druck erwarten. Doch die Ängste und Hoffnungen derer, die auf ein rettendes Organ warten, sind
das eine. Das andere sind die Sorgen und Vorbehalte
potenzieller Spender. Schließlich geht es um den eigenen
Körper. Und: Wir verlangen von den Menschen, dass sie
sich mit ihrem eigenen Tod befassen. Deswegen war die
Widerspruchslösung für die FDP keine Alternative. Für
mich und meine Fraktion war klar: Die Entscheidung für
einen Organspendeausweis muss freiwillig bleiben.
({2})
Einem unbekannten Menschen seine Organe zu hinterlassen, ist ein Akt der Nächstenliebe. Der Charakter
einer Spende muss erhalten bleiben. Und: Der Staat kann
und darf Nächstenliebe nicht gesetzlich verordnen. Während Befürworter der Widerspruchslösung auch ein
Stück weit auf die Trägheit der Bürger setzen, setzen wir
mit der Entscheidungslösung darauf, dass die Bürger
eine bewusste Entscheidung treffen, eine bewusste Entscheidung für die Organspende.
({3})
In einem Klima der freien Entscheidung - davon bin ich
zutiefst überzeugt - werden sich mehr Menschen dazu
bereit erklären. Das wird mehr Erfolg haben als Zwang.
Allen Versuchen, Druck auszuüben, sind wir entgegengetreten. Es gibt aber auch eine Verantwortung gegenüber den Angehörigen. Denn schon jetzt ist es möglich, dass Angehörige eines gehirntoten Menschen einer
Organspende zustimmen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte
Sie darum bitten, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Wenn das Parlament mit großer Geschlossenheit hinter
dieser Idee steht, werden sich auch die Bürgerinnen und
Bürger dafür entscheiden. Das wird die Chancen auf ein
lebensrettendes Organ für viele Menschen erhöhen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Birgitt Bender.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut
und wichtig, dass wir mit einer breit getragenen Regelung dafür sorgen wollen, dass die Debatte um die Organspende an die Tische der Familien kommt. Hüten
sollten wir uns aber vor Erfolgsmeldungen nach dem
Motto: Jetzt wird alles besser. Ich glaube, wir brauchen
eine offene und ehrliche Debatte, und zwar sowohl über
die Bedeutung, die neue Regelungen für schwerkranke
Menschen haben können, denen durch ein Spenderorgan
Lebenszeit geschenkt werden kann, als auch über die
Bedeutung der Regelungen für Menschen, die sich möglicherweise zum Spenden von Organen und Geweben
entscheiden.
Es war schon die Rede von den 12 000 Menschen, die
auf ein Spenderorgan warten, und auch davon, dass jährlich 3 000 bis 5 000 Menschen über den Weg eines Hirntods sterben. Dass das nicht mehr sind, ist für sich genommen eine gute Nachricht, weil das bedeutet, dass
bestimmte Maßnahmen wie zum Beispiel der Einbau
von Airbags Menschen das Überleben ermöglichen.
Im Jahre 2010 waren es 600 dieser Hirntoten, die keinen Organspendeausweis hatten und bei denen sich auch
die Angehörigen außerstande sahen, als Ausdruck des
mutmaßlichen Willens der Betroffenen die Zustimmung
zu erteilen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass sich
möglicherweise mehr Menschen für eine Organspende
bereit erklären, und wir wissen, dass jeder Mensch bis zu
sechs Menschen mit seinen Organen helfen kann, so
wissen wir doch, dass die Zahl derer, deren Aussicht auf
ein Spenderorgan steigt, im Verhältnis zu den
12 000 Menschen, die darauf warten, relativ gering ist.
Das dürfen wir nicht verschweigen.
({0})
Es wird auch weiterhin so sein, dass Menschen während
der Wartezeit auf ein Spenderorgan versterben; denn ein
lebendiges Organ ist eben kein Medizinprodukt, das beliebig reproduzierbar ist, weil es einfach hergestellt wird.
Meine Damen und Herren, ich finde, es ist auch wichtig, den Menschen zu erklären, was diese sogenannte
postmortale Organspende bedeutet. Sie setzt den sogenannten Hirntod voraus. Das ist immer ein abschiedsloser Tod durch Unfall, durch Suizid oder beispielsweise
durch einen besonders schweren Schlaganfall. Wer hirntot ist, ist nicht tot, sondern steht am Beginn eines Ster19878
beprozesses. Dieser Sterbeprozess sieht anders aus, je
nachdem, ob jemand Organspender ist oder eben nicht.
Man muss den Menschen sagen, dass es nicht mit einer
Organspende vereinbar ist, wenn sie beispielsweise eine
Patientenverfügung haben, die ausschließt, am Lebensende intensivmedizinisch behandelt zu werden; denn
eine Organspende erfordert genau diese intensivmedizinische Behandlung. Es ist wichtig, dass die Menschen
das wissen.
({1})
Durch die Organspende verändert sich natürlich der
Sterbeprozess. Dies ist ein Eingriff in den Sterbeprozess.
Wir wissen nicht genau, ob dies für die Betroffenen noch
eine Bedeutung hat. Weil wir das aber nicht so genau
wissen, ist es besonders wichtig - ich sage das an die
Adresse von Herrn Gysi -, dass nicht der Staat darüber
entscheidet, ob jemand zum Organspender wird, sondern
ausschließlich der Mensch selber oder notfalls die Angehörigen in Ermittlung seines Willens.
({2})
Auch dann, wenn ein Organspendeausweis vorliegt
und die Angehörigen damit der Verantwortung enthoben
sind, diese Entscheidung zu treffen, sind sie doch in einer sie schwer belastenden Situation, weil sie diesen abschiedslosen, plötzlichen Tod erleben und sich von
einem Körper verabschieden sollen, der warm ist, durchblutet ist und vielleicht schwitzt. Das ist etwas anderes
als der Abschied von einem erkaltenden Leichnam. Deswegen wird es auch bei Vorliegen eines Organspendeausweises immer Gespräche mit den Angehörigen geben
müssen, die all das zu verkraften haben. Das sei an die
Adresse derjenigen gerichtet, die glauben, man könne
sich diese als belastend empfundene Kommunikation
vom Halse schaffen. Das darf man nicht, meine Damen
und Herren. Die Angehörigen haben auch Rechte.
({3})
Deswegen sage ich: Nur wenn wir diese angesprochenen Bereiche nicht tabuisieren, sondern offen und ehrlich darüber reden, wird es uns gelingen, diese Debatte
tatsächlich an die Familientische zu tragen, und dann
werden Menschen ihre Entscheidung treffen. Wir dürfen
allerdings nicht vergessen, dass die Organisation und die
Abläufe in den Kliniken in Bezug auf eine Organspende
mindestens genauso wichtig sind wie der Punkt, ob
Menschen nach ihrer Bereitschaft, Organe zu spenden,
gefragt werden. Insofern ist auch das ein wichtiger Aspekt, den wir hier beraten werden.
Danke schön.
({4})
Die Kollegin Stefanie Vogelsang ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Molitor hat es vorhin angesprochen: 1967 erfolgte in
Südafrika die erste Herztransplantation; leider ist der Patient relativ schnell verstorben. Damals war ich gerade
ein Jahr alt.
Der medizinische Fortschritt und die medizinische
Forschung der letzten 45 Jahre lassen ihresgleichen suchen, und wir alle können stolz auf den Erfindergeist
von klugen Köpfen sein, die im Interesse der Lebensqualität der Menschen diesen Fortschritt errungen haben.
({0})
Ich weiß noch ganz genau, dass ich als junges Mädchen eine bestimmte Biografie mindestens zehnmal,
glaube ich, gelesen habe. Das war die Biografie - Herr
Brüderle guckt mich so wissend an ({1})
Mein Weg als Arzt und Mensch von Christiaan Barnard.
Mit dieser Biografie von Christiaan Barnard ist bei mir
die Begeisterung für Erfindergeist, für medizinischen
Fortschritt, für die Dinge, die wir machen können, geweckt worden. Von Anfang an, seit 1967, spielt das
Thema der Ethik eine ganz erhebliche Rolle in der Diskussion über Transplantation und die Möglichkeiten der
Menschen, sich für oder gegen eine Organspende bzw.
Gewebespende zu entscheiden.
Ich bin sehr stolz darauf, was unsere Fraktionsvorsitzenden zustande gebracht haben, weil es meiner Ansicht
nach die Kultur in der Bundesrepublik richtig widerspiegelt. Wir sind ein freiheitlicher Staat. Da schreibt
niemand irgendwem etwas vor. Jeder Bürger muss die
Freiheit haben, selber zu entscheiden. Wir haben in den
letzten Tagen allerdings oft gehört: Aus Freiheit erwächst auch Verantwortung.
({2})
Jeder Einzelne hat die freie Möglichkeit, sich zu entscheiden, und ihm obliegt die Verantwortung, diese Entscheidung auch vor sich und seinem Nächsten zu tragen.
Freiheit und Verantwortung folgt aber ein dritter Begriff, und das ist Vertrauen. Jeder hat auch das Recht,
seinen Angehörigen zu vertrauen, dass sie im Fall der
Fälle für ihn die richtige Entscheidung treffen. Dieser
Dreiklang aus Freiheit, Verantwortung und Vertrauen ist
für mich etwas sehr Wichtiges.
({3})
Ich glaube, Frau Bender, dass nicht so sehr die Organspendeausweise das entscheidende Kriterium zur Erhöhung der Spendenbereitschaft sind. Auf meinem Organspendeausweis steht übrigens: Ich bin zwar bereit, mein
Herz zu spenden. Die Hornhaut meiner Augen möchte
ich allerdings nicht spenden. Ich habe mich lange damit
beschäftigt und für mich entschieden, dass ich bereit bin,
meine Organe zu spenden. Meine Augen möchte ich
aber nicht spenden. Es ist eine ganz legitime Entscheidung, wenn man einzelne Organe ausschließt.
Das Wichtigste ist, dass Menschen mit ihren Familien
am Tisch sitzen und darüber ganz offen, ehrlich und breit
diskutieren, damit jeder der Freunde und Familienangehörigen weiß, wie die betroffene Person dazu steht. Von
dem Brief der Krankenkassen verspreche ich mir sehr
viel mehr Gespräche zu Hause, am Küchentisch, als von
Hinweisen auf großen Leinwänden, die früher an Hochhäusern, zum Beispiel am Potsdamer Platz, installiert
wurden. Es ist also ganz wichtig, die Diskussion in der
Familie zu führen, sich darüber auszutauschen, damit jeder darüber Bescheid weiß.
Das Thema Transplantationsbeauftragter wird schon
im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes geregelt. In großen Kliniken mit großen
Intensivstationen wird ein Transplantationsbeauftragter
eingesetzt, der sich, hauptamtlich freigestellt, mit dem
Thema Transplantationen beschäftigt, sich um Angehörige und um Betroffene kümmert und das Ganze organisieren kann.
Bei dem Thema Transplantationsbeauftragter geht es
aber nicht nur um die Spende von Herz, Niere und
Lunge, sondern es geht auch um Gewebespenden. Ich
glaube, dass wir uns in der Ausschussberatung noch einmal mit Verbindlichkeiten von Gewebespenden und
damit auseinandersetzen müssen, dass es in Krankenhäusern ein und dieselbe Ansprechperson bezogen auf
die Herzklappe, auf große Venen und auf die Hornhaut
geben muss. Es kann nicht sein, dass es auch in Zukunft
noch für Angehörige oder betroffene Menschen zwei
verschiedene Ansprechpartner für Organe oder Gewebe
gibt. Ich glaube, dass wir uns darüber noch einmal intensiv unterhalten sollten.
Im weiteren Verfahren - auch das werden wir in der
Ausschussberatung noch einmal erörtern - sollten wir
uns mit dem Thema Qualitätsmanagement auseinandersetzen. Wir sollten uns noch einmal genau anschauen, ob
wir nicht Formulierungen für Richtlinien zur Nachsorgebetreuung von Transplantierten brauchen.
({4})
Ähnlich wie bei Krebspatienten brauchen wir auch
hier eine Nachsorge, damit wir den Menschen, denen ein
Organ transplantiert wurde, größtmöglichen medizinischen Fortschritt und medizinische Fürsorge angedeihen
lassen können, damit sie so lange, wie es eben möglich
ist, mit dem empfangenen Organ glücklich leben können. Ich denke, uns liegt ein sehr guter Entwurf zur
Änderung des Transplantationsgesetzes vor. Auch der
Gesetzentwurf zur Regelung der Entscheidungslösung
ist sehr gut. Aber alles kann man immer noch ein kleines
Stückchen weit verbessern.
Ich freue mich auf eine spannende Diskussion in
unserem Ausschuss und danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild
Rawert, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Auch ich hoffe, dass
wir es schaffen, eine Reform des Transplantationsgesetzes bis zur Sommerpause über die Bühne zu bringen. Bis
dahin wünsche ich mir, dass jede und jeder schon jetzt
einen Organspendeausweis ausfüllt und bei sich trägt.
({0})
Schon jetzt kann ich einen Organspendeausweis ausfüllen. Ich verlese einfach einmal das, was auf dem
Organspendeausweis steht:
Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende
von Organen/Gewebe zur Transplantation in Frage
kommt, erkläre ich:
- erste Möglichkeit JA, ich gestatte, dass nach der ärztlichen Feststellung meines Todes meinem Körper Organe und
Gewebe entnommen werden.
Zweite Möglichkeit:
JA, ich gestatte dies, jedoch nur für folgende
Organe/Gewebe:
Dritte Möglichkeit:
NEIN, ich widerspreche einer Entnahme von Organen und Geweben.
Vierte Möglichkeit:
Über JA oder NEIN soll dann folgende Person entscheiden:
Ein solcher Ausweis kann schon heute ausgefüllt werden. Ich denke, das wäre zusätzlich zur heutigen Debatte
schon mal ein erster Schritt, um den 12 000 Patientinnen
und Patienten zu helfen, die auf ein Spenderorgan
warten.
Ich bin keine Medizinerin. Ich bin auch keine Juristin.
Ich war aber als Angehörige einmal in einer Situation, in
der eine Organspende vorgenommen wurde. Ziemlich
genau vor zwei Jahren ist mein Schwager plötzlich bei
einer Tätigkeit, die er schon tausendmal durchgeführt
hatte, aus mehreren Metern Höhe gefallen und mit dem
Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen. Trotz Hubschrauber, trotz sofortiger Operation war nichts mehr daran zu
ändern: Das Gehirn war „kaputt“. Da liegt also ein großer stämmiger Mann im Krankenhaus, und nichts ande19880
res schien ihm passiert zu sein, keine sichtbaren Schrammen, keine Gipsverbände, nichts weiter.
Die Situation war die: Meine Schwester und mein
Schwager hatten eine Patientenverfügung und auch
einen Organspendeausweis. Es gab fünf Kinder im
Haus: Vier waren bereits erwachsen, und eins war minderjährig.
Es war wie in zwei Filmen gleichzeitig: Einerseits
gab es im Krankenhaus das „Glück“ - das sagt meine
Schwester heute noch -, auf medizinisches und pflegerisches Personal zu stoßen, das die Ruhe und Zeit hatte,
sich dem Schmerz der Angehörigen zu widmen, aber
auch klar und verständlich mitzuteilen, was ein Hirntod
ist, was vorher und nachher organisatiorisch passiert,
damit die Organe entnommen werden können. Über
wenige Tage wurden Untersuchungen gemacht, ob der
Körper noch Reflexe zeigt oder nicht. Erst dann wurde
der Hirntod festgestellt. Andererseits fragten sich zu
Hause alle voller Trauer und im Schock: Wie kann so
etwas sein?
Meine Familie lebt heute ruhig mit der Entscheidung
für die Organspende. Für die minderjährige Tochter war
es sogar ein großer Trost, dass der Vater, wenn das
Schicksal es denn so wollte, mit seinem Tod zumindest
anderen helfen konnte.
Ein zweites Beispiel aus meiner Familie verbinde ich
mit der Bitte um eine entsprechende Diskussion. Wir
fordern zu Recht eine Verbesserung der arbeitsrechtlichen Regelungen für Lebendspender und -spenderinnen.
({1})
Was ist aber mit denjenigen, die für Leukämie-Kranke
spenden? Sie fallen nicht unter dieses Gesetz. Aber auch
diese Spender und Spenderinnen sind häufig mehrere
Tage nicht erwerbsfähig. Ich finde, hier darf es keine
Hierarchisierung geben.
({2})
Das bitte ich in der Diskussion mitzuberücksichtigen.
Über das kommende gesetzgeberische Prozedere ist
schon intensiv gesprochen worden. Ich denke, wir brauchen insbesondere in den Krankenhäusern eine neue
Sterbekultur. Niemand darf Angst haben, dass die Hochleistungsmedizin auf Dauer gesehen immer wieder alles
macht, was machbar ist. Denn dann wird man noch zu
einem Zeitpunkt am Leben erhalten, an dem es eigentlich kein Leben mehr ist, weder für den Betreffenden
oder die Betreffende noch für die Angehörigen. Auch
das Sterben braucht Zeit.
Zeitgleich braucht mensch die Beruhigung, dass der
eigene Körper nicht nur ein Ersatzteillager ist und Dritten dient. Das Sterben ins Leben zurückzuholen, das
haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein
Stück weit verloren. Ich plädiere für ganz neue Diskussionen über dieses Thema. Das wäre angesichts einer
älter werdenden Gesellschaft eine große Unterstützung
für viele Familien und auch für uns selbst. Ich denke, das
ist eine große Herausforderung, der wir uns alle zu stellen haben.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sprechen heute über ein Thema, das weit
über die Politik hinausgeht und das viele Menschen
berührt. Auch für viele von uns ist das Thema mit Traurigkeit über ein schreckliches Ereignis verbunden.
Im Juni 2010 fuhr Ferdinand von Behr, der älteste
Sohn einer eng befreundeten Familie mit einem Quad
über das Feld des Gutes Rixdorf, weil er dort die Ernte
begleiten wollte. Trotz geringer Geschwindigkeit - die
Wetterlage war schwierig - geriet er in eine unheimliche
Staubwolke, die von dem Mähdrescher ausgelöst worden
war, und stieß mit einem Trecker zusammen. Er zog sich
lebensgefährliche Verletzungen zu und starb wenige
Stunden später im Krankenhaus. Für seine Familie und
seine Freunde brach eine Welt zusammen.
Die Familie fand Kontakt zum Verein für Transplantationsbetroffene Schleswig-Holstein und entschied sich
für eine Organspende. Das zeigt die Bedeutung der vielen privaten Institutionen, die Hilfe und Aufklärungsarbeit leisten.
Aufklärung ist mir im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf besonders wichtig. Wir plädieren für eine Entscheidungslösung mit erweiterter Aufklärung. Wir wollen, dass jeder Bürger und jede
Bürgerin sich ernsthaft und möglichst früh mit diesem
Thema auseinandersetzt und für sich eine persönliche
Entscheidung fällt. Ich bin froh, dass wir mit der Entscheidungslösung eine Alternative zur Zustimmungslösung und Widerspruchslösung gefunden haben. Wenn
Sie sich die verschiedenen Länder anschauen, dann stellen Sie fest, dass es sonst nur die beiden letztgenannten
Lösungen gibt. Bei unserem Vorschlag handelt es sich
um ein ganz neues Modell, bei dem die Argumente, die
gegen eine Widerspruchslösung angeführt werden - der
Staat greife hier sehr rigide in die Persönlichkeitsrechte
ein -, nicht zum Tragen kommen. Jeder kann für sich
selber entscheiden.
Wir brauchen mehr Organspender. Schleswig-Holstein gehört in dieser Hinsicht zu den Schlusslichtern.
Hier kommen im Schnitt 12,7 Organspender auf 1 Million Einwohner. Das sind 0,00127 Prozent. Das ist natürlich viel zu wenig. Aber auch bundesweit kommen
gerade einmal 15,9 Organspender auf 1 Million Einwohner. Das ist nicht viel besser. In Spanien, wo es ein
Widerspruchsmodell gibt, kommt man immerhin auf
34,4 Organspender, also auf mehr als das Doppelte. Es
ist wichtig, dass wir uns hier weiterentwickeln.
Ich möchte die Zahl der 12 000 Menschen, die auf
eine Organspende warten, etwas anschaulicher machen.
Die Kreisstadt Plön hat etwa 12 800 Einwohner. Das
heißt, eine ganze Stadt wartet auf Organspenden. Aber
nur die Hälfte der Menschen kann ein Organ bekommen.
Wir hoffen, dass wir mit unserem Modell hier vorankommen. Kollege Gysi, mir ist wichtig, zu betonen, dass
alle, ob Reiche, Arme, Frauen oder Männer, von diesem
Thema betroffen sind.
Ich bin der Kollegin Molitor sehr dankbar, dass sie
das Thema Forschung angesprochen hat. Als Mitglied
des Ausschusses für Bildung und Forschung möchte ich
darauf hinweisen, dass wir uns sehr stark mit dem
Thema Transplantationsforschung, das in diesem
Zusammenhang sehr wichtig ist, auseinandersetzen. Das
Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung zum Beispiel arbeitet an einer medizinischen Methode, die dazu
dient, die natürliche Abwehr von gespendeten Organen
durch das Immunsystem zu verringern. Man darf nicht
vergessen, dass viele Menschen, die eine Transplantation
hinter sich haben, eine lebenslange Behandlung mit
Medikamenten über sich ergehen lassen müssen. Jeder
Schritt, der in diesem Bereich vorwärts gegangen wird,
ist sehr wichtig und für die betroffenen Menschen von
großer Bedeutung.
({0})
Ich möchte noch auf die Aufklärung zu sprechen
kommen. Wir binden die gesetzlichen Krankenkassen
und die privaten Versicherer in ihrer Rolle als Aufklärer
- ich nenne als Stichworte nur das bereits erwähnte
Informationsmaterial und den Organspendeausweis sehr stark ein. Die Menschen per Gesetz zu einer Entscheidung zu leiten, ist das eine. Sie inhaltlich aufzuklären, ist das andere. Mir ist es sehr wichtig, die vielen privaten, kleinen Vereine und Organisationen in der
Bundesrepublik nicht aus dem politischen Blick zu verlieren; denn man kann nicht nur mit schriftlichen Unterlagen aufklären. Es geht schließlich um die Reduzierung
von Ängsten, um Begleitung, Unterstützung, persönliche
Beratung und Einfühlungsvermögen in diesem Prozess.
Bei allem Respekt, aber das kann ein Schreiben einer
Krankenkasse nicht leisten. Insofern brauchen wir die
vielen privaten Vereine. Diese sollten wir weiterhin im
Auge behalten.
({1})
Es geht um sehr viel mehr als nur um Organe und eine
reine Organspende. Dessen müssen wir uns immer
bewusst sein. Es geht auch um Leid und häufig um den
Tod eines Menschen. Es geht um das Leid der Angehörigen, Würde und tiefe Gefühle, aber auch um Leben,
Freude und Glück. Wir alle, die wir das Glück eines
gesunden Lebens haben, sollten uns verpflichtet fühlen,
an diejenigen zu denken, die dieses Glück nicht haben.
Ich freue mich, dass wir uns nun mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf auf den Weg machen.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Michael Brand das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte
meinen Beitrag in dieser guten Debatte mit einem Bekenntnis, einer persönlichen Anerkennung beginnen.
Auch mich hat, wie viele andere, sehr nachhaltig beeindruckt, dass unser Kollege Frank-Walter Steinmeier sich
für seine damals schwerkranke Frau als Organspender
zur Verfügung gestellt hat.
({0})
Nun zähle ich ja bekanntlich nicht zum Fanclub der
politischen Abteilung, der Kollege Steinmeier an führender Stelle angehört.
({1})
Was uns als Menschen aber doch immer wieder berührt,
ist eine Geste menschlicher Größe und - ich sage es bewusst - Opferbereitschaft für den Nächsten, egal ob er
oder sie einem fern- oder nahestehen mag. Aus diesem
Grund hat das Verhalten von Frank-Walter Steinmeier so
beeindruckt.
Und so ist die Bereitschaft vieler Tausender anderer
Spender beeindruckend, die sich zu Lebzeiten oder auch
nach dem Tod für andere Menschen als Organspender
zur Verfügung stellen. Es ist immer und es wird immer
eine sehr persönliche Entscheidung für jeden Einzelnen
sein, ob ich mich als Organspender zur Verfügung stelle
oder ob dies für mich eben unvorstellbar ist.
Als Christ weiß ich um das Leben nach dem Tod, und
ich weiß auch um die Vergänglichkeit des menschlichen
Lebens. Persönlich komme ich zu dem Ergebnis, dass
ich mit einer freiwilligen Spende meiner Organe einem
Menschen zum Überleben oder auch zur Beendigung
schwerer Qualen helfen kann. Es ist also für mich vorstellbar, nach meinem Tod einen Teil meiner sterblichen
Überreste, wie es so oft heißt, für das Leben anderer sozusagen aus freier Entscheidung freizugeben.
Wie wir aus vielen Umfragen und wie viele von uns
aus ihrem persönlichen Umfeld wissen, gibt es eine
große Anzahl von Menschen in unserem Land, die sich
zu einem solchen Schritt entscheiden könnten. Es sind so
viele, dass wir die berechtigte Hoffnung haben: Wenn
wir ein kluges, ein faires und ein geschütztes Verfahren
einrichten, dann wird diese vieltausendfache, prinzipielle Bereitschaft auch in konkrete Schritte einmünden,
um Menschen in schwerer Not zu helfen, die dringend
auf diese Hilfe angewiesen sind, um mit dem Organ zu
überleben oder ihre schweren Qualen entweder lindern
oder gar beenden zu können.
Für mich persönlich ist mein Organspendeausweis
- viele haben ihren Organspendeausweis heute hochgehalten; ich glaube, dieses Bekenntnis ist wichtig - auch
ein Ausdruck christlicher Nächstenliebe, womit ich dem
Nächsten die Hilfe zukommen lasse, die ich persönlich
geben kann.
Allerdings würde ich aus derselben Überzeugung heraus nie von anderen verlangen können und wollen, diesem Vorbild zu folgen. Das ist jeweils eine sehr persönliche Entscheidung. Unter Christen wie Nichtchristen,
unter Gläubigen wie Atheisten gibt es durchaus unterschiedliche Sichtweisen, ob und wann der Mensch dem
Menschen mit einer Organspende helfen kann, soll oder
auch nicht sollte. Niemand hat das Recht, einem anderen
eine solche Entscheidung aufzuzwingen und auch nicht
aufzudrängen.
Allerdings - und das ist die frohe Botschaft an alle
Leidenden -: Es gibt eine mehr als genügende Anzahl an
Menschen, die, wie auch ich, die persönliche Bereitschaft haben, sich als Spender zur Verfügung zu stellen.
An diese Menschen richtet sich unser Gesetzesvorschlag. Er ist eine Einladung, sich aus freiem Willen
einer ethisch sehr verantwortungsvollen Entscheidung
zu stellen, sich für andere Menschen in Not zur Verfügung zu stellen.
In unseren Antrag haben wir deshalb alle Regelungen
aufgenommen, die sowohl die Freiwilligkeit stützen als
auch vor Missbrauch schützen. In diesem Sinne gehen
wir bei unserem Gesetzentwurf vor: Freiwilligkeit und
Verantwortung, kein Zwang und kein Automatismus.
Natürlich darf es auch keine Kommerzialisierung des
Körpers geben. Niemand wird belagert, und niemand
kann gezwungen werden. Außerdem ist jede Entscheidung rückholbar.
Auf diese würdige Art und Weise - so sind wir überzeugt - werden wir viele Menschen besser informieren,
Ängste abbauen und hoffentlich viele Menschen überzeugen können, den konkreten Schritt zur Organspende
zu gehen und nach dem Tod anderen Mitmenschen in
Not eine sehr große Geste der Mitmenschlichkeit und
der Nächstenliebe zu erweisen.
Die sogenannte Entscheidungslösung legt die Entscheidung in die Hände der möglichen Spender. Es ist
eine Entscheidung aus freiem Willen und aus persönlicher Verantwortung. Wir sind überzeugt, dass das eine
Lösung ist, die allen hilft, Spendern wie Empfängern.
Ich lade uns alle ein, diesen Ansatz mitzutragen. Es
ist verantwortlich, es ist durchdacht, und es hilft vor allen Dingen vielen Menschen sehr konkret. Organspende
kann Leben retten - im Übrigen auch das eigene!
Vielen Dank.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/9030 und 17/7376 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherpolitik neu ausrichten - Verbraucherpolitische Strategie vorlegen
- Drucksache 17/8922 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Hierzu ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das war gerade eine sehr angemessene Debatte
zum Thema Organspende und ein Hinweis darauf, wie
Debatten über Themen und Anliegen, die nicht in unmittelbaren, direkten politischen Auseinandersetzungen
stehen, hier im Deutschen Bundestag geführt werden
sollten. Ich hoffe, dass wir auch die Debatte über die
Grundausrichtung der Politik für Verbraucherinnen und
Verbraucher in einem solchen Stil führen können.
({0})
Machen wir uns nichts vor: Sowohl die europäische
als auch die deutsche Verbraucherpolitik sind nicht mehr
auf der Höhe der Zeit.
({1})
Sowohl die europäische als auch die deutsche Verbraucherpolitik haben nicht mit der Europäisierung und Globalisierung der Wirtschaft, mit neuen Technologien und
daraus entstandenen Märkten, mit der Deregulierung
und Privatisierung von Märkten Schritt gehalten, und sie
haben auch nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen
über die Bedürfnisse und das Verhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern Schritt gehalten.
({2})
Als Folge sind Verbraucherinnen und Verbraucher
nicht mehr auf einer Augenhöhe mit Konzernen und
Dienstleistern. Die Gefahr ihrer Übervorteilung und
auch die Gefahr nicht heilbarer Fehlentscheidungen,
zum Beispiel in der Altersvorsorge, steigt. Die SPD ist
überzeugt: Wir brauchen einen Realitätscheck der Verbraucherpolitik in Deutschland und Europa, wir brauchen eine neue Verbraucherpolitik auch in unserem
Land.
({3})
Wir machen mit unseren Leitlinien, die wir als Bundestagsfraktion weiterentwickelt haben, und mit dem
Antrag von heute ein Angebot für die Diskussion über
eine solche Neuausrichtung. Wir haben diese Debatte
bereits mit der Wissenschaft und Verbraucherschutzorganisationen geführt, wir machen aber auch ein Angebot an die anderen Fraktionen, in den Ausschüssen und
in Anhörungen über die Elemente einer solchen Neuausrichtung zu sprechen.
({4})
Das Leitbild des mündigen Verbrauchers und der
mündigen Verbraucherin, das die Politiker dieses Fachbereichs immer wie eine Monstranz vor sich hergetragen
haben, reicht als Antwort auf die Herausforderungen
nicht aus. Nicht jeder kann Experte für alle Entscheidungen sein. Nicht alle Verbraucherinnen und Verbraucher
haben immer die Zeit und die notwendigen Informationen parat. Nicht alle haben das nötige Kleingeld, um
eine freie Auswahl zu haben.
({5})
Nicht alle können wegen jedes kleinen Betrags und wegen jeder kleinen Betrügerei vor Gericht ziehen. Nicht
immer kann man die spätere Gegenleistung für sein einmal gegebenes Geld zu Beginn realistisch abschätzen.
Das gilt insbesondere für den Finanz- und Dienstleistungsbereich.
Wer das sieht, wer sieht, dass sich die Herausforderungen in den letzten 20, 30 Jahren verändert haben, der
weiß: Wir brauchen für die Verbraucherpolitik neue
Leitbilder, wir brauchen neue Leitlinien, wir müssen uns
konkreten neuen Handlungsfeldern zuwenden. Ich will
das an sechs Punkten deutlich machen.
Erstens. Die SPD will die Verbraucherinnen und Verbraucher im Alltag, bei den Alltagsproblemen abholen.
Für diese bieten wir ihnen ja heute oft keine Lösung an.
Wir wollen dafür sorgen, dass jederzeit die volle Information, aber auch die volle Vergleichbarkeit von Angeboten besteht. Wer sich zum Beispiel die Debatte über
langfristige Finanzprodukte und Versicherungsangebote
insbesondere im Zuge der Krise von 2008/09 in Erinnerung ruft, der weiß, dass diese Vergleichbarkeit nicht
vorhanden war, weil zum Beispiel die Produktblätter
keineswegs unmittelbar miteinander vergleichbar waren.
Auch hier ist Politik herausgefordert, dafür zu sorgen,
dass diese Vergleichbarkeit, diese Transparenz vorhanden ist.
({6})
Zweitens. Es ist die Aufgabe von Politik - ich halte
das für den Kern -, nicht nur Verbraucherrechte zu
schaffen, sondern auch die Durchsetzbarkeit dieser
Rechte in der Praxis zu gewährleisten.
({7})
Das muss natürlich über stärkere staatliche Institutionen
erfolgen; aber es wird nur funktionieren, wenn wir auch
die Zivilgesellschaft stärken und ihre Schlagkraft in der
Durchsetzung der Rechte von Verbraucherinnen und
Verbrauchern erhöhen. Nur dann gibt es die Chance,
dass Verbraucherinnen und Verbraucher zu mündigen
Verbraucherinnen und Verbrauchern werden und auf
gleicher Augenhöhe agieren können. Hierzu drei Beispiele:
Der Bundesgerichtshof hat wichtige Entscheidungen
hinsichtlich Verbraucherrechten getroffen. Eine ist zum
Beispiel, dass für eine geplatzte Einzugsermächtigung
als Kosten nur die Bankgebühren in Rechnung gestellt
werden dürfen. Wer sich aber umschaut, stellt fest, dass
sich in diesem Land große Telekommunikationskonzerne, große Versicherungskonzerne und Banken nicht
an diese Rechtsprechung halten und weitere Fantasiegebühren in beliebiger Höhe bei den Verbraucherinnen und
Verbrauchern einfordern. Wer legt hier Fesseln an?
Welcher Verbraucher, der einen MP3-Player in einem
dieser 1-Euro-Läden kauft und schon nach zwei Wochen
feststellt, dass der Akku nur noch wenige Minuten hält,
hat die Chance, beim Händler - vielleicht gibt es den
Laden gar nicht mehr oder der Stand wurde wieder abgebaut - oder beim Hersteller seine Garantierechte einzuklagen?
({8})
Wer, nachdem er im Internet etwas bestellt hat und
nun seine Garantieleistungen abrufen will, von der Gegenseite erfährt, man möge doch die Ware zum Ausgangsort in einem anderen Teil Deutschlands oder sogar
im benachbarten Ausland bringen, obwohl doch Gesetze
und Verordnungen klar sagen, dass der Händler in dem
Fall, dass dieses unzumutbar ist, für die Kosten aufkommen muss, der weiß, dass mit geschriebenem Recht
allein Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht ausreichend geholfen ist.
Deswegen wollen wir stärkere staatliche Institutionen. Wir wollen, dass Verbraucherschutzorganisationen
als beauftragte Marktwächter agieren können, schlechte
Angebote offenlegen und mit neuen kollektiven Rechtsinstrumenten, mit Muster- und Sammelklagen gegen die
vorgehen, die Verbraucherinnen und Verbrauchern ihre
Rechte vorenthalten, und diese zwingen können, eine
verbraucherfreundliche Haltung einzunehmen.
({9})
Drittens. Wir wollen einen Verbrauchercheck im
Gesetzgebungsverfahren und beim Erlass von Verordnungen.
({10})
Schauen wir bewusst einmal nicht nur in die jetzige, sondern auch in die letzte Wahlperiode: Hätten wir einen
solchen Verbrauchercheck, würden Regelungen bei der
Finanzmarktregulierung, im Verbraucherinformationsgesetz, zum Mahnwesen bzw. Abmahnunwesen - so
müsste man es ja eigentlich nennen - anders aussehen,
weil sie so ausgestaltet sein müssten, dass sie auch die
normalen, nicht juristisch vorgebildeten Verbraucherinnen und Verbraucher in die Lage versetzen, ihre Rechte
wahrzunehmen. Wir brauchen diesen Verbrauchercheck
dringend im Gesetz.
({11})
Viertens. Die SPD betont die Unterschiedlichkeit der
Verbraucherinnen und Verbraucher. Nicht jeder kann in
jeder Angelegenheit Experte sein. Wir brauchen auch
Hilfestellungen für überforderte oder nicht erfahrene
Verbraucherinnen und Verbraucher. Vor allen Dingen
müssen die Hersteller verpflichtet werden, verbraucherfreundliche Voreinstellungen vorzunehmen. Denken wir
an eines der Massenphänomene, die jeder sieht, der mit
einem Smartphone durch die Straßen läuft: die Menge an
WLAN-Stationen, die da sind. Natürlich müsste es
Pflicht sein für den Hersteller oder den Telekommunikationsbetreiber, WLAN-Stationen so auszuliefern, dass
sie von Anfang an mit Verschlüsselung, unsichtbar und
beschränkt auf bestimmte physikalische Adressen funktionieren und nur ein Experte, der das wirklich will,
diese Sicherheitseinstellungen lockern kann.
Dass heute immer noch WLAN-Router auf den Markt
gebracht werden, die sich nach dem Anschluss an die
Steckdose im ungesicherten Betrieb befinden, und dass
man Fachwissen benötigt, um die entsprechenden Sicherheitseinstellungen vorzunehmen, ist eine falsche
Grundeinstellung in der Verbraucherpolitik.
Das Gleiche gilt für die sozialen Netzwerke wie Facebook hinsichtlich des Datenschutzes und der Einstellungen, wie mit den privaten Daten umgegangen wird. Man
muss die Privatheit erst herstellen. Besser wäre es, wenn
man einstellen könnte, welche persönlichen Daten man
preisgeben möchte. Wir brauchen auch in diesem Bereich dringend eine Neuorientierung.
({12})
Fünftens. Die SPD wird wissenschaftliche Erkenntnisse stärker nutzen; das muss die Politik insgesamt tun.
Die Wirtschaft nutzt solche Erkenntnisse beispielsweise
über die Verhaltensökonomie schon längst. Wir brauchen Forschungsförderung und einen Sachverständigenrat für Verbraucherfragen, und wir brauchen ein Panel,
also eine regelmäßige Umfrage, die aufzeigt, was Verbraucherinnen und Verbrauchern Probleme in ihrem Alltag bereitet. Ich nenne folgende Beispiele: Gewinnspiele, Rabattversprechen, Werbung, die auf Kinder
abzielt, Begriffswahl in der Werbung und Portionsgrößen, mit denen Verbraucherinnen und Verbraucher in die
Irre geführt werden. Die Politik muss eine Antwort geben, die nah an den Ergebnissen der Verhaltensforschung liegt, so wie es bei den Marketingstrategien der
Konzerne und Dienstleister schon der Fall ist.
Sechstens. Die Verbraucherpolitik des 21. Jahrhunderts ist nicht mit dem Kästchendenken des 19. Jahrhunderts - Stichwort: Ressortaufteilung - zu machen. Wir
müssen uns über neue Formen der Zusammenarbeit,
neue Zuschnitte und neue Teamstrukturen unterhalten.
In der Energiepolitik führen wir die gleiche Debatte.
Auch diese müssen wir schaffen.
({13})
Wir fordern Sie zu einer konstruktiven Debatte über
dieses Thema auf. Ich bitte auch darum, das Leitbild
„Mündiger Verbraucher“ nicht als Waffe in der politischen Auseinandersetzung zu missbrauchen. Alle haben
das Ziel, dass am Ende möglichst viele Verbraucherinnen und Verbraucher in möglichst vielen Themenfeldern
unter voller Kenntnis der Informationen entscheiden
können. Alles andere wird den manchmal überforderten
Verbraucherinnen und Verbrauchern nichts nutzen und
wäre auch unehrlich.
Wir haben oft erlebt, dass Transparenz und Vergleichbarkeit durch Lobbyisten, aber auch durch die Politik
verhindert werden. Auf die Forderung, den Verbraucherinnen und Verbrauchern die vollständige Information
über eine Dienstleistung oder ein Produkt und deren Abrufbarkeit zu ermöglichen, wird gesagt, dass dadurch der
Hersteller bzw. der Händler an den Pranger - dieser Begriff wird oftmals verwendet - gestellt wird. Das müssen
wir ändern.
Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik, weil vertrauende Verbraucher bereit sind, mehr zu konsumieren.
Verbraucherpolitik ist Sozialpolitik, weil wir dadurch Eigenvorsorge ermöglichen und benachteiligten Gruppen
helfen. Verbraucherpolitik ist Demokratiesicherung;
denn Bürger, die wissen, dass sich Politik um ihre Alltagsprobleme kümmert und die ihnen Freiheit ermöglicht, vertrauen der Demokratie. Deswegen haben wir
Vorschläge über eine Neuausrichtung der Verbraucherpolitik gemacht und freuen uns auf die Debatte mit Ihnen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
nur einen Politikbereich, der alle 82 Millionen DeutParl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
schen betrifft und berührt. Das ist in der Tat der Verbraucherschutz. Er fängt an bei der Schwangeren und beim
Baby, und er hört auf bei den alten Menschen in Hospizen oder Pflegeheimen.
Wir alle sind betroffen. Deswegen sage ich: Verbraucherschutz geht alle an. Ich freue mich, dass die Regierungsbank so gut besetzt ist; denn es ist nicht Aufgabe
nur eines Ressorts. Herr Kelber, Ihre Auffassung teile
ich ausdrücklich. Das Gesundheitsministerium ist selbstverständlich genauso betroffen wie das Sozialministerium. Verbraucherschutz ist ressortübergreifend nicht
nur im Bund, sondern auch in den Ländern. Wir nehmen
auch die Länder in die Pflicht, Stichwort: Förderung der
Verbraucherzentralen. Da gibt es sehr große Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Aufgabe. Mit Blick
auf die Kommunen nenne ich das Stichwort Energieberatung. Auch da gibt es große Handlungsfelder. Aber
auch die Wirtschaft und die Medien sind gefordert.
Es geht auch nicht nur um sichere Lebensmittel, die
häufig im Fokus der Öffentlichkeit stehen, oder um Kostenfallen im Internet. Es geht beispielsweise auch um die
Themen Sparerschutz, Mieterschutz und Patientenschutz.
Ich möchte ein aktuelles Beispiel nennen, um das zu
verdeutlichen. Haben Sie eine Lebensversicherung? Wir
haben in Deutschland 80 Millionen Lebensversicherungen mit einem Anlageinvestitionsvolumen von sage und
schreibe über 600 Milliarden Euro. Fast jeder Deutsche
hat eine Lebensversicherung. Ich frage: Verstehen Sie
das Kleingedruckte in den Verträgen? Verstehen Sie, warum die Überschussbeteiligung in den letzten Jahren
kontinuierlich gesenkt wurde? Ich persönlich tue mich
schwer, das zu verstehen.
Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, eine
aktuelle Studie von Professor Andreas Oehler, Lehrstuhl
für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwirtschaft in Bamberg, vorzustellen. Gestern haben wir bei
der Anhörung erfahren, dass 75 Prozent aller auf 30 Jahre abgeschlossenen Lebensversicherungen und 50 Prozent aller auf 20 Jahre abgeschlossenen Lebensversicherungen vorzeitig gekündigt werden. Nun kommt eine
interessante Aussage: Die Schadensschätzung, so Professor Oehler, die mit den vorzeitigen Kündigungen der
letzten zehn Jahre verbunden ist, liegt bei 160 Milliarden
Euro. Hier wird deutlich: Verbraucherschutz heißt, die
Versicherungsdienstleister zu zwingen, die Abschlusskosten, die Vertriebskosten, die Folgekosten, die Provisionen und die Risiken offenzulegen. Daran sehen wir,
dass Verbraucherschutz kein Randthema ist. Es geht uns
alle an.
Ich kann an der Stelle sagen: Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner hat dem Verbraucherschutz in Europa und in Deutschland Gewicht und Bedeutung gegeben.
({0})
Der Verbraucherschutz ist zur Erfolgsgeschichte geworden. Frau Aigner - das ist unzweifelhaft - hat enorm viel
auf den Weg gebracht.
({1})
Herr Kelber, ich schätze den Stil der Debatte - hier
sind junge Leute anwesend -, in der wir die ganze Vielfalt der Vorschläge zum Verbraucherschutz offen, aber
nicht polemisch miteinander diskutieren. Ein bisschen
Spaß muss sein, aber es darf nicht polemisch werden.
Es ist klar: Unsere Vorschläge unterscheiden sich ein
Stück weit von Ihren. Wir sagen: Du bist frei, dein Leben
zu gestalten. Du hast als Verbraucher Eigenverantwortung wahrzunehmen. - Wir wollen, dass der mündige
Verbraucher aufgeklärt und informiert wird. Wir wollen
aber nicht, dass jeder Lebensbereich, vom Baby bis zum
Sterbenden, vom Staat reglementiert wird. Wir wollen
nicht die Allmacht des Staates.
({2})
Das ist der ordnungspolitische Unterschied. Wir wollen die Alltagskompetenz der Verbraucher und ihre
Rechte auf Information und Transparenz stärken sowie
sie vor Täuschung und Betrug schützen. Das machen wir
sehr erfolgreich. Dies bestätigte uns das Verbraucherbarometer der Europäischen Kommission. Dort wird
Deutschland als eines der Länder mit den besten Bedingungen für die Verbraucher genannt.
({3})
Wir sind schon sehr gut, aber man kann immer noch
besser werden. In der Großen Koalition haben wir einen
guten Weg miteinander beschritten.
({4})
Jetzt setzen wir diese erfolgreiche Politik mit unserem
liberalen Koalitionspartner fort.
Zum Thema Internet. Dies betrifft gerade die jungen
Leute, die in dieser neuen Zeit leben. Ich habe zu meinem 40. Geburtstag - das war nicht im 19. Jahrhundert ein Handy geschenkt bekommen. Man muss sich vorstellen: Es gab auch ein Leben vor dem Internet und vor
dem Handy. Heute aber leben wir in einer komplett
neuen Zeit. Die Revolution, die dort ausgelöst wurde,
hat sehr viele Folgen. Frau Aigner hat als Erste auch auf
die Gefahren dieser neuen medialen Herausforderung
hingewiesen. Wir haben gehandelt.
({5})
Wir haben die sogenannte Buttonlösung gegen Kostenfallen gesetzlich verankert und umgesetzt.
({6})
Herzlichen Dank auch an die Bundesjustizministerin.
Wir haben ressortübergreifend mit den Kollegen der
FDP hervorragend zusammengearbeitet.
Zum Telekommunikationsrecht. Wir haben die
Rechte der Verbraucher bei Telekommunikationsverträgen im Hinblick auf Anbieterwechsel, Vertragslaufzeiten
sowie Regelungen zu kostenlosen Warteschleifen umfassend gestärkt. Die Abzocke der Verbraucher über Handy
und Telefon ist unter Ministerin Aigner schwieriger geworden. Das ist wichtig.
({7})
Wir sorgen jetzt mit dem Anlegerschutzgesetz - hier
gibt es noch viel zu regeln - für mehr Transparenz auf
dem Finanzmarkt. Ich habe im Zusammenhang mit den
Lebensversicherungen auf die Problematik hingewiesen.
({8})
Wir sind nicht damit zufrieden, wie die Banken die Vorgaben für die Produktinformationsblätter umgesetzt haben. Darum haben wir die Banken zu einem Gespräch zu
uns ins Haus bestellt. Die Banken sind in der Pflicht. So
geht das nicht bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben.
Mit der neuen EU-Spielzeugrichtlinie haben wir für
wichtige Fortschritte bei der Sicherheit von Kindern gesorgt. Dieses Thema hat eine europäische Dimension,
wie sich im Übrigen viele Themen kaum noch auf rein
nationaler Ebene regeln lassen. An dieser Stelle möchte
ich meinen Dank an das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und das Bundesamt
für Risikobewertung aussprechen. Dort leisten herausragende Wissenschaftler europaweit anerkannte hervorragende Arbeit.
({9})
Wir haben uns beim europäischen Lebensmittelkennzeichnungsrecht für verpflichtende Nährwertangaben
eingesetzt und setzen diese jetzt um. Im Übrigen - jetzt
ist Frühjahr - haben wir auch einen nationalen Allergieplan mit vielen Maßnahmen auf den Weg gebracht.
Wir kämpfen gegen Täuschung, hier sei das Thema
Verbot von Lebensmittelimitaten - Stichwort: Klebefleisch - als Beispiel genannt. Das Thema Lebensmittelsicherheit und Kontrolle steht natürlich besonders im Fokus der Verbraucherpolitik; Frau Aigner und das
Ministerium handeln entsprechend. Nach dem Gammelfleischskandal haben wir das 11-Punkte-Programm umgesetzt. Nach dem Dioxinskandal haben wir ebenfalls
sofort reagiert und den „Aktionsplan Verbraucherschutz
in der Futtermittelkette“ in Zusammenarbeit mit den
Bundesländern umgesetzt. Herzlichen Dank an die Länder. Ich sage an der Stelle aber auch: Im Bereich der Lebensmittelsicherheit und Kontrolle stehen die Länder besonders in der Pflicht.
({10})
Wir wünschen uns bundesweit vergleichbare einheitliche hohe Kontrollstandards. Die Lebensmittelkontrolle im 21. Jahrhundert - da gebe ich Herrn Kelber
recht - steht vor ganz neuen Herausforderungen. Wer
einmal am Containerhafen in Hamburg gestanden und
die Importware sowie die Kontrollhäuschen daneben gesehen hat, der weiß, dass hier nachgerüstet werden muss,
um den Ansprüchen an die Lebensmittelsicherheit gerecht zu werden.
Wir sorgen durch eine neue Kennzeichnung für Sicherheit, Klarheit und Wahrheit bei Lebensmitteln; in
dem Zusammenhang verweise ich auf das neue Portal lebensmittelklarheit.de. Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere die jungen: Wenn Sie nachher ins
Internet gehen, googeln Sie einmal lebensmittelklarheit.de.
({11})
- Herr Kelber, auf eine so gute Idee kam nicht einmal die
SPD.
({12})
Dafür gibt es sogar Beifall von der Jugend auf der Tribüne. Das ist der neue Weg: nicht nur Prospekte und Informationsschriften; vielmehr müssen wir die neuen
Kommunikationsmöglichkeiten in Form des Internets
nutzen und aufbauen. Bei lebensmittelklarheit.de funktioniert das.
({13})
Wir haben das Verbraucherinformationsgesetz geschaffen und jetzt novelliert. In Zukunft werden
schwarze Schafe im System öffentlich benannt. Einen
Problemaufbau wie bei Müller-Brot wird es mit dem
neuen Gesetz so nicht mehr geben.
({14})
Der Staat kann und will aber dem Verbraucher die
Entscheidung nicht abnehmen. Deshalb geht mein besonderer Dank an die Stiftung Warentest für ihre hervorragende Arbeit. Wir stocken das Stiftungskapital um
50 Millionen Euro auf.
Wir haben auch ein Konzept für die Stärkung der Verbraucherforschung. Ich möchte an dieser Stelle dem Verbraucherzentrale Bundesverband, insbesondere Herrn
Billen, und all denjenigen herzlich danken, die vor Ort
das Netz der Verbraucherzentralen aufgebaut haben und
umsetzen.
({15})
Wir stellen uns dem großen Thema „Schutz der Persönlichkeit und persönlicher Daten in der digitalen Netzwelt“. Frau Aigner hat dies zu einem ihrer persönlichen
Schwerpunkte gemacht. Hier steht die Umsetzung einer
neuen EU-Datenschutz-Grundverordnung auf europäischer Ebene an. Es geht um das Thema Datenschutz,
liebe junge Kolleginnen und Kollegen und Zuhörer, im
Zusammenhang mit Facebook und den sozialen Netzwerken. Was im Netz drin ist, geht nie mehr heraus.
Auch das ist ein Thema für den Verbraucherschutz 2.0.
Wir stellen uns dem Thema Medienkompetenz.
Meine Damen und Herren, wir haben ein Konzept für
den Verbraucherschutz für Senioren, den ich für sehr
wichtig und zentral halte, für das Thema Gesundheit und
Alter, für Standards bei der Pflege.
Ich könnte noch stundenlang über die Erfolge unserer
Arbeit reden.
({16})
Ich sage an dieser Stelle aber der Opposition herzlichen
Dank, dass sie mir mit ihrem Antrag die Gelegenheit
gab, hier zehn Minuten zu sprechen; herzlichen Dank an
die Kolleginnen und Kollegen der FDP und der CDU/
CSU, dass wir die Gelegenheit haben, diese erfolgreiche
Politik umzusetzen.
Danke schön.
({17})
Die Kollegin Caren Lay hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eines muss man Verbraucherministerin Aigner
schon lassen: Sie scheut keinen Vergleich. In der letzten
Woche hat sie die Öffentlichkeit wissen lassen, ihr Auftrag sei „Kennedy 2.0“. Neben den vielen guten Gründen, warum John F. Kennedy der Verbraucherministerin
haushoch überlegen ist, gibt es einen ganz großen Unterschied, auf den ich mich heute konzentrieren möchte:
Kennedys Reden ist eine ganze Reihe realer Veränderungen gefolgt; den Reden von Verbraucherministerin
Aigner und ihren Versprechen folgt im Normalfall gar
nichts. Das, meine Damen und Herren, ist der Unterschied zwischen einem guten Politiker und einer munteren Presseabteilung.
({0})
Man kann schon froh sein, wenn nach den munteren und
vollmundigen Ankündigungen im Endeffekt Bonsaiversionen umgesetzt werden.
Herr Staatssekretär Müller, die positive Bilanz der Arbeit von Schwarz-Gelb, die Sie heute gezogen haben,
kann ich - das wird Sie nicht wundern - in keinster
Weise teilen. Ich muss sagen: Wenn Ihnen dieses Thema
wirklich so wichtig wäre, hätten Sie in dieser Legislaturperiode herzlich wenig erreicht.
Das beginnt schon bei der Unterfinanzierung des Verbraucherschutzes. Die Verbraucherzentralen - das ist ein
gutes Stichwort - sind hoffnungslos unterfinanziert. Der
Haushalt des Verbraucherministeriums spielt im gesamten Etat der Bundesregierung eine minimale Rolle. Es
entbehrt wirklich jeder Grundlage, hier eine positive Bilanz zu ziehen.
({1})
Die Bundesregierung versagt aus unserer Sicht, aus
Sicht der Fraktion Die Linke, beim Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher an allen Ecken und Enden.
Selbst im Verbraucherpolitischen Bericht der Bundesregierung - er wurde letzte Woche veröffentlicht musste von Frau Aigner eingeräumt werden, dass im
finanziellen Verbraucherschutz noch vieles im Argen
liegt. Ja, das meine ich aber auch. Was ist das Ergebnis?
Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren immer
noch jährlich 20 bis 30 Millionen Euro durch Falschberatung. Das, meine Damen und Herren, halte ich wirklich für eine Zumutung.
({2})
Wir, die Linke, erwarten von der Bundesregierung
seit langem ein Konzept für eine nachhaltige und moderne Verbraucherpolitik. Wir fordern beispielsweise
seit über zwei Jahren einen Finanz-TÜV und eine verbrauchergerechte Finanzaufsicht, die ausdrücklich die
Aufgabe hat, Verbraucherinnen und Verbraucher auf den
Finanzmärkten zu schützen, nicht nur Banken und Unternehmen. Noch der kleinste Stehimbiss in Deutschland
wird regelmäßig kontrolliert; er erhält Auflagen und
wird im Zweifel auch geschlossen, und zwar zu Recht.
Aber es kann nicht sein, dass auf den Finanzmärkten
weiterhin unkontrolliert Risikoprodukte umhergeistern,
dass hier weiterhin unkontrolliert Schrott auf dem Markt
ist. Wir brauchen den Finanz-TÜV, meine Damen und
Herren.
({3})
Denn was für eine Pommesbude gilt, das sollte doch wenigstens auch für Finanzprodukte gelten.
Nehmen wir ein weiteres Beispiel: unseriöse Inkassodienste. Sie zocken täglich Hunderte von Verbraucherinnen und Verbrauchern ab. Es ist und bleibt ein Skandal,
dass zwar die Banken mit Milliarden aus Steuergeldern
gerettet werden, aber die Dispozinsen für den Normalverbraucher auf Rekordniveau bleiben. Wir, die Linke,
kritisieren das schon seit vielen Jahren. Vor einigen Monaten haben wir einen Antrag dazu eingebracht, der abgelehnt worden ist. Sie haben damit wieder einmal die
Möglichkeit vertan, Verbraucherinnen und Verbraucher
real vor Abzocke zu schützen.
({4})
CDU/CSU und FDP reagieren entweder zu lasch, zu
spät oder gar nicht. Banken, Versicherungen, Finanzberater oder Telekommunikationsfirmen haben es leicht
mit dieser Bundesregierung. Schwarz-Gelb scheut den
Konflikt mit den Unternehmen und versteckt sich hinter
dem Leitbild des mündigen Verbrauchers. Das hört sich
gut an, es ist aber leider völlig überholt. Ich frage Sie:
Was soll denn der mündige Verbraucher machen, wenn
ihn Recht und Gesetz nicht vor Datendiebstahl im Inter19888
net schützen? Wie kann sich der mündige Verbraucher
wehren, wenn ein unseriöses Inkassounternehmen einen
Beutezug durch sein Portemonnaie macht? Wie soll der
Verbraucher mündig handeln, wenn die Beratungsprotokolle beim Kauf von Finanzprodukten das Papier nicht
wert sind, auf dem sie geschrieben sind? Seien wir
realistisch: Wer kann schon fünf Seiten AGB ohne ein
Jurastudium verstehen? Hier liegt der Hase im Pfeffer.
Das Leitbild der Bundesregierung muss endlich überarbeitet werden.
({5})
Statt alles dem Markt zu überlassen und die Verantwortung auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuschieben, sind wir als Politiker gefordert, zu handeln.
Wir müssen die Märkte im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher endlich regulieren. Das haben wir
als Linke schon vor zwei Jahren gefordert. Wir haben
unsere verbraucherpolitischen Leitlinien vorgelegt. Wir
haben gesagt: Wir brauchen politische Verantwortung,
und wir brauchen eine verbrauchergerechte Marktregulierung.
({6})
Das war zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damals
sind wir als Staatssozialisten beschimpft worden. Ich
freue mich, dass jetzt Bewegung in diese Debatte kommt
und auch die SPD sagt, dass wir ein anderes Leitbild und
eine andere Verbraucherpolitik brauchen.
({7})
Ich komme zum Schluss. Ich kann die positive Bilanz, die heute von der Bundesregierung in Bezug auf
die Verbraucherpolitik gezogen wurde, nicht nachvollziehen. Zu zentralen Themen, beispielsweise Mieten
- sie sind in den letzten Jahren um 7 Prozent gestiegen -,
habe ich von der Ministerin kein Wort gehört. Auch solche Themen müssen endlich angegangen werden. Ich
kann nur sagen: Frau Aigner, Sie sind nicht Vorsitzende
der Bundespressekonferenz, sondern Sie leiten ein
Ministerium. Handeln Sie endlich entsprechend!
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Professor Dr. Erik Schweickert.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwarz-gelbe Verbraucherpolitik wirkt;
({0})
denn sie schafft Transparenz und damit mehr Durchblick
für die Verbraucherinnen und Verbraucher am Markt.
Durch bessere Informationen kann sich der Verbraucher
ein Bild vom Markt machen und dadurch selbstbewusst
und auch selbstbestimmt über den Kauf von Produkten
und über die Inanspruchnahme von Dienstleistungen
entscheiden.
Verbraucherpolitik ist für uns ein wichtiges Bürgerrecht. Anders als Linke, Sozialdemokraten und Grüne
geben wir Liberale den Verbrauchern nicht vor, was sie
zu wollen, zu kaufen oder zu unterlassen haben.
({1})
Wir möchten, dass der Verbraucher seine Wünsche artikulieren kann, dass er auswählen kann, und wir setzen
erst dann an, wenn das Recht auf Fairness am Markt, auf
eine effiziente Rechtsdurchsetzung im Streitfall geschützt werden muss oder die Verbraucher vor Abzocke
geschützt werden müssen. Das ist unsere verbraucherpolitische Strategie, die wir seit fast drei Jahren sehr erfolgreich verfolgen.
Liebe SPD, in Ihrem Antrag tun Sie so, als sei die Regierung untätig.
({2})
Sie kennen doch die Redensart: Wer mit dem Finger auf
andere zeigt, der sollte immer bedenken, dass drei Finger
auf ihn zurückzeigen. Was haben Sie für den Anlegerschutz getan? Sie haben die Hedgefonds zugelassen und
damit die Büchse der Pandora geöffnet. Wir hingegen
haben die spekulativen Anlageformen wie ungedeckte
Leerverkäufe verboten. Haben Sie dafür gesorgt, dass
Anleger besser über Produkte informiert werden? Nein!
Wir haben den Anlegerschutz gestärkt und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht sowie die Regelungen zu Sanktionen bei Falschberatung verschärft. Ich
gebe zwar zu, dass es in diesem Bereich noch Verbesserungsbedarf gibt, weil sich manche immer noch einen
schlanken Fuß machen - das ist nicht akzeptabel -, aber
auch hier werden wir nachbessern.
({3})
- Diejenigen, die jetzt rufen, sollten sich schon fragen:
Wer hat denn dafür gesorgt, dass der graue Kapitalmarkt
Regeln unterworfen wurde? Das waren nicht Sie, sondern wir. Wir machen für die in diesem grauen Markt gehandelten Produkte nun dieselben Vorgaben wie für die
des regulären Marktes.
Sie haben zugeschaut, wie findige Serviceanbieter die
Kunden in ellenlangen, teuren Warteschleifen abgezockt
haben. Wir haben gehandelt, meine Damen und Herren.
Mit dem neuen Telekommunikationsgesetz machen wir
dieser Abzocke ein Ende.
({4})
Denn Warteschleifen sind keine Serviceleistungen. Sie
dürfen und werden deshalb zukünftig auch nichts kosten.
Gleiches gilt für die Abzocke im Internet. Heute sind
es eben nicht nur die Taschendiebe, die den Leuten das
Geld aus der Geldbörse holen. Gerade im Internet hat
sich die Seuche mit fingierten Angeboten ausgebreitet.
Ein falscher Klick, und man ist in die Abzockfalle getappt. Ich frage: Haben Sie in Ihrer Regierungszeit verhindert, dass sich solche Maschen krakenartig ausbreiten? Nein, haben Sie nicht. Wir aber als schwarz-gelbe
Bundesregierung machen Schluss mit diesen Betrügereien im Internet. Man hat versucht, wahre Kosten in
AGBs zu verstecken. Das wird in Zukunft nicht mehr
möglich sein. Der Button „Zahlungspflichtig bestellen“
wird Pflicht. Das schafft mehr Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({5})
Auch die Preisansagepflicht beim Call-by-Call haben
wir in Angriff genommen, nachdem jahrelang nichts getan wurde. Morgens kostete ein Telefonat 2 Cent, abends
2 Euro, ohne dass der Verbraucher es wusste. Damit ist,
wenn das TKG jetzt in Kraft tritt, endlich Schluss.
Wir sorgen aber nicht nur für Transparenz, wir unterstützen die Verbraucherinnen und Verbraucher auch bei
der Rechtsdurchsetzung im Streitfall. Wir werden eine
Schlichtungsstelle für Streitfälle im Luftverkehr einführen. Das Bundesjustizministerium - vielen Dank! - hat
dazu bereits entsprechende Eckpunkte vorgelegt. Bei
Nichtbeförderung, Flugannullierung, Verspätung oder
beschädigtem Gepäck soll es einen Ansprechpartner für
den Verbraucher geben, damit Ansprüche gegenüber den
Fluglinien dann auch geltend gemacht werden können.
Die von der Bundesregierung eingerichtete Schlichtungsstelle für Energie ist bereits seit Oktober 2011
aktiv. Hier haben wir dem Verbraucher einen Ansprechpartner gegeben, der bei Streitigkeiten mit Energieversorgungsunternehmen außergerichtlich für eine Beilegung eintreten und dem Verbraucher zu seinem Recht
verhelfen kann. Das haben wir getan, ohne dass es hohe
Bürokratiehürden und langwierige Gerichtsverfahren
gibt.
Wir lassen auch nicht zu, Frau Lay, dass unter dem
Deckmantel des Rechts Unrecht getrieben wird. Deshalb
sagen wir unlauterem Inkasso den Kampf an und verpflichten die Inkassounternehmen, transparenter darzulegen, welche Forderungen sie überhaupt eintreiben
wollen. Außerdem werden wir auf eine angemessene
Preisgestaltung für Inkassoleistungen dringen.
({6})
Schließlich werden wir ein neues Sanktionssystem einführen, um die schwarzen Schafe effektiver vom Markt
zu nehmen; denn schwarze Schafe schaden nicht nur den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern auch den
guten Unternehmen in diesem Bereich.
Das gilt gerade auch bei der Telefonwerbung, die häufig unerlaubt ist. Eigentlich sollte doch die unerlaubte
Telefonwerbung längst vorbei sein. Aber auch hier hat es
die SPD versäumt, in ihrer Regierungszeit dieser Abzockemasche einen wirksamen Riegel vorzuschieben.
Das Gesetz gegen unerlaubte Telefonwerbung ist als Tiger gesprungen, aber als Bettvorleger gelandet; denn die
Beschwerdezahlen haben nicht abgenommen, sondern
sogar noch zugenommen. Deshalb bessert auch hier die
schwarz-gelbe Bundesregierung nach. Das Bundesjustizministerium bzw. Frau Leutheusser-Schnarrenberger
hat bereits entsprechende Eckpunkte vorgelegt, die wir
nun in Gesetzesform gießen werden.
Die größte Plage bei der unerlaubten Telefonwerbung
sind die Gewinnspiele und deren Eintragungsdienste.
Auf sie beziehen sich drei Viertel der eingegangenen Beschwerden. Aus diesem Grund werden wir auch hier vorangehen und mit einer sektoralen Bestätigungslösung
dafür sorgen, dass solche am Telefon abgeschlossenen
Verträge erst durch eine schriftliche Bestätigung Gültigkeit erlangen.
({7})
Außerdem werden wir den Bußgeldrahmen erhöhen, sodass den Abzockern ihre Masche vergeht. Wir werden
den gegenwärtigen Höchstbetrag von 50 000 Euro auf
300 000 Euro erhöhen.
Meine Damen und Herren, das sind Beispiele dafür,
dass wir evidenzbasiert handeln; denn Pseudorechte auf
dem Papier bringen den Verbrauchern nichts. Man muss
sie auch durchsetzen können. Weiter sorgen wir dafür,
dass die Expertise der Leute, die Ahnung davon haben,
mit aufgenommen wird. Wir haben in der Stiftung Warentest, im Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, im Bundesinstitut für Risikobewertung, in dem Verbraucherzentrale Bundesverband sowie
in den Verbraucherzentralen der Länder die Experten,
die wir benötigen. Wir greifen sehr gerne deren sinnvolle
Vorschläge auf und lassen sie in unsere Überlegungen
einfließen. Ein darüber hinausgehender Sachverständigenrat ist unserer Ansicht nach im Moment überflüssig;
denn die Stiftung Verbraucherschutz kann die von Ihnen
angesprochenen Aufgaben wahrnehmen.
Meine Damen und Herren, liebe Verbraucherinnen
und Verbraucher, Sie haben mit der schwarz-gelben
Bundesregierung jemanden an Ihrer Seite, der dafür
kämpft, dass Sie selbst entscheiden können, wofür Sie
Ihr Geld ausgeben, und zwar auf der Grundlage von
Transparenz, von Information und von klaren Regeln;
denn wir handeln mit Augenmaß und mit Sachverstand.
Das ist unsere Strategie. Wir sind die Anwälte der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
({8})
Nicole Maisch hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD hat uns einen sehr guten Antrag vorgelegt,
wenn auch im Titel ein kleiner Fehler ist. In der Überschrift wird Frau Aigner nämlich aufgefordert, eine verbraucherpolitische Strategie vorzulegen. Das klingt so,
als hätte sie keine. Sie hat aber eine.
({0})
Diese Strategie möchte ich Ihnen jetzt vorstellen, weil
ich glaube, dass Herr Müller die Strategie nicht ganz
wahrheitsgemäß dargestellt hat.
({1})
Aigners Konzept ist Folgendes: Tue so wenig wie möglich, aber rede so viel wie möglich darüber. Und: Auf
dem Schoß der Industrie ist es bequemer als an der Seite
der Verbraucher.
({2})
Ich möchte Ihnen das Konzept im Einzelnen vorstellen:
Punkt eins der Strategie: Identifiziere Themen, die den
Wählern, dem vzbv oder der Bild-Zeitung auf den Nägeln
brennen. Datenschutz in Social Networks, Lebensmittelverschwendung, finanzieller Verbraucherschutz, Empathie mit der Lehman-Oma - wunderbar! Dazu macht man
exzellente Pressearbeit und kündigt entweder bahnbrechende Studien an, die dann nicht kommen,
({3})
oder gesetzgeberische Maßnahmen wie beim HygieneSmiley, die dann in Bund-Länder-Arbeitsgruppen vergammeln und nie Realität werden.
({4})
Das war der erste Schritt.
Der zweite ist: Nachdem man Pressearbeit gemacht
hat, macht man, wie bei den Social Networks, noch einmal Pressearbeit. Ilse Aigner hat zu Facebook, glaube
ich, in den letzten drei Monaten drei- oder viermal Verschiedenes gefordert. Hinten rausgekommen ist dann,
dass sie sich mit Facebook „entfriended“ hat. Ich denke,
Mark Zuckerberg hat gezittert, als Ilse Aigner Facebook
verlassen hat.
({5})
Das dritte zentrale Element der Strategie von Ilse
Aigner sind die sogenannten Eckpunkte. Eckpunkte
macht man, wenn man sich im Kabinett nicht durchsetzen kann, aber trotzdem irgendetwas aufschreiben will.
Ein Beispiel ist die Honorarberatung. Wir sehen keinen
Gesetzentwurf zur Regulierung der Honorarberatung.
Was haben wir stattdessen? Eckpunkte, über die wir hier
zwar irgendwie diskutieren, aber hinten raus kommt
nichts.
Das vierte Element der Strategie ist, ein bisschen
Geld für sinnvolle Projekte zu geben. Eines davon ist
www.lebensmittelklarheit.de. Es ist sehr interessant,
dass lebensmittelklarheit.de, ein schönes Projekt der
Verbraucherzentrale, von der Kollegin Happach-Kasan
im Ausschuss immer angeschossen wurde. Sie hat das
sehr hart kritisiert. Nach einigen Wochen ist dieses Portal jetzt online, und es ist klar, dass es so sehr unterfinanziert ist, dass es keine wirkliche Gefahr für die Lebensmittelwirtschaft darstellt. Die Kritik von Frau HappachKasan ist verstummt. Ich denke, das zeigt ziemlich deutlich, was schwarz-gelbe Verbraucherpolitik ist.
Ähnlich verhält es sich mit den 1,5 Millionen Euro
für die Stiftung Warentest. Wenn Sie wirklich etwas verändern wollten, würden Sie den Marktwächter einführen. Stattdessen geben Sie Almosen an sinnvolle Institutionen. An den Märkten wollen Sie nicht wirklich etwas
verändern.
({6})
Letztes Element der Strategie ist: Vermeide jede parlamentarische Beratung; denn Sachkenntnis stört nur die
Lebhaftigkeit der politischen Debatte.
({7})
Deshalb versucht man, alles Mögliche in Pressekonferenzen zu verhandeln. Beim Thema Lebensmittelverschwendung beispielsweise hat man versucht, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier möglichst aus der
ganzen Sache herauszuhalten.
Deshalb lautet meine Botschaft an die SPD: Die Strategie liegt vor, aber sie ist armselig.
({8})
Dabei gibt es doch eine ganze Menge zu tun. Ich möchte
Ihnen das an einem Beispiel erläutern: Ernährung. Die
Zahlen sind der reine Horror. 15 Prozent der Kinder und
Jugendlichen in Deutschland haben Übergewicht.
0,8 Millionen sind krankhaft fettleibig. Die gesundheitlichen Schäden, die daraus folgen, können Sie sich alle
vorstellen. Im Ausschuss hat man mir vorgeworfen, dass
ich, wenn es um das Thema „Kinder und Ernährung“
geht, immer so gefühlig, emotional und betroffen werde.
Deshalb möchte ich volkswirtschaftlich argumentieren:
Sie werden die volkswirtschaftlichen Folgekosten von
Übergewicht, von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht ohne eine vernünftige Präventionsstrategie
in den Griff bekommen.
({9})
Die Kosten werden uns überrollen.
({10})
Das ist knallhart volkswirtschaftlich kalkuliert. Ich finde
es erbärmlich, dass Schwarz-Gelb offensichtlich nicht
rechnen kann.
({11})
Wir haben in dieser Woche in einer Aktuellen Stunde
über die Überschüsse bei den Krankenkassen debattiert.
({12})
Wenn wir das Problem, dass es immer mehr Übergewichtige gibt, nicht in den Griff bekommen, dann brauchen wir hier nicht mehr über Überschüsse zu reden,
sondern müssen uns überlegen, wie wir überhaupt noch
eine angemessene Behandlung der vielen Diabetiker und
Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gewährleisten können.
Der Herr Staatssekretär hat sehr schön gesagt: Prävention fängt schon bei den Schwangeren und den Babys
an. - Da frage ich mich aber, warum ich seit letztem
Sommer im Abstand von wenigen Wochen immer wieder vergeblich Herrn Müller anschreibe und frage, wann
er endlich die Empfehlung des BfR umsetzt und gesundheitsschädliche Kindermilch vom Markt nimmt. Wenn
man nicht einmal so eine kleine Maßnahme hinbekommt, dann frage ich mich: Wie ernst ist es Ihnen wirklich mit der Ernährungspolitik?
({13})
Wir sagen: Wir brauchen eine konsistente ressortübergreifende Strategie gegen Fehlernährung und Übergewicht. Das bedeutet nicht Schaukochen mit Herrn Lafer
oder mit Herrn Schuhbeck oder bunte Broschüren, sondern das bedeutet zuallererst die Einführung der Nährwertampel. Das wäre wirklich Information statt GDADesinformation.
({14})
- Das ist keine Bevormundung. Wenn ich Menschen die
Wahrheit sage, ist das keine Bevormundung. Statt der
GDA-Kennzeichnung könnten Sie den Zuckergehalt
auch auf Finnisch auf die Packungen schreiben.
({15})
- Nein, die GDA-Kennzeichnung ist eine Desinformation im Sinne von Ferrero und Nestlé, weil diese nicht
zugeben wollen, dass die meisten ihrer Produkte Fettund Zuckerbomben sind.
({16})
Studien zeigen ganz klar: Die Menschen verstehen diese
Kennzeichnung nicht. Wir wollen ihnen echte Informationen geben.
({17})
Frau Kollegin, Frau Happach-Kasan würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Aber gerne.
Sehr geehrte Kollegin Maisch, vielen Dank für die
Möglichkeit zu einer Zwischenfrage. Ich denke, auch Sie
haben bei der Diskussion über die Ampelkennzeichnung
miterlebt, dass wir mit der sogenannten Ernährungsampel keine eindeutige Bewertung bekommen, sondern
dass Lebensmittel zum Beispiel mit zweimal rot und
zweimal grün gekennzeichnet werden. Das heißt, niemand weiß dann, wonach er sich richten soll. Ist Ihnen
bekannt, dass sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und beispielsweise auch der Verband der Kinderärzte dezidiert dagegen ausgesprochen haben?
Wie können Sie es gerade als junge Frau mit Ihrem
Gewissen vereinbaren, dass Sie eine Nährwertampel bevorzugen, die eine richtige Aussage für einen Teil der
Bevölkerung trifft - da stimme ich mit Ihnen überein -,
aber für einen anderen Teil der Bevölkerung keine richtige Empfehlung gibt, zum Beispiel für die Menschen,
die an Bulimie oder an Magersucht leiden; hier ist die
Anzahl der Erkrankungen gestiegen. Die rote Kennzeichnung bei bestimmten kalorienhaltigen Lebensmitteln wird natürlich gerade diesen Teil der Bevölkerung in
die Irre leiten. Deswegen haben wir als FDP gesagt: Wir
wollen keine Bewertung auf den Verpackungen haben,
die nur für einen Teil der Bevölkerung eine richtige
Empfehlung gibt, aber einen anderen Teil der Bevölkerung in die Irre leitet. Ich glaube, das können wir nicht
verantworten.
({0})
Frau Happach-Kasan, ich finde, politische Auseinandersetzungen und auch Zwischenfragen beleben die Debatte sehr. Ob dabei aber die Aussage „Wie können Sie
gerade als junge Frau …“ in der politischen Auseinandersetzung hilfreich ist, weiß ich nicht genau.
({0})
Frau Happach-Kasan, ich würde das Geschlechtsargument gerne aufgreifen. Das GDA-Prinzip zeigt, wie
viel Prozent des Tagesbedarfs einer Substanz bei einer
gegriffenen Person, zum Beispiel einer Frau, ein Produkt
durch eine bestimmte Menge deckt. Zum Beispiel wird
angegeben, dass ein Glas Limonade 10 Prozent des Zuckerbedarfs deckt. Die Ampel hingegen gibt keine Empfehlung und macht keine Prozentangaben, sondern zeigt
lediglich, ob ein Produkt zum Beispiel mittel, viel oder
wenig Zucker enthält. Sie gibt nur eine Information; daraus ist keine Belehrung abzuleiten. Die Ampel hat den
weiteren Vorteil, dass sie sowohl für kleine dicke Männer als auch für junge Frauen und für Kinder gleichermaßen gilt. Die Information ist immer nur, ob das Lebensmittel viel, wenig oder eine mittlere Menge an zum
Beispiel Zucker, gesättigten Fettsäuren oder Salz enthält.
Ich glaube, es ist eine Fehlinformation, dass sich der
Berufsverband der Kinderärzte gegen die Ampel ausgesprochen hat.
({0})
Meine Information ist genau das Gegenteil. Ich war gestern zusammen mit Jens Spahn aus der Koalition auf einer Podiumsdiskussion, bei der über die Prävention von
Diabetes und Übergewicht diskutiert wurde. Auf dem
Podium waren auch Diabetesexperten, Kinderärzte, Betriebsärzte. Alle haben sich für die Ampel ausgesprochen.
({1})
Ich glaube, das Problem mit der Ampel ist ein anderes: Die Ampel sagt so, dass man es versteht, die Wahrheit.
({2})
Aber die Nahrungsmittelindustrie, insbesondere die Hersteller von Süßwaren und fetten Frühstücksflocken,
möchten nicht, dass die Verbraucher in einer Art und
Weise die Wahrheit erfahren, die sie verstehen.
({3})
Noch ein letzter Satz zu dem Vorwurf, die Ampelkennzeichnung habe Wirkungen auf Magersüchtige und
Bulimiker. Ich habe mich informiert: Es gibt keinen wissenschaftlich begründeten Zusammenhang zwischen
Nährwertinformationen, der Zahl von Adipositasbehandlungen, der Aufklärung über gesundes Essen und
Magersucht oder Bulimie. Das sind multifaktorielle psychische Erkrankungen. Sie haben ihre Ursachen zum
Beispiel im Elternhaus oder in dem Bild, das in den Medien von jungen Frauen gezeichnet wird,
({4})
aber nicht in der Angabe: Diese Cola enthält viel Zucker.
({5})
Wenn die Welt so einfach wäre, hätten wir, glaube ich,
Bulimie und Magersucht längst im Griff.
({6})
Ich will auf zwei weitere Aspekte, die die Ernährung
betreffen, zu sprechen kommen; die vielen anderen
wichtigen Themen anzusprechen, schaffe ich jetzt sowieso nicht mehr. Es gibt die Nährwertampel. Sie ist
umstritten. Aber es wird auch einmal andere Mehrheiten
geben.
({7})
Dann kann man sie, glaube ich, einführen. Wir brauchen
einen anderen Umgang mit dem Marketing, das sich an
Kinder richtet. Wir brauchen eine gesunde Mittagsverpflegung in allen Betreuungseinrichtungen.
Sie müssen zum Ende kommen, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Ich finde, gerade hier hat
die Ernährungsministerin versagt. Man kann über Frau
von der Leyens komisches Paket für Hartz-IV-Kinder
denken, was man will.
Frau Kollegin.
Aber dass sich nicht die Ernährungsministerin des
Themas Schulverpflegung annimmt, sondern dass der
Hinweis, dass nicht jedes Kind ein gesundes Mittagessen
bekommt, aus anderen Ressorts kommt,
({0})
ist, wie ich finde,
Frau Kollegin!
- ein ziemlich trauriges Zeugnis.
({0})
Die Kollegin Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schon interessant, dass die SPD in der
Mitte der Wahlperiode beginnt, sich Gedanken über die
Verbraucherschutzpolitik zu machen.
({0})
Da fragt man sich unwillkürlich: Was hat die SPD eigentlich in den letzten zwei Jahren gemacht? Aber, sehr
geehrter Herr Kelber: Es ist nie zu spät.
Sie haben jetzt einen Antrag mit dem Titel „Verbraucherpolitik neu ausrichten - Verbraucherpolitische Strategie vorlegen“ formuliert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, richten Sie sich ruhig neu aus!
Machen Sie sich ruhig Gedanken! Eine verbraucherpolitische Strategie brauchen wir; sie kann nie schaden. Ich
finde es deswegen auch sehr klug, dass Sie uns einladen,
mit Ihnen über diese Strategie zu diskutieren. Unsere
Konzepte stehen. Wir haben eine verbraucherpolitische
Strategie.
({1})
Unsere Ziele sind klar definiert. Wir haben eine klare
Richtung. Wir sind verlässliche Partner.
({2})
Das ist das, was die Verbraucherinnen und Verbraucher
brauchen, und das leisten wir.
({3})
Die Themen, bei denen sich die CDU/CSU mit der Situation der Verbraucher beschäftigt, sind in allen Politikfeldern zu Hause. Für uns fristet die Verbraucherpolitik
kein Nischendasein. Sie gehört mitten in die Politik, mitten in unsere Parteien, mitten in unsere Fraktion und mitten in die Regierung, weil sie mitten im Leben ist und
uns alle betrifft; denn Verbraucher sind wir alle.
Der Begriff „Verbraucherschutz“ ist ein wenig irreführend. Es geht nämlich nicht nur um den reinen Verbrauch von Dingen und damit um den Konsum oder den
Konsumenten, sondern es geht auch um Dienstleistungen, Kunden, Nutzer und Produzenten. Es geht um alle
Seiten der Geschäftsbeziehungen, die Menschen miteinander haben. Es geht um Information, und es geht um
Transparenz. Wir reden auch immer vom Verbraucherschutz. Auch das ist ein irreführender Ausdruck. Für uns
sind die Verbraucher nämlich nicht in erster Linie
Schutzbefohlene, also Menschen, die ohne Hilfe von außen hilflos wären. Verbraucherpolitik ist für uns eben
keine Sozialpolitik.
({4})
Wir sagen: Der Verbraucher kann und soll sich frei
entscheiden. Der Staat ist nicht der bessere Verbraucher.
Die Grünen gehen ja sogar so weit, zu fordern, dass bestimmte Geldanlagemöglichkeiten für weniger Gebildete
ausgeschlossen werden sollten, um sie vor dem Risiko
zu schützen.
({5})
Ähnliche Vorschläge finden wir auch im heute vorliegenden Antrag der SPD. Nein, das ist nicht unser Leitbild des modernen und mündigen Verbrauchers. Die
CDU/CSU traut den Bürgern an dieser Stelle viel mehr
zu.
({6})
Für uns soll der Verbraucher informiert und selbstbestimmt sein. Das ist unser Leitbild im Verbraucherschutz. Wie informieren wir? Was haben wir bislang zur
besseren Information für die Verbraucher getan? Herr
Müller hat einige Beispiele genannt: das Verbraucherinformationsgesetz, die Internetplattform www.lebens
mittelklarheit.de, die verbesserte Kennzeichnung von
Lebensmitteln, die Produktinformationsblätter, also die
sogenannten Beipackzettel.
Der Verbraucher sollte für uns aber nicht nur informiert, sondern auch selbstbestimmt sein. Wie stärken
wir als CDU/CSU die Selbstbestimmung des Verbrauchers? Es darf keine Voreinstellungen beim Internetgeschäft geben. Egal ob bei Facebook oder Google: Der
Nutzer soll selbst bestimmen, was von ihm gespeichert
wird. Wir haben die Buttonlösung eingeführt; es gibt
also klare Regeln bei Käufen im Internet. Daneben wollen wir die Honorarberatung ausbauen.
Aber: Woher wissen wir eigentlich, was Verbraucher
wollen? Klar, jeder von uns selber ist Verbraucher, und
jeder würde, wenn er gefragt würde, eine andere Antwort geben. Interessant ist, das Muster darin zu finden,
die Regel, nach der sich die meisten richten - bewusst
oder unbewusst.
Als Beispiel nenne ich unsere Neigung, die Forscher
herausgefunden haben, zum Beispiel bei Chips oder
Schokolade kleinere Packungen zu bevorzugen, selbst
wenn sie teurer sind, weil wir uns quasi vor uns selber
schützen wollen. Wir kennen uns selbst sehr gut und
wissen: Wenn wir erst einmal mit dem Essen angefangen
haben, dann essen wir die ganze Packung auf, ob sie
groß oder klein ist. Es ist daneben auch eine Tatsache,
dass wir Geld lieber regelmäßig in kleineren Mengen
zurücklegen, um das Sparziel zu erreichen, weil uns
unsere Erfahrung gelehrt hat, dass uns am Ende die Kraft
für einen großen Spareingriff fehlt.
Also sind Logik und reine Mathematik wohl nicht die
einzigen Ratgeber für uns Verbraucher. Das müssen wir
bedenken, wenn wir Informationen vermitteln wollen.
Die Wissenschaft kann uns dabei helfen, zu ergründen,
wie Verbraucher reagieren und nach welchen Regeln sie
handeln, damit sie das nutzen, was gesetzlich möglich
und von uns gewollt ist.
Die SPD fragt mit ihrem Antrag nach unserem Leitbild, nach dem Leitbild der CDU/CSU, im Verbraucherschutz. Wir sagen: In der Verbraucherpolitik geht es im
Kern um Vertrauensschutz. Ohne Vertrauen funktioniert
keine Beziehung - zwischen Käufer und Verkäufer nicht
und zwischen Kunden und Anbietern auch nicht. Aber
Vertrauen kann man eben nicht gesetzlich verordnen.
Viele sind genau davon überzeugt. Mehr noch: Es gibt
Menschen, die sagen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist
besser. Dahinter steht die Vorstellung: Je mehr Kontrolle, umso mehr Vertrauen kann wachsen. Aber das ist
komplett falsch. Klar, Kontrolle muss sein, aber Vertrauen wird und kann man nicht erzwingen und auch
nicht verdienen. Vertrauen schenkt man.
Am besten kann man dieses Phänomen an kleinen
Kindern beobachten. Sie verschenken ihr Vertrauen.
Wenn sie es einmal nicht tun: Welche Energie wenden
Erwachsene dann auf, um das Vertrauen des Kindes zu
erringen, zu erschleichen, zu erkaufen? Es ist ein sehr
schwieriges Unterfangen, Vertrauen zurückzugewinnen,
wenn es erst einmal verloren gegangen ist. Deshalb muss
unser gemeinsames Interesse eigentlich doch darin liegen, die vertrauensvollen Beziehungen zwischen Verbrauchern und Anbietern und zwischen den Herstellern
und den Konsumenten zu stabilisieren.
({7})
Das ist unsere Verantwortung, und daran arbeiten wir.
({8})
Mit Gesetzen schaffen wir dabei den Rahmen, aber
wir können noch weit mehr tun, als Gesetze zu verabschieden. Wir tragen auch einen Teil der Verantwortung
für das Klima zwischen den Verbrauchern und den
Anbietern. Wir Politiker können Verunsicherung und
Misstrauen befeuern, weil sich schlechte Nachrichten
besser verkaufen lassen als gute und weil Einzelfälle zu
Massenphänomenen hochstilisiert werden. Wir haben es
aber genauso in der Hand, für gute Information und für
Aufklärung zu sorgen, für eine richtige Einordnung der
Dinge einzutreten und Einzelfälle wie Massenphänomene als solche zu benennen.
Wir wollen das Vertrauen zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen stärken, weil das der Kitt ist, der unsere
Gesellschaft zusammenhält. Wir wollen stabile, vertrauensvolle Geschäftsbeziehungen ermöglichen, weil nur so
unsere soziale Marktwirtschaft erfolgreich sein kann.
Wir wollen gute Information und Transparenz für den
Kunden, damit er die richtige Kaufentscheidung treffen
kann. Wir wollen Spielregeln, aber keine Bevormundung. Dafür steht die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank
({9})
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat jetzt für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der großen
Marktmacht der Verbraucher, vom Einfluss jedes einzelnen Verbrauchers auf den Markt hat Ministerin Aigner
letzte Woche anlässlich des Weltverbrauchertags gesprochen. Sie sprach von der Macht des Verbrauchers, die
mit der Vielfalt des Marktes wachse und Verbraucher
über den Erfolg und das Scheitern eines Geschäftsmodells entscheiden lasse. „Doch die Verhältnisse, sie
sind nicht so“, sagte schon Bertolt Brecht. Ich nenne
Ihnen ein paar Beispiele.
22 000 Beschwerden pro Monat von Verbraucherinnen und Verbrauchern, die in Internetkostenfallen
getappt sind, zeugen doch nicht gerade von der Macht,
über Erfolg oder Scheitern dieses Geschäftsmodells zu
entscheiden. Im Gegenteil: Diese Kostenfallen haben
sich offensichtlich als sehr lukrativ für die Anbieter
erwiesen, bis nun endlich mit der Buttonlösung ein Riegel vorgeschoben wurde.
Oder: Spielzeug darf ganz legal und ohne Kennzeichnung Chemikalien enthalten, die den Hormonhaushalt
von Kindern nachhaltig stören können. Wie wollen
Eltern ebenso wie der einzelne Verbraucher über seine
Nachfrage das Angebot steuern und dieses Geschäftsmodell zum Scheitern bringen?
Oder: Verbraucher zahlen als Fremdabheber an manchen Geldautomaten 7,50 Euro für eine Auszahlung, die
weniger als 1 Euro kostet. Zahlen Verbraucher dies gern
und bewusst, weil sie dieses Geschäftsmodell unterstützen wollen?
Oder: Verbraucher lehnen zu 80 Prozent gentechnisch
veränderte Pflanzen auf dem Acker und dem Teller ab.
Dennoch unterstützen sie unfreiwillig den Anbau solcher
Pflanzen. Denn tierische Produkte wie zum Beispiel
Milch von Kühen, die mit GVO-Pflanzen gefüttert worden sind, müssen nicht gekennzeichnet werden. Auch
hier profitiert ein Geschäftsmodell von Intransparenz,
und Intransparenz ist die größte Widersacherin der Verbrauchermacht.
({0})
Immerhin gibt es in diesem Fall eine Alternative, weil
wir die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung für Produkte, bei denen auf die Verfütterung von GVO verzichtet wurde, durchgesetzt haben.
Verbrauchermacht? „Doch die Verhältnisse, sie sind
nicht so.“ Aber die Bundesregierung ignoriert das
Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Anbietern und
Verbrauchern. Die Bundesregierung drückt sich vor der
Verantwortung und setzt dort auf die Mündigkeit und
Macht der Verbraucher, wo gesetzliche Regelungen notwendig wären.
({1})
Die Bundesregierung hat ein Bild von den Verbrauchern und ihrer Mündigkeit, welches weder mit den realen Bedürfnissen und Problemen der Verbraucher noch
mit der Komplexität und Intransparenz des Marktes zu
vereinbaren ist.
Die Bundesregierung hat kein Konzept für ihre Verbraucherpolitik. Wenn Skandale - wir haben in den vergangenen Monaten etliche erlebt - Verwerfungen am
Markt offenbaren, reagiert sie mit zweifelhaften Informationsangeboten, leeren Ankündigungen oder freiwilligen Vereinbarungen mit der Wirtschaft. Eine Gesamtstrategie hat diese Bundesregierung nicht. Die gibt es
einfach nicht.
({2})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben Leitlinien für eine Neuausrichtung der Verbraucherpolitik vorgelegt. Wir wollen, dass der Markt für die
Menschen da ist - und nicht umgekehrt.
({3})
Auch wir wollen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher selbstbestimmt am Markt agieren und bewusst
wählen können; das ist nicht ausschließlich ein Prä der
FDP. Aber wir sehen den Tatsachen ins Auge und sagen:
„Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, und daran
müssen wir arbeiten.
Denn am Markt gibt es ein Ungleichgewischt der
Kräfte zwischen Anbietern und Verbrauchern. Durch
weltweiten Handel und technologischen Fortschritt können Verbraucher aus einer Vielzahl an Waren und auch
Dienstleistungen auswählen. Gleichzeitig ist dieser
Markt extrem intransparent. Woher kommen die Waren
wirklich? Unter welchen Umständen wurden sie produziert? Was genau ist drin? Welche Leistungen umfassen
Verträge, und zwar unter welchen Bedingungen, mit
welchen Risiken und zu welchen Kosten?
({4})
Für Verbraucher ist es oft schwierig - und manchmal
sogar unmöglich -, verständliche und vergleichbare
Informationen zu bekommen.
Auch die Verbraucher selbst entsprechen nicht dem
Bild, das die Bundesregierung von ihnen hat. Die Verbraucherforschung zeigt, dass es den mündigen Verbraucher, der immer rational und selbstbestimmt entscheidet,
nicht gibt. So setzt die gesamte Werbebranche darauf,
dass er sich von Emotionen und von Stimmungen beeinflussen lässt.
Alle Menschen sind Verbraucher - das hat sogar die
Kollegin Heil festgestellt -, und ihre Interessen und Probleme sind so verschieden wie ihre Lebenssituation, ihr
Einkommen, ihre Herkunft, ihr Geschlecht, ihr Alter. Sie
unterscheiden sich in ihren Verhaltensmustern und variieren diese je nach Produkt, Laune oder Einkaufssituation. Manche informieren sich gern und ausführlich, beispielsweise vor der Anschaffung von Elektrogeräten,
greifen aber im Lebensmittelmarkt einfach blind zu.
Andere vertrauen aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel
auf das, was der Anbieter sagt. Manche möchten danach
auswählen, ob der Unternehmer oder das Unternehmen
faire Löhne zahlt. Für andere sind Informationen so
unverständlich, dass sie diese gar nicht erst lesen.
Wir wollen Verbraucher, unabhängig von Herkunft,
Bildungsstand und finanziellen Möglichkeiten, vor
unlauteren Geschäftspraktiken schützen, vor dem Missbrauch ihrer Daten, vor unsicheren Produkten und vor
existenzbedrohenden Fehlentscheidungen, beispielsweise bei der Alterssicherung.
Wir wollen sie in ihren Rechten und Möglichkeiten
zur Mitgestaltung des Marktes stärken. Deshalb brauchen wir eine gründliche Analyse der Schwächen bei der
Regulierung des Marktes, der Überwachung, der Transparenz, der Rechte der Verbraucher. Mit unseren Leitlinien stellen wir die Verbraucherpolitik auf eine neue
Basis. Wir werden die Ergebnisse der Verbraucherforschung, insbesondere die der Verhaltensökonomie, nutzen, um Regelungen und Instrumente zu entwickeln, die
auf die realen Verbraucherinnen und Verbraucher und
ihre Bedürfnisse und Probleme zielen. Wir wollen wissen, wie die Verbraucher wirklich ticken und wie Informationen für Verbraucher aussehen müssen, damit sie
verständlich, vergleichbar und schnell erfassbar sind.
Die misslungenen Beispiele sind von Uli Kelber und von
Frau Maisch hier schon genannt worden.
Wir wollen wissen und testen, ob Verbraucher tatsächlich verstehen, was in Produktinformationsblättern
steht. Das Verbraucherministerium muss prüfen, ob
Märkte verbrauchergerecht sind. Hierfür muss es wie
etwa der Normenkontrollrat für Bürokratieabbau eine
extra Befugnis bekommen. Wir wollen prüfen: Wo muss
der Markt transparenter werden, damit Verbraucher
selbstbestimmt entscheiden können? Wo müssen die
Anbieter stärker in die Pflicht genommen werden? Wo
muss der Staat für mehr Schutz sorgen? Zudem wollen
wir diese Erkenntnisse nutzen, um gesetzliche Regelungen in einem Verbrauchercheck auf ihre Wirksamkeit
hin zu überprüfen.
Wer gute Politik macht, braucht den Realitätscheck
nicht zu fürchten, sondern kann ihn im Interesse der Verbraucher nutzen. Unser Ziel ist der Markt für die Menschen, der sich an den Bedürfnissen und Problemen der
Verbraucher orientiert und auf dem die Anbieter transparent und gesellschaftlich verantwortlich agieren.
Das ist ein neuer Ansatz. Wir freuen uns, wenn Sie
sich mit uns auf diesen Weg begeben. Ich fürchte nur:
„Die Verhältnisse, sie sind nicht so.“
Vielen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hans-Michael
Goldmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich war sehr zufrieden, als ich die Thematik
im Antrag der SPD las, weil uns das Gelegenheit gibt,
dieses Thema zu diskutieren, das über die Zeit meiner
Zugehörigkeit zum Parlament, nämlich seit 1998, immer
wichtiger geworden ist und das vor allen Dingen viele
Mütter hat, die es auf den Weg gebracht haben. Ich will
überhaupt nicht ausschließen oder auch nicht unerwähnt
lassen, dass es sicherlich auch Frau Künast war, die hier
in besonderer Weise die Weichen gestellt hat. Aber ich
finde, man sollte dann auch so viel Respekt vor der Arbeit der Bundesregierung, der Regierungsfraktion und
des Ausschusses haben, dass man sich an der Wahrheit
orientiert.
({0})
Ich finde, Herr Staatssekretär Müller hat beeindruckend
dargelegt, was wir hier abarbeiten.
Gestern habe ich mich zwei Stunden lang sehr qualifiziert mit dem Marktwächter auseinandergesetzt. Ich
muss ehrlich sagen: Ich bin ein bisschen traurig darüber,
dass wir alle gemeinsam feststellen, dass es in diesem
Bereich noch Handlungsbedarf gibt, und dann in den
Beiträgen der Opposition hier so getan wird, als ob wir
nichts getan, als ob wir für die Verbraucher nichts auf
den Weg gebracht hätten. Wir haben die Situation des
Verbrauchers am Markt seit Jahren, aber in besonderer
Weise in der schwarz-gelben Regierungszeit deutlich gestärkt.
({1})
Wir haben die Situation des Verbrauchers am Markt stärker abgesichert, indem wir eine Lebensmittelkennzeichnung eingeführt haben, die Aussagekraft hat. Wir haben
allergene Stoffe benannt und die Schriftgröße auf Verpackungen so vergrößert, dass man die Aufschrift gut lesen
kann. Von Kleinigkeiten bis hin zu den großen Würfen
haben wir die Dinge auf den Weg gebracht. Wir haben
ein Verbraucherinformationsgesetz gemacht, das diesen
Namen verdient und das vorher bei allen Regierungskonstellationen und Mehrheiten im Parlament gescheitert ist. Deshalb tun Sie bitte nicht so, als ob wir nicht
viel erreicht hätten!
({2})
Ich bin überrascht, wie Sie den Antrag vertreten, Herr
Kelber. Es gibt gar keine Strategie. Nehmen wir nur den
Kernsatz, den Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, mit
dem Sie die Bundesregierung auffordern, „eine verbraucherpolitische Strategie vorzulegen und die Grundlagen,
Leitbilder, Instrumente und Ziele der Verbraucherpolitik
darzustellen“. Ich habe Oppositionsarbeit bis jetzt anders
verstanden.
({3})
- Hier ist Ihr Antrag. Was Sie in der Hand haben, ist ein
Dokument der Bundesregierung.
({4})
In Ihrem Antrag haben Sie nicht einen einzigen Lösungsvorschlag gemacht. Das gilt auch für das, was
Elvira Drobinski-Weiß gerade gefordert hat. Elvira,
nichts davon ist in dem Antrag enthalten.
({5})
- Nein, Herr Kelber, ich kann nicht nur Schwarz-Weiß.
({6})
- Soll ich weiter vorlesen, was Sie fordern?
({7})
Sie fordern, „das Leitbild des ‚mündigen Verbrauchers‘
nach einem Realitätscheck weiterzuentwickeln und verbraucherpolitische Maßnahmen auf die ‚realen Verbraucher‘ auszurichten“.
({8})
- Ja, Herr Kollege Kelber, aber dazu fordern Sie die
Bundesregierung auf. Sie müssen doch selbst eine Vorstellung haben, was nach Ihren Überlegungen das Leitbild eines mündigen Verbrauchers ist.
({9})
- Das mag ja sein, Herr Kelber. Aber ich finde es hochinteressant, dass die Broschüre, die Sie hochhalten, nicht
eine einzige Antragsinitiative oder Wortmeldung im
Ausschuss ausgelöst hat.
({10})
- Sie hätten schon vielfach Gelegenheit gehabt, bei einer
Fülle von Anträgen, Anhörungen und Begegnungen im
Ausschuss diese Thematik auf den Weg zu bringen.
({11})
Lassen Sie mich noch einen anderen Bereich ansprechen, Herr Kelber. Es gibt einen Konflikt zwischen dem,
was der Staat für die Verbraucher tun muss - dafür muss
er einiges tun -, und dem, was die Verbraucher für sich
selbst tun. Ich warne entschieden davor, darauf zu vertrauen, dass der Staat in allen Lebenslagen die Bedürfnisse der Menschen reguliert. Das wird nicht glücken.
({12})
Frau Drobinski-Weiß, Sie haben eben wieder viel
Geld für Einrichtungen gefordert, die die Verbraucheraufklärung voranbringen.
({13})
Wir haben aber auch eine andere zentrale Verpflichtung:
Wir müssen den nachfolgenden Generationen konsolidierte Haushalte übergeben.
({14})
Dafür müssen wir auch darauf setzen, dass die Bürger
Eigenanstrengungen unternehmen, um den Herausforderungen zu begegnen.
({15})
Sie, Frau Lay, haben den mündigen Verbraucher infrage gestellt. Wir können uns auch über den kundigen
und den wissenden Verbraucher unterhalten. Aber dass
an Wissen und Selbstinformation in diesem Bereich kein
Weg vorbeiführt, ist doch völlig unstrittig.
({16})
Liebe Freunde, ihr wisst selbst, dass ihr hier ganz
schlechte Karten habt.
({17})
- Da brauchst du nicht zu lachen, Elvira. Dabei hilft dir
auch deine GVO-Dauerproblematik nicht. Du musst
feststellen - das haben Herr Müller, die Kollegen von
der CDU/CSU und der Kollege Schweickert dargelegt -:
({18})
Wir fügen Steinchen für Steinchen ein verbraucherschützendes Mosaik zusammen. Darauf sind wir stolz. In diesem Bereich habt ihr nichts, aber auch gar nichts zu bieten.
({19})
Es werden seltsame Botschaften gesendet. Da bin ich
von Ihnen, Frau Maisch, enttäuscht.
({20})
Frau Maisch, Sie sind jemand, der im Ausschuss vernünftig arbeitet. Das zeichnet Sie aus.
({21})
Aber, Frau Maisch, Sie sollten die Linie wahren. Sie dürfen nicht behaupten, Kindermilch sei gesundheitsschädlich. Wenn Kindermilch gesundheitsschädlich wäre - das
ist sie nicht; Sie wissen das auch -, dann müsste diese
Milch vom Markt genommen werden. Das muss sie aber
nicht. Ich bin - ich glaube, da sind wir völlig konform für eine Änderung der Zusammensetzung dieser Milch.
Der Zuckergehalt wird reduziert werden. Aber ein Produkt, das gesundheitsschädlich ist - nichts anderes sollten wir dem Verbraucher hier von entscheidender Stelle
aus verkünden -, gibt es auf dem deutschen Markt nicht.
Das wäre absolut unverantwortlich. Wir können stolz darauf sein, dass unsere Produkte sicher sind. Daran sollten
wir gemeinsam festhalten.
({22})
Es gibt noch viel zu tun. Lassen Sie uns das eingedenk der guten Tradition bei der Ausschussarbeit gemeinsam angehen! Lassen Sie uns darüber freuen, dass
wir einen Verbraucherausschuss haben, der einen hohen
Stellenwert in der Gesellschaft hat und der uns in der Arbeit im Grunde sehr viel Freude bereitet!
Danke schön.
({23})
Der Wunsch nach einer Zwischenfrage kam hier erst
an, nachdem die Redezeit abgelaufen war. Da Sie aber
angesprochen sind, Frau Maisch: Möchten Sie eine
Kurzintervention anmelden? - Das ist nicht der Fall.
Jetzt spricht die Kollegin Karin Binder für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Seitenlange allgemeine Geschäftsbedingungen oder das Kleingedruckte auf Verpackungen könnten die Verbraucherinnen und Verbraucher
ja lesen. Tun sie das nicht, sind sie selbst schuld, wenn
sie übervorteilt werden. - So lässt sich die verbraucherpolitische Strategie der Bundesregierung kurz zusammenfassen. Als Linke sagen wir: Es ist Aufgabe der
Politik, Verbraucherinnen und Verbraucher vor Schönfärberei, Irreführung oder gar Täuschung zu schützen.
({0})
Manchem Unternehmen scheint nämlich jedes Mittel
recht zu sein, den Menschen das Geld aus der Tasche zu
ziehen. Verbraucherpolitik darf sich deshalb nicht darauf
beschränken, Kundinnen und Kunden gute Ratschläge
zu geben.
Entgegen der Vorstellung der SPD in ihrem Antrag
behaupte ich: Das Leitbild des sogenannten mündigen
Verbrauchers ist nicht weiterzuentwickeln. Es ist Unsinn. Es ist längst überholt, und es ist nicht mehr als eine
Verkaufshilfe. Wir brauchen keine verbraucherpolitische
Hilfestellung zur Zielgruppendefinition für Industrie und
Handel. Dieses sogenannte Leitbild täuscht darüber hinweg, dass die Verantwortung einfach weg von den Herstellern und Händlern auf die Kundinnen und Kunden
übertragen werden soll. Das Aigner-Prinzip, der Verbraucher müsse nur lernen, sich richtig zu informieren
- selbst schuld, wer das Kleingedruckte nicht liest -,
richtet sich gegen die Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Linke macht da nicht mit.
({1})
Die Voraussetzung für gute Verbraucherinformation
sind Transparenz und Offenheit. Ein wichtiges Beispiel
sind Lebensmittel. Ministerin Aigner aber macht Essen
zur Verschlusssache. Wie sonst kommen irreführende
Begriffe für Lebensmittel wie Formfleisch oder Fruchtcremefüllung, die kein Fruchtfleisch enthält, zustande?
Die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission tagt geheim. Ihre Beschlüsse sind unergründlich. Wie gelangen
Schadstoffe, zum Beispiel Druckchemikalien, von der
Getränkeverpackung in den Saft? - Betriebsgeheimnis!
Welche Verstöße und Hygienemängel führen zur Schließung eines Schlachthofs? - Auch geheim!
({2})
Damit muss endlich Schluss sein.
({3})
Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht, zu
erfahren, welcher Betrieb nicht genug auf Sauberkeit
achtet und wie Schadstoffe ins Essen gelangen.
Frau Kollegin, Herr Schweickert möchte Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?
Aber gern.
Bitte schön.
Frau Kollegin Binder, vielen Dank für die Ermöglichung einer Zwischenfrage. Ist Ihnen bekannt, dass die
Bundesregierung das Verbraucherinformationsgesetz novelliert hat, dass wir damit genau in diesen Bereich
Transparenz bringen, dass der Verbraucher sehr wohl
weiß, wann Grenzwerte überschritten sind, wann und
warum ein Schlachthof geschlossen worden ist, und dass
wir genau in diesem Bereich gehandelt haben?
Lieber Kollege Schweickert, ich glaube, auch Sie
wissen, wie schwierig es ist, an solche Informationen zu
kommen; denn nach wie vor können sich die Betriebe
auf das Betriebsgeheimnis berufen und nach wie vor
müssen nicht alle Ergebnisse von Kontrollen offengelegt
werden. Solange das Ganze unter dem QS-Siegel oder
dem Stichwort „Eigenkontrolle“ läuft, hat die Öffentlichkeit keinen Anspruch darauf, das zu erfahren.
({0})
- Schön wäre es.
({1})
Es gäbe jetzt noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Goldmann. Möchten Sie diese auch zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Binder, Sie haben eben die Schließung
eines Schlachtbetriebs angesprochen und gesagt, dass
die Gründe dafür geheim seien. Können Sie sich daran
erinnern, dass wir gestern in der Ausschusssitzung einen
Tagesordnungspunkt zum Bericht über die Situation dieses Schlachtbetriebes hatten und ich trotz angespannter
Zeitsituation große Anstrengungen unternommen habe,
damit Sie rund eine Viertelstunde über die Situation in
diesem Schlachtbetrieb informiert werden?
({0})
Ihre Bedenken im Hinblick auf diesen Schlachtbetrieb
waren danach sicherlich weitestgehend ausgeräumt. Es
hat in dem Betrieb nämlich einen Umbau gegeben, der
zu einer besonderen Situation geführt hat, die aber gegenwärtig keine Hygieneprobleme mit sich bringt.
({1})
- Natürlich wurden sie ausgeräumt. Bei Friedrich
Ostendorff waren sie natürlich nicht ausgeräumt, weil
Herr Ostendorff grundsätzlich keine Bedenken ausräumen lässt, wenn er sich zu einer Sache einmal eine Meinung gebildet hat.
({2})
Entschuldigung, jetzt hat die Kollegin Binder das
Wort, um auf die Frage zu antworten. Ansonsten sind
Zwischenrufe sehr willkommen.
Lieber Kollege Goldmann, ich stimme Ihnen zu: Wir
hatten eine Ausschusssitzung, die sich mit diesem
Thema befasst hat. Allerdings ist diese Ausschusssitzung nicht öffentlich gewesen. Die Öffentlichkeit erfährt
nichts darüber, was in Bezug auf diesen Betrieb Ursache
und Wirkung war, was die Konsequenzen sind und wie
die Bevölkerung, die Verbraucherinnen und Verbraucher
künftig vor solchen Konsequenzen geschützt werden.
Unsere Ausschusssitzung ist nicht öffentlich.
Außerdem wurden unsere Bedenken nicht ausgeräumt. Es gibt noch sehr viel Beratungsbedarf. Ich
stimme Ihnen zu: Wir haben ein Stück weit eine Klärung
erreicht, aber ganz bestimmt keine endgültige, abschließende. Es muss definitiv noch beraten werden, insbesondere darüber, wie solche Probleme künftig vermieden
werden können.
({0})
Ich bin der Meinung, dass der Staat in der Verantwortung ist, insbesondere wenn es darum geht, Menschen
vor dem Ausverkauf der Daseinsvorsorge zu schützen;
denn auch diesbezüglich werden sie mittlerweile zu Verbraucherinnen und Verbrauchern degradiert. Rente,
Krankheit, Bildung, Strom, Gas und Wasser gehören
nach meiner Auffassung aber zur Daseinsvorsorge. Deshalb können die Menschen diesbezüglich nicht einfach
zu Marktteilnehmern herabgesetzt werden. Wenn wir für
das Alter vorsorgen wollen, sollen wir heute zur Bank
gehen. Ohne es zu wissen, nehmen wir dann plötzlich an
Finanzwetten teil oder werden zu Miteigentümern von
Immobilien, die es gar nicht gibt. „Selbst schuld“, sagt
Frau Aigner. Nach meiner Auffassung muss es aber Bereiche geben, in denen Menschen ausdrücklich geschützt
und nicht auf den Begriff der Verbraucherin oder des
Verbrauchers reduziert werden.
({1})
Dies gilt besonders bei den gesetzlich zu regelnden Gesundheits- und Pflegeleistungen wie auch bei allen anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Für eine verbraucherfreundliche Gesellschaft, die
nach dem Anspruch handelt, Verbraucherinnen und Verbraucher zu stärken, zu schützen und zu informieren, benötigen wir erstens die Stärkung der persönlichen und
gemeinschaftlichen Verbraucherrechte, zweitens eine
wirksame Marktüberwachung zur Kontrolle von Unternehmen und Betrieben, drittens gut ausgestattete und
starke Verbraucherorganisationen wie die Verbraucherzentralen, viertens handlungsfähige und gut ausgestattete staatliche Kontrollbehörden, die alle Ergebnisse allgemein verständlich zu veröffentlichen haben, fünftens
ein durchsetzungsstarkes Verbraucherministerium, das
im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher handelt, und sechstens moderne Ernährungs- und Verbraucherbildung.
({2})
Ich fasse zusammen. Die Linke fordert eine aktive
Verbraucherpolitik, welche die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher in den Mittelpunkt stellt. Das
Leitbild muss eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Verbraucherpolitik sein. Wirksamer Verbraucherschutz braucht handlungsfähige und durchsetzungskräftige öffentliche Institutionen sowie starke, finanziell gut
ausgestattete Verbraucherorganisationen. Gleichzeitig
setzen wir uns für die Rekommunalisierung bereits privatisierter Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge
ein.
({3})
So geht Verbraucherschutz.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Carola
Stauche das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag
der SPD, der von uns, der christlich-liberalen Koalition,
abgelehnt wird. Es ist schlicht und ergreifend nicht nötig, die Verbraucherpolitik neu auszurichten, wie es im
Antrag gefordert wird.
({0})
Es wurde bereits von den Kollegen einiges dazu gesagt. Deshalb möchte ich heute meine Ausführungen auf
den Bereich der Lebensmittelsicherheit beschränken.
Frau Aigner hat bereits am 19. Januar zur Eröffnung der
Grünen Woche die „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ vorgestellt. Nach unserem Verständnis gehören
Landwirtschaftspolitik und Verbraucherpolitik zusammen. Gerade um die Lebensmittelsicherheit zu gewähren,
muss beides ineinander übergehen. Ohne eine vernünftige Landwirtschaftspolitik können unsere Landwirte
nicht diesen hohen qualitativen Standard der in Deutschland produzierten Lebensmittel gewährleisten.
({1})
Lebensmittel sind die Grundlage unseres Lebens. Bessere und sicherere Lebensmittel als in der Bundesrepublik Deutschland finden Sie nirgends in der Welt.
({2})
Das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen und
auch nach außen tragen.
Das Bemerkenswerte an der Charta ist der Weg, der
gegangen wurde, um zu den vorgestellten Ergebnissen zu
kommen. Landwirte, Verbraucher, Wirtschaftsverbände,
Umweltschützer, Tierschützer und Kirchenvertreter haben miteinander die Zukunft der Landwirtschaft diskutiert. Durch diesen gemeinschaftlichen Diskussionsprozess hat die Ministerin erreicht, dass es zur Überwindung
mancher Meinungsverschiedenheiten kam. Viel wichtiger ist jedoch, dass viele wertvolle Diskussionsbeiträge
Eingang in die „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ gefunden haben. Sie helfen uns, die künftige Politik
zu gestalten.
Dieser Weg einer gemeinsam gestaltenden Politik ist
es, der Ihre Argumente widerlegt, die Bundesregierung
habe es versäumt, das verbraucherpolitische Leitbild ei19900
nes mündigen Verbrauchers weiterzuentwickeln. Nein,
das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesregierung entwickelt ihre Politik nicht über die Köpfe der Betroffenen
hinweg, sondern bindet sie alle mit ein. Das ist ein Weg,
der auch weiterhin gegangen werden soll. Ich freue
mich, wenn ich lese, dass auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD einen mündigen Verbraucher fordern. Allerdings verstehen wir in der christlich-liberalen Koalition etwas anderes unter diesem Begriff.
({3})
Wir möchten den Verbraucher, den es in der stereotypen
Form gar nicht gibt, nicht bevormunden.
({4})
Wir wollen ihn aufklären, ihm seine Möglichkeiten aufzeigen und nur, wenn es gar nicht anders geht, regelnd
eingreifen.
Das Bundesministerium hat hier in den letzten Jahren
bereits vieles getan. Nehmen wir das Beispiel der Lebensmittelkennzeichnung. Die immer wieder und auch
heute vonseiten der Opposition geforderte Lebensmittelampel ist ein gutes Beispiel dafür, wie man Verbraucher bevormundet, in die Irre führt oder sogar zur falschen Ernährung animiert. Das oft zitierte Beispiel
kennen wir alle: Cola mit drei grünen Punkten und einem roten Punkt. Das ist einfach zu kurz gegriffen.
Die Lebensmittelkennzeichnung ist klar geregelt und
in ihrer momentanen Form verbraucherfreundlich. Es
wird über Zusatzstoffe, Allergene oder genetisch veränderte Organismen informiert und darüber, wie viel Energie, Zucker, Fett oder Salz im Lebensmittel ist. Das Mindesthaltbarkeitsdatum muss gut lesbar sein. Auch muss
die Lebensmittelkennzeichnung über Beschaffenheit und
Herstellung der Produkte aufklären, so zum Beispiel
über Analogkäse oder Klebeschinken. Funktioniert das
alles nicht, wird getäuscht oder auf einem Produkt mit irreführenden Angaben geworben, besteht die Möglichkeit, mithilfe der Initiative „Klarheit und Wahrheit bei
der Lebensmittelkennzeichnung“ auf dem Internetportal
lebensmittelklarheit.de darauf hinzuweisen. Auch hierbei ist der Dialog, hier von Unternehmern und Verbrauchern, ein ganz wichtiges Element.
Wir dürfen uns natürlich auf dem bisher Erreichten
nicht ausruhen; das werden wir auch nicht tun. Wir werden und müssen die Verbraucher noch mehr über Lebensmittel informieren.
({5})
Es gibt gerade nach den Erfahrungen mit Gesetzesverstößen bei der Lebensmittelherstellung in den letzten
Jahren Verbesserungsbedarf, was die Effektivität der
Futtermittel- und Lebensmittelkontrollen in den Ländern
betrifft. Hier gilt es die Koordination des Risikomanagements zu verbessern. Die Bundesregierung reagierte darauf mit dem Aktionsplan „Verbraucherschutz in der
Futtermittelkette“. Dabei wurden Sicherheitsstandards in
der Futtermittelkette deutlich erhöht und identifizierte
Schwachstellen beseitigt. Das heißt jedoch nicht, dass
die Lebensmittelsicherheit und das Risikomanagement
aus dem Fokus geraten. Der Plan des Bundesministeriums, im Krisenfall die Kompetenzen des Bundes zu
stärken und das nationale Krisenmanagement neu auszurichten, findet unsere volle Unterstützung.
Dass Ministerin Aigner an Lösungen interessiert ist,
zeigt das Beispiel IN FORM. Dieses Projekt wurde von
der Ministerin weitergeführt und ausgebaut. Das zeigt
deutlich, wie wichtig das Anliegen „gesunde Ernährung“
und die damit verbundenen Themen durch die Bundesregierung genommen werden. Auch das momentan in der
Öffentlichkeit diskutierte Thema Lebensmittelverschwendung ist der Ministerin nicht neu. Vielmehr ist sie
Vorreiterin und hat bereits im Herbst vergangenen Jahres
eine Studie zu diesem Thema beauftragt, die sie nächste
Woche der breiten Öffentlichkeit vorstellt.
({6})
Man sollte nicht alles überstürzen und in Aktionismus
verfallen. Das hilft uns nicht weiter. Nur klares Denken
und Analysieren sowie gemeinsames Handeln unter Einbeziehung aller Beteiligten bringt uns hier weiter. Dafür
möchte ich der Ministerin danken.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesen
knappen Beispielen wollte ich verdeutlichen, dass der
Verbraucherschutz bei Ministerin Aigner gut aufgehoben
ist. Ihr Weg, alle Gesellschaftsgruppen in einen konstruktiven Dialog zu führen, sollte wegweisend auch für
andere Politikfelder stehen, nicht nur in der Verbraucherpolitik. Eine einseitige Bevormundung der Verbraucher
ist nicht im Sinne der Koalitionsfraktionen. Wir stehen
für den mündigen Verbraucher, nicht für den bevormundeten. Ein mündiger Verbraucher muss die Freiheit
haben, selbst zu entscheiden, und darf nicht von der Politik, durch Gesetze und Verordnungen in seiner Entscheidung eingeschränkt werden.
({8})
Ich danke Ihnen herzlich.
({9})
Die Kollegin Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal finde ich es gut, dass wir heute über
den Verbraucherschutz diskutieren. Deshalb auch Dank
an die SPD-Fraktion, dass sie diesen Antrag eingebracht
hat. Letzte Woche fand der Weltverbrauchertag statt.
Auch von daher ist heute ein guter Zeitpunkt, einmal Bilanz zu ziehen.
Ich persönlich bin schon sehr erstaunt darüber, welche Bilanz hier von den Koalitionsfraktionen gezogen
wird. Die Kritik richtet sich ja nicht gegen einzelne
Punkte der Politik, die die Bundesregierung macht. Wir
wissen selber, dass Verbraucherschutz ein so breites Feld
ist, dass man immer irgendeinen Punkt finden kann, bei
dem noch nicht genug getan wurde.
({0})
Das ist nicht der Punkt. Die entscheidende Frage lautet
vielmehr: Was ist die Grundlage der Verbraucherschutzpolitik dieser Bundesregierung? Da sage ich: Die Grundlage ihrer Verbraucherschutzpolitik ist Symbolpolitik.
Ministerin Aigner stellt sich hin, verkündet irgendetwas,
und dann geht das Thema an ihre Kabinettskolleginnen
und -kollegen, die wenig oder gar nichts machen. Das ist
das Prinzip der Ministerin.
({1})
Das führt dazu, dass sie - zu Recht - als Ankündigungsministerin bezeichnet wird.
Herr Schweickert, was ist denn mit den großen Erfolgen wie dem Verbot von Telefonwerbung und den Regelungen zu telefonischen Warteschleifen, die Sie angeführt haben? Das war schon jahrelang ein Thema. Nur
durch unseren Druck und durch den Druck der Öffentlichkeit
({2})
haben Sie sich langsam bewegt. Trotzdem haben Sie bis
heute keine guten Lösungen erreicht.
({3})
Noch heute sagen Sie: Wir müssen einmal schauen, ob
es in Zukunft eine schriftliche Bestätigung geben soll. Dabei gibt es mittlerweile so viele Verträge, die den
Menschen Schwierigkeiten bereiten. Sie haben bisher
viel zu wenig getan.
({4})
Frau Höhn, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Schweickert zulassen?
Ja, bitte. Da ich nur wenige Minuten Redezeit habe,
können Sie ruhig eine Frage stellen, Herr Kollege.
Bitte schön.
({0})
Vielen Dank, Frau Höhn, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen. Ist Ihnen bekannt, dass es Abzocke mit telefonischen Warteschleifen nicht erst gibt, seit wir regieren?
Das war auch schon zu Ihrer Regierungszeit ein Thema.
Sie haben aber nichts getan. Ist Ihnen das bekannt?
({0})
Das Thema illegale Telefonwerbung ist vor anderthalb Legislaturperioden mal gekommen. Damals wurden
sehr viele Menschen zu Werbezwecken angerufen. Ich
war zu dieser Zeit im Verbraucherausschuss und habe als
Erste mit einem Grünen-Antrag die Debatte angestoßen.
({0})
Ich habe damals - so lange ist das schon her - noch mit
dem damaligen Ausschussmitglied Frau Klöckner verhandelt. Aber heute, Jahre später, ist das Problem immer
noch nicht gelöst worden. Das ist der entscheidende
Punkt.
({1})
Ich fordere Sie daher auf: Tun Sie einfach mehr!
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Ihnen ein Konzept
fehlt. Es gibt eine große Bandbreite von Themen. Sie sagen: Wir wollen die Verbraucher aufklären und den Verbraucherschutz verstärken. - Genau da müssen Sie auch
ansetzen. Deshalb müssen Sie die Verbraucher strukturell stärken. Entscheidend dafür ist das Verbraucherinformationsgesetz.
({2})
Ich gebe der Kollegin Binder recht: Das Verbraucherinformationsgesetz ist den Namen nicht wert, den es
trägt.
({3})
Denn es gibt immer noch wahnsinnig lange Zeitabläufe,
ehe man die Info bekommt, und es kann immer noch viel
zu leicht auf das Betriebsgeheimnis verwiesen werden.
Außerdem sind die Bedarfsgegenstände nicht enthalten.
Was Sie bis jetzt gemacht haben, ist viel zu wenig.
Wenn Sie die Verbraucher stärken wollen - das ist ein
weiterer Punkt, den Sie angehen müssen -, dann müssen
Sie endlich in viel mehr Bereichen die Sammel-, Kollektiv- oder Gruppenklage einführen. Es gibt viele Fälle, in
denen der Schaden für den einzelnen Verbraucher so gering ist, dass er nicht klagt. Aber in der Summe handelt
es sich um Abzocke. Hier endlich einmal die Bedenken
der Bundesjustizministerin zu überwinden und Kollektivklagen einzuführen, um die Verbraucher in ihren
Rechten zu stärken und sie zu schützen, wäre eine Aufgabe, die Sie endlich angehen müssten.
({4})
Ein weiterer Bereich ist, dass wir diejenigen, die die
Verbraucher schützen wollen, finanziell besser ausstatten. 2011 umfassten die Werbeetats der Unternehmen in
Deutschland insgesamt 30 Milliarden Euro. Lidl und
Aldi gaben je 200 Millionen Euro und McDonald‘s
150 Millionen Euro für Werbung aus. Was bekommt die
Stiftung Warentest? 1,5 Millionen Euro. Das ist viel zu
wenig.
({5})
Wie hoch ist der Etat der Verbraucherzentrale Bundesverband? 13 Millionen Euro. Auch das ist viel zu wenig.
Wir müssen diejenigen, die die Verbraucher unterstützen, in größerem Umfang stärken.
({6})
Ein letzter Punkt. Damit komme ich zu einem ganz
aktuellen Beispiel. Es geht um die Lebensmittelverschwendung. Monatelang haben wir darüber diskutiert.
Vor wenigen Tagen konnten wir erleben, dass der Berg
kreißte und eine Maus gebar. Wer ist wieder an dieser
Lebensmittelverschwendung schuld? Die Verbraucher;
denn sie sind angeblich nicht in der Lage, das Mindesthaltbarkeitsdatum richtig zu interpretieren. Auf diese
Weise machen Sie Verbraucherschutz. Wenn Sie wirklich etwas gegen die Lebensmittelverschwendung machen wollen, müssten Sie den gesamten Weg der Lebensmittel vom Acker bis zum Teller im Blick haben;
denn 40 Prozent der Lebensmittelverschwendung erfolgt
auf dem Weg zum Verkauf.
({7})
Sie wollen sich aber nicht mit dem Handel anlegen, und
Sie wollen sich auch nicht mit denjenigen anlegen, die
für die Missstände verantwortlich sind. Deshalb schieben Sie alles auf die Verbraucher ab. Das ist Ihre Verbraucherschutzpolitik.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
Ich komme zum Ende. - Wir haben mit Renate
Künast die erste Bundesverbraucherschutzministerin
Deutschlands gehabt. Sie hat den Verbraucherschutz an
die erste Stelle im Namen ihres Ministeriums gesetzt.
Frau Kollegin!
Sie aber haben sofort nach Regierungsübernahme den
Verbraucherschutz an die dritte und damit letzte Stelle
des Ministeriumnamens gesetzt. Das war ein Fehler.
Aber genauso, nämlich als Allerletztes, behandeln Sie
den Verbraucherschutz.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Schweickert das Wort.
Frau Präsidentin, vielen Dank. - Frau Höhn, Sie haben genauso wie die Kollegin Binder vorhin behauptet,
dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse im VIG eine
allumfassende Schutzfunktion hätten. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass im alten VIG stand, dass Daten über
Verstöße in diesem Bereich keine Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse seien. Im neuen VIG steht sogar,
dass jegliche Messwerte bezüglich der Grenzwerte, also
nicht nur deren Überschreitung, sondern auch deren
Unterschreitung, keine Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse seien. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und stellen Sie das nicht jedes Mal falsch dar.
({0})
Frau Höhn, zur Erwiderung, bitte.
Herr Kollege Schweickert, genau das ist weiterhin ein
Problem. Wir hatten gerade einen Fall. Die Kollegin
Binder - das hat der Kollege Goldmann gesagt - hat
einen Schlachthof erwähnt. Der Kollege Goldmann hat
als Ausschussvorsitzender verhindert, dass in der Tagesordnung der Name des Unternehmens stand. Ihr Betriebsgeheimnis geht so weit, dass Sie die Namen der
Unternehmen sogar in den Tagesordnungen der nichtöffentlichen Sitzungen nicht aufführen wollen. Es werden
immer wieder Betriebsgeheimnisse vorgeschoben. Deshalb wird immer wieder Information verweigert. Das
muss klarer werden. Das muss besser werden. Das, was
im VIG steht, ist weiterhin nicht ausreichend.
({0})
Das Wort hat der Kollege Alois Gerig für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Dem Kollegen Gerig ist das Wort erteilt worden. Der
amtierende Präsident wird das auch so weiterführen. Der
Kollege Goldmann, so wie ich ihn kenne, findet immer
Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen. - Bitte
schön, Kollege Gerig, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
habe gut eineinhalb Stunden sehr entspannt, aber trotzdem aufmerksam diese Debatte verfolgt. Mein Schluss:
Es ist gut, dass die Oppositionsparteien in dieser Regierung nichts zu sagen haben,
({0})
sonst müsste man sich ganz schnell Gedanken darüber
machen, wie die Verbraucher vor Ihrer Verbraucherpolitik geschützt werden könnten.
({1})
Glücklicherweise stellt sich diese Frage nicht.
Sehr geehrte Frau Höhn, Ankündigungspolitik haben
andere gemacht. Das, was wir von Ihnen gehört haben,
war ein Wünsch-dir-was-Spiel ohne jedes Augenmaß,
aber mit sehr viel Populismus.
So schlecht kann unsere Verbraucherpolitik nicht
sein. Wir alle können feststellen und in den Medien verfolgen, dass unsere Menschen immer älter werden. Der
„Verbraucherpolitische Bericht der Bundesregierung
2012“, der in der vergangenen Woche vorgelegt wurde,
widerlegt eindeutig die Behauptungen des SPD-Antrags
und Ihre absurden Anschuldigungen. Tatsächlich hat die
Koalition in den vergangenen zweieinhalb Jahren eine
ganze Menge im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher bewegt. Unsere Zielsetzung ist eindeutig: Wir
wollen einerseits starke Verbraucherrechte - dabei stehen Sicherheit und Transparenz im Mittelpunkt -,
andererseits setzen wir aber auch auf die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Das heißt, wir brauchen
kritische Verbraucher und dürfen den Menschen keine
gefühlte absolute Sicherheit suggerieren.
({2})
Ich möchte betonen, dass wir viele der heute angesprochenen Themen und Probleme, bis hin zur Lebensmittelverschwendung, glücklicherweise unserem Wohlstand zu verdanken haben, einem Lebensstandard, der
auch heute leider immer noch nicht bei der Mehrheit der
Weltbevölkerung angekommen ist. Das ist ein Umstand,
den man im Rahmen einer solchen Debatte durchaus einmal mit einer gewissen Ehrfurcht, Dankbarkeit, aber
auch Hochachtung selbstkritisch zur Kenntnis nehmen
sollte. Mögen wir diesen Wohlstand erhalten, damit wir
uns auch zukünftig einerseits eine solch komfortable
Verbraucherpolitik leisten und uns andererseits darüber
hinaus für Frieden und Wohlstand in der ganzen Welt
engagieren können.
Die Verbraucherpolitik sollte sich davor hüten, die
vielfältige und komplexe Welt der Waren und Dienstleistungen in unserem Land in Gut und Böse einzuteilen.
Der Bürger muss durch Verbraucherbildung befähigt
werden, sich selbst zu schützen und die Produkte zu
wählen, welche für seine Lebenssituation am besten
sind. Dieses Thema hat unsere Ministerin Frau Aigner
deshalb zu Recht zu einem Schwerpunkt ihrer Verbraucherpolitik gemacht.
Die Verbraucherbildung muss sinnvollerweise schon
in der Schule beginnen und quasi von Kindesbeinen an
bei Konsumentscheidungen dazu befähigen, Kosten,
Nutzen und Risiken für sich zu bewerten und dann eigenverantwortlich zu handeln. Die Politik kann nur die
Rahmenbedingungen gestalten, und zwar so, dass der
Verbraucher in der Lage ist, selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu handeln. Grundlegend ist nach meiner festen Überzeugung deshalb zweierlei:
Erstens Transparenz. Die Anbieter haben alle relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen, die die Verbraucher für ihre Kaufentscheidung brauchen. Dort, wo
es an Transparenz fehlt, müssen wir als Gesetzgeber
nachhelfen.
Zweitens Sicherheit. Verbraucher müssen vor Angeboten geschützt werden, die eine Gefahr darstellen, insbesondere dann, wenn es um die Gesundheit geht. Nur
wenn die Sicherheit gewährleistet ist, kann Vertrauen
entstehen und können die Märkte funktionieren.
Die Koalition handelt genau in diesem Sinne, wie wir
heute vielfältig vernommen haben. Ich möchte auf die
Aufzählung einzelner Beispiele verzichten, weil sehr
vieles bereits angesprochen wurde und überdies meine
Zeit knapp ist.
Die Koalition ist nahe bei den Verbrauchern und
nimmt all ihre Alltagssorgen sehr ernst. Der vorliegende
Antrag hingegen zeigt, dass sich die SPD mit dem Verbraucherschutz sehr viel lieber in der Theorie befasst.
Konkrete und praxistaugliche Lösungsvorschläge bleibt
sie schuldig, wie heute auch schon einige meiner Kollegen gesagt haben. Solch einem Antrag können und werden wir mit Sicherheit nicht zustimmen.
({3})
Der Parlamentarische Staatssekretär Müller
({4})
ist bereits auf unseren Status im aktuellen Verbraucherbarometer der EU-Kommission eingegangen; das ist ein
hochamtliches Beispiel für unseren sehr guten Verbraucherschutz.
Dem deutschen Verbraucher geht es im internationalen
Vergleich wirklich gut. Das kann und soll natürlich nicht
bedeuten, dass wir die Hände in den Schoß legen. Wir
müssen weiterhin mit allen Mitteln daran arbeiten, diesen
hohen Standard zu erhalten, und überall dort, wo sich
- durch welche Einflüsse auch immer - verbraucherpolitische Lücken auftun, diese konsequent schließen.
({5})
Die Regierungskoalition wird die Verbraucherpolitik genau in diesem Sinne weiterführen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Alois Gerig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe jetzt
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8922 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a bis f sowie Zu-
satzpunkte 2 a und 2 b auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 25. November 2011 über
die Errichtung des Sekretariats der Partnerschaft für öffentliche Gesundheit und soziales
Wohlergehen im Rahmen der Nördlichen
Dimension ({0})
- Drucksache 17/8981 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern
- Drucksache 17/8988 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Diana Golze, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Einbeziehung von Kindertagesbetreuungseinrichtungen in die Schrankenregelungen
- Drucksache 17/4876 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abschaffung der gesetzlichen Vermutung der
„Versorgungsehe“ bei Eheschließung und eingetragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Beamten nach dem Eintritt in den
Ruhestand
- Drucksache 17/7027 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kein Bau der dritten Start- und Landebahn
am Flughafen München
- Drucksache 17/8607 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Rolf Hempelmann, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Euratom-Vertrag an die Herausforderungen der Zukunft anpassen
- Drucksache 17/8927 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({7}), Rüdiger Veit, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Programm zur Unterstützung der Sicherung
des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts
- Drucksache 17/9029 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin
Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurücknehmen
- Drucksache 17/9036 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Vizepräsident Eduard Oswald
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis l auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 17. März 1992 zum Schutz und zur
Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe
und internationaler Seen
- Drucksache 17/8725 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
- Drucksache 17/8925 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Waltraud Wolff ({11})
Horst Meierhofer
Sabine Stüber
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8925, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8725 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ich
sehe, das sind alle Kolleginnen und Kollegen aus allen
Fraktionen. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? Niemand. Stimmenthaltungen? - Auch niemand. Der
Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Dezember
2010 über die Errichtung des Funktionalen
Luftraumblocks „Europe Central“ zwischen
der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, der Französischen Republik, dem
Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich
der Niederlande und der Schweizerischen Eidgenossenschaft ({12})
- Drucksache 17/8726 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({13})
- Drucksache 17/8957 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8957, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8726 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/
Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Das ist die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs,
Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
({15}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Marktwirtschaftliche Industriepolitik für
Deutschland - Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft
- Drucksachen 17/8585, 17/9055 Berichterstattung:
Abgeordneter Garrelt Duin
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9055, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8585
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! Das sind die Oppositionsfraktionen, Sozialdemokraten,
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Dreiundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhunderteinundsechzigste Verordnung zur
Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz 19906
Vizepräsident Eduard Oswald
- Drucksachen 17/8539, 17/8833 Nr. 2.1,
17/8324, 17/8510 Nr. 2.1, 17/9056 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Aufhebung der Dreiundneunzigsten Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der
Außenwirtschaftsverordnung auf Drucksache 17/8539
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber: Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Auch
niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 31 d. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hat in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9056 die Einhunderteinundsechzigste Verordnung der Bundesregierung
zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - auf Drucksache 17/8324 mit einbezogen.
Über diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Sie sind damit einverstanden.
So kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, die Aufhebung der Einhunderteinundsechzigsten
Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum
Außenwirtschaftsgesetz - auf Drucksache 17/8324 nicht
zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/
Die Grünen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! Niemand. Stimmenthaltungen? - Die Linksfraktion. Die
Beschlussempfehlung ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 e bis l. Wir kommen zu den
Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 404 zu Petitionen
- Drucksache 17/8904 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Keine.
Die Sammelübersicht 404 ist infolgedessen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 405 zu Petitionen
- Drucksache 17/8905 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Sammelübersicht 405 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 406 zu Petitionen
- Drucksache 17/8906 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion der Sozialdemokraten und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 406
ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 407 zu Petitionen
- Drucksache 17/8907 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/
Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 407 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 408 zu Petitionen
- Drucksache 17/8908 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 408 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 409 zu Petitionen
- Drucksache 17/8909 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 409 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 410 zu Petitionen
- Drucksache 17/8910 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Sammelübersicht 410 ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 31 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 411 zu Petitionen
- Drucksache 17/8911 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Sozialdemokraten, Linksfraktion und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 411 ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Tarifrunde 2012 - Höhere Löhne durchsetzen,
jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektive bieten
Erster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion Die Linke unser Kollege Klaus Ernst. Bitte
schön, Kollege Klaus Ernst.
({25})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung wird nicht müde, die Situation in der
Bundesrepublik zu loben. „Wir sind gut aus der Krise
herausgekommen“, sagt Frau Merkel. Herr Brüderle, der
heute nicht da ist, sagt, „deutliche Lohnerhöhungen“ wären sinnvoll. Frau von der Leyen sagte im Februar in der
Bild - ich zitiere -:
Das Grundversprechen der sozialen Marktwirtschaft lautet: Wenn alle fleißig mitarbeiten, werden
alle am Erfolg und Wohlstand beteiligt.
({0})
Wunderschön.
Schauen wir uns die Realität an. Verdi fordert 6,5 Prozent, mindestens 200 Euro. Diese Forderung ist vollkommen richtig und entspricht dem, was die Bundesregierung in öffentlichen Verlautbarungen sagt. Das
Angebot der öffentlichen Arbeitgeber liegt bei 2,1 Prozent für 2012 und 1,2 Prozent für 2013. Das macht umgerechnet pro Jahr nicht mehr als 1,77 Prozent. Das bedeutet, dass die Preissteigerungsrate über dem Angebot
der öffentlichen Arbeitgeber liegt.
Nun stellt sich die Frage - die auch wir uns stellen
müssen -: Haben denn die Krankenschwestern oder die
Beschäftigten bei der Müllabfuhr nicht ordentlich gearbeitet? Was ist mit den Angestellten in den Gemeinden
oder Rathäusern? Was ist mit den Angestellten auf Bundesebene? Warum sollen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von der offensichtlich guten wirtschaftlichen Entwicklung, die Frau Merkel so gelobt hat,
abgekoppelt werden? Dafür gibt es keinen Grund.
({1})
Den Arbeitnehmern wird offensichtlich Geld weggenommen. Ich möchte das am Beispiel einer Krankenschwester erläutern. In der Lohngruppe 7 erhält sie nach
drei Jahren gemäß Angebot der Arbeitgeber eine Lohnerhöhung von 45,66 Euro. Nach Abzug der Preissteigerung hat sie 15 Euro weniger als heute. In Ihrer Logik arbeiten die Krankenschwestern oder andere Beschäftigte
des öffentliches Dienstes nicht vernünftig.
Was Sie den Beschäftigten anbieten, ist nicht genug.
Dafür sind Sie verantwortlich, auch der Innenminister.
({2})
- Selbstverständlich. Er ist in diesem Zusammenhang
doch auch Arbeitgebervertreter. Wenn Sie das nicht wissen, Herr Weiß, dann scheinen Sie nicht aufgepasst zu
haben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Was hier offensichtlich mit
Zustimmung der Bundesregierung angeboten wird, ist
nichts anderes als ein Hohn für die Beschäftigten, die
den Karren jeden Tag in Schichtarbeit, manchmal auch
samstags und sonntags durch Überstunden aus dem
Dreck ziehen. Was jetzt passiert, ist gegenüber den Beschäftigten eine Unverschämtheit!
({3})
Ich kenne Ihre Argumente. Es sind ganz einfache Argumente: Es ist kein Geld da. Die öffentlichen Kassen
sind leer. - Wer trägt denn für die Leere der öffentlichen
Kassen die Verantwortung? Der Spitzensteuersatz wurde
von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Sie verweigern
hartnäckig die Einführung einer Vermögensteuer. Allein
durch die Steueränderungen von 2009 bis 2011, für die
diese Bundesregierung verantwortlich ist, haben wir im
Jahre 2011 8,6 Milliarden Euro und im Jahre 2012
7,7 Milliarden Euro weniger in den Haushalten.
Sie verweigern die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohnes. Die Prognos AG hat berechnet, dass bei
einem Mindestlohn von 10 Euro ein positiver Haushaltseffekt von 12,8 Milliarden Euro erzielt werden würde.
Das wären Mehreinnahmen in den Haushalten. Eine Tariferhöhung von 1 Prozent im öffentlichen Dienst kostet
1,2 Milliarden Euro. Allein mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes wäre die Tarifrunde finanziert.
({4})
Sie verhindern, dass Geld in die Kassen öffentlicher
Haushalte kommt, und beschweren sich dann, dass kein
Geld da ist. Allein die DAX-Unternehmen haben im Jahr
2011 einen Rekordgewinn von 100 Milliarden Euro erzielt. Von 1 Prozent dieser 100 Milliarden Euro könnten
Sie für 400 000 Krankenschwestern eine Lohnerhöhung
von 200 Euro bezahlen. Das wäre so, wenn Sie sich wieder zu einer vernünftigen Besteuerung auch der großen
Unternehmen und der großen Einkommen entschließen
könnten. Die aber verweigern Sie.
Deshalb sage ich Ihnen: Es ist nicht gottgegeben, dass
die Kassen leer sind, sondern für die leeren Kassen - und
damit für die schlechte Situation der abhängig Beschäf19908
tigten - sind diese Bundesregierung und diese Koalition
maßgeblich verantwortlich.
({5})
Darum sage ich Ihnen: Hören Sie auf, mit den Beschäftigten Katz und Maus zu spielen. Beteiligen Sie die
Beschäftigten endlich an der angeblich so guten Entwicklung in unserem Lande, und besteuern Sie die Einkommen vernünftig. In Frankreich wird gegenwärtig ein
Spitzensteuersatz für Millionäre von 75 Prozent diskutiert.
({6})
Auch die Sozialdemokraten könnten sich noch einmal
überlegen, ob das bei Hollande so wirklich falsch ist. Deshalb sage ich zum Schluss: Ich hoffe, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht nachlassen, für
ihre Forderungen zu kämpfen, und ich wünsche ihnen
für ihre Streiks den besten Erfolg. Die Linke wird diese
Streiks mit allem Nachdruck unterstützen, damit auch etwas Vernünftiges dabei herauskommt.
({7})
Ich bitte auch die Bürgerinnen und Bürger um Verständnis, wenn im öffentlichen Dienst gestreikt wird. Es
wird nämlich auch dafür gestreikt, dass wir nach wie vor
einigermaßen vernünftige Ausbildungsvoraussetzungen
für Leute haben, die sich bereit erklären, in ihren Berufen im öffentlichen Dienst zu arbeiten, weil sie dort in
vernünftiger Höhe Geld verdienen. Wir brauchen einen
gut bezahlten, vernünftig organisierten öffentlichen
Dienst. Dann muss man auch vernünftig bezahlen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Ernst. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön, Kollege
Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Tarifverhandlungen, wie sie zurzeit im öffentlichen
Dienst, in der Metallbranche und anderswo laufen, sind
gelebte Tarifautonomie - so, wie sie in unserem Grundgesetz geschützt ist, und so, wie sie zur Ordnung der sozialen Marktwirtschaft gehört. Der Begriff Autonomie
macht schon deutlich, dass die Beteiligten - die Gewerkschaften auf der einen Seite und die Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite - ohne Einflussnahme von
außen ihre Angelegenheiten selbst betreiben und in Verhandlungen hoffentlich zu einem für die Beschäftigten in
allen Branchen guten Ergebnis kommen.
({0})
Das mit der Autonomie scheint die Linke aber nicht
verstanden zu haben. Sowohl die Gewerkschaften als
auch die Arbeitgeberseite brauchen nämlich keine Ratschläge aus der Politik bzw. aus dem Parlament, sondern
sie nehmen ihre Verantwortung autonom wahr. Das ist
gut, das hat sich bewährt, und es sollte auch in Zukunft
so sein.
({1})
Es wurden die Tarifverhandlungen im öffentlichen
Dienst angesprochen. Dabei nimmt in der Tat der Bundesinnenminister - nicht das Parlament - die Rolle des
Arbeitgebervertreters wahr.
({2})
Für die Bundesländer sind es die Länderfinanzminister.
({3})
Für die Kommunen sind es die Vertreter der kommunalen Seite.
({4})
Ich habe meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter recherchieren lassen, wie sich Vertreter der Linken in der
Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände
verhalten. Die Kommunen haben schließlich die Verantwortung für den größten Teil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Demgegenüber ist die Zahl der
Beschäftigten bei Bund und Ländern relativ klein. Die
meisten der im öffentlichen Dienst Beschäftigten arbeiten bei Städten, Gemeinden und Landkreisen.
({5})
Ich habe also versucht, zu recherchieren, ob irgendein
Landrat, Bürgermeister oder Oberbürgermeister der
Linkspartei in der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände dafür plädiert hat, seitens der Arbeitgeber
mit einer anderen Verhandlungsstrategie in diese Tarifverhandlungen zu gehen. Dem ist nicht so. Die Linken
schwätzen hier und plustern sich auf, während ihre
Kommunalvertreter selbstverständlich Arbeitgebersolidarität üben, wie alle anderen auch.
({6})
Zu so einer Show, dazu, dass Sie hier im Bundestag dermaßen mit gespaltener Zunge reden, sage ich: Sapperlot!
Das ist völlig daneben!
({7})
Ich finde, wir haben allen Grund, den Tarifpartnern,
den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden, zu
danken. Ich spreche bewusst von hoffentlich starken Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden; denn wir wünPeter Weiß ({8})
schen uns eigentlich, dass es in Zukunft wieder mehr Tarifbindung gibt und nicht weniger,
({9})
damit es ihnen gelingt, ohne politische Einflussnahme zu
einem guten Verhandlungsergebnis zu kommen. Wenn
wir uns die Verhandlungen in der Vergangenheit anschauen, stellen wir fest, dass ihnen das stets in beachtenswerter Weise gelungen ist.
Richtig ist: In der Finanz- und Wirtschaftskrise haben
die Tarifpartner in sehr verantwortungsvoller Weise gehandelt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland haben Kürzungen - Stichwort: Kurzarbeit hingenommen. Deswegen ist es richtig, dass die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Tarifverhandlungen in Zeiten, in denen
die Wirtschaft wieder brummt und gute Einnahmen erwirtschaftet werden, einen angemessenen Anteil für die
Beschäftigten fordern. Das tun sie in dieser Tarifrunde.
({10})
Ich bin fest überzeugt davon, dass die Gewerkschaften
diese Forderung in angemessener Art und Weise durchsetzen werden.
Selbstverständlich ist der Streik ein Mittel, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Forderungen
Nachdruck verleihen können.
({11})
Das Schöne ist, dass wir uns in Deutschland darüber eigentlich gar nicht aufzuregen brauchen; denn die Gewerkschaften sind mit dem Mittel des Streiks über Jahrzehnte in hochverantwortlicher Weise umgegangen.
({12})
Wir gehören in Europa zu den Ländern mit den allerwenigsten Streiktagen. Das zeigt, dass unsere Gewerkschaften und unsere Arbeitgeberverbände hochprofessionell und in der Regel ohne Arbeitskampfmaßnahmen
zu einem guten Ergebnis kommen. Deswegen bin ich
überzeugt: Auch in der Tarifrunde 2012 wird es gute Ergebnisse für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in unserem Land geben.
({13})
Ich finde es bemerkenswert - das kam in der Rede
von Herrn Ernst gar nicht vor -, dass die Gewerkschaften eine ganze Reihe weiterer Themen in diese Tarifverhandlungen einbringen, die, wie ich meine, wirklich Zukunftscharakter haben. Ich nenne zum Beispiel den
Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ der
IG BCE und die Bemühungen der IG Metall, besondere
Regelungen für benachteiligte Jugendliche für die Berufsausbildung durchzusetzen. Ich finde, wir sollten als
Politik froh sein, dass die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände zusätzliche Zukunftsthemen zur Gestaltung unseres Arbeitslebens in die Tarifverhandlungen
einbringen und diese Diskussionen hoffentlich auch zu
einem guten Ergebnis führen.
Deswegen gilt: Unterstützung für gute und erfolgreiche Tarifverhandlungen. Für uns Politiker der Ratschlag:
Schuster, bleib bei deinem Leisten.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. - Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Ottmar Schreiner. Bitte
schön, Kollege Ottmar Schreiner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Weiß, die Tarifautonomie vollzieht sich
nicht im luftleeren Raum. Auf die Tarifautonomie wirken erhebliche Kräfte politischer Art; darauf komme ich
gleich noch zurück. Ich glaube, wichtig ist, zu sagen,
dass die Tarifautonomie, das Flächentarifsystem und
eine starke Tarifbindung das Herz einer guten Lohnpolitik und fairer Arbeitsbedingungen ist und eine wesentliche Grundlage für einen sozialen Konsens sind. Sie sind
ein zentrales Element der sozialen Marktwirtschaft.
Ich will kurz aus dem Buch Wohlstand für alle des
politischen Vaters der sozialen Marktwirtschaft zitieren.
Dort heißt es:
Immanenter Bestandteil der Überzeugungen … ist
das Verlangen, allen arbeitenden Menschen nach
Maßgabe der fortschreitenden Produktivität auch
einen ständig wachsenden Lohn zukommen zu lassen.
({0})
- Es ist ja nett, dass Sie klatschen, wenn ich ein Zitat von
Ludwig Erhard vortrage.
Das hat mit den seit vielen Jahren bestehenden Realitäten nichts mehr zu tun.
Ludwig Erhard hat dies übrigens damals in dem Kapitel „Der Rote Faden“ geschrieben. Von einem roten Faden
der sozialen Marktwirtschaft ist nichts mehr zu sehen.
Die Wirklichkeit sieht völlig anders aus als das, was
Ludwig Erhard beschrieben hat. Es ist im Kern nichts anderes als die Bekräftigung der sogenannten produktivitätsorientierten Lohnpolitik.
Wir können zwar beobachten, dass es in den letzten
zehn, zwölf Jahren deutliche Lohnzuwächse in den gewerkschaftlich gut organisierten Industriebranchen, vor
allen Dingen Metall und Chemie, gegeben hat. Übrigens
sind das Engagement und die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften augenscheinlich die wirksamsten Mittel
gegen Lohndrückerei; das erwähne ich nur am Rande.
({1})
Wenn man sich die reale Entwicklung der Durchschnittslöhne anschaut, und zwar nach Abzug der Preissteigerungen, dann sieht man, dass die durchschnittlichen
Bruttolöhne in Deutschland von 2000 bis einschließlich
2011 um circa 3 Prozent gesunken sind. Das hat mit
Ludwig Erhard überhaupt nichts mehr zu tun. Ein Rückgang der Realeinkommen um 3 Prozent in den letzten
11 Jahren beim Durchschnitt der Arbeitnehmerschaft ist
das Gegenteil dessen, was Erhard als soziale Marktwirtschaft beschrieben hat.
Wenn man nach den Gründen sucht, findet man im
Wesentlichen drei, die mit der Tarifautonomie unmittelbar nichts zu tun haben, aber natürlich auf die Tarifautonomie einwirken.
Erster Grund. Das Tarifsystem ist zwar immer noch
das Rückgrat der Lohnentwicklung - das zeigen die Entwicklungen im Bereich der Industrielöhne -, aber wir
haben es mit einer deutlich nachlassenden Prägekraft des
Tarifsystems zu tun. Die Tarifbindungen sind seit Jahren
kontinuierlich. Nun hat Kollege Weiß eben gesagt: Wir
wollen eine stärkere Tarifbindung. Kollege Weiß, dem
Deutschen Bundestag liegen drei Anträge von drei Fraktionen vor, in denen gefordert wird, die Tarifbindung
deutlich zu stärken. Wenn Sie sagen, dass Sie die Tarifbindung ebenfalls stärken wollen, bleibt es Ihnen unbenommen, sich einem dieser drei Anträge anzuschließen.
Sie haben die freie Wahl. Am besten wäre es, wenn Sie
sich unserem Antrag anschließen würden.
({2})
Es hat keinen Sinn, hier große Sprüche zu machen
und anschließend nichts zu tun.
({3})
- Selbst bei den Mamelucken war die Situation besser;
das kann man wohl sagen. - Es liegen also mehrere
Anträge vor, in denen gefordert wird, die Möglichkeit zu
erleichtern, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Allgemeinverbindlichkeit soll nach gemeinsamem Verständnis vor Lohndrückerei, vor unlauterem
Wettbewerb und ganz allgemein vor Schmutzkonkurrenz
schützen.
Wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, werden in
Deutschland aufgrund des Vetorechts der Arbeitgeberseite zurzeit nur 1,5 Prozent der Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt; das kann man vergessen.
({4})
In Frankreich werden 90 Prozent aller Tarifverträge für
allgemeinverbindlich erklärt. Hier gibt es also einen gewaltigen Nachholbedarf, wenn Sie die Tarifautonomie
und das Tarifsystem insgesamt in Deutschland stärken
wollen.
Zweiter Grund. Es gibt einen massiven Zuwachs an
prekärer Beschäftigung. Dazu wird ein Kollege von mir
gleich noch etwas sagen. Die Gewerkschaften haben es
sich zum Ziel gesetzt, auch in dieser Lohnauseinandersetzung die Frage der prekären Beschäftigung zu thematisieren und Maßnahmen zur Bekämpfung des Aufwuchses der Leiharbeit festzuschreiben. Wir haben es mit der
Rekordzahl von fast 1 Million Leiharbeitsverhältnisse zu
tun. Teilweise verdienen diese Personen trotz gleicher
Tätigkeit um die Hälfte weniger als Stammbelegschaften. Das hat mit flexibler Arbeitsmarktpolitik überhaupt
nichts mehr zu tun. Das ist reine Lohndrückerei. Dem
muss der Bundestag einen Riegel vorschieben.
({5})
Es ist nicht Aufgabe der Gewerkschaften oder der Tarifparteien, sondern es ist Aufgabe des Bundestages, die
Rahmenverhältnisse so zu gestalten, dass solche Ferkeleien auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht mehr möglich sind.
({6})
Dritter Grund. Es gibt ein massives Anwachsen des
Niedriglohnsektors; dieser wächst in Deutschland übrigens so stark wie nirgendwo sonst in Europa. Die Zahlen
der Universität Duisburg zeigen, dass der Niedriglohnsektor seit 1995 um 42 Prozent angewachsen ist. Im
Durchschnitt verdienen im Niedriglohnsektor Beschäftigte in Westdeutschland 6,68 Euro und in Ostdeutschland 6,52 Euro pro Stunde. Das betrifft circa 8 Millionen
Menschen, die jeden Anschluss an die allgemeine Wohlstandsentwicklung verlieren.
Die Menschen in diesem Sektor mit einem Durchschnittsverdienst von 6,68 bzw. 6,52 Euro brutto pro
Stunde lesen in der Zeitung, dass der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen 17,5 Millionen Euro im Jahr verdient. Das zeigt, dass in Deutschland jedes Maß verloren
gegangen ist.
({7})
17,5 Millionen Euro, das ist in etwa das 600-Fache dessen, was der durchschnittliche Beschäftigte in Deutschland pro Jahr verdient.
({8})
Wie kann jemand 600-mal so viel Leistung wie ein
Durchschnittsverdiener erbringen? Das muss man mir
einmal erklären! Nie zuvor hat es in Deutschland so extreme Unterschiede zwischen den Wohlstandszuwächsen
in den oberen Einkommenssegmenten und den Wohlstandsverlusten in den unteren Einkommenssegmenten
gegeben. Eine solche Spaltung der Gesellschaft kann
eine Demokratie auf Dauer nicht aushalten.
({9})
Deshalb muss zwingend auf der Tagesordnung stehen,
dass die Politik die Rahmenbedingungen, ob steuerlicher
oder anderer Art, so verändert, dass hier wieder einigermaßen Maß und Ziel einkehren.
Kollege Schreiner, kommen Sie langsam zum Ende?
Ich bin aber noch nicht am Ende.
({0})
In einer Aktuellen Stunde haben Sie nur fünf Minuten
Redezeit. Als langjähriges Mitglied dieses Hauses wissen Sie das.
Ich bin noch nicht am Ende, aber ich komme zum
Ende, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte damit deutlich machen, dass das Tarifgeschehen nicht im luftleeren Raum stattfindet. Es wird natürlich auch durch die Rahmenbedingungen beeinflusst,
positiv oder negativ.
Meine letzte Bemerkung. Der beste Beitrag, den wir
Politiker zur Stärkung der Tarifautonomie leisten können, besteht darin, für eine Stabilisierung und Stärkung
des Tarifvertragssystems insgesamt zu sorgen. Es hat
sich in Deutschland über Jahrzehnte bewährt. Alle Maßnahmen, die notwendig sind, um dieses System für die
Zukunft zu stabilisieren, müssen von der Politik ergriffen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Kollege Ottmar Schreiner. - Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal
Kober. Bitte schön, Kollege Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal ein Wort an Sie, lieber Herr Schreiner. Ich
finde es gut, dass Sie Ludwig Erhard lesen, seine Aussagen in diese Debatte einbringen und ihn zitieren. Ich
möchte darauf mit einem Zitat Ihres Parteifreundes
Franz Müntefering reagieren;
({0})
es liegt allerdings nicht ganz so weit zurück wie das Zitat von Ludwig Erhard, das Sie angeführt haben. Am
15. März dieses Jahres sagte Franz Müntefering im
Hamburger Abendblatt: „Ein Politiker sollte sich nicht
in Tarifverhandlungen einmischen.“
({1})
Lieber Kollege Schreiner, Franz Müntefering hat recht.
Ich empfehle Ihnen, sich darüber einmal mit ihm zu unterhalten.
({2})
Ich bin gerne bereit, dieses Gespräch zu moderieren
({3})
und Ihnen zu Einsichten zu verhelfen.
Da ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linkspartei, gerne glaube, dass Sie Franz Müntefering
nicht als Gewährsmann für Ihre Politik akzeptieren wollen,
({4})
- wie ich sehe, stimmen Sie mir zu -, halte ich auch für
Sie ein Zitat bereit, das Ihnen vielleicht zu denken geben
wird. Lieber Kollege Ernst, Sie haben die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst angesprochen. In diesem
Zusammenhang ist mir eine Aussage der Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft, Verdi, in die Hände gefallen. Auf ihrer Homepage erklärt Verdi - Zitat -:
Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwischen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband
und einer Gewerkschaft. Einmischen ist nicht erlaubt, das gilt auch für den Staat.
({5})
Lieber Kollege Ernst, Sie sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, warum die Gewerkschaft Verdi sich
jegliche Einmischung vonseiten der Politik verbittet.
({6})
Sie haben diese Aktuelle Stunde nicht allein deshalb
beantragt, um die Tarifverhandlungen im öffentlichen
Dienst zu debattieren. Das Thema dieser Aktuellen
Stunde lautet „Tarifrunde 2012 - Höhere Löhne durchsetzen, jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektive
geben“. Sie fordern den Gesetzgeber explizit dazu auf, in
die Tarifverhandlungen einzugreifen
({7})
und den Tarifpartnern entsprechende Empfehlungen zu
geben. Diese Aufforderung, lieber Kollege Ernst, weisen
wir entschieden zurück. Für diese Regierungskoalition
gilt nach wie vor: Die Tarifhoheit haben die Tarifpartner.
Einmischung vonseiten des Gesetzgebers ist hier nicht
erwünscht.
({8})
Im Übrigen werden wir uns ganz genau anschauen,
wie die Tarifverhandlungen im Lande Brandenburg, wo
Sie an der Regierung beteiligt sind, verlaufen. Wir werden uns ansehen, welche Ergebnisse dort erzielt werden.
Dort haben Sie nämlich Verantwortung. Dort können Sie
also Einfluss nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht sollte
man festhalten: Wir haben in Deutschland - darauf hat
der Kollege Peter Weiß schon ausführlich hingewiesen ausgezeichnete Erfahrungen damit gemacht, dass nicht
die Politik die Löhne bestimmt. Letztlich geht es bei Tarifverhandlungen nämlich darum, den richtigen Weg,
den Mittelweg, zu finden: zwischen den Interessen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, am Gewinn der
Unternehmungen beteiligt zu werden, und den Interessen der Unternehmen, zu verhindern, dass durch zu hohe
Löhne die Kosten für Dienstleistungen und Produkte zu
weit in die Höhe schießen, sodass sie nicht mehr nachgefragt werden, sodass Unternehmungen zugrunde und Arbeitsplätze verloren gehen. Diesen Mittelweg können die
Tarifpartner besser als wir hier im Parlament finden.
Deshalb ist es klug, dass die Tarifhoheit bei den Tarifpartnern bleibt und wir vonseiten der Politik uns hier
nicht einmischen.
({9})
Wir als Gesetzgeber schaffen hier die Voraussetzungen für eine gute Wirtschaftspolitik. Grüne und Rote haben schon zu ihren Regierungszeiten Entscheidungen
getroffen, die den Arbeitsmarkt in die richtige Richtung
entwickelt haben.
({10})
Mit unserer wachstumsorientierten Beschäftigungspolitik, mit unserer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik und mit unserer klugen Bildungspolitik
({11})
schaffen wir weiterhin die Voraussetzungen dafür, dass
sich das Wirtschaftswachstum hier in unserem Land verstetigt und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer langfristig an einer guten Entwicklung teilhaben
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie
haben mit der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde
wieder einmal bewiesen, dass Sie keinerlei Interesse daran haben, durch konstruktive Beiträge in der Debatte
hier den Deutschen Bundestag zu bereichern.
({12})
Sie debattieren „in die Luft hinein“ und machen eine
Show.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie
könnten es eigentlich besser. Lernen Sie von uns! Stellen
Sie kluge Anträge! Dann freue ich mich auf sinnvolle
Debatten.
({14})
Vielen Dank, Kollege Kober. - Nächste Rednerin ist
unsere Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau Kollegin
Müller-Gemmeke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss es ebenfalls sagen: Tarifverhandlungen sind Sache der Tarifpartner, also sollte sich
die Politik eigentlich nicht einmischen.
({0})
Da wir heute aber nun einmal über die Tarifrunde 2012
reden, möchte ich Ihnen meine vier Erwartungen an die
Tarifpartner nennen:
Erstens. Kräftige Lohnerhöhungen sind gerade jetzt,
in der Euro-Krise, wichtig. Wenn die Löhne im Verhältnis zur Produktivität niedrig sind, dann entstehen Ungleichgewichte, und das ist eine zentrale Ursache der
Euro-Krise. Mit dem bisherigen deutschen Wirtschaftsmodell „Starker Export - schwacher Binnenmarkt“ haben wir zwar unsere Wettbewerbsfähigkeit gestärkt,
gleichzeitig haben wir aber einige Euro-Partner geschwächt und ins Leistungsbilanzdefizit getrieben. So
sieht das auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Er
empfiehlt - ich zitiere -:
Damit Deutschland Konjunkturlokomotive bleibt,
brauchen wir kräftige Lohnerhöhungen zur Stützung der Binnennachfrage.
Dem kann ich mich nur anschließen.
({1})
Zweitens. Ganz real, also inflationsbereinigt, sind die
durchschnittlichen Bruttolöhne der Beschäftigten zwischen 2000 und 2011 gesunken, und zwar um 2,9 Prozent. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
spricht zu Recht von einem verlorenen Jahrzehnt für
viele Beschäftigte. Auch deshalb ist es richtig, dass
Verdi mindestens 200 Euro mehr für alle Beschäftigten
fordert. Wir brauchen solch eine solidarische Lohnpolitik. Spürbare Lohnerhöhungen, insbesondere in den unteren Einkommensgruppen, sind also auch ein Gebot der
sozialen Gerechtigkeit.
({2})
Drittens. Richtig und wichtig sind auch über Lohnerhöhungen hinausgehende Forderungen. So wollen
IG Metall, Verdi und NGG erreichen, dass junge MenBeate Müller-Gemmeke
schen nach Abschluss ihrer Ausbildung unbefristet
übernommen werden. Gerade mit Blick auf den Fachkräftemangel müsste es doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass junge Menschen eine Perspektive erhalten. Die Realität sieht aber anders aus. Der
Trend geht hin zur Befristung. In der Folge ist „Lebensplanung“ ein Begriff, über den die „Generation Probezeit“ nur noch müde lächeln kann. Vor allem geht es
auch darum, dass die jungen Menschen spüren, dass sie
gebraucht werden, und dass sie sich in unserer Gesellschaft aufgenommen fühlen.
({3})
Mit Blick auf den demografischen Wandel sind auch
die Forderungen der IG BCE richtig, die ihren Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ weiterentwickeln will. Ebenso wichtig sind die Forderungen der
IG Metall nach mehr Mitbestimmung beim Einsatz von
Leiharbeitskräften. Daneben stellt sie sich ja die Aufgabe, eine tarifliche Equal-Pay-Regelung zu verhandeln,
wobei ich hier ganz klar sage: Ein Branchenzuschlag allein bedeutet noch kein Equal Pay.
Mit all dem sind elementare Forderungen verbunden.
Vor allem geht es für die Beschäftigten - dabei ist es
egal, ob sie alt oder jung sind oder einen Job auf Zeit haben - um Anerkennung und Wertschätzung.
({4})
Viertens. Morgen ist Equal Pay Day. Frauen verdienen noch immer über 20 Prozent weniger als Männer.
Ich fordere alle Tarifpartner eindrücklich auf, die Tarifverträge auf Entgeltdiskriminierungen hin zu überprüfen. Diese Lohnlücke muss im 21. Jahrhundert endlich
der Vergangenheit angehören. Denn Frauen verdienen
mehr!
({5})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Erwartungen
habe ich natürlich nicht nur an die Tarifpartner, sondern
auch an die Bundesregierung und an die Regierungsfraktionen. Sie reden heute wieder einmal viel über Tarifautonomie, und zwar mit großen Worten. Doch wie sollen
Tarifverhandlungen stattfinden, wenn in manchen Branchen überhaupt keine Arbeitgeberverbände mehr existieren? Wie sollen Tarifverträge wirken, wenn Tarifflucht
und OT-Mitgliedschaften zunehmen? Wie sollen Gewerkschaften erfolgreich verhandeln, wenn Leiharbeit
und Befristung weiter zunehmen und Betriebsteile per
Werkvertrag ausgegliedert werden? Nehmen Sie doch
endlich diese bedenkliche Entwicklung zur Kenntnis und
tun Sie etwas dagegen.
Wir brauchen auf dem Arbeitsmarkt soziale Leitplanken zur Stärkung der Gewerkschaften, zum Vorteil der
Beschäftigten und übrigens auch zum Vorteil der tariftreuen Betriebe. Entscheidend sind Mindestlöhne und
mehr allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge. Ein
entsprechender Antrag von uns - Kollege Schreiner hat
schon darauf hingewiesen - liegt Ihnen bereits vor.
Reden Sie also nicht immer nur über Tarifautonomie,
sondern handeln Sie endlich!
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. - Jetzt
spricht als nächster Redner für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kollege Schuster.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie werden sicher verstehen, dass ich es als Berichterstatter für den Bereich öffentlicher Dienst - insoweit möchte ich beim Thema bleiben - im Namen der
CDU/CSU nicht gutheißen kann, dass wir uns heute mit
einer Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag in die
heiße Phase der laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmischen.
({0})
Aber wen wundert das Ganze bei diesem Antragsteller! Die Linke beweist damit nur fortgesetzt ihr juristisches Unvermögen, private und öffentlich-rechtliche
Aufgabenverteilungen in diesem Land getrennt zu behandeln.
({1})
Wir haben in Deutschland zum Glück das grundgesetzlich geschützte Recht der Tarifpartner, durch freie
Vereinbarungen Tarifverträge auszuhandeln, ohne dass
eine staatliche Stelle mitwirkt oder sich einmischt. Das
ist übrigens exakt das Gegenteil Ihres staatszentriertsozialistischen Denkansatzes.
({2})
Inhaltlich wäre damit eigentlich alles gesagt. Da ich
aber befürchte, dass in den kommenden Jahren ähnlich
fruchtlose Debatten geführt werden, investiere ich noch
ein paar Minuten für einen eventuell zu erzielenden Erkenntnisgewinn bei den Damen und Herren der Linken.
Die Tarifautonomie umfasst das Recht der eigenständigen Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge. Es ist ein spezielles Recht der
Verbände des Arbeitsmarktes und beruht auf Art. 9
Abs. 3 Grundgesetz. Diese Eigenständigkeit verstehen
wir als Freiheit, als einen Wert an sich, den es ganz
besonders zu schützen gilt. Das bedeutet heute - ich sage
es hier im Plenarsaal so, wie es sich gehört -, einfach
einmal Ruhe zu bewahren. Draußen würde ich sagen: Es
Armin Schuster ({3})
gibt Momente, in denen man einfach einmal die Klappe
halten muss.
({4})
Die Berufsverbände sollen sich nämlich als gleichberechtigte Tarifparteien ohne unmittelbare staatliche Einwirkung in Form eines privatrechtlichen Vertrages mit
dem Arbeitgeber einigen. Sie können ihre Interessengegensätze durch direkte, gegenseitige und offene Verhandlungen regeln. Um ein Machtgleichgewicht zu erreichen, sind Arbeitskämpfe erlaubt und nötig. Das Ziel
ist ein fairer Verhandlungskompromiss. Es gibt insofern
überhaupt keinen Grund, aufgrund einer Aktuellen
Stunde hier in operative Politikhektik zu verfallen.
Wenn sich die Linke für Tarifbeschäftigte sinnvoll
einsetzen will - mein lieber Peter, auch ich habe meine
Mitarbeiter recherchieren lassen -, sollte sie sich den
Fall Brandenburg anschauen; da bildet die SPD unverständlicherweise mit der Linken die Regierung.
({5})
Die Linken sind dort also in der Arbeitgeberfunktion.
Ich habe nicht feststellen können, dass sie in den Lohnrunden 2011 und 2012 über das Ergebnis von 1,5 bzw.
1,9 Prozent, das die Tarifgemeinschaft ausgehandelt hat,
kraftvoll hinausgegangen sind.
({6})
Nein, Brandenburg hat genau das Ergebnis übernommen, das die Tarifgemeinschaft ausgehandelt hat. Geniestreiche sind uns also nicht bekannt. So weit zur rechtlichen Situation.
({7})
Jetzt kommen wir zur politischen Bewertung. Natürlich empfindet die Linke die derzeitige Diskussion als
gute Möglichkeit, für ihre absurde politische Forderung
zu werben, Lohnfestlegungen mit hohem staatlichem
Einfluss zu versehen. Aber Sie können uns dafür bisher
keine positiven Beispiele nennen. Deshalb bleiben wir
bei unserem 62 Jahre alten Erfolgsmodell Tarifautonomie. Mit genau dieser Freiheit haben wir gerade in den
letzten Krisen bewiesen, wie gut die Tarifpartner mit
diesem Mittel umgehen können - zum Wohle dieses
Landes.
({8})
Schwächer als heute können Ihre Argumente nach den
letzten drei Jahren gar nicht sein.
Ich möchte sagen: Die Union schätzt ausdrücklich das
hohe Verantwortungsgefühlt und die Kompetenz unserer
Tarifparteien. Wir sehen nicht den geringsten Anlass,
heute mit Ratschlägen - das sind immer auch Schläge dazwischenzufunken.
Ich widerstehe auch der Gelegenheit, hier mit billigen, populistischen Parolen auf Wählerfang zu gehen,
({9})
obwohl es auch in meinem Wahlkreis Bedienstete von
Bund, Ländern und Kommunen gibt. Das fällt mir auch
nicht schwer, weil ich von diesen Menschen weiß - ich
rede mit ihnen -, dass sie bei allen Arbeitskampfmaßnahmen ein grundlegend zuversichtliches Gefühl haben,
dass sie zu einem guten Ergebnis kommen.
({10})
Ich habe ganz stark den Eindruck, dass weder Herr
Bsirske noch Herr Friedrich jetzt unerbetene schlaue
Ratschläge aus dem deutschen Parlament brauchen, um
zu einem guten Ergebnis zu kommen.
({11})
Abschließend - ich beende meine Vorlesung für die
Linken -: Es gibt tatsächlich etwas, das wir hier gesetzlich tun können. Es gibt eine Aufgabe für den Deutschen
Bundestag. Diese besteht darin, für die 300 000 Beamtinnen und Beamten des Bundes einschließlich Soldaten
und Richtern dann, wenn das Verhandlungsergebnis auf
dem Tisch liegt, eine möglichst inhaltsgleiche Übertragung zu gewährleisten - auch wenn dies haushaltspolitisch schwer wird. Diese Regierung hat das 2010 geschafft. Ich bin sehr zuversichtlich, dass dieses Gesetz
2012 hier gut über die Rampe gehen wird. Insofern muss
sich draußen keiner sorgen.
Sie haben sich heute in ein vergilbtes, graues Schaufenster gestellt. Weder Morgenmagazin noch irgendwelche anderen Nachrichten haben über diese Aktuelle
Stunde eine Vorankündigung gebracht. Es gibt kein
sichereres Zeichen dafür, dass die Menschen wissen,
dass das, was wir hier tun, völlig absurd und überflüssig
ist. Ich wäre jetzt lieber im Untersuchungsausschuss.
Das wäre fruchtbarer.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. - Nächste
Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Doris Barnett. Bitte schön, Frau Kollegin
Doris Barnett.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich finde, diese Debatte ist nicht überflüssig. Im Gegenteil: Die Beschäftigten in unserem Lande
haben seit über zehn Jahren mit Lohnzurückhaltung für
die Erholung der deutschen Unternehmen und der
Wirtschaft gesorgt und Deutschland vom kranken Mann
Europas wieder zur Zugmaschine gemacht.
Während der Krise in den ersten Jahren des Millenniums wurden die Arbeitnehmer regelmäßig freigesetzt.
In den folgenden Jahren haben die Arbeitgeber aus ihren
Fehlern gelernt und dank der großzügigen Unterstützung
durch die Bundesagentur für Arbeit ihre wertvollen Mitarbeiter nicht entlassen, sondern in Kurzarbeit geschickt.
Dank der Millionen von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern kommen wir jetzt auch gut durch die
Krise. Die Wirtschaft boomt, die Gewinne sind mehr als
erfreulich. Alleine in 2010 stiegen sie um 66 Prozent;
sonst hätten wir nicht die unerwartet hohen Steuermehreinnahmen. Auch die Vergütungen der Chefs in den großen Unternehmen passten sich den Ergebnissen gut an.
Nur die Arbeitnehmer wurden wie immer reflexartig
aufgefordert, zurückhaltend zu sein, weil dieser unerwartete wirtschaftliche Erfolg wahrscheinlich nicht
lange dauern wird. Mittlerweile ist aber bekannt, dass
sich die Geschäftslage bei uns auf hohem Niveau stabilisiert und wir trotz - oder vielleicht auch wegen - der
engen Handelsverflechtungen mit den anderen EuroStaaten einer deutlich stabileren wirtschaftlichen
Entwicklung entgegensehen. Die Bezüge der Vorstandsvorsitzenden der DAX-Firmen wuchsen in 2011 durchschnittlich um 14 Prozent gegenüber 2010, die Löhne
allerdings nur um 3,3 Prozent. Spitzenreiter war - das
wurde schon gesagt - der Chef von VW mit einem Plus
von 63 Prozent.
Ganz so kräftig langen die Beschäftigten in den jetzt
anstehenden Tarifrunden nicht zu. Sie würden sich schon
mit durchschnittlich 6 Prozent zufriedengeben, um damit
wenigstens einen Teil des Reallohnverlustes aufzufangen. Selbst die Arbeitsministerin und der Fraktionsvorsitzende der FDP sagen medienwirksam, dass den Beschäftigten eine deutliche Lohnerhöhung zusteht.
Bei den Arbeitgebern stoßen solche Forderungen allerdings auf wenig Gegenliebe. Dabei müssten sie doch
wissen, dass ihre Mitarbeiter mittlerweile nicht nur ein
kostengünstiger Faktor, sondern die Garantie für ihre
Konkurrenzfähigkeit und für den Erfolg sind.
({0})
Gute, qualifizierte Mitarbeiter machen auch im öffentlichen Dienst die Schlagkraft und das Funktionieren
aus. Trotz der umfangreichsten Steuergesetzgebung
funktionieren unsere Finanzämter. Unsere Kleinsten
werden nicht nur gut betreut, sondern auch frühkindlich
geschult. Die Krankenschwestern und -pfleger sind zwar
überarbeitet, bringen aber trotzdem olympiareife Leistungen. Unsere Polizei sorgt für Sicherheit, ob in Fußballstadien oder bei Staatsbesuchen. Die Feuerwehren
sind zuverlässige Lebensretter, und unsere Mitarbeiter
und Beamten auf allen drei Ebenen des öffentlichen
Dienstes sorgen dafür, dass der Laden läuft.
Weil mit Dankbarkeit in der Arbeitswelt nicht zu
rechnen ist, sollte aber zumindest Fairness möglich sein,
also gute Bezahlung für gute Arbeit, egal ob im öffentlichen Dienst oder in der freien Wirtschaft, ob beim
DEHOGA oder in der chemischen oder metallverarbeitenden Industrie. Deshalb sollte die Lohnrunde auch genutzt werden, über Arbeitsbedingungen nachzudenken.
Brauchen wir wirklich so viele Leiharbeitnehmer, und
zwar über eine lange Zeit, also nicht nur für Spitzen?
Warum kann man diese Mitarbeiter denn nicht einstellen? Braucht man wirklich ein bis zwei Jahre Probezeit?
Ist ein loyaler, zuverlässiger, qualifizierter Mitarbeiter
nichts wert? Kann man es sich als Unternehmen leisten,
Arbeitnehmer erster, zweiter und dritter Klasse zu beschäftigen? Wie lange glaubt man in den Chefetagen,
sich angesichts der demografischen Entwicklung ein solches Verhalten noch leisten zu können?
Ist es nicht an der Zeit, auf Lohndumping, aber auch
auf sogenannte Werkverträge, zum Beispiel in den Zerlegebetrieben, wo der Stundenlohn noch unter 3 Euro
liegt, oder auf die vielen Minijobs zu verzichten und
stattdessen die Arbeitsverhältnisse ordentlich zu gestalten, auch was die Bezahlung angeht? Letztlich werden
wir das, wenn das nicht auf vernünftige Weise freiwillig
geschieht, gesetzlich regeln müssen.
Gestern wurde uns im Wirtschaftsausschuss gesagt,
überall dort, wo es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in
Europa gebe, gebe es auch Mindestlöhne; die Jungen
würden wegen der Mindestlöhne nicht eingestellt. Dabei
wird übersehen, dass es nicht die Mindestlöhne sind, die
die Berufsanfänger ihrer Chancen berauben; das ist
vielmehr die in diesen Ländern darniederliegende Wirtschaft. Wir müssen unter anderem auch Griechenland
helfen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen,
wenn wir nicht zusehen wollen, wie sich eine soziale
Katastrophe anbahnt. Kein Staat hält es auf Dauer aus,
wenn, wie in Spanien, fast 49 Prozent oder, wie in Griechenland, über 47 Prozent seiner Jugend ohne Arbeit
sind.
Mindestlöhne sorgen dafür, dass ein Arbeitnehmer,
der vollschichtig arbeitet, davon leben kann und keinen
Zweit- oder gar Drittjob braucht oder auf ergänzende
Sozialhilfe angewiesen ist. Mindestlöhne sind auch Ausdruck von Respekt gegenüber der geleisteten Arbeit.
({1})
Zu wünschen ist auch, dass wir möglichst alle jungen
Menschen bei uns mit einem Schulabschluss ins Berufsleben entlassen. Dazu gehören noch einige Anstrengungen in unserem Bildungssystem und die Bereitschaft der
Arbeitgeber, auch zunächst Schwächeren eine Chance zu
geben. Ich hoffe, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sorgen mit ihrer Tarifautonomie im Interesse
der heute und zukünftig Beschäftigten für weitsichtige
und zukunftsweisende Abschlüsse.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Doris Barnett. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe mich sehr gefreut, dass sich mein Kollege Kober
und auch die Kolleginnen und Kollegen von unserem
Koalitionspartner eben zur Tarifautonomie bekannt haben und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, das Grundprinzip erklärt haben. Ich schließe
mich dem ausdrücklich an.
({0})
- Lieber Herr Ernst, es wurde schon darauf hingewiesen:
Als Partei, die in Brandenburg und auf kommunaler
Ebene Verantwortung trägt und in Regierungen vertreten
ist, auf Bundesebene zu sagen, bei Tarifverhandlungen
im öffentlichen Dienst sei es die Aufgabe des Parlaments, sich zu kümmern, obwohl Sie es selbst in der
Hand hätten, das dort, wo Sie Regierungsverantwortung
haben, zu tun, ist relativ unglaubwürdig.
({1})
Lieber Herr Ernst, genauso unglaubwürdig ist es,
wenn Sie hier so tun - das haben Sie eben gemacht -, als
würde der Staat in Geld schwimmen und als könnte man
über alle das Füllhorn ausschütten.
({2})
Lieber Herr Ernst, ich glaube, das wird der Lage nicht
gerecht. Sie haben wieder einmal das Hohelied gesungen, dass wir nur die Steuern erhöhen müssten und dann
für alles Geld da wäre. Sie dürfen nicht vergessen: Wir
diskutieren über all das in einer Phase, in der wir uns in
der EU in einer Schuldenkrise befinden und uns damit
befassen, wie wir aus dieser Schuldenkrise herauskommen können.
({3})
- Woher kommt die Schuldenkrise? Das ist eine interessante Frage. Sie ist dadurch entstanden, dass die Staaten
über Jahre und Jahrzehnte zu viel ausgegeben haben, lieber Herr Schreiner.
({4})
- Doch! Sie können sich aufregen, aber das werden Sie
nicht wegdiskutieren können!
({5})
- Ich freue mich, dass Sie sich so aufregen; ich scheine
Sie an einem empfindlichen Punkt getroffen zu haben.
Lieber Herr Ernst, obwohl wir im letzten Dezember
die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland erzielt haben, mussten wir
weiterhin Schulden machen. In dieser Zeit rufen Sie
nach weiteren Ausgaben, anstatt uns bei der Haushaltskonsolidierung zu begleiten und darüber nachzudenken,
wie die Ausgaben zurückgefahren werden können in einer Zeit, in der wir die Vorgaben der Schuldenbremse
früher als geplant einhalten werden.
({6})
Wir diskutieren gerade sogar darüber, ob wir es als Koalition vielleicht nicht schon in dieser Legislaturperiode
schaffen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
({7})
Es ist richtig, sich diesem Ziel zu widmen. Es ist aber
falsch, wie Sie pauschal nach höheren Ausgaben zu rufen, lieber Herr Ernst. Das ist unverantwortlich.
({8})
Die Lage der Beschäftigten - gerade im öffentlichen
Dienst - in den Ländern in Südeuropa, die große Schuldenprobleme haben, zeigt, dass Sie den Menschen damit
einen Bärendienst erweisen. Sie versprechen das Blaue
vom Himmel, und am Ende müssen die Menschen die
Zeche dafür zahlen.
({9})
Diese Politik ist nicht richtig. Das dürfte auch keine gerechte Politik sein. Deshalb wundert es mich, dass Sie
das vertreten.
Ich will auch auf das eingehen, was die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD hier gesagt haben. Lieber
Herr Schreiner, Sie sind auf die Verschuldung der öffentlichen Haushalte - das kann ich als Nordrhein-Westfale
angesichts der schlechten Performance der rot-grünen
Landesregierung ganz gut verstehen - nicht eingegangen. Sie haben wieder das Lied gesungen,
({10})
dass die Lage auf unserem Arbeitsmarkt so schlecht sei.
Ich will auf die Realität hinweisen; denn wir reden heute
über den Arbeitsmarkt, die Tarifautonomie und die Lage
junger Menschen. Es gibt in Deutschland, Herr Schreiner,
ein Jobwunder
({11})
- nein! -, das Hunderttausend Menschen in den letzten
Monaten eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt gegeben hat. Das gilt gerade auch für junge Menschen. Wir
haben in Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa.
({12})
- Nein. - Lieber Herr Schreiner, woran liegt das denn?
Das hat verschiedene Gründe: wachstumsfördernde PoliJohannes Vogel ({13})
tik, wettbewerbsfähige Unternehmen, flexibler Arbeitsmarkt, aber auch die Tarifautonomie.
Die Tarifautonomie ist sehr gut geeignet, dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten - dazu bekenne ich mich
ausdrücklich - ihren Anteil am Aufschwung und an der
guten wirtschaftlichen Lage bekommen. Die Tarifautonomie in Deutschland hat im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern erfolgreich dafür gesorgt, dass dieser Anteil immer genauso hoch war wie der Produktivitätszuwachs.
({14})
- Doch! Genau das stimmt. Zu diesem Schluss kommen
auch Sie, wenn Sie sich die Entwicklung der Arbeitskosten anschauen. - Nur dann handelt es sich um einen
nachhaltigen Zuwachs, von dem die Menschen etwas haben.
({15})
Lieber Herr Schreiner, weil Sie auf die Lohnentwicklung eingegangen sind, will ich dazu ebenfalls etwas sagen. Es handelt sich nicht nur um schlechte Jobs. Der
Aufschwung kommt bei den Menschen auch an. Lieber
Herr Schreiner,
({16})
es gibt nicht nur eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Auch die Reallöhne sind in den Jahren 2010 und
2011, also seitdem die Wirtschaft brummt und SchwarzGelb regiert, gestiegen.
({17})
Es sind nicht nur die Bruttolöhne, sondern auch die Reallöhne gestiegen. Ich weiß, dass Ihnen dieser Hinweis
nicht gefällt. Aber man kann nicht oft genug darauf hinweisen.
({18})
Bei der Aufgabe, die realen Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen, brauchen wir keine Nachhilfe.
Schauen Sie sich einmal an, wie wir die Auswüchse, die
es bei der Zeitarbeit in der Tat gab, durch verbesserte
Regulierung bekämpfen
({19})
und Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen in der
Pflege und in der Zeitarbeit schaffen! Das zeigt doch:
Diese Koalition geht die realen Probleme an. Nur, wir
schmeißen dabei nicht das weg, was den Erfolg auf dem
Arbeitsmarkt ausmacht. Ein ganz wesentlicher Faktor ist
hier die Tarifautonomie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die
Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben, wir freuen
uns über sachdienliche Hinweise und hilfreiche Anregungen.
({20})
Aber die Tarifautonomie wegzuwerfen und populistisch
zu versuchen, sich in die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst einzumischen und ein parteipolitisches
Süppchen zu kochen, hilft niemandem.
({21})
Vielmehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, würde es uns alle weiterbringen, wenn Sie da, wo
Sie Verantwortung tragen, etwas Reales für die Menschen tun und hier keine Schaudebatten veranstalten
würden.
({22})
Vielen herzlichen Dank.
({23})
Vielen Dank, Kollege Johannes Vogel. - Nächste
Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Lötzer. Bitte schön,
Kollegin Ulla Lötzer.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Wir sind
es wert!“, so haben gestern mehr als 70 000 Beschäftigte
des öffentlichen Dienstes und ihrer Gewerkschaften
Verdi, GEW und GdP allein in NRW ihre Lohnforderungen begründet, und sie haben recht.
({0})
Sie sind es, die dafür sorgen, dass das Gemeinwesen
rund um die Uhr funktioniert - im Krankenhaus, in Kindergärten, bei der Müllabfuhr und in vielen anderen Bereichen -, und auch deshalb geht uns das etwas an. Sie
sind es wert, Herr Vogel, dass wir uns hier im Parlament
über ihre Situation, ihre Arbeitsbedingungen und ihre
Leistungen verständigen.
({1})
Das Arbeitsministerium NRW hat festgestellt: Der öffentliche Dienst musste in den vergangenen zehn Jahren
- das sind ganz andere Zahlen als bei Ihnen, Herr
Vogel - einen Reallohnverlust von 8 Prozent hinnehmen.
Schlechter ging es nur den Tischlern und den Fleischern.
Die Kommunen können qualifizierte Stellen kaum
noch besetzen, selbst wenn sie Zulagen zum Tariflohn
zahlen, aber Auszubildenden wird von Ihnen eine Übernahmegarantie verweigert. Erzieherinnen, Busfahrer,
Müllwerker und Altenpflegerinnen müssen bei Vollzeit
inzwischen mit 1 300 Euro bis 1 400 Euro brutto nach
Hause gehen. Deshalb haben sie recht mit ihren Forderungen nach einem Mindestbetrag von 200 Euro und
6,5 Prozent mehr Lohn. Deshalb haben sie auch recht
mit ihrer Forderung nach einer Übernahmegarantie für
die Jugend.
({2})
Frank Bsirske hat gestern 20 000 Warnstreikenden in
Köln erklärt: Nachhaltige Reallohnsteigerungen sind ein
Gebot nicht nur der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch
der ökonomischen Vernunft. Er hat recht. Auch deshalb
geht uns diese Tarifrunde etwas an. Sie sind auch ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft, weil die Nachfrage
auf dem Binnenmarkt umso wichtiger ist, je trüber die
Konjunkturaussichten innerhalb der EU werden.
Sie, Herr Vogel, sagen: Wir können uns das angesichts der leeren öffentlichen Kassen nicht leisten.
({3})
- Doch. Sie haben in dem Zusammenhang gesagt, dass
wir uns keine Ausgabensteigerungen leisten könnten.
({4})
Das sagen auch die Arbeitgeber in den Verhandlungen.
Aber, Herr Vogel, dann muss man die öffentlichen
Kassen eben weiter füllen. Es geht nicht nur um die Ausgaben, es geht auch um die Einnahmen der öffentlichen
Kassen. Wenn Sie es uns nicht glauben: Professor Fuest
vom Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums
schrieb Ihnen, Frau Merkel und Herrn Schäuble ins
Stammbuch: Es gibt Leute, die sagen, die Bundesrepublik sei eine Steueroase für Vermögens- und Kapitalbesitzer, und sie haben recht. - Wissenschaftlicher Beirat
des Finanzministeriums!
({5})
Es stimmt: Die öffentlichen Kassen vieler Kommunen
sind leer. Sie sind es aber nicht, weil die Beschäftigten
zu viel Lohn bekommen oder weil es zu hohe Sozialausgaben gibt. Sie sind leer, weil seit der Unternehmensteuerreform von Rot-Grün alle Regierungen eine systematische Verarmung der öffentlichen Kassen herbeigeführt
haben. Auch insofern hat die Politik etwas mit dieser Tarifrunde im öffentlichen Dienst zu tun.
Ich kann Ihnen jetzt zumindest noch einen Bürgermeister der Linken nennen, der sich bereits für die Forderungen von Verdi ausgesprochen hat, nämlich Herrn
Harzer.
({6})
Es geht hier um die Kommunen und um den Bund, nicht
um die Länder. - Das nur zur Klarstellung.
Der DGB NRW hat übrigens am Dienstag in einer
Pressekonferenz gefordert: Die im Grundgesetz vorgesehene Schuldenbremse bis 2020 muss umgesetzt werden,
ohne dass an Personal, Bildung und sozialen Leistungen
gespart wird. Wir brauchen einen starken öffentlichen
Dienst und leistungsfähige Kommunen. Daher muss
über eine angemessene Besteuerung von Vermögen und
Erbschaften die Einnahmeseite verbessert werden, Herr
Vogel.
({7})
Hören Sie gut zu, von Herrn Weiß bis zu Herrn Vogel:
Der DGB hat alle Politikerinnen und Politiker aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen. Wir haben Ihnen heute
Gelegenheit gegeben, zu der Situation im öffentlichen
Dienst, zu der Tarifrunde, zu den Forderungen und zu
den politischen Schlussfolgerungen, die damit im Zusammenhang stehen, Stellung zu beziehen. Sie haben
hier das niedrige Angebot verteidigt,
({8})
Sie geben vor, die Tarifautonomie zu verteidigen, aber in
Wirklichkeit wollen Sie nicht darüber reden, welch skandalöses Angebot die öffentlichen Arbeitgeber gemacht
haben.
({9})
Darüber muss man hier reden; man darf nicht über Tarifautonomie schwafeln.
({10})
Wir stehen an der Seite der Beschäftigten: für gute
Löhne und für gute Arbeit. Wir stehen dafür, die Bedingungen für die Tarifautonomie zu verbessern. Wir müssen natürlich prekäre Arbeitsverhältnisse beschränken.
Wir dürfen nicht nur über Tarifrunden reden. Wir sagen
auch: Unsere Schuldenbremse heißt Vermögensteuer.
Die Einführung einer Vermögensteuer und die gerechte
Besteuerung von Arbeit und Kapital bieten die Möglichkeit, gute Löhne im öffentlichen Dienst zu zahlen.
Danke.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Lötzer.
Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist
unsere Kollegin Frau Heike Brehmer. Bitte schön, Frau
Kollegin Heike Brehmer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wieder einmal versuchen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, bei circa 2 Millionen betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im
öffentlichen Dienst die Hoffnung zu wecken, dass wir
die Forderung nach mehr Lohn im Bundestag einfach so
umsetzen und die Tarifautonomie außer Kraft setzen
können.
({0})
Gleichzeitig suggerieren Sie, dass jungen Beschäftigten
keine Zukunft im öffentlichen Dienst gegeben werde.
({1})
Das eine ist genauso falsch wie das andere. Sie kennen die demografische Entwicklung, und Sie wissen,
dass sich auch der öffentliche Dienst davon nicht abkoppeln kann. Daher haben junge Beschäftigte gerade mit
Blick auf die demografische Entwicklung eine echte
Chance. Bildung und Ausbildung sind Grundvoraussetzung, um diese Chance zu nutzen und in das Erwerbsleben einzutreten. Gerade im öffentlichen Dienst haben
wir einen sehr hohen Altersdurchschnitt und in den
nächsten Jahren einen Bedarf an jungen Mitarbeitern.
({2})
Richtig ist, dass derzeit die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst laufen. Die Gewerkschaften setzen
dazu ihr Druckmittel, den Streik, ein. Das ist legitim;
denn der Streik ist das Mittel der Gewerkschaften, um
ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auf der
Website der Gewerkschaft Verdi können Sie nachlesen
- das sollten Sie wirklich einmal tun -: „Tarifverträge
fallen nicht vom Himmel.“ Sie seien besser als jedes Gesetz, so Verdi. Ich zitiere weiter wörtlich:
Wer Gesetze mit Tarifverträgen vergleicht, wird
schnell feststellen, dass die Regelungen in Tarifverträgen um vieles besser sind.
({3})
Herr Kober hat es vorhin schon einmal vorgelesen, aber
ich werde es wiederholen, damit Sie es wirklich lernen.
({4})
Verdi schreibt weiter:
Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwischen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband
und einer Gewerkschaft. Einmischen ist nicht erlaubt, das gilt auch für den Staat.
({5})
Das garantiert die Tarifautonomie, die mit dem
Recht auf Koalitionsfreiheit im Grundgesetz verankert ist.
({6})
Die CDU/CSU wird sich auch strikt daran halten.
({7})
Genau das ist der Punkt. Deswegen plädiert die CDU
seit Ludwig Erhard - Herr Schreiner hat schon darauf
hingewiesen - für eine Stärkung der Tarifparteien. Wir
wollen keine Mindestlöhne, die sich nach Gutdünken an
politischen Vorgaben und Wahlterminen orientieren. Wir
brauchen auch keine zentrale staatliche Lohnkommission wie in der DDR.
({8})
Herr Ernst, als Gewerkschafter müssen Sie doch eigentlich wissen, wie Tarifverhandlungen ablaufen. Die
Tarifverhandlungen gehen nächste Woche, am 28. und
29. März, in Potsdam in die dritte Runde. Ich wünsche
gute Verhandlungen. Nur eines muss an dieser Stelle
auch einmal erwähnt werden: Nicht alle Forderungen
sind umsetzbar; sie müssen nämlich auch durch die öffentliche Hand finanziert werden. Seit der gesetzlichen
Regelung der Tarifautonomie im Jahre 1919 wird die
Aushandlung von Löhnen und sonstigen Arbeitsbedingungen den Tarifpartnern überlassen.
({9})
- Sie sollten richtig zuhören, sonst verstehen Sie das nicht.
({10})
67 000 bestehende Tarifverträge und der wirtschaftliche
Erfolg unserer deutschen Unternehmen beweisen, dass
dieses System im Grundsatz gut funktioniert. Diese
Form der Lohnfindung - ich erwähnte es bereits, und ich
werbe ausdrücklich dafür - ist ein Grundpfeiler unserer
sozialen Marktwirtschaft. Es gibt keine übergeordnete
Instanz, die „richtige“ Löhne erkennen und vorschreiben
kann.
({11})
Ich kann nur an die betroffenen Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst appellieren, durch ihre Mitgliedschaft
die Gewerkschaften zu stärken. Letztendlich profitieren
auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im öffentlichen Dienst, welche keiner Gewerkschaft angehören und
sich nicht am Streik beteiligen, von einem ausgehandelten neuen Tarif. Deswegen gilt mein Respekt allen Mitgliedern von Gewerkschaften, welche sich am Streik beteiligen und für ihre Rechte kämpfen.
Ich bin mir sicher, dass die Tarifkommission diese
Herausforderung gemeinsam angehen wird und eine für
den Bund und die Kommunen vertretbare Einigung erzielen wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin Heike Brehmer. - Nächster Redner für die Sozialdemokraten ist unser Kollege
Ullrich Meßmer. Bitte schön, Kollege Ullrich Meßmer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gewerkschaften haben die Zukunft der Gesellschaft und
der Wirtschaft im Blick, wenn sie jetzt für höhere Entgelte, für die Übernahme Ausgelernter und für Regelungen bezüglich prekärer Beschäftigungsverhältnisse eintreten, und zwar im Gleichklang.
Durch die Übernahme Ausgelernter wird ja eigentlich
nur etwas ausgebügelt, was Arbeitgeber in den vergangenen Jahren, in denen sie dies nicht nötig hatten, einfach haben liegen lassen, nämlich sich darum zu kümmern, dass es Fachkräftenachwuchs in den Betrieben
gibt. Man hat junge Leute lieber in prekäre Beschäftigung geschoben, in befristete Arbeitsverhältnisse oder in
Leiharbeit. Heute wird geschrien, es würden Fachkräfte
fehlen. Meine Damen und Herren, da hätten andere vorher verantwortlicher handeln können. Wir werden aber
sehen, dass die Gewerkschaften es erreichen, dass junge
Menschen, die gut lernen, auch eine gute Zukunft haben
und dass die Menschen in den Betrieben und im öffentlichen Dienst für gute Arbeit auch gutes Geld bekommen.
Da traue ich den Gewerkschaften schon eine Menge zu.
Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir diese Forderungen ernst nehmen; denn sie entsprechen dem Empfinden vieler und insbesondere derjenigen, die tagtäglich
und oft auch nachts und rund um die Uhr arbeiten. Die
Bedeutung von Arbeitnehmern für die Wirtschaft nur in
Sonntagsreden zu beschreiben, reicht nicht. Ich glaube,
wir haben auch als Parlament und Politik ein Interesse
daran, dass es den Menschen in diesem Land gut geht
und dass sie ein verlässliches Einkommen haben. Denn
wenn das Geld auf dem Konto eines Arbeitnehmers ist,
dann sind die Steuern und Sozialabgaben bereits bezahlt.
Ich wage sogar die Behauptung, dass es gerade die Steuern der Arbeitnehmer sind, die dafür sorgen, dass wir in
der Lage sind, milliardenschwere Rettungsschirme aufzuspannen, wenn sich Banker verzockt haben. Sie tragen
nämlich mit ihrem Einkommen zur Sicherheit dieses
Staates und der Gesellschaft etwas bei. Ich meine, der
Finanzminister wird irgendwann einsehen, dass höhere
Löhne und Gehälter auch ihm etwas bringen.
Ich bestreite gar nicht, dass es zuallererst Aufgabe der
Tarifvertragsparteien ist, die Arbeitsbedingungen zu regeln. Die Beispiele „Leiharbeit“ und „prekäre Arbeitsverhältnisse“, aber auch das Verhalten der Arbeitgeber
zeigen, dass tarifvertraglicher Schutz für Beschäftigte
ausgehebelt werden kann - das wurde bereits angesprochen - und dass tariflicher Schutz wirkungslos ist, wenn
nicht auch der Gesetzgeber zusätzliche Regelungen
schafft.
Fast der gesamte Beschäftigungsaufbau in der Metallund Elektroindustrie nach der Krise erfolgte durch Leiharbeit. Die IG Metall listet in einem Schwarzbuch über
80 Betriebe auf, in denen der Anteil der beschäftigten
Leiharbeitnehmer bei über 10 Prozent liegt, teilweise sogar bei einem Drittel der Beschäftigten. Das tollste Beispiel habe ich gerade von einem Kollegen gehört. Er hat
mir von der Firma IXYS in der Nähe von Darmstadt berichtet: Sie bringt es auf 230 Stammbeschäftigte und 222
Leiharbeitnehmer.
Leiharbeit wird, ob Sie es wollen oder nicht, zunehmend als Bedrohung für Stammarbeitsplätze empfunden,
und sie führt zu niedrigeren Lohnlinien. Schon in der
Leiharbeit selbst herrschen Missverhältnisse. Die Entgelte der Leiharbeitnehmer liegen nach wie vor um bis
zu 50 Prozent unter denen der Stammbeschäftigten. Wir
akzeptieren den Einsatz von Leiharbeitnehmern, aber
das darf kein Ersatz für Dauerarbeitsplätze sein oder zur
Senkung von Entgelten im Betrieb führen.
Die IG Metall verhandelt zurzeit über Branchenzuschläge. Ich sehe gute Chancen, dass diese Verhandlungen erfolgreich zu Ende geführt werden. Aber wenn sie
wirklich dazu führen sollen, dass Gleichbehandlung entsteht, dann wird es notwendig werden, auch im Betrieb
Regelungen zu schaffen, nach denen die Betriebsräte in
den Einsatzbetrieben die Möglichkeit bekommen, auf
Umfang, Einsatzdauer, Übernahme und Bedingungen
für Leiharbeit Einfluss zu nehmen. Damit kann erreicht
werden, dass Leiharbeit tatsächlich ein ergänzendes und
flexibles Instrument ist und dass sie nicht bloß dazu verwendet wird, die Arbeitnehmer gegeneinander auszuspielen und in den Betrieben niedrige Löhne zu zahlen.
Die Menschen müssen davor bewahrt werden, Angst davor haben zu müssen, alle paar Wochen im Rahmen eines Rotationsverfahrens ausgewechselt zu werden. Hier
ist der Gesetzgeber gefordert. Wir müssen Regelungen
zur Mitbestimmung schaffen, um die Begrenzung der
Leiharbeit in die Hände der kompetenten Betriebsräte zu
legen.
({0})
Wer es ernst meint mit Tarifeinheit in den Betrieben
und mit beschäftigungspolitischer Flexibilität, die nicht
zulasten der Einkommen der Beschäftigten geht, wird
nicht drum herumkommen, entsprechende Regelungen
zu schaffen. Deshalb kann ich für die SPD nur sagen:
Wir finden es gut und richtig, dass sich die Gewerkschaften für die Interessen der Beschäftigten einsetzen
und dass sie so für die Refinanzierung des Staates sorgen. „Gute Arbeit - gutes Geld“ muss für alle Beschäftigten gelten: für Frauen wie für Männer, in der Industrie
wie im öffentlichen Dienst. Ich finde es daher gut, dass
diese Aktuelle Stunde angesetzt wurde, um diese Punkte
im Parlament noch einmal deutlich zu machen.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Kollege Ullrich Meßmer. - Nächster
und auch letzter Redner ist für die Fraktion der CDU/
Vizepräsident Eduard Oswald
CSU unser Kollege Paul Lehrieder. Bitte schön, Kollege
Lehrieder.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Man kann bei den von der Linksfraktion beantragten Debatten nicht mehr ohne Grundgesetz
ans Rednerpult gehen.
({0})
Ich werde nachher noch auf die Tarifautonomie, Art. 9
Abs. 3 unseres Grundgesetzes, dezidiert eingehen.
({1})
- Die kenne ich auch. Keine Angst, Herr Kollege.
Vor mir haben bereits drei Gewerkschaftssekretäre
gesprochen. Herr Meßmer, Sie sind Gewerkschaftssekretär. Der Aufschlaggeber für diese Debatte, Klaus Ernst,
war von 1995 bis zum Juni 2010 Erster Bevollmächtigter
der IG Metall Schweinfurt.
({2})
Jungs, ihr wisst doch eigentlich, wie es geht.
({3})
Sie sollten über das Vorrecht der Tarifvertragsparteien,
die Konditionen und die Lohnhöhen auszuhandeln, besser informiert sein, als es in dieser Debatte zum Ausdruck kommt.
({4})
Ich komme auf das zurück, was die Vorredner bereits
ausgeführt haben. Ich schätze den Kollegen Müntefering;
er weiß, wie es geht. Er sagt, dass sich die Politik bei den
Tarifverhandlungen herauszuhalten hat. Ich schätze auch
Verdi. Die Vertreter dieser Gewerkschaft sind ebenfalls
gescheiter als die Linkspartei in diesem Hause; denn sie
sagen, dass sie sich ein Einmischen der Politik in ihre
Verhandlungen verbitten.
({5})
Wir sollten einmal schauen, wo wir stehen. Wir stehen inmitten der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. Vor wenigen Wochen haben wir in diesem
Hohen Hause über die Tarifverhandlungen für einen Teil
der Beschäftigten am Frankfurter Flughafen debattiert.
Was ist in der Zwischenzeit passiert? Man hat sich gestern geeinigt. Streiks während der Tarifverhandlungen
sind ein probates Mittel; denn sie sind schmerzhafte Nadelstiche für die andere Seite - sie sind aber keine große
Keule wie in anderen Ländern -, die für Bewegung sorgen. Man hat sich in Frankfurt auf ein vernünftiges Ergebnis einigen können. Man hat für alle drei Gruppierungen einen gemeinsamen Tarifvertrag erreicht. Das
hätten wir vor wenigen Wochen nicht erwartet.
Die Tarifautonomie in Deutschland funktioniert und
ist wirkungsvoll. Es gibt keine Verwerfungen oder Missstände, wie Sie mit Ihren Äußerungen glauben machen
wollen. Ich sage noch einmal: Die Politik ist gut beraten,
sich nicht in die Tarifverhandlungen einzumischen.
({6})
Der Kollege Schreiner - wo ist er denn? - hat hier mit
Krokodilstränen ausgeführt, dass die Vorstandsgehälter
nach seiner Auffassung zu hoch sind. Ich will überhaupt
nicht verhehlen, dass man diese Gehälter in einigen Fällen kritisch sehen kann. Man muss aber fairerweise dazusagen: Die Vorstandsgehälter werden im Aufsichtsrat
in aller Regel mit Zustimmung der Arbeitnehmervertreter festgesetzt.
({7})
Es gibt Kfz-Hersteller, die ihren Mitarbeitern im letzten Jahr Prämien in Höhe von 7 500 bzw. 8 000 Euro gewähren konnten, weil das Geschäft gut lief und man die
richtigen Entscheidungen getroffen hat. Sie profitierten
davon. In diesen Fällen kann auch der Vorstand eine entsprechende Zulage bekommen. Man wird darüber diskutieren müssen, ob die Höhe angemessen ist. Die Arbeitnehmerseite sagt in vielen Bereichen durchaus zu Recht:
Wenn sich gutes Wirtschaften in unserer Branche für die
Arbeitnehmer auszahlt, soll es sich letztendlich auch für
die Chefs rentieren.
({8})
Die jetzt laufenden Verhandlungen im öffentlichen
Dienst - es wurde mehrfach das Innenministerium angesprochen - müssen berücksichtigen, dass nicht jede Gemeinde auf Rosen gebettet ist - Frau Lötzer, Sie haben
es ausgeführt - und die Lohnforderungen nicht so locker
bezahlen kann, wie der von Ihnen genannte einzige Bürgermeister der Linkspartei; nein, es gibt ein paar mehr.
({9})
Ich wünsche jeder Gemeinde, dass sie die Lohnforderungen - 6 oder 10 Prozent; meinetwegen können die gerne
10 Prozent fordern - bezahlen kann. Sie müssen grundsätzlich wissen, dass die Kommunen das, was von den
Verhandlungsparteien ausgehandelt wird, bezahlen müssen. Es ist nicht so, dass der öffentliche Dienst eine Kuh
ist, die im Himmel frisst und auf Erden gemolken werden kann. Kommunen, die pleite sind und über ihre Verhältnisse gelebt haben,
({10})
tun sich schwer, beliebig hohe Vergütungen zu bezahlen.
Das muss man wissen.
({11})
- Ich bin selber Bürgermeister, Herr Kollege. Ich weiß,
wovon ich rede.
({12})
In diesem Jahr laufen Einkommenstarifverträge für
9,1 Millionen Beschäftigte aus. Darunter fallen das
Bankgewerbe, die Chemische Industrie, die Deutsche
Post AG. Bei der Post - das gehört zur Wahrheit dazu standen in Tarifverhandlungen ähnlich hohe Forderungen im Raum wie jetzt. Bei der Post hat Verdi 7 Prozent
gefordert. Man hat einen Abschluss in Höhe von 4 Prozent gemacht. Die Abschlüsse in vielen Branchen werden deutlich über der von Ihnen apostrophierten Inflationsrate liegen; das zeichnet sich ab. Es muss ein Zugewinn da sein. Das hat unsere Arbeitsministerin völlig zu
Recht ausgeführt.
({13})
Es gab in den letzten Jahren Lohnzurückhaltung. Der
vernünftige Umgang der Tarifvertragsparteien in Deutschland hat dazu geführt, dass wir in den letzten drei Jahren
die Krise besser bewältigen konnten als etliche Länder
um uns herum.
({14})
Die von der Linkspartei beantragte Aktuelle Stunde ist
nicht geeignet, einen vernünftigen Umgang zu befördern. Ich würde es begrüßen, wenn man mit weniger
Schaum vor dem Mund die Tarifverhandlungen abwartet
und die Parteien verhandeln lässt, um zu schauen, was
dann dabei herauskommt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({15})
Vielen Dank, Kollege Paul Lehrieder. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Somit rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems
für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen ({0})
- Drucksache 17/8986 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in unserer Aussprache hat das Wort Frau Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz. Bitte
schön, Frau Kollegin Widmann-Mauz.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Psychische Erkrankungen nehmen in Deutschland zu.
Allein in den Jahren zwischen 2000 und 2010 verzeichneten psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen in unserem Lande einen Fallzahlenanstieg von
42,2 Prozent. Nicht immer müssen diese Erkrankungen
einen so dramatischen Verlauf nehmen wie im Fall von
Robert Enke. Dennoch sind die Auswirkungen für die
betroffenen Menschen sowohl im privaten wie auch im
beruflichen Bereich lebensverändernd. Karrieren werden
beendet oder auf Eis gelegt. Denken wir zum Beispiel an
den weltbekannten Skispringer Sven Hannawald! Er litt
am Burn-out-Syndrom und hat sich deshalb aus dem
Leistungssport zurückgezogen. Die Ursachen für die dynamischen Fallzahlentwicklungen können wir noch
nicht so richtig eingrenzen. Wir wissen nicht, ob wir es
tatsächlich mit einer Zunahme dieser Krankheitsbilder
zu tun haben oder ob es die inzwischen verbesserten Diagnoseverfahren sind, die heute eine Feststellung der Erkrankung frühzeitiger ermöglichen. Wir wissen jedoch,
dass eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung für alle Menschen in unserem Gesundheitssystem
gewährleistet sein muss. Dies schließt ausdrücklich
Menschen mit psychischen Erkrankungen ein.
({0})
Diese Menschen bedürfen unserer ganz besonderen
Unterstützung. Genau das ist der Grund, warum die Bundesregierung am 18. Januar dieses Jahres den Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen, kurz
Psych-Entgeltgesetz, im Kabinett verabschiedet hat.
Mit dem neuen Entgeltsystem soll der Vergütung der
unterschiedlichen psychischen Erkrankungen besser
Rechnung getragen werden; denn jede psychische Erkrankung ist in ihrer Ausprägung und damit in ihrem Behandlungsbedarf und Behandlungsaufwand verschieden. Der eine Patient kann schnell und erfolgreich
behandelt werden; ein anderer benötigt Jahre, manchmal
ein ganzes Leben, um mit seiner Erkrankung zurechtzukommen.
Bei gleicher Diagnose kann es daher durchaus zu sehr
unterschiedlichen Verweildauern in den Kliniken kommen. Deshalb wollen wir mit dem neuen Gesetz die
Transparenz über das Leistungsgeschehen verbessern
und den Besonderheiten psychischer Krankheiten besser
Rechnung tragen. Das heißt, der Aufwand unterschiedlicher Behandlungsfälle soll besser abgebildet und leistungsorientiert vergütet werden. Geschehen soll dies, indem grundsätzlich keine Fallpauschalen, sondern in
erster Linie tagesbezogene Pauschalen eingeführt werden. Gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Verweildauern bei gleichen Diagnosen macht dies auch
Sinn.
Bewusst haben wir entschieden, die Anwendung des
neuen Entgeltsystems im nächsten und im übernächsten
Jahr nicht verpflichtend einzuführen. Vielmehr sind die
Jahre 2013 und 2014 als Optionsjahre vorgesehen, in denen die Einrichtungen das neue Entgeltsystem auf freiwilliger Basis anwenden können. Eine „Mussregelung“
wird es dann erst ab dem Jahr 2015 geben.
Zudem wird das neue Entgeltsystem mit einer vierjährigen budgetneutralen Phase und dann mit einer fünfjährigen Konvergenzphase eingeführt. Diese Vorgehensweise haben wir ebenfalls aus gutem Grund festgelegt:
Zum einen wird nämlich den Einrichtungen ausreichend
Zeit gegeben, sich auf künftige Veränderungen in ihren
Erlösbudgets entsprechend einzustellen; zum anderen ist
die Entwicklung und die Einführung dieses Psych-Entgeltsystems als ein lernendes System angelegt.
Sie erinnern sich: Wir haben dieses Prinzip bereits bei
der Einführung des DRG-Fallpauschalensystems in unseren Krankenhäusern ausprobiert, und es hat funktioniert. Damals sind wir mit knapp 700 Fallpauschalen gestartet; heute verzeichnen wir rund 1 200. Das heißt, die
Sachgerechtigkeit der Abbildung und Leistungsorientierung der Vergütung wurde seit der DRG-Einführung
kontinuierlich verbessert; das ist unbestritten. Nach diesem Vorbild können wir die langen Zeiträume der Einund Überführungsphase nutzen, um genau zu prüfen, wo
noch zu leistende Entwicklungsarbeiten notwendig sind,
um dieses Entgeltsystem zu perfektionieren.
Unser Ziel ist es, die Voraussetzungen für einen effizienteren Ressourceneinsatz zu schaffen und die Vergütungsgerechtigkeit zwischen den Einrichtungen zu verbessern. Zurzeit erfolgt bei der Vergütung keine
Differenzierung nach dem unterschiedlichen Behandlungsaufwand für die einzelnen Patienten. Vielmehr
bleibt im heutigen Entgeltsystem ein unterschiedlicher
Behandlungsaufwand unberücksichtigt. Der sich für die
Einrichtungen daraus ergebenden Notwendigkeit zur
Mischkalkulation wollen wir mit dem neuen Entgeltsystem ein Ende setzen.
Das heißt, mit dem Beginn der Konvergenzphase
müssen sich Einrichtungen mit zu hoch bewerteten Erlösbudgets durchaus auch auf Erlösabsenkungen einstellen. Umgekehrt gilt auch: Krankenhäuser mit zu gering
bewerteten Erlösbudgets werden dann durch Erlöszuwächse von diesem System profitieren können. So gelingt am Ende eine Umverteilung im positiven, im richtigen Sinne, nämlich hin zu mehr Leistungsgerechtigkeit
in den Häusern.
Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf auch die
Grundlagen für eine systematische Qualitätssicherung in
der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung.
Denn wir verpflichten den Gemeinsamen Bundesausschuss, in seinen Richtlinien die dafür erforderlichen
Maßnahmen festzulegen und Indikatoren für die Beurteilung der Versorgungsqualität zu entwickeln. Darüber hinaus wird der Gemeinsame Bundesausschuss in seinen
Richtlinien zur Qualitätssicherung Empfehlungen zur
Ausstattung mit therapeutischem Personal für stationäre
Einrichtungen festlegen. Das ist notwendig, weil die bisher gültige Psychiatrie-Personalverordnung mit ihrer finanzwirksamen Wirkung - das wissen wir - so nicht
mehr mit dem neuen Entgeltsystem vereinbar ist, aber
umgekehrt Maßstäbe zur Sicherung der Strukturqualität
unverzichtbar sind. Deshalb sind Maßstäbe für eine angemessene Personalausstattung in den Empfehlungen
des Gemeinsamen Bundesausschusses erforderlich; das
wird gewährleistet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erfüllen mit dem Psych-Entgeltgesetz, das wir Ihnen heute zur Beratung vorlegen,
einen Auftrag aus der letzten Legislaturperiode, den wir
mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz im März des
Jahres 2009 beschlossen haben. Wir machen den Weg
frei für eine am Behandlungsaufwand orientierte Vergütung; denn fest steht: Menschen, die psychisch erkrankt
sind, die auf medizinische Versorgung in unserem Land
angewiesen sind, brauchen eine sehr gute, umfassende
Versorgung. Zu ihrem Wohle streben wir diese Veränderung im Vergütungssystem an.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Frau Hilde Mattheis. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Widmann-Mauz hat zu Recht darauf hingewiesen:
Im Bereich der psychischen Erkrankungen geht es oftmals um tragische Schicksale. Umso wichtiger ist es,
dass wir mit dem Psych-Entgeltgesetz die Weichen wirklich richtig stellen, für Versorgungsstrukturen, die es erlauben, auf die besonderen Bedürfnisse psychisch Erkrankter einzugehen.
Richtig ist auch: Es ist ein Auftrag aus der letzten Legislaturperiode, der hier erfüllt werden muss. Aber wir
müssen hier die Frage beantworten, ob dieser Auftrag
wirklich erfüllt ist. Ich frage jetzt gleich - da spreche ich
gerade auch die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU an, die das in der letzten Legislaturperiode
mit entschieden haben -, ob es sich hier wirklich um
richtige Weichenstellungen handelt für eine ordentliche
und notwendige Personalausstattung, für eine Förderung
der sektorenübergreifenden Versorgung und für tagesbezogene Entgelte. Denn schon 2009 war klar, dass die besonderen Bedürfnisse von psychisch kranken Menschen
auf gar keinen Fall mit den Bedürfnissen von Menschen
zu vergleichen sind, die zum Beispiel wegen eines
Blinddarmdurchbruchs oder nach einer Bein-OP behandelt werden müssen. Wir fragen also: Sind die Formulierungen in diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung
richtig?
Auf Vorschlag der damaligen Gesundheitsministerin
Ulla Schmidt hatte die Mehrheit des Hauses beschlossen, ein durchgängig leistungsorientiertes und pauschaliertes Vergütungssystem auf der Grundlage tagesbezogener Entgelte einzuführen.
({0})
Des Weiteren wurde beschlossen, dass in diesem Zusammenhang zu prüfen sei, ob für bestimmte Leistungsarten
andere Abrechnungseinheiten eingeführt werden können
und wie die Leistungen der psychiatrischen Institutsam19924
bulanzen nach § 118 SGB V einbezogen werden können.
Vor allen Dingen hatten wir festgehalten, dass bei unserer Forderung nach Berücksichtigung einer sektorenübergreifenden Versorgung - ich zitiere - „von den Leistungskomplexen ausgegangen werden soll, die der
Psychiatrie-Personalverordnung zugrunde liegen“. Das
waren die wesentlichen Bestandteile des Krankenhausfinanzierungsreformgesetzes. Viele andere Punkte sind
in der Drucksache 16/10807 nachzulesen.
Zunächst einmal stelle ich fest, dass das Ministerium
einen ganz neuen Zeitplan aufgemacht hat: eine budgetneutrale Phase über einen langen Zeitraum, dann eine
Konvergenzphase bis 2022.
({1})
Wir hatten uns vorgenommen: bis 2013. Diese lange
Phase birgt natürlich eine Chance. Aber wir sollten
schon jetzt, nach Einbringung des Gesetzentwurfes, die
Chance nutzen, einige Veränderungen vorzusehen, die
dann in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden
können.
Ich frage mich: Unterstützt und - was zu wünschen
wäre - verbessert die vorgesehene Umstellung der Vergütung die Strukturen und die Qualität der Versorgung
von psychisch kranken Menschen? Wir alle wissen - Sie
haben es ausgeführt -, dass wir von einem zunehmenden
Versorgungsbedarf ausgehen müssen. Wir wissen, dass
die Versorgung maßgeblich durch qualifiziertes Personal
zu gewährleisten ist und der Personalkostenanteil bei
circa 80 Prozent liegt. Wir wissen auch, dass sich Therapiekonzepte für Menschen mit psychischen Erkrankungen maßgeblich von Therapien in den Krankenhäusern
unterscheiden, in denen das DRG-System gilt. Deshalb
nehme ich alle Hinweise, die uns allen zugegangen sind,
ernst. Es wird zu Recht auf eine hohe Übereinstimmung
mit dem Krankenhausentgeltgesetz verwiesen und vor
der Übertragung der Rahmenbedingungen der somatischen Medizin auf die Versorgung psychisch Kranker
gewarnt. Die Wiederholung von Fehlanreizen wie bei
der DRG-Einführung wäre in der Psychiatrie wirklich
fatal.
Außerdem ist das neue Entgeltsystem nicht sektorenübergreifend angelegt; es gibt also keine Anreize, stationäre Behandlungen zu vermeiden. Das wird dazu führen,
dass psychisch Kranke keine Alternative zu stationären
Aufenthalten haben werden. Das ist nicht die Vorstellung von einer modernen, sektorenübergreifenden Versorgung, so wie wir als SPD sie immer vertreten haben.
({2})
Wir wollen eine regionale, bedarfsgerechte Versorgung. Psychiatrische Krankenhäuser brauchen Anreize
für den Ausbau personenzentrierter Behandlungs- und
Hilfesettings im außerklinischen Bereich. Die von der
Regierung formulierten Prüfaufträge und die Weiterentwicklung der Vorgaben für Modellvorhaben einer sektorenübergreifenden Versorgung sind uns zu wenig. Wir
haben dies schon in einer Kleinen Anfrage im Juni 2010
hinterfragt. Die Antworten haben uns schon damals
nicht zufriedengestellt. Sie haben uns damals in Ihrer
Antwort darauf hingewiesen, dass es eine unzureichende
Datengrundlage gebe. Zwei Jahre sind inzwischen verstrichen. Von einer Weiterentwicklung habe ich nichts
mitbekommen.
Das alles zeugt nicht davon, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf dem Grundsatz folgen: Das Vergütungssystem dient der Versorgung. Das will ich an einem weiteren Beispiel deutlich machen, nämlich am Vorhaben, die
Vereinbarung von erforderlichen Personalstellen nach
der Psych-PV nur noch den Optionskrankenhäusern zu
ermöglichen und die Psych-PV zum 1. Januar 2017 endgültig auszusetzen. Es ist zu befürchten, dass ohne eine
vollständige Erfüllung der Psych-PV das neue Entgeltsystem zu einer dauerhaften Unterfinanzierung in der
psychiatrischen Versorgung führt.
({3})
Es gibt etliche weitere Kritikpunkte, die sicherlich im
weiteren Verfahren bzw. in der weiteren Diskussion
noch aufgriffen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich meine, wir haben jetzt die Chance, auf der Grundlage des Gesetzes
von 2009 die Versorgung psychisch kranker Menschen
durch ein sinnvolles Vergütungssystem zu verbessern.
Diese Chance müssen wir nutzen. Das erwarte ich vor
allen Dingen von Ihnen, von der CDU/CSU; denn Sie
haben 2009 dieses Gesetz mit uns beschlossen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Hilde Mattheis. - Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Erwin Lotter. Bitte schön, Kollege Dr. Erwin Lotter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Mattheis, ich
freue mich, dass es gelungen ist, mit dem Psych-Entgeltgesetz endlich eine vernünftige und angemessene Art der
Abrechnung im Bereich psychiatrischer und psychosomatischer Einrichtungen zu entwickeln. Das bisherige
Abrechnungssystem mit Tagessätzen hat in mehrfacher
Hinsicht nicht funktioniert. Eine leistungsgerechte Honorierung fand nicht statt. Durch das Psych-Entgeltgesetz wird die Chance auf eine gerechtere Vergütung
eröffnet. Das pauschalierende, leistungsorientierte Entgeltsystem bildet die medizinischen Leistungen deutlich
besser ab. Eine lange Einführungsphase ermöglicht den
Krankenhäusern eine angemessene Eingewöhnung. Als
lernendes System wird es praktische Erfahrungen in
Krankenhäusern integrieren und ist offen für eine Weiterentwicklung.
Ambulante Behandlungen in Institutsambulanzen und
die Kooperation mit niedergelassenen Psychiatern und
Psychotherapeuten werden gefördert. Mittelfristig wird
das Gesetz zu einer differenzierteren und qualitativ
hochwertigeren Behandlung psychisch Kranker führen.
({0})
Das Verfahren der Tagessätze hat die Verschiedenheit
der Patientengruppen nicht berücksichtigt. Suchtkranke
zum Beispiel, die sich einem Entzug unterziehen, benötigen Gruppentherapien, Einzelgespräche und wenig
medikamentöse Behandlung. Schizophrene Patienten
hingegen benötigen intensive Untersuchungen und permanente Betreuung und erfordern sehr viel mehr medizinisches Personal.
Die Verweildauer im Krankenhaus ist unterschiedlich
und hängt vom persönlichen Krankheitsverlauf ab. Die
Tagessätze werden unabhängig von der Leistung bezahlt
und unabhängig davon, wie intensiv die Betreuung ist.
Dies führt nicht nur zu Verwerfungen zwischen den
Krankenhäusern, sondern schlimmstenfalls sogar zum
Missbrauch durch übertrieben lange stationäre Behandlung. Als Psychotherapeut habe ich diese Entwicklung
seit vielen Jahren mit Sorge verfolgt. Zahllose Verbände
und Organisationen haben Vorschläge für Verbesserungen gemacht. Diese sind in den Entwurf eines PsychEntgeltgesetzes eingeflossen. Einrichtungen, die aufwendige Leistungen erbringen, sollen mehr Geld bekommen als solche, die weniger aufwendige Patienten
versorgen. Das Geld soll den Leistungen folgen.
({1})
Dazu ist es notwendig, tagesbezogene Entgelte einzuführen, die die Leistungen individuell widerspiegeln.
Die Vergleichbarkeit der Einrichtungen auf der Grundlage ihrer konkreten, jeweils notwendigen Leistungen
steigt. Für innovative Untersuchungs- und Behandlungsmethoden können individuelle Vereinbarungen geschlossen werden. Wichtig ist, dass die Kalkulation bundeseinheitlich möglich ist.
Meine Damen und Herren, viele Krankenhäuser befürchten, dass höhere Kosten auf sie zukommen. Sie befürchten eine Unübersichtlichkeit der Abrechnungen.
({2})
Dem beugt das Psych-Entgeltgesetz durch lange Übergangsphasen vor, die eine jeweils individuelle Anpassung ermöglichen. Vier Optionsjahre und fünf Jahre der
Konvergenzphase sind eine ausreichende Zeit, um das
System umfassend neu zu strukturieren.
Ein ganz besonderes Anliegen ist mir aber, dass nunmehr Modellversuche zu einer sektorübergreifenden Behandlung möglich werden. Manchen von Ihnen mag das
Hamburger Modell bekannt sein. Dies bedeutet: Krankenhäuser erhalten ein regionales Budget und können
selbst entscheiden, wie viele Patienten sie vollstationär,
teilstationär oder ambulant behandeln. Hierzu dienen die
Psychiatrischen Institutsambulanzen, die sogenannten
PIAs. Eine flexiblere, patientennahe Behandlung wird so
ermöglicht. Gleichzeitig wird die Möglichkeit verbessert, Patienten, die die PIAs nutzen, zum Beispiel einer
Psychotherapie zuzuführen. Auch Kooperationen mit
niedergelassenen Fachärzten sind möglich. So werden
niedergelassene Therapeuten mit ins Boot geholt.
Diesen Ansatz unterstütze ich uneingeschränkt; denn
er hat drei Konsequenzen: Zum Ersten liefert er einen
Anreiz, die Länge der stationären Behandlung zu verringern. Zum Zweiten führt er zu einer Kostenersparnis.
Und zum Dritten besteht eine gute Chance, durch die
Verzahnung der Komponenten bessere Behandlungsergebnisse zu erzielen.
Hiermit verbunden sind drei klare Anforderungen:
Eine gründliche Dokumentation ist erforderlich, um zwischen den Behandlungsmethoden gewichten zu können.
Notwendig ist eine Evaluation der sektorübergreifenden
Behandlung nach klaren Kriterien bis zum Ende der Einführungsphase 2022, um ihre Vorteile und Probleme zu
überprüfen. Schließlich fordern wir die Stärkung der Begleitforschung, um diesen Ansatz im Interesse einer stetig besseren Behandlung laufend analysieren zu können.
Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass viele Fachverbände nach wie vor der Ansicht sind, auch das neue
System bilde Leistungen nicht individuell genug ab. Außerdem bestünde die Gefahr, dass aufgrund der demografischen Entwicklung und der immer größeren Anzahl
von Menschen mit psychischen Störungen das gesamte
Finanzierungsvolumen unzureichend sei. Dem halte ich
entgegen: Irgendwann müssen wir mit Reformen anfangen. So, wie es bislang war, macht es keinen Sinn. Das
Psych-Entgeltgesetz etabliert ein offenes, lernendes System, in das Erfahrungen aus der Praxis integriert werden
können. Es wird höchste Zeit, ein Vergütungssystem zu
schaffen, das modernen Anforderungen entspricht.
({3})
Lassen Sie uns heute damit anfangen.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Erwin Lotter. - Nächste
Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Frau Dr. Martina Bunge. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Bunge.
({0})
Danke, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Ein neues Gesetz machen wir in der Regel,
wenn es Probleme gibt und Handlungsbedarf besteht.
Die Vergütung psychiatrischer und psychosomatischer
Leistungen in Krankenhäusern mag ein Problem sein,
weil sie individuell erfolgt und dadurch schwer vergleichbar ist; aber die wirklichen Probleme bei der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung liegen
unseres Erachtens ganz woanders.
Wir müssen zuerst an die Patientinnen und Patienten
denken. Das A und O dabei ist die Sicherstellung der
Versorgung in hoher Qualität.
({0})
Dafür wird genügend und gut qualifiziertes Personal in
den Kliniken gebraucht. Außerdem müssen die Barrieren zwischen den verschiedenen Versorgungsformen beseitigt werden. Psychisch Kranke brauchen eine gut abgestimmte, integrierte Versorgung.
({1})
Der vorliegende Gesetzentwurf leistet diesbezüglich
rein gar nichts. Er erschwert sogar eine gute Versorgung.
Der Gesetzentwurf ist ein trauriges Beispiel dafür, was
passiert, wenn man kein bisschen über den Tellerrand hinausschaut. Das ist, als würde man als Reaktion auf die
Erderwärmung die Produktion von Klimaanlagen fordern. Dadurch werden die Wohnungen zwar kühler, aber
es werden mehr Probleme geschaffen als gelöst.
Soll die Versorgung verbessert werden, müssen ambulante Praxen, Tageskliniken, Institutsambulanzen und
Krankenhäuser zusammen gedacht werden. Es gilt, ein
Vergütungssystem zu entwickeln, das Übergänge schafft
und die Zusammenarbeit erleichtert.
Wir müssen die Versorgung regional, den jeweiligen
Gegebenheiten entsprechend umsetzen. Wir müssen zum
Beispiel fragen: Wie krank sind die Menschen vor Ort?
Wie ist die Infrastruktur? Welche Versorgungsangebote
gibt es? Mit dem Gesetzentwurf soll allen das gleiche
Hemd übergestreift werden. Dieses Hemd wird einigen
bis zu den Füßen reichen und anderen nur bis zum
Bauchnabel.
Statt die Personalverordnung, die sogenannte Psych-PV,
zu modernisieren und so auszugestalten, dass Personalstandards für alle beteiligten Berufsgruppen festgeschrieben werden, wird Ihr Gesetzentwurf dafür sorgen, dass
die Kliniken letztlich noch weniger Personal zur Verfügung haben werden, als in der bestehenden Psych-PV
festgelegt ist.
({2})
Wir werden sehr wohl beobachten, was die Empfehlungen des G-BA - wann auch immer sie vorgelegt werden - bringen werden; Frau Staatssekretärin, Sie hatten
dies angesprochen. Wir denken, mit der Abschaffung der
Psych-PV wird das Personal als Einsparquelle erster
Ordnung freigegeben. Das ist unverantwortlich.
({3})
Durch den Gesetzentwurf wird damit sogar die bereits
erreichte Versorgungsqualität gefährdet.
Die weiterhin geltende unerträgliche Bindung der
Kostenentwicklung der Krankenhäuser an die Bruttolohnentwicklung führt zudem dazu, dass schon jetzt Personal in den Kliniken abgebaut werden muss, weil die
Kosten für Tariferhöhungen und die sonstigen Kosten
den Einnahmen davonlaufen. Wenn Sie die Bruttolohnbindung der Krankenkassen aufheben würden, könnten
Tarif- und Kostensteigerungen endlich ordentlich gegenfinanziert werden. Kommen Sie mir jetzt nicht mit dem
Argument, dass das Geld dafür fehlt. Würde der gesellschaftliche Reichtum anteilig für die Sozialsysteme zur
Verfügung gestellt werden, wie wir es im Zusammenhang mit unserer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
vorschlagen, hätten wir diese Finanzierungsprobleme
nicht.
({4})
In Ihrem Gesetzentwurf wird auch nicht berücksichtigt, dass die Zahl psychischer Erkrankungen zunimmt.
Frau Staatssekretärin, Sie haben es erwähnt, aber die Ursachen dafür sind Ihnen schleierhaft. Unsichere Arbeitsund Lebensverhältnisse, unsichere Zukunftschancen und
Ihre neoliberale Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftspolitik
tragen unseres Erachtens maßgeblich zu psychischen
Belastungen bei.
({5})
Die Folgen sollen allein die psychisch Kranken und die,
die sich um sie kümmern, tragen. Das kann nicht Ihr
Ernst sein.
({6})
Fazit: Der Gesetzentwurf bringt nichts Vernünftiges,
schadet aber. Folglich darf er nicht so bleiben, wie er
jetzt ist. Es ist unsere Aufgabe, ihn zu verändern. Ich
denke, wir alle müssen ordentlich daran mitarbeiten;
denn sonst wird das nichts.
Danke.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. - Nächste
Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Maria Klein-Schmeink. Bitte schön,
Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich würde
sagen: Der Gesetzentwurf hat nicht nur einen komplizierten Titel, sondern es handelt sich auch um eine sehr
komplizierte Materie. Es geht um ein neues Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen. Wer sich in die Tiefe der Paragrafen begeben
hat, hat schnell erkennen müssen, dass das alles nicht so
einfach zu verstehen ist und man sehr viele Voraussetzungen braucht, um überhaupt nachvollziehen zu können, was dort vorgeschlagen wird.
Nun konnte man nach der Einbringung davon ausgehen, dass wir einen angemessenen Vorschlag vorgelegt
bekommen haben. Es wird ein Zeitraum von zehn Jahren
für die Überführung in ein neues System vorgeschlagen;
dies ist ein langer Zeitraum. Die Bundesregierung erhebt
den Anspruch, einen Vorschlag für ein leistungsgerechtes und transparentes System für die Honorierung psychiatrischer Behandlung und Hilfestellung vorzulegen. In
dem Gesetzentwurf steht gleichzeitig: Wir wollen die
sektorenübergreifende Zusammenarbeit fördern. Ich
gehe davon aus, dass alle hier im Raum diese Ansprüche
unterstützen und sagen: Das ist das, was wir brauchen.
Wir müssen uns aber auch fragen: Wird dieser GesetzMaria Klein-Schmeink
entwurf diesem Anspruch eigentlich gerecht? Ich
glaube, da besteht deutlicher Nachbesserungsbedarf.
({0})
Diesen möchte ich Ihnen ein wenig erläutern. Es geht
darum, dass wir eine Errungenschaft zu verteidigen haben, nämlich die Personalstandards, die in der Psychiatrie-Personalverordnung seit 1991 gelten. Sie sind ein
hohes Gut und tatsächlich einer der Qualitätsfaktoren,
die wir in der psychiatrischen Versorgung im stationären
Bereich vorzuweisen haben. Deshalb ist es ausgesprochen wichtig, diese Standards in ein neues System zu
überführen.
({1})
- Genau. - Wir werden fragen müssen, ob dies gelingt.
Da sind Zweifel durchaus angebracht, weil wir im Vorlauf, als wir versucht haben, Kriterien abzuleiten, und als
das InEK versucht hat, Kriterien für Prozedurenschlüssel
zu entwickeln, gesehen haben, dass es nicht einfach ist,
den aufwendigen Bedarf gerade für die Schwersterkrankten abzubilden.
Diese Herausforderung ist noch nicht bewältigt. Wir
wissen aber, dass wir in diesem Herbst auf der Grundlage eines solchen Systems anfangen müssen, zu kalkulieren und ein Entgeltsystem für die Optionsphase vorauszusetzen. Diese wesentliche Klippe ist also noch
nicht genommen. Daran müssen wir noch arbeiten.
Wir wissen zudem eigentlich gar nicht, inwieweit die
Vorgaben der Psychiatrie-Personalverordnung in den
Krankenhäusern tatsächlich eingehalten werden. Auch
dazu liegen uns keine Daten vor, obwohl wir versucht
haben, sie zu erfragen. Das wird für die zukünftige Entwicklung allerdings ein ganz ausschlaggebender Punkt
sein, weil wir beim Istzustand ansetzen und davon ausgehend das pauschalierende System entwickeln.
Außerdem müssen wir den Besonderheiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie gerecht werden. Haben wir
hier die notwendigen Vorkehrungen getroffen? Ich
würde sagen: Dieser Gesetzentwurf erwähnt diese Besonderheiten nicht einmal. Hier müssen wir ansetzen,
und das müssen wir verändern.
({2})
Insofern gibt es großen Bedarf, genau hinzuschauen. Wir
sollten Zwischenschritte vorsehen und dieses lernende
System tatsächlich ernst nehmen. Ich hoffe, dass wir dies
im weiteren Gesetzgebungsverfahren in einem konstruktiven Dialog hinbekommen.
Ein weiterer ganz wichtiger Punkt sind die Modellvorhaben. Sie werden im Gesetzentwurf genannt. Auch
hier gilt: Keiner von uns wird sie nicht wollen; jeder
wird sie wollen. Wir wissen aber: Wir haben bereits entsprechende Erfahrungen gesammelt, zum Beispiel in der
integrierten Versorgung, ebenso aus Modellvorhaben mit
Regionalbudgets. Nur: Sind wir heute in der Lage, diese
Erfahrungen tatsächlich in die Fläche zu tragen? Nein.
({3})
Unterstützt das bisher entwickelte System die Zusammenarbeit über die Sektorengrenzen hinaus? Dafür haben wir noch keine Ansatzpunkte. All das muss noch
entwickelt werden, ist in diesem Gesetzentwurf aber
nicht angelegt. Von daher meinen wir: Es gibt noch deutlichen Nachsteuerungsbedarf. Die Grundlage ist ganz
okay; darauf kann man aufbauen. Aber es gibt, wie gesagt, deutlichen Nachbesserungsbedarf. Nicht nur die
Fachverbände haben diesen angemahnt,
Frau Kollegin.
- sondern auch der Bundesrat hat deutliche Hinweise
gegeben. Ich meine, der nächste wichtige Schritt muss
darin bestehen, dass wir dafür sorgen,
Frau Kollegin!
- die psychiatrische Versorgung, die psychosoziale
Versorgung, die psychotherapeutische Versorgung und
die fachärztliche Versorgung zusammenzubringen. Dies
wird auch weiterhin die große Herausforderung sein.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Lothar Riebsamen spricht für die CDU/
CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als wir die DRGs vor fast zehn Jahren, im
Jahre 2003, eingeführt haben, waren wir noch auf Vorlagen und Muster anderer Nationen angewiesen. Nun führen wir selbst ein leistungsorientiertes Vergütungssystem
auch im Bereich von Psychosomatik und Psychiatrie ein
und gehen weg vom bisherigen kostenorientierten Vergütungssystem.
({0})
Damit sind wir in diesem Bereich Vorreiter. Das unterscheidet die heutige Situation von der Situation von vor
zehn Jahren. Damit schaffen wir Transparenz und Qualität für die Patientinnen und Patienten. Das steht für uns
bei diesem Gesetz im Vordergrund.
({1})
Wir haben einen guten und richtigen Zeitpunkt gewählt, um dieses Thema anzugehen. Mittlerweile haben
wir seit fast zehn Jahren gute Erfahrungen mit den DRGs
gemacht - das bestätigt auch die Begleitforschung -,
auch wenn die Situation im Bereich der Psychiatrie ein
Stück weit anders zu beurteilen ist; das gebe ich zu. Es
gibt - das wurde heute bereits erwähnt - eine große Zahl
psychischer Erkrankungen. In den letzten zehn Jahren
war eine hohe Steigerungsrate zu beobachten. Außerdem
ist festzustellen - das räume ich ein; auch das wurde bereits gesagt -, dass zu viele Patienten im stationären Bereich untergebracht wurden. Das gilt auch im Vergleich
zu anderen europäischen Ländern. Deswegen ist es
wichtig - und das bringt dieser Gesetzentwurf zum Ausdruck -, sektorübergreifend und in Versorgungsnetzen
zu denken.
Es gab bisher schon entsprechende Modellvorhaben.
Krankenkassen und Krankenkassenverbände haben bereits in der Vergangenheit Verträge mit einzelnen Krankenhäusern abgeschlossen. Genau diese sektorübergreifende Versorgung werden wir mit diesem Gesetzentwurf
weiterentwickeln.
({2})
Hier sind wir auf einem guten Weg.
({3})
Was bedeutet mehr Transparenz für die Patienten?
Weil zukünftig eben nicht mehr die Selbstkosten im Vordergrund stehen, muss erstmals darüber nachgedacht
werden, wie die Strukturen aussehen. Sie müssen analysiert und optimiert werden, um eine Vergleichbarkeit
herzustellen; denn einen Patienten interessiert es nicht,
was ein Krankenhaus kostet, sondern einen Patienten interessiert es, was ein Krankenhaus kann. Deswegen ist es
richtig, dass das Geld zukünftig entsprechend der Leistung gezahlt wird. Die Krankenhäuser, die höherwertigere Leistungen erbringen, sollen zukünftig mehr Geld
bekommen als die Krankenhäuser, die weniger hochwertige Leistungen erbringen, und das ist gerecht.
Was bedeutet mehr Qualität? Der Gemeinsame Bundesausschuss wird damit beauftragt, bis spätestens zum
Jahr 2017, dem Beginn der Konvergenzphase, Qualitätskriterien zur Sicherung der Struktur-, Prozess und Ergebnisqualität zu benennen. Im Bereich der Strukturqualität
geht es um die Personalausstattung im therapeutischen
Bereich und um die Infrastruktur. Zur Prozessqualität ist
zu fragen: Welche Leistungen werden definiert? Welche
Ziele werden vereinbart? In Bezug auf die Ergebnisqualität geht es um die Fragen: Wie sieht die Zufriedenheit
der Patienten aus? Wie wird der Fortschritt der Behandlung gemessen? - Wie gesagt: Qualität und Transparenz
stehen für uns im Vordergrund.
Dieser Gesetzentwurf bietet aber auch noch andere
Möglichkeiten dafür, im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens im gesamten Krankenhausbereich nachzujustieren.
Die Krankenhäuser sind in einer teilweise schwierigen Situation: Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt
es immer mehr multimorbide Patienten in den Krankenhäusern, es gibt den medizinisch-technischen Fortschritt,
und die Tariferhöhungen werden voraussichtlich eine
große Belastung für die Krankenhäuser darstellen. Darüber hinaus kommen die Länder ihrer Verpflichtung, für
die Investitionen aufzukommen, in der Regel leider nicht
nach.
({4})
Dies hat zu einem großen Druck auf die Krankenhäuser geführt. Dieser Druck wird dadurch abgebaut, dass
Mehrleistungen erbracht werden. Die Betten werden gefüllt. Der Deutsche Bundestag hat dem mit dem Orientierungswert und mit den Mehrleistungsabschlägen
schon ein Stück weit entgegengewirkt. Der Orientierungswert gilt jedoch erst ab dem kommenden Jahr. Deswegen halte ich persönlich es für notwendig, dass wir für
das Jahr 2012 eine Übergangsregelung schaffen.
Ich schlage deshalb vor, die durchschnittlichen Auswirkungen der Tariferhöhungen anteilig auf die Landesbasisfallwerte anzurechnen und die Mehrleistungsabschläge - 30 Prozent für zwei Jahre fest - gesetzlich
festzuschreiben. Beides schafft Planungssicherheit für
die Krankenhäuser und bringt insbesondere den kleineren Krankenhäusern im ländlichen Raum besonders viel,
weil diese Krankenhäuser schon bisher nicht in der Lage
waren, fehlendes Geld durch Mehrleistungen in der
Weise zu kompensieren, wie dies größere Krankenhäuser konnten.
Wenn dieser Gesetzentwurf von seinem Titel her auch
recht nüchtern ist, so bietet er doch, wie aufgezeigt,
wichtige Weichenstellungen. Wir gehen dies mit Augenmaß an, indem die Einführungsphase mit dem Orientierungswert insgesamt vier Jahre dauert. Die ersten beiden
Jahre ist die Einführung optional. Weitere fünf Jahre
wird die Konvergenzphase dauern. Beides ist mit Anreizen unterlegt. Das ist vernünftig und schafft mehr Transparenz und Qualität in unseren Krankenhäusern.
({5})
Ich fordere Sie auf, am Gesetzgebungsverfahren konstruktiv mitzuwirken, um im psychiatrischen und im
psychosomatischen Bereich ein gutes Stück voranzukommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8986 an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Praxisgebühr abschaffen
- Drucksache 17/9031 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
ZP 5 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Evaluierung der Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht
- Drucksache 17/8722 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Dr. Gregor Gysi das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor acht
Jahren haben SPD und Grüne die Praxisgebühr - übrigens mit Zustimmung von Union und FDP - eingeführt.
({0})
Die Linken waren die Einzigen, die dagegen waren und
gesagt haben, dass das eine Belastung gerade der sozial
Schwächsten ist, die wir uns überhaupt nicht leisten können.
({1})
2006 hatte die Linke einen Gesetzentwurf zur Abschaffung eingebracht. Die SPD war dagegen - und jetzt
zitiere ich Ihnen die Begründung -, weil die unmittelbar
nach der Einführung der Praxisgebühr zu beobachtenden
sozialen Verzerrungen verschwunden seien. Eine Abschaffung der Praxisgebühr sei finanziell nicht darstellbar.
Die Grünen waren übrigens auch dagegen und begründeten es wie folgt: Sie sähen keinen Grund dafür,
die Praxisgebühr wieder abzuschaffen, weil es an negativen Belegen mangele.
({2})
Zudem fehle die Gegenfinanzierung.
Die FDP stimmte dagegen, weil man die Praxisgebühr nicht abschaffen könne, ohne gleichzeitig ein anderes Instrument der Kostenbeteiligung
({3})
zu schaffen. Ein FDPler hat sich im Ausschuss allerdings der Stimme enthalten, und zwar mit der Begründung, dass der bürokratische Aufwand und die damit
verbundenen Belastungen in den ärztlichen Praxen zu
groß seien. Er hat also nicht an die Patientinnen und Patienten gedacht. Aber immerhin!
({4})
Im Januar 2010 hat dann endlich auch Herr
Lauterbach die Abschaffung der Praxisgebühr gefordert.
Aber die SPD traute sich doch noch nicht, einen so gewaltigen, revolutionären Schritt zu unternehmen. Im
September 2011 haben wir erneut die Abschaffung beantragt, und auch dieses Mal lehnte die SPD ab, und zwar
mit der Begründung, das Ganze sei nicht zielführend. - Das
habe ich nie ganz verstanden.
Die Grünen wollten mit der Abschaffung der Praxisgebühr noch warten, bis endlich die Bürgerversicherung
durchgesetzt sei. Deshalb haben sie sich der Stimme enthalten. Aber immerhin war das schon einmal ein Fortschritt.
Union und FDP lehnten ab. Die FDP tat dies übrigens
wegen der befürchteten Mindereinnahmen für die Kassen.
({5})
Jetzt will auch die FDP den gesetzlich Versicherten ein
kleines Wahlkampfgeschenk machen
({6})
und ihnen diese 10 Euro pro Quartal erlassen. Dies
möchte sie nicht unbedingt aus sozialen Gründen, sondern wegen der schrecklichen Bürokratie für Ärztinnen
und Ärzte sowie Kassen.
Herr Kubicki, der FDP-Spitzenkandidat in SchleswigHolstein, startete sogar eine Unterschriftensammlung.
Ich dachte, ich spinne. Aber es ist okay.
({7})
Herr Lindner, der sich nun auch über die Bürokratie aufregt, startet in NRW ähnliche Initiativen.
Jetzt kommt aber die FDP und wirft uns, weil wir diesen Antrag stellen, vor, wir würden Wahlkampf machen.
Also, mehr Wahlkampf als den, den Sie machen, kann
man sich gar nicht vorstellen.
({8})
Ich sage Ihnen: Wir können heute sofort abstimmen.
Dann schaffen wir die Praxisgebühr ab. Die Kassen haben genug Geld. Das ist überhaupt kein Problem.
({9})
Stimmen Sie der sofortigen Abschaffung zu. Dann beweisen Sie, dass Sie es ehrlich meinen und dass es nicht
nur Wahlkampfgetöse ist.
({10})
Ich will Ihnen allerdings auch sagen, was ich nicht
mag: Wenn man als Bestandteil der Regierungskoalition
solche Forderungen stellt, dann gibt es ganz viele, die
sich die Hoffnung machen, dass das auch wirklich passiert. Aber die Union stimmt nicht zu, und das wissen
Sie auch. Also, verbreiten Sie keine falsche Hoffnung.
Oder Sie stehen es durch und stimmen jetzt für die Abschaffung dieser Praxisgebühr.
({11})
Im Übrigen: Wenn das Geld beim Bundesfinanzminister bleibt, dann landet es eh bei den Banken.
({12})
Insofern wäre es sehr viel besser, es den Versicherten zu
geben.
({13})
- Hören Sie zu. - Dass es keinerlei Steuerungswirkung
hat, hat sich inzwischen herumgesprochen. Weder hat
die Zahl der Arztbesuche abgenommen, noch hat es irgendetwas eingebracht.
Allerdings - das muss ich schon sagen - gibt es einzelne Betroffene, die deshalb nicht zum Arzt gegangen
sind oder den Arztbesuch verschoben haben. Ich habe es
Ihnen schon einmal erzählt: In meiner Anwaltssprechstunde war ein Mann, der hohes Fieber hatte. Ich habe
ihm gesagt, dass er zum Arzt gehen müsse; ich glaube,
es war der 27. Juni. Daraufhin sagte er zu mir, dass er
noch vier Tage warten wolle, um die Praxisgebühr nur
einmal zahlen zu müssen.
({14})
Das ist doch der Gipfel der Unverschämtheit! In einem
so reichen Land wie Deutschland muss doch jemand
zum Arzt gehen können, wenn er erkrankt ist.
({15})
Deshalb hoffe ich, dass auch bei der Union endlich
die Erleuchtung kommt und die Praxisgebühr abgeschafft wird, und zwar nicht nur vor, sondern auch nach
einer Wahl. Mal sehen, wie die FDP dazu in Zukunft stehen wird.
Danke schön.
({16})
Jens Spahn hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das war wieder eine Gysi-Show: unterhaltsam, viel Klamauk, aber im Endergebnis leider wenig Substanz. Deswegen ist das am Ende auch nicht überzeugend.
({0})
Dass Sie jetzt sagen, hier würden andere Wahlkampf
machen, während Sie wenige Tage vor der SaarlandWahl hier diesen Antrag durchdrücken, der auf der Tagesordnung gar nicht vorgesehen war, macht doch die
ganze Absicht, die dahintersteckt, deutlich: Klamauk,
Stimmungsmache, aber wenig Substanz.
({1})
Wissen Sie, gestern hat genau hier in diesem Plenarsaal in einer Debatte zu diesem Thema große Einigkeit
darüber bestanden, dass wir die gute finanzielle Lage der
gesetzlichen Krankenversicherung erst einmal dazu nutzen sollten, uns zu freuen.
({2})
Ich mache jetzt seit zehn Jahren Gesundheitspolitik. Wir
haben zum ersten Mal die Situation, dass wir nicht über
Defizite und Kostendämpfung im Gesundheitswesen reden, sondern dass wir erstmals aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung und aufgrund der Spargesetze
dieser Koalition Überschüsse im Gesundheitswesen haben.
Darüber hinaus war es gestern gemeinsame Überzeugung, zumindest von großen Teilen des Hauses, dass wir
angesichts dieser Überschüsse nicht übermütig werden,
sondern rücksichtsvoll, vorausschauend handeln sollten,
ahnend, dass diese Zeiten nicht immer so gut bleiben
müssen und wir diese Rücklage deswegen für schlechte
Zeiten behalten und sie nicht leichtfertig für Wahlkampfzwecke aufs Spiel setzen wollen.
({3})
- Das ist wieder einmal so typisch. In der vorherigen Debatte hat die Kollegin Bunge gesagt: Wir brauchen mehr
Geld für Krankenhäuser. Wir wollen, dass in diesen Bereich mehr Geld investiert wird. - Auch in der Haushaltsdebatte über das Gesundheitswesen stellen Sie sich
hier hin und sagen: Wir wollen, dass mehr Geld in die
Krankenhäuser investiert wird.
({4})
Dort soll zusätzliches Geld ausgegeben werden. - Dann
haben Sie schnell wieder einmal 1 Milliarde oder 2 Milliarden Euro eingeplant, die für die Prävention ausgegeben werden sollen. Links und rechts werden dann noch
ein paar Geschenke verteilt; denn man muss sich ja nicht
darum kümmern, woher das Geld kommt. Das fällt
schließlich vom Himmel. - Damit sind Sie immer
schnell dabei. Wie das allerdings langfristig sauber finanziert wird, ohne dass es dauerhaft zu wirtschaftlichen
und finanziellen Problemen kommt, sagen Sie an keiner
Stelle.
({5})
Das ist unredlich. Deswegen sind Sie es, die sich den
Wahlkampfvorwurf gefallen lassen müssen.
({6})
Wir jedenfalls sind der Überzeugung, dass den Patienten und den Versicherten in Deutschland am besten
gedient ist, wenn wir in dieser aktuellen guten finanziellen Situation nicht leichtfertig handeln, dass wir mittelJens Spahn
und langfristig eine solide Finanzpolitik machen und
deswegen mit diesen Überschüssen entsprechend umgehen.
Ein anderer Punkt. Sie haben gerade dankenswerterweise auch aus ehemaligen Positionen von Rot und Grün
zitiert, als wir die Praxisgebühr gemeinsam eingeführt
haben. Hinsichtlich der Steuerungswirkung können wir
gerne darüber reden, wie man sie besser gestaltet. Da
sind wir sofort dabei. Übrigens kann man auch bei dem
Thema Entbürokratisierung über vieles reden. Mich ärgert es bis heute, dass die deutsche Ärzteschaft nicht bereit ist, sich entsprechend einzubringen, etwa was die
Gesundheitskarte angeht, um die Abläufe in den Praxen
deutlich zu vereinfachen, indem die entsprechenden Vermerke auf der Karte gemacht werden können.
Aber es geht bei der Zuzahlung und bei der Praxisgebühr auch darum - ich weiß, dass Sie damit ein Problem
haben, aber uns jedenfalls ist das wichtig -, deutlich zu
machen, dass Gesundheit etwas wert ist, dass die gute
und flächendeckende Infrastruktur unseres Landes und
die gute Qualität in der medizinischen Versorgung am
Ende nicht umsonst ist, sondern dass sie einen Wert hat.
Wenn etwas einen Wert hat, gehört Geld dazu, hier in
Form der Praxisgebühr.
({7})
Jetzt sagen Sie: Möglicherweise können sich das
manche Menschen nicht leisten. - Dabei lassen Sie wie
immer einen Teil der Wahrheit weg. Sie wissen wie ich,
dass es Überforderungsklauseln gibt,
({8})
dass niemand mehr als 2 Prozent seines Einkommens für
Zuzahlungen und Praxisgebühr insgesamt ausgeben
muss, chronisch Kranke sogar nur 1 Prozent ihres Einkommens. Es ist einfache Mathematik, dass 1 Prozent
von einem niedrigen Einkommen weniger als 1 Prozent
von einem höheren Einkommen ist. Deswegen ist in der
ganzen Systematik der Zuzahlungen und Praxisgebühren
ein sozialer Ausgleich enthalten.
Niemand wird überfordert, aber am Ende haben wir
durch Zuzahlung, Eigenbeteiligung und Praxisgebühr
ein Zeichen gesetzt: Gesundheit ist etwas wert; sie ist
nicht umsonst. Die Infrastruktur bzw. die Möglichkeit,
diese Infrastruktur zu nutzen, ist etwas wert, und deswegen ist es insgesamt ein gutes und austariertes System.
({9})
Ich will noch etwas zu dem geschätzten Koalitionspartner sagen.
({10})
Es bleibt dabei - das habe ich gestern schon gesagt -:
Mich irritiert etwas, dass die Partei, die sonst an verschiedenen Stellen immer mehr Eigenbeteiligung und
mehr Zuzahlung fordert und über Kostenerstattung redet, jetzt ein eingeführtes und weitgehend akzeptiertes
Instrument der Zuzahlung und Kostenbeteiligung von
Versicherten ersatzlos infrage stellt. Wir sind ohne Zweifel - so steht es auch im Koalitionsvertrag - jederzeit bereit, über andere Verfahren und Modelle zu reden. Die
ersatzlose Abschaffung wäre aber ein falsches Signal.
Wir merken schon jetzt in der ganzen Debatte daran,
wie das Thema in den Medien und in der Öffentlichkeit
diskutiert wird, wie Sie gerade die Diskussion begonnen
haben und wie sie vermutlich in den nächsten 20 Minuten weitergeht, dass es an keiner Stelle wirklich um die
Sache geht. Am Ende geht es um Klamauk, Stimmung
und eine schnelle Überschrift, aber sicherlich nicht um
solide Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung
im Sinne der Versicherten.
({11})
Der Kollege Dr. Edgar Franke hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Gysi, grundsätzlich ist der Vorschlag, die
Praxisgebühr abzuschaffen, vernünftig und richtig.
({0})
- Klatschen Sie nicht zu früh! - Allerdings ist der Antrag ohne eine seriöse Gegenfinanzierung rein populistisch.
({1})
Herr Gysi, es ist richtig: Es ist einige wenige Monate
her, als wir einen fast deckungsgleichen Antrag der Linken beraten haben. Aber damals, im Oktober 2011, lautete der Titel des Antrags - ich habe ihn mitgebracht -:
„Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und Patienten entlasten“.
({2})
Heute wollen Sie nur die Praxisgebühr abschaffen.
({3})
Damals ging es um 5 Milliarden Euro, die sofort finanziert werden sollten. Ich frage mich: Wie sieht eine seriöse Gegenfinanzierung aus? Sie fehlt mir in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren.
({4})
- Bleiben Sie ganz ruhig.
Die Abschaffung ist vernünftig und richtig. Es gibt im
Wesentlichen drei Gründe für die Abschaffung. Darin
sind wir wieder einer Meinung, Herr Gysi.
({5})
Erstens. Die Praxisgebühr hat keine Steuerungsfunktion gehabt. Sie hat in der Tat als Steuerungsinstrument
versagt. Ziel bei der Einführung war die Vermeidung unnötiger Arztbesuche, damit nicht jeder bei kleineren Erkrankungen zum Arzt geht. Ziel war auch, den Menschen klarzumachen, dass Arztbesuche Geld kosten.
Die Praxisgebühr hatte - das wissen alle im Saal - anfangs Erfolg. Das ist heute nicht mehr der Fall. Ob es
jetzt 16, 17 oder 18 Arztbesuche pro Jahr sind,
({6})
ist ohne Belang. Die neuesten Statistiken besagen jedenfalls, dass die Steuerungswirkung entfallen ist. Im Gegenteil: Wir kennen viele Fälle aus der Praxis, dass Patientinnen und Patienten, wenn sie die Praxisgebühr
einmal im Quartal gezahlt haben, vielleicht noch öfter
zum Arzt gehen, und sei es, um die Frau im Spiegel oder
den aktuellen Fortsetzungsroman zu lesen.
({7})
Sie ist kein Steuerungsinstrument mehr, sondern in erster
Linie - das hat auch Herr Spahn gesagt - ein Finanzierungsinstrument.
Der zweite Grund, der für die Abschaffung der Praxisgebühr spricht, ist, dass sie vor allem Kranke und Einkommensschwache trifft und dass die Parität nicht gewahrt ist, weil sie allein von den Versicherten gezahlt
wird. Auch darin gebe ich Ihnen recht.
({8})
Der dritte Grund ist die Abschaffung der Bürokratie.
Denn die Praxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratieund Verwaltungskosten geführt. Das haben wir gestern
diskutiert. Heute war in den Medien von 300 Millionen
Euro Bürokratiekosten die Rede. Das ist eine beträchtliche Summe. Auch sie könnte man einsparen, wenn man
die Praxisgebühr abschafft.
Nun wird immer wieder behauptet - das haben auch
Sie, Herr Gysi, getan -, die Praxisgebühr sei von RotGrün und insbesondere von Ulla Schmidt eingeführt
worden.
({9})
Aber wie ist die Geschichte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wirklich gewesen? In der Tat
hatte Rot-Grün damals einen Gesetzentwurf in der Pipeline, der vorsah, Facharztbesuche mit einer Praxisgebühr
zu belegen. Ziel war es, die Gesundheitsversorgung effizienter zu machen und die Lotsenfunktion des Hausarztes zu stärken. Das waren unsere Gründe. Was haben Sie
im Vermittlungsausschuss gemacht? Ihr damaliger Verhandlungsführer Horst Seehofer wollte jeden Arztbesuch
mit einer Gebühr belegen. Die Praxisgebühr ist damals
als Kompromiss aus den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss herausgekommen. Es handelt sich also
nicht um eine Ulla-Schmidt-Gebühr, sondern eher um
eine Horst-Seehofer-Gebühr.
({10})
Herr Singhammer, Horst Seehofer hat damals am nächsten Morgen auf der Pressekonferenz gesagt, es sei die
schönste Nacht seines Lebens gewesen. Wenn das seine
schönste Nacht gewesen ist, dann möchte ich nicht wissen, wie seine schlimmsten Nächte aussehen.
({11})
Wie sieht - hören Sie bitte zu - die Gegenfinanzierung aus, Herr Gysi? Wir brauchen 2 Milliarden Euro
pro Jahr bzw. vielleicht nur 1,5 Milliarden Euro wegen
der Überforderungsklausel, die Herr Spahn vorhin zu
Recht angesprochen hat. Wir brauchen aber eine seriöse
Gegenfinanzierung. In Richtung der Koalition sage ich:
Man kann nicht alles so lassen, wie es ist. Denn was
würde passieren, wenn man die 20 Milliarden Euro an
Liquidität im System belassen würde? Sie würden sich
nur neue Beglückungsprogramme für Ihre Fachärzte
ausdenken, nichts weiter.
({12})
Wenn Sie solche Programme nicht auflegten, würden Sie
das Geld vielleicht Minister Schäuble geben, oder er
würde es sich holen. Wie heute zu lesen ist, muss er wieder mehr Schulden machen. Da ist ihm sicherlich jeder
Euro recht. Er würde auch die Euros aus dem Gesundheitsbereich nehmen. Da gebe ich Ihnen recht.
({13})
Ein paar konkrete Punkte zur Gegenfinanzierung. Wir
können die Gegenfinanzierung zunächst mithilfe der
Rücklagen in Höhe von 20 Milliarden Euro sicherstellen. Die entscheidenden Fragen lauten aber, wie lange
das reicht
({14})
und wie sich die Konjunktur entwickeln wird. Das sind
zwei entscheidende Punkte.
({15})
Aber, lieber Herr Spahn, bis 2013 wird es noch reichen.
Dann wird die SPD die Wahl gewinnen
({16})
und die Bürgerversicherung eingeführt. Dadurch werden
wir die Einnahmebasis verbreitern.
({17})
Wir werden die Einnahmen auch dadurch erhöhen, dass
wir die Parität wiederherstellen. Das heißt, alle zahlen in
ein System. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen nominell den gleichen Anteil. Wenn man das macht, erzielt
man höhere Einnahmen und verbreitert die Einnahmebasis. Dann sind solche Summen wie 2 Milliarden oder
1,5 Milliarden Euro ohne Weiteres gegenzufinanzieren.
Wir wollen des Weiteren die Position der Hausärzte
stärken. Eine hausarztzentrierte Versorgung steigert die
Wirtschaftlichkeit und verbessert die Versorgung und
vor allen Dingen deren Qualität. Auch hier sind Effizienzreserven zu heben.
Letztendlich sollte man nicht vergessen: Wenn wir
vom Einheitsbeitragssatz wegkommen und den Krankenkassen wieder Beitragsautonomie geben, dann können wir selber das System ein Stück weit refinanzieren.
Gerade die FDP müsste eigentlich dafür sein, den Krankenkassen die Beitragsautonomie zurückzugeben. Dann
würden die Krankenkassen untereinander wieder im
Wettbewerb stehen.
({18})
Der momentan geltende Einheitsbeitragssatz hat zur
Folge, dass kein Wettbewerb zwischen den Krankenkassen stattfindet. Darüber sollte gerade die FDP nachdenken. Das kann sicherlich nicht schaden.
Herr Gysi, insgesamt handelt es sich bei der Vorlage
Ihrer Fraktion um einen populistischen Antrag der Linken, um einen Antrag, der nicht ganz zu Ende gedacht
ist. Jetzt kommt es darauf an, aus einem populistischen
Gedanken einen populären und ausgereiften Antrag zu
machen. Das erwarten die Menschen von uns zu Recht.
Sie müssen noch zwei Wochen warten. Dann kommt der
Antrag der SPD.
Ich danke Ihnen.
({19})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Lars
Lindemann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten bereits gestern in der Aktuellen Stunde auf Initiative der
SPD Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten, wie wir
mit den Überschüssen in der gesetzlichen Krankenversicherung umgehen. Da wurde vieles gesagt, und es
wurde vieles vorgeschlagen. Heute debattieren wir einen
Antrag der Linken, in dem Sie, sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, das aufnehmen, was die
FDP seit längerer Zeit geschlossen fordert, nämlich die
Abschaffung der Praxisgebühr.
({0})
- Warten Sie doch erst einmal ab.
Lassen Sie mich aber zunächst einmal zu dem Hintergrund kommen, vor dem wir diesen Antrag hier und
heute debattieren. Die schwarz-gelbe Koalition hat 2009
die Regierung übernommen, und wir standen damals vor
heftigen Herausforderungen. Es drohte unter anderem
ein Defizit von 11 Milliarden Euro im GKV-System. Da
nützt es wenig, lieber Kollege Franke, wenn Sie, wie
gestern, Zahlen aus dem BMG durch die Reihen reichen
und auf vermeintliche Rücklagen zum damaligen Zeitpunkt hinweisen. Es ging damals darum, was der GKV
bei unveränderter Fortsetzung dessen, was Sie bis dahin
gesundheitspolitisch geleistet hatten, gedroht hätte. Darum ging es am gestrigen Tag.
Es ist auch nicht redlich, den damals bevorstehenden
Einbruch heute in Abrede zu stellen. Kollege
Lauterbach, der übrigens der lauteste Rufer in der von
Ihnen zu verantwortenden gesundheitspolitischen Wüste
war, hat damals vor dem Hintergrund des drohenden Defizits die Regierung wegen Untätigkeit kritisiert. Um
Ihre Unterstellung, dies sei alles nicht so gewesen, ein
für alle Mal zu widerlegen, darf ich mit Genehmigung
der Präsidentin aus Drucksache 17/1201 zitieren:
Für das Jahr 2011 gehen vorsichtige Schätzungen
von einem Defizit in Höhe von mindestens 11 Mrd.
Euro aus.
Lieber Kollege Franke, damit dürfte diese Diskussion
auch beendet sein.
({1})
Sie, Frau Bunge, haben vor diesem Hintergrund im
Dezember 2009 erklärt, die schwarz-gelbe Regierung
schaue zu, wie die gesetzliche Krankenversicherung vor
die Wand fahre. Diese Wand aus rund 20 Milliarden
Euro, liebe Frau Kollegin, welche die gesetzliche Krankenversicherung heute stabil hält, ist ganz sicher nicht
das schlechteste Ergebnis christlich-liberaler Politik.
Frau Pfeiffer vom GKV-Spitzenverband warnte damals vor Ausgabensteigerungen ins Uferlose. Lieber
Kollege Franke, Sie wollen ja ganz sicher nicht unterstellen, dass Frau Pfeiffer solche Szenarien grundlos an
die Wand malt.
Was hat die christlich-liberale Koalition tatsächlich
getan?
({2})
Was hat zu der heutigen, überaus positiven Situation geführt, dass wir überhaupt Spielräume haben, um über
Korrekturen in dem System nachdenken zu können?
Die Koalition hat sich darangemacht, das System auf
der Finanzierungsseite neu zu ordnen. Das war der erste
Beitrag zu stabilen Verhältnissen. Sodann haben wir uns
rasch der Ausgabenseite zugewandt. Insbesondere im
Arzneimittelbereich haben wir uns den Herausforderungen gestellt, vor denen Sie leider immer wieder weggelaufen sind. Wir haben uns des Grundproblems des Arzneimittelbereichs angenommen und mit dem AMNOG
nicht nur eine Nutzenbewertung in das System einge19934
führt, sondern darüber hinaus die Preisbildung wieder
auf den Boden der sozialen Marktwirtschaft geholt. Jetzt
wird über die Preise von Arzneimitteln vernünftig verhandelt. Dies war ein klares Bekenntnis der christlichliberalen Koalition zur sozialen Marktwirtschaft auch im
Gesundheitsbereich.
Ich weiß, dass Ihnen das wehtut, dass Sie um solche
Fragen gerne einen Bogen machen. Deswegen will ich
die Menschen in diesem Land gerne noch einmal daran
erinnern, was Gerhard Schröder - das ist, auch wenn Sie
das ebenfalls nicht mehr hören wollen, der mit der
Agenda 2010 - damals gemacht hat. Es war der Kanzler
der SPD, der, wie man das als ordentlicher Sozialist
macht, die Pharmaindustrie zum Rotwein ins Kanzleramt einbestellt und sich dann zu einer netten und an den
bescheidenen Wünschen des Gastes orientierten Zahlung
verpflichtet hat.
({3})
Ich nenne das einen verantwortungslosen Ablasshandel,
meine sehr geehrten Kollegen von der SPD.
({4})
Das ist im Übrigen auch der Gerhard Schröder, der in
seiner Regierungszeit mit Ihnen, liebe Kollegen von den
Grünen, jede Woche mit der Vertrauensfrage gedroht
und sie dann auch zweimal gestellt hat.
({5})
Diese christlich-liberale Koalition hat bisher zweieinhalb Jahre solide Gesundheitspolitik gemacht und damit
zunächst einmal die Grundlage und die Freiräume für die
heutige Diskussion geschaffen. Nun halten Sie uns mit
Blick auf diese solide Situation vor, es gebe in der christlich-liberalen Koalition Streit über die Frage, wie mit der
Praxisgebühr umzugehen ist. Ich bitte Sie, gerade Sie
von den Grünen und der SPD. Sie haben sich wegen so
fundamentaler Fragen wie dem Dosenpfand fast zerlegt.
Deswegen glaube ich nicht, dass gerade wir von Ihnen
irgendwelche Vorhaltungen entgegenzunehmen brauchen.
Ich bekenne hier ausdrücklich: Wir von der FDP sind
geschlossen für die Abschaffung der Praxisgebühr,
({6})
die keine Steuerungswirkung hat und deren Funktion
sich derzeit allein auf die Einnahmeerhöhung im System
und bürokratische Auswüchse beschränkt. Wenn es denn
aber in den Reihen unseres Koalitionspartners Vorstellungen gibt, die Praxisgebühr beizubehalten, weil ihr
eine neue Steuerungswirkung beigelegt werden soll, die
zu höherer Eigenverantwortung und so tatsächlich zu
verantwortungsvollerem Umgang mit den begrenzten
Ressourcen im System führt, dann werden wir darüber
selbstverständlich mit der Union sprechen. Im Laufe solcher Gespräche brauchen wir aber weder Belehrungen
von der Opposition noch Anträge wie diesen zur Sofortabstimmung, den wir selbstverständlich ablehnen werden. Es wird bei der Frage des Umgang mit der Praxisgebühr eine Lösung geben, die allen gesetzlich
Versicherten in diesem Land nützen wird. Das ist das
Credo der gemeinsamen Politik mit der Union.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Dr. Harald Terpe hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Krankenkassenbeiträge sind das Geld der Versicherten,
die meines Erachtens einen Anspruch auf verantwortungsvollen und zweckdienlichen Umgang mit diesen
Beiträgen haben. Es bedarf also guter Gründe im Falle
kumulierender Überschüsse, diese den Versicherten vorzuenthalten.
Ja, wir haben Überschüsse, vor allem weil die Versicherten mit dem höchsten Einheitsbeitrag der Geschichte
in Vorleistung gegangen sind
({0})
und weil die konjunkturelle Entwicklung in der letzten
Zeit günstig verlaufen ist. Ist diese Entwicklung aber
nachhaltig? Das ist doch die Frage. Zumindest wissen
wir, dass die Finanzierung der Sozialsysteme mit dem
Konjunkturverlauf atmet, wir wissen aber auch, dass sie
vor allem nachhaltig ausgestattet werden muss. Das System der Zusatzbeiträge, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union und der FDP, ist alles andere als nachhaltig, und zwar besonders deshalb, weil es das Solidarprinzip aushöhlt.
({1})
Aber Überlegungen nach Art der Redewendung „Der
kluge Mensch baut vor“ gehören für uns natürlich auch
zur nachhaltigen Betrachtung. Wir kommen nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss, dass es Spielraum
für die Abschaffung der Praxisgebühr gibt. Man könnte
jetzt sagen, damit wäre die Sache zu Ende, aber wir wollen uns noch mit der FDP beschäftigen.
({2})
Das werden wir gleich machen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Praxisgebühr 2004 beschlossen wurde
und die zugedachte Funktion nicht erfüllt hat. Das haben
viele hier schon gesagt. Sie gehört deshalb abgeschafft.
Für uns ist es wichtig, die dadurch entstehenden Einnahmeausfälle der Krankenkassen durch den Gesundheitsfonds auszugleichen oder besser noch durch den Beitragssatzwettbewerb der Krankenkassen, den wir gerne
wieder einführen wollen.
Die Kolleginnen und Kollegen der FDP haben voller
Überzeugung gesagt, nichts lieber machen zu wollen, als
die Praxisgebühr abzuschaffen. Das ist gestern und heute
noch einmal gesagt worden. Somit könnte der heutige
Tag für Sie ein guter Tag werden. Sie könnten gemeinsam mit uns hier und jetzt für die Abschaffung der Praxisgebühr stimmen.
({3})
Dann würden wir sehen, ob es sich nur um ein Schauspiel handelt oder ob es wirklich Ihr Wille ist. Sie waren
jedenfalls schon 2004 nicht diejenigen, die sich vehement gegen die Praxisgebühr gewendet haben. Vielmehr
hatte Ihr damaliger Diskutant Herr Gerhardt Ihre Gesundheitspolitik hier begründet. Sein Konzept bestand
im Wesentlichen darin, dass er die gesetzliche Krankenversicherung durch eine kapitalgedeckte Privatversicherung ersetzen wollte und dass er die Beschränkung des
Leistungskatalogs der solidarischen Krankenversicherung gefordert hat.
({4})
Warum sammeln Sie nicht einfach dafür Unterschriften
in Kiel, Neumünster und Lübeck? Ich wäre gespannt,
wie die Menschen auf der Straße damit umgehen würden.
({5})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
ich glaube, es geht Ihnen gar nicht darum, für die Patienten etwas Gutes zu tun oder vielleicht die Versicherten
zu entlasten. Dieser Eindruck drängt sich mir auch deswegen auf, weil zur gleichen Zeit, in der Sie in Schleswig-Holstein Unterschriften für die Abschaffung der
Praxisgebühr sammeln, Ihr Gesundheitsminister in Berlin ein Kompensationsgeschäft mit dem Finanzminister
eingeht. Finanzminister Schäuble darf den steuerlichen
Sozialausgleich einsammeln,
({6})
im Gegenzug erhält Ihr Minister 200 Millionen Euro für
seine Idee einer privaten Pflegezusatzversicherung. Die
gesetzlich Versicherten bezahlen also letztlich mit ihren
Zusatzbeiträgen dieses Geschenk der FDP an die privaten Versicherungsunternehmen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben jetzt gleich die Möglichkeit, sich zu beweisen und
das Schmierentheater zu beenden, indem Sie mit uns zusammen für die Abschaffung der Praxisgebühr stimmen.
Geben Sie sich einen Ruck! Dann müssen Sie auch nicht
auf den Straßen von Schleswig-Holstein herumstehen
und Unterschriften sammeln.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht unser Kollege
Stephan Stracke.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Präsidentin! Diese christlich-liberale Koalition und die
Gesundheitspolitik der christlich-liberalen Koalition
sind erfolgreich,
({0})
so erfolgreich, dass es schon wieder Begehrlichkeiten
aus den unterschiedlichsten Bereichen gibt,
({1})
sei es aus dem Bereich der Pharmaindustrie, die den verschärften Zwangsrabatt wieder abmildern möchte, sei es
aus der Ärzteschaft, sei es aus dem Bereich der Krankenhäuser oder sei es auch aus der Politik. Vor allem von
den Linken
({2})
kommen ja immer wieder Vorschläge, wie man das Geld
möglichst gut ausgeben könnte.
Die Gesundheitspolitik unserer christlich-liberalen
Koalition zeichnet sich zunächst einmal durch solide Finanzen aus.
({3})
Das ist alles andere als selbstverständlich. Wir erinnern
uns ja, einige wahrscheinlich etwas düsterer, daran, dass
für 2011 ein Defizit von bis zu 11 Milliarden Euro prognostiziert wurde. Dieses prognostizierte Defizit haben
wir nun in Überschüsse in Höhe von über 20 Milliarden
Euro gewandelt.
({4})
Das ist der Erfolg der christlich-liberalen Koalition und
ihrer Gesundheitspolitik.
({5})
Statt Defizite, wie es beispielsweise 2003 bei RotGrün mit 8 Milliarden Euro der Fall war, haben wir nun
Überschüsse.
({6})
Das tut Deutschland gut, und das tut den Versicherten
gut.
({7})
Das ist natürlich Anlass zur Freude, weil die Versicherten wissen: Mit einer soliden Finanzpolitik gerade in der
gesetzlichen Krankenversicherung stellen wir sicher,
({8})
dass unser hervorragendes Gesundheitssystem auch in
Zukunft gut sein wird. Genau das ist das Entscheidende
für die Patienten.
Jetzt gilt es, klar und überlegt zu handeln. Da hat ja
die SPD - Herr Franke hat ja gerade vorher gesprochen entsprechenden Diskussionsbedarf in den eigenen Reihen. Sie sagt, sie könne jetzt dem Antrag der Linken nur
sehr schwer folgen, es komme ein eigener Antrag der
SPD. Ich bin einmal gespannt, ob der mit Substanz unterlegt ist.
Zum Ersten gehen Sie irrtümlich davon aus, dass Sie
2013 an der Regierung sein werden. Das wird nicht der
Fall sein, sondern diese christlich-liberale Koalition wird
ihre erfolgreiche Politik zum Wohle Deutschlands fortführen. Davon können Sie ganz sicher ausgehen.
({9})
Zum Zweiten haben Sie keinen Vorschlag gemacht,
wie Sie die Abschaffung der Praxisgebühr seriös finanzieren wollen. Keinen einzigen Vorschlag! Deswegen
muss man sich vor Augen halten: 2 Milliarden Euro tragen zwar für zwei Jahre, aber nicht länger. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich wieder um diese Hand-inden-Mund-Politik, wie sie die Roten am liebsten machen, von den Kommunisten ganz zu schweigen. Deswegen gehen wir diesen Weg nicht mit.
Wir setzen auf eine solide Politik, weil wir genau wissen, dass die Reserve über einen Zeitraum von zwei Jahren hinaus nicht reichen wird. Deshalb können wir keine
andere Position vertreten. Unsere kluge Finanzpolitik in
der gesetzlichen Krankenversicherung zeichnet sich dadurch aus, dass wir Ruhe bewahren und Gelassenheit an
den Tag legen. Wir lassen zunächst einmal dieses Geld
bei uns.
({10})
Ein Familienvater würde genauso entscheiden. Würde
er ein angespartes Guthaben auf den Kopf hauen, wenn
er absehen kann, dass Ausgaben in der Zukunft anstehen? Vermutlich. So würde Ihre Antwort lauten. Aber
wenn Sie an seiner Stelle wären, würden Sie sich ganz
anders entscheiden. Oder nehmen Sie einen Vorsitzenden, dessen Verein gut gewirtschaftet hat und der durch
Vertragsverlängerungen, die in der Zukunft anstehen, die
Spieler seiner Mannschaft halten möchte. Wird er die
überschüssigen Einnahmen in Form von niedrigeren Ticketpreisen sofort weitergeben? Nein, das wird vermutlich nicht geschehen. Genauso handeln wir in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Was das Gesundheitsministerium feststellt, ist doch
richtig, nämlich dass mit 5 Milliarden Euro ein ökonomisch sinnvoller Puffer für ein nachhaltig finanziertes
Krankenversicherungssystem nicht erreicht ist. Ich darf
daran erinnern: 5 Milliarden Euro Puffer sind in zehn Tagen aufgebraucht. Ist das wirklich nachhaltig? Kann man
guten Gewissens einem Abbau dieses Puffers zustimmen? Wir sagen, nein. Nach unserer Auffassung ist es
der richtige Weg, zunächst einmal das Pulver trockenzuhalten und klug und überlegt zu handeln. In diesem
Sinne empfehle ich die Ablehnung des Antrags der Linken.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zum Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/9031 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen“. Die Fraktion Die Linke wünscht Abstimmung in der Sache, die Fraktionen von CDU/CSU
und FDP wünschen Überweisung an den Ausschuss für
Gesundheit. Die Abstimmung über die Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute
über den Antrag auf Drucksache 17/9031 nicht ab.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8722 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ewa Klamt,
Albert Rupprecht ({1}), Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter
Röhlinger, Dr. Martin Neumann ({2}), Sylvia
Canel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung
- Drucksachen 17/6504, 17/9024 Berichterstattung:
Abgeordnete Ewa Klamt
Dr. Peter Röhlinger
Krista Sager
Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Thomas Rachel das Wort für die Bundesregierung.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir erleben derzeit ein kontinuierliches
weltweites Wachstum der Bevölkerung. Schon mehr als
7 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Diese Menschen brauchen eine gesicherte und vielfältige Ernährung. Das erfordert eine ausreichende Produktion und
eine gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln.
Die Produktion der Nahrungsmittel wird zunehmend
von klimatischen Veränderungen beeinflusst. Wichtige
Ressourcen wie beispielsweise die Böden erodieren, und
Anbauflächen werden knapper. Eine der Auswirkungen
sind stark schwankende Preise auf den internationalen
Agrarmärkten. Dies trifft häufig die Ärmsten am stärksten.
Ernährungssicherheit für alle Menschen heißt auch,
einen tatsächlichen Zugang zu Lebensmitteln zu haben.
Dazu kann und will die Forschung einen Beitrag leisten
und sich in den Dienst der Gesellschaft stellen. So wird
zum Beispiel in der „Nationalen Forschungsstrategie
BioÖkonomie 2030“ der Bundesregierung die wichtige
Aufgabe, die weltweite Ernährung zu sichern, als eines
von fünf Handlungsfeldern genannt. Ein Beispiel ist die
Verbesserung des Saatguts. Wir unterstützen die Pflanzenzüchtungen. Erträge konnten gesteigert werden, die
Qualität und die Widerstandsfähigkeit der Pflanzen
konnten verbessert werden. Wir wollen Pflanzen mit hoher Resistenz gegen Stress entwickeln.
Aber Pflanzenzüchtung ist nur ein Aspekt. So vielfältig die Ursachen für eine Mangel- und Fehlernährung
sind, so vielfältig müssen auch die Lösungsansätze sein.
Wir brauchen unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen. Wir wollen, dass die Ergebnisse von den Bäuerinnen und Bauern in ihrem Lebensalltag umgesetzt
werden können. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen mit einbezogen werden. Deshalb brauchen wir stärkere Brücken zwischen naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung.
({0})
Weitere Themen sind die ökologische Graslandwirtschaft, die Vermeidung von Nachernteverlusten und die
Biodiversität von Agrarflächen.
Die „Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie
2030“ hat zum Ziel, ressourcenintensive und umweltbelastende Verfahren durch nachhaltige biologische Prozesse abzulösen. Bei der Frage, ob Biomasse in den Tank
oder auf den Teller gehört, will die Forschung Signale
setzen.
Das BMBF hat die Förderinitiative „Globale Ernährungssicherung - GlobE“ entwickelt. Wer sich die Welthungerkarte des Jahres 2011 ansieht, der erkennt, dass
die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln in Afrika am
schlimmsten ist. In Teilen von Afrika sind rund 35 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Aufgrund dieser
ganz besonderen Betroffenheit wurde der afrikanische
Kontinent auch regionaler Schwerpunkt für die Förderaktivitäten des BMBF.
Drei Punkte der Initiative möchte ich herausheben.
Erstens: Partnerschaftlichkeit und regionale Anpassung. Wir wollen eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen deutschen und afrikanischen Forscherinnen und Forschern bei der Analyse und der Auswahl des
Forschungsansatzes. Wir wollen, dass Wahlfreiheit über
die geeigneten Methoden und Verfahren gewährleistet
wird. Die Entscheidung sollte nicht von außen bestimmt
werden, sondern sie sollte im Einklang mit den regionalen Bedürfnissen und Strategien getroffen werden; denn
Forschungsergebnisse entfalten ihre Wirksamkeit nur
dort, wo sie tatsächlich aufgegriffen und in der Praxis
umgesetzt werden. Wir wollen die aktive Beteiligung
vor Ort.
({1})
Zweitens: systemische Orientierung. Bei dem weltweiten Nahrungssystem haben wir es mit vielen Faktoren zu tun: Boden, Anbauweise, Lagerung, soziale
Strukturen, Vermarktung und nicht zuletzt klimatische
Faktoren. Das System beginnt beim Mikroorganismus,
der die Bodenfruchtbarkeit reguliert, und geht bis zu den
globalen Handelssystemen, welche die Agrarpreise mitbestimmen. Wir müssen insofern die Komplexität der
Nahrungssysteme in den Blick nehmen. Dafür ist eine
ganzheitliche Systembetrachtung erforderlich. Wir gehen insofern über die Empfehlungen des Berichts des
TAB „Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems - Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung“ hinaus.
Drittens: Ressortzusammenarbeit. Wir wollen in der
Bundesregierung interdisziplinär zusammenarbeiten. Im
Ressortkreis „Welternährung“ arbeiten das Bundeslandwirtschaftsministerium - ich sehe hier den Kollegen
Staatssekretär Gerd Müller -, das BMZ und das BMBF
bei der Verzahnung der gemeinsamen Förderinstrumente
in der internationalen Agrarforschung zusammen. Diese
gute Zusammenarbeit ist die Grundlage für den Wissenstransfer in die Praxis vor Ort.
({2})
In der „Strategie der Bundesregierung zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung“ haben wir
die Zusammenarbeit mit Schwellen- und Entwicklungsländern im Sinne einer globalen Verantwortung in den
Mittelpunkt gestellt. Das Forschungsministerium unterstützt unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ den Aufbau von Kompetenzzentren „Klimawandel und angepasstes Landmanagement in Afrika“.
Im Februar hat das BMBF Kooperationsverträge mit
zehn westafrikanischen Ländern geschlossen und eine
Kooperation auf Augenhöhe vereinbart. Deutsche Wissenschaftler erforschen mit afrikanischen Wissenschaftlern die örtlichen Auswirkungen des Klimawandels und
erarbeiten konkrete Maßnahmen zum Umgang mit dem
Klimawandel. Für dieses Zentrum und ein vergleichbares Zentrum im südlichen Afrika, dessen Kooperationsvertrag Frau Ministerin Schavan im April unterschreiben
wird, wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung 100 Millionen Euro bereitstellen.
({3})
Sie sehen: Mit diesen ganz unterschiedlichen Ansätzen begegnen wir dem Problem der Welternährung. Forschung kann und muss einen wesentlichen Beitrag zu einer verbesserten Ernährungssituation weltweit leisten.
Herzlichen Dank.
({4})
René Röspel hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich darf vorab sagen: Wir sind froh, dass die Koalition einen Antrag zum Thema „Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung“ vorlegt. Mir ist zwar
nicht ganz klar, warum die Bundesregierung mit der Diskussion über einen solchen Antrag beginnt, aber vielleicht ergibt sich das ja im weiteren Verlauf der Debatte.
Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass die Welternährung im Sinne der Solidarität auch in der Ersten
und in der Zweiten Welt eine der Hauptaufgaben ist. Wir
sind uns allerdings nicht darüber einig - das waren wir
auch in den letzten Jahren nicht -, wie der Weg dahin beschritten werden sollte, die Welternährung sicherzustellen und den Hunger weltweit zu bekämpfen.
Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren. Sie schreiben:
Durch Forschung und Wissenstransfer muss die
Wissenschaft zum Aufbau funktionierender, an veränderte klimatische Bedingungen angepasste Ernährungssysteme in den von Hunger betroffenen
Regionen beitragen …
Und:
Produktionssteigerung und Nachernteverluste müssen
auch unter Einbeziehung neuer Technologien verstärkt von der Forschung aufgegriffen werden. Diese
neuen Technologien sind notwendig, um modernes
Saatgut, Pflanzenschutz und Düngemittel zu entwickeln … Die Chancen der Grünen Gentechnik …
sollten genutzt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wir finden Ihre Zielsetzung, die Welternährung sicherzustellen, richtig. Wir haben in Ihrem Antrag
auch einige Sätze gefunden, die wir im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung unterstützen können. Aber die
Sprache Ihres Antrags - in ähnlicher Weise hat sich vorhin auch der Staatssekretär für die Bundesregierung geäußert - lässt uns leider vermuten, dass es bei den Fraktionen von FDP und CDU/CSU möglicherweise einen
Rückfall in die Zeiten und in den Duktus der letzten
Jahre gegeben hat. Wir haben häufig genug Anträge diskutiert, wie wichtig denn die Grüne Gentechnik zur
Rettung der Welternährung und zur Bekämpfung des
Hungers sei. Vielleicht war das ein Beitrag der Bundesregierung, noch einmal hervorzuheben, dass wir durch
eine Verbesserung des Saatguts zur weltweiten Ernährung beitragen könnten.
Herr Staatssekretär, im Zusammenhang mit der Forschungsstrategie BioÖkonomie spiegelt die Zusammensetzung des BioÖkonomieRats - also eines wesentlichen
Gremiums - nicht die Intention wider, etwas für den
ökologischen Landbau, für Entwicklungspolitik zu machen. Ich habe gar nichts gegen die Personen, aber der
Rat setzt sich zusammen aus den Vertretern der großen
Konzerne und den Vertretern der wissenschaftlichen Institutionen. Dort ist man mit Technik oder Biologie befasst, aber nicht mit Sozialwissenschaften, und damit
nicht mit der Welternährung im engeren Sinn. Genau das
ist unser Kritikpunkt.
({0})
Die Sprache in dem Antrag suggeriert: Wir als westliche
Welt entwickeln die Technologie und die Methoden.
Diese geben wir dann der Dritten Welt, damit sie dort
Anwendung finden. Das ist der falsche Weg.
({1})
Im Ausschuss - leider nicht hier - haben wir den Antrag gemeinsam mit dem Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beraten, den Sie zwar auch erwähnen
- Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems -,
in den Sie aber, glaube ich, nicht hineingeschaut haben.
({2})
Denn daraus ergeben sich andere Schlussfolgerungen und
andere Wahrnehmungen. Ich will es plakativ sagen: Im
TAB-Bericht steht: 1 Milliarde Menschen auf der Welt
leidet Hunger. 1 Milliarde Menschen auf der Welt ist
übergewichtig und fehlernährt. Das kann man natürlich
nicht pauschal saldieren, aber es zeigt einen Kernpunkt,
der auch im Bericht erwähnt wird: Seit Jahrzehnten gibt
es eine weltweite Überproduktion von Nahrungsmitteln.
Wenn wir über ein Welternährungsproblem reden, reden
wir nicht über ein Mangelproblem, sondern wir reden
über ein Armutsproblem und in erster Linie über ein Verteilungsproblem.
({3})
Wir sind in der Lage, genügend Nahrungsmittel zu
produzieren, und zwar für alle Menschen auf dieser Welt
und noch viel mehr. Wir schaffen es aber nicht, die Ernährung sicherzustellen, weil die Verteilung nicht funktioniert. Die Lösung dieses Problems wird man sicherlich nicht in erster Linie über Technikansätze finden,
sondern über gesellschaftliche und politische Ansätze.
Dazu braucht man eben auch zum Beispiel die Sozialwissenschaften.
Sie hätten in den TAB-Bericht schauen sollen. Es gibt
im Antrag einige Ansatzpunkte, die vernünftig sind.
Aber es wird zum Beispiel auch gefordert, dass die
Grundnahrungspflanzen Mais, Reis, Weizen und Soja in
den Blick genommen werden sollen. Das sind genau die
Pflanzen, bei denen in der Regel weltweit die Gentechnik genutzt wird. Im Bericht des TAB - ein sehr differenzierter, guter Bericht - finden Sie ein ganzes Kapitel
über sogenannte vernachlässigte Kulturpflanzen. Das
sind diejenigen Pflanzen, die in den betroffenen Regionen existieren, die nicht nur an die geografischen Standorte angepasst sind, sondern auch - das ist eigentlich viel
wichtiger - an die dortigen sozioökonomischen Verhältnisse; das heißt, die Bauern haben jahrhundertelang gelernt, mit diesen Pflanzen umzugehen. Jetzt kommt - etwas verkürzt gesagt - das neue Saatgut, die neuen
westlichen Hightechpflanzen, und sollen die Rettung
bringen. Es wäre sinnvoll, zu erforschen - es gibt in diesem Bereich einen großen Forschungsbedarf -, wie die
alten Sorten, die vernachlässigten Kulturpflanzen vor
Ort vernünftig und mit höherer Effizienz angebaut werden können.
({4})
Zweiter Punkt. Ein wichtiger Aspekt im TAB-Bericht,
der überhaupt nicht erwähnt wurde - weder im Antrag
noch gerade von der Bundesregierung -, ist der Bereich
des Ökolandbaus in Entwicklungsländern. Ich fand die
Aussage im TAB-Bericht schon sehr spannend: Der
Ökolandbau in Deutschland bringt im Vergleich zum
konventionellen Landbau nur 80 Prozent der Erträge;
aber der Ökolandbau in den Entwicklungsländern bringt
in der Regel 80 Prozent mehr Ertrag als der konventionelle Landbau.
({5})
Das hat mit der Düngesituation und anderem zu tun. Es
zeigt: Hier besteht ein großer Bedarf für Forschung.
({6})
Die rot-grüne Regierung hat 2002 ein Bundesprogramm
Ökologischer Landbau, damals mit einem Volumen von
35 Millionen Euro, gestartet. Wir stellen fest, dass dieser
Ansatz heute, im Jahre 2011, um mehr als die Hälfte reduziert ist.
({7})
Es wäre ein wichtiger Punkt, hier auch für die Dritte
Welt und die Betroffenen verstärkt Forschung zu betreiben.
({8})
Ein wichtiger Punkt ist auch der Beitrag der Kleinbauern vor Ort zur Ernährung der Region; er wird immer
unterschätzt. Dazu kein Wort seitens der Bundesregierung oder im Antrag. Es muss leider eine private Stiftung sein - trotzdem danke schön! -, die Stiftung Mercator, die zusammen mit der ETH, einer Hochschule in
Zürich, ein 5-Millionen-Franken-Projekt auf den Weg
bringt, bei dem es darum geht, nachhaltige Landwirtschaft und die Bedeutung von Kleinbauern in den Regionen einmal wirklich zu erforschen und ihre Situation zu
verbessern. Man schaut auf das, was wichtig ist, nämlich
darauf, wie die Situation der Kleinbauern in den betroffenen Regionen verbessert werden kann. Warum macht
das eine private Stiftung? Wo ist da der Bund? Wo ist die
Initiative Ihrer Regierung in dieser Frage? Das wäre ein
richtiger Ansatzpunkt gewesen.
({9})
Die mangelnde Initiative hat vielleicht damit zu tun,
dass es - auch das ist ein Anregungspunkt aus dem Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung - eine
Marginalisierung der agrarwissenschaftlichen Forschung
in Deutschland gibt, gerade in den Bereichen Agrarsoziologie und Agrarökonomie. Es wird überwiegend auf
die Technik geschaut; aber die Beschäftigung mit den
anderen Fragestellungen wird seit Jahren zurückgeführt:
Wie wird richtig angepflanzt? Wie ist im Umfeld besonderer geografischer oder ökonomischer Bedingungen
vorzugehen? Es wäre angezeigt, eine Initiative für mehr
agrarwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich auf
den Weg zu bringen.
({10})
Das schließt die Frage ein, wie es eigentlich gewährleistet werden kann, dass die Bauern einen fairen Zugang zu
dem bekommen, was sie selbst erwirtschaften, Stichwort, wie es so schön auf Neudeutsch heißt: Access and
Benefit Sharing.
Also: Wir sehen, dass es viele Chancen und Verpflichtungen gibt, auch für unser Land. Wir finden, dass
gerade in dem TAB-Bericht ein Füllhorn von Möglichkeiten genannt wird, die Sie hätten nutzen und in Ihren
Antrag einbringen können. Das ist nicht passiert. Das bedauern wir genauso wie die technische Orientierung des
Antrags. Deswegen werden wir weiterhin einen anderen,
ganzheitlicheren Weg wählen und Ihrem Antrag nicht
zustimmen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Thema
ist zweifelsohne ein Megathema. Denjenigen, die zum
ersten Mal in den Bundestag gekommen sind, und den
Zuschauern will ich sagen: Es ist nicht das erste Mal,
dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Wir haben
auch in einer der letzten Sitzungswochen mit diesem
Thema beschäftigt. Wir haben unter anderem über die
„Nationale Forschungsstrategie Bioökonomie“ und auch
über ein Thema, das mich besonders interessiert, nämlich die vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten, diskutiert. Denn jeder weiß, dass man nicht über
Ernährung sprechen kann, ohne auch über Hygiene und
über die Versorgung mit sauberem Wasser zu sprechen.
Unser heutiger Antrag und die Maßnahmen der Bundesregierung sind gedacht als Beitrag zur Bekämpfung
von Hunger und Mangelernährung. Das betrifft vor allem die Bevölkerung in Entwicklungsländern. Wir können das Problem in seiner ganzen Komplexität mit den
jetzigen Vorlagen zwar nicht lösen, aber wir können zur
Lösung beitragen.
Auch der TAB-Bericht konzentriert sich auf die
Frage, welchen Beitrag die Forschung zur Lösung des
Welternährungsproblems leisten kann. Nun will ich für
Sie kurz erklären: Was heißt TAB-Bericht? Das ist das
Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen
Bundestag. Dieses Büro erarbeitet Gutachten und stellt
den Abgeordneten die Ergebnisse regelmäßig vor.
({0})
Es freut uns, dass der TAB-Bericht zum Beispiel die
Fördermaßnahme „globale Ernährungssicherung“ der
Bundesregierung lobt. Die wissenschaftliche Kooperation
mit afrikanischen Ländern ist ein vielversprechender Ansatz. Hier unterscheiden wir uns, lieber Herr Kollege
Röspel.
({1})
Seit zwei Jahren bemühen wir uns gemeinsam mit der
Bundesregierung um neue Modelle in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Es soll nicht nur Ausdruck der
Solidarität sein; wir wollen den Hunger nicht allein mit
der Reisschüssel bekämpfen. Vielmehr geht es uns um
partnerschaftliche Zusammenarbeit. Herr Rossmann, wir
waren gestern bei einer hochkarätig besetzten Veranstaltung mit den Präsidenten von Max-Planck-Gesellschaft
und DFG. Dort wurde bestätigt, dass genau das notwendig ist.
({2})
Die Max-Planck-Gesellschaft selbst führt Veranstaltungen durch und hat sich zum Ziel gesetzt, geeignete Institute in den Ländern zu etablieren, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Das ist der richtige Weg.
({3})
Natürlich kann das nicht von heute auf morgen aus dem
Boden gestampft werden, aber es ist der richtige Weg,
um den Hunger in der Welt zu bekämpfen.
({4})
Wenn von Forschung und Wissenschaft die Rede ist,
dann geht es um klassische Züchtungsmethoden, um
Saatgutforschung, um die Züchtung von krankheitsresistenten Tierrassen und um die Verbesserung von biologischen Eigenschaften mancher Tiere und Pflanzen. Es
geht aber auch um neue Technologien. Bei der Bekämpfung von Krankheiten handelt es sich im Sinne der Sicherheitsforschung auch darum, dass wir uns nicht nur
um die Krankheiten in Afrika und Asien kümmern. Vor
dem Hintergrund des Klimawandels müssen wir damit
rechnen, dass einige Krankheiten aus diesen Ländern auf
kurzem Wege zu uns nach Europa kommen werden.
Der TAB-Bericht zeigt drei Perspektiven auf, die wesentlich für die Fortschritte bei der Bekämpfung von
Hunger und Mangelernährung sind. Es geht erstens um
die Menge der zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel,
es geht zweitens um die Verteilung der Lebensmittel und
den Zugang dazu. Und es geht drittens um Ernährungsgewohnheiten und um Wissen über gesunde Ernährung.
Die drei Handlungsoptionen in der Forschungspolitik
sind: die verstärkte Ressortkooperation bei der Forschungsförderung, mehr nutzerorientierte Forschung
und kooperative „Leuchtturmprojekte“. Herr Röspel, gerade bei den Punkten Ressortkooperation und nutzerorientierte Forschung geht es doch darum, dass man
keine Elfenbeintürme baut; denn damit ist der Sache
nicht gedient. Vielmehr steht die Nutzerorientierung im
Vordergrund. Das ist für uns der richtige Ansatz.
In dem Zusammenhang darf ich - auch mit Blick auf
die Uhr - als Letztes feststellen: Die Veranstaltung gestern hat uns bestätigt. Wir stellen auch für die nächsten
Jahre - wir sind ja bei den Haushaltsberatungen - so viel
Geld bereit, dass wir für die Entwicklungsländer weiterhin zuverlässige Partner sind. Darauf können wir stolz
sein.
({5})
Auch unser Antrag leistet hier, davon bin ich überzeugt,
einen wichtigen Beitrag.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Dem Titel des Koalitionsantrags „Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung“ könnte
man noch zustimmen, wäre nicht die Agrarforschung
seit Jahren durch massiven Personalabbau und Standortschließungen in die Krise gespart worden. Die Linke fordert regelmäßig eine öffentlich finanzierte Agrarforschung, die den weltweiten Herausforderungen gewachsen, die besser vernetzt und strategisch koordiniert
ist. Geändert aber hat sich nichts. Die Defizite werden
deshalb immer größer.
Dabei hat das Büro für Technikfolgen-Abschätzung
- das hier schon mehrfach genannt wurde - gerade einen
dringenden Perspektivenwechsel in der Welternährungsdebatte angemahnt:
({0})
weg von der Fokussierung auf reine Produktionssteigerungen hin zur realen Verbesserung der Ernährungssituation der Menschen vor Ort. Auch die Endlichkeit von
Wasser, Boden und Dünger fordert dringend einen Paradigmenwechsel hin zu finanzierbaren sozial-ökologiDr. Kirsten Tackmann
schen Agrarkonzepten, die Ertragssteigerung vom Ressourcenverbrauch abkoppeln. Dazu gibt es sehr innovative Ansätze, und zwar jenseits der Agrogentechnik,
zum Beispiel selbstdüngende Pflanzen, den sogenannten
Tauchreis, der Überschwemmungen überlebt, oder
Durstmesser bei Pflanzen zur bedarfsgerechten Bewässerung.
Der Koalitionsantrag aber erzählt das uralte Märchen
vom Kampf gegen den Hunger durch Intensivierung der
Produktion in Europa und Heilsversprechen aus dem
Gentechlabor. Dabei ist der Produktionsmangel ein Mythos. Weltweit stehen rein rechnerisch circa 2 800 Kalorien pro Kopf zur Verfügung. Das ist mehr, als ein gesunder, aktiver Mensch braucht. Wenn die Nahrungsmittel fair verteilt würden, gäbe es also überhaupt gar
keinen Hunger.
({1})
Es gibt aber zwei riskante Trends. Erstens. Die Weltbevölkerung wächst schneller als die Nahrungsmittelproduktion.
({2})
Zweitens. Immer weniger landwirtschaftliche Nutzfläche ist für die lokale Ernährungssicherung verfügbar.
Die Antwort der Koalition auf die mutmaßlich entstehende Lücke bei der Versorgungssicherung ist, diese
durch Intensivierung der Produktion zu schließen.
({3})
Das ist schon angesichts der gigantischen Lebensmittelverschwendung eine völlig absurde Debatte. Aber die
Koalition leugnet dabei die sozialen und ökologischen
Ursachen von Hunger und die Mitschuld der Industrieländer an der Hungersituation in der Dritten Welt. Ich
nenne das neokolonial.
({4})
Der frühere UN-Sonderberichterstatter für das Recht
auf Nahrung, Jean Ziegler, sagte - hören Sie bitte zu! das so:
Es geht nicht darum, den Ländern des globalen Südens mehr zu geben, sondern ihnen weniger wegzunehmen.
Mangel- und Fehlernährung haben mit Armut im globalen Süden und mit Reichtum in den Industrieländern zu
tun. Das will ich kurz begründen:
Erstens. Armut forciert das rasante Wachstum der
Weltbevölkerung. Es ist kein Naturgesetz.
Zweitens. Armut hemmt die Agrarproduktion im globalen Süden. Sie wird durch Kriege, Abwanderung, fehlende Zugänge zu Wasser, Boden, Saatgut und Düngemitteln gehemmt. Geringe Bodenfruchtbarkeit und
Klimawandel können eben nicht ausgeglichen werden.
Drittens. Armut führt zum Verlust von Ackerflächen
zur lokalen Ernährungssicherung. Das ist so, weil Agrarexportgüter für Biosprit, Futtermittel oder Baumwolle
angebaut werden und weil der Boden in Händen ausländischer Investoren ist. Bodenerosion und Wüstenbildungen tun ihr Übriges.
Die Sicherung der Welternährung setzt deswegen
zwingend Armutsbekämpfung voraus. Agrarforschung
und Wissenstransfer sind dabei dringend gefragt. Dazu
gehört zum Beispiel auch die Verhinderung von Biopiraterie und Biopatenten.
({5})
Die Linke fordert deshalb folgende fünf Punkte.
({6})
Erstens. Agrarforschung muss öffentlich finanziert
und auf die Verbesserung der Lebensbedingungen vor
Ort ausgerichtet sein. Dazu gehören Agrarsoziologie und
Agrarökonomie.
Zweitens. Die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit sind unverzüglich auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben und gezielter für die regionale
Ernährungssicherung und die Stärkung von Frauen und
Frauenrechten einzusetzen.
({7})
Drittens. Spekulationen mit Agrarrohstoffen und Boden müssen wirksam bekämpft werden.
Viertens. Das Leitmotiv der EU-Agrarpolitik muss
Ernährungssouveränität werden.
Fünftens. Agrarimporte müssen begrenzt und fair bezahlt werden.
({8})
Das heißt aber auch: Zur Beseitigung des Hungers in
der Welt gehört die Änderung unseres Lebensstils. All
das fehlt in dem Antrag der Koalition. Deswegen können
wir ihm nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Harald Ebner hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist wahr: Wir stehen weltweit vor großen
Herausforderungen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, welche Art von Ernährung eine wachsende Weltbevölkerung braucht, wie wir diese sichern und dabei die
ökologischen Lebensgrundlagen bewahren können.
Im Zentrum aller Überlegungen müssen die Betroffenen stehen. Die Experten sind sich einig: Der Großteil
der Hungernden sind Kleinbauern und landlose Landarbeiter, genauer gesagt: Kleinbäuerinnen und landlose
Landarbeiterinnen; denn es sind die Frauen, die in den
fraglichen Ländern die Verantwortung in der Landwirtschaft übernehmen. Das ist die Zielgruppe. Es gilt, für
diese Menschen Lösungen und Forschungsansätze zu
entwickeln.
({0})
In dem erwähnten TAB-Bericht wird diese Frage auf
fast 100 Seiten umfassend behandelt, so wie es die Problematik erfordert. Der vorliegende Antrag der Koalition
umfasst gerade einmal zweieinhalb Seiten.
({1})
- Man könnte sagen: Klasse statt Masse. Jetzt schauen
wir einmal, wo die Qualitäten liegen.
Der Bericht spricht eine klare Sprache: Die bisherige
Forschung setzt überwiegend auf Produktionssteigerungen mithilfe von externen Inputs - Kunstdünger, Pestizide, Hybrid- oder gar gentechnisch verändertem Saatgut. Dabei macht der TAB-Bericht deutlich, dass solche
technologiefixierten Ansätze die eigentlichen Adressaten
oft überhaupt nicht erreichen, sondern nur lokalen Eliten
nutzen. Dagegen werden wichtige Forschungsfelder
vernachlässigt, die laut Bericht wesentlich vielversprechendere und nachhaltigere Beiträge zur Welternährung
liefern könnten, zum Beispiel Low-Input-Systeme wie
der Ökolandbau, dem der Bericht - ich zitiere - „enormes
Potenzial“ zur Ertragssteigerung und -stabilisierung bescheinigt.
({2})
Der Einfluss von Ernährungsstilen auf die Nahrungsmittelversorgung wird in Deutschland praktisch überhaupt nicht erforscht. Überhaupt wird der gesamte Bereich der Nachfrageseite vernachlässigt. Es fehlt auch an
Forschung, die mittels echter Partizipation zuerst die Bedürfnisse der Zielgruppe abfragt und dann angepasste
Lösungen entwickelt, die wirklich dem Leitbild „Hilfe
zur Selbsthilfe“ entsprechen. Die Worte von Herrn
Rachel habe ich wohl gehört, aber ich finde sie im Antrag nicht.
({3})
Inter- und transdisziplinäre Ansätze müssen Sie in
Deutschland mit der Lupe suchen, ebenso Lehrstühle für
Agrarsoziologie. Es gilt, genau hier anzusetzen. Doch
der Antrag beschränkt sich auf Gemeinplätze und allgemeine Forderungen, ohne die Kernanregungen des TABBerichts konkret aufzugreifen. Schlüsselfaktoren der
Welternährung - die Situation der Kleinbauern, Genderfragen, marginale Standorte oder Ernährungsstile - werden im Antrag überhaupt nicht erwähnt.
Stattdessen setzt die Bundesregierung, allen voran
Ministerin Aigner, ihre bisherige Agrarpolitik unverdrossen fort. Auf 3 Millionen Hektar werden in Südamerika Futtermittel für deutsche Tierställe angebaut. Wer
wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage zur Welternährung behauptet, dass der
Anbau von Futtermitteln in Entwicklungsländern für die
Fleischproduktion in Europa ein Beitrag zur Welternährung sei, verspielt jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit
in Welternährungsfragen.
({4})
In dem TAB-Bericht wird von einem ungeheuren
Ungleichgewicht hinsichtlich der Mittelausstattung von
Agrogentechnik und Ökolandbau gesprochen, und es
werden konkrete Forschungsfelder benannt, auf denen
stattdessen vermehrt gearbeitet werden muss. Und da haben Sie die Stirn, in Ihrem Antrag zu fordern, dass die
zentralen Forschungsfelder erst einmal identifiziert werden müssten. Sie wollen munter weitere Prüfschleifen
drehen. Sie wollen weitere wertvolle Jahre verplempern
und noch einmal fragen, wo geforscht werden muss.
Statt die Empfehlung des Berichts aufzugreifen, rennen
Sie immer noch technologiegläubig den Heilsversprechen der Agrogentechnik hinterher,
({5})
und das, obwohl die Bundesregierung in ihrer Antwort
auf unsere Kleine Anfrage gerade erst bestätigen musste,
dass die Gentechnik keinen signifikanten Beitrag zur
Welternährung geliefert hat. Ich verkürze meine Rede
jetzt, da meine Redezeit gleich abgelaufen ist.
({6})
Wenn man die heiße Luft, die Sie in solchen Anträgen
und Anfragen produzieren, zur Energiegewinnung nutzen könnte, wäre die Energiewende schon geschafft.
({7})
Wir können und dürfen es uns aber nicht leisten, einer
gleichermaßen riskanten wie teuren und erfolglosen
Technologie weiterhin Millionen hinterherzuwerfen. Die
Welternährungsfrage ist zu wichtig, um sie derart unseriös in einem Kurzantrag abzuhandeln. Nach dem TABBericht ist dieser Antrag eine Bankrotterklärung der
schwarz-gelben Politik.
({8})
Ewa Klamt hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Kommentar zu dem Beitrag, den wir eben
gehört haben. Ich sage immer: Lesen bildet. Vielleicht
hätten Sie den gesamten Antrag einmal sorgfältig lesen
sollen.
({0})
Wir haben es gehört: Im Jahr 2050 werden nach heutigen Berechnungen rund 9 Milliarden Menschen Nahrung benötigen. Der Bedarf an Nahrungsmitteln wird bis
dahin um 50 Prozent steigen. Bereits heute leiden fast
1 Milliarde Menschen Hunger, und eine weitere Milliarde Menschen ist von Mangelernährung betroffen.
Damit gehört die Sicherung der weltweiten Ernährung in
den nächsten Jahrzehnten ganz sicher zu den drängendsten Aufgaben für die gesamte Weltgemeinschaft und
nicht allein für Deutschland.
({1})
Wir müssen also in diesem Zeitraum gewaltige Anstrengungen unternehmen, um den wachsenden Bedarf
an Lebensmitteln zu decken. Das Phänomen Hunger hat,
wie wir wissen, verschiedene Ursachen: Klimatische, soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflussen
die Nahrungsmittelproduktion. Ebenso spielen der fehlende Zugang zu Düngemitteln, brachliegende Produktionspotenziale oder fehlende Landnutzungsrechte eine
Rolle. Klassischerweise ist es Aufgabe der Entwicklungshilfe, den betroffenen Menschen bei der Bewältigung dieses Problems zu helfen. Aber auch die Forschung kann und muss einen erheblichen Beitrag zur
Sicherung der weltweiten Ernährung und zur Entwicklung einer nachhaltigen Agrarwirtschaft leisten.
Staatssekretär Rachel hat auf die „Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030“ hingewiesen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, vielleicht
wissen auch Sie, dass diese bereits im letzten Jahr auf
den Weg gebracht wurde. In dieser Strategie ist Erhebliches enthalten; diese haben Sie anscheinend noch nicht
gelesen. Darin wird die weltweite Ernährung als eines
von fünf prioritären Handlungsfeldern genannt.
({2})
Um diese Forschungsstrategie zu flankieren, haben wir
den Antrag „Forschung zur Sicherung der weltweiten
Ernährung“ eingebracht. Unsere Forderung ist, themenoffen im Bereich der Forschung nach Lösungen zu
suchen, um die weltweit wachsende Bevölkerung ausreichend ernähren zu können. Eines der von uns benannten
Ziele ist, eine Gesamtbetrachtung des Ernährungssystems zu verfolgen, welche über technisch-methodische
Lösungen hinausgeht. So steht es unter Punkt II b des
Antrags.
({3})
Wir wollen bewusst selbsttragende Systeme entwickeln und fördern. Das soll gemeinsam mit den Partnern
vor Ort in einem disziplinübergreifenden Ansatz verfolgt
werden; denn nur wenn die Kenntnisse und Erfahrungen
der Partner aus den betroffenen Regionen eingebunden
werden, können die Lösungsansätze erfolgreich sein.
Wie wir gehört haben, wird im Antrag ein Schwerpunkt auf die afrikanischen Länder und die deutschafrikanischen Partnerschaften gelegt. Gerade hier gilt es,
regionale Defizite in der Agrarforschung zu identifizieren und den Aufbau von Forschungs- und Entwicklungsinfrastrukturen vor Ort zu unterstützen. Anwendungsorientierung ist uns dabei ein zentrales Anliegen.
Aus meiner Sicht darf es bei allen Fragen zur Sicherung der Welternährung keine Denkverbote geben. Alle
Lösungsansätze müssen in Betracht gezogen werden.
Das beinhaltet auch, dass eine Polarisierung zwischen
den verschiedenen Produktionsmethoden keinen Sinn
macht.
({4})
Bekanntermaßen wurde parallel zu unserem Antrag
der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung
zum Problem der Welternährung veröffentlicht. Er zeigt
uns in seiner wissenschaftlichen Ausarbeitung auf knapp
200 Seiten,
({5})
dass das Problem außerordentlich komplex ist und weder
mit einer Maßnahme, wie wir sie jetzt auf den Weg bringen, noch von Deutschland allein gelöst werden kann.
Nichtsdestotrotz - ich denke, da sind wir uns alle einig ist es wichtig, das Problem anzupacken.
Ich begrüße ausdrücklich, dass das Ministerium die
Förderinitiative „GlobE“ gestartet hat, die die zentralen
Forderungen unseres Antrags aufgreift. „GlobE“ ist aus
meiner Sicht innovativ, methodenoffen und technologieübergreifend. Die Initiative konzentriert sich gerade
nicht, meine Damen und Herren von der Opposition,
ausschließlich auf Agrar- und Naturwissenschaften,
sondern sucht explizit die Einbindung angrenzender
Fachdisziplinen wie der Geo- und Sozialwissenschaften.
Gefördert werden ausschließlich Verbundprojekte deutscher Forschungseinrichtungen und ihrer afrikanischen
Partner. Damit werden gerade bestehende Strukturen gezielt gestützt, aber auch neue aufgebaut.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass jedes
fünfte Kind, das heute geboren wird, hungrig aufwachsen wird. Daher sollten wir jeden Beitrag der Forschung
zur Sicherung der Welternährung unterstützen. Forschung kann und soll die wichtige Entwicklungshilfe
nicht ersetzen. „GlobE“ ist aber ein zentraler Baustein
bei der Sicherung der Welternährung.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
und der FDP mit dem Titel „Forschung zur Sicherung
der weltweiten Ernährung“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9024, den Antrag auf Drucksache 17/6504 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Ablehnung
durch die Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8:
Beratung des Antrags der Abgeordneten SvenChristian Kindler, Priska Hinz ({0}), Katja
Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energiewende und Klimaschutz solide finanzieren - Nachtragshaushalt nutzen
- Drucksache 17/8919 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege SvenChristian Kindler das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute diskutieren wir hier im Bundestag darüber, wie wir die Energiewende und den Klimaschutz
im Bundeshaushalt solide finanzieren können. Diese Koalition hat ja einen Fonds eingerichtet, den sogenannten
Energie- und Klimafonds. Das ist ein Schattenhaushalt,
der neben dem Bundeshaushalt existiert. Nach dem
Atomkonsens im Sommer 2011 wurde versprochen, damit könne man den Energieumbau langfristig und sicher
finanzieren. Wir haben das schon damals nicht geglaubt.
Schauen wir uns einmal an, was konkret passiert ist.
Für dieses Jahr, für 2012, waren 780 Millionen Euro eingeplant. Jetzt, im laufenden Haushaltsjahr, mussten die
Mittel des Fonds um über 300 Millionen Euro gekürzt
werden. Gestern hatten wir im Haushaltsausschuss die
Eckwerteberatung zum Finanzplan. Es wurde klar: Ab
2013 fehlt im Klimafonds jedes Jahr mehr als 1 Milliarde Euro. Das zeigt ganz klar: Dieser Klimafonds ist
gescheitert. Diese Bundesregierung versagt bei der Finanzierung der Energiewende.
({0})
Warum funktioniert dieser Fonds nicht? Das liegt erst
einmal an seiner grottenschlechten Konstruktion. Es gibt
kein Gesamtdeckungsprinzip wie im Bundeshaushalt.
Der Klimafonds ist allein an die Einnahmen aus dem
CO2-Zertifikate-Handel gebunden. Die Bundesregierung
hat damit gerechnet, dass der Preis pro Tonne CO2 in
diesem Jahr 17 Euro betragen wird, obwohl er bei den
Haushaltsberatungen im November letzten Jahres bei
10 Euro lag. Heute liegt er bei 7 bis 8 Euro. Wir haben
Ihnen schon damals hier im Plenum vorgerechnet, dass
das nicht funktionieren kann, dass das scheitern wird.
Sie sind trotzdem stur bei Ihrer Planung geblieben. Das
zeigt noch einmal klar: Schwarz-Gelb kann nicht rechnen, Schwarz-Gelb macht eine unseriöse und unsolide
Haushaltspolitik.
({1})
So ist es leider. Ich würde mir das anders wünschen.
({2})
- Ihre Haushaltspolitik ist flach.
({3})
Was passiert jetzt konkret? Schauen wir uns das einmal an. Sie kürzen zum Beispiel die EKF-Mittel für das
Marktanreizprogramm von 100 Millionen Euro auf genau null Euro. Das Marktanreizprogramm für erneuerbare Wärme ist Energiewende konkret. Davon profitieren die Bürgerinnen und Bürger, die sich zum Beispiel
eine Solarheizung auf dem Dach installieren lassen oder
alte, ineffiziente Wärmepumpen austauschen. Davon
profitieren auch das Handwerk vor Ort, die regionale
Wirtschaft und das Klima. Deswegen ist es nicht nur klimapolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch fatal, dass
Sie beim Marktanreizprogramm den Rotstift ansetzen.
({4})
- Ja, Kollege Otto Fricke, das Programm gibt es noch,
({5})
aber um 100 Millionen Euro gekürzt. Das kostet Arbeitsplätze und Investitionen vor Ort, und das ist fatal.
({6})
Ich bin mittlerweile davon überzeugt: Schwarz-Gelb
fährt die Energiewende bewusst gegen die Wand. Die
Solarindustrie wird kaputtgemacht, und der Klimafonds
ist ein Riesenflopp. Was macht eigentlich Norbert
Röttgen?
({7})
Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, dann frage ich
mich: Wo ist er? Was macht er gerade? Hier in Berlin
wird die Energiewende von Schwarz-Gelb blockiert, und
Norbert Röttgen kann sich nicht entscheiden. Ich fordere
ganz klar: Norbert Röttgen muss Farbe bekennen, ob er
nach NRW geht oder Umweltminister in Berlin bleibt.
Norbert Röttgen muss hier eine Ansage machen.
({8})
Was ist jetzt zu tun? Erstens. Wir wollen die Förderprogramme wieder in einen ordentlichen Haushalt überführen.
Zweitens. Wir wollen dafür sorgen, dass die Einnahmen aus dem Zertifikatehandel zweckgebunden sind und
für den internationalen und nationalen Klimaschutz verwendet werden. Diese Zweckbindung kann man auch im
Einzelplan 16, im Einzelplan des Bundesministeriums
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, festschreiben.
Drittens. Wir wollen dafür sorgen, dass der Zertifikatepreis auf europäischer Ebene stabilisiert wird. Deswegen muss das Klimaschutzziel auf europäischer Ebene
von 20 auf 30 Prozent bis 2020 erhöht werden. Nach britischem Vorbild wollen wir den Zertifikatepreis durch
eine Mindeststeuer stabilisieren.
({9})
Viertens. Es gibt eine realistische, durchgerechnete
Alternative zum schwarz-gelben Klimafondsmurks. Wir
haben den grünen Klimaschutzhaushalt vorgelegt. Darin
legen wir klar dar, dass wir Milliardeninvestitionen für
die Energiewende brauchen, zum Beispiel für ökologische Wärme und für Energieeinsparung. Dies könnten
wir durch den Abbau ökologisch schädlicher Subventionen gegenfinanzieren. Durch entsprechende Kürzungen
von Subventionen für den Flugverkehr, für schwere
Dienstwagen und im Bereich der Ökosteuer können wir
mehr als 10 Milliarden Euro pro Jahr einnehmen.
({10})
So muss man die Energiewende finanzieren.
({11})
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Schluss.
Es ist völlig klar: Die Energiewende ist dringend notwendig. Sie ist auch machbar und finanzierbar, wenn
man es denn will. Diese Bundesregierung kann und will
es aber nicht.
Danke.
({0})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Kindler hat gefragt, was Norbert
Röttgen im Augenblick macht. Er bereitet den Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen vor. Das tut auch
not.
({0})
Herr Kindler, dazu, dass Sie sich angesichts der erschütternden Regierungsbilanz, die Sie als gescheiterte Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen vorzulegen
haben - Schuldenkönigin, Handlungsunfähigkeit, viele
Themen in Nordrhein-Westfalen sind unerledigt -,
({1})
mit dieser Rede hier hinstellen, muss ich ganz ehrlich sagen: Schämen müssten Sie sich, wären Sie aus Nordrhein-Westfalen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich
geht es hier nicht um Wahlkampf, den Herr Kindler hier
betreibt, sondern um die Energiewende. Sie ist notwendig, greifbar und realistisch. Diese Debatte bietet die Gelegenheit, den Unterschied zwischen der Energiewende à
la Rot-Grün und der Energiewende der christlich-liberalen Koalition aufzuzeigen. Als Sie Verantwortung trugen, kannten Sie nur ein Wort: „Ausstieg“; dann waren
Sie mit Ihrem energiepolitischen Latein am Ende.
({3})
Diese Regierung organisiert den Umstieg, also den Einstieg in eine regenerative, nachhaltige Energieproduktion,
({4})
und deswegen regen Sie sich hier auf. Wir erinnern Sie
an Ihre Versagerbilanz in der Energiepolitik. Sie sind
schlicht und ergreifend überrascht, wie gut Norbert
Röttgen diese Energiewende in und für Deutschland organisiert.
({5})
Ich will als Vertreter des Finanzministeriums an dieser Stelle eines deutlich sagen: Es geht bei der Energiewende doch nicht nur um Geld,
({6})
sondern um den Durchsetzungswillen und die politische
Unterstützung für alle Maßnahmen. Ich hoffe, Herr Kollege Kindler, dass Sie und Ihre Parteigänger sich nicht
darauf beschränken, mehr Geld zu fordern. Vielmehr
geht es darum, dass Sie sich nicht verkriechen, wenn es
um die unangenehmen Themen geht, beispielsweise um
die Bürgermediation beim Netzausbau.
({7})
Auch dann müssen Sie für den notwendigen Umbau der
Energieversorgung in diesem Land Flagge zeigen.
({8})
Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass
ich es ausdrücklich begrüße, dass die deutsche Industrie
die Politik der Bundesregierung als Chance für den Industrie- und Energiestandort Deutschland sieht.
({9})
Dass uns Unternehmen wie Siemens aktiv begleiten, ist
ein Zeichen dafür, dass die Modernisierung des Industriestandorts mit der Energiewende ein kluger Beitrag
zur Politikgestaltung für das 21. Jahrhundert ist,
({10})
und darauf können wir ein Stück weit stolz sein.
({11})
Der Abgeordnete Kindler von der Opposition hat gesagt, es gebe dafür „so ’nen Fonds“. Er wollte das irgendwie als gering ausgestaltet darstellen. Meine sehr
verehrten Damen und Herren - ich sage das auch an die
hier Anwesenden aus unterschiedlichen Generationen -:
({12})
Dieser Fonds hat bis zum Jahre 2016 ein Volumen von
9,7 Milliarden Euro.
({13})
Wenn der Kollege Kindler meint, 9,7 Milliarden Euro
seien kein Beitrag, mit dem sich in der Energiepolitik etwas machen lässt, dann hat er den Bezug zu den Größenordnungen vollständig verloren. Das muss hier in dieser
Klarheit einmal gesagt werden.
({14})
Der Energie- und Klimafonds finanziert sich aus den
Erträgen der Klimazertifikate. Die Klimazertifikate hätte
man als Bundesfinanzminister vielleicht gerne zur allgemeinen Haushaltsfinanzierung verwenden wollen. Wir
haben aber gesagt: Das, was eingenommen wird, wird
eins zu eins in die Energiewende investiert.
({15})
Wer hier behauptet, auch nur 1 Euro, der eingenommen
worden ist, sei nicht in den Energie- und Klimafonds geflossen, der sagt vorsätzlich die Unwahrheit.
({16})
Alle Erträge aus den Klimazertifikaten fließen in den
Fonds. Im Gegenteil: Wir legen sogar noch ein bisschen
drauf, damit die Sache gut startet. Das ist die eigentliche
Botschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({17})
Wenn der Kollege Kindler hier fordert, wir sollten
mehr Schulden machen,
({18})
um den Klimafonds aufzustocken
({19})
- das ist ja die politische Quintessenz dessen, was Sie
hier sagen -,
({20})
dann rufe ich Ihnen und allen, die das sagen, zu: Schuldenfinanzierte Nachhaltigkeit ist Unsinn; denn Schuldenfinanzierung und Nachhaltigkeit schließen einander
aus. Solidität ist auch beim EKF Trumpf.
({21})
Wir konzentrieren uns bei der Neuaufstellung des
Energie- und Klimafonds auf zwei Dinge, nämlich erstens mit 1,5 Milliarden Euro auf das Gebäudesanierungsprogramm und zweitens auf die Elektromobilität.
Wir glauben, dass das wichtige Zukunftsfelder sind,
({22})
auf denen wir entsprechende Investitionen unterstützen
und begleiten sollten.
({23})
Es hat überhaupt keinen Sinn, wenn der Kollege
Kahrs hier kontinuierlich dazwischenruft. Ich wiederhole es: Alle Erlöse aus den Zertifikaten sind vollständig
in den sogenannten EKF geflossen.
({24})
Wer mehr will, der sagt eigentlich nur eines: Er will
mehr Schulden.
({25})
Wir wollen Ökologie und nachhaltige Finanzpolitik in
Einklang bringen, und deswegen ist die Entscheidung,
den Klimafonds so auszugestalten, richtig.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({26})
Es spricht die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das war eine erstaunliche Rede,
({0})
in der über die Solidität des Fonds geredet wurde.
({1})
Dabei sollte man vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen,
dass diese knapp 10 Milliarden Euro bis 2016, von denen Sie, Herr Kampeter, gesprochen haben, nach den
jetzt vorliegenden Zahlen mittlerweile um die Hälfte zusammengeschmolzen sind. Vor diesem Hintergrund sind
die Finanzierung des Fonds und die Entscheidung darüber, wie wir die Energiewende und die Bekämpfung
des Klimawandels auf eine seriöse Basis stellen können,
ganz elementare Richtungsentscheidungen auch für
diese Bundesregierung. Sie sollten es zumindest sein.
({2})
Im letzten Jahr wurde im Umweltausschuss eine
ganze Menge versprochen. Uns ist erzählt worden: Die
Mittel für das Marktanreizprogramm werden erhöht. Im Einzelplan für Umwelt hat man sie abgesenkt. Dann
hat man gesagt: Kein Problem, wir haben ja den Energie- und Klimafonds. Aus diesem Fonds werden
100 Millionen Euro für das Marktanreizprogramm eingestellt. Wir finanzieren Solarthermie. Wir finanzieren
Wärmepumpen. Wir finanzieren Pelletheizungen. Das
ist eine gute Basis für das Handwerk und gleichzeitig
klimapolitisch relevant. All das finanzieren wir aus dem
Energie- und Klimafonds.
Was passiert jetzt? Wie viel Mittel stehen im Haushalt
2012 im Bereich Energie- und Klimafonds für das
Marktanreizprogramm? Null Euro!
({3})
- Circa 300 Millionen Euro. Das ist aber weniger als im
Jahr zuvor. Sie haben die Mittel für das so wichtige
Marktanreizprogramm über die Jahre gesenkt, statt das
zu tun, was notwendig gewesen wäre, nämlich die Mittel
für dieses Programm zu erhöhen.
({4})
Das hätte dem Handwerk genutzt, dem Klimaschutz gedient und die Energiewende vorangebracht.
Frau Kollegin, bevor Sie weiter ausholen: Der Kollege Scheuer möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Aber ja.
Geschätzte Frau Kollegin, wir beraten gerade im Vermittlungsausschuss eine wirklich wichtige Maßnahme,
die Sie blockieren, nämlich die Möglichkeit der steuerlichen Abschreibung bei der Finanzierung von energetischer Sanierung. Das könnte das nächste Konjunkturprogramm für das mittelständische Handwerk werden,
wenn Sie sich endlich bewegen würden und die Länder,
zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, etwas für den handwerklichen Mittelstand übrighätten. Ministerpräsidentin
Kraft blockiert seit mehreren Sitzungen die Umsetzung
dieser guten Maßnahme. Es geht darum, neben der Möglichkeit zur energetischen Sanierung im Rahmen eines
KfW-Kreditprogramms die Kosten für diese Sanierung
steuerlich abzusetzen. Würden Sie mir zustimmen, dass
dies eine wichtige Maßnahme ist? Würden Sie mir einen
Ausblick geben, wann Sie diese Blockade aufgeben?
({0})
Ich halte das CO2-Gebäudesanierungsprogramm für
ein wichtiges und gutes Programm. Ich frage Sie im Gegenzug: Warum haben Sie die Mittel für dieses Programm über die Jahre kontinuierlich abgesenkt? Das ist
an dieser Stelle der entscheidende Punkt.
({0})
Kompensieren Sie doch die Länder für das, was Sie
ihnen von der Bundesebene vorschreiben, und setzen Sie
Mietern und Eigentümern, die keine hohen Abschreibungen bei der Steuer geltend machen können, entsprechende Anreize. Das geht nicht über eine progressive
Abschreibung. Das geht über Zuschüsse und entsprechende Programme, zum Beispiel das KfW-Programm.
Machen Sie ein solides Programm! Dann bekommen wir
das miteinander hin.
({1})
Wollen Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen
Lenkert zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin
Kofler, wir haben hier in mehreren Debatten gehört, dass
die Unionsfraktion Ihrer Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen vorwerfen, sie könne nicht mit Geld
umgehen.
({0})
Wenn die Ministerpräsidentin dem Vorschlag der Union
folgen und ihn übernehmen würde, wäre es dann nicht
so, dass sich die Schuldenlage Nordrhein-Westfalens
noch verschlechterte?
Ich bedanke mich für diese Frage, Herr Kollege
Lenkert. Natürlich, man kann nicht auf der einen Seite
den Ländern vorgeben, sie sollen mit ihren Haushaltsmitteln sparsam umgehen, und auf der anderen Seite dafür sorgen, dass die Länder weniger Steuern einnehmen.
Da muss man sich entscheiden, auch was NordrheinWestfalen anbelangt.
({0})
Wir stellen fest: Die vollmundigen Ankündigungen
aus dem letzten Jahr im Zusammenhang mit dem Energie- und Klimafonds sind Luftbuchungen. Sie selbst haben Ihre Prognose bis 2016 wieder korrigiert: Es soll ein
Drittel weniger an Mitteln zur Verfügung stehen. Dabei
haben Sie dies vor noch nicht einmal einem Jahr, erst vor
vier Monaten bei den Haushaltsberatungen 2012, prognostiziert.
({1})
Wenn Sie damals zwar nicht der Opposition, aber der
Warnung der Deutschen Bank geglaubt hätten, die bereits
am 30. November letzten Jahres den Verfall der Zertifikatspreise prognostiziert hat, hätte Sie das vielleicht zum
Nachdenken gebracht, und Sie hätten schon damals feststellen können, dass all ihre Kalkulationen ungenügend
sind und dass Sie möglicherweise zusätzliche klimapolitisch relevante Maßnahmen ergreifen müssten, um den
Preisverfall der Zertifikate zu bekämpfen.
Eine Maßnahme wäre, sich massiv auf europäischer
Ebene dafür einzusetzen, das EU-Klimaziel einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 30 Prozent umzusetzen
und bei der Umsetzung der klimaschädlichen Emissionen voranzugehen, statt sich vor der Verantwortung zu
drücken. Das wäre klimapolitisch sinnvoll und würde
auch den einen oder anderen Euro mehr in Ihre Kasse
bzw. in den Fonds bringen.
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir mit diesen
Schattenhaushalten und Luftbuchungen aufhören und
wieder klare Verhältnisse und eine klare Einnahmesituation hergestellt werden. Die Mittel, die wir für Programme für den Klimaschutz und die Energiewende benötigen, müssen im Umweltetat eingestellt werden. Ich
erinnere an das Marktanreizprogramm, aber auch an die
Mittel für den nationalen und internationalen Klimaschutz. Sprechen Sie mit Vertretern der deutschen
Klima- und Technologieinitiative darüber, was sie von
Ihrem Haushaltsgebaren halten und wie viel mehr sie in
letzter Zeit an Emissionsminderung hätten machen können, wenn entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt
worden wären.
Es ist wichtig, dass die Mittel im Umwelthaushalt, im
Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und im Etat für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
bereitgestellt werden. Wir brauchen keine Luftbuchungen, sondern die notwendigen Mittel für die Energieversorgung.
Danke.
({2})
Otto Fricke hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Rede hat deutlich gemacht, worum es der Opposition eigentlich geht:
Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! Mehr ausgeben!
({0})
- Ja, darum geht es. Hören Sie einfach mal zu, Herr Kollege Kindler! - Die Grünen sind nicht ungeschickt vorgegangen. Ihr Vorschlag wird doch an den Haushaltsausschuss überwiesen. Das ist der Ausschuss, der sich
darum kümmern soll, dass nicht mehr Geld ausgegeben
als eingenommen wird.
({1})
Was hören wir aber in Ihren Reden? Wir hören nur:
Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! Mehr ausgeben!
({2})
Der Bürger denkt: Mensch, die von der Opposition haben gute Ideen; die wollen für bestimmte Dinge Geld
ausgeben.
({3})
Die Bürger müssen sich darüber klar sein: Alles, was ein
Politiker ausgeben will, müssen sie ihm vorher zum Beispiel über Steuern, Abgaben oder erhöhte Preise, etwa
die Strompreise, bezahlen. Dieses versucht die Opposition immer wieder zu verheimlichen. Sie kündigt an:
„Wir tun Gutes!“, und kommt hinterher zu ihnen und
sagt: „Aber bitte bezahlt es.“
({4})
Herr Kollege Fricke, Frau Bulling-Schröter würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Aber gerne.
Danke schön, Herr Fricke. Sie sprechen davon, dass
immer mehr ausgegeben werden soll.
Nein. Sie wollen das, nicht ich.
Ich frage Sie: Was halten Sie von dem Vorschlag,
mehr Geld einzunehmen? Wir haben das Problem, dass
die Zertifikate zurzeit sehr billig sind. Es gäbe Maßnahmen, die wir vor allem im Umweltausschuss intensivst
diskutieren - ich gehe davon aus, dass Sie sich damit befasst haben -, die Anzahl der Zertifikate auf europäischer Ebene zu reduzieren, Otto Fricke ({0}):
Das geht ab 2013 nur noch auf europäischer Ebene.
- um die Zertifikate so wieder teurer zu machen. Das
hätte eine ganze Reihe von positiven Aspekten, zum
Beispiel dass die Unternehmen wieder mehr investieren
würden.
({0})
Das besagt eine ganze Reihe von Studien. Meine Frage
ist: Sind Sie bzw. ist die Bundesregierung bereit, in dieser Frage tätig zu werden?
Geschätzte Frau Kollegin, was die Bundesregierung
angeht, hat, glaube ich, die fulminante Rede des Kollegen Kampeter, der das inzwischen als Abgeordneter beobachtet, eine Antwort gegeben.
({0})
Ich möchte Ihnen als Abgeordneter erstens sagen: Ich
stimme Ihnen zu. Das Thema Cap muss man immer wieder neu beobachten. Wir können das aber nur noch auf
europäischer Ebene machen, wie Sie wissen, weil das
mit der 2013er-Periode nicht mehr anders möglich sein
wird. Deswegen ist übrigens der von den Grünen gewünschte Antrag auf Vorziehung nach 2012 nicht umsetzbar; das würden wir auf europäischer Ebene nicht
hinbekommen. Bei der Beantwortung der Frage, wo jeweils das richtige Cap ist, werden wir bei den entsprechenden marktwirtschaftlichen Elementen genau
schauen müssen, wie wir einen fairen Markt, ein Level
Playing Field, herstellen können. An dieser Stelle kann
ich Ihnen zustimmen. Nur an einer Stelle, Frau Kollegin,
muss ich Ihnen ausdrücklich widersprechen. Da Sie
wünschen, dass mehr Geld eingenommen wird, sage ich
Ihnen als Haushälter: Es ist nicht Sinn, mehr Geld einzunehmen, um es dann an anderer Stelle möglichst schnell
auszugeben. Der Sinn des Gesetzes und des Handelns ist
- das ist wichtig; ich hätte mir gewünscht, dass das den
Bürgern, die jetzt zuhören, noch einmal in Erinnerung
gerufen worden wäre -, den CO2-Ausstoß zu reduzieren.
Sinn ist es nicht, mehr Geld einzunehmen oder mehr
Geld auszugeben.
({1})
- Darf ich der Kollegin antworten, Herr Kollege Kahrs,
oder darf ich selbst das nicht?
({2})
Frau Kollegin, für mich lautet die entscheidende
Frage, wie sich die CO2-Bilanz im Jahr 2011 - wir haben
noch nicht alle Zahlen - und in den folgenden Jahren
darstellt. Danach werden wir bemessen, ob der EKF
bzw. der CO2-Handel funktioniert.
({3})
Das ist die Basis, auf der ich vorgehen möchte. Herzlichen Dank für Ihre Frage.
({4})
Mich persönlich verärgert genau das: Ziel ist doch
- von einer rot-grünen Regierung verhandelt -, mit CO2Zertifikaten zu einer Reduzierung von CO2 zu kommen.
Dafür hat doch Rot-Grün gesorgt. Darüber sind wir uns
doch einig, oder, Herr Kindler? Das war doch so.
({5})
- Gut. - Das Ziel ist, die CO2-Emissionen zu reduzieren.
Wir wollen eine solche Reduzierung, weil diese Emissionen Auswirkungen auf das Klima haben bzw. weil
wir aus anderen Gründen gegen eine solche Verschmutzung sind.
({6})
Aber in dem Moment, wo die Ziele Stück für Stück erreicht werden,
({7})
sagen Sie nicht: „Das ist in Ordnung; wir brauchen weniger Geld und müssen den Bürgern weniger wegnehmen“, sondern: „Dann müssen wir schauen, wie wir von
Industrie und Wirtschaft noch mehr Geld bekommen“.
({8})
Kraftwerksbetreiber sollen nach Ihrer Ansicht noch
mehr Geld zahlen. Betreiber von Feuerungsstellen mit
einer Leistung von über 20 Megawatt - um diese geht es
bislang - sollen möglichst noch mehr für den Zertifikatehandel zahlen, mit der Folge, dass die Bürger - einige
schauen auf der Tribüne oder am Fernseher zu - am
Ende noch mehr bezahlen müssen.
({9})
- Herr Kollege Kahrs, da Sie schon Angst hatten, vor
mir zu reden, und sich deshalb an das Ende der Rednerliste haben setzen lassen, sollten Sie jetzt wenigstens zuhören. Dann können Sie später alles erklären.
({10})
Ich verspreche: Ich werde Ihnen dann gerne zuhören,
wie es sich unter Parlamentariern gehört.
({11})
Was mich verwundert, ist, dass jetzt so getan wird, als
wäre es eine große Katastrophe, dass die Preise der Zertifikate gesunken sind und wir weniger Geld zum Verteilen haben.
({12})
Herr Trittin hat immer gesagt, das alles sei sowieso nicht
so wichtig; wichtig sei nur das EEG. Für die Grünen ist
das doch das Menetekel an der Wand; darum geht es.
({13})
Wissen Sie eigentlich, wie viel pro Sekunde für das EEG
gezahlt wird? 400 Euro pro Sekunde! Das heißt, pro
Minute werden 24 000 Euro für das EEG gezahlt.
({14})
Das sind während meiner Rede über 150 000 Euro. Am
Ende müssen die Bürgerinnen und Bürger zweistellige
Milliardensummen zahlen. Das ist der Kern. Es geht um
die Frage: Ist das Ziel, die CO2-Emissionen zu reduzieren,
oder ist das Ziel - das scheint bei Ihnen der Fall zu sein den Menschen mehr Geld aus der Tasche zu ziehen
({15})
und es dann für die Realisierung der von Ihnen gewünschten Projekte auszugeben, um so zu zeigen, wie
toll und gut Sie sind?
({16})
Nach Ansicht meiner Fraktion - ich habe mit dem
Kollegen Toncar eben noch darüber gesprochen - ist es
folgendermaßen: Wer spielt die entscheidende Rolle bei
der CO2-Reduzierung? Ist das der Staat? Bei einem Bruttoinlandsprodukt von über 2,2 Billionen Euro und einem
Bundeshaushalt mit einem Volumen von rund 300 Milliarden Euro stellt sich die Frage: Ist es der Staat, der die
wesentlichen Entscheidungen trifft? - Nein, es sind die
Bürger, die Industrie und die Wirtschaft, die mit ihren
Investitionen das Entscheidende bewirken. Bei allen notwendigen Maßnahmen sind wir der Meinung, dass wir
dafür sorgen müssen, dass Industrie und Bürger die richtigen Investitionen tätigen und die richtigen Entscheidungen treffen.
({17})
Der Bürger, der heutzutage darüber nachdenkt, was er
für Nachhaltigkeit und CO2-Reduzierung tun kann, muss
die Möglichkeit haben,
({18})
eigenes Geld in ein neues Dach, eine Solaranlage, eine
Wärmepumpe oder eine bessere Isolierung zu investieren. Sie sagen, das solle er nur tun, wenn er dafür Subventionen bekommt. Wir wünschen uns, dass er das aufgrund eigener Überlegungen tut. Wir wollen gerne
entsprechende Anreize setzen, aber immer im Rahmen
der Reduzierung.
({19})
Der Kernunterschied zwischen Ihrer Politik und unserer ist der folgende:
({20})
Bei unserer Politik steht, wenn das Ziel klar ist, an erster
Stelle die Frage, wie ich mit dem Bürger dahin gelangen
kann, wie ich dem Bürger auf seinem Weg helfen kann.
Sie dagegen geben dem Bürger den Weg vor.
({21})
Dies werden wir nicht machen. Wir werden weiterhin
versuchen, den Bürger, die Industrie und andere zu motivieren, mit ihren Investitionen CO2-Reduktionen und
dadurch geringere Emissionen zu erreichen. Wenn dadurch die Zertifikatepreise sinken, haben wir genau das
erreicht, was wir alle wollen: weniger Emissionen, den
Schutz unserer Umwelt und einen Beitrag zur Nachhaltigkeit.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({22})
Roland Claus hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, so leicht wie der Kollege Otto Fricke
darf man es sich nicht machen. Erst korrigiert ihr die eigenen Ziele - man kann auch sagen: brecht Versprechen -,
({0})
dann werdet ihr dabei erwischt, und dann beschimpft ihr
diejenigen, die euch erwischen und kritisieren, dass ihr
mehr Schulden machen wollt.
({1})
Wir finden, der Antrag ist gut und richtig und kommt
zur richtigen Zeit. Die Regierung hat gestern im Haushaltsausschuss den Entwurf des Nachtragshaushaltes
vorgelegt. Einen Nachtragshaushalt braucht man immer
dann, wenn das Geld für das, was man vorhat, nicht ausreicht. Für die Euro-Stabilisierung soll eine Menge eingestellt werden. Jetzt kommt die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und sagt: Wenn wir schon korrigieren, dann
lasst uns auch dort korrigieren, wo es sonst noch
klemmt. An die Adresse der Koalition möchte ich die
Frage richten: Wie viel konstruktive Mitwirkung muss
Ihnen denn noch entgegengebracht werden? Das ist doch
eine ausgestreckte Hand, die Sie auch ergreifen sollten.
({2})
Auch wir sind der Meinung, dass der Haushalt 2012
schwere Fehler in der Klimapolitik enthält, die jetzt zu
korrigieren wären. Sie haben gute Programme, eigentlich sogar die am besten funktionierenden Förderprogramme des Bundes regelrecht zerstört. Sie haben die
energetische Gebäudesanierung vor den Baum gefahren
und verschiedene Sondervermögen außerhalb der zuständigen Ministerien geschaffen.
Die Koalition wird jetzt sagen, sie habe geringfügig
korrigiert und 78 Millionen Euro nachgelegt. Aber Sie
bleiben weiter im falschen System; das ist hier ausdrücklich erläutert worden. Es ist nicht so, dass die Bundesregierung und die Koalition nicht gewarnt worden wären.
Nicht nur die Opposition im Bundestag hat sich beschwert. Sie hätten auch die Protestschreiben der Bürgermeister - von der Linken und der CSU - mit nahezu
gleichlautendem Text ernst nehmen müssen. Dann hätten Sie diesen Mist nicht verzapft.
({3})
Einer der zuständigen Minister, Minister Ramsauer,
hat auf diese Kritik mit einem Zitat von Deng Xiaoping
geantwortet,
({4})
das da hieß, ihm sei es egal, ob die Katze schwarz oder
weiß sei, Hauptsache sie fange Mäuse. Wie wir jetzt
feststellen, fängt da niemand nichts. Ein Förderprogramm geht vor die Hunde. Man sollte sich eben nicht so
unkritisch kommunistischen Vordenkern aussetzen.
({5})
Die Linke steht für einen sozial-ökologischen Wandel
im Denken und Wirtschaften und für eine Energiewende,
die alle mitmachen können - nicht nur die Reichen. Es
muss dabei sozial zugehen, damit es, von Mehrheiten
akzeptiert, auch stattfinden kann. Die Linke hat auf diesem Weg Erfahrungen gesammelt und auch einen Anteil
daran, dass es heute so etwas wie einen ostdeutschen
Erfahrungsvorsprung bei der Einführung erneuerbarer
Energien gibt.
Die Koalition ist eingeladen zur Nachbesserung. Die
Abgeordneten haben es jetzt in der Hand. Wenn der zuständige Umweltminister aus seinem kurzen, aber erfolglosen Wahlkampfurlaub in NRW zurück ist, haben
Sie als Abgeordnete etwas für den Klimaschutz und die
Energiewende getan.
Sie haben die Energiewende nicht hinbekommen.
Deshalb sage ich Ihnen zum Stichwort NRW: Auch diese
Wende werden Sie vergeigen.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Ernst Hinsken.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Alle bisherigen Reden hierzu waren engagiert, aber in der Sache nicht immer richtig.
({0})
Richtungsweisend waren für mich die Reden des Parlamentarischen Staatssekretärs Kampeter und des Kollegen Fricke.
({1})
In diesen wurde einiges angesprochen, was Sache ist und
was heute von Bedeutung sein muss.
Grundsätzlich möchte ich hier feststellen: Energiewende mit allen Facetten ja, aber finanziell verkraftbar.
({2})
Dabei ist auch an den steuerzahlenden Bürger und Betriebsinhaber zu denken. Die dürfen finanziell nicht
überfordert werden. Herr Kollege Fricke, ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Die Hauptwörter in den Reden
der Oppositionssprecher waren: ausgeben, ausgeben,
ausgeben.
({3})
Zwischendurch wird immer wieder geschrien: Aber wir
haben auch Deckungsvorschläge. - Hören Sie mir doch
auf mit dem, was Sie bisher gebracht haben.
({4})
Das ist nicht brauchbar, das ist nicht umsetzbar, Ihre
Vorschläge sind der Sache nicht dienlich.
({5})
Ich meine, dass wir gerade am Anfang eines schrittweisen Umbaus unserer Energieversorgung stehen. Mit
einem umfangreichen Gesetzespaket haben wir im letzten Sommer die Grundlagen dafür gelegt. Damit ist die
Energiewende auf den Weg gekommen. Was wollen
wir? Ab 2012 wollen wir die Erlöse aus der Versteigerung von CO2-Zertifikaten vom Bundeshaushalt vollständig in den Energie- und Klimafonds verlagern,
soweit diese nicht zur Finanzierung der deutschen Emissionshandelsstelle benötigt werden.
Da gibt es für uns klare Prioritäten, die auf dem Tisch
liegen: erstens die CO2-Gebäudesanierung, zweitens die
Weiterentwicklung der Elektromobilität, drittens der internationale Klima- und Umweltschutz und viertens die
Förderung der rationellen und sparsamen Energieverwendung. So wollen wir die Verpflichtungsermächtigungen beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm und bei der
Elektromobilität nunmehr vollständig dem EKF zuweisen. Bewusst haben wir zum Beispiel das CO2-Gebäudesanierungsprogramm als zentrales Programm zur Steigerung der Energieeffizienz im Gebäudebereich in 2012
von Kürzungen ausgenommen, setzt es doch auf finanzielle Anreize anstatt auf Zwang und damit auf eine ökonomisch effiziente Steigerung der Energieeffizienz. Dies
verstehen wir unter Energie- und Umweltpolitik aus einem Guss, aber nicht das, was Sie von den Grünen machen, die Sie immer nach mehr Geld schreien, das Sie
dem Bürger aus der Tasche ziehen wollen. Da machen
wir nicht mit. Da setzen wir klar und eindeutig dagegen.
({6})
Wir wollen in den nächsten zehn Jahren im Gebäudebereich noch einmal 20 Prozent an Energie einsparen
und bis 2050 den Primärenergiebedarf in einer Größenordnung von 80 Prozent reduzieren. Hierfür brauchen
wir Steueranreize. Es ist ärgerlich, dass bisher Bund und
Länder zu keinen Ergebnissen gekommen sind. Ich sage
ausdrücklich: Unser aller Aufgabe ist es, auf die Länder
einzuwirken, damit diese die Blockadepolitik endlich
aufgeben. Von der steuerlichen Abschreibung bei der
energetischen Gebäudesanierung wären 80 Prozent der
Eigentümer von Wohnungen und Gebäuden betroffen.
Das würde einen enormen Schub an Investitionen auslösen und die Binnenkonjunktur weiterhin stärken. Gerade
das Handwerk würde davon profitieren; denn 1 Euro an
Fördermitteln löst mindestens das Achtfache an Investitionen aus. Dadurch kommt ein großer Teil der Fördermittel zurück. Zudem könnten zwei Fliegen mit einer
Klappe geschlagen werden: Es könnten Arbeitsplätze
auf dem Binnenmarkt geschaffen und die Energiewende
vorangebracht werden.
Ohne eine solide industrielle Basis sind die Energiewende und der Klimaschutz nicht möglich. Wichtig ist in
diesem Zusammenhang auch, dass die Industrie, die zu
weiten Teilen die Emissionshandelserlöse finanziert,
eine teilweise Rückerstattung braucht. Auch nach der
Emissionshandelsrichtlinie sollen die Mitgliedstaaten
mindestens 50 Prozent, nicht aber den gesamten Erlös
für Klimaschutz und ähnliche Maßnahmen verwenden.
Für uns gilt deshalb: Engagement muss belohnt werden,
sind doch in Deutschland die Energiesteuern im Vergleich zur EU, aber auch weltweit mit am höchsten. Das
ist ein Wettbewerbsnachteil. Wir müssen auch an das
Große und Ganze, an Arbeitsplätze und an die Wettbewerbsfähigkeit denken.
({7})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sind auf dem Holzweg, wenn Sie jetzt die bei der
Einführung der Ökosteuer zu Recht gewährten Steuerentlastungen für die Industrie wieder kippen wollen.
({8})
Diese steuerlichen Entlastungen für Unternehmen des
produzierenden Gewerbes sind weder ungerechtfertigte
noch umweltschädliche Subventionen, sondern sind im
Interesse der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, der
Verhinderung von Standortverlagerungen sowie des Erhalts von Arbeitsplätzen dringend erforderlich.
({9})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wollte in dieser Angelegenheit noch vieles hinzufügen, die Zeit lässt
es nicht zu. Ich meine, trotz der Beschränkung auf diese
wesentlichen Punkte, die ich genannt habe, abschließend
sagen zu können: Merken Sie sich, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen: Jede zusätzliche Verknappung des Angebots an Emissionsberechtigungen
wird den europäischen Unternehmen einseitig weitere
Kosten aufbürden und das Risiko der Verlagerung von
Produktion und Beschäftigung erhöhen.
({10})
Herr Kollege.
Unser Vorgehen ist richtig. Wir lassen hier nicht ab,
und wir stellen die Weichen für eine positive Zukunft
auch im Energiesektor.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Johannes Kahrs von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben erlebt, wie die Abgeordneten der
Koalition eine große Luftblase produziert haben, hinter
der sie versteckt haben, was sie mit dem Umwelt- und
Klimafonds wirklich vorhaben.
({0})
Wir haben hier die schlechteste Rede von Steffen
Kampeter erleben dürfen, die er je gehalten hat. Er hat ja
von Finanzen durchaus Ahnung, hat aber bewiesen, dass
er von Umwelt überhaupt keine Ahnung hat.
({1})
Wir hatten einmal Programme wie das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das Programm „Energetische
Stadtsanierung“, das Marktanreizprogramm und die Programme zur Elektromobilität. Die waren in den früheren
Haushalten alle durchfinanziert. Das Geld war da.
({2})
Dann hat diese Koalition das Geld für diese Programme
genommen, es für andere Dinge ausgegeben
({3})
und dann gesagt: Als Gegenfinanzierung stellen wir die
Erlöse aus CO2-Zertifikaten in einen Fonds ein. In diesen Fonds, den Energie- und Klimafonds, haben Sie all
die Programme hineingetan, die Ihre Minister noch nie
geliebt haben. Er ist zu einer großen Abladestätte von
Programmen geworden, die wir unter Rot-Grün hochgefahren und in der Großen Koalition gehalten haben,
({4})
die aber von CDU/CSU und FDP in der Vergangenheit
nie wirklich gewollt wurden und deren Gelder sie dann
gekürzt haben.
Nachdem Sie das Geld diesen Programmen weggenommen hatten, Herr Kampeter, haben Sie als Finanzierung eine Luftbuchung dagegengesetzt und beklagen
jetzt, dass Ihre eigene Finanzierung nicht funktioniert
und die Programme, die Sie alle so gerne haben wollen,
jetzt leider nicht finanziert sind.
({5})
Das ist einfach unverschämt.
({6})
In der Sache stellten die Reden von Ihnen heute nichts
anderes als Ablenkungsmanöver dar. Es geht nämlich
nicht darum, dass wir mehr Geld ausgeben wollen,
({7})
sondern es geht darum, dass das Geld, das früher für
diese Programme vorhanden war, wieder zur Verfügung
gestellt werden muss.
({8})
- Herr Staatssekretär, Sie gehören auf die Regierungsbank. Ab auf Ihren Platz! ({9})
Das, was Sie gemacht haben, ist im Ergebnis nichts
anderes als ein Ablenkungsmanöver. In Wirklichkeit
wollen Sie es gar nicht. Deswegen haben wir hier alle
ein Problem miteinander; denn das, was Sie hier darstellen, ist in der Sache falsch. Sie versuchen, den Leuten
Sand in die Augen zu streuen. Unsere Aufgabe als Opposition ist es, ganz klar zu sagen: Das wird nicht funktionieren.
Wir halten viel von diesen Programmen.
({10})
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist von Ihnen in
den letzten Jahren immer weiter zusammengestrichen
worden, ebenso das Marktanreizprogramm sowie das
Programm „Energetische Stadtsanierung“. Das haben
wir doch alles erlebt.
Die Kanzlerin hat sich hingestellt und hier Elektromobilität groß als die neue Wunderwaffe beworben.
({11})
Was ist im Ergebnis passiert? Das entsprechende Programm ist nicht ausfinanziert, weil Sie, Herr Kampeter,
als Staatssekretär aus dem Finanzministerium nicht das
Geld für das, was Ihre Kanzlerin hier laufend propagiert,
zur Verfügung gestellt haben.
({12})
Das ist schändlich. Wie es in der Sache war, haben wir
alle erlebt: Das Geld des Bürgers war in diesen Programmen bereits angelegt - das wissen Sie, Herr Kollege -,
aber Sie haben es herausgenommen. Deswegen ist das,
was Sie sagen, unsinnig.
Dennoch können wir Sozialdemokraten dem Antrag
der Grünen nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten.
({13})
- Etwas mehr geistige Trennschärfe, Herr Staatssekretär,
würde Ihnen gut anstehen. - In diesem Antrag ist zwar
sehr viel Gutes enthalten. Aber es wird auch gefordert,
dass energieintensive Unternehmen stärker belastet werden sollen. Auf der anderen Seite wird von Problemen
bei energieintensiven Unternehmen gesprochen, die sich
dann ergeben, wenn die Strompreise erhöht werden. Das
darf nicht sein; denn wir sind Industriestandort. Die
deutsche Industrie muss wettbewerbsfähig bleiben. Es
geht hier um Arbeitsplätze.
Man muss das eine machen, ohne das andere zu lassen. Lernen Sie von der Sozialdemokratie! Dann wissen
Sie, wie es geht.
({14})
Vielen Dank und noch einen schönen Tag.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8919 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internet-Telefonie in Afghanistan
- Drucksachen 17/8895, 17/8795, 17/5908,
17/9057 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Reinhard Brandl
Christoph Schnurr
Omid Nouripour
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Reinhard Brandl von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man mit den Soldaten im Einsatzgebiet oder mit
ihren Familien spricht, dann weiß man, dass die Betreuungskommunikation, also die Möglichkeit, aus dem Einsatzgebiet mit den Familienangehörigen zu Hause Kontakt aufzunehmen, eines der wichtigsten Anliegen
überhaupt ist.
({0})
Früher bestand die Betreuungskommunikation vor allem
aus Feldpost und Telefon. Auch heute noch gehören sie
zu den Kommunikationsmöglichkeiten. Aber darüber hinaus besteht heute der Bedarf nach einigermaßen schnellen Internetzugängen. Aber genau daran hapert es an vielen Einsatzorten.
Beschwerden über die Internetanbindung erleben wir
auf jeder Reise, insbesondere auf Reisen nach Afghanistan. Aber auch im Norden des Kosovo und auf hoher
See ist die Anbindung nach Meinung vieler Soldaten,
nach Meinung des Wehrbeauftragten und auch nach unserer Meinung nicht zufriedenstellend. Wir haben das in
den vergangenen Monaten im Verteidigungsausschuss
mehrmals thematisiert. Daraus ist der Antrag entstanden,
den wir als Koalition gemeinsam mit den Fraktionen der
SPD und der Grünen eingebracht haben und über den
wir heute abstimmen.
Das Signal, das davon ausgehen soll, ist klar: Bei dem
Thema Betreuungskommunikation ziehen wir alle an einem Strang. Ich darf mich ganz herzlich bei den Kollegen Schnurr und Klingbeil sowie bei der Kollegin
Brugger bedanken, mit denen wir diesen Antrag gemeinsam erarbeitet haben.
Das Internet bietet heute Kommunikationsmöglichkeiten, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen
wären. Es geht nicht mehr nur darum, eine E-Mail aus
dem Einsatzgebiet zu schreiben oder auf Webseiten zu
surfen. Es gibt heute beispielsweise über Skype die
Möglichkeit, Videotelefonie durchzuführen. Genau das
wollen die Soldaten und ihre Angehörigen. Die Soldaten
wollen das aber nicht in einem Internetcafé quasi öffentlich tun, wo der Kamerad auf dem Platz nebenan mit einem halben Ohr zuhören kann, sondern in den Unterkunftsgebäuden, wo die Soldaten zumindest ein wenig
Privatsphäre haben.
Natürlich ist es schwierig, im Einsatzgebiet die gleiche Internetperformance wie in Deutschland zu bieten;
das versteht jeder. Aber es wird dann schwierig, die
Gründe für die schlechtere Performance zu erklären,
wenn der Eindruck entsteht, dass andere Nationen ihren
Soldaten am gleichen Ort genau diesen Service bieten.
({1})
Wenn man sich die Details vor Augen führt, mag es
sachliche Gründe geben, warum es bei dem einen geht
und bei dem anderen nicht. Aber wenn das so ist, muss
es sehr transparent sein. Wenn der Eindruck entsteht, die
Bundeswehr würde die Betreuungskommunikation ihrer
Soldaten im Einsatz vernachlässigen, dann ist das für die
Motivation der Soldaten fatal.
({2})
Es ist nicht so, dass nichts passiert. Man kann sagen:
Die Bundeswehr bemüht sich, dem wachsenden Bedarf
der Soldaten Rechnung zu tragen. Erst im Juli 2011 hat
ein neuer Anbieter, Astrium, die Betreuungskommunikation übernommen. Aber nachdem danach das verbesserte Angebot, das Astrium bereitstellt, immer noch
nicht ausreichend war, hat es im November eine umfangreiche Studie gegeben, wie man dieses Angebot im Rahmen des bestehenden Vertrages weiter verbessern kann.
Meiner Ansicht nach ist das auch der richtige Ansatz.
Jetzt eine Neuausschreibung zu fordern, würde
wieder langwierige Vertragsverhandlungen nach sich
ziehen, der bestehende Anbieter würde nichts mehr investieren, und die Infrastruktur müsste gegebenenfalls
ab- und neu aufgebaut werden. Es würde den Soldaten,
die heute und in den nächsten Monaten im Einsatz sind,
überhaupt nichts bringen. Das wäre auch schwer zu vermitteln. Das Ganze würde auch vor dem Hintergrund
geschehen, dass wir in Afghanistan bereits mit den
Abzugsplanungen beginnen.
Wir müssen also das Beste aus der Situation machen.
Hier gibt es Möglichkeiten zur Verbesserung. Bisher
wurden alle Standorte über Satellit versorgt. Kommerzielle Satellitenkapazitäten, insbesondere über Afghanistan, sind ein knappes Gut. Im Moment werden die beiden großen Standorte Kunduz und Masar-i-Scharif über
ein Glasfaserkabel an das Netz der Afghan Telecom angeschlossen. Wenn diese Leitung steht, dann kann die
Anbindung in diesen Lagern darüber verbessert werden
und die freiwerdenden Satellitenkapazitäten würden für
die Standorte Faizabad, Taloqan oder das OP North zur
Verfügung stehen.
Aber die Bandbreite ist nur ein Teil des Problems.
Auch die WLAN-Ausstattung in den Unterkünften muss
verbessert werden. Deswegen fordern wir in unserem
Antrag, dass in Zukunft von Anfang an, wenn solche
Unterkünfte aufgebaut werden, eine entsprechende
WLAN-Versorgung integriert ist. Das gehört heutzutage
dazu, genauso wie der Strom- oder der Wasseranschluss.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die Bundeswehr sind die besseren Möglichkeiten der Betreuungskommunikation eine große Chance. Sie kann damit die
immer häufiger werdenden Einsätze für die Soldaten und
ihre Familien erträglicher gestalten und damit indirekt
die Akzeptanz und die Bereitschaft der Soldaten in den
Einsatzgebieten erhöhen. Wir Abgeordnete fordern die
Bundesregierung und die Bundeswehr auf, diese Chance
aktiv zu nutzen und die Situation für unsere Soldaten im
Einsatz schnellstmöglich zu verbessern.
({3})
Dies haben wir in einem gemeinsamen Antrag zum
Ausdruck gebracht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
ich bitte Sie um Ihre Zustimmung dafür.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle kennen die Situation, dass wir mit
Soldaten im Auslandseinsatz, etwa in Afghanistan, oder
mit Soldatinnen und Soldaten, die aus dem Auslandseinsatz zurückgekehrt sind, im Gespräch sind. Wir Politiker
hören dann eine ganze Reihe von Fragen.
Eine Frage, die ich häufig höre, ist: Wieso können unsere Kameraden aus den Partnerländern kostenfrei und
unbegrenzt mit ihren Familien telefonieren? Eine andere
Frage, die auch oft kommt, lautet: Warum ist es deutschen Polizisten in Afghanistan möglich, in den Unterkunftsgebäuden mit ihren Familien zu skypen?
Es gibt eine dritte Frage, die uns alle bewegen sollte.
Das ist die einfache Frage der Soldatinnen und Soldaten:
Warum ist uns das nicht möglich? Aus dieser Frage höre
ich einen gewissen Frust heraus. Ich höre außerdem die
Vermutung heraus, dass man ihnen nicht genügend Wertschätzung entgegenbringt.
Ich will Ihnen ganz offen sagen: Ich hatte noch nie
eine Antwort auf diese dritte Frage. Mich hat jedoch das
Versprechen bewegt, das ich gegeben habe: Genau um
diese Herausforderung will ich mich kümmern. Heute
tun wir das gemeinsam als Parlament, wir kümmern uns.
Ich bin dankbar dafür, dass wir einen fraktionsübergreifenden Antrag auf den Weg bringen, der die Kommunikationsmöglichkeiten der Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz verbessern soll.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Antrag ist ein
starkes Signal des Parlaments. Er ist ein Signal an die
Soldatinnen und Soldaten, dass wir als Parlamentarier
ihre Arbeit wertschätzen und ihnen Anerkennung zollen
für das, was sie tun. Er ist zugleich ein starkes Signal an
die Bundesregierung, endlich für Kommunikationsmöglichkeiten zu sorgen, die sich auf der Höhe der Zeit befinden. Noch einmal: Hier senden wir ein starkes Signal.
Die SPD hat bei vorangegangenen Haushaltsberatungen gefordert, erstens das kostenfreie Telefonieren zu ermöglichen und zweitens die Kapazitäten für Internettelefonie auszubauen. Leider sind diese Anträge abgelehnt
worden. Es ist aber richtig, dass wir nicht zurückblicken,
sondern dass wir uns zusammen auf den Weg gemacht
haben und heute diesen gemeinsamen Antrag verabschieden.
Der Kollege Brandl hat es gerade angesprochen, und
ich kann es bestätigen: Wenn ich etwa in meiner Heimatstadt Munster, wo es viele Soldaten gibt, die gerade in
Afghanistan waren, Gespräche geführt habe, dann waren
wir in den Diskussionen immer sehr schnell beim Thema
Betreuungskommunikation. Dabei ist es gar nicht viel,
was die Soldatinnen und Soldaten erwarten. Es geht gar
nicht um Standards, wie wir sie in deutschen Großstädten erleben. Die Soldatinnen und Soldaten sind sehr bescheiden, aber sie fragen: Warum ist es nicht möglich,
dass ich in meinem Unterkunftsgebäude meinen Laptop
aufklappen und mit meiner Familie skypen kann? Sie
fragen: Warum ist es nicht möglich, dass ich mit meiner
Freundin auch einmal länger als 30 Minuten kostenfrei
telefonieren kann? - Wenn man sieht, dass das in anderen Nationen möglich ist, dann ist es umso notwendiger,
dass wir diesen Antrag heute auf den Weg bringen.
Wir sind seit zehn Jahren in Afghanistan, und wir alle
müssen uns fragen, ob wir mit diesem Antrag nicht ein
bisschen spät dran sind. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
Der technische Fortschritt hat uns aber auch neue Möglichkeiten eröffnet. Wir müssen uns als Politiker kritisch
fragen, ob wir bei vorangegangenen Vertragsverhandlungen mit unseren Forderungen überhaupt auf die richtigen technischen Standards gesetzt haben.
Der Deutsche Bundestag definiert heute, was er im
Hinblick auf die Betreuungskommunikation und die
technischen Möglichkeiten für wichtig hält. Damit setzen wir Standards für künftige Einsätze, die kommen
können. Es darf keinen Einsatz der Bundeswehr mehr
geben, der nicht auf diese Standards zurückgreift, die wir
heute in dem Antrag definieren. Die in den nächsten Wochen anstehenden Verhandlungen mit dem Ministerium
versprechen spannend zu werden.
Der Kollege Schnurr hat bei einer Pressekonferenz,
die wir mit den Initiatoren des Antrags abgehalten haben, gesagt: Unser Motto lautet: „Geht nicht“ gibt’s
nicht. Das muss, glaube ich, in den kommenden Wochen
die Leitlinie für das Parlament sein.
({1})
Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht
hätte, diesen Antrag gemeinsam mit allen Fraktionen auf
den Weg bringen zu können. Die Streitereien und Differenzen zwischen Union und Linken können wir als Sozialdemokraten an dieser Stelle aber nicht befriedigen.
Vielleicht kommen wir irgendwann zu dem Punkt, dass
wir in diesem Hohen Hause Anträge, die die Bundeswehr betreffen, auch gemeinsam verabschieden können.
({2})
Dieser Antrag sieht im Detail vor, in den Unterkunftsgebäuden eine Technologie vorzuhalten, die Videotelefonie ermöglicht. Dieser Antrag fordert die Bundesregierung auf, ein Finanzierungskonzept vorzulegen, um das
Ganze für die Soldatinnen und Soldaten kostenfrei bereitzustellen. Wir fordern auch die Aufhebung der 30-Freiminuten-Regelung. Vor allem drängen wir darauf, dass die
Möglichkeit auf ausreichende Privatsphäre bei der Kommunikation gewährleistet wird.
Ich sage Ihnen: Es geht bei diesem Antrag nicht nur
um die Frage der Kommunikation. Bei diesem Antrag
geht es auch um die die Frage nach der Attraktivität des
Soldatenberufs. Wir alle wissen doch, wie schwierig es
in den kommenden Monaten und Jahren wird, ausreichend Nachwuchs für die Bundeswehr zu bekommen.
Diejenigen, die bei der Bundeswehr ausscheiden, und
diejenigen, die aus dem Auslandseinsatz zurückkommen, sind die wichtigsten Personen, wenn es darum
geht, Nachwuchswerbung für die Bundeswehr zu betreiben. Deswegen müssen wir erreichen, dass diese Soldatinnen und Soldaten sagen: Die Politik hat sich um uns
gekümmert. Die Politik nimmt uns ernst. - Wir setzen
heute mit diesem Antrag ein wichtiges Zeichen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist egal, ob jemand in den ersten Einsatz geht oder in den fünften, es
ist egal, ob jemand nach Afghanistan oder in den
Kosovo geht, es ist egal, ob wir von einem Mannschaftsdienstgrad oder von einem Offizier reden: Für alle diese
Menschen ist die Trennung von Familie und Freunden
eine große Herausforderung. Wir haben uns deswegen
darum zu kümmern, dass es eine angemessene, umfangreiche und moderne Betreuungskommunikation gibt.
Ich will mich dem Dank anschließen, der von meinem
Vorredner formuliert wurde. Ich will hier Herrn Brandl,
Frau Brugger und Herrn Schnurr erwähnen, aber auch
Herrn Koch, der an den Beratungen beteiligt war, die wir
durchgeführt haben. Ich will mich beim Wehrbeauftragten bedanken, der, wie sein Vorgänger, immer wieder auf
dieses Thema hingewiesen hat. Ich will mich auch beim
BundeswehrVerband bedanken - ich sehe Vertreter des
Verbandes oben auf der Tribüne -, der auch immer sehr
aktiv war, wenn es darum ging, die Betreuungskommunikation zu verbessern.
Wir senden heute als Parlament einen Appell an die
Regierung. Unser neuer Bundespräsident hat am Sonntag hier geredet und gesagt: „Was für ein schöner Sonntag!“ Ich glaube, dies kann ein schöner Donnerstag werden. Herr de Maizière, Sie haben es jetzt in der Hand,
unsere Vorschläge umzusetzen. Wir wünschen Ihnen
dabei viel Kraft. Auf unsere Unterstützung können Sie
sich verlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich habe ich
noch eine Minute Redezeit; aber ich glaube, zu diesem
Thema ist alles gesagt. Es wird Zeit, dass wir handeln.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Schnurr für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann nahtlos da anschließen, wo mein Vorredner aufgehört hat: Heute ist in der Tat ein sehr schöner Tag, weil
wir ein klares Signal an unsere Soldatinnen und Soldaten
im Einsatz, aber auch hier in Deutschland sowie an ihre
Familien senden. Nachdem wir im letzten Jahr das Einsatzversorgungsgesetz auf den Weg gebracht haben, geht
es uns heute um die Verbesserung der Betreuungskommunikation in den Auslandseinsätzen. Es ist ein klares
Signal, weil dieser Antrag aus der Mitte des Parlamentes
kommt; er ist fraktionsübergreifend.
Auch ich möchte gleich zu Beginn meinen Dank dafür aussprechen, dass wir diesen Antrag in sehr konstruktiven Gesprächen, in denen es manchmal um sehr
detaillierte Ausformulierungen ging - ich hätte fast gesagt: wir haben beinahe über jedes Komma gesprochen -,
zustande gebracht haben, in einer sehr zügigen Art und
Weise. Ich möchte in diesen Dank auch all jene
Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichen
Fraktionen einbeziehen, die nicht nur mit unserem
Know-how, sondern teilweise auch mit sehr spezifischem technischen Know-how gedient haben, beispielsweise unseren Kollegen Jimmy Schulz.
({0})
Liebe Kollegen, wir befassen uns im Verteidigungsausschuss mit vielen Themen und sind immer bemüht,
unseren Soldatinnen und Soldaten nach Möglichkeit eine
gute Ausrüstung zu bieten sowie eine persönliche Ausstattung und Ausbildung zu gewährleisten; wir sind immer dabei, sie zu verbessern. In diesem Bereich hat sich
eine Menge getan. Einige Maßnahmen haben viel Geld
gekostet. Heute geht es um die Betreuungskommunikation, um eine Aufgabe, deren Realisierung nicht gleich
zig Millionen Euro kostet, aber für die Truppe enorm
wichtig ist und einen hohen Stellenwert hat.
Die Bedeutung der Betreuungskommunikation für
unsere Soldatinnen und Soldaten, aber insbesondere
auch für ihre Familien ist uns allen bewusst. Ob bei
Truppenbesuchen im Inland oder im Ausland: Das
Thema wird bei jeder Gelegenheit, an jeder Stelle angesprochen. Teilweise erhalten wir E-Mails und Anrufe
von Familienangehörigen, die auf die verbesserungsbedürftige Situation hinweisen. Wir wollen - das sagen wir
heute ganz deutlich - eine bessere, modernere und angemessenere Betreuungskommunikation für unsere Soldatinnen und Soldaten.
Wurde einst hauptsächlich über Briefe via Feldpost
kommuniziert, existiert heute eine Vielzahl an Kommunikationsmöglichkeiten: das Telefonieren, das Verschicken
von SMS, die Möglichkeiten, die über das Internet geboten werden, beispielsweise das Schreiben von E-Mails,
der Download von Videos oder Musik, die man sich anschauen oder anhören kann, aber auch die Nutzung der
entsprechenden Nachrichtenportale zur politischen Bildung, ganz besonders natürlich die Nutzung der technologischen Möglichkeiten der Videotelefonie bzw. von
Skype. In unserem Antrag geht es uns heute um diese
Feldpost 2.0. Die Betreuungskommunikation ist ein wichtiger und nicht kleinzuredender Faktor.
({1})
Meine Vorredner hatten es bereits erwähnt: Ein Blick auf
andere Nationen lässt die Erwartungen unserer eigenen
Soldaten steigen. Teilweise können Telefonate, sogar Videotelefonate, über Dienstgeräte bzw. Dienstsatelliten
getätigt werden; nicht so in Deutschland.
In Deutschland wird die Betreuungskommunikation
durch einen privaten Anbieter bereitgestellt. Durch den
neuen Anbieter, der im letzten Jahr beauftragt wurde, hat
sich die Situation schon verbessert. Ein vergleichbarer
Standard wie hier in Deutschland wird es in Afghanistan
auf absehbare Zeit aber nicht geben können. Ein Unterschied in der Übertragungsgeschwindigkeit wird bei19958
spielsweise immer vorhanden sein. Das dürfen wir nicht
vergessen und nichts anderes versprechen.
Die Notwendigkeit für weitere Verbesserungen ist offenkundig und besteht fort. Deshalb fordern wir in unserem Antrag erstens, dass die Videotelefonie in Unterkünften flächendeckend ermöglicht wird, damit in
Echtzeit in Bild und Ton Kontakt zur Familie gehalten
werden kann, dass die Soldaten sozusagen live mit ihren
Familien oder ihrem sozialen Umfeld kommunizieren
können, zweitens ein Umsetzungskonzept für eine kostenfreie Nutzung des Internets, drittens, dass die notwendige IT-Infrastruktur künftig in den Unterkünften integriert wird, viertens, dass entsprechende Maßnahmen
ergriffen werden, um die Gewährleistung der Privatsphäre von Soldatinnen und Soldaten bei der Nutzung
der Videotelefonie zu verbessern, und fünftens, dass die
Soldaten im Einsatz die Möglichkeit bekommen, kostenfrei nach Deutschland zu telefonieren.
({2})
Ein Großteil unserer Soldatinnen und Soldaten befindet sich 5 000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in einem herausfordernden und gefährlichen Einsatz. Die Belastungen für die Familien sind enorm und kaum
vorstellbar. Die Scheidungs- und Trennungsquoten sprechen für sich. Eine moderne und zuverlässige Betreuungskommunikation ist auch Ausdruck einer Fürsorgepflicht gegenüber unseren Soldaten und deren sozialem
Umfeld. Ich würde mich freuen, wenn das Ministerium
nach Beschlussfassung hier im Hohen Hause eine rasche
Umsetzung der Maßnahmen sicherstellen würde; denn
es geht nicht nur darum, dass wir ein klares Signal an unsere Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien senden,
Herr Minister, sondern auch darum, dass das Haus weiterhin schnell und möglichst unbürokratisch an der Umsetzung arbeitet.
({3})
Eine moderne Armee braucht mehr als gut ausgebildete Soldatinnen und Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge; eine moderne Armee muss auch auf die Wünsche
der Soldaten eingehen. Wir wollen die bestmögliche Betreuungskommunikation für unsere Frauen und Männer
im Einsatz. Anders formuliert: Deutschland muss auch
vom Hindukusch aus erreichbar sein.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Harald Koch.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Elektronische Kommunikationsmedien sind für die Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz oftmals die einzige Verbindung
zur Heimat und die einzige Möglichkeit, sich frei und
uneingeschränkt zu informieren.
Trotz eines Anbieterwechsels im Jahr 2011 kritisieren
sowohl Bundeswehrangehörige als auch der Wehrbeauftragte weiterhin, dass das Angebot noch immer unzureichend ist und es den Soldatinnen und Soldaten eben
nicht ermöglicht, beispielsweise per Skype mit der Familie zu kommunizieren oder via Internet die neuesten
Nachrichten zu erhalten. Gerade dies ist aber angesichts
immer weiter steigender Zahlen von PTBS und anderen
einsatzbedingten psychischen Erkrankungen nicht nur
für die Erhaltung der psychischen Gesundheit von zentraler Bedeutung, sondern auch zur Gewährleistung einer freien, vom Bundeswehrumfeld unbeeinflussten
Meinungsbildung.
Kostenloses Telefonieren und Surfen mit entsprechenden Bandbreiten sind für die Angehörigen der
Streitkräfte anderer Nationen, aber auch für stationierte
Polizistinnen und Polizisten längst Standard. Das sollte
auch für die deutschen Bundeswehrangehörigen gelten.
Der interfraktionelle Antrag von CDU/CSU, FDP, SPD
und den Grünen erkennt dieses Problem zwar, wälzt die
Verantwortung aber auf die Ministerialbürokratie ab, die
prüfen soll, ob eine kostenfreie Nutzung des Internets
zukünftig möglich ist.
({0})
Aus unserer Sicht reicht es nicht aus, immer nur zu prüfen. Was dabei herauskommt, können wir seit über zehn
Jahren bei der Entschädigung von Radarstrahlenopfern
verfolgen. Da wird bis heute geprüft, und die Betroffenen warten, warten und warten.
Darüber hinaus fordern wir, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Privatsphäre der Soldatinnen und
Soldaten besser zu schützen und so sicherzustellen, dass
diese frei von Überwachung über ihre Einsatzerlebnisse
berichten können.
Abschließend noch ein Wort an alle, die nun vielleicht
die Befürchtung haben, mit unserem Antrag werde ein
Bruch mit den friedenspolitischen Positionen der Linken
eingeleitet.
({1})
Ich mache kein Geheimnis daraus, dass einige Abgeordnete meiner Fraktion da anderer Auffassung sind.
({2})
- Es gibt dazu entsprechende Erklärungen. - Der Auffassung einiger Abgeordneter von uns, dass damit die
Attraktivität des Einsatzes verbessert wird, möchte ich
entgegnen: Nicht die Soldatinnen und Soldaten sind unsere Gegner, sondern die Generäle und Politiker, die sie
in Kriegseinsätze schicken.
({3})
Den Linken sind die sozialen Belange der Soldatinnen und Soldaten nicht gleichgültig. So haben wir uns
beispielsweise für die bessere Versorgung der PTBS-Opfer oder für die Entschädigung von Radarstrahlengeschädigten eingesetzt. Ich bin der Meinung, dass es zynisch
ist, wenn Schwarz-Rot-Gelb-Grün Soldatinnen und Soldaten immer häufiger in immer gefährlichere Kriegseinsätze schickt, sich dann aber nicht um die Konsequenzen
für die Betroffenen sowie deren Angehörige kümmert.
Ich lehne die bisherige Praxis der Bundesregierung, Soldatinnen und Soldaten als Kanonenfutter zu rekrutieren,
genauso ab, wie ich konsequent jede Form der Kriegseinsätze ablehne.
({4})
Nach wie vor haben die sofortige Beendigung aller
Bundeswehreinsätze und der unverzügliche Abzug aller
Truppen oberste Priorität. Dies würde erübrigen, sich um
dieses Thema zu kümmern und Mittel auszugeben.
Diese Mittel könnten wir für andere, bessere Zwecke
einsetzen. Das wäre ein Gewinn für alle Seiten.
Solange die Bundesregierung das aber nicht verstehen
will, setzen auch wir Linke uns für das Recht der Bundeswehrangehörigen ein - sie werden trotz unserer Ablehnung mit Bundestagsmandat in diesen Krieg geschickt werden -, über freie und ungestörte Kommunikationsmöglichkeiten sowie über einen unkontrollierten Zugang zu Informationen zu verfügen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Agnieszka Brugger
für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede und
jeder, der eine Fernbeziehung geführt hat, kennt die
große Bedeutung von Telefon und Internet. Wir Abgeordneten machen durch die Pendelei zwischen Berlin
und Wahlkreis unsere Erfahrungen mit der räumlichen
Distanz von der Familie. Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass niemand von uns auf Telefon
oder Internet verzichten möchte.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im
Einsatz sind nicht nur für einige Tage oder Wochen von
ihren Familien getrennt, sondern in der Regel für mehrere Monate. Gewalt und Gefahr gehören in dieser Zeit
zum Alltag der Bundeswehrangehörigen. Mit diesem
Alltag im Einsatz klarzukommen, ist eine enorme Herausforderung; allein ist das kaum zu schaffen. Der Austausch mit den eigenen Angehörigen ist unverzichtbar
für die Bewältigung der Einsatzrealität. Auch die Angehörigen brauchen wiederum die regelmäßige direkte
Kommunikation, damit sie mit der Angst um die Soldatinnen und Soldaten auch umgehen können.
Das alles ist nichts Neues; denn die Bundeswehr ist
seit bald 20 Jahren im Einsatz. Dabei dauern die Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan seit mehr als
einem Jahrzehnt an. Auf vielen Reisen hören wir heute
immer wieder die gleichen Klagen. Dennoch sah sich
das Verteidigungsministerium bis heute nicht in der
Lage, für die Soldatinnen und Soldaten die notwendige
Infrastruktur für kostenloses Telefonieren, Mailen, Skypen und Simsen zu schaffen. Das ist ausgesprochen bitter, meine Damen und Herren.
({0})
Es ist richtig, dass wir Grünen bei Auslandseinsätzen
manchmal nicht die Meinung der Regierung teilen und
leidenschaftlich über ihren Sinn und Zweck sowie über
ihre Ausgestaltung diskutieren. Die Frage aber, wie sich
der Dienstherr um die Bundeswehrangehörigen im Einsatz kümmert, ist von unserer Zustimmung zu diesem
Einsatz unabhängig. Die Bundesregierung muss der Fürsorgepflicht nämlich bei jedem Einsatz gerecht werden.
({1})
Im Verteidigungsausschuss wurde die deutliche Vernachlässigung der Fürsorgepflicht wiederholt fraktionsübergreifend und auch in aller Deutlichkeit kritisiert.
Eine grundlegende Verbesserung trat leider nicht ein.
Im vergangenen Jahr wurde es der Fraktion der Grünen zu bunt. Im Mai 2011 haben wir den Antrag in dieses Parlament eingebracht, den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz endlich in angemessener Qualität und
Verfügbarkeit die Internettelefonie zu ermöglichen. Ich
freue mich wirklich außerordentlich, dass diese Initiative
bei allen Fraktionen Anklang gefunden hat und wir nun
einen neuen Antrag einbringen, wenn auch leider nur mit
vier Fraktionen. An dieser Stelle danke ich den Kollegen
ganz herzlich für die sehr gute Zusammenarbeit.
({2})
Ich hätte mich noch mehr gefreut, wenn wir diese Initiative zu fünft ergriffen hätten. Immerhin hat sich die
Fraktion Die Linke von der Kooperationsverweigerung
der Unionsfraktion nicht völlig vergrätzen lassen
({3})
und in ihrem eigenen Antrag die Einigkeit in den wesentlichen Punkten demonstriert, unter anderem - auch
das muss man sagen -, indem sie Passagen unseres ersten Arbeitsentwurfs wortwörtlich übernommen hat, was
uns sehr freut.
({4})
Leider haben Sie aber auch - das hat Ihre Rede gezeigt ein paar sehr polemische und weniger sinnvolle Punkte
ergänzt, sodass wir Ihrem Antrag nicht folgen können.
({5})
Dennoch ist diese fraktionsübergreifende Einigkeit
heute ein sehr deutliches Signal an die Adresse des Verteidigungsministeriums: Das Parlament nimmt seine
Fürsorgepflicht gegenüber der Parlamentsarmee im Einsatz sehr ernst. Es ist unser explizites Anliegen, dass die
Möglichkeiten der Kommunikation aus dem Einsatz
nach Hause jetzt ausgebaut und angepasst werden. Auch
bei zukünftigen Einsätzen müssen die notwendigen
Maßnahmen für eine funktionierende Betreuungskommunikation von Anfang an ergriffen werden.
Sicherlich, eine so umfassende Betreuungskommunikation kostet Geld. Im Verhältnis zu den Gesamtkosten
eines Einsatzes sind die Beträge, über die wir reden, aber
eher klein. Es sollte uns jeden Cent wert sein, weil wir
den Soldatinnen und Soldaten und ihren Familien dadurch helfen, die Zeit der Trennung zu überstehen.
({6})
Die Bundesregierung ist sehr gut beraten, dieses
Zeichen nicht länger zu ignorieren. Sie sollte schnellstmöglich handeln. Der Ball liegt jetzt bei Ihnen, Herr
de Maizière.
Vielen Dank.
({7})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Jürgen Hardt von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz ist
dies die zweite Initiative aus der Mitte des Parlaments in
dieser Legislaturperiode, die echte Verbesserungen für
die Soldaten bringt. Ich glaube, dass der 17. Deutsche
Bundestag seine Aufgabe als Hüter der Interessen der
Soldaten, insbesondere solcher im Auslandseinsatz, sehr
gut wahrnimmt. Ich finde es auch schön, dass es eine so
breite Unterstützung dieses Anliegens gibt. Dass die Regierung heute hier durch den Bundesverteidigungsminister persönlich vertreten ist, ist ein gutes Zeichen dafür,
dass diese Sache auch im Verteidigungsministerium
Chefsache ist.
({0})
Ich möchte der Kollegin Brugger einen kleinen Hinweis geben, die nicht ganz zu Unrecht angemerkt hat,
dass die deutsche Bundeswehr in den letzten Jahren im
Hinblick auf die Kommunikation aus dem Einsatz heraus ein Stück zurückhing. Ich glaube, einer der Hauptgründe dafür war ein Vertrag mit einem entsprechenden
Anbieter, der viel zu umständlich war und eine viel zu
lange Laufzeit hatte; dieser Vertrag lief über zehn Jahre.
({1})
Ich frage mich, wie man in der heutigen Zeit im Bereich
der Kommunikationstechnik Verträge mit einer Laufzeit
von zehn Jahren abschließen kann, da man doch überhaupt nicht weiß, wie sich die Dinge in den folgenden
zehn Jahren entwickeln. Dieser Vertrag, der, wie ich
glaube, 2001 von einer anderen Regierung geschlossen
wurde,
({2})
sollte uns lehren, so etwas nicht noch einmal zu machen;
diese Erfahrung sollten wir mitnehmen. Die Verträge,
die wir schließen, sollten etwas flexibler sein, damit wir
auf neue Entwicklungen reagieren können.
({3})
Ich glaube, dass wir alle gut daran tun, nach vorne zu
schauen.
Zu der Rede des Kollegen Koch möchte ich etwas anmerken.
({4})
Sie haben hier dialektische Freistilübungen gemacht, um
irgendwie zu erklären, warum die Linke bei einem
Thema, das mit der Bundeswehr zu tun hat, nun doch
das eine oder andere freundliche Wort findet. Ihre Worte
müssen Sie an Ihre eigene Fraktion richten; denn uns
muss man diesbezüglich nicht überzeugen. Ich glaube,
dass die Linke gut beraten wäre, zu überlegen, ob sie
diesem Antrag nicht vielleicht doch zustimmen kann
- das hat sie beim Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz auf Betreiben ihres verteidigungspolitischen Sprechers, Paul Schäfer, letztlich getan -, um das schiefe
Bild, das in der Öffentlichkeit durch Enthaltungen entsteht, ein Stück weit geradezurücken.
Herr Kollege Hardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gehrcke?
Bitte schön.
Herr Kollege, erst einmal herzlichen Dank, dass Sie
die Frage erlauben. - Ich möchte gern auf den Kernpunkt der Differenzen zu sprechen kommen. Wenn Sie
einseitig in Richtung der Linken fragen, ob wir uns
bewegen, was die Bundeswehr angeht, frage ich zurück:
Werden sich die Union und die anderen Fraktionen, die
diesen Antrag eingereicht haben - das gilt insbesondere
für die Grünen -, bewegen und endlich begreifen, dass
die Bundeswehr sofort aus Afghanistan abgezogen werden muss? Das wäre das größte Verdienst; so würde man
Solidarität mit den eingesetzten Soldaten zeigen. Das ist
der Kernpunkt der Differenzen. Damit muss man sich
auseinandersetzen.
({0})
Es muss doch auch Sie beschäftigen, wenn der Leiter
eines Instituts für strategische Forschung in den Niederlanden sagt, dass der Westen diesen Krieg nicht mehr
gewinnen kann, und daraus schlussfolgert, dass die
Truppen sofort abgezogen werden sollten, damit die Soldaten und vor allen Dingen die Menschen in Afghanistan
nicht weiter gefährdet werden.
({1})
Das ist der Punkt, mit dem man sich auseinandersetzen
muss.
({2})
Herr Kollege, darauf möchte ich eine kurze und klare
Antwort geben. Ich hielte den sofortigen Abzug der
Bundeswehr aus Afghanistan für einen Verrat an den
Menschen,
({0})
die im Vertrauen auf unsere Unterstützung und Zuverlässigkeit am Aufbau von stabilen Verhältnissen in Afghanistan mitwirken. Deswegen wäre es ein großer Fehler
und eine moralische Ungerechtigkeit, wenn wir die deutschen Soldaten jetzt sofort abziehen würden.
({1})
Lassen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der
im Antrag nicht erwähnt wird, den ich der Regierung
aber trotzdem mit auf den Weg geben will. Wir sprechen
über Infrastruktur im Auslandseinsatz, insbesondere bei
den Landeinsätzen. Wir führen aber auch einige große
Marineeinsätze durch, insbesondere die Operation
Atalanta. Die Möglichkeiten der privaten Telefonie, des
privaten Surfens und des Skypens auf deutschen Kriegsschiffen sind unzureichend; naturgemäß ist das Telefonieren dort noch komplizierter als an Land. Wenn eine
deutsche Fregatte die Meerenge von Gibraltar passiert,
dann stürmen die Soldaten auf das Achterdeck und versuchen, mit ihren Handys über ein spanisches oder marokkanisches Telefonnetz eine Botschaft nach Hause zu
senden, weil privates Telefonieren an Bord von deutschen Kriegsschiffen nur sehr eingeschränkt möglich ist.
Ich würde mir wünschen, dass wir bereits bei der
Konzeption neuer Schiffe der Marine, insbesondere solcher Schiffe, die gegebenenfalls für längere Auslandseinsätze, zum Beispiel am Horn von Afrika, vorgesehen
sind, prüfen, ob wir durch technische Vorkehrungen die
Möglichkeiten des privaten Telefonierens und Surfens,
und zwar in Privatsphäre, erleichtern können. Das wäre
ein großer Fortschritt für die Soldaten im Einsatz auf
See. Ich glaube, damit würden wir allen einen großen
Gefallen tun. Es wäre schön, wenn dies berücksichtigt
würde.
({2})
In dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP,
Grünen und SPD fordern wir, dass Videotelefonie in den
Unterkünften der Einsatzgebiete flächendeckend ermöglicht wird. Wir fordern kostenfreien Internetzugang in
den Unterkünften. Wir fordern, dass mehr Privatsphäre
ermöglicht wird, dass die Soldatinnen und Soldaten telefonieren können, ohne dass ihnen dabei Kameraden über
die Schulter schauen. In diesem Antrag wird gefordert,
dass die Soldaten im Einsatz kostenlos telefonieren können, und zwar länger als 30 Minuten pro Woche. Ein
Telefonat dauert das eine oder andere Mal länger; dies
hängt auch von der aktuellen Lebenssituation des Soldaten ab. Man wird nicht immer länger als 30 Minuten
telefonieren müssen, aber manchmal schon.
Ich glaube, mit diesen Forderungen haben wir der
Bundesregierung ein ordentliches, solides Auftragspaket
übermittelt, das abgearbeitet werden kann. Ich bin zuversichtlich, dass wir schon bald Erfolgsmeldungen aus
dem Bendlerblock hören werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache
17/9057 kommen, gebe ich Ihnen bekannt, dass mehrere
Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu
Protokoll genommen werden1).
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/8895 mit dem Titel „Für
eine moderne und umfassende Betreuungskommunika-
tion im Einsatz“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist
die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Frak-
tionen bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten der
Fraktion Die Linke, die sich zum Teil enthalten und zum
Teil dagegen gestimmt hat, angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8795 mit dem
Titel „Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungs-
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
kommunikation im Einsatz“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Das ergibt kein klares Ergebnis, das wir
zu Protokoll nehmen können. Ich muss diese Abstimmung wiederholen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8795 mit dem
Titel „Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und der
Grünen bei Ablehnung eines Teils der Fraktion Die
Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5908 mit
dem Titel „Internet-Telefonie in Afghanistan“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar
Binding ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Weltwärts - Ein Freiwilligendienst mit Zukunft
- Drucksache 17/8769 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Helga Daub, Joachim
Günther ({2}), Harald Leibrecht, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Weltwärts wird Gemeinschaftswerk
- Drucksache 17/9027 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Bärbel Kofler von der SPD-Fraktion
das Wort.
({4})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass wir nach einer langen Evaluierungszeit - ich meine das durchaus positiv; denn das spricht
für die Qualität der Evaluierung - jetzt Erkenntnisse
über „weltwärts“ vorliegen haben, die im Wesentlichen
deutlich machen, was für ein positives, innovatives und
neues Instrument dieser Freiwilligendienst darstellt.
Gleichzeitig werden uns aber auch Vorschläge mit auf
den Weg gegeben, wo wir mit Verbesserungsmaßnahmen ansetzen können. Vor genau diesem Hintergrund
haben wir als SPD-Fraktion uns entschlossen, einen
Antrag einzubringen, um etwas sehr Gutes zu verbessern.
({0})
Es ist mit „weltwärts“ gelungen - die Evaluierung
macht das deutlich -, sehr viele junge Menschen zu
erreichen. Es sind mehr als 10 000 Freiwillige - das war
der Stand bis Ende 2010; jetzt sind es natürlich noch
wesentlich mehr - entsandt worden - ich füge kritisch
hinzu, dass es noch ein paar mehr hätten sein können,
wenn man haushalterisch ein bisschen mehr für das Programm „weltwärts“ gemacht hätte -, und es sind knapp
250 Entsendeorganisationen beteiligt gewesen. Sie alle
haben bestätigt, dass „weltwärts“ ein gutes Programm
ist, und die entwicklungspolitische Bildungsarbeit, die
von „weltwärts“ geleistet wird, gelobt.
({1})
Ich finde bereits das Motto des Freiwilligendienstes
„Lernen durch tatkräftiges Handeln“ beachtenswert.
Denn es geht darum, einen globalen Lerndienst einzurichten, der sich von vielen anderen Austauschprogrammen unterscheidet.
Es geht um das wechselseitige Lernen voneinander
und miteinander, um entwicklungsfördernd tätig sein
zu können. Gerade das ist etwas, was man hätte erfinden müssen, wenn man „weltwärts“ nicht erfunden
hätte. Bereits vor 2007 - 2007 war das Jahr, in dem
Heidemarie Wieczorek-Zeul „weltwärts“ aus der Taufe
gehoben hat - gab es junge Menschen, die sich in Entwicklungsländern einbringen, sich dort engagieren und
mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten zu einer besseren
Entwicklungszusammenarbeit beitragen wollten. Eine
hohe Hürde für viele von ihnen war, dass sie ihr entwicklungspolitisches Engagement selbst finanzieren mussten.
Dies war gerade für junge Freiwillige aus Familien mit
einem schmalen Geldbeutel ein Problem.
Genau an diesem Punkt setzt „weltwärts“ zu Recht
an. Dort wurden neue Maßstäbe gesetzt - auch mit dem
Zuschuss, den es für Entsendeorganisationen gibt -, soDr. Bärbel Kofler
dass die Freiwilligen jetzt nicht mehr für Kost und Logis
bezahlen müssen, ein Taschengeld erhalten können und
ordentlich krankenversichert, also abgesichert sind.
Unter diesen Voraussetzungen können sie als junge
Menschen mit gutem Gewissen auch in durchaus
schwierige Regionen dieser Erde geschickt werden.
({2})
In der langen Version des Evaluierungsberichts stehen
einige ganz wichtige Punkte. Der Ansatz von „weltwärts“ wird in vielem bestätigt. Es wird über die Relevanz der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit gesprochen, und „weltwärts“ wird als positiver Beitrag - ich
finde, das ist besonders wichtig - in den Partnerländern
vor Ort genannt. Wörtlich steht dort: Neben dem Beitrag
zur Arbeit der Einsatzstellen profitieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Zielgruppen und das nähere
Umfeld insbesondere durch den interkulturellen Austausch. - Selbstverständlich bringt „weltwärts“ einen
Mehrwert für die Freiwilligen selbst und für ihre persönliche Entwicklung. Das ist auch gut so.
Es ist damit auch gelungen - diesen Ansatz hatten wir
2007 ebenfalls -, gerade für junge Frauen ein Programm
aufzulegen, das es ihnen ermöglicht, im Ausland einen
Dienst anzutreten. Wer sich erinnert, der weiß: Das war
damals noch nicht der Fall. In den meisten Fällen wurden Auslandsdienste analog zum damaligen Zivildienst
von jungen Männern wahrgenommen.
Die Evaluierung gibt uns auch einige Hinweise
darauf, wo wir noch etwas tun können und wo wir besser
werden müssen. Ein Anspruch von „weltwärts“ war,
dass sich nicht nur Abiturienten und Kinder aus der bildungsnahen Schicht oder zum Teil auch aus der sogenannten Bildungselite des Landes für diesen Dienst interessieren können, sondern dass sich gerade Freiwillige,
die einen Haupt- oder Realschulabschluss und eine
Berufsausbildung haben, die also aus der Breite der
Bevölkerung kommen, für solch ein Programm interessieren und dass ihnen Angebote für ihre persönliche Entwicklung gemacht werden können, sodass sie die Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie erworben haben, in
anderen Ländern einbringen können.
Hier besagt der Evaluierungsbericht eines ganz deutlich: Wir müssen an dieser Stelle besser werden. Wir
müssen auf diese Zielgruppen anders zugehen. Wir müssen das Programm anders bekannt machen und uns in
Bezug auf den einen oder anderen Punkt - das gilt vielleicht auch hinsichtlich arbeitsrechtlicher Fragestellungen - noch einmal Gedanken darüber machen, wie wir
hier für die jungen Menschen ein adäquateres Angebot
machen können.
({3})
Der Bericht gibt einige positive Hinweise darauf, wie
man die Qualitätssicherung auch bei Entsendeorganisationen vorantreiben und die Ressortabstimmung verbessern kann. Er beinhaltet aber auch einiges - ich betone
das noch einmal - zur finanziellen Ausstattung des Freiwilligendienstes. Auch hier gilt: Die Qualität, die wir bei
den Programmen, bei der Vorbereitung, bei der Nachbereitung, bei der Rückkehrerarbeit und bei der Bildungsarbeit, die die jungen Menschen leisten sollen und können, einfordern, ist so gut wie der Rahmen, den wir
finanziell abstecken. Die Zahl, die genannt wird, stammt
nicht von mir und nicht von der Opposition, sondern sie
stammt aus dem Evaluierungsbericht. Dort wird davon
gesprochen, dass für dieses Programm 70 Millionen
Euro notwendig sind.
({4})
Noch einige Worte zur Evaluierung selbst. Es ist vielleicht nicht bekannt, dass diese Evaluierung bereits in
der Einführungsphase von „weltwärts“ Bestandteil des
Konzepts war - ich denke, es ist wichtig, das noch einmal darzustellen -, dass schon immer geplant war, mit
Ende der Einführungsphase 2010 mit der Evaluierung
des Programmes zu beginnen. Es war nie etwas anderes
geplant, und das ist dann Gott sei Dank von einer unabhängigen Consulting-Agentur auch so durchgeführt worden.
Die Evaluierung ist langfristig angelegt worden, und
im Rahmen dieser Datenerhebung sind über mehrere
Monate in sechs Fallstudienländern flächendeckend Entsendeorganisationen, Freiwilligen- und Partnerorganisationen befragt worden. Ihre Meinungen und Erkenntnisse sind aufgenommen worden. In Deutschland sind
insbesondere die Erkenntnisse zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit und zur Rückkehrerarbeit aufgenommen worden.
Wir als SPD haben uns diesen Bericht sehr genau angeschaut und wollen, dass die Erkenntnisse aus dieser
sehr umfangreichen Studie möglichst schnell und zügig
umgesetzt werden, dass die daraus folgenden Arbeitsgruppen jetzt tätig werden und noch vor der Sommerpause zu Ergebnissen kommen. Denn es geht darum,
schnell und zügig an der Verbesserung und an der Weiterentwicklung von „weltwärts“ zu arbeiten.
Uns ist es wichtig, dass junge Menschen mit Berufsausbildung stärker an „weltwärts“ herangeführt werden
können. Darüber hinaus wäre es wichtig, zu begreifen,
dass es um interkulturelles Lernen geht, dass auch Menschen zu uns kommen müssen, dass der Austausch über
die Grenzen in zwei Richtungen funktionieren muss,
dass wir eine bessere Zusammenarbeit und einen besseren globalen Lerndienst erreichen können, wenn wir
Partnerorganisationen einladen.
({5})
Ich habe mich gefreut, dass zu diesem Thema auch
noch ein Koalitionsantrag gestellt wurde. Wenn wir gemeinsam zu der Wertung kommen, dass „weltwärts“ ein
gutes Programm ist, und wenn das fraktionsübergreifend
festgestellt wird, dann ist das positiv.
Bei manchen Ihrer Forderungen frage ich mich aber,
wieso Ihnen diese eingefallen sind und warum Sie diese
auch noch in den Koalitionsantrag hineinschreiben
mussten. Beispielsweise greifen Sie in Ihrem Antrag in
Nr. 4 die neuen Zielgruppen auf, denen Sie sich widmen
wollen. Da heißt es, dass Sie Zielgruppen aus wirtschaftsnahen Bereichen erschließen wollen.
Frau Kollegin Kofler, Ihre Zeit ist eigentlich abgelaufen.
Was das im Zusammenhang mit „weltwärts“ zu tun
hat, ist mir völlig schleierhaft. Nicht nur deshalb ist unser Antrag der bessere. Er ist kompakter und zukunftsweisender. Bitte stimmen Sie dem SPD-Antrag zu „weltwärts“ zu.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland
circa 23 Millionen bürgerschaftlich Engagierte in unserer Gesellschaft und möchten das Interesse von Freiwilligen für den Entwicklungsdienst und die wirtschaftliche
Zusammenarbeit wecken. Deshalb wurde 2007 das Programm „weltwärts“ eingeführt. Es richtet sich an junge
Menschen zwischen 18 und 28 Jahren. Es soll erstens
das Interesse an einem entwicklungspolitischen Engagement wecken, zweitens einen wirkungsvollen Beitrag
zur Entwicklung in den Einsatzländern leisten und drittens entwicklungspolitische Inlands- und Bildungsarbeit
ermöglichen.
Wir haben dazu eine breite Palette von Entsendeorganisationen. Es gibt heute 6 377 anerkannte Plätze und ca.
200 aktive Entsendeorganisationen. 13 000 Freiwillige
sind, wenn man in Abreisen rechnet, in 80 Ländern unterwegs; 42 Prozent sind in Lateinamerika, 37 Prozent in
Afrika, 20 Prozent in Asien und 1 Prozent in Osteuropa.
Die beliebtesten Länder sind Südafrika mit 1 218, Indien
mit 1 053 und Peru mit 803 Abreisen.
Die Arbeitsbereiche vor Ort sind der Bildungssektor
mit 34 Prozent, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
mit 35 Prozent; der Gesundheitssektor, „Menschen mit
Behinderung“, „Umwelt- und Ressourcenschutz“ sind
weitere Einsatzfelder. Die Freiwilligen sind durchschnittlich 12 Monate vor Ort. Sie sind in der Tat, Frau
Kofler, zu 61 Prozent weiblich.
Die Evaluierung, die von vornherein vorgesehen war,
wurde im Oktober 2011 mit sechs Länderstudien, einer
Studie zur Inlands- und zur Bildungsarbeit in Deutschland durch die Rückkehrerarbeit und einer Onlinebefragung der Entsendeorganisationen, aller Freiwilligen und
der Partnerorganisationen in den Fallstudienländern abgeschlossen. Insgesamt bringt die Evaluierung ein positives Ergebnis. Es heißt: Relevanz, Effizienz und weitgehende Effektivität im Hinblick auf die Erreichung der
Ziele, insbesondere auf der Ebene der Freiwilligen. Das
ist zunächst einmal ein gutes Ergebnis, das man so festhalten kann.
({0})
Die Empfehlung der Evaluation ist die Fortführung
und weitere Schärfung, nämlich erstens die Stärkung der
Arbeit mit den Rückkehrern, zweitens eine fachlich-pädagogische Begleitung der Freiwilligen und drittens eine
Einbeziehung bisher nicht erreichter Zielgruppen. Das
BMZ wird das Programm weiterführen, aber auch weiterentwickeln. Wir begrüßen das koordinierte Vorgehen
mit den Trägern einschließlich der Kirchen. Ein wichtiger Beitrag zur Verankerung der Entwicklungspolitik
wird hier geleistet.
Ich darf Jürgen Deile vom Evangelischen Entwicklungsdienst, den Koordinator der Programmsteuerungsgruppe aus der Zivilgesellschaft, zitieren:
Gemeinsam mit dem Ministerium nehmen wir die
Fortentwicklung des Programms an den Punkten
auf, an denen die zivilgesellschaftlichen Träger, die
Partnerorganisationen sowie aktive und zurückgekehrte Freiwillige schon seit längerem gerne angepackt hätten.
Wir bedanken uns beim Ministerium dafür, dass diese
Arbeit zielgerichtet fortgeführt wird.
({1})
Die Ziele der Fortschreibung sind erstens das Schärfen des entwicklungspolitischen Profils, zweitens die Sicherung von Qualität und Wirkung, drittens die Vereinfachung bei Verfahren und Instrumenten und viertens die
Novellierung von Mandaten und Verantwortlichkeiten.
Insbesondere bitten wir, darauf zu achten, die Subsidiarität zu stärken.
Ich habe jetzt über den positiven Teil der Evaluation
gesprochen. Wir übernehmen Verantwortung für junge
Menschen. Deswegen müssen wir auch den eher nachdenklichen Teil ansprechen. Die Freiwilligen sind durchschnittlich 20 Jahre alt. Man kann also davon ausgehen:
Sie haben noch nie allein gewohnt. Sie sind es auch nicht
gewohnt, in einem fremden Land zu sein, kennen die
kulturellen Sitten nicht, haben wenig Erfahrung mit der
Kultur. Trotz entsprechender Vorbereitung sind die Erfahrung, die Souveränität und das richtige Gespür im
Umgang mit Menschen und Situationen natürlich noch
nicht so ausgeprägt wie vielleicht bei Älteren. Deswegen
hatten wir zwischen 2008 und 2010 eine Abbrecherquote
von 7 Prozent; denn eine Rundumbetreuung durch Mentoren und Mitarbeiter ist vor Ort nicht realisierbar.
Man muss schon sagen: Die Freiwilligen müssen
selbstständig sein. Sie müssen Charakter und Persönlichkeit mitbringen. Das zeigt, dass es hier um ein sehr anspruchsvolles Programm geht. Insofern können wir alle
denen, die das Programm bisher erfolgreich durchlaufen
haben, dafür herzlich danken und zu ihrem Einsatz gratulieren.
({2})
Bei einem Alter von durchschnittlich 20 Jahren kann
- das ist kein Geheimnis - keine nennenswerte Berufserfahrung vorhanden sein. Deswegen soll das Programm
jetzt auch junge Menschen ohne Abitur, aber mit beruflicher Qualifikation, das heißt mit abgeschlossener Berufsausbildung, ansprechen. Ich glaube, es würde sich
lohnen, gezielt junge Menschen dafür zu gewinnen und
sie entsprechend zu fördern.
In den Länderstudien hat sich gezeigt, dass 10 Prozent der Jugendlichen nicht die Voraussetzungen und
Motivation für das Engagement mitgebracht haben und
sich vor Ort oder nach längerer Dauer des Einsatzes
überfordert gefühlt haben. „weltwärts“ deckt alle wesentlichen Kosten. Das ist einerseits gut für junge Leute,
vor allem für solche aus Familien mit schmalem Geldbeutel, aber andererseits entsteht eine Konsum- und
Dienstleistungserwartung gegenüber den Entwicklungshilfeorganisationen. Das wird zumindest aus einigen Organisationen berichtet. Eine ist sogar wieder ausgestiegen. Deshalb müssen wir einen Volunteer-Tourismus
vermeiden und das Programm entsprechend fortschreiben.
Insofern ist die Frage erlaubt, ob eine partielle Beteiligung an den Kosten nicht ein größeres Verantwortungsgefühl und eine höhere Wertschätzung des Dienstes zur
Folge hätte, auch wenn es dann weniger, aber dafür motiviertere Freiwillige gäbe. Im Evaluierungsbericht heißt
es dazu - ich zitiere -:
Eine Konsequenz der Fokussierung auf Qualität
könnte ein Überdenken der quantitativen Ziele
({3}) sein.
Die SPD fordert wie immer eine Mittelerhöhung. Ansonsten sehe ich keine markanten Unterschiede zwischen unseren beiden Anträgen.
({4})
Wir halten einen solchen Anreiz für falsch. Wir setzen
auf Qualität statt Quantität.
({5})
Wir haben in den Haushalt 2012 wie auch schon 2011
30 Millionen Euro eingestellt. Das entspricht circa
3 500 Entsendungen im Jahr. Die Nachfrage liegt ungefähr in derselben Höhe.
Wir werden in Zukunft den Fokus auf die Programmqualität richten und die Reduzierung des organisatorischen und bürokratischen Mehraufwandes anstreben. Die
CDU/CSU-FDP-Koalition will erstens die Durchführungsverantwortung der Zivilgesellschaft stärken, zweitens mittelfristig die entwicklungspolitische Begründung
von Einsatzplätzen weiter verbessern und drittens das Genehmigungsverfahren im Rahmen der stärkeren Qualitätsverantwortung für die Entsendeorganisationen verschlanken.
Wir ermuntern durch unseren Antrag BMZ, Träger
und Kirchen, die Pläne und eingeleiteten Maßnahmen
entsprechend weiterzuführen. Bereits Ende Juni sind
erste Ergebnisse für die Umsetzung der Evaluierung zu
erwarten.
Wir danken den Engagierten für ihr Engagement und
ermuntern junge Leute, insbesondere solche mit Berufserfahrung, sich für dieses Programm zu interessieren, ins
Ausland zu gehen und vor allem diese Erfahrung dann
auch in unserer Gesellschaft einzubringen. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Gemeinschaftswerk gelingt, und
fordere die Opposition zur Sacharbeit auf. Ich glaube,
wir sind nicht so weit auseinander, wie es manchmal in
anderen Fragen der Fall ist.
Ich glaube, dass wir durchaus das gleiche Ziel haben
und durch die Umsetzung des Evaluierungsberichtes mit
den Entsendeorganisationen, den Kirchen und dem BMZ
eine Qualitätsverbesserung erreichen. Ich glaube, dass
das Programm „weltwärts“ einer guten Zukunft entgegengeht.
Danke schön.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Heike Hänsel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Fraktion Die Linke unterstützt den Freiwilligendienst „weltwärts“, der nun seit fünf Jahren
mehr als 10 000 jungen Menschen nach Schule oder
Ausbildung einen Freiwilligendienst in den Ländern des
Südens ermöglicht hat. Im Jahr 2011 gab es eine Evaluierung des „weltwärts“-Programms, und die Ergebnisse
liegen seit Dezember in der Kurzfassung vor. Die Bundesregierung hat leider in den Haushalten 2010 bis 2012
einen finanziellen Aufwuchs für „weltwärts“ abgelehnt,
aber immer mit dem Hinweis auf die ausstehenden Ergebnisse der Evaluierung.
Nun gibt es eine Evaluierung, und sie fällt ermutigend
positiv aus. Trotzdem gibt es im vorliegenden Antrag der
Koalitionsfraktionen nur schöne Worte, aber keine Mittelerhöhung. Die Mittel stagnieren weiterhin bei 30 Millionen Euro jährlich. Die Linke unterstützt deshalb ausdrücklich den Antrag der SPD
({0})
und fordert eine deutliche Erhöhung der Mittel für „weltwärts“, vor allem aber auch der Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre, um Finanzierungsund Planungssicherheit für alle, für die Trägerorganisationen sowie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, zu
ermöglichen.
({1})
Aufgrund der unsicheren Finanzierung - das ist die Information, die wir alle bekommen haben - war es in den
letzten Jahren oftmals so, dass viele interessierte Jugendliche abgewiesen werden mussten, die einen solchen
Dienst eigentlich gerne angetreten hätten.
Es gibt auch Kritik am „weltwärts“-Programm. Stichworte wie „Elendstourismus“, „zu wenig Betreuung und
Begleitung vor Ort“, „Abenteueraufenthalt“ und vieles
mehr sind gefallen. Die Qualität der Betreuung und Begleitung ist entscheidend für den gesamten Dienst. Es
bedarf einer ausreichenden Finanzierung, Herr Riegert,
damit sowohl Qualität als auch Quantität stimmen. Das
schlagen wir alle vor.
({2})
Für viele junge Menschen nämlich handelt es sich oft um
den ersten großen Auslandsaufenthalt in ihrem Leben.
Er wirkt sehr oft prägend. Das soll er auch. Deshalb ist
eine verantwortungsvolle Begleitung notwendig.
Wir fordern zudem, dass die Nord-Süd-Ausrichtung
des Dienstes erweitert wird, um von einem gleichberechtigten Dialog sprechen zu können. Wir wollen - so wie
es die SPD in ihrem Antrag formuliert hat -, dass auch
junge Menschen aus den Ländern des Südens sowohl einen Freiwilligendienst hier in Deutschland antreten können als auch vor Ort in Projekten die Möglichkeit bekommen, gemeinsam mit einem Jugendlichen aus
Deutschland Freiwilligenarbeit zu verrichten. Dadurch
würde nach unserer Ansicht ein verbesserter direkter
Dialog entstehen, mit der Möglichkeit des gegenseitigen
Verständnisses und des Voneinanderlernens. Auch wäre
es wichtig, verstärkt lokale Partner in den Ländern des
Südens zu finden, die Teil sozialer Bewegungen sind
und die sich vor Ort für soziale Rechte und Menschenrechte einsetzen.
({3})
Wir fordern außerdem, dass Jugendliche - das wurde
schon erwähnt - aus allen sozialen Schichten, mit unterschiedlichen Schulabschlüssen und unterschiedlicher beruflicher Ausbildung erreicht werden, zum Beispiel
durch gezielte Vorstellung von „weltwärts“ an allen
Schulen einschließlich Berufsschulen, Jugendeinrichtungen und Ausbildungsstätten. Auch muss überlegt werden, ob Jugendliche, die keinen Förderkreis zustande
bekommen und für die eine Finanzierung durch das Elternhaus nicht möglich ist, zusätzlich unterstützt werden
können, damit eben nicht - wie leider bisher Praxis - der
Geldbeutel der Eltern über einen solchen Freiwilligendienst im Ausland entscheidet.
Ich bekomme oft Anfragen, ob ich mich einem solchen Förderkreis anschließen will. Ich verfolge in Weblogs, was junge Menschen vor Ort erleben und was sie
berichten. Ich glaube, das ist für alle bereichernd, auch
für uns. Dieser Freiwilligendienst leistet einen konkreten
Beitrag für mehr Solidarität und weltweite Verständigung.
Danke.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Helga Daub.
({0})
Herr Präsident! Kollegen und Kolleginnen! „weltwärts“, der Name sagt es bereits: hinaus in die Welt, über
den Tellerrand schauen. Dieser 2007 eingerichtete entwicklungspolitische Freiwilligendienst bekommt, gutachterlich attestiert, ein weitgehend positives Urteil. Somit ist es folgerichtig, dass das Programm weitergeführt
wird.
Ein wichtiges Anliegen dieser Bundesregierung ist es,
die Entwicklungspolitik in der Mitte der Gesellschaft zu
verankern. Mit „Engagement Global“ haben wir einen
Träger geschaffen, mit dem breite Bevölkerungsschichten angesprochen und für Entwicklungspolitik interessiert und begeistert werden sollen. Indem es besonders
junge und engagierte Menschen anspricht, kann „weltwärts“ einen wichtigen Beitrag leisten.
({0})
Allerdings sahen die Gutachter auch Schwachstellen,
die es zu beseitigen gilt; du, liebe Bärbel Kofler, hast das
schon angesprochen. So nehmen insgesamt zu wenige
junge Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss
oder abgeschlossener Berufsausbildung an diesem Programm teil. Aber gerade die praktische Kompetenz und
die berufliche Ausbildung sind eine unverzichtbare Ressource in diesem Freiwilligenprogramm. Hier müssen
gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um „weltwärts“
für diese Gruppen attraktiver zu machen.
Gegenwärtig wird die Aufarbeitung der Evaluierung
in Arbeitsgruppen zusammen mit BMZ, Trägerorganisationen und der Servicestelle „Engagement Global“ vorgenommen. Wichtig dabei sind die Sicherung von Qualität und Wirkung sowie die Vereinfachung der Verfahren.
Das Programm ist mit circa 30 Millionen Euro angelegt. Momentan sind durch die eingeplanten Haushaltsmittel circa 3 500 Entsendungen im Jahr finanzierbar.
Dies entspricht auch der Nachfrage, die seitens der Entsendeorganisationen im laufenden Jahr vorgebracht
wurde.
Die Forderung im Antrag der SPD, die Mittel für
„weltwärts“ schon im Haushaltsjahr 2013 deutlich zu erhöhen, kommt verfrüht. Ich denke, es ist ein bewährter
Ansatz, die Ergebnisse der Arbeitsgruppen abzuwarten,
bevor man weitere Mittel anfordert. Nicht umgekehrt!
({1})
Auch wenn es mehr Bewerber gibt, ist zu fragen: Sind
die Haupt- und Realschüler schon berücksichtigt? Das
müsste doch auch gerade Ihr Anliegen sein. Ich habe
schon gehört, dass es das auch ist; da sind wir uns einig.
„weltwärts“ soll schließlich kein Elitenprogramm sein.
Lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen - ich werde
nicht müde, das auch in politischen Diskussionen mit
den Bürgern vor Ort zu sagen -: Der Mensch beginnt
nicht erst mit dem Abitur.
Richtig ist natürlich, dass es eine angemessene langfristige Finanzierung geben muss, um Angebot und
Nachfrage weiterhin in Einklang zu bringen, aber auch
um den circa 200 Entsendeorganisationen Planungssicherheit zu geben.
Wichtig dabei ist aber auch, dass die Erfahrungen der
Rückkehrer viel stärker als bisher berücksichtigt werden,
der Rückkehrer, die anschließend auch im entwicklungspolitischen Bereich tätig werden sollen, damit gewonnene Erfahrungen nicht einfach so versanden. Aber auch
Doppel- bzw. Paralleleinsätze sollten vermieden werden.
Eine weitere Verbesserung der Abstimmung der betroffenen Bundesressorts ist unabdingbar, um die Qualität
der Programmumsetzung und das optimale Erreichen der
Entsendeziele - damit meine ich nicht die Orte - zu gewährleisten.
Darüber hinaus soll mittelfristig mehr Qualitätsverantwortung von den Entsendeorganisationen übernommen und sollen die Verfahren verschlankt werden. Das
ist sinnhaft, steigert die Effizienz und verringert die
Bürokratie. Auch das dürfte den Zugang für Haupt- und
Realschüler erleichtern.
({2})
Als das „weltwärts“-Programm aufgebaut wurde, war
die aktive Beteiligung einer staatlichen Entsendeorganisation natürlich sinnvoll. Inzwischen ist das Programm
hinreichend gut angekommen und angenommen, sodass
zum Beispiel die GIZ sich zugunsten der Entsendeorganisationen schrittweise zurückziehen kann.
Nur so viel noch zum SPD-Antrag: Natürlich ist ein
breiter Austausch von jungen Menschen immer wünschenswert und förderungswürdig. Aber für diejenigen,
die in unser Land kommen wollen, um für ihr Heimatland Erfahrungen zu sammeln, gibt es andere Programme. Dafür ist „weltwärts“ eigentlich nicht gedacht.
Natürlich, liebe Bärbel Kofler, halten wir unseren
Antrag für den besseren.
({3})
Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
({4})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Ute Koczy vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „weltwärts“ - das ist eine gute Idee, „weltwärts“ - das zieht junge Menschen an. Denn dieses entwicklungspolitische Freiwilligenprogramm bietet, was
viele junge Menschen nach der Schule suchen: etwas
Sinnvolles zu tun und gleichzeitig andere Länder und
Leute kennenzulernen. Tatsächlich ist dieses Programm
ein Beitrag zu mehr Weltoffenheit und zu mehr Bewusstsein für die Lebenswirklichkeit in anderen Ländern.
Selbstverständlich lernen die jungen Menschen auch
sehr viel über sich selbst. Das ist wichtig, und das ist
auch gut so.
Aber ein solcher Freiwilligendienst will gut vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet werden. Ohne kompetente Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen in
Deutschland mit guten Kontakten in die Partnerländer
und die Fähigkeit, die Freiwilligen auch tatsächlich einer
sinnvollen Tätigkeit zuzuführen und diese vor Ort zu
begleiten, geht es nicht.
({0})
Deshalb haben wir mit Spannung die Ergebnisse der
Evaluierung erwartet. Dazu drei grundsätzliche Anmerkungen:
Erstens. Was haben die Partnerländer und die Partnerorganisationen davon, wenn sie junge Menschen ohne
Berufserfahrung bei sich unterbringen und ihnen zeigen,
wie das Leben in anderen Ländern funktioniert? Können
die Partner diese Unterstützung wirklich gebrauchen?
Diese Fragen sind meiner Meinung nach bislang unterbelichtet. Deshalb ist es aus unserer Sicht höchste Zeit,
endlich den nächsten Schritt zu gehen. „weltwärts“ darf
nämlich keine Einbahnstraße, also von Deutschland in
die Entwicklungsländer, bleiben. Wir fordern, dass im
Rahmen von „weltwärts“ auch junge Menschen aus Entwicklungsländern im Gegenzug nach Deutschland kommen können.
({1})
Erfahrungen damit wurden bereits gemacht. Entsendeorganisationen haben hier in Pilotprojekten wichtige Erkenntnisse gewonnen. Jetzt kommt es auf die Unterstützung aus dem Ministerium an. Das muss in die Wege
geleitet werden.
Zweitens. Die Evaluierung benennt ein bekanntes
Problem - es ist schon angesprochen worden -: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „weltwärts“-Programms haben einen weitgehend homogenen sozialen
Hintergrund. Es handelt sich fast ausschließlich um Abiturientinnen und Abiturienten. Deshalb - das ist nicht
überraschend - lautet die Empfehlung der Evaluierung,
die bislang nicht erreichten Zielgruppen zu fördern, beispielsweise junge Menschen mit Migrationshintergrund
oder junge Erwachsene mit Hauptschul- oder Realschulabschluss. Dafür sind neue Konzepte nötig. Die müssen
jetzt aber auch vorgelegt werden.
Drittens. Wir dürfen uns nicht auf dem bisher Erreichten ausruhen. Das Prinzip „Klasse statt Masse“ muss
Priorität haben. Das zeigen mir die Ergebnisse der Evaluierung von „weltwärts“. Viele Ziele werden erfüllt. Ja,
das Programm hat viele Erfolge vorzuweisen. Das steht
außer Frage. Das ist von allen hier benannt worden. Aber
die Schwachstellen müssen geregelt werden. Ich nenne
hier die Einarbeitung und fachlich-pädagogische Begleitung der Freiwilligen vor Ort, ich nenne die Visaprobleme - die sind immer noch nicht ausgeräumt -, ich
nenne die Frage der Spendenakquise, ich nenne aber
auch die mangelnde Zufriedenheit der Durchführungsorganisationen im Hinblick auf die Zusammenarbeit, die
Kooperation mit dem BMZ, ich nenne weiter die Überschneidungen von „weltwärts“ mit anderen Freiwilligendiensten der Bundesregierung.
Große Fragezeichen habe ich deshalb im Hinblick auf
die quantitativen Ziele. Will das BMZ wirklich daran
festhalten, jährlich 10 000 Freiwillige zu entsenden? Ich
bin skeptisch, dass das ein gutes Ziel ist, solange die
oben genannten Probleme nicht überwunden sind.
Die Bundesregierung ist jetzt in der Pflicht, auf die
aufgezeigten Schwachstellen zu reagieren und nachzubessern. Eine Ausweitung der Zahl der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer kann erst dann erfolgen.
Geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition
und der SPD, in Ihren Anträgen gehen Sie auf die Ergebnisse und Empfehlungen der Evaluierung ein. Da teilen
wir vieles, wenngleich wir mehr kritische Worte zur
Evaluierung nötig gefunden hätten. Denn während Sie,
Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, eine Mittelerhöhung auf 70 Millionen Euro bereits für 2013 fordern, lassen Sie, Kolleginnen und Kollegen der Koalition, die Finanzierungsfrage komplett unter den Tisch
fallen. Da machen Sie es sich etwas zu einfach.
({2})
Wir Grünen wollen diese Evaluierung hinterfragen.
Wir haben diese Fragen in Form einer Kleinen Anfrage
eingereicht. Wir wollen erst die Antworten darauf kennen. Erst danach werden wir uns positionieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8769 und 17/9027 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
Hinrichtung der mutmaßlichen Metro-Attentäter von Minsk in Belarus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Marina Schuster von der
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann jetzt für
das ganze Haus hier sprechen: Wir sind zutiefst schockiert über die Hinrichtung von Dmitrij Konowalow und
Wladislaw Kowaljow - zwei junge Männer, die beschuldigt wurden, ein verheerendes Attentat in der Minsker
U-Bahn begangen zu haben, zwei junge Männer, hingerichtet durch Genickschuss.
Wir verurteilen die Todesstrafe. Wir verurteilen die
Todesstrafe weltweit ({0})
in Belarus genauso wie im Iran, in Saudi-Arabien, in
China, in Bundesstaaten der USA, in Japan und allen anderen Ländern, in denen die Todesstrafe nach wie vor
vollstreckt wird. Wir senden auch einen klaren Appell:
Die Todesstrafe gehört in all diesen Ländern - die Liste
dieser Länder ist lang, und leider gibt es in manchen
Ländern Bestrebungen, für neue Straftatbestände die Todesstrafe einzuführen - abgeschafft.
({1})
Unser Mitgefühl gilt in diesen schweren Stunden vor
allem den Familien der beiden jungen Männer. Ich denke
heute ganz besonders an Frau Kowaljowa, die Mutter
von Wladislaw Kowaljow. Frau Beck und ich, wir haben
Frau Kowaljowa bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates getroffen. Sie hat uns berichtet,
dass sie von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt ist;
denn ihr Sohn habe sich zum Zeitpunkt des Attentats auf
die Minsker Metro gar nicht am Tatort aufgehalten.
Im Prozess selbst wurden rechtsstaatliche Prinzipien
mit Füßen getreten: Entlastungszeugen wurden zum
Schweigen gebracht oder nicht zugelassen. Die Geständnisse der Verurteilten wurden offensichtlich unter Folter
erpresst. Herr Kowaljow fand später den Mut, sein Geständnis zu widerrufen. Indizien wurden offensichtlich
manipuliert. Ein Opfer des Anschlags sagte unmissverständlich aus, dass er die beiden jungen Männer gar
nicht am Tatort gesehen habe. Es gibt also erhebliche
Zweifel an der Schuldhaftigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundestagsabgeordnete aller Parteien und viele andere haben versucht,
Präsident Lukaschenko von der Vollstreckung der Strafe
abzubringen. Frau Beck hat einen öffentlichen Appell
initiiert. Dafür bin ich ihr ganz besonders dankbar.
({2})
Wir müssen und wir werden immer wieder die Stimme
erheben, sei es in Deutschland, sei es beim Europarat, sei
es bei der EU, aber auch auf internationaler Ebene, gegenüber allen Staaten, die die Todesstrafe vollstrecken.
Vor allem aber werden wir nicht lockerlassen, wenn es
sich gerade um die unmittelbare europäische Nachbarschaft handelt - und darüber hinaus um ein Regime, das
jegliche rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen tritt.
Die Hinrichtungen vom 18. März sind jedoch schauerlicherweise nur die Spitze eines Eisbergs. Die massive
Unterdrückung der Zivilgesellschaft ist ein fester Bestandteil des belarussischen Regimes. Nichtregierungsorganisationen können nur schwer ungehindert arbeiten;
die meisten arbeiten aus dem Exil heraus. Als es im vergangenen Jahr zu Protesten kam, erlebten wir eine große
Verhaftungswelle. Nach wie vor sind Oppositionelle in
Haft.
Es ist immer unser Ziel gewesen, unseren Nachbarn
Belarus an Europa und an die Werte, für die Europa
steht, heranzuführen. Dieses Ziel zu erreichen, gilt nach
wie vor. Doch geben die jüngsten Entwicklungen auf
den ersten Blick wenig Hoffnung in einem immer noch
diktatorisch regierten Land.
Dass die EU nun mit weiteren Sanktionen reagieren
wird, ist richtig. Doch wahr ist auch, dass, solange Moskau schützend die Hand über Minsk hält, Lukaschenko
sich minimal bis gar nicht bewegen muss.
({3})
Russland ist daher aufgefordert, seinen Einfluss geltend
zu machen.
Unsere russischen Kollegen haben während der letzten Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates Belarus als Brudervolk bezeichnet. Sie haben sogar gefordert, Belarus wieder als Mitglied im
Europarat aufzunehmen. Diesem demonstrativen Schulterschluss muss nun auch die Wahrnehmung von Verantwortung folgen.
Die Vorgehensweise der Führung in Belarus gegen
die eigene Zivilbevölkerung bestürzt uns. Doch auf eines
möchte ich aufmerksam machen: Die Revolutionen in
der arabischen Welt haben gezeigt, dass Regime dann
besonders aggressiv reagieren, wenn sie sich in ihrer
Existenz bedroht sehen. Lukaschenko hat seine Karten
beim belarussischen Volk verspielt. Das Land erlebt eine
seiner schwersten Wirtschaftskrisen. Hier müssen wir
den Hebel geschickt ansetzen. Es geht darum, den Balanceakt zwischen politischem Druck auf das Regime
und zivilgesellschaftlichem Austausch mit den Menschen dort, die unter der Herrschaft Lukaschenkos leiden, zu meistern. Hier leistet die Bundesregierung im
Verbund mit den EU-Mitgliedstaaten vorbildliche Arbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Trauer und die
Wut über den Tod der beiden Männer sind heute bei uns
allen zu spüren. Lähmen darf uns diese Wut allerdings
nicht; denn sonst hätte Lukaschenko sein Ziel erreicht.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Uta Zapf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir diese Debatte heute hier führen können.
Die SPD-Bundestagsfraktion war es, die diese Debatte
beantragt hat. Aber alle Fraktionen fühlen sich gleichermaßen betroffen. Frau Schuster, ich danke Ihnen für Ihre
Worte. Das waren die richtigen Worte, insbesondere mit
Blick auf die Situation der Familien der Hingerichteten.
Wir bekunden unser Beileid auch von dieser Stelle.
Belarus ist das letzte europäische Land - Sie haben es
schon gesagt -, das die Todesstrafe noch anwendet. Alle
Anstrengungen, die wir unternommen haben, damit
Belarus die Todesstrafe abschafft, haben nichts genutzt.
Einige Zeit schien ein Moratorium möglich zu sein.
Aber auch diese Hoffnung war offensichtlich trügerisch.
Dass diese beiden jungen Männer so hastig hingerichtet
wurden und dass Beweise offensichtlich vernichtet wurden, wie Frau Beck uns mitgeteilt hat, zeigt, dass dieser
Fall rechtsstaatlichen Kriterien nicht gerecht wird.
Der Vorwurf, dass Geständnisse unter Folter erpresst
wurden, trifft auch in den Fällen von anderen politischen
Gefangenen zu, die nach der Präsidentschaftswahl im
Dezember 2010 im Jahr 2011 verurteilt wurden. Misshandlungen und Folter im Gefängnis, kein Zugang zu
angemessener medizinischer und anwaltschaftlicher Betreuung, so sieht der belarussische Rechtsstaat aus. Anwälte, die politische Gefangene vertreten, geraten unter
existenziellen Druck. Sie werden aus der Anwaltschaft
ausgeschlossen. Politische Gefangene wie der Präsidentschaftskandidat Sannikow fürchten - das berichtet seine
Schwester - aufgrund der ständigen Pression und Misshandlung im Gefängnis um ihr Leben. Das Ziel ist es, ihnen ein Gnadengesuch an Lukaschenko abzupressen, das
dieser als Schuldanerkenntnis wertet. Sannikows Gnadengesuch ist gerade in den letzten Tagen mit dem Hinweis abgelehnt worden, dass es unter Folter erpresst
wurde. Das ist die größte Ironie in diesem Fall.
Andere politische Gefangene, wie Nikolai Statkevich
- zwei meiner Kollegen haben heute mit seiner Tochter
telefonieren können -, leben unter ganz bedrückenden
Verhältnissen im Gefängnis. Nikolai Statkevich weigert
sich, ein Gnadengesuch einzureichen. Er hat gesagt: Ich
will lieber sterben, als ein Gnadengesuch einzureichen. Er sitzt jetzt in verschärfter Haft. Er darf zweimal im
Jahr - zweimal im Jahr; ich betone das - Besuch erhalten und einmal im Jahr ein Päckchen mit einem Gewicht
von 2 Kilogramm empfangen. Er sitzt in einer feuchten
Zelle von 2 mal 2 Metern. Was das für die Gesundheit
eines Menschen bedeutet, brauche ich hier nicht auszuführen.
Die Situation insgesamt hat sich mittlerweile zu einer
veritablen Krise zwischen der EU und Belarus ausgewachsen. Die EU hat Sanktionen verhängt und diese am
28. Februar 2012 nochmals verstärkt. Lukaschenko hat
daraufhin die EU-Vertreterin und den polnischen Botschafter ausgewiesen bzw. ihnen empfohlen, ihre Hauptstädte zu Konsultationen aufzusuchen. Er hat seine Botschafter aus Brüssel und Warschau zurückgezogen.
Daraufhin riefen alle EU-Länder am 28. Februar 2012
ihre Botschafter zurück. Dies ist ein absoluter Tiefpunkt
in den Beziehungen zwischen der EU und Belarus. Morgen wird die EU über eine erneute Verschärfung der
Sanktionen entscheiden.
Alle, die sich für Belarus engagieren, sehen ein tiefes
Dilemma: Der Dialog, um den wir uns jahrelang bemüht
haben, ist abgerissen. Es ist zweifelhaft, ob die Sanktionen etwas bewirken, um Belarus zu demokratischem
Verhalten zu motivieren, oder ob sie die Isolation von
Belarus verfestigen. Wenn der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Hannes Swoboda, die totale Isolierung Weißrusslands fordert, so ist dies ganz sicher auch ein Reflex auf die jahrelange Düpierung der
EU und anderer, die immer wieder die Hand ausgestreckt haben.
Dies will ich einmal skizzieren: In den 90er-Jahren
gab es ein Step-by-Step-Vorgehen der Europäischen
Union. Man hat Angebote gemacht, wenn sich Dinge in
die demokratische Richtung bewegt haben. Dieser
Prozess war erfolglos. Dann gab es ein sehr gut ausgearbeitetes Programm der Europäischen Union - zehn
Punkte zur Demokratisierung - mit umfangreichen
Angeboten für Belarus, die zum Vorteil für die Bevölkerung gewesen wären. Auch dort ist nichts passiert. Was
haben wir gefordert? Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Versammlungsfreiheit, freie und faire Wahlen, die
nie stattgefunden haben. Das waren wichtige Schwerpunkte. Unsere Stiftungen haben sich um diese Themen
bemüht, ebenso die OSZE-Mission in Minsk.
Das Minsk-Forum, das seit über zehn Jahren, von
1997 bis 2010, jährlich stattfand, hatte sich zu einem kritischen Dialogforum zwischen Administration, internationalen Vertretern, Abgeordneten der Nationalversammlung, Menschenrechtsvertretern, Vertretern der freien
Presse und der Opposition sowie Wirtschaftsvertretern
entwickelt. Das Minsk-Forum findet nicht mehr statt.
Das OSZE-Büro ist geschlossen, unsere EU-Botschafter
sind zurzeit nicht mehr vor Ort.
Ich selbst arbeite seit 1998 in der Working Group on
Belarus der OSZE. Wir hatten dieselben Ziele, die auch
auf EU-Ebene vertreten worden sind. Wir wollten den
Dialog zwischen der Regierung und der Opposition unterstützen, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung einfordern und faire und freie Wahlen ermöglichen.
Es hat fünf Jahre gedauert, bis es meiner Arbeitsgruppe gelungen ist, alle gesellschaftlichen Gruppen in
Belarus zu mehreren Seminaren, insgesamt drei, an einen Tisch zu bringen. Damals fand ein Dialog statt. Aber
das ist seit 2010 vorbei. Jetzt wird uns der Besuch in
Belarus verwehrt; wir bekommen keine Visa mehr.
Die Europäische Union ist sich auch nicht einig: Lettland und Slowenien lehnen einen harten Kurs in Sachen
Sanktionen ab. Das bedeutet ein tiefes Dilemma; wir befinden uns in einer Zwickmühle. Für den Fall, dass morgen noch strengere Sanktionen beschlossen werden,
droht der Chef der belarussischen Administration, Herr
Makej, es werde von der Opposition im Land nichts übrig bleiben. Bei Nichtverschärfung der Sanktionen allerdings würden die politischen Gefangenen bald freigelassen. Diese Art von politischer Erpressung ist perfide.
({0})
Die Sanktionen sind auch in der Opposition umstritten - ich glaube, wir wissen das -, und damit stehen wir
vor demselben Dilemma. Es soll ein neues Angebot der
ausgestreckten Hand seitens der Europäischen Union geben; das wurde von Kommissar Piebalgs angedeutet.
Wie dieses Angebot genau aussehen wird, ist noch nicht
ausgemacht. Es soll jedenfalls ein Dialogprogramm für
Belarus sein. Vorgestellt wird es am 29. März, also in ein
paar Tagen. Darin werden auch die Zusammenarbeit und
die Unterstützung der Zivilgesellschaft angesprochen,
was bisher nicht so recht gelungen ist.
Ich glaube, in der Realität sind wir heute weit von all
dem entfernt, was wir uns im Zusammenhang mit Belarus wünschen. Trotzdem werden unsere Bemühungen
nicht aufhören, für Demokratie und Gerechtigkeit zu
kämpfen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Ronald Pofalla.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
vergangenen Wochenende erhielten wir die schockierende Nachricht von der Hinrichtung der beiden angeblichen Metro-Attentäter von Minsk. Dmitrij Konowalow
und Wladislaw Kowaljow sind tot. Sie waren in einem
äußerst fragwürdigen Prozess verurteilt worden. Die
Rede war von zurückgezogenen Geständnissen, die unter Folter abgegeben waren. Rechtsmittel waren nicht
möglich.
Um es klar zu sagen, damit da keine Missverständnisse entstehen: Die Anschläge in der Metro von Minsk
waren abscheuliche Verbrechen. Sie sind durch nichts zu
rechtfertigen. Dennoch: Weißrussland ist Teil Europas.
Und in Europa ist kein Platz für die Todesstrafe. Nie
wieder!
({0})
Ich habe mich deshalb mehrfach gegen die Vollstreckung der Urteile und für ein Moratorium bei der Todesstrafe eingesetzt. Zuletzt habe ich zu Beginn der vergangenen Woche in einem langen Gespräch mit dem Leiter
der weißrussischen Präsidialadministration noch einmal
darum gebeten, die Verhängung der Todesstrafe auszusetzen und in Weißrussland zu einem Moratorium zu
kommen.
Trotz internationaler Proteste, Appelle und Gespräche
hat sich der Staatspräsident gegen eine Begnadigung entschieden und die Tötung angeordnet. Die Todesstrafe ist
eine menschenunwürdige Strafe. Sie ist nicht hinnehmbar - egal welche Verbrechen den Angeklagten vorgeworfen werden. Und sie wird selber zu einem Verbrechen, wenn das zugrunde liegende Verfahren, wie in
diesen beiden Fällen, eine Farce ist.
({1})
Das Gute an der schon seit über 15 Jahren andauernden Debatte zu Weißrussland ist: Wir alle hier im Deutschen Bundestag haben ein gemeinsames Verständnis
von der Situation in Weißrussland. Vielen von uns geht
es so, dass unsere weißrussischen Gesprächspartner von
einst nun in Haft, unter Hausarrest, im Asyl sind oder
keine Ausreisegenehmigung erhalten. Es gibt Berichte
von Folter und Gewalt. Seitdem herrscht in der weißrussischen Gesellschaft eine Atmosphäre der Angst und
Einschüchterung. Auch Vertreter der Zivilgesellschaft
wurden inhaftiert, das „organisierte Nichtstun“ in Gruppen wurde verboten und unter Strafe gestellt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns eint das gemeinsame Verständnis, dass das, was sich insbesondere seit den
Vorfällen nach den Wahlen im Dezember 2010 in Weißrussland abspielt, eine gesellschaftliche und politische
Katastrophe ist. Ich sage ganz klar und deutlich: Diese
Entwicklung in Weißrussland kann und wird von uns allen niemals akzeptiert werden.
({2})
Wir werden die Sanktionen nach und nach ausweiten,
solange die weißrussische Führung nicht reagiert. Aber
wir müssen auch weiterdenken. Aus meiner Sicht ist die
Vorstellung unerträglich, dass dieses Unrechtsregime,
das einsperrt und hinrichtet, durch die Austragung der
Eishockeyweltmeisterschaft im Jahre 2014 eine besondere Auszeichnung erfährt.
({3})
Dem Diktator und Eishockeyfan Lukaschenko ist es ein
persönliches Anliegen, diese Eishockeyweltmeisterschaft in seinem Land durchzuführen. Es kann nicht
richtig sein, sie dort durchzuführen.
({4})
Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass der internationale Eishockeyverband über eine Verlegung der Spiele
in ein anderes Land nachdenkt. Wie ich den Presseveröffentlichungen entnehmen kann, wird der Weltverband
bei seiner Tagung im Mai erneut über die Frage der Austragung beraten und entscheiden. Ich sage: Ich wünsche
mir, dass diese Eishockeyweltmeisterschaft in ein anderes Land verlegt wird.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich bei
vielen von Ihnen - ich will keinen persönlich herausgreifen - ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken, die hier wirklich partei- und fraktionsübergreifend
stattgefunden hat und auch weiter stattfinden muss.
({6})
Ich will mit drei Anmerkungen schließen, die im Zusammenhang mit Weißrussland von zentraler Bedeutung
sind: Wir stehen auf der Seite der Menschen in Belarus,
wir stehen auf der Seite der Menschenrechte, und wir
stehen auf der Seite der Freiheit.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Stefan Liebich.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es
ist jetzt mehrfach gesagt worden, aber ich will es, weil es
so schrecklich ist, wiederholen: Der 26-jährige
Wladislaw Kowaljow wurde am vergangenen Wochenende in Belarus durch Genickschuss hingerichtet, wenige Tage zuvor sein mutmaßlicher Komplize Dmitrij
Konowalow. Ja, es war ein grauenhafter Terroranschlag,
bei dem im April 2011 in einer U-Bahn in der Hauptstadt
Minsk 15 Menschen ums Leben kamen und 300 verletzt
wurden.
Trotzdem ist jeder der hier genannten Vorwürfe berechtigt: Es gab kein rechtsstaatliches Verfahren. An der
Schuld der beiden Hingerichteten bestehen erhebliche
Zweifel. Selbst wenn sie ohne jeden Zweifel schuldig
gewesen wären, müsste unser Haus protestieren, weil
wir alle gemeinsam die Todesstrafe ablehnen.
({0})
Ich finde es wichtig, dass wir dies in klarer und deutlicher Form dem Diktator - so nennt er sich selbst Lukaschenko und seiner Regierung mitteilen. Hier
herrscht Einigkeit über alle Fraktionsgrenzen hinweg.
Wir unterstützen hierin den Außenminister ausdrücklich.
Auch Konsequenzen wären schön, allerdings bleiben
kaum noch Eskalationsmöglichkeiten übrig. Darüber
müssen wir ganz offen reden. Es wurde bereits darauf
hingewiesen, dass die Botschafter der Europäischen
Union - auch der deutsche Botschafter - nicht mehr im
Land sind. Sanktionen gegen die politische Führung und
gewalttätige Polizisten und Angehörige der Sicherheitskräfte sind bereits verhängt worden - zu Recht. Diese
nun auch auf Oligarchen und andere Günstlinge
Lukaschenkos auszuweiten, ist sinnvoll. Aber was dann?
Die von Frau Zapf erwähnte totale Isolation, die der
Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, der Österreicher Hannes Swoboda,
vorgeschlagen hat, ist aus meiner Sicht nicht der richtige
Weg. Er sagte am Montag der dpa:
Wir haben versucht, ins Gespräch zu kommen, aber
dieser Weg führt in die Irre.
Ich verstehe die Frustration, aber ich finde diesen
Weg trotzdem falsch. Wir müssen reden, und wir dürfen
die Kontakte auch in diesen schwierigen Zeiten nicht abbrechen.
({1})
Wir diskutieren mit den Parlamentariern aus Belarus bei
jeder Beratung der Parlamentarischen Versammlung der
OSZE, gerade erst wieder vor wenigen Wochen in Wien.
Wenn wir in die Vergangenheit schauen, stellen wir fest,
dass Gespräche auch naheliegen. Wer saß denn bei der
Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1976 an
einem Tisch? Selbst 1982, als Polen das Kriegsrecht verhängt hat, sind die Gespräche auf der Madrider Konferenz der KSZE nicht abgebrochen, sondern weitergeführt worden, und das war richtig.
Wenn wir Menschenrechtsverletzungen wie solche in
Belarus, die ohne jeden Zweifel besonders schlimm sind,
thematisieren, dann wären wir glaubwürdiger, wenn wir
auch bei anderen nicht schweigen würden.
({2})
Es passt nicht zusammen, Lukaschenko zu verurteilen
und den seit 20 Jahren regierenden ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen
Sozialistischen Sowjetrepublik und jetzigen „Führer der
Nation“, Nursultan Nasarbajew, auf dem roten Teppich
im Kanzleramt zu begrüßen.
({3})
Noch im Dezember letzten Jahres wurden streikende Arbeiter von seinen Sicherheitskräften erschossen. Wie
verliefe unsere Diskussion heute, wenn in Belarus Ölund Gasvorkommen existierten und es ebenso reich an
Gold, Silber, Uran, Kupfer, Blei, Zink, Bauxit oder
Phosphor wäre wie Kasachstan?
Wenn wir hier im Plenum über die Vollstreckung von
Todesurteilen reden wollten - Frau Kollegin Schuster
hat darauf hingewiesen -, dann hätten wir noch viel zu
tun. Sie ist überall schlimm, nicht nur in Europa.
({4})
25 000 Menschen warten weltweit in Todeszellen auf
ihre Hinrichtung. In 58 Staaten ist die Todesstrafe Gesetz, 25 wenden sie regelmäßig an. Es sind nicht nur
weit entfernt liegende Staaten, sondern viele, mit denen
wir eng zu tun haben: Singapur, die Vereinigten Staaten
von Amerika und Japan.
Deshalb fordert unsere Fraktion: Ächten wir die Todesstrafe weltweit. Verständigen wir uns endlich auf
Standards zur Einhaltung von Menschenrechten, die wir
dann auch von jenen einfordern, die gute Geschäftspartner sein könnten. Verurteilen wir gemeinsam das Regime in Minsk für die Hinrichtung der beiden jungen
Männer.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Marieluise Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe noch nie einer Mutter schreiben müssen, deren
Sohn in einem vollkommen willkürlichen Prozess zum
Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Ich würde auch
niemals sagen, dass es sich um mutmaßliche Täter oder
um mutmaßliche Komplizen handelt. Denn wer das Protokoll zum Hergang des Sprengstoffattentates genau liest
- jedem in unserem Ausschuss, auch Ihnen, Herr
Liebich, ist es zugänglich -, weiß, dass nicht einmal die
belarussische Justiz behauptet hat, Wladislaw Kowaljow
habe sich am Tatort befunden, und dass es einen zuverlässigen Zeugen, einen Betroffenen, gegeben hat, der bezeugt hat, dass auch Dmitrij Konowalow nie am Tatort
gesehen worden ist. Für mich sind die beiden Justizopfer. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Vieles
spricht sogar dafür, dass sie eher Opfer eines politischen
Verbrechens des Lukaschenko-Regimes geworden sind.
Bereits 1999 und 2000 verschwanden in Belarus vier
Opponenten aus dem nächsten Umfeld von Alexander
Lukaschenko. Wir sollten das wieder in Erinnerung rufen. Der Pourgourides-Bericht des Europarates vom Jahr
2004 geht von der Exekution dieser vier Personen aus.
Der Bericht stellt außerdem fest, dass die Spuren dieses
Verbrechens bis in die höchsten Staatsebenen führten.
Zu dieser Zeit - auch damals schon - hieß der Staatschef
Alexander Lukaschenko. Es wäre also nicht das erste
Mal, dass in Belarus aus politischen Motiven gemordet
worden ist.
Wie gehen wir nun mit diesem Belarus um? Ich weiß,
es mehren sich die zweifelnden Stimmen, was den Erfolg der aktuellen Sanktionspolitik angeht. Tatsache ist,
dass eine Sanktionspolitik dann ins Leere zu laufen
droht, wenn sie von einem Partner unterlaufen wird. Die
Marieluise Beck ({0})
Parlamentarische Versammlung des Europarates forderte
im Januar alle Mitgliedstaaten auf, die Sanktionen der
EU gegen Belarus mitzutragen. Auch Russland ist Mitglied im Europarat, und zwar freiwillig.
({1})
Russland argumentierte gegen diese Sanktionen und
sagte, diese würden die Einwirkungsmöglichkeiten auf
Lukaschenko verschließen. Belarus sei ein Brudervolk.
Diese Argumentation könnte sogar überzeugen, wenn
Russland alles unternommen hätte, um die Hinrichtungen zu verhindern. Ein Anruf aus dem Kreml hätte dem
belarussischen Machthaber die Erschießungen verwehren können. Doch Russland hat dies nicht getan. Dass
der russische Außenminister jetzt, wenige Tage nach der
Hinrichtung, öffentlich verkündet, es sei Zeit für ein
Moratorium, macht mich einfach fassungslos.
({2})
Russland unterläuft die Sanktionen. Es zieht sogar aus
der Schwäche Lukaschenkos wirtschaftlichen Nutzen
und konnte mit dem Erwerb von Beltransgas sein Pipelinemonopol noch weiter ausbauen.
Morgen werden die EU-Außenminister über die
Erweiterung der Sanktionen gegen Belarus beraten. Es
ist schon gesagt worden, dass aus dem Zentrum des
Lukaschenko-Regimes durchsickert, dass der Diktator
einen Deal angeboten hat: Freilassung der politischen
Gefangenen, falls keine weiteren Sanktionen erlassen
werden. Was bedeutet das? Das Regime erklärt damit
selbst, dass es politische Gefangene hat. Außerdem erklärt das Regime, dass es diese Gefangenen als Geiseln
hält. Das nennt man gemeinhin Staatsterror.
({3})
Das Angebot des Regimes beweist allerdings auch,
dass die EU-Sanktionen der Diktatur und dem Diktator
offensichtlich wehtun. Auch wenn deutsche Unternehmen von Sanktionen gegen Minsk betroffen wären, muss
gelten: Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht vor der
Moral stehen.
({4})
Ich bin dem Kollegen Pofalla sehr dankbar, dass er
zur Eishockey-WM so klar Stellung bezogen hat. Wir
haben schon vor einem halben Jahr dem Deutschen Eishockey-Bund geschrieben und ihn gefragt, welcher
Sportler, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist, neben diesem gnadenlosen Herrscher
auf dem Siegertreppchen stehen will.
Belarus ist Europa. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Der Internationale Eishockeyverband sollte sich
dazu entscheiden, diesem Diktator nicht den Glanz von
internationalen Spielen, die immer auch etwas mit Politik zu tun haben, zu organisieren.
Schönen Dank.
({5})
Der Kollege Karl-Georg Wellmann hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Niemand von uns ist unberührt, wenn von Staats
wegen Menschen getötet werden. Die Todesstrafe widerspricht allen zivilisatorischen Errungenschaften und
Werten. Es ist abstoßend, dass Belarus als einziges Land
in Europa die Todesstrafe nicht nur verhängt, sondern
auch vollzieht. Ich sage aber auch, dass wir alle anderen
Länder, wo immer sie liegen, in denen die Todesstrafe
vollzogen wird, ebenso kritisieren.
Es gibt in der Tat Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit
dieses Urteils. Wer der zivilisierten Staatengemeinschaft
angehören will, der muss solche Zweifel eben ausräumen. Wenn er das nicht tut, verstärkt er die Zweifel, ob
in diesem Prozess alles mit rechten Dingen zugegangen
ist.
Belarus ist, was die Stellung zur europäischen Staatengemeinschaft angeht, an einem Tiefpunkt angelangt.
Aus Minsk gibt es seit Herbst 2011 kein annähernd positives Signal; im Gegenteil: Es gibt ein verschärftes Vorgehen gegen die Opposition. Seit neuestem ist die Ausreise von Oppositionellen erschwert. Außerdem hat
Minsk, wie wir wissen, die diplomatische Krise eskalieren lassen, indem es erst den polnischen Botschafter und
dann die EU-Vertreterin zur Ausreise aufgefordert hat.
Was wir da erleben, ist auch eine Niederlage von Politik. Wenn die Sozialdemokraten im Europaparlament die
totale Isolierung fordern, dann ist das erst recht eine
Niederlage der Politik. Wenn man es mit so empörenden
Zuständen wie in Weißrussland zu tun hat, dann ist man
geneigt, emotionale Reden zu halten und sich zu empören. Aber es hilft nichts. Wir müssen nach wie vor versuchen, zu politischen Lösungen zu kommen. Wenn es so
weitergeht, würde nämlich vor allem die Bevölkerung,
die Zivilgesellschaft noch mehr leiden.
Wir befinden uns in einer tragischen Situation - wenn
es nicht so ernst wäre, würde man sagen: in einer tragikomischen Situation -: Die EU will und wird die
Sanktionen morgen verschärfen. Der Rat der Außenminister hat aber gesagt: Wenn die politischen Gefangenen vorher freigelassen werden, überdenken wir das
noch einmal. Aus Minsk hörten wir heute Nachmittag,
dass man bereit wäre, bis Ende März diese und jene politischen Gefangenen zu entlassen und in der Folge alle
weiteren, wenn die EU auf Sanktionen verzichtet. Ich
will das nicht interpretieren, um den Ton nicht noch weiter zu verschärfen. Gestern und heute haben viele vieles
versucht. Ich habe auch gesagt, dass Freilassungen kein
Signal der Schwäche von Minsk wären, sondern ein Signal der Stärke und der Souveränität. Offenbar findet
man in Minsk aber nicht die Kraft dazu. Leider ist offen,
ob bis morgen eine Lösung erreicht werden kann oder ob
Intransigenz und Sprachlosigkeit eine Lösung verhindern.
Mit verschärften Sanktionen ist niemandem geholfen,
nicht den Menschen und schon gar nicht der Opposition,
auch nicht der Wirtschaft. Russische Unternehmen würden mit der weiteren Privatisierung belarussischer
Unternehmen ihren Reibach machen. Auch dem Land
Belarus und der EU wäre damit auch nicht geholfen. Die
verstärkte Hinwendung zu Russland wäre unausweichlich - mit all den politischen Folgen, die sich daraus ergeben.
Ich würde abschließend hier gerne noch die Frage
stellen, ob wir genug für die Zivilgesellschaft tun. Wir
haben hier vor gut einem Jahr etwas beschlossen. Wir
haben gesagt: Lassen Sie uns die Programme zur Unterstützung von Studenten verstärken. Frau Pieper hat gestern im Ausschuss gesagt, dass 99 belarussische Studenten mit Stipendien bei uns sind. Wir haben in
Deutschland weit über 2 Millionen Studenten und deutlich mehr als 200 000 ausländische Studierende. Gemessen daran sind 99 belarussische Studenten nicht viel, und
im Übrigen ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Das sagt auch der sehr kompetente Vertreter des DAAD
in Minsk. Er sagt, dass er erstklassige Bewerbungen von
Leuten mit einem Notendurchschnitt von 1,3 oder 1,2
hat, die er ablehnen muss, weil wir nicht genug Plätze
haben. Ich habe vor einigen Tagen zusammen mit unserem Botschafter Weil, der ja in Berlin ist, ein Gespräch
mit dem Präsidenten der Freien Universität geführt. Dieser sagte: Mit Kusshand nehme ich weitere Studenten.
Die, die ich habe, sind alle im oberen Leistungsviertel.
Ich nehme gerne noch mehr. - Bei 20 000 bis 30 000
Studenten ist das auch kein Kapazitätsproblem. Ein Student bei uns kostet 10 000 Euro im Jahr. Mit 1 Million Euro zusätzlich könnten wir die Zahl der belarussischen Studenten in Deutschland verdoppeln.
({0})
Herr Kollege Pofalla, ich weiß, dass Sie sich für die
Zivilgesellschaft in Belarus sehr engagiert haben. Ich
bitte Sie und die Kollegen der anderen Fraktionen: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir in dem
Haushalt, der 300 Milliarden Euro umfasst, noch eine,
so sage ich es einmal, lächerliche Million zusammenkratzen. Dann könnten wir die Zahl der belarussischen
Studenten verdoppeln.
({1})
Die Studenten, die wir heute bei uns ausbilden, sind
Teil der zukünftigen wirtschaftlichen und politischen
Elite Weißrusslands. Das wäre eine sehr gute Investition.
Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, dass wir
weitere 1, 2 oder 3 Millionen Euro mobilisieren, um etwas zu tun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Möchten Sie die Frage von Frau Beck noch zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Ich habe mich, glaube ich, früh genug gemeldet. Herr Kollege, Ihr Vorschlag wird von uns allen unterstützt. Sind Sie bereit, nach Wegen zu suchen, um dafür
zu sorgen, dass diese Stipendien nicht jungen Menschen
zugutekommen, die sehr staatsnah, um nicht zu sagen im
Dienste des Staates studieren und dann hierher kommen?
Der DAAD ist nach seinen jetzigen Regularien dazu verpflichtet, Stipendien im Benehmen mit den Rektoren der
auswählenden Universitäten zu vergeben. Diese sind in
Belarus alle an der kurzen Leine des KGB.
Frau Kollegin Beck, das Problem ist bekannt. Nun sagen einige: Das Kind eines Funktionärs wollen wir nicht
in Sippenhaft nehmen.
({0})
Aber wir können nicht mehr tun, Frau Beck, als zusätzliches Geld aufzubringen, dieses zweckgebunden an den
DAAD zu geben und den DAAD mit seinem sehr kompetenten Vertreter in Minsk und die Deutsche Botschaft
dort zu ersuchen, geeignete Stipendiaten auszuwählen.
Anders geht es leider nicht.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD, DIE
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Investitionen in Antipersonenminen und
Streumunition gesetzlich verbieten und die
steuerliche Förderung beenden
- Drucksachen 17/7339, 17/8016 Berichterstattung:
Abgeordneter Roderich Kiesewetter
Dr. Rainer Stinner
Jan van Aken
Kerstin Müller ({1})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Christoph Schnurr für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 2006 in
einem eigenen Antrag die weltweite Ächtung von Streumunition gefordert. Die Verabschiedung der Oslo-Konvention im Jahr 2008 war deshalb aus unserer Sicht ein
großer Fortschritt. Allerdings - ich denke, darüber
herrscht hier im Hohen Hause Konsens - wurden mit der
Konvention nicht alle Probleme gelöst. Um es noch einmal festzuhalten: Wir sind ganz klar für die Ächtung von
Streumunition.
({0})
Das zentrale Problem bleibt, dass die Besitzer der
meisten Streumunition, darunter die USA, Russland und
China, das Abkommen noch nicht unterzeichnet haben.
Wäre es anders, müssten wir die heutige Debatte wohl
kaum führen. Da wir sie führen, sollten wir unser gemeinsames, unser eigentliches Ziel im Blick behalten.
Jedem muss bewusst sein, dass es hier um eine Verlagerung der Strafbarkeit geht. Kriminalisiert werden sollen
nicht mehr nur der Einsatz und die Produktion von
Streumunition, sondern kriminalisiert werden soll auch
die Vorstufe, nämlich die Finanzierung. Durch diese
Vorverlagerung müssen meiner Ansicht nach die Anforderungen an ein gesetzliches Verbot streng sein. Mit anderen Worten: Eine gesetzliche Regelung ist nur dann
sinnvoll, wenn sie eindeutig, überprüfbar und effektiv ist
und wenn alles andere wirkungslos bleibt.
({1})
Lassen Sie mich auf diese Punkte eingehen. Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Opposition, sagen: Ja,
eine gesetzliche Regelung könnte die genannten Kriterien erfüllen. Als Belege nennen Sie in Ihrem Antrag
Belgien, Luxemburg, Norwegen und Neuseeland.
({2})
Sie wollen damit zeigen, dass eine gesetzliche Regelung
möglich ist. Tatsächlich zeigen aber gerade diese
Beispiele genau das Gegenteil. Egal wie man ein Investitionsverbot anpackt, es ist immer mit Problemen behaftet.
({3})
Das haben uns die Vertreter dieser Länder in unterschiedlichen Gesprächen bestätigt.
Es ist kein Zufall, dass sich bisher gerade einmal eine
Handvoll Staaten an einem Gesetz in diesem Zusammenhang versucht haben. Es überrascht auch nicht, dass
sie alle sehr unterschiedlich an die Sache herangegangen
sind. Die einen verbieten Investitionen in die Herstellerfirmen von Streumunition nur, wenn sie vorsätzlich getätigt werden, die anderen nur dann, wenn diese Investitionen wissentlich getätigt werden. Eindeutig und glasklar sind diese Formulierungen in meinen Augen nicht.
In Belgien kann das entsprechende Gesetz noch immer nicht angewandt werden, weil die schwarze Liste
fehlt, und das, obwohl das Gesetz schon seit Jahren existiert. In Norwegen gibt es erst gar kein Gesetz. Der staatliche Pensionsfonds schließt Produzenten von Streumunition zwar aus, eine Bestimmung, die private Anleger
dazu verpflichtet, gibt es aber nicht.
Kommen wir zum zweiten Punkt. Brauchen wir überhaupt eine gesetzliche Regelung? Für Liberale ist das
eine sehr grundsätzliche Frage, weil wir glauben, dass
der Staat nicht der bessere Problemlöser ist. Für uns liegen Kompetenz und Verantwortung zunächst bei der
Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Es gilt: Einsicht ist
besser als Aufsicht.
({4})
Diese Einsicht gibt es, Frau Zapf. Nach dem Abkommen von Oslo hat eine Reihe von Finanzdienstleistern reagiert und interne Richtlinien entwickelt, um Geschäfte
mit Streumunitionsherstellern auszuschließen. Die FDPFraktion begrüßt das an dieser Stelle ausdrücklich.
Gleichzeitig sage ich aber auch ganz klar: Das reicht
noch nicht aus. Es reicht nicht aus, was bislang geschehen ist. Aber man ist auf dem richtigen Weg.
Wir brauchen noch mehr und umfangreichere Selbstverpflichtungen. Das Entscheidende für uns ist aber,
dass momentan Bewegung da ist, dass es Finanzinstitute
gibt, die interne Richtlinien prüfen, erarbeiten und
implementieren. Die Finanzdienstleister wissen am besten, wie man dabei vorgehen muss. Sie überprüfen ohnehin jeden Kunden und jede Anlagemöglichkeit. Sie
holen Informationen von Dritten ein und können sich so
ein gutes Bild von einzelnen Unternehmen machen. Das
alles gehört zum täglichen Geschäft von Banken und
kann pragmatisch gehandhabt werden, anders als beim
Staat.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auf einen
weiteren Punkt eingehen.
Herr Kollege, bevor Sie zu diesem Punkt kommen:
Möchten Sie eine Frage der Kollegin Brugger zulassen?
Ich würde ganz gerne fortfahren. - Ich will, wie
gesagt, auf einen weiteren Punkt eingehen, und zwar
ganz konkret auf das, was Sie in Ihrem Antrag fordern.
Da heißt es:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … Unternehmen, die Antipersonenminen
und Streumunition herstellen oder entwickeln,
schnellstmöglich von der öffentlichen Auftragsvergabe auszuschließen …
({0})
Das fordern Sie in Punkt 5 Ihres Antrags. Aber, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Wissen Sie eigentlich, was
es bedeutet, wenn man das zu Ende denkt?
({1})
Die Bundespolizei dürfte dann keine Bell-Hubschrauber
mehr bei Textron kaufen.
({2})
Die Bundeswehr dürfte keine Patriots mehr bei Raytheon
kaufen,
({3})
keine Navigationssysteme mehr bei Lockheed Martin
und keinen Eagle mehr bei General Dynamics bestellen.
Das kann nicht Ihr Ernst sein.
({4})
Was wir gemeinsam wollen, auch die FDP-Bundestagsfraktion, ist die weltweite Ächtung von Streumunition. Dafür müssen wir uns auch bei unseren Partnern im
Ausland weiter einsetzen und dort für dieses Anliegen
werben. Natürlich - da sind wir einer Meinung - sollten
wir auch die Investitionsfrage weiter im Blick behalten.
Dazu liegen neue Zahlen auf dem Tisch. Wir sind gerne
bereit, auch in Zukunft über dieses Thema mit Ihnen zu
diskutieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Uta Zapf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schnurr, ich finde es zutiefst beschämend, dass die
Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP heute den
Antrag auf ein Verbot von Investitionen in Streumunition und Antipersonenminen ablehnen werden.
({0})
Was will der Antrag? Er will sicherstellen, dass
Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c der Oslo-Konvention über
Streumunition - und analog angewendet auf Antipersonenminen - so interpretiert wird, dass das Verbot der
Unterstützung der Herstellung von Streumunition auch
Investitionen in Herstellerfirmen, direkte und indirekte,
umfasst. Welchen Sinn macht es denn, wenn wir uns
damit brüsten, im Gegensatz zu den Ländern mit großen
Herstellern - USA, China usw. - auf die Herstellung,
den Besitz, die Anwendung, den Export und die Lagerung dieser menschenverachtenden Waffen zu verzichten, uns dann aber weigern, Investitionen in Firmen, die
diese geächtete Munition herstellen, ausdrücklich zu
verbieten? Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c des Oslo-Übereinkommens verbietet,
irgendjemanden zu unterstützen,
- „unterstützen“ ist das ausschlaggebende Wort zu ermutigen oder zu veranlassen, Tätigkeiten vorzunehmen, die einem Vertragsstaat aufgrund dieses
Übereinkommens verboten sind.
Das war ein Zitat. Der simple Menschenverstand sagt
mir, dass ein Kredit, dass eine Investition sehr wohl eine
Unterstützung ist. Wer wollte das denn leugnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen?
({1})
Was sagt die Bundesregierung dazu? Ich zitiere aus
der Antwort auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/3185. Frage 22 lautet:
Teilt die Bundesregierung die Interpretation, dass
das Verbot der Unterstützung des Einsatzes, der
Herstellung und Weitergabe von Streumunition jeg-
liche Form von Unterstützung umfasst, also auch
Investitionen in Firmen, die Streumunition in ihrem
Portfolio haben?
a) Wenn nein, warum nicht?
b) Wenn ja, welche Konsequenzen hat das …?
Jetzt zitiere ich die Antwort der Bundesregierung:
({2})
Gemäß Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c des Übereinkommens über Streumunition gilt das Verbot der
Unterstützung des Einsatzes, der Herstellung und
Weitergabe von Streumunition mit Blick auf alle
Tätigkeiten, „die einem Vertragsstaat aufgrund dieses Übereinkommens verboten sind“. Das Übereinkommen
- jetzt kommt die Überraschung enthält jedoch kein ausdrückliches Verbot der Investition …
Eine Investition ist also keine Unterstützung.
Ob unter das Verbot der Unterstützung des Einsatzes, der Herstellung und Entwicklung von Streumunition nach dem Übereinkommen im Einzelfall
eine Investition in Unternehmen … fallen könnte,
kann nur im Einzelfall entschieden werden.
Das verstehe ich überhaupt nicht. - Außerdem schreibt
sie:
Zu abstrakten Rechtsfragen nimmt die Bundesregierung grundsätzlich nicht Stellung.
Ich sage: Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c ist das Verbot von
Investitionen. Hier soll eine Entscheidung im Einzelfall
nötig sein? Das verstehe ich überhaupt nicht.
({3})
Wir haben am 22. September 2011 einen Round Table
mit den Nichtregierungsorganisationen durchgeführt,
denen ich an dieser Stelle hier noch einmal insbesondere
dafür danken möchte, dass sie dieses Thema mit großer
Hingabe bearbeiten und uns darüber informieren, was
Sache ist.
({4})
Wir haben interpretiert, ob Investitionen durch diesen
Wortlaut erlaubt sind oder nicht. Wenn ich es in diesem
Gespräch richtig verstanden habe, dann war die Auffassung der FDP und auch der CDU/CSU: Jawohl,
diese Investitionen sind erlaubt, aber nicht wünschenswert. - Da staunt der Fachmann.
({5})
Sie sind nicht wünschenswert. Sie setzen auf eine Selbstverpflichtung.
Lieber Herr Schnurr, haben Sie heute die Zeit gelesen? Es ist das zweite Mal, dass die Zeit davon berichtet,
wie ernst die Banken und insbesondere die Deutsche
Bank diese Selbstverpflichtung nehmen.
({6})
- Dann brauchen wir ein Gesetz, in dem dieses vorgeschrieben wird. - Sie haben vorhin die Länder aufgezählt, die entsprechende Gesetze erlassen haben. Es
gibt daneben aber andere Länder, wie Großbritannien,
Frankreich und Australien, die sagen: Natürlich ist das
Verbot schon Teil der Konvention. Deshalb ist unsere
Praxis eben, dass wir dies nicht gestatten. - Vor kurzem
hat die Schweiz das Streumunitionsverbot in ihrem
Kriegsmaterialgesetz beschlossen und dabei ein Finanzierungsverbot ausdrücklich mitbeschlossen. Das kann
uns doch nicht kalt lassen. Ich könnte jetzt auch noch die
Homepage der Schweizer Tagesschau zitieren, aber das
tue ich aus Zeitgründen nicht.
Liebe Freunde, unsere Interpretationen sind kontrovers. Lasst uns also einen Gesetzentwurf erarbeiten.
Wenn Sie in einem solchen Gesetzentwurf einige
Unstimmigkeiten sehen sollten, dann beraten wir darüber. Es wäre eine große gemeinsame Tat, wenn wir uns
darauf einigen könnten, ein praktikables, aber eben prohibitives Gesetz zu diesem Problem auf den Weg zu
bringen.
({7})
Ich möchte jetzt noch einmal darauf eingehen, was
uns in der letzten Zeit in Bezug auf die Selbstverpflichtung vorgemacht worden ist. Das war nämlich ein
Selbstbetrug bzw. ein Betrug der Öffentlichkeit. Auf der
Hauptversammlung im Mai 2011 hat Herr Kapetanovic,
ein Minenräumer, sehr drastisch gezeigt, was die Folgen
solcher Streumunition sind. Herr Ackermann hat betroffen angekündigt, man werde dieses Engagement überprüfen und man könne zuversichtlich sein, dass die
Deutsche Bank aus diesem Geschäft aussteigen wird.
Was ist passiert? Im September 2011, also etliche
Monate später, beliefen sich die Investitionen der Deutschen Bank in entsprechende Unternehmen noch immer
auf 776,53 Millionen US-Dollar. Heute beläuft sich
diese Summe laut einer Recherche der NGO Facing
Finance auf sage und schreibe fast 1 Milliarde Euro an
Krediten und Anleihen. Was ist nun? Hat man das Engagement allmählich abgeschmolzen? Komischerweise
werden die Zahlen größer.
Im Februar 2012 - das ist noch nicht lange her behauptete der Chef der Deutschen Bank, Herr
Ackermann, im Fernsehen, die Bank sei völlig aus der
Finanzierung von Streubombenherstellern ausgestiegen.
Die neue Analyse, die ich gerade erwähnt habe, hat aber
genau gezeigt, dass dies gelogen war. Entschuldigung,
aber ich halte das für eine Lüge und glaube nicht, dass es
ein Versehen war, dass er etwa die Bücher nicht richtig
gelesen hat.
({8})
Ja, es ist richtig, Herr Schnurr, dass die Commerzbank, die Sparkassen und andere Finanzinstitute restriktive Richtlinien eingezogen haben, dass sie die Anteile
in ihren Portfolios deutlich reduziert haben und dass
manche sogar ganz ausgestiegen sind.
({9})
Damit es eine einheitliche Handhabung dieser Vorschrift gibt und damit wir die Konvention nicht beschädigen, lassen Sie uns mit einem Gesetz, wie es dieser
Antrag vorsieht, Klarheit und Rechtssicherheit schaffen.
Ich danke euch.
({10})
Der Kollege Wadephul spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Zapf, wir müssen uns nicht in
jeder Debatte so einig sein wie in der vorangegangenen
Belarus-Debatte.
({0})
- Na gut, Sie haben mir gerade in der Tat keinen Anlass
dazu gegeben. Das gehört aber zum Alltag hier im Parlament, den wir verkraften müssen.
Wir sind uns doch in diesem Parlament - und das wissen Sie auch, Frau Kollegin Zapf - völlig einig darin,
dass Deutschland alles getan hat und große Anstrengun19978
gen unternommen hat, um die internationalen Abkommen von Ottawa und Oslo zum Erfolg zu führen,
({1})
und dass wir uns international auch bei unseren Bündnispartnern mit Nachdruck dafür einsetzen, dass sie diesen
Abkommen beitreten. Das ist für mich ein Anlass, dieser
Bundesregierung für ihr Engagement ganz herzlich zu
danken und ihr die Unterstützung dieses Hauses zuzusagen.
({2})
Deutschland hat einfachgesetzliche Maßnahmen
ergriffen, um das umzusetzen. Diese sind Sie gerade leider schlankerhand einfach so übergangen. Wir haben
§ 18 a Kriegswaffenkontrollgesetz, der nicht nur den
Einsatz, das Entwickeln, das Herstellen von oder das
Handeltreiben mit derartigen Antipersonenminen und
Streumunition unter Strafe stellt, sondern auch die Förderung all dieser Tätigkeiten.
({3})
Frau Kollegin Zapf,
({4})
wir haben dafür eine gesetzliche Grundlage, die im Übrigen in einem nicht unerheblichen Umfang strafbewehrt
ist. Die Mindeststrafe beträgt ein Jahr Freiheitsstrafe,
und damit stellt das Delikt ein Verbrechen dar. Das ist
also keine Kleinigkeit im deutschen Strafrecht. Sie sagen
jetzt allerdings in der Debatte, CDU/CSU und FDP seien
der Meinung, dass Investitionen in den Bereich den Tatbestand der Förderung nicht erfüllen würden. So hätten
Sie uns in einem Gespräch verstanden.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind zu
vielem fähig und in der Lage und auch nicht der Meinung, dass wir als Parlamentarier unser Licht unter den
Scheffel stellen sollten, aber ob der Tatbestand der Förderung im Sinne dieses Gesetzes erfüllt ist, entscheiden
in Deutschland immer noch Staatsanwälte und insbesondere Gerichte, aber nicht Parlamentarier.
({6})
Deswegen ist es völlig falsch, uns so etwas zu unterstellen.
({7})
Ob es, Frau Kollegin Zapf, eine hinreichend klare
Regelung ist, muss sich in der Praxis zeigen, und dass
Sie wiederum große Schwierigkeiten haben, Ihr Anliegen konkret zu formulieren, entnimmt man schon mit
einem flüchtigen Blick Ihrem Antragstext.
Wir sind ein Gesetzgebungsorgan. Einem Gesetzgebungsorgan sollte man Gesetzentwürfe vorlegen. Gesetzentwürfe können durch den Bundesrat, durch die
Bundesregierung und durch Mitglieder des Deutschen
Bundestages eingebracht werden. Sie selber sahen sich
aber nicht in der Lage, hierzu einen Gesetzentwurf zu
unterbreiten,
({8})
sondern Sie ziehen sich auf die Position zurück: Hier besteht Handlungsbedarf. Dieses Problem müsste die Bundesregierung dadurch lösen, dass sie einen Gesetzentwurf vorlegt. - Machen Sie das doch selber! Setzen Sie
sich einmal hin, und unterbreiten Sie uns einen dafür
notwendigen Gesetzesvorschlag, der stimmig ist, der den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt und auch hinreichend konkret ist. Legen Sie einen solchen Gesetzentwurf vor. Dann sind wir gerne bereit, darüber zu reden.
({9})
Es ist nämlich nicht trivial, um das in aller Ernsthaftigkeit zu sagen, Frau Kollegin Zapf, einfach zu sagen:
Der von der Bundesregierung vorzulegende Gesetzentwurf soll ein Investitionsverbot enthalten, und er soll
auch alle Umgehungsmöglichkeiten ausschließen. - Ja,
das hört sich schön an. Das können Sie möglicherweise
auf einer Parteiveranstaltung auch schön sagen. Das ist
vom politischen Willen her nachvollziehbar. Aber das in
Gesetzesform zu gießen, sodass später Menschen mit
dem Gesetz arbeiten können und nicht nur Strafverfolgungsbehörden, ist eine andere Sache. Vielmehr muss
der vom Gesetz Betroffene im Einzelnen vorher wissen,
wann er etwas Falsches macht, wann er etwas tut, was
dieses Gesetz als strafwürdig ansieht.
Den Entwurf eines solchen Gesetzes zu formulieren,
ist nicht besonders einfach. Im Gegenteil: Ich meine sogar, die Umgehungsmöglichkeiten sind gesetzlich gar
nicht klar zu fassen. Deswegen geben Sie den Menschen,
denen Sie versprechen, ihr Anliegen durchsetzen zu wollen, Steine statt Brot. Dieser Vorschlag hilft überhaupt
gar nicht weiter.
({10})
Ähnliches gilt, wenn Sie sagen: Wir sollen bei der öffentlichen Auftragsvergabe entsprechende Unternehmen schnellstmöglich ausschließen. Der Kollege
Schnurr hat schon eine Anmerkung gemacht, wer davon
alles betroffen wäre. Aus Ihren Reihen hörte man gleich
Zurufe: Okay, dann kaufen wir von diesen Unternehmen
kein Kriegsgerät mehr. - Das mag man so sagen. Als Sie
in politischer Verantwortung waren, insbesondere sozialdemokratische Verteidigungsminister und Finanzminister, ist all das gemacht worden. Jahrzehntelang war das
überhaupt kein Problem.
({11})
Aber es ist natürlich klar: In dem Moment, in dem man
die Seite wechselt und auf der Oppositionsbank sitzt, ist
das alles wieder ganz einfach.
Aber, Frau Kollegin Zapf, wir können in unser Vergaberecht nicht einfach eine derartige Regelung aufnehmen, ohne einen Konsens in der Europäischen Union zu
haben. Das muss EU-rechtskonform sein. Es gibt überDr. Johann Wadephul
haupt keinen Ansatz in der EU für einen entsprechenden
Konsens, um eine derartige Regelung hier aufzunehmen.
Sprechen Sie doch einmal mit den Franzosen und den
Briten über eine derartige Frage.
({12})
Ich schaue mir dann in aller Ruhe an, ob Sie dazu in der
Lage sind.
Deswegen bleiben wir dabei:
({13})
Eine Diskussion über diese Punkte ist notwendig. Wir
schauen uns mit großer Aufmerksamkeit an, wie die
Umsetzung in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union gelingt. Der Kollege Schnurr hat darauf hingewiesen, dass Belgien ein entsprechendes Gesetz erlassen
hat, das derzeit aber keine Zähne hat und nicht greift.
Wir können uns auch gerne anschauen, wie das Ganze in
Luxemburg und in Neuseeland - Neuseeland ist vielleicht etwas relevanter - in der Realität nachher aussieht.
Wir sind da ganz offen.
Wir begrüßen in der Tat, dass sich die Commerzbank,
Union Investment, Allianz Global Investors öffentlich
dazu bekannt haben, sich aus diesem Bereich vollkommen zurückzuziehen. Das ist gut. Das ist positiv. Dieser
Weg sollte fortgesetzt werden.
({14})
Lassen Sie uns bitte wegen der Ernsthaftigkeit des
Anliegens keine Unterscheidung dergestalt machen: Das
sind die Guten, die eine gesetzliche Regelung fordern.
Das sind die Bösen, die das nicht wollen. - Die Sache ist
viel komplizierter als Ihr gut gemeinter Antrag, der aber
aus meiner Sicht nicht besonders gut ist. Die Sache ist
komplexer. Wir wollen uns bei dieser Frage nicht auseinanderdividieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Die Kollegin Inge Höger hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Öffentlicher Druck wirkt. Ohne öffentlichen Druck hätten wir
heute keine Konvention, kein Verbot von Streumunition
und kein Verbot von Minen. Man merkt in dieser Debatte, dass CDU, CSU und auch FDP sich wohl nur öffentlichem Druck beugen. Deshalb brauchen wir weiterhin öffentlichen Druck, damit dieser Konvention auch
Konsequenzen folgen.
({0})
Die Übereinkommen zum Verbot von Antipersonenminen und Streumunition sind Meilensteine für den
Schutz der Zivilbevölkerung. Es sind Schritte heraus aus
der Barbarei des Krieges. Aber es müssen weitere
Schritte folgen.
Es gibt nach wie vor zahlreiche Staaten, die Minen
oder Streumunition produzieren oder einsetzen, wie die
USA, Russland, China, Pakistan oder Israel. Wir fordern
diese Länder auf, sich dem Verbot anzuschließen, damit
wir zu einem wirklich umfassenden Verbot kommen.
In all diesen Ländern gibt es aber auch schon Druck
aus der Zivilgesellschaft gegen die Herstellung und den
Einsatz von Minen und Streumunition. Diesen Initiativen
fallen deutsche Finanzinstitute in den Rücken, die nachweislich immer noch die Hersteller finanzieren. Es geht
hier nicht um Peanuts, wie die Deutsche Bank in anderen
Fällen schon einmal gesagt hat. Es ist vor allem die Deutsche Bank, die US-amerikanische Streumunitionshersteller durch Beteiligungen, Anleihen und Kredite finanziert.
Mindestens 1,6 Milliarden Euro aus deutschen Finanzinstituten fließen in das Geschäft mit heimtückischen Minen und Streubomben. Das ist ein unglaublicher Skandal.
({1})
Nach öffentlichem Druck hatte die Deutsche Bank im
November letzten Jahres angekündigt - das wurde eben
schon gesagt -, sie werde aus der Finanzierung von
Streumunition aussteigen. Inzwischen wissen wir: Diese
Ankündigung war ein leeres Versprechen. Die Deutsche
Bank hat bereits am Tag nach ihrer Selbstverpflichtung
weitergemacht wie zuvor und kontinuierlich neue Geschäfte über diese Waffen abgeschlossen. Wir lernen
daraus: Der Deutschen Bank zu glauben oder auf freiwillige Selbstverpflichtungen zu hoffen, ist ein großer Fehler.
Notwendig sind klare gesetzliche Regelungen. Nicht
nur die Produktion und der Einsatz von Minen und
Streumunition, sondern auch deren Finanzierung muss
verboten werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf
soll natürlich die Bundesregierung vorlegen. Sie hat das
notwendige Personal, um solche Gesetzentwürfe zu erarbeiten. Eigentlich sollte dies eine Selbstverständlichkeit
sein. Viele Staaten haben bereits solche Verbotsregelungen eingeführt.
Seit 2009 gibt es mit § 18 a des Kriegswaffenkontrollgesetzes ein Verbot der Förderung von Antipersonenminen und Streumunition. Leider ist darin nicht explizit das
Verbot von Investitionen verankert. Diese Lücke nutzen
die Deutsche Bank und andere Finanzinstitute aus. Wir
müssen diese Lücke schließen. Meiner Ansicht nach
kann man die Finanzierung von Streumunition kaum anders nennen als Förderung. Aber wenn das juristisch umstritten ist, dann brauchen wir eine Präzisierung. Dann
wird es höchste Zeit, dass dies geschieht.
Bereits heute könnte die Bundesregierung nach geltender Rechtslage alle Finanzprodukte überprüfen, die
steuerlich gefördert werden. Die Beiträge zur steuerlich
geförderten Riester-Rente sollten weder direkt noch indirekt in Minen oder Streubomben investiert werden.
Eine Prüfung findet aber nicht statt. Niemand kann deswegen ausschließen, dass staatliche Förderung für die
Riester-Rente nicht gleichzeitig eine Förderung von
Streumunition ist. Dieser Zustand muss beendet werden.
({2})
Wir sollten noch einmal darüber reden, um was für
Waffensysteme es geht. Minen und Streumunition sind
grausam und heimtückisch. Nicht explodierte Minen
oder Submunition können ganze Landstriche zu Todeszonen machen. Diese Waffen töten noch Jahre, manchmal Jahrzehnte nach Ende eines Krieges. Die Opfer sind
überwiegend Zivilistinnen und Zivilisten, häufig Kinder
und alte Menschen. Der zivile Wiederaufbau nach einem
Krieg wird dadurch zu einem lebensbedrohlichen Unterfangen. Das Ergebnis sind immer wieder Tote und Verstümmelte.
Dieses menschliche Elend muss für uns Verpflichtung
sein, weiter Druck zu entfalten. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln und direkte und indirekte Investitionen in Minen und Streumunition zu verbieten.
({3})
Agnes Brugger hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen
und die Oslo-Konvention zum Verbot von Streumunition
trennen in ihrer Entstehung etwa zehn Jahre. Dennoch
kann man sie als Geschwisterverträge bezeichnen; denn
sie haben vieles gemeinsam. So verdanken beide ihre
Entstehung in großem Maße dem unermüdlichen Engagement der Zivilgesellschaft, die mit viel Kraft, Vehemenz und Kreativität für eine weltweite Ächtung dieser
barbarischen Waffen gestritten hat.
({0})
NGOs in Deutschland und weltweit verlieren nicht
aus den Augen, was noch vor uns liegt. So läuft in diesen
Wochen zum Beispiel die Kampagne „Zeig dein Bein“,
mit der auf die Situation von Minenopfern aufmerksam
gemacht werden soll. Sie ruft dazu auf, durch eine kleine
Geste Solidarität zu zeigen. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen hat vorgestern in einer gemeinsamen Aktion
bereits zahlreiche Beine gezeigt. Ich würde mich freuen,
wenn Sie es uns gleichtun würden.
Zurück zu den Gemeinsamkeiten. Beide Verträge sehen ein strenges und umfassendes Verbot vor und wurden von Deutschland unterzeichnet und mit dem Kriegswaffenkontrollgesetz in nationales Recht umgesetzt.
Hier treffen wir auf eine problematische Gemeinsamkeit
bei der Umsetzung beider Verträge, die wir als Abgeordnete dringend korrigieren müssen. Bei der Umsetzung
des Verbots dieser Waffen klafft eine erhebliche Gesetzeslücke. Trotz der Ächtung können deutsche Banken
und Versicherungen in Unternehmen investieren, die
Antipersonenminen und Streumunition herstellen. Noch
skandalöser ist, dass solche Investitionen über die
Riester-Rente sogar staatlich subventioniert werden.
Hier sind wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages
gefragt, schnellstmöglich für Klarheit zu sorgen und eine
entsprechende Gesetzesänderung auf den Weg zu bringen.
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, inzwischen ist es fast ein Jahr her, dass wir Grüne einen Antrag für eine solche Gesetzesänderung eingebracht und
alle Fraktionen - auch und insbesondere Ihre - dazu eingeladen haben, eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten.
Wir haben keinen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt,
damit Sie sich nicht hinter einzelnen Formulierungen
verstecken und sagen können, dass Sie ihn deswegen
nicht mittragen können. Aber Sie schaffen es schon, sich
von dem abstrakten Ziel zu verabschieden, wie Ihre Reden zeigen.
({2})
Ich freue mich, dass zumindest unter den drei Oppositionsfraktionen hier schnell Einigkeit herrschte.
Seither folgte eine Beratung der anderen. Wir tauschten uns mit NGOs aus und sprachen mit einem Opfer.
Wir konsultierten Finanzexpertinnen und -experten,
Bankenvertreter und renommierte Testinstitute. Alle befürworten ein gesetzliches Investitionsverbot. Doch was
kam von Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen? Außer leeren Worthülsen, Gedruckse
und Windungen kam von Ihnen nichts. Das haben auch
Ihre Reden gezeigt. Sie sagen zwar, dass Sie das Erreichen des Ziels unterstützen. Aber dann ist Ihnen alles zu
kompliziert und doch zu viel. Wenn die Zusammenarbeit
mit der Opposition an der vermeintlichen Würde dieser
Regierung kratzt, geschenkt! Es ist okay, wenn Sie es
nicht mit uns machen wollen, obwohl wir uns in vielerlei
Hinsicht sehr kooperationsbereit gezeigt haben. Herr
Kollege Dr. Wadephul und Herr Kollege Schnurr, wo
zwischen allen Erklärungen Ihrer aufrichtigen Absichten
ist Ihre Initiative? Wo ist Ihr Beitrag zur Lösung des Problems?
({3})
Oder ist Ihre Tatenlosigkeit schon das Eingeständnis,
dass Sie keine guten Gesetzentwürfe machen können?
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, was Sie hier betreiben, ist aus meiner Sicht schlicht
Arbeitsverweigerung.
({4})
Es ist doch höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass in
Deutschland zukünftig Investitionen in völkerrechtswidrige Waffen gesetzlich verboten sind.
({5})
Es darf nicht sein, dass ein Land wie Deutschland, das
jährlich erhebliche finanzielle Mittel für die Räumung
von Antipersonenminen und Streumunition weltweit zur
Verfügung stellt, Investitionen in die Produktion dieser
Waffen erlaubt und teilweise sogar steuerlich fördert.
Aber egal ob bei der Regulierung der Finanzmärkte, der
Frauenquote oder Investitionen in völkerrechtswidrige
Waffen, wenn es um Großkonzerne oder den Finanzsektor
geht, setzt Schwarz-Gelb auf Selbstverpflichtung, obwohl
das nicht funktioniert, wie man gerade in der Medienberichterstattung verfolgen kann. Trotz aller Selbstverpflichtungen geht die Geschäftemacherei mit diesen barbarischen Waffen uneingeschränkt weiter.
({6})
Es reicht einfach nicht, die Hände in den Schoß zu legen, abzuwarten, was andere Staaten machen, und darauf
zu vertrauen, dass sich die Dinge von selbst regeln. Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es doch, nicht zur
Selbstverpflichtung aufzurufen, sondern endlich für
Rechtssicherheit zu sorgen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Jetzt spricht der Kollege Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns hier einig, dass der Einsatz von
Streumunition und der Einsatz von Antipersonenminen
schreckliches Leiden hervorruft und deshalb geächtet
werden muss. Es besteht auch Konsens darüber, dass wir
alle Anstrengungen unternehmen müssen, den Kreis der
Staaten, welche die Oslo-Konvention über Streumunition ratifizieren, zu erweitern.
Die Bundesregierung bringt sich sehr engagiert in
diesen Oslo-Prozess ein. Deutschland wurde beispielsweise die besondere Aufgabe übertragen, Koordinator
für die Bestandszerstörung zu sein.
Der Antrag, der nun die Idee formuliert, ein Investitionsverbot gesetzlich zu verankern, greift zunächst einmal die aktuelle Rechtslage auf, die hier mehrfach angesprochen worden ist. Wir haben im Kriegswaffenkontrollgesetz verboten, die Herstellung von Streumunition zu fördern. Das war die Gesetzesänderung, mit der
die Konvention über Streumunition von Oslo in deutsches Recht umgesetzt worden ist.
Dieses Verbot der Förderung der Herstellung von
Streumunition ist mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bei vorsätzlichen Verstößen belegt. Es ist richtig, dass ein explizites Investitionsverbot fehlt. Aber mit
diesem Verbot der Förderung der Herstellung kann
selbstverständlich auch eine direkte Unterstützung der
Herstellung bereits nach heutigem Recht verboten sein.
({0})
Nun gibt es in der Tat einige Länder - das haben Sie
angesprochen -, die Auslegungsschwierigkeiten sehen
und versuchen, dieses gesetzliche Verbot zu präzisieren.
Aber anders, als Sie hier glauben machen wollen, gibt es
kein Land, das eine schärfere gesetzliche Bestimmung
verankert hätte, als wir sie im Kriegswaffenkontrollgesetz haben.
({1})
Herr Kollege, eine Zwischenfrage.
Sofort. Lassen Sie mich das bitte noch ausführen. Ich
komme gleich darauf zurück.
Dort, wo man sich an schärferen gesetzlichen Regelungen versucht hat, stößt man auf Probleme der Umsetzung und der Abgrenzung. In Belgien beispielsweise
wurde bereits vor Inkrafttreten der Oslo-Konvention ein
Investitionsverbot erlassen. 2007 hat man ein Finanzierungsverbot beschlossen, das die Finanzierung von Unternehmen verbietet, die Antipersonenminen oder Streumunition herstellen, nutzen oder damit handeln.
Allerdings ist auch eine Klausel enthalten, nach der es
nicht verboten ist, in andere Bereiche eines betroffenen
Unternehmens zu investieren. Damit stehen Sie vor der
Frage der Abgrenzung, was denn nun von dem Investitionsverbot erfasst ist. Im Ergebnis ist das Gesetz in Belgien noch nicht umgesetzt worden, weil noch keine Verordnung dazu erlassen worden ist.
Ist jetzt der Moment?
Ich würde das gerne im Zusammenhang darstellen
wollen, Frau Präsidentin.
Auch Luxemburg hat ein Finanzierungsverbot erlassen, das die wissentliche Finanzierung von Streumunition unter Strafe stellt. Wir wissen auch aus Luxemburg,
dass das Land vor erheblichen Abgrenzungsproblemen
steht und deshalb eine Überarbeitung des Gesetzes plant.
({0})
Die Schweiz beabsichtigt, auch die direkte Finanzierung der Herstellung zu verbieten und zu verhindern,
dass dieses Verbot umgangen wird.
In Großbritannien hat man bereits 2009 erklärt, dass
die Oslo-Konvention mit ihrem Unterstützungsverbot
nur die direkte Finanzierung von Streumunitionsunternehmen erfasst. Um die indirekte Finanzierung zu verhindern, hat Großbritannien einen Verhaltenskodex entwickelt, im Übrigen in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und mit Vertretern der Finanzindustrie.
Die Frage eines Investitionsverbots, die hier Gegenstand der Diskussion ist und über die auch der Unterausschuss Abrüstung diskutiert hat, ist ein Beleg dafür, dass
wir uns über die Umsetzung der Oslo-Konvention ernsthaft Gedanken machen müssen.
({1})
Niemand aus meiner Fraktion möchte mit staatlichen
Mitteln, insbesondere mit Fördergeldern, die Herstellung
von geächteter Munition fördern.
Wir müssen uns aber genau fragen, wie man solche
Investitionen tatsächlich verifizierbar verhindern kann
und inwieweit der Staat diesbezüglich mit Regulierung
etwas erreichen kann. Gut gemeint ist eben noch nicht
gut gemacht.
({2})
Ich würde dazu raten, nicht zu unterschätzen, welche
Möglichkeiten es gibt, öffentlichen Druck aufzubauen,
Transparenz zu schaffen und Selbstverpflichtungen einzufordern. Die Anbieter von Finanzanlagen müssen dazu
angehalten werden, ethische Kriterien bei der Vermögensanlage zu berücksichtigen. Es sind bereits einige Institute - von Commerzbank über Allianz Global bis
Union Investment - genannt worden, die solche Selbstverpflichtungen eingegangen sind. Diese Beispiele belegen, dass Marktmechanismen, die in ihren Wirkungen
einem Investitionsverbot gleichkommen, tatsächlich
greifen und deshalb in die richtige Richtung weisen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir ist
wichtig, zu betonen, dass wir uns in der Zielsetzung einig sind. Man kann über das Verfahren streiten, wie weit
man mit gesetzlichen Präzisierungen kommt. Man darf
die Gefahren der Abgrenzungsschwierigkeiten und der
Nachweisprobleme nicht unterschätzen. Aber wir sollten
uns auch nicht auseinanderdividieren lassen. Es besteht
Konsens, dass wir Streumunition ächten und dafür sorgen müssen, dass die Oslo-Konvention nicht unterlaufen
wird.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zum Antrag der Fraktionen der SPD,
der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem
Titel „Investitionen in Antipersonenminen und Streumu-
nition gesetzlich verbieten und die steuerliche Förderung
beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8016, den Antrag auf
Drucksache 17/7339 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung von
Aufgaben im Bereich der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit auf Notare
- Drucksache 17/1469 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 17/1468 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin Mechthild
Dyckmans hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir, die Rechtspolitiker,
zu dieser schönen Stunde zusammenkommen, um ein
Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag anzugehen und hoffentlich auch zügig zu Ende zu bringen.
Zu Recht sind wir stolz auf unser hervorragendes Justizsystem, das im europäischen Vergleich effizient und
kostengünstig ist. Aber auch die Justizhaushalte bleiben
von den Sparzwängen nicht verschont. Dennoch ist es unser aller Bestreben, den hohen Qualitätsstandard der deutschen Justiz trotz der zunehmenden Sparzwänge der öffentlichen Haushalte aufrechtzuerhalten. Die christlichliberale Koalition hat daher als Beitrag zur Effizienzsteigerung und Entlastung der Justiz die Möglichkeit einer Aufgabenübertragung auf Notare im Koalitionsvertrag vorgesehen. Dementsprechend diskutieren
wir heute zwei vom Bundesrat vorgelegte GesetzentMechthild Dyckmans
würfe zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare.
Eine solche Übertragung stellt nicht nur eine Entlastung der Justiz dar, sie stärkt auch die Stellung der Notare in ihrer Funktion eines Rechtspflegeorgans. Notare
sind unabhängige und unparteiische Betreuer der Beteiligten. Hierzu sind sie aufgrund ihrer juristischen Ausbildung, der erlangten Befähigung zum Richteramt und
ihrer Erfahrung befähigt. Für sie gelten ähnliche dienstrechtliche Vorschriften wie für Landesjustizbeamte und
Richter, und sie unterliegen der Disziplinargewalt der jeweiligen Landesjustizverwaltung. Nochmals: Notare
sind Träger eines öffentlichen Amtes und Teil der vorsorgenden Rechtspflege.
Neben der Entlastung der Gerichte sollte die Aufgabenübertragung aber auch Vorteile für die Bürgerinnen
und Bürger bringen. Gerade in Zeiten, in denen die Länder immer mehr kleine Amtsgerichte zusammenlegen
oder gar schließen, können die flächendeckend vertretenen Notare ein örtlich und zeitlich gut erreichbarer Ansprechpartner sein.
({0})
Der Vorschlag des Bundesrates zur Öffnungsklausel für
die Übernahme sämtlicher Tätigkeiten des Nachlassgerichts erster Instanz auf die Notare hat zwar einigen
Charme; denn Bürgerinnen und Bürger brauchten sich in
Nachlasssachen künftig nur noch an einen Ansprechpartner, nämlich ihren Notar, zu wenden. Hierfür ist allerdings - und das sieht der Bundesrat genauso - eine
Grundgesetzänderung notwendig, für die ich derzeit
keine Mehrheit sehe.
Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich Ihre
Aufmerksamkeit auf einige Vorschläge lenken, deren
Umsetzung ohne Grundgesetzänderung möglich ist und
die ebenfalls sowohl einen Entlastungseffekt für die Gerichte als auch eine Verbesserung für die Bürgerinnen
und Bürger bedeuten würde.
Im Nachlasswesen könnte den Notaren die ausschließliche Zuständigkeit für die Verwahrung aller notarieller Verfügungen von Todes wegen, das heißt auch
der öffentlichen Testamente, übertragen werden. Zu denken wäre auch an eine Übertragung der Verwahrung aller
Verfügungen von Todes wegen, also auch der privatschriftlichen Testamente. Auch die Übertragung der Eröffnung von Testamenten und Erbverträgen auf Notare
ist in Betracht zu ziehen. Dabei ist allerdings zu überlegen, ob sich die Zuständigkeit nur auf die notariellen
bzw. die vom Notar verwahrten Verfügungen von Todes
wegen oder eben auch wieder auf alle Verfügungen von
Todes wegen beziehen soll.
Eine klare Zuständigkeitsregelung könnte zudem dadurch geschaffen werden, dass Notaren das gesamte Erbscheinsantragsverfahren, also die Aufnahme von Erbscheinsanträgen und eidesstattlichen Versicherungen,
übertragen wird.
Eine bundeseinheitliche Regelung ist auch - so sieht
es der Gesetzentwurf schon vor - hinsichtlich der Aufnahme von Nachlassverzeichnissen sinnvoll. Diese Aufgabe wird bereits in einigen Ländern von Notaren erfolgreich durchgeführt. Das Gleiche gilt auch für Nachlassauseinandersetzungen, die ebenfalls bereits in einigen
Ländern von den Notaren vermittelt werden.
Des Weiteren könnten Notare neben den Nachlassgerichten auch Ausschlagungs- und Anfechtungserklärungen entgegennehmen.
Es ist auch daran zu denken, dass in Randbereichen
anderer Rechtsgebiete eine Aufgabenübertragung auf
Notare sinnvoll ist, ohne dass es dafür einer Grundgesetzänderung bedarf. Ich möchte hier als auf die Notare
zu übertragenen Aufgaben nennen: die Anerkennung notarieller Vollmachtsbescheinigungen als Nachweisvorlage für Grundbuchämter und Registergerichte, aber
auch die ausschließliche Prüfung, das heißt das Ob, über
die Erteilung weiterer vollstreckbarer Ausfertigungen einer notariellen Urkunde. Dieses Prüfungsrecht obliegt
nämlich bisher den Amtsgerichten. Schließlich wäre
auch eine Aufgabenübertragung bei Wechsel- und
Scheckprotesten denkbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden sicher
im Rechtsausschuss noch ausführlich darüber diskutieren müssen, wie wir die Aufgabenübertragung im Einzelnen ausgestalten.
({1})
Wir sollten aber die Chancen zur Entlastung der Gerichte nutzen, die sich durch diese Übertragung ergeben.
Ich wiederhole es: Auch die Bürgerinnen und Bürger
werden von diesen Maßnahmen profitieren.
Sehr genau werden wir uns allerdings auch ansehen
müssen, ob und wo wir Übertragungen durch Länderöffnungsklauseln umsetzen. Im Interesse der Beteiligten
sollte es nicht zu einer unübersichtlichen Zersplitterung
durch unterschiedliche Handhabung in den Ländern
kommen.
Gestatten Sie mir noch zum Schluss den Hinweis darauf, dass eine Forderung aus dem Gesetzentwurf der
Länder bereits erfüllt ist: Das Zentrale Testamentsregister wird bereits seit dem 1. Januar 2012 erfolgreich bei
der Bundesnotarkammer geführt.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Rechtsausschuss.
Schönen Dank.
({2})
Der Kollege Burkhard Lischka hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute Abend mit zwei Gesetzentwürfen
des Bundesrates, die im Wesentlichen die Organisation
des Nachlasswesens in unserem Land betreffen. Solche
Gesetzentwürfe, so finde ich, sollten wir zunächst einmal sehr ernst nehmen und auch sorgfältig prüfen; denn
die Länder sind immerhin diejenigen hier im Land, die
in erster Linie die Justiz vor Ort organisieren und dafür
sorgen müssen, dass die Justiz bis in den letzten Winkel
unseres Landes gut funktioniert. Wenn dann die Länder
mit ihrer besonderen Nähe und Erfahrung Vorschläge
unterbreiten, was man möglicherweise beim Nachlasswesen verbessern und verändern kann, dann sind wir,
wie ich glaube, gut beraten, uns ernsthaft mit diesen Vorschlägen auseinanderzusetzen und diese Gesetzentwürfe
nicht vorschnell beiseitezuschieben.
Für die SPD-Fraktion kann ich sagen: Wir werden
diesen Gesetzentwurf sehr sorgfältig prüfen. Wir können
uns beispielsweise vorstellen, dass die Notare künftig
die zentrale Stelle für die Bearbeitung von Erbscheinsanträgen werden. Das ist eine Aufgabe, die sie schon heute
ohne Fehl und Tadel wahrnehmen. Da stellt sich in der
Tat die Frage, ob es in Zukunft noch sinnvoll ist, dass
zwei Stellen - neben den Notaren sind es derzeit auch
die Nachlassgerichte - für Erbscheinsanträge zuständig
sind. Meine Erfahrung ist, dass diese doppelte Zuständigkeit für die Bürgerinnen und Bürger oftmals verwirrend ist und in der Praxis nicht selten dazu führt, dass sie
von einer Stelle zur anderen geschickt werden. Eine
alleinige Zuständigkeit der Notare in diesem Bereich
erscheint uns auf den ersten Blick durchaus sinnvoll und
bürgerfreundlich, und sie könnte in der Tat unsere Nachlassgerichte entlasten.
Ein zweites Anliegen des Bundesrates in diesem
Gesetzentwurf - Frau Kollegin Dyckmans, Sie haben es
bereits angesprochen - ist inzwischen umgesetzt worden, nämlich ein zentrales und modernes elektronisches
Testamentsregister einzuführen. Auch das war ein sinnvoller Schritt. Mit Blick darauf, wie das in anderen europäischen Ländern organisiert ist, sage ich, dass dieser
Schritt überfällig war. Seit dem 1. Januar gibt es dieses
zentrale Testamentsregister. Ich habe mich darüber erkundigt und kann sagen, dass es gut läuft. Das zeigt die
hohe Kompetenz der Notare in diesem Bereich.
Skeptisch sind wir allerdings gegenüber Vorschlägen
des Bundesrates, alle Nachlasssachen komplett auf die
Notare zu übertragen, diese also quasi zum Nachlassgericht erster Instanz zu machen; denn die Entscheidung
beispielsweise in strittigen Erbscheinverfahren ist Aufgabe der klassischen Rechtsprechung. Dafür gibt es Gerichte.
({0})
Diese Aufgabe sollte auch bei den Gerichten verbleiben.
Es ist eine Stärke des deutschen Rechtssystems, dass
Streitfälle in einem transparenten, offenen und gerichtlich geordneten Verfahren und nicht in irgendwelchen
Hinterzimmern entschieden werden. Dabei sollte es nach
dem Willen der SPD-Fraktion auch bleiben.
Wir nehmen aber gerne Ihr Gesprächsangebot an und
werden - ich habe es schon gesagt - die Dinge sorgfältig
prüfen. Es gibt den einen oder anderen Ansatzpunkt,
über den wir gemeinsam nachdenken sollten. Ich bin mir
sicher, dass wir hier zu einer Lösung kommen, die nicht
nur die Bundesländer zufriedenstellt, sondern vor allen
Dingen auch unsere Bürgerinnen und Bürger.
Herzlichen Dank.
({1})
Andrea Voßhoff hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich begrüße es außerordentlich, dass es gelungen
ist, nunmehr die beiden vorliegenden Gesetzesinitiativen
des Bundesrates auf die parlamentarische Tagesordnung
des Bundestages zu setzen. Damit ist das Thema der
Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen
Gerichtsbarkeit auf Notare endlich auch beim Bundesgesetzgeber angekommen, und, wie ich finde, zu Recht.
Seit sicher gut sieben Jahren verfolge ich mit nachhaltigem Interesse das in der Rechtspolitik und der Justiz
durchaus umstrittene Thema der Frage: Was sind Kernaufgaben der Justiz? Und: Gibt es im Lichte knapper
werdender öffentlicher Kassen Handlungsbedarf für eine
nachhaltige Entlastung der Gerichte? Dies kann zum
Beispiel durch Übertragung verschiedener, bislang - wie
es im Gesetzentwurf des Bundesrates formuliert ist „den Gerichten zugewiesener Aufgaben aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die Notare erreicht werden“.
Dieses Thema ist in den zuständigen Fachkreisen
über Jahre sehr kontrovers behandelt worden. Das gehört
bei dieser Thematik dazu. Deshalb begrüße ich es, dass
sich der Bundestag endlich damit beschäftigt.
Der Bundesrat will mit seinen beiden Gesetzentwürfen eine langjährige Diskussion beenden. Wer diese
Diskussion verfolgt hat, weiß, dass eine Bund-LänderArbeitsgruppe getagt hat und dass verschiedene Initiativen ergriffen worden sind. Der Bundesrat will jetzt die
Vorschläge, über die sich Länder und Bund geeinigt haben, auf die gesetzgeberische Zielgerade bringen. Auch
wenn zu befürchten ist - Frau Kollegin Dyckmans und
Herr Kollege Lischka haben es schon angesprochen -,
dass es der Regierungskoalition wohl nicht gelingen
wird, die erforderliche Zweidrittelmehrheit in diesem
Hause für die notwendige Grundgesetzänderung zu erreichen, finde ich es trotzdem richtig und gut, dass wir
über diese Gesetzentwürfe debattieren und schauen, was
auf Bundesebene möglich ist. Ich freue mich, Herr Kollege Lischka, dass die SPD signalisiert, das sorgfältig
prüfen zu wollen, und sich daran durchaus konstruktiv
beteiligen will. Das war nicht immer die Haltung der
SPD. Insofern ist das außerordentlich zu begrüßen.
Ich möchte zu dem Thema einige Gedanken aus Sicht
der Union darlegen. Über die Details werden wir in den
Ausschüssen intensivst beraten. Mir ist es auch wichtig,
etwas zum Thema Justiz insgesamt zu sagen. Der Bundesarbeitskreis Christlich-Demokratischer Juristen der
CDU hat im Jahr 2006 ein immer noch aktuelles Positionspapier erstellt. Ich finde, es wurde dort sehr treffend
festgestellt - ich zitiere -: Erstens.
Die Justiz hat eine zentrale Rolle in unserem demokratischen, freiheitlichen und sozialen Staatswesen. Ihre Funktion liegt vor allem in der Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden
durch eine unabhängige Rechtsprechung. … Justiz
ist nicht nur eine zentrale Staatsaufgabe, sondern
zugleich auch ein immer wichtiger werdender
Standortfaktor im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb.
Zweitens.
Seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
erfüllt die Justiz diese Aufgaben in hervorragender
Weise. Sie hat maßgeblich zu einem hohen rechtsstaatlichen Standard beigetragen, von dem Bürger,
Wirtschaft und öffentliche Verwaltung profitieren.
Nach wie vor braucht sich die Justiz in Deutschland
im internationalen Vergleich nicht zu verstecken.
Die Rechtsprechung in Deutschland hat eine hohe
Qualität. Diese gilt es zu erhalten.
({0})
Drittens.
Die unbestreitbaren Leistungen
- so der BACDJ der Vergangenheit dürfen jedoch nicht den Blick
darauf verstellen, dass sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Die Justiz ist Teil der Gesellschaft, diese Gesellschaft befindet sich in einem
grundlegenden Wandel. Maßstab für staatliches
Handeln ist deshalb nicht mehr das Wünschenswerte, sondern das unabdingbar Notwendige; selbst
dieses zu finanzieren ist schwierig.
Viertens. Aus dieser Situation folgt:
Justiz schützt vor Unrecht; sie schafft Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Diese rechtsstaatlichen
Grundbedingungen und auch die Effekte hieraus für
Gesellschaft und Wirtschaft sind unverzichtbar. Für
eine auf qualitativ hohem Niveau arbeitende
Rechtspflege ist die Justiz auch weiterhin auf eine
angemessene finanzielle Ausstattung angewiesen.
Diese Feststellung, meine Damen und Herren, ist
nach wie vor mehr als aktuell. Parteiübergreifend werden sich alle Rechtspolitiker sehr schnell darüber einig
sein, dass wir den von den Finanzministern auch der
Länder gestarteten Versuchen, auch die Justizhaushalte
dem Spardiktat zu unterwerfen, immer wieder entgegentreten müssen.
({1})
Aber diese Haltung darf die Augen nicht davor verschließen, dass strukturelle und nachhaltige Reformen
auch in der Justiz unumgänglich sind. Hinter dieser allgemeinen Feststellung können wir uns sicher alle finden,
und sie ist auch unstreitig. Spannend wird es, wenn
strukturelle Reformen konkret werden. Damit sind wir
bei der Initiative des Bundesrates.
Wie halten wir es mit der Frage, zur Entlastung der
Justiz Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf
Notare zu übertragen? Ich fand es sehr passend, dass der
Vorsitzende des Deutschen Notarvereins, Dr. Vossius,
das einmal schön plakativ umschrieben hat, indem er davon sprach, die „Vertriebsstrukturen der Ware Recht zu
reformieren“ und wie es gelingen kann, „die Ware Recht
näher an den Kunden zu bringen“. Ich finde den Vergleich nicht nur treffend, er dokumentiert auch, worum
es eigentlich gehen sollte: In Zeiten knapper öffentlicher
Kassen, was in manchen Ländern auch mit Schließungen
- das ist hier schon gesagt worden - von Gerichtsstandorten einhergeht, sollten wir alles daransetzen, eine bürgernahe und flächendeckende Justizversorgung sicherzustellen.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates will genau hierzu
einen Beitrag leisten und hat vorgeschlagen - dies ist
heute erwähnt worden -, diverse justizielle Aufgaben
aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die
Notare zu übertragen. Die freiwillige Gerichtsbarkeit
- das wissen die Juristen - steht neben der streitigen Gerichtsbarkeit und betrifft die Bereiche der Rechtsfürsorge und der vorsorgenden Rechtspflege. Auf einem
Fachkongress im Jahr 2005 hat Professor Dr. Kirchner
aus Berlin zur Historie der freiwilligen Gerichtsbarkeit
sinngemäß gesagt, dass die Justiz - das sagt der Name diese Aufgaben freiwillig übernommen hat. Ich zitiere
ihn:
Freiwillige Gerichtsbarkeit hieß, das waren Aufgaben, die keine Rechtsprechungsaufgaben waren und
die die Justiz freiwillig übernommen hat. … Der
Gerichtsbarkeit wurden bestimmte Aufgaben deshalb übertragen, nicht weil sie auf Rechtsprechung
spezialisiert ist, sondern weil ihre Unabhängigkeit
verfassungsgemäß gewährleistet ist.
Gerade deshalb finde ich auch die Überlegungen der
Länder konsequent und richtig, darüber nachzudenken,
wie dieses für die Bürger so wichtige Rechtsgebiet gestärkt werden kann, wie es seinen Zweck besser erreichen kann und wie unser qualitativ hoch angesehenes
Justizwesen auch in diesem Bereich noch effektiver und
bürgernäher gestaltet werden kann.
Die Vorschläge der Länder führen in die richtige
Richtung. Ich teile die hier schon genannte Skepsis, was
die Übertragung sämtlicher Tätigkeiten der Nachlassgerichte auf die Notare betrifft. Ich denke auch - es sind
hier schon die Gründe genannt worden; diese teile ich -,
es handelt sich um ein Unterfangen, das das Ziel nicht
erreichen wird. Über alle anderen Problemfelder kann
man reden.
Ebenfalls wurde bereits gesagt, dass wir als Koalition
schon im Bereich „Aufgabenübertragung auf Notare“
tätig geworden sind, und zwar mit dem Testamentsregister. Das muss ich hier nicht weiter ausführen. Es zeigt,
dass wir das Thema nicht nur aufnehmen, sondern auch
nach Möglichkeiten suchen, im Sinne der Bürger effektiv und effizient für eine verbesserte und bürgernahe Erledigung justizieller Aufgaben zu sorgen.
Des Weiteren ist auch über die Position und die Stellung der Notare sehr intensiv gesprochen worden; auch
das brauche ich eigentlich nicht zu wiederholen. Ich fand
einen Vergleich, den ich vor einiger Zeit gehört habe,
sehr gut, dass nämlich der Notar - Träger eines öffentlichen Amtes - laut dieser Definition im Grunde der
verlängerte Arm der Justiz ist. Deshalb kann man die
Aufgabenverlagerung auf Notare auch nicht als „Privatisierung“ bezeichnen, vielmehr agiert der Notar in der
Fläche sozusagen als verlängerter Arm der Justiz.
Über die Qualität und die Arbeit der Notare in
Deutschland ist, glaube ich, hinreichend viel gesagt worden - zu Recht, wie ich finde. Demzufolge ist es aller
Mühe wert und sinnvoll - einen Anfang hat die christlich-liberale Koalition mit der Aufsetzung dieses Gesetzentwurfes gemacht -, wenn wir uns mit den einzelnen
Punkten auf Bundesebene sehr intensiv auseinandersetzen. Wir sehen - das scheint sich ja abzuzeichnen -, dass
es für eine Grundgesetzänderung keine Mehrheit geben
wird. Gleichwohl - das hat auch die Kollegin Dyckmans
vorgetragen - gehen wir davon aus, dass es eine Vielzahl
von Aufgaben gibt, über die wir reden sollten und die
auch ohne Grundgesetzänderung umsetzbar sein könnten.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
höre, dass Sie sich daran konstruktiv beteiligen wollen.
Das können wir nur begrüßen. Ich sagte es bereits: Im
Sinne einer bürgernahen und effizienten Justiz ist es allemal sinnvoll, dieses Thema aufzugreifen und zu einem
guten Ergebnis zu bringen.
Vielen Dank.
({2})
Jens Petermann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchen Initiativen
wir uns hier befassen dürfen. Einige Bundesländer wollen mit diesem Gesetzentwurf, letztlich auf dem Rücken
der Bürgerinnen und Bürger, ihre Justizverwaltung verschlanken. Eine Reihe von Aufgaben, die bisher von den
Gerichten erfüllt werden, soll zukünftig auf die Notare
verlagert werden. Die Länder wollen auf die Weise
Sach- und Personalkosten einsparen.
Sicher wurde diese Idee nicht in den Justizministerien, sondern bei den Sparkommissaren der Finanzministerien geboren. Ich frage mich zum wiederholten
Mal, welchen Stellenwert die Justizministerien als zuständige Organisatoren der rechtsprechenden Gewalt innerhalb der Landesregierungen haben. Man hat immer
wieder den Eindruck, dass sie das 13. Rad am Wagen
sind.
Das ganze Vorhaben hat aber auch Züge eines Schildbürgerstreiches. Die Kostendeckung der Nachlassgerichte, deren Aufgaben auf die Notare übergehen sollen,
liegt bei weit über 100 Prozent. Damit wäre der Einnahmeverlust für die Justiz bei einem Wegfall der Aufgaben
höher als eine denkbare Einsparung bei Personal- oder
Sachkosten.
({0})
Da stellt sich automatisch die Frage, welche Ideologie
hinter diesem Plan steckt. Wollen die Bundesländer
ernsthaft eine der wenigen Einnahmequellen der Justiz
privatisieren? Offensichtlich ja; denn sie versprechen
sich höhere Steuereinnahmen durch höhere Gewinne bei
den Notaren. Das wäre ganz offensichtlich ein Geschäft
zulasten Dritter, nämlich der rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger, die letztlich die Zeche zahlen werden.
Das wird mit der Linksfraktion nicht zu machen sein.
({1})
Die Folge wäre: Nachlassverfahren würden erheblich
teurer als bisher. Ein Erbscheinverfahren kostete damit
mindestens 19 Prozent mehr. Das nicht kostendeckende
Beschwerdeverfahren sowie das kostenfreie Erinnerungsverfahren sollen bei den Amtsgerichten verbleiben,
während die lukrativen Teile des Nachlassverfahrens auf
die Notare übertragen werden sollen.
Die mögliche Freisetzung von Personal wird letztlich
nur das Bedürfnis der Sparfanatiker auf Stellenstreichungen befriedigen, die Personalausstattung an den Gerichten jedoch keinesfalls verbessern. Die Finanzminister
werden die Stellen kassieren und zugleich höhere Steuereinnahmen erreichen, während die Einnahmen und
Aufgaben im Justizressort wegbrechen. Daraus ergeben
sich neue Argumente für die Diskussion um die Schließung von Gerichtsstandorten; da bin ich mir ziemlich sicher. Das sollten sich die Justizminister, also die in der
Exekutive verankerten Sachwalter der dritten Gewalt, eigentlich nicht bieten lassen.
({2})
Die Bürgerinnen und Bürger haben einen gesetzlichen
Justizgewährungsanspruch. Eine weitere Aushöhlung
durch Privatisierungen werden wir nicht akzeptieren.
Die Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Justiz darf durch
weitere Privatisierungen nicht gefährdet werden.
({3})
Die Länder haben gemerkt, dass ihr Vorhaben mit
dem Grundgesetz kollidieren wird, und wollen es darum
gleich mit ändern; davon war hier schon mehrfach die
Rede. Ich hoffe, dass das Vorhaben in diesem Haus keine
Mehrheit findet; das zeichnet sich bereits jetzt, in der
ersten Lesung, ab. Für diesen Schildbürgerstreich, liebe
Kolleginnen und Kollegen, lohnt es sich nun wirklich
nicht, das Grundgesetz anzutasten.
Der Gesetzentwurf suggeriert, dass es für den Bürger
zukünftig nur noch einen besonders qualifizierten Ansprechpartner für Erbsachen gibt: die Notariate. Da diese
aber auch beratend tätig werden, besteht ein Interessenkonflikt; Notare kann man nicht zu ihrem eigenen Kontrollorgan machen.
Herr Stadler, an das Haus der Justizministerin gerichtet: Ich denke, Ihnen wird sicher daran gelegen sein, dass
es so bleibt, wie es ist. Ich hoffe, dass Sie helfen, das
Vorhaben zu beerdigen. Denn diese Vorschläge führen
zu einer schlechteren Ausstattung der Gerichte und zu
einer Verteuerung justizieller Dienstleistungen für die
Bürgerinnen und Bürger. Das ist diesmal mit Links nicht
zu machen.
({4})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ingrid Hönlinger hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundesrat beabsichtigt, mit den beiden Gesetzentwürfen, über die wir heute hier im Bundestag debattieren, Aufgaben aus dem Bereich der staatlichen Justiz
- es geht vor allem um Nachlasssachen - auf privat tätige Notare zu übertragen. Damit bringt der Bundesrat
zwar nicht das Grundgerüst des deutschen Rechtssystems ins Wanken, aber er rüttelt doch an einer der tragenden Säulen unseres Verfassungssystems: an der Justiz als staatliche Kernaufgabe.
({0})
Der Bundesrat erklärt, die Änderungen seien sowohl
im Sinne der Bürgerinnen und Bürger als auch im Sinne
der Justiz. Wenn wir die Gesetzentwürfe an ihrer Bürgerfreundlichkeit messen, dann ergibt sich bei Nachlasssachen folgendes Bild: Bisher können Erben ihren Erbschein
beim Nachlassgericht beantragen. Die Erbscheinserteilung
ist mehrwertsteuerfrei. Geht die Zuständigkeit für die Erteilung von Erbscheinen auf Notare über, fällt Mehrwertsteuer an. Das heißt im Klartext, dass der Erbschein direkt
um 19 Prozent teurer wird. Das ist sicher nicht im Sinne
der Bürgerinnen und Bürger, meine Damen und Herren.
({1})
Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Familienvater
verstirbt und hinterlässt eine Witwe und drei Kinder.
Nach geltendem Recht beantragen die Erben den Erbschein beim Nachlassgericht am letzten Wohnsitz des
Erblassers. Nach der vom Bundesrat vorgeschlagenen
Änderung entfällt das Amtsgericht als zentrale Anlaufstelle. Alle vier Beteiligten aus unserem Beispielsfall
können zu unterschiedlichen Notaren gehen. Das hat zur
Folge, dass das Verfahren aufgesplittert wird und für alle
unüberschaubar wird. Dazu kommt auch noch, dass
diese Regelung nicht einheitlich für das Bundesgebiet
gelten soll: Die Länder sollen entscheiden können, ob sie
die Neuregelung einführen wollen oder nicht. Das führt
dann zu einer endgültigen Rechtszersplitterung. Es entsteht ein Flickenteppich, der für die Bürgerinnen und
Bürger völlig undurchsichtig ist. Ein solches Vorhaben
können wir Grünen nicht unterstützen.
({2})
Messen wir die Gesetzentwürfe an ihrer Entlastungsfunktion für die Justiz, die der Bundesrat ebenfalls als
Begründung vorbringt, so zeigt sich Folgendes: Gerade
in Nachlasssachen arbeiten die Gerichte in den Ländern
vollständig kostendeckend. Sie erzielen sogar Einnahmen, die über den Ausgaben liegen. Hinzu kommt, dass
die Verfahrensordnung an den Nachlassgerichten von
dem System der freiwilligen Gerichtsbarkeit geprägt ist.
Hier gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Dieser sorgt dafür, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen
aufklärt und damit die Rechtsuchenden unterstützt.
Diese Fürsorgefunktion ist die Grundlage dafür, dass das
Vertrauen der Rechtsuchenden in unsere funktionierende
und kompetente Gerichtsbarkeit sehr ausgeprägt ist. Da
stellt sich mir schon die Frage: Warum sollen wir ein
staatliches System, das funktioniert und zudem kostendeckend arbeitet, privatisieren?
({3})
Völlig unberücksichtigt lässt der Gesetzentwurf die
Folgen für die Gerichte selbst. Sollten die Nachlasssachen auf Notare übertragen werden, gehen auch die dazugehörigen Akten auf das Notariat über. Das bedeutet
in der gerichtlichen Praxis: Andere Abteilungen der
Amtsgerichte, die auf die Akten angewiesen sind, zum
Beispiel Betreuungs-, Register- oder Insolvenzabteilungen, müssen die Akten beim Notar anfordern und zum
Amtsgericht transportieren lassen. Das kann zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führen, die wiederum zulasten der Bürgerinnen und Bürger gehen.
Aus all diesen Gründen sieht die Richter- und Rechtspflegerschaft keinen Mehrwert in den Gesetzentwürfen,
weder für die Justiz noch für die Bürgerinnen und Bürger. Auch mir bleibt der praktische Vorteil des Gesetzentwurfs rätselhaft. Die Justiz, die entlastet werden soll,
sieht keinen Nutzen in der Neuregelung. Der Bürger
trifft auf Rechtszersplitterung und muss letztlich mehr
Kosten tragen; denn beim Notar fällt Mehrwertsteuer an.
Eine nicht zu erwartende Entlastung der Justiz hat eine
zu erwartende Belastung der Bürgerinnen und Bürger
zur Folge. Einem solchen Gesetzentwurf können wir
Grünen nicht zustimmen.
Danke.
({4})
Der Kollege Christoph Strässer hat seine Rede zu
Protokoll gegeben.1) Insofern schließe ich die Ausspra-
che.
1) Anlage 5
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/1469 und 17/1468 an die
Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung
finden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
14 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Niema
Movassat, Sevim Dağdelen, Stefan Liebich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord
anerkennen und wiedergutmachen
- Drucksachen 17/8767, 17/8971 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({1})
Marina Schuster
Hans-Christian Ströbele
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Beziehungen zwischen Deutschland und
Namibia stärken und Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werden
- Drucksache 17/9033({2}) Hierzu ist es vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die schrecklichen Gräueltaten, die im Namen des Kaiserreichs an den Volksstämmen der Herero, Nama, Damara und San verübt worden sind, kann man durch
nichts ungeschehen machen. Wir bekennen uns zu unserem schweren historischen Erbe und der daraus erwachsenden Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia. Wir bedauern zutiefst die schrecklichen Gräueltaten.
Deswegen ist es richtig, dass sich der Bundestag in den
vergangenen Jahren immer wieder mit diesem Thema
befasst hat; denn die Erinnerung daran darf nicht verblassen.
({0})
Dass es Deutschland und Namibia in Anbetracht unserer beschämenden Vergangenheit dennoch gelungen
ist, freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln, ist
eine große kulturelle, politische und auch entwicklungspolitische Leistung unserer Nationen und der jeweiligen
Regierungen. Erst vor kurzem konnte ich eine namibische Delegation treffen. Es war ein sehr offenes Gespräch, in dem Punkte der Zusammenarbeit angesprochen worden sind, zum Beispiel die Visapolitik und
wirtschaftliche Investitionen. Mein Kollege Michael
Kauch, stellvertretender Vorsitzender der Parlamentariergruppe SADC-Staaten, wird noch ausführlich darauf
eingehen.
Deutschland hat Namibia bei den dringlichen Herausforderungen der jeweiligen Zeit stets unterstützt. So war
es auch die intensive Unterstützung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, der sich für die
Resolution 435 der Vereinten Nationen eingesetzt hat,
die von südafrikanischer Mandatsherrschaft zu namibischer Unabhängigkeit führte. Deutschland leistete zudem finanzielle Starthilfe und gilt als größtes Geberland
der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns mit der
wichtigen Frage auseinandersetzen, wie wir unserer historischen Verantwortung gegenüber Namibia heute am
besten gerecht werden können, dann könnte das dadurch
geschehen, dass wir die enge politische, kulturelle, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit
weiter intensiv fortführen. Wir setzen auf verschiedene
Projekte, zum Beispiel auf die Förderung von Gemeindeentwicklung, kleinbäuerlicher Viehzucht, ländlicher Wasserversorgung, Grundbildungsinfrastruktur und ländlichem Wegebau.
Es ist in dem Antrag der SPD und der Grünen auch
erwähnt worden, dass die Sonderinitiative - die Namibian-German Special Initiative - nicht immer reibungslos und auch nicht so verläuft, wie wir uns das damals
vorgestellt haben. Es wurden ja 20 Millionen Euro bereitgestellt. Ich denke, es wäre sehr an der Zeit, dass wir
klären, worin die Ursachen liegen, damit davon ein
neuer Impuls ausgehen kann. Daran sollten wir ganz
konkret arbeiten.
({1})
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich es gut fände,
wenn wir weiterhin dazu auch über die Fraktionen hinweg im Dialog bleiben würden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat Heidemarie Wieczorek-Zeul für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Anfang März hat uns eine Delegation des namibischen
Parlamentes - Sie haben es erwähnt, Frau Schuster - hier
im Deutschen Bundestag besucht. In all den Gesprächen
- alle Fraktionen haben daran teilgenommen - haben wir
zugesagt: Wir möchten endlich eine gemeinsame ParlaHeidemarie Wieczorek-Zeul
mentarierdelegation einsetzen, die gemeinsam die Vergangenheit aufarbeitet, die aber auch die gemeinsame Zukunft zwischen den Parlamenten und den Menschen in
unseren beiden Ländern voranbringt.
({0})
Ich bitte Sie alle, dass Sie dieser Initiative zustimmen.
In dem Antrag, den wir, die SPD-Bundestagsfraktion,
und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
eingebracht haben, anerkennen wir die schwere Schuld,
die - ich zitiere - „deutsche Kolonialtruppen mit dem
Verbrechen an den Herero, Nama, Damara und San auf
sich geladen haben“ und betonen, „wie Historiker seit
langem belegt haben, dass der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904-1908 ein Kriegsverbrechen und Völkermord war“.
Wir sagen:
Der Deutsche Bundestag betont deshalb die fortdauernde Verantwortung Deutschlands für die Zukunft Namibias.
Und:
Der Deutsche Bundestag bittet die Nachfahren der
Opfer des im deutschen Namen geschehenen Unrechts und zugefügten Leids an ihren Vorfahren um
Entschuldigung.
({1})
Da diese koloniale Vergangenheit im öffentlichen Bewusstsein - übrigens gilt das auch für die Schulen - oft
nicht bekannt ist, will ich noch einmal daran erinnern: Die
deutschen Kolonialherren hatten Ende des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung im heutigen Namibia von ihrem
Land vertrieben. Als sich die Herero dagegen wehrten,
führten die Truppen des Generals von Trotha gegen sie
und die Nama einen Vernichtungskrieg. In seinem berüchtigten Schießbefehl befahl General von Trotha, jeden
Herero - auch Frauen und Kinder - zu erschießen. Die
Überlebenden der Schlacht am Waterberg 1904 wurden in
die Wüste getrieben. Sie verhungerten, sie verdursteten.
Die Überlebenden wurden in Lager verschleppt und zur
Zwangsarbeit gezwungen. Viele Tausende haben diese
ungeheure Brutalität nicht überlebt.
Ich habe für die Bundesregierung in Namibia im Jahr
2004 an der Gedenkfeier zum 100. Jahrestag teilgenommen und in meiner Rede gesagt: Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet
werden würde. Und: Der General von Trotha würde
heutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt werden.
Ich habe damals gesagt:
Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen Vaterunser
um Vergebung unserer Schuld.
({2})
Die Bitte um Vergebung wurde vom späteren namibischen Präsidenten Pohamba - damals war er noch Landwirtschaftsminister - und vom Vertreter der Herero
Riruako, angenommen.
Ich habe damals die Verdoppelung der Mittel für
deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Namibia angekündigt. Dies habe ich umgesetzt, soweit mir das
möglich war. Ich habe auch einen zusätzlichen Hilfsfonds vorgesehen. Die Mittel sollten vor allem für die
Entwicklung in den Gebieten eingesetzt werden, in denen die heutigen Nachfahren der Volksgruppen leben,
die besonders unter dieser deutschen Unterdrückung leiden mussten. Diese Versöhnungsinitiative und die geplante Unterstützung für die betroffenen Gebiete sind
aber nur langsam vorangekommen. Das wurde in den
letzten Jahren offensichtlich verschleppt. Der Dialog
zwischen den Parlamenten sollte neue Impulse bringen.
Der Unterschied zwischen dem Antrag von SPD und
Grünen und dem Antrag der Linksfraktion besteht darin,
dass wir formelle Wiedergutmachungs- oder Entschädigungszahlungen, insbesondere individuelle, nicht für
sinnvoll und möglich halten. Wir sind dem Land Namibia als Ganzem verpflichtet. Individuelle Wiedergutmachungszahlungen sind ohnehin nicht möglich. Ich
möchte auch sagen, dass ich in all meinen Gesprächen
mit den beteiligten Gruppen in Namibia immer wieder
festgestellt habe, dass es ihnen nicht um Reparationszahlungen oder finanzielle Wiedergutmachung geht, sondern darum, dass die Ungerechtigkeit, die ihre Vorfahren
erfahren haben, als solche beim Namen genannt und anerkannt wird. Deshalb fordern wir die Bundesregierung
auf, ihre bleibende Verantwortung für Namibia, „die
politische und moralische Verantwortung für das historische Unrecht zu übernehmen“ und das öffentlich anzuerkennen.
({3})
In der letzten Debatte zu diesem Thema - das war die
erste Lesung des Antrags der Linksfraktion - ist vonseiten der CDU/CSU argumentiert worden, diese Verbrechen könne und dürfe man nicht „Völkermord“ nennen.
Ja, es ist richtig, dass die Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords erst 1948 beschlossen wurde. Das darf uns aber
doch nicht daran hindern, zu sagen: Das, was damals,
1904 und danach, begangen wurde, nennen wir heute
Völkermord. So unzweideutig sollten wir es bezeichnen.
({4})
In unserem Antrag verlangen wir, ein weiteres düsteres Erbe der deutschen Geschichte endlich aufzuklären.
In dem Vernichtungskrieg gegen die Herero begingen
die damaligen deutschen sogenannten Rassenforscher
ein anderes widerwärtiges Verbrechen, indem sie sterbliche Überreste von Gefallenen, Hingerichteten oder in
den Zwangslagern Umgekommenen nach Deutschland
verschleppten, um sie zu konservieren. Es ist eine
Schande für unser Land, dass es erst im September des
letzten Jahres gelang, 20 Schädel dieser Menschen einer
Delegation der Nachfahren der Herero zu übergeben.
Diese Delegation kam zur Übergabe der Schädel nach
Berlin. Es befinden sich aber weitere sterbliche Überreste in den Asservatenkammern deutscher Universitäten. Es muss in unser aller Interesse liegen, alle diese
Gebeine in würdiger Form nach Namibia zu überführen.
({5})
Wir müssen die Wissenschaftler in Deutschland unterstützen, die sich dieses Anliegen zur Aufgabe gemacht
haben. Über 100 Jahre ist das her; aber es ist noch immer
nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Ich hoffe
sehr, dass diese Debatte dazu beiträgt.
Ich möchte an dieser Stelle insbesondere an den namibischen Bischof Kameeta erinnern, der im September in
einem bewegenden Gottesdienst hier in Berlin aus Anlass der Rückführung der Gebeine in der St.-MatthäusKirche der Opfer gedacht hat. Ich habe diesem Gottesdienst beigewohnt. Bischof Kameeta hat gesagt - ich
habe seine Worte ins Deutsche übersetzt -:
An die politischen Entscheider in Deutschland:
Lassen Sie Ihre Gleichgültigkeit und das Verdrängen beiseite. Es geht um eine bessere, ehrliche, vertrauensvolle, respektvolle Beziehung zwischen
Namibia und Deutschland. Übernehmen Sie moralische und ethische Verantwortung für das, was vor
hundert Jahren geschah, und sprechen Sie es unzweideutig aus.
Wir als Deutscher Bundestag sollten - das ist das Ziel
des Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grünen - Bischof Kameetas Worte ernst nehmen. Wir fordern die
Bundesregierung auf, dies endlich zu tun. Ich bin ganz
sicher: Wir werden gemeinsam mit den Kolleginnen und
Kollegen in Namibia für eine gute Zukunft zusammenarbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Egon Jüttner für die
CDU/CSU-Fraktion
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Alle Mitglieder des Hohen Hauses teilen die
Beurteilung, dass während der deutschen Kolonialzeit
zwischen 1884 und 1915 schreckliche Dinge in DeutschSüdwestafrika passiert sind. Den traurigen Höhepunkt
stellt dabei die brutale Niederschlagung des Aufstandes
der Herero, Nama und Damara dar, in deren Folge Zehntausende Menschen auf grausamste Weise umkamen.
Als im August 1904 der Aufstand der Herero niedergeworfen wurde, floh der größte Teil von ihnen in die fast
wasserlose Kalahari-Wüste, wo sie mitsamt ihren
Frauen, Kindern und Rinderherden verdursteten.
({0})
- Ja. - Von rund 80 000 bis 100 000 Herero im Jahre
1904 lebten 1911 nur noch 15 130. Die verbrecherische
und menschenverachtende Vorgehensweise bei der Niederschlagung der Revolte der Herero war bezeichnend
für die Denkweise der damals Verantwortlichen. Schon
die Rhetorik der damals Handelnden, allen voran der als
Vernichtungsbefehl in die Geschichte eingegangene
„Aufruf an das Volk der Herero“ des verantwortlichen
Generals Lothar von Trotha, lässt uns heute erschaudern
und beschämt uns zutiefst. Gefangene Herero und Nama
wurden von den Deutschen in eigens für sie errichtete
Konzentrationslager gebracht. In diesen Lagern breiteten
sich schnell Krankheiten aus, die Tausende von Todesopfern forderten. Nicht einmal die Hälfte der Gefangenen überlebte den Aufenthalt in den Konzentrationslagern.
Die umfassende Verurteilung der damaligen Ereignisse ist eine parteiunabhängige Konstante deutscher
Außenpolitik. So wurden sowohl im Jahr 1989 unter der
CDU/CSU-geführten Bundesregierung als auch im Jahre
2004 unter der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung weitreichende Anträge beschlossen, die das
deutsch-namibische Verhältnis betreffen. In diesen Anträgen bekennen sich die Antragsteller zu Schuld und
Verantwortung. Diese vom Bundestag verabschiedeten
Anträge besitzen selbstverständlich auch für die heutige
Bundesregierung volle Gültigkeit und stellen den Wegweiser für ihre Namibia-Politik dar.
Wir stehen nach wie vor zu unserer historischen und
moralischen Verantwortung für Namibia, wie sie bereits
mit der Entschließung des Bundestages im Jahre 1989
zum Ausdruck gebracht worden ist. Wir stehen zu der
besonderen Beziehung Deutschlands zu Namibia. So
heißt es beispielsweise auf der Homepage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung - ich zitiere -:
Die Bundesregierung bekennt sich zu der besonderen historischen und moralischen Verantwortung
von Deutschland für Namibia. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Namibia-Entschließung von
1989 das Konzept der besonderen Verantwortung
Deutschlands gegenüber Namibia geprägt und in
seiner Entschließung von 2004 ausdrücklich
bekräftigt. Dieser Verantwortung wird die Bundesregierung durch eine verstärkte bilaterale Zusammenarbeit, vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit, gerecht.
({1})
Dieses Bekenntnis macht deutlich, dass sich die Bundesrepublik Deutschland, an der Spitze die Bundesregierung, der historischen Verantwortung Deutschlands für
die Ereignisse im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika
bewusst ist und zu ihrer Verantwortung steht.
({2})
Aus dieser Verantwortung ergeben sich die Verpflichtungen für die Gegenwart und für die Zukunft, denen sich
die Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit den
namibischen Partnern stellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die von
Deutschland eingegangenen Verpflichtungen zeigen,
dass sich Deutschland seiner Vergangenheit stellt und
daraus Konsequenzen zieht. Diese schlagen sich im Verhältnis Deutschlands zu Namibia nieder. Integraler Bestandteil, tragende Säule und Ausdruck der besonderen
Beziehungen zwischen Namibia und Deutschland ist dabei, wie ich schon sagte, die Entwicklungspolitik. Seit
der Unabhängigkeit Namibias vor 22 Jahren steht
Deutschland in einem besonderen Verhältnis zu Namibia, was die Entwicklungszusammenarbeit betrifft. Erwähnt sei die seitherige Summe der deutschen Entwicklungshilfe, die fast 700 Millionen Euro beträgt. Damit ist
Namibia nicht nur afrikaweit Spitzenreiter im Hinblick
auf die deutschen Zuwendungen pro Einwohner. Vielmehr war Namibia mit 15,80 Euro pro Kopf im
Jahre 2010 auch das Land, das weltweit die höchste Entwicklungshilfeleistung pro Einwohner erhielt.
Im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit werden Fachkräfte entsandt und beispielsweise für
den Transportbereich Ausbildungsprogramme erarbeitet.
Auch das Straßennetz wird verbessert. Bisher wurden
fast 1 000 Kilometer Straße mit deutscher Unterstützung
gebaut oder erneuert. Im Jahre 2007 wurde die deutschnamibische Sonderinitiative begonnen, für die Deutschland 20 Millionen Euro bereitgestellt hat. Mit diesen
Mitteln werden Maßnahmen der Kommunalentwicklung
in den Siedlungsgebieten derjenigen Volksgruppen finanziert, die unter der deutschen Kolonialherrschaft besonders gelitten haben. Die Sonderinitiative bezieht sich
sowohl auf Armutsbekämpfung als auch auf die Förderung der Begegnung und Verständigung in bestimmten
Regionen Namibias.
Der großen Bedeutung der deutschen Entwicklungshilfe, aber auch deutscher Investitionen sind sich beide
Regierungen bewusst. Eine der größten Auslandsinvestitionen in Namibia ist das Zementwerk der deutschen Unternehmensgruppe Schwenk mit einem Investitionsvolumen von 250 Millionen Euro. Für dieses Werk, das rund
300 direkte und 2 000 indirekte Arbeitsplätze geschaffen
hat, wurde im Jahre 2009 in Anwesenheit des Staatspräsidenten von Namibia der Grundstein gelegt. Im Februar 2010 nahm dann Bundesminister Dirk Niebel im
Rahmen seiner ersten Reise nach Namibia als Entwicklungshilfeminister gemeinsam mit dem Premierminister
am Richtfest für dieses Werk teil. Im Februar des vergangenen Jahres schließlich wurde das Werk in Anwesenheit des Staatspräsidenten, des Premierministers und
zahlreicher Mitglieder der namibischen Regierung in
Betrieb genommen. Eine derart prominente offizielle
Beteiligung von namibischer Seite zeigt die große Anerkennung Namibias für das deutsche Engagement im
wirtschaftlichen Bereich.
Im kulturellen Bereich, um nur ein weiteres Beispiel
zu nennen, gibt es ebenfalls eine gute Zusammenarbeit
zwischen Deutschland und Namibia. Bereits im
Jahre 1991 wurde ein bilaterales Kulturabkommen zwischen beiden Ländern geschlossen. Es umfasst weitreichende Kooperationen in den Bereichen Hochschule,
Sprachförderung, Medien, Film, Literatur und Sport.
Aus dem Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amts
wurden bisher Projekte mit einem Volumen von fast
1 Million Euro gefördert. Das Spektrum reicht von der
Restaurierung der Felsmalereien am Brandberg bis hin
zur Dokumentation mündlich überlieferter Stammestraditionen. Auch die deutsch-namibische Sportförderung
ist erwähnenswert. Ihre Schwerpunktaufgaben liegen in
der Jugendförderung und in der Trainerausbildung.
({3})
Namibische Übungsleiter werden an der DFB-Sportschule in Hennef und an der Universität Leipzig ausgebildet.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich zulassen?
Ich möchte meinen Vortrag zu Ende führen; danke
schön.
Die deutschsprachige Gemeinschaft in Namibia
zeichnet sich durch ein aktives Kulturleben aus. Zeitungen und Rundfunkprogramme zeugen von der tiefen
Verankerung der deutschen Sprache in Namibia. Hierzu
tragen auch zehn Schulen bei, an denen muttersprachlicher Deutschunterricht angeboten wird, und über
30 Schulen, an denen man Deutsch als Fremdsprache
lernen kann. Dies alles wird von der Bundesregierung
aktiv unterstützt.
Die Partnerschaft zwischen dem Land Bremen und
Namibia, die Städtepartnerschaften der Hauptstadt Windhuk mit Berlin, Bremen und Trossingen sowie der wachsende Tourismussektor mit über 80 000 deutschen Touristen pro Jahr sind weitere Beispiele für die lebendigen
Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia.
Meine Damen und Herren, wir sollten alles tun, um
diese guten bilateralen Beziehungen nicht nur zu erhalten, sondern möglichst auch weiter auszubauen, und wir
sollten das hohe Niveau der Entwicklungszusammenarbeit ohne Wenn und Aber beibehalten; denn die Entwicklungszusammenarbeit ist eine der tragenden Säulen
der besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und
Namibia.
Ich danke Ihnen.
({0})
Der Kollege Niema Movassat hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Dr. Jüttner, ich habe mich bei weiten Teilen Ihrer Rede
gefragt, was Sie uns hier eigentlich sagen wollen. Wir
sprechen über eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, und darauf muss es heute Antworten
geben.
({0})
Zwischen 1904 und 1908 beging das deutsche Kaiserreich in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika,
dem heutigen Namibia, einen Völkermord. Deutsche
Soldaten ermordeten etwa 100 000 Menschen. Dieser
Teil unserer Geschichte wird gerne vergessen. Die
Frankfurter Rundschau schrieb zur Verdrängungskultur:
Welche Schande für ein Land, das sich auf seine
Vergangenheitsbewältigung so viel zugutehält.
Heute, einen Tag nach dem namibischen Unabhängigkeitstag, wollen wir als Linke mit unserem Antrag zum
damaligen Völkermord einen Beitrag gegen das Vergessen, gegen die Schande und für Versöhnung leisten.
({1})
In der Kolonie Deutsch-Südwestafrika erhoben sich
1904 die Herero gegen die deutschen Besatzer. Sie wollten ein Ende von Rassismus, Willkür und Unterdrückung. Die Vergeltung des Kaiserreichs war grausam.
Die Völker der Herero, Nama, Damara und San wurden
systematisch vernichtet. Sie wurden erschossen, erhängt,
oder man trieb sie in die Wüste und ließ sie dort verdursten. Viele starben in Konzentrationslagern und durch
Zwangsarbeit.
Was damals passierte, ist ein Verbrechen, eine
Schande. Dass sich die deutsche Politik bis heute weigert, die damaligen Geschehnisse überhaupt einmal als
Völkermord zu benennen, ist ebenfalls eine Schande.
({2})
Mit vorgeschobenen rechtlichen Argumenten weigert
sich die Bundesregierung bis heute, die moralisch-historische Verantwortung zu übernehmen. Eine Schande ist
auch, dass es bis heute keine offizielle Entschuldigung
gab. Zwar hat sich die damalige Ministerin WieczorekZeul 2004 mit bewegenden und guten Worten entschuldigt; aber keine Regierung hat diese Worte je als offiziellen Standpunkt übernommen. Stets wurde betont, es handele sich um private Äußerungen. Auch das ist Teil der
fortgesetzten deutschen Schande.
({3})
Noch heute leiden die Herero und Nama unter den
Folgen der brutalen deutschen Kolonialzeit, beispielsweise bei Landfragen. Wiedergutmachung sollte hier ansetzen. Man sollte einen Beitrag leisten, um die bis heute
vorhandenen strukturellen Nachteile auszugleichen.
Weil der rot-grüne Antrag die Wiedergutmachung ausklammert und unser Antrag weitergehend ist, werden
wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten.
Herr Dr. Jüttner, Sie haben hier den Aspekt Wiedergutmachung mit der Entwicklungszusammenarbeit vermischt. Das muss aber strikt getrennt werden.
({4})
Entwicklungshilfe ist immer an Bedingungen geknüpft, die der Geber einseitig vorgibt. Klar sind Sonderinitiativen und Entwicklungsgelder gut gemeint; aber
alle Beteiligten müssen einbezogen werden: Deutschland, Namibia und die Nachkommen der Opfer. Versöhnung lässt sich nämlich nicht einseitig diktieren, sondern
erreicht man nur im Dialog.
({5})
Wir müssen auch hierzulande unsere Hausaufgaben
machen. Es ist eine Schande, dass heute noch Straßen in
unseren Städten nach Kolonialverbrechern benannt sind.
({6})
Wir brauchen Schulbücher, die über diese Verbrechen
und ihre Ursachen aufklären. Wir brauchen eine Bundesstiftung, um die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten.
({7})
Leider wird auch die heutige Abstimmung die
Schande weiter verlängern; denn beide vorliegenden Anträge wird die Koalition ablehnen. Aber Sie halten es
nicht einmal für nötig, etwas Eigenes vorzulegen. Das ist
ein unwürdiger Umgang mit diesem wichtigen Thema.
({8})
Sie schaden so weiterhin den deutsch-namibischen
Beziehungen.
Hoffnung macht zumindest die Zivilgesellschaft in
Deutschland. Über 100 Initiativen haben einen Appell an
den Deutschen Bundestag unterschrieben. Vor der Debatte organisierten diese eine Demonstration vor dem
Deutschen Bundestag unter dem Motto „Entschuldigung
sofort! Völkermord verjährt nicht!“.
({9})
Heute hat der Deutsche Bundestag die Chance, einen
Beitrag zur echten Versöhnung zu leisten. Lassen Sie uns
gemeinsam etwas gegen die anhaltende Schande tun.
Danke schön.
({10})
Uwe Kekeritz hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Wir besprechen heute sicherlich ein sehr
wichtiges Thema. Ich möchte der Linken danken, dass
sie dieses Thema auf die heutige Tagesordnung gesetzt
hat.
Es stellt sich die Frage, warum die Aufarbeitung der
Gräueltaten in Namibia vor über 100 Jahren nicht schon
längst vollzogen wurde. Dafür mag es viele Gründe geben, und darüber müssen wir sehr intensiv nachdenken.
Warum auch immer: Wahrheit muss Wahrheit bleiben.
Es ist Deutschlands Pflicht, den Völkermord in Namibia
als solchen auch zu bezeichnen
({0})
und Namibia in einem würdigen Rahmen um Verzeihung
zu bitten. Nur so können wir eine tragfähige Grundlage
für eine gute und gemeinsame Zukunft mit Namibia legen. Es ist für mich nicht akzeptabel, wenn dies mit formaljuristischen Argumenten verweigert wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Sitzung
des AwZ erinnern, in der sich die Vertreter der Regierungskoalition auf die Konvention von 1948 berufen haben. Diese sei nach dem Völkermord verabschiedet worden, und deswegen könne man nicht von Völkermord
reden. Ich denke, das ist nicht zu tolerieren. Völkermord
ist nämlich zunächst einmal gar kein juristisches Problem. Es ist ein menschliches Problem,
({1})
ein ethisches und ein moralisches Problem. Menschlichkeit und Gerechtigkeit müssen dem kulturellen Bewusstsein entspringen und individuell im Kopf und im Herzen
verankert sein. Wenn das gegeben ist, dann ist eine Aufarbeitung durchaus möglich.
Paragrafen eignen sich eben nicht dazu, Verantwortung loszuwerden. Wir müssen uns dieser stellen. Mit
formaljuristischen Argumenten hätte Deutschland - darüber muss man sich klar sein - auch den Holocaust
nicht akzeptieren müssen, und das ist ein undenkbarer
Fall.
Wir sprechen heute auch über die Frage der moralischen und ethischen Integrität und das Selbstbewusstsein
Deutschlands. Die Beantwortung der Fragen zeigt, dass
wir uns nicht hinter Paragrafen verstecken können - und
auch nicht wollen. Feigheit vor der eigenen Vergangenheit kann keine deutsche Position sein.
Zur Aufarbeitung der deutsch-namibischen Geschichte müssen wir die 2004 von der damaligen Ministerin Wieczorek-Zeul beispielgebende Aktion - dafür
möchte ich Ihnen noch heute danken; Sie haben damit
Geschichte geschrieben -,
({2})
die begonnene Versöhnungsinitiative, wieder aufgreifen.
Es muss natürlich auch geklärt werden, warum die damals gesteckten Ziele nicht erreicht wurden. Ich gehe
jetzt nicht näher auf die Versöhnungsinitiative ein; Frau
Wieczorek-Zeul hat sie schon erklärt.
SPD und Linke haben immer darauf hingewiesen, wer
denn nun von namibischer Seite am Dialog mit den
Deutschen beteiligt sein muss. Ich möchte dies ergänzen: Auch die Frage, wer auf deutscher Seite beteiligt
sein soll, muss transparent und vor allen Dingen sinnvoll
entschieden werden.
Ich bin der Meinung, dass die Ergebnisse des Aussöhnungsdialogs sowohl im deutschen als auch im namibischen Parlament würdig und feierlich öffentlich gemacht
werden müssen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Aber ich will das schon jetzt laut und deutlich sagen.
Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, dass wir
einen Schlussstrich ziehen. Wir alle haben den permanenten Auftrag, beizutragen, dass schwere Menschenrechtsverletzungen zukünftig verhindert werden.
({3})
Wir müssen deshalb auch dafür sorgen, dass bereits in
unseren Schulen der Grundstein zu einer verantwortungsbewussten Erinnerungskultur gelegt wird.
({4})
Wir müssen weg von der Verdrängungskultur.
Mit dem hoffentlich gemeinsam verabschiedeten Antrag und mit der Versöhnungsinitiative senden wir ein
klares, weltweit vernehmbares Signal, dass Verbrechen
gegen die Menschlichkeit nicht verjähren. Kein Despot
darf sich jemals wieder in Sicherheit wiegen. Wir sollten
also heute kein Signal der Schwäche in die Welt senden.
Darum bitte ich Sie im Interesse der Würde Deutschlands und einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit Namibia um die Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke schön.
({5})
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben Verantwortung vor der Geschichte, und wir haben
Verantwortung für die Zukunft. Verantwortungsübernahme für die Vergangenheit zeigt sich in der Übernahme von Verantwortung durch Handeln, nicht allein
durch Worte. Deshalb finde ich es schon befremdlich,
wenn hier gesagt wird, die Debatte über die bilaterale
Zusammenarbeit unserer beiden Länder gehöre nicht
zum Thema. Es gehört zum Thema;
({0})
denn die Übernahme der Verantwortung für die Vergangenheit zeigt sich eben auch in den besonderen Beziehungen, die wir mit Namibia haben, die wir dadurch zeigen, dass dieses Land pro Kopf der Bevölkerung die
größte Hilfe im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands mit Afrika erhält. Das zeigt sich darin,
dass unsere Länder auch kulturell weiterhin verbunden
sind. Kein Land in Afrika, keine ehemalige Kolonie in
Afrika hat noch so viele Wurzeln deutscher Tradition
und deutscher Kooperation, wie das in Namibia der Fall
ist.
({1})
Herr Kollege Kauch, der Kollege Liebich möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Kauch, Sie haben recht: Die binationale
Zusammenarbeit ist ein Thema. Aber Worte - damit haben Sie eingeführt - spielen auch eine wichtige Rolle.
Deswegen interessiert mich tatsächlich und ganz im
Ernst: Was hindert die FDP-Fraktion eigentlich daran,
sich für einen Völkermord, den sie bereit ist, so zu nennen, zu entschuldigen?
({0})
Die Kollegin Schuster hat die Frage nach der historischen Schuld und der historischen Verantwortung unseres Landes für Namibia beantwortet.
({0})
Ich glaube, dass der Deutsche Bundestag in seinen Resolutionen, die übrigens zum Teil in rot-grüner Regierungszeit verabschiedet worden sind, hierzu die treffenden Worte gefunden hat. Ich finde es unpassend, wie hier
parteipolitisch instrumentalisiert wird.
({1})
- Lieber Kollege, wenn beispielsweise Frau WieczorekZeul, der ich das persönliche Engagement abnehme
({2})
und deren Worte, die sie damals gefunden hat, ich sehr
beeindruckend finde, gemeinsam mit der Fraktion der
Grünen einen Antrag stellt, deren damaliger Außenminister erklärt hat: „Das ist die Privatmeinung von Frau
Wieczorek-Zeul“, dann zeigt das, dass es keine Frage
der Fraktionszugehörigkeit ist, welche Worte man findet,
sondern dass es darum geht, dass alle Bundesregierungen an ihrer Wortwahl und ihrer völkerrechtlichen Einschätzung festgehalten haben. Das ist eben keine parteipolitische Auseinandersetzung.
({3})
Deshalb sollten wir uns der Frage widmen, wie wir
für die Zukunft vorankommen können, um dem namibischen Volk deutlich zu machen, dass wir unsere historische Verantwortung und unsere besonderen Beziehungen tatsächlich als solche anerkennen. Das Erste ist,
glaube ich, dass wir Anwalt Namibias in Europa sein
müssen. Ein Punkt ist sicherlich die Frage der Visapolitik, also wie wir namibische Staatsbürger im SchengenRaum und namibische Geschäftsleute behandeln. Es ist
weder in unserem Interesse, noch ist es fair und angemessen gegenüber einem Land, das nicht nur deutsche
Kolonie war, sondern für das wir als Land auch besondere Schuld und Verantwortung tragen.
Das muss sich ändern. Wir können das nicht alleine
tun, sondern wir müssen uns im Schengen-Raum dafür
einsetzen, dass die Visapraxis für die namibischen
Staatsbürger verbessert wird.
({4})
Wir müssen die umfangreiche Entwicklungszusammenarbeit fortführen und intensivieren. Wir müssen
auch darauf achten, dass insbesondere die Landstriche
Namibias Berücksichtigung finden, wo Herero, Damara
und Nama leben. Ich war diesen Januar in Damaraland
und weiß, dass es eine der ärmsten Regionen des Landes
ist. Deshalb muss man bei der Zusammenarbeit darauf
achten, dass die Hilfe genau dort landet.
Wenn wir wie 2004 aus der Sonderinitiative Projekte
finanzieren, dann müssen wir auch darauf achten, dass
dies beispielsweise im Rahmen der Landreform den
Menschen zugutekommt, die dort leben. Es ist nicht akzeptabel, wenn Mittel vergeben werden, mit denen Menschen aus Windhuk Land kaufen, und diejenigen, die vor
Ort leben, vertrieben werden. Auch bei der Umsetzung
dieser Projekte gibt es Probleme. Das zeigt, dass wir
noch nicht dort angekommen sind, wo wir hinkommen
wollen.
Das sind Dinge, die wir im Blick auf die Vergangenheit berücksichtigen müssen, aber eben auch im Blick
auf die Zukunft. - Da will jemand eine Zwischenfrage
stellen.
Das ist nicht mehr möglich. Sie ignorieren schon eine
ganze Weile das Minuszeichen.
Frau Präsidentin, ich möchte als einziger Vertreter der
Parlamentariergruppe der SADC-Staaten in der Debatte
nur auf einen Punkt eingehen.
Nein, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
Ich würde mich freuen, wenn dieses Parlament wenigstens in der nächsten Wahlperiode eine DeutschNamibische Parlamentariergruppe einsetzen würde. Wir
haben besondere Beziehungen zu diesem Land. Sie machen auch besondere Lösungen im Rahmen der Parlamentariergruppen erforderlich.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Die deutschen Kolonialverbrechen im
ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen und wiedergutmachen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8971, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/8767 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 8. Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/9033 ({0}) mit dem Titel „Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia stärken und
Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters ({1})
- Drucksache 17/8987 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Günter Lach für die
Unionsfraktion, Gabriele Fograscher für die SPD-Fraktion, Serkan Tören für die FDP-Fraktion, Frank Tempel
für die Fraktion Die Linke und Wolfgang Wieland für
die Fraktion Die Grünen.
Es ist uns allen bekannt, dass die Struktur der deutschen Waffenverwaltung äußerst heterogen und komplex
ist. Insgesamt sind gegenwärtig fast 600 dezentrale Waffenbehörden in den Ländern und Kommunen mit der Registrierung und Archivierung im Zusammenhang mit
dem Waffengesetz befasst. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Systemen und sind nicht miteinander vernetzt.
Darunter gibt es Waffenbehörden, die noch keine Waffendatei in elektronischer Form führen, sondern
herkömmliche Karteikarten nutzen. Darüber hinaus
existieren bisher auch keine einheitlichen Standards bei
Erfassung, Speicherung und Archivierung waffenrechtlicher Daten. Dies soll sich mit der Einführung des Nationalen Waffenregisters in Deutschland nun ändern.
Die Schaffung eines computergestützten Nationalen
Waffenregisters spätestens bis zum 31. Dezember 2014
ist ein klarer Auftrag der EU-Waffenrichtlinie für alle
Mitgliedstaaten der EU. Diesem Auftrag kommt die
Bundesregierung nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nach. Mit § 43 a des Waffengesetzes wurden die
Vorgaben der EU in nationales Recht umgesetzt. Dabei
sind wir über die Mindestvorgaben der EU-Waffenrichtlinie hinausgegangen und haben uns zum Ziel gesetzt,
das Waffenregister in Deutschland bereits zwei Jahre
früher, bis zum 31. Dezember 2012, zu errichten.
In einer zweiten Stufe, beginnend 2013, sollen die Recherchemöglichkeiten weiter ausgebaut werden und Informationen von Beschussämtern sowie vonseiten der
Wirtschaft, Waffenhersteller und Waffenhändler, einbezogen werden. Ab 2014 ist dann in einer dritten Stufe
auch die elektronische Abwicklung von Verwaltungsvorgängen vorgesehen.
Mit der Errichtung des Nationalen Waffenregisters
machen wir in Deutschland einen entscheidenden
Schritt zur Modernisierung des Waffenwesens. Es werden verbindliche Standards für die gesamte Waffenverwaltung eingeführt, um den legalen privaten Waffenbesitz in Deutschland zu erfassen. Ziel ist es dabei,
wesentliche Informationen über eine Waffe und deren
Verbleib zentral zu speichern. Dafür sollen für mindestens 20 Jahre Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber, Seriennummer von Waffen sowie Namen und Anschriften von
Lieferanten und der Person, die die Waffe erwirbt oder
besitzt, registriert und gespeichert werden. Unter Beibehaltung der föderalen Strukturen werden die in bisher
577 lokalen Waffenbehörden erfassten Informationen
nun aufbereitet und in eine zentrale Datenbank überführt. Die Datenerfassung und -aktualisierung wird dabei weiterhin von den örtlichen Waffenbehörden vorgenommen werden. Von dort werden die Daten über
sichere Netze ans Nationale Waffenregister übermittelt.
Erstmals wird dadurch die genaue Anzahl der legalen
Waffenbesitzer und Schusswaffen in einer Datei national
erfasst.
Zur Aktualität der Daten trägt auch die Einbeziehung
der Meldebehörden bei. So werden Vorgänge wie der
Umzug einer Person durch eine erleichterte Abwicklung
schneller im Waffenregister vermerkt. Der schnellere Informationsfluss ist auch im Fall von Überlassen und Erwerben von registrierten Waffen gewährleistet. Häufig
sind in diesen Fällen dann zwei unterschiedliche Waffenbehörden zuständig. So erhält die für den Erwerber
zuständige Stelle durch einen automatischen Datenaktualisierungshinweis bereits frühzeitig Kenntnis von
dem Vorgang. Diese Mechanismen unterstützen die Waffenbehörden vor Ort.
So ist es mit dem neuen elektronischen Waffenregister
möglich, den Verbleib jeder legalen, erlaubnispflichtigen Waffe nachzuvollziehen, und zwar stets aktuell und
umgehend abrufbar. Mit Blick auf die Abfragemöglichkeit zeigt sich neben der Modernisierung ein weiterer
Nutzen eines zentralen Waffenregisters.
Dadurch wird die tägliche Arbeit der zuständigen Behörden, sei es Polizei, Verfassungsschutz oder Justiz, bedeutend erleichtert. Über das Nationale Waffenregister
ist jederzeit schnell und unkompliziert ein Zugriff auf
alle Daten möglich. Dies ist vor allem außerhalb der Bürozeiten der zuständigen Stellen wie am Abend und an
den Wochenenden von Vorteil. Bislang ist eine Abfrage
bei der Vielzahl von Waffenbehörden ungeheuer aufwendig und zeitintensiv, weil jede Anfrage an eine der
577 Waffenbehörden gestellt werden muss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird die
Arbeit der Behörden in Zukunft um ein Vielfaches erleichtert. Damit leistet die Bundesregierung einen Beitrag dazu, Straftaten in Zukunft noch effektiver verfolgen
und aufklären zu können.
Das Nationale Waffenregister leistet damit einen
wichtigen Beitrag zur weiteren Gewährleistung der inneren Sicherheit. Besonders in außerordentlichen und
unvorhersehbaren Situationen sind aktuelle und schnell
abrufbare Informationen zum besseren Schutz unserer
Bevölkerung enorm wichtig. Uns allen sind die schrecklichen Amokläufe von Winnenden und Erfurt noch immer im Gedächtnis, und wir werden diese auch niemals
vergessen können. In solch dramatischen Fällen wie
Amokläufen, aber auch bei Geiselnahmen und anderen
Gewalttaten brauchen die Sicherheitsbehörden sofortige
und umfassende Informationen über Täter und Bewaffnung. Dadurch können Gefahrenlagen von den Einsatzkräften besser beurteilt und die angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen und zur Sicherheit
unserer Polizeibeamten ergriffen werden. Aktualität und
Verfügbarkeit von Informationen sind in diesen Situationen entscheidend. Hier dient die Errichtung des Nationalen Waffenregisters vor allem der Gefahrenabwehr
und bietet mehr Sicherheit.
Mit der zentralen Abfrage- und Recherchemöglichkeit zu den im Privatbesitz befindlichen erlaubnispflichtigen Schusswaffen über das Nationale Waffenregister
wird eine langjährige polizeiliche Forderung nun realisiert.
Im vorliegenden Errichtungsgesetz wird genau abgegrenzt, wer mit welchen Rechten was sehen darf. Dabei
werden die Daten prinzipiell nur auf Anfrage übermittelt. Vorgesehene Nutzer sind die Waffenbehörden, die
Bundes- und Länderpolizei, Justiz- und Zollbehörden,
der Verfassungsschutz von Bund und Ländern, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst. Bei jeder Anfrage tragen die ersuchenden Stellen
die Verantwortung hinsichtlich der Zulässigkeit der Datenübermittlung. Das grundsätzlich vorgesehene Verfahren zur Datenabfrage ist die Einzelauskunft. Dabei ist
das Objekt umfassend bekannt. Für die Datenabfrage
müssen Mindestangaben zum Objekt gemacht werden.
Um besonders polizeiliche Ermittlungen zu erleichtern
und zu beschleunigen, werden in dringenden Fällen und
bei mangelhafter Informationslage Gruppenauskünfte
anhand spezifischer Merkmale ermöglicht. Zu diesen
besonderen Fällen zählen beispielsweise Situationen mit
einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person. Das dritte Verfahren
und ein zentraler Vorteil bei der Ausgestaltung des Nationalen Waffenregisters ist das automatisierte Verfahren. Um den Datenabruf möglichst effizient zu gestalten,
können diese Stellen die Eilfälle sofort abrufen. Durch
die verbesserte Informationslage und die somit erleichterte Lagebeurteilung tragen wir wesentlich zum Schutz
der Betroffenen und unserer Einsatzkräfte bei.
Vor dem Hintergrund der Sensibilität von personenbezogenen Daten wird bei der Errichtung des Nationalen Waffenregisters großer Wert auf Datensicherheit und
Datenschutz gelegt. Die bereits heute hohen Anforderungen, die an die Waffenbehörden diesbezüglich gestellt werden, bekommen durch die große Menge des zu
erwartenden waffenrechtlichen Datenbestands hier eine
besondere Bedeutung. Für Datenübermittlungen und
Auskünfte aus dem Nationalen Waffenregister sind ausschließlich Verwaltungsnetze zugelassen. Eine Kommunikation mit der zentralen Komponente über das Internet ist ausgeschlossen. In Abstimmung mit dem
Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, wird vom Bundesverwaltungsamt, BVA, als Registerbehörde der Einsatz obligatorischer Verschlüsselungstechniken vorgegeben. Weiterhin muss jede
örtliche Waffenbehörde ein IT-Sicherheitskonzept erstellen und bestehende Maßnahmen zur Datensicherheit gegebenenfalls ausbauen. Diese hohen Sicherheitsanforderungen sind vor dem Hintergrund der komplexen
föderalen Struktur unabdingbar.
Strenge Maßstäbe gelten auch für die abfragenden
Stellen. Erstens werden bei Statistiken und Auswertungen keine personenbezogenen Daten verarbeitet. Zweitens ist die Datenabfrage auch in Eilfällen und beim automatisierten Verfahren nur nach strengen Vorgaben zu
nutzen. So ist beispielsweise bei jeder Abfrage ein Verwendungszweck anzugeben. Hierbei müssen die abfragenden Stellen sicherstellen, dass die Übermittlung der
Information zulässig ist. Drittens hat die Registerstelle
strikt vorgegebene Protokollierungspflichten. Dadurch
erfolgen die Datenschutzkontrolle, die Datensicherung
und die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Datenverarbeitung. Jede Nutzung darf ausschließlich mit dem
dafür entwickelten Datenaustauschstandard „XWaffe“
erfolgen.
Deutschland gehört zu den Ländern mit den schärfsten Waffengesetzen weltweit. Die Hürden zum Erwerb
Zu Protokoll gegebene Reden
von legalen Feuerwaffen in Deutschland sind sehr hoch.
Wer eine Waffe erwerben und besitzen möchte, muss das
gesetzliche Mindestalter haben sowie ein entsprechendes
Bedürfnis nachweisen, zum Beispiel als Sportschütze
oder Jäger. Damit verbunden sind hohe Anforderungen
an Aufbewahrung, Zuverlässigkeit und persönliche Eignung. Hinzu kommt eine Prüfung von Sachkunde und
Umgang mit Waffen. Auch wenn in der Kriminalstatistik
legale Waffen bei Gewaltverbrechen kaum eine Rolle
spielen, so kann durch die Erfassung legaler Waffenbesitzer bereits ein Sicherheitsgewinn erzielt werden.
Uns liegt hier ein Entwurf vor, der die Anforderungen
der EU erfüllt und das Waffenwesen in Deutschland
sinnvoll weiterentwickelt und modernisiert. Von einem
aktuellen und jederzeit abrufbaren Register profitieren
vor allem auch unsere Polizeibeamten. Denn insbesondere die Sicherheitsbehörden werden so bei der Bewältigung von Einsatzlagen und bei polizeilichen Ermittlungen
unterstützt. Vielleicht ist das Nationale Waffenregister
auch ein erster Schritt hin zu einer internationalen Dokumentation des gesamten Lebenszyklus einer Waffe,
ähnlich wie die Fahrgestellnummer im Bereich der Automobilherstellung. So könnte der Strom von Waffen auf
den illegalen Markt besser kontrolliert und verringert
werden. Denn dies sollte unser aller Ziel sein. Die Reduzierung von illegalen Waffen ist ein weiterer Schritt zu
mehr Sicherheit in unserer Gesellschaft.
In der Richtlinie 2008/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 heißt es in
Art. 4 Abs. 4: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge,
dass spätestens bis 31. Dezember 2014 ein computergestütztes zentral oder dezentral eingerichtetes Waffenregister eingeführt und stets auf dem aktuellen Stand gehalten wird, in dem jede unter die Richtlinie fallende
Waffe registriert ist, und das den zuständigen Behörden
den Zugang zu den gespeicherten Daten gewährleistet.
In diesem Waffenregister werden für mindestens
20 Jahre Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber, Seriennummer
sowie Namen und Anschriften des Lieferanten und der
Person, die die Waffe erwirbt oder besitzt, registriert
und gespeichert.“
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der dem Bundestag am 14. März 2012 zugeleitet wurde, soll diese
EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden.
Gerne hätten meine Fraktion und ich uns bereits früher mit diesem Gesetzentwurf befasst, doch leider hat
das zuständige Bundesinnenministerium den Text Mitte
letzten Jahres nur dem Bundesrat und den Koalitionsfraktionen zugeleitet. In einer schriftlichen Frage zu diesem Zeitverzug erklärte der Parlamentarische Staatssekretär Schröder, dass die förmliche Beteiligung der
Fraktionen im Rahmen der Ausschussberatungen stattfinden werde. Das ist ein grober Verstoß gegen die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, die
in § 48 Abs. 2 vorschreibt, dass ein Gesetzentwurf, wenn
er den Ländern zugeleitet wird, auch den Geschäftsstellen der Fraktionen zur Kenntnis zu geben ist. Das ist in
diesem Falle nicht geschehen. Ich fordere das BMI auf,
das Parlament künftig zu respektieren und sich an die
rechtlichen Vorschriften zu halten.
Bei der letzten Novellierung des Waffenrechts 2009
haben wir in § 43 a festgeschrieben: „Bis zum 31. Dezember 2012 ist ein Nationales Waffenregister zu errichten, in dem bundesweit insbesondere Schusswaffen, deren Erwerb und Besitz der Erlaubnis bedürfen, sowie
Daten von Erwerbern, Besitzern und Überlassern dieser
Schusswaffen elektronisch auswertbar zu erfassen und
auf aktuellem Stand zu halten sind.“
Es ist gut, dass das Waffenregister zwei Jahre früher
kommt, als die EU-Richtlinie es fordert. Ein solches Register ist längst überfällig.
Derzeit gibt es in Deutschland rund 570 Waffenbehörden, die untereinander nicht vernetzt sind. Um diese
miteinander zu vernetzen, müssten die Funktionalität
und der Datenbestand denselben Anforderungen entsprechen. Das ist nicht der Fall. Damit aber die Sicherheitsbehörden im Einsatzfall Zugriff auf diese für sie im
Ernstfall lebenswichtigen Daten haben, müssten sie mit
allen 577 Waffenbehörden vernetzt sein. Das ist nicht
praktikabel und auch zeitlich nicht leistbar.
Das zu errichtende nationale Waffenregister, das
beim Bundesverwaltungsamt angesiedelt werden soll,
soll nun alle Daten zusammenführen, die Erhebung der
Daten soll aber weiterhin hin bei den Waffenbehörden
liegen. Dadurch werden erstmals in Deutschland verlässliche Daten über die Anzahl von Besitzern und legalen Waffen vorliegen.
Der gesamte Lebenszyklus einer legalen, erlaubnispflichtigen Waffe wird vom Hersteller bis zum Endbesitzer mit allen Angaben unter anderem zu Modell und Kaliber nachvollziehbar sein. Lange Ermittlungsverfahren
der Polizei werden so überflüssig. Bereits vor einem
Einsatz können die Sicherheitsbehörden dann abfragen,
ob sie am Einsatzort mit legalen Waffen zu rechnen haben.
Die im Nationalen Waffenregister überörtlich vernetzten Waffendaten werden den Waffenbehörden des
Bundes und der Länder sowie auch der Polizei zur Verfügung stehen, die damit auf verlässliche, überregionale
Informationen zu Waffen, Erlaubnissen und deren Inhabern zugreifen können.
Das Waffenregister soll in drei Stufen aufgebaut werden. Bis Ende dieses Jahres soll das zentrale Waffenregister aufgebaut und mit den dezentralen Systemen der
Waffenbehörden verbunden werden. So werden alle Daten zusammengeführt, und bundesweite Abfragen werden ermöglicht.
In der zweiten Stufe sollen der Datenbestand gereinigt, Hersteller und Händler eingebunden und die Recherchemöglichkeiten ausgebaut werden. Ab 2014 sollen dann Onlinelösungen für die Bürgerinnen und
Bürger eingerichtet werden.
Waffenrecht ist ein sehr emotionales Thema. Jede
Veränderung der geltenden Vorschriften führt zu angeregten Diskussion, sowohl auf der Seite der legalen Waffenbesitzerinnen und Waffenbesitzer als auch auf der
Zu Protokoll gegebene Reden
Seite der Bürgerinnen und Bürger, die keine Waffen besitzen. Das ist auch bei dem Vorhaben, ein Nationales
Waffenregister zu erstellen, so. In den einschlägigen Foren, in denen sich Waffenbesitzer austauschen, wird gegen das Waffenregister Stimmung gemacht.
Meine Fraktion und ich unterstützen die Errichtung
dieses Waffenregisters. Das tut auch die Gewerkschaft
der Polizei. Der GdP-Vorsitzende Bernhard Witthaut erklärte dazu: „Wir hoffen, dass das Gesetz zügig beschlossen wird und in Kraft treten kann. Es ist für die
Polizei überlebenswichtig, bei einer Fahndung oder vor
einem Einsatz schnell erfahren zu können, ob sie Personen antreffen, die über - zumindest legale - Waffen verfügen oder ob Waffen im Haus sind. Dabei hilft die geplante zentrale Leitstelle.“
Durch das Waffenregister wird niemand kriminalisiert oder unter Generalverdacht gestellt.
Wenn wir heute über das Waffenrecht diskutieren,
sollten wir auch überlegen, wie es verhindert werden
kann, dass Rechtsextremisten legal Waffen erwerben
können. Nach § 5 Waffengesetz gelten Antragsteller wie
Waffenbesitzer als unzuverlässig, wenn sie Bestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung verfolgen
oder unterstützen. Ihnen kann die Zuverlässigkeit aberkannt bzw. gar nicht erst zuerkannt werden.
Das Land Nordrhein-Westfalen plant eine Initiative
zur Änderung des Waffengesetzes. Bisher gebe es keine
Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern, um Erkenntnisse über die Verfassungsfeindlichkeit des Antragstellers einer waffenrechtlichen Erlaubnis erlangen zu
können, erklärte der NRW-Innenminister Jäger. Deshalb
müsse der Verfassungsschutz bei der waffenrechtlichen
Zuverlässigkeitsprüfung zukünftig immer beteiligt werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt diesen Vorschlag.
Auf der heutigen Tagesordnung steht ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einrichtung eines Nationalen Waffenregisters. Worum geht es bei diesem neuen
Register, und müssen wir so etwas in Deutschland einführen?
Mit der Einrichtung dieses Nationalen Waffenregisters kommen wir internationalen, europäischen und nationalen Verpflichtungen nach. Auf internationaler
Ebene ist dies das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität,
genauer gesagt die Bekämpfung des unerlaubten Waffenhandels. Auf europäischer Ebene sind dies zwei
Richtlinien, die Teil der Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen sind und auf europäischer
Ebene zu einer Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes
von Waffen führen werden. Schließlich wird mit dem Gesetzentwurf auch eine Verpflichtung aus dem deutschen
Waffengesetz umgesetzt, die uns dazu verpflichtet, bis
Ende 2012 ein computergestütztes Nationales Waffenregister einzuführen.
Worum geht es nun im Einzelnen? Man könnte sich ja
die Frage stellen: Wie werden denn bisher die legalen
Waffen in privater Hand registriert und verwaltet? Bis
jetzt scheint doch auch alles wunderbar funktioniert zu
haben.
Derzeit gibt es insgesamt 577 Waffenbehörden in
Deutschland, von denen jede für sich die legalen Waffen
registriert und verwaltet. Eine einheitliche Lösung gibt
es in Deutschland bis heute nicht. Dies wiederum führt
zu dem Umstand, dass niemand eigentlich genau weiß,
wie viele legale Waffen es in Deutschland überhaupt
gibt. Mit der nun geplanten Einführung des nationalen
Registers bekommen wir diesbezüglich Klarheit.
Zudem werden die 577 Waffenbehörden in Deutschland auf einen einheitlichen Stand gebracht. Insellösungen, ob auf Papier oder digital, wird es dann nicht mehr
geben. Mit dem neuen digitalen System bekommt
Deutschland eine einheitliche Verwaltung legaler Waffen und der dazugehörigen waffenrechtlichen Erlaubnisse. In einem modernen Staat sollte so etwas eigentlich
Standard sein.
Diese moderne Art der Verwaltung der Waffen wird
sowohl für staatliche Stellen als auch für den Bürger einen Mehrwert bringen. Staatliche Stellen sind schneller
in der Lage, waffenrechtliche Abfragen im Rahmen ihrer
Ermittlungen und Aufgaben durchzuführen. Dies wird
sicherlich in dem einen oder anderen Fall Ermittlungen
im Rahmen von Verbrechen beschleunigen. Aber auch
Waffenbesitzer, die bei Jagden oder bei sportlichen Veranstaltungen ihre Waffen vertauscht haben, können
diese schneller wieder zurücktauschen. Die bisher langwierigen Abfragen bei anderen Waffenbehörden werden
wegen des Registers zukünftig entfallen.
Bei einer zentral geführten Datenbank wird der eine
oder andere sicherlich Befürchtungen bezüglich der Sicherheit der sehr sensiblen Daten haben, die dort geführt werden. Hierzu möchte ich anmerken, dass wir als
FDP im Bereich der Datensicherheit ein ganz besonderes Augenmerk darauf legen werden, dass diese neue
Datenbank den höchsten Sicherheitsansprüchen genügen wird.
Sie sehen, Sicherheit und eine moderne und effiziente
Staatsverwaltung liegen uns Liberalen am Herzen. Wo
immer möglich, werde ich mich dafür einsetzen, dass die
Sicherheit der Bürger an oberster Stelle steht. Allerdings
lehne ich reine Symbolpolitik ab.
Apropos Symbolpolitik: Rot-Grün ist derzeit dabei, in
Bremen einen Feldzug gegen Jäger und Sportschützen
zu planen. Zunächst wurde der Senat durch die Bürgerschaft der Hansestadt aufgefordert, die Einführung einer Waffensteuer zu prüfen. Diese Idee hat der Bremer
Senat nun gestoppt. Begründet wurde dies damit, dass
der fiskalische Nutzen einer solchen Steuer in keinem
Verhältnis zu dem Aufwand steht, der für die Eintreibung
der Steuer nötig wäre. Zudem fürchtet der Senat ein
mögliches Prozessrisiko, welches die Einführung einer
Waffensteuer nach sich ziehe würde. Nun ist eine Gebühr für die Kontrolle der Legalwaffenbesitzer in Höhe
von 150 Euro im Gespräch. Die Zielrichtung ist aber die
Zu Protokoll gegebene Reden
gleiche wie bei der angedachten Steuer. Gesetzestreuen
Jägern und Schützen will man das Hobby bzw. ihre Arbeit vermiesen und sie auf diesem Wege zur Abgabe ihrer Waffen zwingen. Aber glaubt denn jemand ernsthaft,
dass Deutschland sicherer wird, wenn Jäger und Schützen aufgrund hoher Gebühren ihre Waffen notgedrungen
abgeben? Dies ist eine Illusion. Die Gefahr geht von den
illegalen Waffen aus, die in Deutschland zirkulieren.
Dies zeigt jede Statistik. Legalwaffenbesitzer sind nicht
die Gefahrenquelle in Deutschland.
Kommen Sie mit Ideen, die eine echte Steigerung der
Sicherheit oder einen anderen Mehrwert bringen. Darüber können wir immer reden. Dieses neue Nationale
Waffenregister wird allen Beteiligten vieles erleichtern.
Darum unterstützen wir als FDP die Einführung des Registers.
Waffen stellen ein hohes Gefährdungspozenzial für
die Gesellschaft dar. Deshalb ist der Eingriff in verfassungsmäßige Rechte von Bürgerinnen und Bürgern zum
Beispiel in das informelle Selbstbestimmungsrecht, das
mit der Einrichtung des Nationalen Waffenregisters einhergeht, durchaus angemessen. Für den Einsatz von
Polizeikräften ergibt sich aus dem Wissen um das Vorhandensein von Waffen ein deutlicher Sicherheitsgewinn. In meiner kriminalpolizeilichen Tätigkeit gab es
des Öfteren Situationen, in denen die Einsatztaktik mit
dem Wissen um das Vorhandensein von Waffen, zum Beispiel bei Hausdurchsuchungen zu Anklagen schwerer
Kriminalität, durchaus anders ausgefallen wäre.
Der Staat hat nun einmal eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Beamtinnen und Beamten. Mit der Einrichtung des Waffenregisters nimmt er dieses war. Weiterhin
wird es möglich, den Lebensweg von Waffen nachzuvollziehen und somit Verstöße gegen das Waffenrecht oder
gar das Verschwinden von Waffen im illegalen Markt erheblich zu erschweren. Ein zusätzlicher Effekt ist der
verringerte Aufwand in den Waffenbehörden und ein
schnellerer Zugriff auf die Daten. Bisher mussten
577 Behörden abgefragt werden, um Informationen zu
einer Waffe oder zu Waffenbesitzern zu erhalten. Der
Datenabgleich zwischen den Behörden bei Umzug von
Besitzern, bei Verkauf oder bei der Überlassung von
Waffen war fehlerbehaftet und der Eintrag mit Verzögerungen verbunden.
Zu Anfang sagte ich, dass der Eingriff in die Grundrechte, der mit diesem Register verbunden ist, verhältnismäßig sei. Das rechtfertigt aber nicht, dass die Koalitionsfraktionen und der Bundesrat den Datenschutz
wieder einmal hintenanstellen.
Was soll zum Beispiel diese locker gehandhabte automatisierte Abfragemöglichkeit? Eine einmalige Beantragung ist für eine Institution ausreichend, um letztlich
einen immerwährenden Datenbankzugriff zu erhalten.
Geht es nach der Stellungnahme des Bundesrates, soll
sogar die Begründungspflicht von Übermittlungsersuchen wegfallen. Dann gäbe es keinerlei Überprüfbarkeit
der Rechtmäßigkeit von Abfragen. Diese liegt laut Gesetz bei der abrufenden Behörde. Dies ist an sich schon
problematisch, weil eine Selbstkontrolle von Institutionen üblicherweise wenig effektiv ist. So bleibt also eine
rein technische Protokollierung, welche das allgemeine
Zugriffsrecht, aber nicht die Rechtmäßigkeit der einzelnen Abfrage überprüft.
Die im Gesetz vorgesehene Zugriffsmöglichkeit für
Geheimdienste ist nun gar nicht mehr nachvollziehbar.
Wieso sollten Institutionen, die keine Strafverfolgungsbehörden sind, die keine Hausdurchsuchungen vornehmen und niemanden in Gewahrsam bringen dürfen, Zugriff erhalten? Aber solcherlei Fragen sind den meisten
Innenministerien dieser Bundesrepublik offensichtlich
völlig fremd. Konsequenterweise will dann auch der
Bundesrat in seiner Stellungnahme die letzten Beschränkungen des Zugriffs der Geheimdienste auf das Waffenregister aus dem Gesetzentwurf verbannen. Da kann
man nur noch sarkastisch nachfragen, ob dann wenigstens die Überprüfung der „persönlichen Eignung“ von
vorbestraften Rechtsextremen besser realisiert werden
wird.
Verschiedene Prinzipien des Datenschutzes sind Ihnen, sehr geehrte Kollegen der Regierungskoalition, offensichtlich unbekannt. Auf jeden Fall haben Sie diese
nicht wirklich verinnerlicht. Datenminimierung, Zugriffsbeschränkung auf die wirklich betroffenen Behörden, äußere und innere Kontrolle von Zugriffsberechtigungen bei anbietenden und abfragenden Behörden,
inhaltliche Protokollierung und damit rechtliche Nachprüfbarkeit - alles Dinge, die nicht wirklich gewährleistet werden. Datenschutz wird bei Ihnen offensichtlich
nur noch als Behinderung der Ermittlungsarbeit und
nicht als Element unserer demokratischen Grundordnung wahrgenommen.
Trotz des sinnvollen Ansatzes kann die Bundestagsfraktion der Linken diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten.
Als Grüner steht man der Einführung neuer Dateien
ja zunächst grundsätzlich skeptisch gegenüber. Denn
allzu oft wird da mehr der Sammeltrieb befriedigt, als
auf die Verhältnismäßigkeit geachtet. Dann wird eine
grundsätzlich zweckdienliche Datei mit so vielen Hintertüren versehen und mit so vielen Eintragungsgründen
aufgeblasen, dass sie ihren Zweck kaum noch erfüllt,
aber die Grundrechte erheblich beeinträchtigt werden.
Das Nationale Waffenregister, die Datei, über die wir
heute reden, kann ich trotz dieser skeptischen Grundhaltung nur begrüßen. Nicht, weil es um Schützen und
Jäger geht und wir deren Rechte nicht so ernst nähmen
- das Gegenteil ist der Fall -, sondern weil es um Waffen
geht, also um potenziell tödliches Gerät.
Bisher werden Waffen nur lokal registriert, und in
vielen Kommunen liegt bei den zuständigen Ämtern einiges im Argen - zu geringe Ausstattung und Mängel in
den Verfahren führen zu reichlich Defiziten im Vollzug.
Das kann nicht so bleiben, das muss besser werden,
auch im Sinne dieses Gesetzes.
Zu Protokoll gegebene Reden
Durch bundesweite Zusammenführung der Daten
über Waffen, die entsprechenden Erlaubnisse und Einschränkungen entsteht für jede Waffe gewissermaßen
eine Biografie; für jede Schusswaffe lässt sich feststellen, wo sie sein sollte. Es wird also ein für alle interessierten Behörden zugängliches Verzeichnis geschaffen,
mit dem im Bedarfsfall festgestellt werden kann, ob an
einem bestimmten Ort Waffen zu vermuten sind, ob
aufgefundene Waffen legal besessen werden und wo sie
herkommen.
Das ist - das sei hier auch gesagt - kein Allheilmittel.
Die Erfahrungen mit einem verbesserten Waffenregister
in Hamburg waren gut, und wir haben die Hoffnung,
dass auch dieses Nationale Waffenregister einen entsprechenden Mehrwert schafft. Das Register wird nicht
reichen, um die Problematik illegaler Waffen zu beseitigen; aber es wird dazu beitragen, legale Waffen besser
kontrollierbar zu machen und Missbrauch vorzubeugen.
Ich möchte an dieser Stelle auch ganz klar sagen: Es
geht hier nicht darum, eine Datei zu schaffen, weil wir
die Betroffenen für grundsätzlich verdächtige und gefährliche Personen halten würden. Wir wissen, dass
Schützen und Jäger in aller Regel sehr verantwortungsvoll mit ihren Waffen umgehen. Es geht uns nicht um die
Kontrolle der Waffenbesitzer, es geht uns um die Kontrolle der Waffen. Denn Sportwaffen können immer auch
zu Mordwaffen werden; das wird niemand bestreiten
können. Und weil das so ist, weil Waffen dieses tödliche
Potenzial haben, sind auch die Einrichtung einer solchen Datei und die genaue Registrierung der Waffen
nötig. Dabei gilt natürlich auch für alle Waffenbesitzer
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wir
werden mit Argusaugen darüber wachen, dass die Bestimmungen des Datenschutzes genau eingehalten werden. Das ist und bleibt unser Grundsatz, und das ist
nicht abhängig vom Thema oder von den Betroffenen.
Ich war kürzlich in Brake. Dort haben Schüler zum
Gedenken der Toten des Amoklaufes von Winnenden ein
Mahnmal entworfen und gebaut. Dort ist mir einmal
mehr klar geworden: Wir können bei Schusswaffen niemals davon absehen, dass es im Zweifelsfall, im Fall einer versagenden Kontrolle und des Missbrauches, Tote
und Schwerverletzte gibt.
Das Nationale Waffenregister ist ein Baustein im
Kampf gegen eine tödliche Gefahr. Die Beteiligung der
EU an den Initiativen der UNO zur Bekämpfung des
weltweiten Kleinwaffenhandels ist ein weiterer, sehr
wichtiger Baustein. Denn das birgt die Chance, endlich
etwas gegen illegale Kleinwaffen zu tun, die in riesigen
Stückzahlen auf der Welt kursieren und erheblich zur
Kriminalität mit Schusswaffen, zum bewaffneten Mord
und Totschlag beitragen.
Wir müssen, last, but not least, unser eigenes Waffenrecht weiter verbessern. Dazu haben wir Grüne Vorschläge vorgelegt, die wir bald in einer Anhörung im
Innenausschuss diskutieren werden. Da geht es um Beschränkungen von großkalibrigen Waffen, um die getrennte Lagerung von Munition und Waffen und um
weitere Maßnahmen. Unsere Forderung nach einem
Nationalen Waffenregister schickt sich die Regierung ja
jetzt immerhin zu erfüllen an.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8987 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich fortfahre,
bitte ich diejenigen, die dringend Gespräche führen müssen, dies draußen zu tun und sonstige Umgruppierungen,
die notwendig sind, so vorzunehmen, dass wir gleichzeitig weiterhin abstimmen können.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen
- Drucksache 17/8796 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kollegin Halina Wawzyniak sowie der
Kollegen Norbert Geis, Burkhard Lischka, Sebastian
Edathy, Jörg van Essen und Volker Beck.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8796 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ehrlicher Dialog über europäische Grundwerte und Grundrechte in Ungarn
- Drucksache 17/9032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({3}) zu dem
1) Anlage 6
Vizepräsidentin Petra Pau
Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Das ungarische Mediengesetz - Europäische
Grundwerte und Grundrechte verteidigen
- Drucksachen 17/4429, 17/8710 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Holmeier
Michael Roth ({4})
Joachim Spatz
Thomas Nord
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Roth für die SPD-Fraktion.
Schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Prinzip der Nichteinmischung
in die inneren Verhältnisse eines Landes ist ein Relikt
des 19. und des 20. Jahrhunderts. In einem vereinigten
Europa, in der Europäischen Union gibt es die Pflicht
zur Einmischung,
({0})
und zwar in allen Bereichen, in denen unsere Grundwerte infrage oder zur Disposition gestellt werden. In
der Europäischen Union, die maßgeblich von der Bereitschaft zum Kompromiss lebt, gibt es einen Bereich, in
dem es niemals Kompromisse geben darf. Dabei geht es
um die Frage, wie wir mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit umgehen. Hier muss es einen staaten- und bürgerinnen- und bürgerübergreifenden Konsens geben. Leider ist dieser Konsens in einem Land,
dem wir uns seit vielen Jahrzehnten freundschaftlich
verbunden fühlen, nicht mehr gegeben. Deshalb ist es
gut, dass wir nun - wenn auch zu später Stunde - im
Deutschen Bundestag über die derzeitige politische Lage
in Ungarn sprechen.
({1})
Niemand der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD stellt infrage, dass die ungarische Regierung - um diese geht es im Kern - nicht demokratisch legitimiert ist. Selbstverständlich ist diese
Regierung demokratisch legitimiert. Sie verfügt über
eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Wenn man aber
eine solche eindeutige parlamentarische Mehrheit besitzt, entsteht daraus gerade in einem Land, das politisch
und gesellschaftlich vermutlich so gespalten ist wie kein
zweites in der Europäischen Union, ein großes Maß an
Verantwortung, Brücken zu bauen, zu versöhnen und
Konsens zu stiften. Die Bereitschaft, das Land wieder zu
einen, vermisse ich. Insofern werden Ministerpräsident
Orban, seine Regierung und die ihn tragenden Parteien
ihrer Verantwortung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht gerecht.
({2})
Wenn wir in diesen Tagen zu Recht ganz strenge
Maßstäbe an diejenigen anlegen, die bereit und gewillt
sind, der Europäischen Union beizutreten, müssen diese
strengen Maßstäbe doch erst recht für die Staaten gelten,
die seit Jahren oder auch seit Jahrzehnten der Europäischen Union angehören. Es kann auch im Nachhinein
keine Rabatte geben.
Insofern haben wir es als unsere Pflicht angesehen,
nachdem nun endlich auch die Europäische Kommission
aktiv geworden ist, die Debatte darüber zu führen, was
schiefläuft und wie es in Ungarn baldmöglichst wieder
besser laufen könnte.
Die Kommission hat mehrere Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Sie wird damit nicht nur ihrer Verantwortung als Hüterin der europäischen Verträge gerecht,
sondern sie ist insbesondere auch Hüterin der Grundwerte und der Demokratie in der Europäischen Union.
Wenn es denn richtig ist, dass es diesbezüglich keine Rabatte und Kompromisse geben kann, verdient die Europäische Kommission die uneingeschränkte Unterstützung des Deutschen Bundestages.
({3})
Nun weiß ich ja, welche Bedenken, auch hier im Plenum, wieder vorgebracht werden: Das sei doch alles gar
nicht so schlimm, und man müsse das doch nicht übertreiben. Das seien doch alles ganz normale Entwicklungen. Die Regierung habe vielleicht in der einen oder anderen Frage ein wenig überzogen oder vielleicht ein
wenig zu schnell agiert.
Es geht eben nicht allein um die Mediengesetze. Es
geht nicht allein um die Unabhängigkeit der Justiz. Es
geht nicht allein um die Rolle des Datenschutzes. Es
geht nicht allein um bestimmte Elemente der Verfassung, die uns befremdlich erscheinen. Und es geht nicht
allein um das Zustandekommen von Gesetzen.
In der Summe ist das, was wir seit 2010 in Ungarn erleben, gefährlich für die Demokratie.
({4})
Und deshalb muss es zum Thema gemacht werden.
Selbstverständlich üben wir als Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, die Ungarn viel zu verdanken haben,
mitnichten Kritik an der ungarischen Bevölkerung. Wir
üben Kritik an denen, die derzeit in Ungarn in der politischen Verantwortung stehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass es seitens der Regierung und seitens des Ministerpräsidenten auch nur ein Quäntchen Einsicht
gegenüber dem gibt, was derzeit in der Europäischen
Union diskutiert wird.
Michael Roth ({5})
Ich darf aus einem Interview zitieren, das kürzlich in
einer renommierten deutschen Zeitung veröffentlicht
wurde, die mitnichten im Verdacht steht, ein Organ der
Linken oder der Linksradikalen in Europa zu sein. Dort
sagt Orban: Wir werden „von der internationalen Linken
radikal attackiert. Aber die internationale Rechte … beschützt uns.“
Wenn er mit der internationalen Rechten Frau Merkel
und die CDU/CSU meint, dann mag er wohl recht haben.
Aber wenn er von der internationalen Linken spricht,
dann frage ich mich allen Ernstes, wen er damit eigentlich meint. Meint er damit die Europäische Kommission
mit 27 Mitgliedern, von denen, wenn man großzügig ist,
gerade einmal sechs der europäischen Sozialdemokratie
angehören? Meint er damit vielleicht den Europäischen
Rat? Meint er damit das Europäische Parlament? In keiner dieser Institutionen, geschweige denn in der großen
Mehrzahl der Mitgliedstaaten verfügt - ich darf sagen:
leider - die Sozialdemokratie und damit die demokratische Linke über eine parlamentarische und politische
Mehrheit.
Wenn Sie sich einmal die deutsche Medienlandschaft
anschauen, dann sehen Sie, dass auch die Zeitungen und
Rundfunkanstalten massive Kritik üben, die nicht im
Verdacht stehen, irgendeine Nähe zu den sogenannten
internationalen Linken zu haben.
({6})
Insofern kann ich überhaupt nicht verstehen, dass es
in Ihren Reihen so viele gibt, die abwiegeln, das Ganze
in rosaroten Farben malen und meinen, das verteidigen
zu müssen, was andere, die sich nicht sozialdemokratisch oder grün schimpfen, offensiv und immer wieder
deutlich kritisieren.
Ebenso peinlich und beschämend finde ich es, wenn
Herr Orban versucht, Brüssel mit Moskau gleichzusetzen und eine Brücke von der Sowjetunion zur Europäischen Union zu schlagen. Das ist eine Beleidigung
unseres gemeinsamen Europas und dessen, wofür
Deutschland und Ungarn seit über 20 Jahren gemeinsam
einstehen, nämlich des demokratischen, föderalen und
rechtstaatlichen Europas.
({7})
Ungarn ist nicht der Sündenbock in Europa. Deshalb
ist es auch nicht ein Fehler, jetzt die aktuellen Missstände in Ungarn anzuprangern. Ich will aber selbstkritisch hinzufügen: Es war ein Fehler, bei einer Reihe
von Infragestellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in anderen Mitgliedstaaten in der Europäischen
Union, beispielsweise in Italien, zu lange und zu beharrlich geschwiegen zu haben. Hier hätten wir früher und
deutlicher Kritik üben müssen. Insofern kann ich den einen oder anderen Ungarn verstehen, der uns fragt: Warum habt ihr zu den Vorgängen geschwiegen, die in den
großen Mitgliedstaaten abgelaufen sind, und warum übt
ihr jetzt alleine an Ungarn Kritik?
Wenn wir Kritik an der ungarischen Regierung üben,
muss das präjudizieren, dass wir zukünftig gemeinsam
immer wieder deutliche Worte finden, wenn es um die
Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
geht. Diese ungarische Regierung hat das Land in eine
politische und wirtschaftliche Isolation geführt. Wenn
wir auch Gesprächsbereitschaft gegenüber der ungarischen Regierung und gegenüber der Zivilgesellschaft
zeigen - das sollte aus meiner Sicht eine pure Selbstverständlichkeit sein -, dann heißt das, dass wir zwar verstehen wollen, aber das heißt nicht, dass wir für alles
Verständnis haben dürfen.
Anlässlich des 20-jährigen Geburtstags des deutschungarischen Freundschaftsvertrages hätte ich mir gewünscht, dass wir in dieser Frage einen breiten parlamentarischen Konsens hätten finden können. Aber leider
waren die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP nicht dazu bereit, obwohl es auch Vertreterinnen
und Vertreter in der Bundesregierung gegeben hat - ich
erinnere an die deutlichen Worte der Kritik von Staatsminister Hoyer, und ich erinnere an das engagierte Auftreten des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung Markus Löning -, die Kritik geübt haben. Ich
bedaure, dass Sie trotz dieser klaren und deutlichen
Worte nicht dazu bereit waren, mit uns einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Das ist mehr als schade.
({8})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Johann
Wadephul das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ihre Einleitung, Herr Kollege Roth, hat gezeigt,
dass Sie in einer Rechtfertigungssituation sind. Sie haben sich selber in diese Sackgasse hineingeritten, und
wir werden Ihnen nicht heraushelfen. Es ist vollkommen
klar, dass wir in Europa uns unter Freunden bewusst
sind, was wir miteinander gemeinsam haben. Mit den
Ungarn haben wir Deutsche sehr viel gemeinsam. An allererster Stelle sind wir ihnen für das dankbar, was sie
1989 geschafft haben. Sie haben den Eisernen Vorhang
durchschnitten und eine entscheidende Voraussetzung
dafür geschaffen, dass der Eiserne Vorhang fallen konnte
und dass Deutsche von Deutschland Ost nach Deutschland West kommen konnten. Dafür sind wir den Ungarn
nach wie vor dankbar.
({0})
In diesem Geiste sollten wir die Diskussion hier miteinander führen.
({1})
Das schließt nicht aus, dass insbesondere dazu berufene Organisationen auf europäischer Ebene auch die
Mitgliedstaaten kritisch beurteilen, wie das gang und
gäbe in der Europäischen Union ist, wie das jetzt auch
die EU-Kommission gegenüber Ungarn mit einigen Vertragsverletzungsverfahren, die sie angekündigt hat, gemacht hat und wie wir alle das erleben können. Die Bundesrepublik Deutschland hat das schon erlebt. Ich hoffe
nicht, dass es bei der Vorratsdatenspeicherung dazu
kommt. Wir unternehmen Anstrengungen, damit es nicht
geschieht. Das ist ganz normal. Dass sich alle Mitgliedstaaten immer wieder an den europäischen Werten messen lassen müssen und dass man darauf aufmerksam
macht, ist klar. Dass auch die Venedig-Kommission
Punkte in Ungarn kritisiert hat, ist auch vollkommen
klar. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates freue ich mich darüber. Auch das ist
eine Institution, die dazu da ist, so etwas zu kritisieren
und Punkte anzusprechen.
Wofür wir hier im Deutschen Bundestag aber nicht da
sind - das ist der Fehler, den die Opposition hier macht,
Herr Kollege Roth -, ist: Wir sind nicht die bessere ungarische Opposition. Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir
machen hier nicht ungarische Innenpolitik und verteilen,
wie Sie es gerade gemacht haben, Zensuren dafür, was
Herr Orban jetzt gerade richtig oder falsch macht.
({2})
Ich will Ihnen etwas vorhalten. Wir haben heute ein
Schreiben des Bundes Ungarischer Organisationen in
Deutschland, der mehr als 120 000 Mitglieder hat, bekommen.
({3})
Darin werden wir ganz herzlich auf Folgendes aufmerksam gemacht - ich erlaube mir, mit Ihrer freundlichen
Genehmigung, Frau Präsidentin, zu zitieren -:
Völlig unzutreffende Schlagworte, Verallgemeinerungen, der Rassismusverdacht und an den Haaren
herbeigezogene historische und aktuell politische
Vergleiche werden bemüht, um die mit überwältigender Mehrheit demokratisch gewählte bürgerlichchristliche ungarische Regierung und auch den
größten Teil der ungarischen Wähler in die rechtsradikale, totalitäre Ecke zu rücken. Dies offenbart
nicht nur eine völlige Unkenntnis des ungarischen
Parteienspektrums, es ist auch zutiefst beleidigend,
wenn man dem Freund und Bündnispartner die demokratische Gesinnung abspricht und nicht glauben
möchte, dass für ihn die europäische Werteordnung
zur fundamentalen Grundüberzeugung gehört.
Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Sarrazin?
Ja.
Frau Präsidentin! Verehrter Kollege Wadephul, zunächst muss ich Ihnen leider mitteilen, dass dieser Brief
uns bisher nicht erreicht hat. Es wäre sicherlich freundlich, wenn Sie ihn uns zustellen könnten. Es ist auch interessant, dass Sie hier die Botenrolle übernehmen, statt
uns Ihre eigenen Formulierungen vorzutragen.
Ich möchte Sie aber doch fragen, wie Sie vor dem
Hintergrund Ihrer Ausführungen hinsichtlich der Rolle
des Deutschen Bundestags als neuer Opposition die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit der Drucksachennummer 17/8709 bewerten. Hier steht:
Die Bundesregierung hat wiederholt ihrer Sorge
über die innenpolitischen Entwicklungen in der
Republik Ungarn Ausdruck verliehen, so zuletzt
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle, … und der Sprecher der Bundesregierung
usw. usf.
({0})
Ich fahre weiter unten fort:
Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass
die Europäische Kommission erklärt hat, ihre Prüfung nicht auf gesetzestechnische Details zu beschränken, sondern die europäischen Grundwerte in
diese Prüfung einzubeziehen.
Ist damit die schwarz-gelbe Bundesregierung die bessere ungarische Opposition?
({1})
Nein, das ist sie nicht, lieber Herr Kollege Sarrazin.
Ich werde Ihnen gerne diesen offenen Brief zur Verfügung stellen, der heute in meinem Büro eingegangen ist.
Ich weiß nicht, wie der Verteiler aussah. Ich glaube, es
ist sinnvoll, dass Sie einbezogen werden und davon auch
Kenntnis nehmen; da stehen nämlich noch weitere interessante Dinge drin.
({0})
Ich habe vorhin ganz klar gesagt - ich habe auch
nichts von dem zurückzunehmen, was vorher von der
Bundesregierung gesagt wurde -, dass natürlich Punkte
angesprochen werden können. Aber in der Art und
Weise, wie das mit Ihrem neuerlich vorgelegten Katalog
passiert, in dem einzelne politische Projekte aus der ungarischen Innenpolitik dezidiert herausgegriffen werden,
geht das nicht. Außerdem wollen Sie, dass sich der Deutschen Bundestag zu diesen einzelnen Punkten eine Meinung bildet, und versuchen, uns zu überreden, dem auch
noch zuzustimmen. Das hieße ja, dass wir hier ungari20004
sche Innenpolitik betrieben. Dazu sind wir nicht da. Das
lehne ich nach wie vor klar ab, lieber Herr Sarrazin.
({1})
Ich bin vielmehr der Auffassung - um das fortzusetzen -, dass die Ungarn selber sehr gut in der Lage sind,
ihre Sachen miteinander zu besprechen und zu klären
und auch in den Institutionen einer Lösung zuzuführen.
Was Sie verschwiegen haben - auch der Kollege Roth
hat bedauerlicherweise vergessen, darauf einzugehen -,
ist, dass das, was der vormalige Staatsminister des Auswärtigen Amtes Hoyer hier zum Mediengesetz angesprochen hat, mittlerweile durch eine Entscheidung des
ungarischen Verfassungsgerichtes weitgehend erledigt
ist; denn viele Regelungen, über die man in der Tat - das
hat Herr Hoyer vollkommen zu Recht getan - kritisch
denken und die man auch infrage stellen konnte, sind
mittlerweile durch das ungarische Verfassungsgericht für
unwirksam erklärt worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist wirklich nicht unsere Angelegenheit, uns in dieser Art und
Weise einzumischen. Wir sollten vielmehr zur Kenntnis
nehmen, was die Ungarn selber geschafft haben und
erreicht haben - und das ist gut so.
Im Übrigen hat sich beispielsweise die im ungarischen Mediengesetz enthaltene Vorschrift der sogenannten Ausgewogenheit der Berichterstattung - das ist ja
auch ein Punkt, den wir hier alle miteinander sehr kritisch gesehen haben - mittlerweile so ausgewirkt, dass
auch die Regierungspartei darunter gelitten hat. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wurde im Juni 2011 von
der Medienaufsicht zu einer Geldbuße verurteilt, weil in
ihm die Meinung der Regierungspartei zu stark zur Geltung gekommen ist. Das ist also eine Angelegenheit, bei
der durchaus Ausgewogenheit herrscht.
Man kann die ungarische Mediengesetzgebung, die
nicht unseren Wertvorstellungen hundertprozentig entspricht - das ist ja vollkommen klar - ({2})
- Sie müssen auch einmal darüber reden, was vorher in
den ungarischen Medien los gewesen ist. Jeden Tag
wurde Gewaltverherrlichung bis hin zur Pornografie in
einem großen Ausmaß ausgestrahlt.
({3})
- Herr Kollege, wir haben doch auch in Deutschland
eine Medienaufsicht.
({4})
Wir bekennen uns doch bei aller Medienfreiheit auch in
Deutschland dazu, dass nicht jedes Kleinkind schon Gewaltfilme und Pornografie im Vorabendprogramm sehen
soll. Das gehört ebenfalls zu unserem Kulturgut. Gleiches muss doch auch in Ungarn möglich sein.
({5})
Herr Kollege Roth, Sie haben sich selber des Fehlers
geziehen, dass Sie sich um Italien nicht schon früher gekümmert haben. Sie hätten sich aber - diese Einsicht
habe ich bei Ihnen vermisst - schon früher um Ungarn
kümmern müssen. Was ist nämlich in Ungarn los gewesen? In Ungarn hat eine sozialistische Regierung das
Land in den Bankrott gewirtschaftet.
({6})
- Ich sage Ihnen, dem europapolitischen Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, dass diese Regierung in Ungarn die EU-Kommission nach Strich und Faden belogen hat. Ich erinnere an die berühmte Balaton-Rede des
früheren sozialistischen ungarischen Ministerpräsidenten. Darauf haben Sie im Deutschen Bundestag überhaupt nicht reagiert. Auf dem Auge waren Sie blind.
({7})
- Frau Kollegin, angesichts der Tatsache, dass man in
der Vergangenheit nicht reagiert hat, kann man sich
heute nicht als der große Ankläger hinstellen. Sie hätten
schon früher einschreiten müssen. Jetzt sieht es sehr danach aus, dass Sie sich über das Wahlergebnis ärgern.
({8})
Es hat eine klare Mehrheit für diese Regierung in Ungarn gegeben. Sie sollte sich an europäischen Werten
orientieren. Die europäischen Institutionen sollten einschreiten, wenn es nötig ist.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Stefan
Liebich das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Wadephul, Sie haben gesagt, dass der Bundestag
nicht die Organisation sei, die dazu berufen ist, sich mit
ungarischer Innenpolitik zu befassen. Mir fällt aber eine
Organisation ein, die sich mit den Thesen von Viktor
Orban befassen könnte, und das ist die Europäische
Volkspartei, dessen stellvertretender Vorsitzender Orban
ist.
({0})
Das heißt, alle Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion sind
in der Partei, in der Viktor Orban, der Regierungschef
von Ungarn, stellvertretender Vorsitzender ist.
Auch ich habe das große Interview von Viktor Orban
in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung - ich
nenne jetzt den Namen, Herr Roth - mit Entsetzen gelesen. Dabei sind mir einige „Schmuckstückchen“ aufgefallen. Ich will einmal folgende Stelle zitieren:
Es gibt nämlich eine Auslegung der europäischen
Geschichte, der europäischen Zukunft, wonach wir
aus der Religiosität in die Säkularisation, aus dem
traditionellen Familienmodell in Richtung verschiedenartiger Familienmodelle und aus den Nationen
in Richtung Internationalismus oder zur Integration
marschieren. Was ich denke, geht klar in die andere
Richtung.
Wenigstens ist er ehrlich. Er beschreibt das Europa,
das er erreichen möchte. Wenn Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU, dieses Europa wollten,
dann würde ich mir wirklich Sorgen machen.
({1})
Ich weiß es besser; denn wir führen viele Diskussionen.
Ich würde mir daher wünschen, dass Sie diese Diskussion mit Viktor Orban in Ihrer gemeinsamen Partei, also
in der Europäischen Volkspartei, führen.
({2})
- Es ging in diesem Fall gar nicht um die FDP. Sie sind
so fair und stehen selbst bei Punkten fest zusammen, bei
denen Sie inhaltliche Differenzen haben. Das finde ich
sehr solidarisch von Ihnen.
({3})
Ich will noch erwähnen, dass mir die Position des Kollegen Hoyer, die hier schon gelobt worden ist, deutlich
sympathischer war. Ich hoffe, dass dieser Teil in der FDP
immer noch vor Ort ist und zu diesem Thema etwas sagt.
Das angesprochene Mediengesetz lohnt eine genauere
Debatte. Es ging dort nicht einfach um die Bekämpfung
von Pornografie, sondern es ging darum, dass staatliche
Kontrolle von Medien in einem Maße eingeführt werden
sollte, die jeder Beschreibung spottet. Bevor es nun zu
einem entsprechenden Zwischenruf kommt, will ich sagen: Gerade aufgrund der Geschichte unserer Partei und
unserer Vorgängerpartei weiß ich, dass staatliche Kontrolle von Medien der grundfalsche Weg ist.
({4})
Deswegen ist es vollkommen richtig, dass die Europäische Union gegen diese Politik Protest einlegt.
Aber es geht nicht nur um das Mediengesetz. Es geht
auch um die vorgelegte Verfassung. Einen Tag, nachdem
sie in Kraft getreten ist, protestierten 100 000 Menschen
dagegen. Diese Verfassung und vor allem das Verfahren
bieten tatsächlich Anlass zur Kritik. Es kann doch nicht
sein, dass sich einige Fidesz-Parteifunktionäre eine
Verfassung ausdenken und diese dann, nur weil man im
Moment eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat,
durchdrücken.
Was wurde nicht alles in diese Verfassung geschrieben! Beispielsweise wird in der Verfassung - dies wird
nun kein Weg sein, den die FDP gehen will - der Einkommensteuersatz festgeschrieben, damit er künftig
nicht mehr geändert werden kann. So etwas ist absurd;
es ist eine Einschränkung parlamentarischer Gestaltungsmöglichkeiten. So etwas sollten wir nicht hinnehmen.
({5})
Die Linksfraktion insgesamt fand es daher sehr richtig, dass ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet
wurde. Wir sind froh, dass sich auch die Bundesregierung für dieses Verfahren ausgesprochen hat.
({6})
Orbans Europa von Religion, Nation und Familie
wollen wir nicht.
({7})
Wir lassen uns auch nicht das Recht nehmen, das hier im
Deutschen Bundestag zu thematisieren. Wir wollen eine
demokratische, eine soziale und eine friedliche Europäische Union auf der Basis gleicher Rechte. Ich hoffe, dass
die Debatten, die wir hier führen, eine Kritik formulieren, die auch bei den Ungarinnen und Ungarn ankommt.
Ich finde den Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen daher sehr richtig.
({8})
Wir unterstützen ihn sehr gerne.
Auch der neu vorgelegte Antrag beider Fraktionen
geht in die richtige Richtung. In diesem Antrag ist das
kleine Wort „endlich“ eingefügt worden. Man erwartet
also, dass die Bundesregierung „endlich“ deutlich macht,
dass etwas getan werden muss. Ich verstehe das als subtil formulierte Kritik, die wir teilen. Ich finde, dies ist genau der richtige Weg.
Ich bitte die CDU/CSU, ihre Verteidigungspolitik infrage zu stellen. Ich glaube, dass ihre Fidesz-Parteifreunde mit ihrer gegenwärtigen Politik keine Verteidigung verdienen. Ich hoffe, dass wir zu einem gemeinsamen europäischen Weg zurückkehren.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Jens
Ackermann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ungarn und Deutschland verbinden besondere
Beziehungen. Das wird natürlich auch in Symbolen
deutlich. Ich möchte darauf hinweisen, dass auf der Außenseite des Reichstages eine Plakette in deutscher und
ungarischer Sprache angebracht ist. Es ist ein einmaliges
Symbol, das die besondere Freundschaft unserer Völker
zum Ausdruck bringt. Es ist angesprochen worden: Wir
haben den Ungarn viel zu verdanken. Die deutsche Wiedervereinigung wäre so nicht möglich gewesen, wenn
die Ungarn nicht das erste Glied zerschnitten hätten. Damit haben sie den Eisernen Vorhang, die Mauer, brüchig
gemacht. Daran muss man erinnern.
({0})
Heute reden wir über, leider nicht mit Ungarn.
({1})
Ungarn ist ein Mitglied der EU und gehört zu unserer
europäischen Wertegemeinschaft, die durch Freiheit und
Demokratie geprägt ist. Die Ungarn sind ein besonders
freiheitsliebendes Volk. Dies wird in der Geschichte
deutlich - die Ungarn sind Freiheitskämpfer -: 1848,
1956, aber auch 1989. Daran möchte ich erinnern.
({2})
Jetzt zum Jahr 2012. In der letzten Zeit wurde viel
Kritik an der Politik der ungarischen Regierung geübt.
Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die große Mehrheit der Mandate unbestritten in freien, gleichen und geheimen Wahlen zustande gekommen ist. Sowohl an der
Legalität als auch an der Legitimität dieser Mehrheit besteht keinerlei Zweifel.
Ungarn ist ein Land, welches über eine mit großer
Mehrheit demokratisch gewählte Regierungspartei verfügt. Eine solch große Unterstützung im Volk wünscht
sich jede Regierung. Die Tatsachen darf man den Ungarn nicht zum Vorwurf machen. Eine solch große
Mehrheit ist allerdings stets Verpflichtung, mit ihr sensibel umzugehen.
Es sind Zweifel angebracht - darauf möchte ich hinweisen -, ob die ungarische Regierung das nötige Fingerspitzengefühl gezeigt hat. Sicher gab es seit 2010
Maßnahmen und Vorkommnisse, die zu kritisieren sind.
Große Reformen sind angegangen worden, zum Beispiel
der Abbau des Haushaltsdefizits oder die Weiterentwicklung des Rentenversicherungssystems. Ich erlaube mir,
darauf hinzuweisen, dass die ungarische Regierung tatkräftig das angepackt hat, was wir momentan von anderen Euro-Ländern erwarten: umfassende strukturelle Reformen.
Ein so wichtiges Gesetz wie das Mediengesetz zu modifizieren, ist eine umfangreiche Arbeit. Das Ganze birgt
die Gefahr, Fehler zu machen. Solche Fehler sind auch
angesprochen worden. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist leider über ein Jahr alt. Inzwischen
gab es positive Bewegungen und Veränderungen. Nach
der Kritik der Europäischen Kommission hat die Regierung mehrere Paragrafen des Gesetzes zu Beginn des
Jahres 2011 korrigiert. Trotzdem hat das Verfassungsgericht Ungarns noch bestimmte Punkte aufgegriffen. Dies
zeigt, dass das demokratische System in Ungarn funktioniert.
Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts Ungarns am 19. Dezember 2011 wurden einige Punkte als
nicht verfassungskonform erklärt: Verpflichtung zur Offenlegung der Quellen. Das Institut des Beauftragten für
Medien verstößt gegen die Pressefreiheit und ist überflüssig. Bei der Aufklärung eines Falls darf der Medienrat bei den Medienanbietern nicht um mehr Daten als nötig bitten, um weitere Ermittlungen zu führen. - Die
Fraktion der FDP hat sich kritisch über solche Passagen
geäußert. Deshalb begrüßen wir besonders die Entscheidung des Verfassungsgerichts, nach der die Quellen der
Journalisten geschützt werden müssen.
({3})
In dem Antrag, der heute diskutiert wird, geht es auch
um den ungarischen Radiosender Klubradio, der kritische Berichte über die Regierung sendet. Nach einer
Entscheidung des Gerichtes in Budapest vom März dieses Jahres war die Vergabe der Frequenzen an einen anderen Sender nicht korrekt. Es wurde deutlich gemacht:
Das demokratische System funktioniert auch hier. Es bestehen gute Chancen, dass Klubradio weiterhin senden
und seine Frequenzen behalten kann. Das bestätigt sogar
der Generaldirektor von Klubradio. Damit wird ein akutes Problem in der Debatte um die oppositionellen Medienmöglichkeiten gelöst.
Ich komme zu den Vertragsverletzungsverfahren. Die
Europäische Kommission hat im Januar dieses Jahres
auf drei Gebieten ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet: erstens wegen Missachtung der
Unabhängigkeit der Zentralbank, zweitens wegen Missachtung der Unabhängigkeit der Justiz - Pensionierung
von Richtern durch Herabsetzung des Renteneintrittsalters - und drittens wegen Missachtung der Unabhängigkeit von Datenschutzbeauftragten. Die Verfahren auf
dem zweiten und dritten Gebiet laufen derzeit noch.
Beim ersten Punkt, Zentralbank, gibt es unterschiedliche
Auffassungen zwischen der Kommission und der ungarischen Regierung. Die Diskussionen sind noch nicht abgeschlossen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn man
mit dem Finger auf andere zeigt, so weisen immer drei
Finger auf einen selbst zurück. Ich möchte daran erinnern: Das Thema Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten hat uns im Jahre 2010 ebenfalls eine Rüge aus
Luxemburg beschert. Gegen Deutschland laufen derzeit
80 weitere Vertragsverletzungsverfahren. Das anzumerken, gehört zur Ehrlichkeit dazu. Wir sollten hier nicht
mit zweierlei Maß messen.
Herr Kollege Roth, Sie haben die Rechtsstaatlichkeit
angesprochen. Das ist ein hohes Gut, das wir verteidigen
wollen. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Ungarn:
ein Land mit 10 Millionen Einwohnern; NordrheinWestfalen: ein Land mit 17 Millionen Einwohnern. Dort
hat die rot-grüne Regierung versucht, einen Haushalt
vorzulegen, der eindeutig verfassungswidrig ist, und darüber abstimmen zu lassen. So viel zur Rechtsstaatlichkeit von Rot-Grün.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vorhin ist
das Thema Freundschaft angesprochen worden. In diesem Zusammenhang möchte ich darum bitten, dass wir
fair, sachlich und mit der entsprechenden Würde mit unseren Freunden und Partnern umgehen. Wir können die
Kritikpunkte ansprechen, allerdings sachlich und verbindlich im Ton. Dann, denke ich, können wir zu einer
vertrauensvollen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zurückkehren. Wir sollten hier im deutschen Parlament
keine ungarische Innenpolitik vertreten.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Manuel Sarrazin das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst kann man diesem Hause nicht vorwerfen,
nicht auch mit Ungarn zu reden. Ohne die ungarische
Botschaft jetzt zu sehr loben zu wollen, kann ich sagen:
Es gibt wohl kaum einen Botschafter, der so sehr dafür
sorgt, dass wir mit allen Meinungen im Dialog sind.
Deswegen kann der Vorwurf, wir redeten nur über und
nicht mit Ungarn, dieses Haus nicht wirklich treffen.
Herr Wadephul, ich muss vor allem die ungarische Botschaft davor schützen, dass diese Behauptung hier so im
Raume stehen bleibt.
({0})
Wir haben mit diesem Antrag ein Interesse an der
Versachlichung der Debatte. Wenn Sie ihn lesen, merken
Sie das auch. Entschuldigung, aber Sie haben bei dieser
Debatte dieses Interesse ad absurdum geführt und alle
möglichen Argumente bemüht, anstatt dem sehr konnotierten und prononcierten Stil dieses Antrags folgen. Das
finde ich schade.
Ich kann mich allem anschließen, was Sie über die
Geschichte Ungarns und Deutschlands gesagt haben. Ich
würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Vereidigung von Joachim Gauck morgen ohne Ungarn eigentlich nicht denkbar wäre; da sind wir uns einig. Ich
möchte aber auch darauf hinweisen, dass Jagland, der
Generalsekretär des Europarates, heute in der FAZ sagt
- Zitat -:
… es gehe nicht darum, Ungarn von außen Regeln
aufzudrängen: „Es geht um Verpflichtungen, die
Ungarn sich selbst auferlegt hat …“
({1})
Das ist richtig. Wir alle haben den Vertrag von Lissabon
und die Beitrittsakten unterschrieben. Damit haben wir
uns zu den europäischen Werten aus dem EUV und aus
der Grundrechte-Charta bekannt.
Wir haben zusammen mit der SPD diesen Antrag vorbereitet, weil wir uns um diese Grundwerte und Grundrechte in Ungarn Sorgen machen.
({2})
Mit diesen Sorgen stehen wir eben nicht allein da. Ich
muss Ihnen sagen: Da geht es nicht nur um das Mediengesetz. Nach Verabschiedung der neuen Verfassung im
April 2011 hat das Auswärtige Amt in Person von Herrn
Hoyer formuliert:
Unsere im Zusammenhang mit den Mediengesetzen
aufgekommenen Befürchtungen werden mit der
heute verabschiedeten Verfassung - und ihrem Zustandekommen - bestärkt statt entkräftet.
Es ist doch eine eindeutige Sache, dass wir eigentlich
gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Wenn wir
uns mit diesem Antrag aber eindeutig im Rahmen der
Haltung der Bundesregierung befinden, frage ich mich:
Warum konnten CDU/CSU und vor allem die FDP bei
der Entwicklung dieses Antrags eigentlich nicht mitmachen? Das ist mir wirklich ein Rätsel.
({3})
Es geht in unserem Antrag nicht darum, über einzelne
ungarische Gesetze zu sprechen oder der ungarischen
Regierung zu erklären, wie man Politik macht. Es geht
darum, dass wir uns als Teil der Europäischen Union
über Grundwerte und Grundrechte in der EU Gedanken
machen müssen. Wer behauptet, dass solch eine Debatte
nicht hierher gehört, hat etwas nicht verstanden.
({4})
Die EU ist nicht einfach ein Verbund souveräner Nationalstaaten; wir sind eine Gemeinschaft, die auf Werten
basiert. Zur Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratie gehört auch, dass die Demokratien in den Mitgliedstaaten funktionieren.
Wir machen uns ganz konkrete Sorgen. Ich könnte Ihnen drei Beispiele vortragen, werde es aber zeitlich nicht
schaffen. Ein Punkt ist mir dennoch sehr wichtig: die
Rechte der parlamentarischen Opposition. Ich bin oft in
Budapest gewesen; viele Gäste aus Budapest sind hier.
Die Opposition legt uns immer wieder dar, dass die neue
Hausordnung des Parlaments dazu führt, dass Gesetze
nicht mehr adäquat beraten und diskutiert werden können, bevor sie verabschiedet werden.
({5})
Die neue Regelung in der Hausordnung, nach der jetzt
24-mal im Jahr ein gesamtes Gesetzgebungsverfahren,
von der Einbringung eines Gesetzes bis zu seiner Verabschiedung, innerhalb von 24 Stunden stattfinden kann,
erscheint doch nicht nur uns abstrus. Wie kann da noch
wirkliche Beratung stattfinden? Auch Ihre Kollegen von
Fidesz und KDNP teilen diese Skepsis; aber Sie trauen
sich nicht, hier einmal Stellung zu beziehen. Das finde
ich schade.
({6})
Die Kardinalgesetze in Ungarn sind nichts Neues. Es
ist meiner Ansicht nach aber auch eine neue Qualität,
dass jetzt auch die sogenannte Flat Tax unter die alte
Praxis der Kardinalgesetze fällt. Es würde gerade uns
gut anstehen, das zu benennen. Denn meiner Ansicht
nach sollte die Hürde der Zweidrittelmehrheit grundsätzlich nur bei Änderung der Verfassung oder ähnlich weitreichender Regelungen notwendig sein. Ich halte es für
schwierig, wenn künftig gewählten Parlamentsmehrheiten möglicherweise nicht mehr die Verfügung über das
Budget möglich ist, weil ein wesentlicher Teil der Einnahmeseite der Kontrolle des Parlaments entzogen ist.
Das halte ich für ein aufkommendes Demokratieproblem.
({7})
Das ist kein Ungarn-Bashing, sondern schlicht und einfach Sorge aus Interesse an dem Land.
Abschließend möchte ich sagen: Wir möchten einen
fairen Dialog über die Vereinbarkeit der gesamten geänderten ungarischen Rechtsordnung mit den Grundwerten
der EU. Wir wollen diesen Dialog versachlichen und uns
mit einem unabhängigen Bericht sozusagen ein Gesamtbild verschaffen, auf dessen Grundlage wir uns gemeinsam Gedanken machen und einen fairen Dialog führen
können. Die besondere Freundschaft zu Ungarn heißt,
dass wir einen Dialog führen; Kritik und offene Worte
sind für uns Teil dieser Freundschaft.
Danke sehr.
({8})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Karl Holmeier aus der Unionsfraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Sie, die Ungarn, haben dem Freiheitswillen der
Deutschen Flügel verliehen.
Dieses Zitat stammt von unserer Bundeskanzlerin, anlässlich eines Besuches in Ungarn im Jahre 2009. Unsere
Kanzlerin hat recht: Ungarn war immer ein freiheitsliebendes Volk. Gerade wir Deutschen haben den Ungarn
aufgrund dieser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken.
({0})
Ich wage, zu sagen, dass die deutsche Einheit ohne
das Vertrauen der ungarischen Freunde in die Freiheit
nicht möglich gewesen wäre.
({1})
Das scheinen einige inzwischen völlig vergessen zu haben. Seit dem Regierungswechsel im Jahre 2010 sieht
sich Ungarn heftiger Kritik ausgesetzt, vor allem vonseiten der deutschen Opposition. Der ungarischen Regierung wird vorgeworfen, dass die europäischen Grundrechte verletzt sowie Demokratie und Rechtstaatlichkeit
missachtet werden.
({2})
Statt heuer im Jubiläumsjahr des deutsch-ungarischen
Freundschaftsvertrages einen Antrag zur Würdigung
dieser Freundschaft einzubringen, haben die Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag nichts Besseres
zu tun, als unsere ungarischen Freunde zu brüskieren
und ihnen das Verständnis von Demokratie und Rechtstaatlichkeit abzusprechen.
({3})
Ich kann Ihnen nur ans Herz legen: Finden Sie auf
den Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Umgang zurück.
({4})
Hören Sie auf, durch pauschale Kritik ein ganzes Volk
an den Pranger zu stellen.
({5})
Das gilt erst recht für das ungarische Volk, dem wir
Deutsche historisch in ganz besonderer Weise verbunden
sind.
({6})
Wenn Sie sachliche Kritik anbringen möchten, tun Sie
das bitte in direktem Dialog mit den ungarischen Kollegen.
({7})
Ja, in Ungarn regiert eine Zweidrittelmehrheit. Die
Regierungspartei wurde von der Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit gewählt.
({8})
Dieses Ergebnis hatte seinen Grund in der katastrophalen Bilanz der Vorgängerregierungen.
({9})
Das demokratisch zustande gekommene Ergebnis sollte
jeder respektieren. Mit der jetzigen Mehrheit ist die
Regierung Orban in der Lage, jahrelang aufgeschobene
Reformen anzustoßen, und das tut sie auch. Sicher stoßen die zahlreichen Reformen und ihre schnelle Umsetzung bei dem einen oder anderen auf Kritik. Das ist halt
so in einer Demokratie - und das ist auch gut so.
({10})
Zum Teil ist die Kritik in der Sache sogar berechtigt.
Aber der Deutsche Bundestag hat nicht darüber zu befinden, ob die Verfassung und die Gesetze anderer Länder
gegen EU-Recht verstoßen.
({11})
Darum kümmert sich derzeit die Europäische Kommission und, wenn es notwendig ist, gegebenenfalls der
Europäische Gerichtshof.
Es ist inakzeptabel und aus meiner Sicht ein diplomatischer Fehltritt erster Güte, einen anderen Staat aufzufordern, seine eigene Verfassung einem Dritten zur
Überprüfung vorzulegen.
({12})
Das widerspricht jedem Selbstverständnis eines souveränen Staates.
({13})
Wir alle sollten die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass
den Kritikern im In- und Ausland nach wie vor eine
große Mehrheit von ungarischen Bürgerinnen und Bürgern gegenübersteht, die die ungarische Regierungspolitik befürworten. Auch das gibt es.
({14})
Ich mahne daher dringend dazu, diese Menschen nicht
vor den Kopf zu stoßen. Noch einmal: Finden Sie auf
den Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Umgang zurück.
({15})
Ich möchte an dieser Stelle auf ein paar Tatsachen hinweisen und die Rechtswirklichkeit darstellen. Ich weiß
nicht, wie viele der Kritiker sich die ungarische Verfassung einmal angesehen haben. Wer sich die Mühe macht,
wird feststellen, dass Ungarn über eine Verfassung verfügt, die ausführlich die Grundrechte und Grundfreiheiten
anerkennt und diese festschreibt. An dem Bekenntnis zu
Gott und zum Christentum in der ungarischen Verfassung
kann ich nichts Anstößiges erkennen.
({16})
Das gehört ohne Zweifel zur europäischen Geschichte
und findet daher auch im deutschen Grundgesetz seine
Niederschrift.
Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass das ungarische
Verfassungsgefüge intakt ist, ist das vielfach gescholtene
Mediengesetz. Das ungarische Verfassungsgericht hat
wesentliche Teile dieses Gesetzes kassiert und damit
gezeigt, dass Meinungsfreiheit und Pressefreiheit in
Ungarn nach wie vor gelten.
({17})
Die Regierung muss das Urteil jetzt umsetzen, und sie
hat zugesichert, es zu tun. Das Ergebnis werden dann die
zuständigen Organe beurteilen, unter anderem auch die
Europäische Kommission, aber nicht der Deutsche Bundestag.
({18})
Das gilt im Übrigen auch mit Blick auf die eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren. Tatsache ist, dass es
nichts Ungewöhnliches ist - das wurde schon angesprochen -, wenn die Europäische Kommission Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Auch gegen Deutschland
laufen zahlreiche solcher Verfahren.
Tatsache ist, dass Ungarn zu den Fragen der Europäischen Kommission ordnungsgemäß Stellung genommen
und Änderungen angeboten hat. Tatsache ist auch, dass
zwischenzeitlich bei einem Großteil der Fragen ein
Kompromiss gefunden werden konnte. Davon ist in dem
Antrag der Opposition allerdings keine Rede. Es wird
offenbar auch ausgeblendet, dass sich der Punkt zum
Zentralbankgesetz weitgehend erledigt hat. Die beiden
übrigen Verfahren laufen noch, und ich halte es für unangemessen, sich seitens des Deutschen Bundestages in
dieses Verfahren einzumischen. Vor allem finde ich es
anmaßend, die Europäische Kommission ermuntern zu
wollen, hier ordnungsgemäß und gründlich zu prüfen.
Ich denke nicht, dass die Kommission derart weise Ratschläge von der Opposition braucht.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zusammenfassend muss ich leider feststellen, dass der angeblich
ehrliche Dialog, den die Opposition hier führen möchte,
alles andere als ehrlich ist. Es mangelt vor allem stark
am notwendigen Respekt gegenüber einem befreundeten
europäischen Land und dessen Menschen. Leider
erkennt der Antrag die Tatsachen auch nicht in der gebotenen Ehrlichkeit an. Ich bitte Sie daher, den Antrag
abzulehnen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einen schönen Abend.
({20})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9032 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Das ungarische
Mediengesetz - Europäische Grundwerte und Grundrechte verteidigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8710, den
Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4429 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Presse-Grosso gesetzlich verankern
- Drucksache 17/8923 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Georg
Nüßlein, Wolfgang Börnsen, Martin Dörmann, Ulla
Lötzer und Tabea Rößner sowie des Parlamentarischen
Staatssekretärs Hans-Joachim Otto.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8923 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Streichung des Begriffes „Rasse“ aus der deutschen Rechtsordnung und internationalen
Dokumenten
- Drucksache 17/4036 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden von Dr. Stephan Harbarth, Gabriele Fograscher,
Christoph Strässer, Stephan Thomae, Halina Wawzyniak
und Jerzy Montag.
Die Ächtung und Bekämpfung von Rassismus jeder
Art ist nicht nur Ziel unserer Politik, sondern zugleich
Auftrag unserer Verfassung.
Wir als Union bekennen uns klar und unmissver-
ständlich zu einem respektvollen Miteinander aller Men-
schen in unserem Land. Wir wenden uns gegen jede
Form der Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus und
Antisemitismus. Wir müssen und werden alles dafür tun,
dass in unserer Gesellschaft hierfür kein Platz ist. Der
Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz
muss Markenzeichen unserer wehrhaften Demokratie
sein. Dies setzt viele Maßnahmen voraus. Nur einige
seien genannt:
Bei Kindern und Jugendlichen muss nicht nur das
Demokratiebewusstsein gestärkt werden, um sie vor Ex-
tremismus jeglicher Art zu schützen. Sie müssen auch zu
tolerantem Verhalten erzogen werden.
Wir müssen den Opfern extremistischer Gewalttaten
mehr Aufmerksamkeit staatlicherseits entgegenbringen
und Opferorganisationen unterstützen.
Vor allem bedürfen diejenigen, die der Gefahr rassis-
tischer Übergriffe ausgesetzt sind, auch des Schutzes
durch unseren Staat.
Wichtig bei der Bekämpfung von Fremdenfeindlich-
keit und Rassismus ist nicht zuletzt auch das ehrenamtli-
che Engagement aus der Mitte unserer Gesellschaft. Für
die vielen Zeichen der Hoffnungen in diesem Zusam-
menhang sagen wir herzlichen Dank.
Der von der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag,
der darauf abzielt, den Begriff Rasse aus der deutschen
Rechtsordnung und internationalen Dokumenten zu
streichen, stellt jedoch kein taugliches Instrument der
Bekämpfung von Rassismus dar.
Gerade aufgrund der deutschen Geschichte halten
wir es für den falschen Weg, diese Begriffe zu streichen.
Die nationalsozialistischen Rassentheorien und der na-
tionalsozialistische Rassenwahn erfordern, dass wir
durch den Wortlaut unserer Verfassung und unserer ein-
fachen Gesetze klarstellen: Für Rassentheorien und
Rassenwahn gibt es in unserer Gesellschaft ebenso we-
nig Platz wie für die Diskriminierung und Benachteili-1) Anlage 7
gung von Menschen aus rassistischen Motiven. Dies
sollten wir in unserer Verfassung und unseren Gesetzen
bewusst und ausdrücklich betonen. Nicht ohne Grund
haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die die
Nazidiktatur selbst erlebt hatten, Art. 3 unserer Verfassung denn auch so deutlich formuliert.
Klar ist für uns dabei auch: Wir machen uns Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, nicht zu eigen. Bei
uns ist für derartiges Gedankengut kein Raum.
Den Antrag der Fraktion Die Linke werden wir ablehnen.
Gestern war der Internationale Tag gegen Rassismus.
Der 21. März wurde 1967 von den Vereinten Nationen
zum „Internationalen Tag zur Überwindung des Rassismus“ deklariert. Gerade nach dem Bekanntwerden der
schrecklichen Mordserie der Zwickauer Terrorzelle haben viele Organisationen, Vereine und Gruppen den
gestrigen Tag genutzt, um ein Zeichen gegen Rassismus
zu setzen.
In Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und
Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Dieser Grundrechtsartikel verwendet immer noch
den Begriff Rasse. Von vielen Seiten der Gesellschaft
wird schon seit mehreren Jahren gefordert, diesen Begriff aus der deutschen Verfassung zu streichen und
durch eine andere Formulierung zu ersetzen. Diese Forderung wurde auch gestern erneut geäußert.
In der Vergangenheit wurden Menschen in unterschiedliche Rassen eingeteilt, und es wurden gute und
schlechte Rassen unterschieden. Rassentheorien wurden
herangezogen, um Hierarchien, Unterdrückung, Ausgrenzung bis hin zur Gewalt und Ermordung von Juden
zu rechtfertigen. So wurden zum Beispiel die Sklaverei
und die Rassentrennung in Südafrika damit begründet,
dass die „weiße Rasse“ die überlegene sei.
Im Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie
stand der Rassenkampf. Es wurde behauptet, dass es höherwertige und minderwertige Rassen gebe.
Bei der Einteilung von Menschen in Rassen ging man
davon aus, dass Rassen sich nicht nur biologisch, also
durch körperliche Merkmale, unterscheiden, sondern
auch durch feststehende und unveränderbare Merkmale
hinsichtlich ihrer Mentalität, ihres Charakters und ihrer
Intelligenz.
Die Einteilung des Menschen in Rassen entspricht
nicht dem Stand der Wissenschaft, schon gar nicht menschenrechtlichen Standards. Es gibt keine menschlichen
Rassen. Eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe der
UNESCO-Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und
Diskriminierung“ am 8. und 9. Juni 1995 in Österreich
hat eine Erklärung zur Existenz menschlicher Rassen
abgegeben. Darin heißt es: „‚Rassen‘ des Menschen
werden traditionell als genetisch einheitlich und untereinander verschieden angesehen. Diese Definition
wurde entwickelt, um menschliche Vielfalt zu beschreiben, wie sie zum Beispiel mit verschiedenen geografischen Orten verbunden ist. Neue, auf den Methoden der
molekularen Genetik und mathematischen Modellen der
Populationsgenetik beruhende Fortschritte der modernen Biologie zeigen jedoch, daß diese Definition völlig
unangemessen ist.“
Und weiter heißt es in dieser Erklärung von 1995:
„Rassismus ist der Glaube, daß menschliche Populationen sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozialem Wert unterscheiden, so daß bestimmte Gruppen gegenüber anderen höherwertig oder minderwertig sind.
Es gibt keinen überzeugenden wissenschaftlichen Beleg,
mit dem dieser Glaube gestützt werden könnte. Mit diesem Dokument wird nachdrücklich erklärt, daß es keinen
wissenschaftlich zuverlässigen Weg gibt, die menschliche
Vielfalt mit den starren Begriffen ‚rassischer‘ Kategorien
oder dem traditionellen ‚Rassen‘konzept zu charakterisieren. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff
‚Rasse‘ weiterhin zu verwenden.“
Deshalb unterstützen wir als SPD-Bundestagsfraktion grundsätzlich das Anliegen, den Begriff Rasse aus
deutschen Gesetzestexten zu streichen.
Dazu heißt es in einer Ausarbeitung des Deutschen
Instituts für Menschenrechte mit dem Titel: „… und welcher Rasse gehören Sie an?“: „Daher sollte der Begriff
‚Rasse‘ keine Verwendung mehr in Gesetzestexten finden. Dies umso mehr, als Gesetzestexte zur Bewusstseinsbildung beitragen können und eine gewisse
Vorbildfunktion haben sollten. Die Vorbildfunktion
rechtlicher Texte wird in jedem Fall dann relevant, wenn
es um menschenrechtliche Anliegen geht wie die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus.“
Dennoch werden wir als SPD-Bundestagsfraktion
dem Antrag der Linksfraktion nicht zustimmen; wir werden uns enthalten.
Die von den Linken vorgeschlagene Formulierung
„ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ anstatt
des Begriffs Rasse ist unbefriedigend, weil sie den
Schutzbereich der Norm einengt.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion folgen der Argumentation des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Deshalb befürworten wir die Formulierung „rassistische Diskriminierung“. Mit dieser Begrifflichkeit in der
deutschen Verfassung würden wir uns klar und deutlich
von jeglicher Art Rassismus distanzieren.
Der Antrag der Linken wird heute keine Mehrheit erhalten. Damit ist das Thema für uns aber nicht erledigt.
Wir werden versuchen, eine mehrheitsfähige Lösung
herbeizuführen, um den Begriff Rasse aus der deutschen
Rechtsordnung zu streichen.
Es ist eine absurde Paradoxie, dass gerade Gesetze
und Texte gegen Rassismus den Begriff Rasse immer
noch benutzen. Das führt zu seltsam anmutenden stilistiZu Protokoll gegebene Reden
schen Verrenkungen. So heißt es in der EU-Richtlinie
zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft
({0}): „Die Europäische Union weist
Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die
Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ … impliziert nicht die
Akzeptanz solcher Theorien.“ Aber warum verwendet
man den Begriff, wenn man sich gleichzeitig dafür rechtfertigen und die weitere Verwendung begründen muss?
In der deutschen Übersetzung der Allgemeinen
Erklärung über Bioethik und Menschenrechte der
UNESCO-Generalkonferenz von 2005 heißt es: „Die
Übersetzung dieser Erklärung wurde leicht angepasst
im Hinblick auf den Begriff ‚Rasse‘, der in Anführungszeichen gesetzt wurde. Dieser veraltete Sprachgebrauch
suggeriert fälschlich die tatsächliche Existenz verschiedener menschlicher Rassen, was nach einhelliger wissenschaftlicher Überzeugung und gemäß vieler Veröffentlichungen der UNESCO nicht zutrifft.“ Auch hier
scheint sich der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes,
vom dem die Übersetzung stammt, nicht ganz wohl mit
den Begrifflichkeiten gefühlt zu haben.
In vielen wissenschaftlichen Texten wird der Begriff
Rasse in Anführungszeichen gesetzt oder sehen die Verfasser sich gezwungen, eine ergänzende und klarstellende Fußnote einzufügen.
Der Begriff Rasse ist nicht neu und wird auch in den
Rechtsordnungen anderer Länder angewendet. In
Deutschland ist der Begriff aber extrem historisch belastet. So wird der Begriff in Deutschland in Wissenschaft und Rechtsprechung sehr reflektiert benutzt.
Trotzdem müssen Gerichte und Parlamente immer wieder herausstellen, dass sie das Konzept der „Rasse“
selbstverständlich ablehnen, auch wenn sie den Terminus verwenden. Das zeugt von Sensibilität, aber auch
von einem Unbehagen. Zu Recht, denn der Begriff der
Rasse ist von Biologie und Anthropologie als wissenschaftliches Konzept desavouiert. Allein rassistische
Theorien gehen von der Annahme aus, dass es unterschiedliche menschliche Rassen gebe. Durch die Verwendung des Begriffs wird die Vorstellung von der Existenz menschlicher Rassen am Leben gehalten. Heiner
Bielefeldt, ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts
für Menschenrechte, hat deshalb zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff Rasse nicht „unschuldig“ verwendet werden kann.
Der Ausarbeitung des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz lagen laut der Kommentarliteratur zum Grundgesetz im
Wesentlichen die Zielvorstellungen der Vergangenheitsbewältigung des Rassismus und die Vermeidung seiner
Wiederholung zugrunde. Die Akten des Parlamentarischen Rates lassen nicht erkennen, dass der Begriff der
Rasse bei Einführung des Grundgesetzes und des Art. 3
Abs. 3 Grundgesetz problematisiert wurde. Ob bei Beratungen des Parlamentarischen Rates Alternativbegriffe
diskutiert wurden, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Die
Formulierung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz
wurde aus der badischen Verfassung übernommen.
Doch diese Formulierung in der Verfassung führt zu
einem eklatanten Widerspruch. Nach der augenblicklichen Lage müssen Opfer im Falle rassistischer Diskriminierung geltend machen, aufgrund ihrer „Rasse“
diskriminiert worden zu sein. Sie müssen sich gewissermaßen selbst einer vermeintlichen „Rasse“ zuordnen
und werden so gezwungen, selbst rassistische Terminologie und rassistisches Gedankengut verwenden zu müssen.
Die UNESCO hat sich schon 1995 in einer Erklärung
gegen den Rasse-Begriff gewendet, ebenso das Europäische Parlament im Jahre 1997, und auch das Deutsche
Institut für Menschenrechte empfiehlt, den Begriff aus
deutschen Rechtstexten zu entfernen. Andere staatliche
Institutionen wie die Antidiskriminierungsstelle des
Bundes verwenden den Begriff bereits nicht mehr.
Gesetzestexte tragen auch zur Bewusstseinsbildung
bei und sollten eine Vorbildfunktion haben. Dass dies
auch möglich ist, zeigen bereits mehrere europäische
Länder wie Schweden, Finnland und Österreich, die alternative Begrifflichkeiten nutzen.
Die finnische Verfassung sieht zum Beispiel den Begriff Herkunft statt Rasse vor. Im schwedischen Gesetz
zur Umsetzung der Richtlinie 2000/43/EG wird auf „ethnische Zugehörigkeit“ Bezug genommen. Der Begriff
der Rasse findet auch hier keine Verwendung. In Frankreich ist in unterschiedlichen Rechtsvorschriften von der
vermuteten Rasse die Rede. Im Gegensatz zur Richtlinie
2000/43/EG verzichtet das österreichische Gesetz auch
ganz auf den Begriff. Noch mehr Details können der
Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages „Zur Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ auf europäischer und nationaler Ebene“ entnommen werden,
die ich angesichts der Bedeutung, die wir dem Thema
beimessen, in Auftrag gegeben hatte.
Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag vorgelegt, in
dem sie den Begriff aus dem Grundgesetz und anderen
Gesetzestexten streichen will. Dieser Intention ist aus
den genannten Gründen grundsätzlich zuzustimmen.
Deshalb lehnt meine Fraktion den Antrag auch nicht ab.
Es sprechen aber zwei Gründe gegen eine Zustimmung
zu diesem Antrag. Zum einen fordert der Antrag, dass
sich Deutschland auf internationaler Ebene dafür einsetzen soll, dass der Begriff Rasse keine Aufnahme in
Dokumente mehr findet und schrittweise entfernt wird.
Das ist zwar richtig. Aber erst sollte Deutschland mit
gutem Beispiel vorangehen und die eigene Rechtsordnung sprachlich modernisieren. Zum anderen - und das
ist der entscheidendere Grund - ist der alternative Formulierungsvorschlag juristisch so nicht annehmbar. Der
Antrag fordert, den Begriff Rasse durch „ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Die „soziale Herkunft“ wird im Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3
Grundgesetz aber schon durch das Merkmal „Herkunft“
abgedeckt, so wie „territoriale Herkunft“ durch „Heimat“ abgedeckt ist. Eine doppelte Erwähnung ist überflüssig und führt zu Abgrenzungsschwierigkeiten.
Fraglich bleibt außerdem, ob „ethnische Herkunft“
den Begriff Rasse juristisch und sprachlich ersetzen
kann. Dadurch könnte der Schutzbereich verengt werZu Protokoll gegebene Reden
den. Benachteiligungen, die an die tatsächliche oder
vermeintliche Ethnie einer Person anknüpfen, sind nach
derzeitiger Auffassung in einigen Kommentaren nur ein
Teilaspekt des Diskriminierungstatbestandes „Rasse“.
Aus sprachlicher Sicht stellt sich zudem die Frage, ob
man einen Begriff nicht durch einen ähnlichen Begriff
wieder ersetzt.
Zu überdenken ist - so wie es das Deutsche Institut
für Menschenrechte vorschlägt -, grundsätzlich von
„rassistischer Diskriminierung“ zu sprechen. Dadurch
wird verdeutlicht, dass es keine Rassen gibt, sondern
diese rassenideologische Vorstellung nur von außen verbreitet wird. Für Art. 3 Grundgesetz Abs. 3 Grundgesetz
schlägt das Institut für Menschenrechte konkret vor:
„Niemand darf rassistisch oder wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner
Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen
oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Dieser Vorschlag ist eine denkbare
Lösung. Es gilt in jedem Fall, eine Regelung zu finden,
die den sachlichen Gehalt des Grundrechts nicht einengt.
Doch über Detailformulierungen brauchen wir heute
nicht beraten, denn die Koalition scheint das Grundanliegen des Antrags nicht zu tragen, was ich bedauere.
Schon im Dezember 2010 stellte sich bei der Umsetzung
des Rahmenbeschlusses zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Frage, ob und wie
die Begriffe Rasse bzw. rassisch in § 130 StGB aufgenommen werden sollte. CDU/CSU und FDP hatten unseren Wunsch abgelehnt, für eine Klarstellung im Gesetz
zu sorgen, zumindest den Begriff Rasse in weiteren Beratungen kritisch zu hinterfragen und nach Alternativen
zu suchen, was bedauerlicherweise zurückgewiesen
wurde.
In meiner Position als Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion für Menschenrechte unterstütze ich die Forderung, den Begriff Rasse aus den deutschen Rechtstexten sukzessive zu streichen, letztlich auch aus dem
Kontext unseres Grundgesetzes. Dabei ist darauf zu achten, dass eine Alternativformulierung keine Verschlimmbesserung darstellt. Aus diesem Grunde kann ich mich
deshalb nur enthalten. Ich würde aber jeden Vorstoß zur
Suche einer gemeinsamen interfraktionellen Lösung begrüßen.
Ihrem Antrag, die Formulierung Rasse aus Gesetzesund Dokumentationstexten zu streichen, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen der Linken, können wir Liberale nicht zustimmen.
Wir müssen uns klarmachen, dass es bei der Debatte
um ein Wort geht. Und ein Wort selber kann nicht verwerflich sein, sondern lediglich die Bedeutung, die wir
diesem Wort beimessen.
Der Begriff Rasse muss nicht zwangsläufig negativ
sein. Erforscht man den Begriff näher, so stößt man beim
Ursprung des Wortes Rasse darauf, dass es vom lateinischen Wort radix - Wurzel - abstammt. Übersetzt man
nun den Begriff in diesem Sinne, so kann man die Verwendung der Formulierung auch so verstehen, dass der
Verwender „stolz auf seine Wurzeln“ ist. Der Begriff ist
zunächst wertneutral und erhielt in der Geschichte
durch missbräuchliche Verwendung den zwielichtigen
Beigeschmack.
Für die FDP-Fraktion möchte ich in aller Deutlichkeit festhalten, dass wir uns mit großer Entschlossenheit
gegen jede Form von Diskriminierung, Intoleranz und
Ausgrenzung in unserer Gesellschaft wenden.
Genau das will auch unsere Rechtsordnung. Damit
unser Recht das ausdrücken kann, muss man dem Gegenstand einen Begriff geben. Wir vertreiben das Böse
nicht aus der Welt, indem wir unsere Sprache der Möglichkeit berauben, es auszudrücken und beim Namen zu
nennen.
Wollte man nun den Begriff in Dokumentartexten,
Rechtstexten und sogar im Grundgesetz ändern, müssten
wir dabei das Telos betrachten, mit dem dieser Begriff in
das Grundgesetz aufgenommen wurde. Die geistigen
Schöpfer des Grundgesetzes haben, aufgrund der negativen Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus,
ganz bewusst die Gleichheit der Rassen und das Verbot
der Rassendiskriminierung in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz
formuliert und fixiert. Damit wurde der Begriff Rasse
positiv hervorgerufen und besonders gedeutet. Dem
Art. 3 des Grundgesetzes ist nicht ansatzweise eine Akzeptanz von Rassekonzeptionen zu entnehmen. Die Vorschrift unterstellt nicht, dass es Rassen gebe, sondern
verbietet, Menschen aufgrund einer etwa behaupteten
Rasse zu benachteiligen oder zu bevorzugen.
Auch eine Änderung der Formulierung von § 1 des
AGG ist nicht gerechtfertigt. Der Begriff Rasse im AGG
ist von der Antirassismusrichtlinie ({0}) vorgegeben, deren Umsetzung das AGG unter anderem dient.
Im Rahmen der Verhandlungen zu dieser Richtlinie
wurde die Frage der Formulierung, die auch wir heute
debattieren, von den Mitgliedstaaten eingehend diskutiert. Dabei kam man überein, an dem Begriff Rasse festzuhalten, weil dieser den sprachlichen Anknüpfungspunkt zu dem Begriff Rassismus bildet. Dies hat
Signalwirkung. Und diese Signalwirkung soll zur konsequenten Bekämpfung rassistischer Tendenzen genutzt
werden.
Vielleicht ist die Verwendung des Begriffs Rasse nicht
mehr wissenschaftlich zu begründen; jedoch sollte diese
positive Entwicklung des Begriffs weitergetragen werden. Der Antrag von Ihnen, meine Damen und Herren
der Linken, würde diesen besonderen Schutz schmälern.
Er zielt politisch nur darauf ab, Aufmerksamkeit zu erregen.
Gerade wir Freien Demokraten sind der Freiheit und
dem Schutz des Grundgesetzes besonders verpflichtet
und lehnen Ihren Antrag deswegen ab. Wichtiger, als
über Formulierungen zu streiten, wäre es, über konkrete
Verbesserungsmöglichkeiten, Aktionen und Hilfen für
Opfer von Rassismus zu sprechen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Versuche, Menschen in Rassen zu unterscheiden,
gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhundert unterteilte der Philosoph Christoph Meiners die
Menschheit in die schöne weiße und die hässliche
dunkle Rasse.
Der biologisch-wissenschaftliche Begriff Rasse
jedoch ist ein rechtes Kind des 19. Jahrhunderts. Er ist
das Geistesprodukt der Sozialstatistik, Phrenologie,
Physiognomik, Anthropologie und später der Eugenik allesamt modische oder auch zum Teil Pseudowissenschaften dieser Zeit.
Der Begriff Rasse - angewendet auf Menschen - beinhaltet die Idee, dass diese sich nach optischen Kriterien wie Hautfarbe, Knochen, Winkel, Größen, später
Gene, biologisch in Gruppen klassifizieren lassen. Eine
der Hauptstützen moderner Rassentheorien wurde das
Konzept des Sozialdarwinismus.
Aus der Klassifizierung folgte die Hierarchisierung,
und von da waren es nur noch kleine Schritte hin zur
Diskriminierung, Misshandlung, zur Sanktionierung von
Vernichtungsfeldzügen gegen Menschen, die anders
aussehen, sprechen, eine andere Kultur haben, andere
Sitten pflegen.
Lange bevor das Hitler-Regime die Macht übernahm,
hatten zahlreiche Rassefanatiker Thesen propagiert, die
auf Völkermord abzielten. Aber erst die Nationalsozialisten setzten die Übermenschfantasien, die Rassetheorien, die sozialdarwinistischen Leitvorstellungen und
den immer stärker gewordenen Rassismus, der sich mit
dem Antisemitismus verband, in eine unvergleichlich
grausame Praxis um.
Vor dem Hintergrund dieser Geschichte und in Kenntnis dessen, dass der Begriff Rasse - bezogen auf
Menschen - längst wissenschaftlich widerlegt, historisch überholt und ideologisch extrem belastet ist, gehe
ich davon aus, dass unser Antrag, diesen Begriff aus der
Rechtsordnung und allen internationalen Dokumenten
zu streichen, die Zustimmung aller Bundestagsabgeordneten finden wird.
Wir beziehen uns mit diesem Antrag auf die Antirassismusrichtlinie 2000/43 EG und darauf, dass auf Initiative der UNESCO bereits 1995 eine Erklärung beschlossen wurde, sich ganz vom Rassebegriff zu
verabschieden. Andere Staaten sind der damit verbundenen Aufforderung, auf die Verwendung des Begriffs
Rasse zu verzichten, längst nachgekommen.
In Deutschland steht er noch immer in vielen Gesetzestexten, zum Beispiel im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 3
Satz 1, wo es heißt: „Niemand darf wegen seines
Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner
Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens,
seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Es ist nicht zeitgemäß, nicht angemessen und zugleich beschämend, dass wir in unserer Verfassung weiterhin vom Vorhandensein verschiedener menschlicher
Rassen ausgehen. Sprache ist verräterisch, im Schlechten wie im Guten. Wir stehen in der Pflicht, im geschriebenen und gesprochenen Wort zu verraten, dass wir die
richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen haben.
Der Vorschlag meiner Fraktion lautet, den Begriff
Rasse durch die Formulierung „ethnische, soziale und
territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Die ist zwar länger
als ein Wort, aber so viel Zeit muss und sollte ab jetzt immer sein.
Der Blut- und Rassenwahn der Nationalsozialisten
war ideologische Grundlage der Euthanasie, der Vernichtung der Sinti und Roma und des ungeheuerlichen
Menschheitsverbrechens der Auslöschung des europäischen Judentums im Holocaust. Millionen von Menschen sind, zum Teil nach unbeschreiblichen Qualen,
wegen dieses Wahns ermordet worden.
Die Blut- und Rassenlehre der nationalsozialistischen Bewegung, die nach 1933 als Rassegesetzgebung
in das deutsche Recht integriert wurde, basiert auf zwei
Behauptungen. Erstens soll die äußerliche Unterschiedlichkeit von Menschen nach Hautfarbe und Gesichtsausdruck unter anderem auf sogenannten verschiedenen
Rassen von Menschen beruhen, und zweitens soll es eine
wesensmäßige, qualitative Unterschiedlichkeit dieser
sogenannten Rassen geben.
Der Antrag der Linken führt richtig aus, dass solche
Pseudotheorien wissenschaftlich widerlegt sind.
Gibt es angesichts dieser ungeheuerlichen geschichtlichen Belastung und unzweifelhaften wissenschaftlichen Widerlegung noch Gründe, im Alltag und in der
Umgangssprache am Gebrauch des Wortes Rasse im Bezug auf Menschen festzuhalten? Ich meine nicht. Es ist
viel mehr als nur ein Ausdruck einer „political correctness“, wenn wir alle auch in unserer Kommunikation
zum Ausdruck bringen, dass die Einteilung von Menschen nach Rassen falsch ist und bei uns der Vergangenheit angehört. Nicht umsonst forderte die UNESCO bereits 1950, in der Umgangssprache das Wort Rasse im
Bezug auf Menschen nicht mehr zu verwenden.
Allerdings, bis heute und auch noch in der Zukunft,
gibt es - nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt Menschen, die dem Rassenwahn anhängen und diesen
auch aggressiv und kämpferisch propagieren. Gegen
diese Menschen und ihr menschenverachtendes Treiben
hilft es nichts, selbst auf den Gebrauch des Wortes Rasse
konsequent zu verzichten und es durch andere Begriffe
wie zum Beispiel ethnische Herkunft zu ersetzen.
Schauen wir uns an, wo und in welchem Zusammenhang in völkerrechtlichen Verträgen, im europäischen
Recht und auch in unserer Rechtsordnung der Begriff
der Rasse verwendet wird.
Die Charta der Vereinten Nationen verpflichtet alle
Mitglieder „auf den Grundsatz der allgemeinen Achtung
der Menschenrechte für alle ohne Unterschied der
Rasse“. Die Erklärung der Menschenrechte der UNO
proklamiert die „Gleichheit aller Menschen ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse“. Die ErkläZu Protokoll gegebene Reden
rung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1960
verurteilt den Kolonialismus und alle damit verbundenen Praktiken der Rassentrennung, und in der Erklärung
der VN vom 20. November 1963 wird „die Beseitigung
jeder Form von Rassendiskriminierung“ gefordert.
Die europäischen Verträge wenden sich ausdrücklich
„gegen jegliche Diskriminierung aus Gründen der
Rasse“ und die Charta der Grundrechte „gegen Diskriminierungen wegen der Rasse“.
Das Grundgesetz erklärt unmissverständlich: „Niemand darf wegen … seiner Rasse … benachteiligt oder
bevorzugt werden.“
Allen diesen Festlegungen liegt zugrunde, dass sie
nicht affirmativ den Begriff der Rasse als richtig und
vorgegeben übernehmen, sondern alle verurteilen und
geißeln die unterschiedliche und damit diskriminierende
Behandlung von Menschen, die mit der Begründung vorgenommen wird, sie würden unterschiedlichen Rassen
angehören.
Schon im Jahre 1966 heißt es im Rassendiskriminierungsbeseitigungs-Übereinkommen, in dem übrigens
auch von zu bekämpfenden Unterscheidungen gesprochen wird, die auf der „Rasse beruhen“, unmissverständlich, dass „jede Lehre von einer auf Rassenunterschiede gegründeten Überlegenheit wissenschaftlich
falsch, moralisch verwerflich sowie sozial ungerecht
und gefährlich ist“.
Wenn wir uns gegen Rassismus - wo auch immer und
in welcher Form auch immer - wehren wollen, kommt es
darauf an, das Übel beim Namen zu nennen. Dies ist der
einzige Grund, am Gebrauch des Wortes Rasse festzuhalten. Ihn auch im Zusammenhang mit der Bekämpfung
von Rassismus tilgen und durch politisch korrekte Worte
ersetzen zu wollen, ist nicht zielführend und kann im
schlimmsten Fall von Rassisten als Signal verstanden
werden, dass ihr paranoider Rassenwahn nicht mehr geächtet und verfolgt wird.
Deshalb folgen wir auch nicht der Forderung der
Linken, den Begriff der Rasse aus allen internationalen
Dokumenten zu entfernen, ganz abgesehen von der völligen Unmöglichkeit der Durchsetzung solcher Forderungen.
Erkennbar basiert der Antrag der Linken auf zwei
Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Im Gegensatz zu dem Antrag der Linken
heißt es jedoch in diesen Veröffentlichungen ausdrücklich, dass „es nicht ausreichend erscheint, den Begriff
der Rasse einfach wegzulassen und allein auf andere Begriffe wie ‚ethnische Herkunft‘ oder ‚soziale Zugehörigkeit‘ abzustellen“.
Auch der Verweis der Linken auf die Deklaration von
Schlaining gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung aus dem Jahr 1995 ist verfehlt. Sie fordert die Abkehr vom „veralteten ‚Rassen‘-Konzept“ und seine Ersetzung „durch Anschauungen und Schlussfolgerungen
auf der Grundlage des heutigen Verständnisses genetischer Vielfalt in ihrer Anwendung auf die menschliche
Bevölkerung.“ Dies ist etwas anderes als die Forderung,
auf den Begriff Rasse beim Kampf und der Ächtung des
Rassismus und von Rassisten zu verzichten.
So gut gemeint der Ansatz der Linken ist, sich von jeglicher Rassenideologie im Bezug auf Menschen zu verabschieden und in Zukunft nicht mehr von Rassen im Bezug
auf Menschen zu sprechen, so falsch und kontraproduktiv scheint uns der Ansatz, in allen Völkerrechtsverträgen, im europäischen Recht und im Grundgesetz das
Wort Rasse zu streichen und durch „ethnische, soziale
und territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Damit nehmen
wir diejenigen, die von Rassen reden und rassisch diskriminieren, aus dem Fokus und ermuntern Rassisten, ihr
Unwesen weiter zu treiben. Einem solchen Antrag werden wir nicht zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4036. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit, Wirksamkeit und gesundheitlichen Nutzen von Medizinprodukten besser
gewährleisten
- Drucksache 17/8920 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dietrich
Monstadt, Dr. Marlies Volkmer, Jens Ackermann, Kathrin
Vogler und Dr. Harald Terpe.
Wir debattieren heute einen Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen, der Mängel des bestehenden Zulassungsund Überwachungsverfahrens kritisiert und Konsequenzen aus dem Skandal um die Brustimplantate des französischen Herstellers PIP vorschlägt. Der Antrag beruft
sich dabei auch auf die Häufigkeit von Revisionsoperationen bei Endoprothesen. Des Weiteren fordert der
Antrag, eine frühe Nutzenbewertung bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im SGB V einzuführen, als Voraussetzung der Erstattungsfähigkeit.
In der Tat gehört es zur Verantwortung des Gesetzgebers, zu prüfen, wo sich in dem Geschehen Mängel des
geltenden Medizinprodukterechts erkennen lassen und
welche Verbesserungsansätze sich daraus ableiten lassen. Unser gemeinsames Ziel muss sein, ähnlichen Fäl20016
len in der Zukunft möglichst vorzubeugen oder diese wenigstens rascher aufzudecken, um die Gefährdung und
Schädigung weiterer Menschen zu verhindern.
Bevor wir Lösungsvorschläge diskutieren, müssen
wir uns die Fakten und die Rechtslage ins Bewusstsein
rufen.
Medizinprodukte werden, je nach Zweckbestimmung
der Produkte und dem Gefährdungspotenzial für den
Patienten, den vier Risikoklassen I, IIa, IIb oder III zugeordnet. Brustimplantate und Endoprothesen, die in
den Körper des Patienten implantiert werden, gehören
zur Klasse III. Sie sind sogenannte Hochrisikoprodukte,
für die ein höchstmögliches Sicherheitsniveau erforderlich ist.
Medizinprodukte unterliegen in der Europäischen
Union keinem behördlichen Zulassungsverfahren, sondern erlangen ihre Verkehrsfähigkeit nach den Regeln
des „new approach“. Bei Medizinprodukten der höchsten Risikoklasse III führt der Hersteller unter Einbeziehung einer Benannten Stelle eine Konformitätsbewertung durch. Die Benannte Stelle wiederum ist von dem
EU-Mitgliedstaat, in dem sie ansässig ist, akkreditiert.
Das geltende regulatorische System für Medizinprodukte hat sich aus meiner Sicht grundsätzlich bewährt.
Skandale mit Medizinprodukten der Klasse III zeigen
jedoch, dass dieser Ansatz, der auf Verantwortungsbewusstsein und Vertrauenswürdigkeit der Hersteller
basiert, nicht geeignet ist, unseriöse oder kriminelle
Praktiken rechtzeitig aufzudecken. Dies gibt Anlass, das
vorhandene Instrumentarium auf nationaler und europäischer Ebene daraufhin zu prüfen, wie kriminellem
Handeln Einzelner besser vorgebeugt bzw. wie solches
Handeln durch Überwachung möglichst rasch aufgedeckt werden kann.
Beim PIP-Skandal ist Kern des Geschehens ein bislang ungekanntes Maß an krimineller Energie aufseiten
der Herstellerfirma. Der Hersteller PIP hat mit erheblicher krimineller Energie etwa 75 Prozent seiner Produktion mit einem nicht der CE-Zertifizierung des Originalproduktes entsprechenden Material vermarktet. Der
Benannten Stelle TÜV Rheinland wurden bei Audits die
einwandfreien 25 Prozent der Produktion vorgeführt.
Unbestritten ist, dass der französische Hersteller sich
vorsätzlich kriminell verhalten und in Betrugsabsicht
gegen Gesetze und andere Vorschriften verstoßen hat.
Vor diesem Hintergrund ist zu klären, welche Bedeutung das kriminelle Handeln von PIP hinsichtlich der
Regelung des Inverkehrbringens von Produkten der
Klasse III hat.
Eine andere Regelung des Marktzugangs - etwa das
im vorliegenden Antrag geforderte behördliche Zulassungsverfahren anstelle des seit 25 Jahren praktizierten
„new approach“ - hätte dieses vorsätzliche kriminelle
Verhalten nicht mit Sicherheit verhindert. Denn auch einer Zulassungsbehörde hätte der Hersteller eine gefälschte Dokumentation und eine unbedenkliche Probe
vorlegen können, so wie er es gegenüber dem TÜV
Rheinland getan hat. Die Problematik liegt daher nicht
in den Voraussetzungen für das erstmalige Inverkehrbringen, sondern in der Kontrolle der laufenden Produktion und der Überwachung der Anwendung.
Der TÜV Rheinland als Benannte Stelle sowie deutsche und französische Behörden haben sich im Konformitätsbewertungsverfahren bzw. bei der Überwachung,
soweit ich es übersehen kann, korrekt verhalten.
Nach der Information durch die französische Behörde
hat das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte dem jeweiligen Informationsstand entsprechend gehandelt. Die gegenwärtige Empfehlung des
BfArM lautet, Implantate des Herstellers PIP in jedem
Fall entfernen zu lassen.
Natürlich wird jetzt die Frage gestellt, ob man das
Gefährdungspotenzial der betroffenen Brustimplantate
nicht früher hätte erkennen können.
Die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung
({0}) verpflichtet unter anderem Händler, Ärzte und
Krankenhäuser, die „Medizinprodukte beruflich oder
gewerblich betreiben oder anwenden“, zur Meldung von
„Vorkommnissen“. Die Definition eines „Vorkommnisses“ steht in § 2 Nr. 1 MPSV: Danach ist „‚Vorkommnis‘
eine Funktionsstörung, ein Ausfall oder eine Änderung der
Merkmale oder der Leistung oder eine Unsachgemäßheit
der Kennzeichnung oder der Gebrauchsanweisung eines
Medizinprodukts, die unmittelbar oder mittelbar zum Tod
oder zu einer schwerwiegenden Verschlechterung des
Gesundheitszustands eines Patienten, eines Anwenders
oder einer anderen Person geführt hat, geführt haben
könnte oder führen könnte“.
Die Ruptur eines Brustimplantats, das Auslaufen bzw.
Ausschwitzen des Silikongels und gesundheitliche Folgen wie die Bildung schmerzhafter Lymphknoten, die
eine operative Entfernung der Implantate erforderlich
machen, genügen der Definition eines „Vorkommnisses“. Sie müssen daher entsprechend den Regelungen
der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung gemeldet werden.
Legt man die Schätzung von 7 500 in Deutschland mit
PIP-Implantaten versorgten Frauen zugrunde, wie dies
auch der vorliegende Antrag annimmt, so hätten 75 Prozent von ihnen - das sind 5 625 Frauen - ein Implantat
mit dem nicht der CE-Zertifizierung entsprechenden Silikongel erhalten.
In Frankreich waren laut BfArM mehr als 1 000 Fälle
von gerissenen PIP-Brustimplantaten gemeldet worden;
die Gesamtzahl von Patientinnen mit PIP-Brustimplantaten liegt dort bei 30 000. Rechnet man dieses Verhältnis von Meldungen zu Implantaten auf die deutsche Zahl
der PIP-Implantate um, so wären 250 gemeldete Rupturen zu erwarten.
Dennoch wurden in Deutschland bis zum 22. Dezember 2011, über 14 Jahre nach dem erstmaligen Inverkehrbringen der PIP-Implantate, nur insgesamt 19 Fälle
von Rupturen gemeldet, was auf ein hohes Meldedefizit
hindeutet. Die Verringerung dieses Meldedefizites dient
dem Schutz von Patienten und gegebenenfalls AnwenZu Protokoll gegebene Reden
dern, da die Bundesoberbehörde frühere und konkretere
Produktwarnungen aussprechen kann.
So hätte ein pflichtgemäßes Meldeverhalten bereits
der ersten Vorkommnisse die Behörden zum Handeln
veranlassen können. Die Verwendung der gefährlichen
Implantate hätte schon vor Jahren eingestellt werden
können. Ein pflichtgemäßes Meldeverhalten hätte verhindern können, dass weiterhin über viele Jahre hinweg
weitere Tausende Frauen mit PIP-Implantaten versorgt
und damit hohen Gesundheitsrisiken sowie jetzt der Explantation ausgesetzt wurden.
Die tatsächliche Erfüllung der in der MPSV verankerten Meldepflicht dient der Sicherheit und dem
Gesundheitsschutz der Allgemeinheit. Daher ist zur
effektiveren Durchsetzung der Meldepflichten die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung um eine Bußgeldvorschrift zu ergänzen, die sich an der entsprechenden Vorschrift der GCP-Verordnung orientieren sollte.
Gegen eine solche Sanktion zur Absicherung der Meldepflicht werden immer wieder Einwände vorgebracht.
So dürfe etwa ein Arzt bei einem Vorkommnis, das entweder auf einem Produktfehler oder aber einem von ihm
zu verantwortenden Behandlungsfehler beruhen kann,
nicht durch die Sanktion zur Erfüllung seiner Meldepflicht und damit quasi zur Selbstanzeige verpflichtet
werden. Wäre dieser Einwand tragfähig, so wäre nicht
nur die Sanktion, sondern bereits die Meldepflicht selbst
abzulehnen.
Das Interesse eines Arztes, eine mögliche Strafverfolgung wegen Körperverletzung oder Tötung oder einen
Haftpflichtfall zu vermeiden, kann nicht das öffentliche
Interesse an der Sicherheit von Medizinprodukten überwiegen.
Im Übrigen würde sich gerade der Arzt, der ein Vorkommnis nicht gemeldet hat, in einem möglichen Gerichtsverfahren dem Verdacht aussetzen, die Erfüllung
seiner Meldepflicht zur Verdeckung eines Behandlungsfehlers unterlassen zu haben.
Zwei weitere Einwände gegen eine Sanktionsbewehrung der Meldepflicht sind, dass aus Angst Meldungen
vollkommen unterbleiben bzw. dass es zu einer Flut von
Bagatellmeldungen kommt. Beide Befürchtungen teile
ich nicht.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Überwachung
durch die zuständigen Landesbehörden, die eben nicht erst
dann tätig werden sollen, wenn bereits zahlreiche Menschen gesundheitlich geschädigt worden sind. Von daher
ist es richtig und begrüßenswert, dass nach der neuen, im
Dezember vom Bundeskabinett verabschiedeten Medizinprodukte-Durchführungsvorschrift, MPGVwV, die zuständigen Behörden anlassunabhängig zu inspizieren haben.
Dabei können beispielsweise bei Herstellern, Handel
und Gesundheitseinrichtungen Stichproben von Medizinprodukten genommen werden.
Auch sollten Benannte Stellen zu unangekündigten
Fertigungsstättenkontrollen mit Stichprobenziehungen
sowohl im Fertigungsprozess als auch bereits vermarkteter Produkte verpflichtet werden. Damit dies für in der
ganzen EU verkehrsfähige Produkte Wirkung entfaltet,
bedarf es klarer Vorgaben im europäischen Recht.
Darüber hinaus wäre es sinnvoll, im europäischen
Recht stichprobenartige Kontrollen direkt vor der Anwendung bzw. der Implantation des Medizinproduktes
vorzuschreiben. Solche Kontrollen sind bei Arzneimitteln seit 1968 vorgesehen. Apotheker sind verpflichtet,
Fertigarzneimittel stichprobenweise zu überprüfen, und
das Ergebnis ist in einem Prüfprotokoll festzuhalten.
Nach geltendem europäischem Recht kann der Hersteller eines Medizinproduktes der Klasse III zwischen
zwei Konformitätsbewertungsverfahren wählen. Einerseits gibt es die EG-Baumusterprüfung nach Anhang III
der MDD, wobei die Benannte Stelle die Produktdokumentation prüft und auch am Produkt selbst Prüfungen
durchführt.
Im Gegensatz dazu wird bei der EG-Konformitätserklärung nach Anhang II der MDD das Produkt von der
Benannten Stelle nur anhand des vom Hersteller eingereichten Dossiers bewertet. Zusätzlich erfolgt eine regelmäßige Überprüfung des Qualitätssicherungssystems
des Herstellers durch die Benannte Stelle. Wichtig ist,
dass bei der Konformitätserklärung das Produkt selbst
von der Benannten Stelle nicht geprüft wird. Im Interesse
der Sicherheit von Patienten und der Vertrauenswürdigkeit europäischer Medizinprodukte sollte jedoch die
Baumusterprüfung für die Klasse III obligatorisch werden. Dafür ist eine Änderung des europäischen Rechts
erforderlich.
Schließlich erscheint es unerlässlich, dass nicht nur
die Benannten Stellen zur Meldung von Vorkommnissen
an die zuständigen Behörden verpflichtet sind, sondern
auch umgekehrt die Benannten Stellen von den Behörden unterrichtet werden, falls eines der von ihnen bewerteten Produkte auffällig wird.
Die Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU/CSU hat im
Januar in Brüssel mit den Kollegen im Europäischen
Parlament und mit Kommissar Dalli über sinnvolle
Verbesserungen des Medizinprodukterechts beraten.
Schriftlich haben wir gegenüber Kommissar Dalli nochmals insbesondere auf die anwendungsnahe Stichprobennahme abgehoben.
In seiner Antwort hat sich Kommissar Dalli für Stichproben und unangekündigte Audits der Benannten
Stellen ausgesprochen. Für die Überarbeitung der europäischen Richtlinien kündigt er die Stärkung der Marktüberwachung durch die zuständigen nationalen Behörden und ein europäisches Referenzlabor zur Testung von
IVF-Diagnostika und Hochrisikoprodukten an.
Ich habe einige Ansätze vorgestellt, die geeignet sind,
ähnlichen Fällen wie dem PIP-Skandal in der Zukunft so
weit wie möglich vorzubeugen. Wir werden in der christlich-liberalen Koalition und in Zusammenarbeit mit unseren Partnern auf EU-Ebene die geeigneten Umsetzungswege sorgfältig prüfen.
Der heute vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen ist von anderer Qualität als der im Februar eingebrachte Antrag der Linken. Über einige Vorschläge
Zu Protokoll gegebene Reden
kann man in eine ernsthafte Diskussion einsteigen, beispielsweise über den Aufbau von Registern. Anderen im
vorliegenden Antrag erhobenen Forderungen, wie etwa
dem behördlichen Zulassungsverfahren, kann ich mich
nicht anschließen. Aber ich anerkenne, dass die Autoren
sich bemüht haben, Schlüsse aus dem Geschehen zu ziehen und Vorschläge zu erarbeiten, die man diskutieren
kann.
Es wird in naher Zukunft eine Sachverständigenanhörung zu dem Antrag der Linken stattfinden, der sich allerdings darauf beschränkt, die Kostenbeteiligung von
Patienten bei Folgeerkrankungen medizinisch nichtindizierter Schönheitsoperationen abzuschaffen. Dem Plenarprotokoll vom 9. Februar kann man entnehmen, dass
alle anderen Fraktionen die Auffassung teilen, als einzige Konsequenz aus dem PIP-Skandal sei dies völlig
ungenügend.
Wir sollten daher die Zeit sinnvoller nutzen und die
geplante Anhörung zu den tatsächlich relevanten Fragen des Medizinprodukterechts nach dem PIP-Skandal
durchführen. Die christlich-liberale Koalition ist zu einer offenen, am Ziel der Patientensicherheit orientierten
Debatte bereit.
Aktuell befinden sich etwa 400 000 Medizinprodukte
auf dem Markt, jährlich gelangt eine vierstellige Anzahl
dazu. Das potenzielle Gesundheitsrisiko einiger dieser
Produkte ist mit dem von Arzneimitteln durchaus vergleichbar. Trotzdem gelten selbst für den Marktzugang
von Medizinprodukten hoher Risikoklassen bislang andere Anforderungen als für Medikamente. Sie werden als
technische Güter betrachtet und nicht als medizinische,
daher wird ein CE-Siegel als ausreichend betrachtet.
Mit dem Kennzeichnen erklärt der Hersteller, dass sein
Produkt den geltenden Anforderungen genügt. Dafür hat
er in einem sogenannten Konformitätsverfahren einer
Benannten Stelle gegenüber nachgewiesen, dass die
grundlegenden Anforderungen des Medizinproduktegesetzes eingehalten werden, dass das Medizinprodukt
sicher ist und dass es die ihm zugeschriebenen medizinischen Leistungen erbringt.
Ein Großteil der Medizinprodukte fällt in eine niedrige Risikoklasse. Das sind etwa Spatel, Rollstühle, Verbände und Ähnliches. Bei diesen Produkten funktioniert
das aktuell praktizierte Verfahren.
Bei Medizinprodukten höherer Risikoklassen wie
Stents, Herzschrittmacher und Endoprothesen ist zwar
eine klinische Bewertung Pflicht, diese liefert aber meistens keine Informationen darüber, wie sich Medizinprodukte im menschlichen Körper verhalten. Das haben wir
zuletzt bei den Metall-auf-Metall-Hüftprothesen gesehen, die im Körper giftige Metall-Ionen freisetzen, welche das Krebsrisiko erhöhen und Leber, Milz und Nieren
belasten.
In Zusammenhang mit den betrügerischen Handlungen eines französischen Unternehmens werden zurzeit
Änderungen des Medizinprodukterechts verstärkt diskutiert, die schwarz-gelbe Regierung ist jedoch bislang untätig geblieben. Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel
der Überarbeitung der Medizinprodukte-Durchführungsvorschrift. Diese wurde mit der letzten Novelle des Medizinproduktegesetzes im März 2010 beschlossen, ein
Entwurf liegt seit Dezember 2011 vor, mit einer Umsetzung ist dieses Jahr nicht mehr zu rechnen. Vermutlich
können wir zum Thema Medizinprodukte in dieser Legislaturperiode von der Regierung nichts mehr erwarten.
Dieses Versagen der schwarz-gelben Koalition ist
durch nichts zu entschuldigen. Die Fragen, die wir uns
stellen müssen, sind schließlich offensichtlich: Wie können in Zukunft Betrugsversuche durch Hersteller von
Medizinprodukten unterbunden, bzw. früher aufgedeckt
werden? Welche grundsätzlichen Änderungen an den
bestehenden gesetzlichen Regelungen zur Zulassung
und Überwachung von Medizinprodukten sind notwendig, um ihre Sicherheit zu erhöhen?
Die Fraktion der Grünen hat mit dem vorliegenden
Antrag einige gute Antworten auf diese Fragen vorgelegt. Wir sehen es ebenfalls als notwendig an, dass das
Zulassungsverfahren für Medizinprodukte der hohen Risikoklassen geändert wird. Allerdings wollen wir nicht
auf die Benannten Stellen verzichten, sie verfügen über
die notwendige Ausstattung und Expertise, um Hersteller und Produkte zu überprüfen.
In anderen Punkten stimmen wir den Antragstellern
jedoch zu. Die Erstattungsfähigkeit von neuen Produkten muss sich an ihrem Nutzen für die Patientinnen und
Patienten orientieren.
Die verpflichtende Veröffentlichung aller Studienergebnisse, auch der negativen, im Deutschen Register für
Klinische Studien, ist sowohl im Arzneimittelbereich als
auch bei den Medizinprodukten längst überfällig. Der
Forderung nach einer verpflichtenden ausreichenden
Produkthaftpflichtversicherung für Hersteller von Medizinprodukten hoher Risikoklassen wird von uns ebenfalls
begrüßt. Ein verbindliches Register zur Langzeitüberwachung von implantierten Medizinprodukten und eine
bessere Umsetzung der geltenden Meldepflichten bei
Vorkommnissen im Zusammenhang mit Medizinprodukten sind auch aus unserer Sicht notwendig. Leider bleiben die letzten beiden Punkte im vorliegenden Antrag etwas unkonkret. Wir sollten uns die Gründe für unterbleibende Meldungen ansehen und prüfen, mit welchen
Maßnahmen das Meldeverhalten deutlich verbessert
werden kann.
Nun wurden von allen Seiten, auch von den Grünen,
immer wieder Maßnahmen zur strengeren Überwachung
des Herstellungsprozesses gefordert. Diese Forderung
ist richtig und Änderungen sind hier dringend notwendig. Allerdings fehlen im vorliegenden Antrag Vorschläge, wie mit bereits im Markt befindlichen Produkten umgegangen werden soll. Ich erinnere Sie an die
hohe Zahl bereits zugelassener Produkte. Hier schlummern immer noch potenzielle Risiken für die Patientinnen und Patienten. Auch kriminellen Unternehmen kann
man nur durch unangekündigte Kontrollen und Stichproben aus verkauften Produkten auf die Spur kommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein Vorschlag von Ihnen hat mich dann aber wirklich
verwundert. So sollen die Voraussetzungen geschaffen
werden, um Angaben zu implantierten Medizinprodukten auf der elektronischen Gesundheitskarte der Patientinnen und Patienten speichern zu können. Verwundert
war ich nicht über die Idee an sich, die aus meiner Sicht
durchaus vernünftig ist. Damit ließe sich langfristig auf
einen separaten Implantat-Ausweis verzichten. Im Notfall, beispielsweise bei einer Einlieferung ins Krankenhaus, wären die behandelnden Ärztinnen und Ärzte einfacher informiert.
Nein, es wundert mich, dass dieser Vorschlag von der
gleichen Fraktion kommt, die in den letzten Wochen vorrangig dadurch aufgefallen ist, dass sie die fraktionsübergreifend getroffene Lösung zur Speicherung der Organspendebereitschaft auf der elektronischen Gesundheitskarte aus Datenschutzgründen infrage stellt.
Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass sich die Regierung,
der es offensichtlich an guten Ideen mangelt, einige der
hier präsentierten Vorschläge zu Herzen nimmt.
Im letzten Monat hatte bereits die Linksfraktion versucht, mit dem Thema der fehlerhaften Brustimplantate
zu punkten. Dieser Antrag bezog sich auf die Finanzierung von Folgekosten ästhetischer Eingriffe, wie zum
Beispiel des Einbaus von Brustimplantaten. Ein Antrag,
der sehr ärgerlich war, da er sich ein Folgethema des
Skandals herauspickte, ohne auf dessen mögliche Ursachen oder Konsequenzen einzugehen.
Der von Bündnis 90/Die Grünen eingereichte Antrag
geht da schon weiter. Sie fordern eine bessere Gewährleistung der Sicherheit, Wirksamkeit und des gesundheitlichen Nutzens von Medizinprodukten. Das ist schon
mal eine löbliche Absicht. Leider merkt man jedoch
auch diesem Antrag die Folgen aktionistischer Reflexe
an. Gründlichkeit vor Schnelligkeit sollte das Prinzip
sein, wenn wir die Konsequenzen aus diesem Skandal
ziehen, und nicht umgekehrt.
Im Antrag wird ja auch auf die kriminelle Energie des
Herstellers in Frankreich hingewiesen. Aufgrund dieser
eingesetzten kriminellen Energie ist die Aufarbeitung
dieses Skandals zunächst eine Frage des Strafrechts. Ich
wünsche mir, dass die französischen Strafgerichte hier
ein Zeichen setzen, das zukünftig andere davon abhält,
aus reinem Gewinntrieb die Gesundheit von Tausenden
Menschen aufs Spiel zu setzen. Im Übrigen finden Kriminelle, die es darauf anlegen, immer einen Weg, selbst
das beste und strengste Kontrollsystem zu überlisten.
Dieser Skandal muss uns veranlassen, zu überprüfen,
was bei uns besser gemacht werden muss, um in Zukunft
die Wahrscheinlichkeit solch krimineller Handlungen zu
verringern oder diese früher aufzudecken und die Patientensicherheit insgesamt zu verbessern. Schnellschüsse aus der Hüfte, so wie seinerzeit der Antrag der
Linksfraktion oder wie heute der vorliegende Antrag der
Grünen, helfen uns da nicht weiter.
Wir dürfen zukünftig jedoch nicht zulassen, dass
durch eine Überbürokratisierung der Zulassungs- und
Kontrollverfahren medizinische Innovationen langsamer
als bisher zu den Patienten kommen. Denn wir müssen
uns vor Augen führen, dass der Primärzweck medizinischer Produkte - dazu gehören eben auch Brustimplantate - nicht die Verschönerung des Körpers ist, sondern
das Lindern menschlichen Leids und von Schmerzen.
Lassen Sie mich auf den Antrag genauer eingehen.
Der Antrag schießt über das Ziel hinaus. Bei dem Skandal waren Fragen der Sicherheit berührt. Sie stellen
aber gleich den gesundheitlichen Nutzen von Medizinprodukten und dessen Bewertung infrage und in den
Mittelpunkt der Betrachtung. Mit dem Antrag stellt der
Antragsteller aufgrund der Kriminalität eines Einzelnen
eine ganze Branche unter Generalverdacht. Die daraus
resultierenden Reflexe sind nicht im Sinne der Versorgungsqualität und Sicherheit der Patienten.
Im Antrag wird gefordert, das bestehende Zertifizierungssystem über die sogenannten benannten Stellen
durch ein rein staatliches Zulassungsverfahren zu ersetzen. Damit ziehen die Antragsteller ein weiteres Mal die
falschen Konsequenzen. Wir sind uns doch darin einig,
dass hohe kriminelle Energie im Spiel war. Warum stellen Sie dann an die Spitze des Forderungskataloges ein
neues Zulassungsverfahren? Kriminelle Energie kann
man doch eher über ein revidiertes Überwachungs- und
Kontrollverfahren bekämpfen.
Bereits heute müssen die Hersteller von Medizinprodukten der hohen Risikoklassen sehr hohe Anforderungen erfüllen: Risikoanalyse, ein umfassendes Managementsystem, wie mit diesen Risiken umgegangen wird,
klinische Prüfungen zu Sicherheit, Effektivität und Evidenz. Bereits vor über eineinhalb Jahren haben wir mit
der Verordnung zur Prüfung von Medizinprodukten einen weiteren Baustein hinzugefügt, mit dem man jedoch
auch nicht in der Lage ist, kriminelles Fehlverhalten
auszuschließen. Das System der klinischen Prüfungen
ist bei weitem nicht perfekt, aber viele Experten sagen,
dass es mit dem von Arzneimitteln qualitativ ebenbürtig
sei.
Ein strengeres und bürokratisches Zulassungsverfahren birgt ebenso wie die geforderte Einführung einer
frühen Nutzenbewertung von Medizinprodukten die Gefahr, dass innovative und hilfreiche Medizinprodukte in
Zukunft langsamer auf den Markt kommen und Leid und
Schmerzen verspätet lindern können. Bei der Weiterentwicklung unseres Zulassungs- und Kontrollsystems sollten das Kriterium der Versorgungsqualität und der Fähigkeit, Leiden zu mindern, auf einer Stufe mit dem
Kriterium der Sicherheit stehen.
Für problematisch erachtet meine Fraktion auch die
letzte Forderung des Antrages, nach der die Hersteller
implantierbarer Produkte zu umfassenden Produkthaftpflichtversicherungen oder vergleichbarer Deckungsvorsorge verpflichtet werden sollen. Die meisten verantwortungsbewussten Firmen haben doch bereits so etwas.
Oder wollen Sie den Umfang der Versicherung erhöhen?
Dann wäre es der typische Reflex der Grünen und anderer hier im Haus, die Wirtschaft möglichst stark zu belasten. Auch diese Regelung führt letztlich zu einer Einschränkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen,
Zu Protokoll gegebene Reden
da Mittel, die für zusätzliche Produkthaftpflichtversicherungen und die Deckungsvorsorge benötigt werden, in
der Forschung fehlen würden. Eine mögliche Verteuerung der Produkte müsste letztlich auch die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten bezahlen - mit
allen Konsequenzen für die Höhe des Krankenkassenbeitrags und die gesamte Leistungsfähigkeit des Systems.
Die Forderung nach einer Pflichthaftpflicht führt uns
ein weiteres Mal vor Augen, dass die Grünen den Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate nicht verstanden haben. PIP hätte eine noch so hohe Haftpflichtversicherung haben können. Diese hätte niemals gezahlt, da
es sich um Betrug, um Vorsatz handelte. Auch mit dieser
Forderung würde keine Verbesserung der Situation erreicht.
Wenn wir über mögliche Belastungen der Hersteller
sprechen, sollten wir deren wirtschaftliche, aber auch
medizinische Bedeutung nicht vergessen. Wir sprechen
hier über eine mittelständisch geprägte Branche, die
170 000 Menschen Arbeit bietet. Die qualitativ hochwertigen Produkte dieser Branche sind im Interesse der
Patientensicherheit und der medizinischen Versorgungsqualität in Deutschland, in Europa und der ganzen Welt.
Wir alle hier im Haus sind uns einig darin, dass Konsequenzen aus dem Skandal um die fehlerhaften
Brustimplantate gezogen werden müssen. Uneinig sind
wir uns darin, in welchem Umfang diese Konsequenzen
gezogen werden müssen und wo wir im System ansetzen
müssen.
Lassen Sie mich als Gegenentwurf kurz meine Gedanken zu den notwendigen Konsequenzen ausführen. Wie
bereits dargelegt, war es aus meiner Sicht vorrangig ein
Überwachungsproblem, das diesen Skandal ermöglicht
hat. Dementsprechend sollten wir zunächst hier ansetzen. Bereits heute haben die benannten Stellen die Möglichkeit, unkontrolliert die Produktionsstätten aufzusuchen - zur Kontrolle, ob das, was zertifiziert wurde, und
das, was produziert wird, einander gleichen oder voneinander abweichen. Darum sollte man vielleicht zunächst bei den benannten Stellen beginnen und diese
stärker beaufsichtigen bzw. vor ihrer Benennung strengere Maßstäbe anlegen. Vielleicht hätten wir danach
zwar in der EU weniger als die bisher 70 bis 80, aber
dafür leistungsstärkere und solche, die die Sicherheit
der Medizinprodukte besser gewährleisten könnten.
Auch die zuständigen Landesbehörden haben bereits
heute die Möglichkeit zu unangemeldeten Kontrollen.
Hier mangelt es an Koordinierung und Informationsaustausch untereinander. Vermutlich auch an der Manpower,
um alle Kontrollmöglichkeiten auszunutzen.
Was mich auch verwunderte, waren beobachtete
Mängel im Meldewesen seitens der Anwender von Medizinprodukten. Hier sind nicht alle Beteiligten immer ihren vorhandenen Meldepflichten nachgekommen. Hier
sehe ich erheblichen Optimierungsbedarf. Dieser sollte
sich aus meiner Sicht nicht in einer Verschärfung der
Meldepflicht oder einer Sanktionsbewehrung niederschlagen. Angemessener wäre dabei eine bessere Information der Anwender, zum Beispiel im Rahmen der Ausund Fortbildung sowie durch die Fachgesellschaften.
Wir sollten diesen Antrag im Ausschuss sachlich besprechen; denn er beinhaltet Dinge, die auch sinnvoll
sein könnten. Ich werde mir in der Ausschussarbeit gern
ein Bild dazu machen. In der jetzigen Form führt er aber
nicht dazu, die Sicherheit von Medizinprodukten in
Deutschland und Europa zu verbessern.
Vor drei Monaten tauchten in den Medien erschreckende Berichte auf. Hunderttausende von Frauen
wurden Opfer schadhafter Brustimplantate, die auf
kriminelle Weise weltweit vertrieben wurden. Die
gesundheitlichen, psychischen und finanziellen Folgen
für diese Frauen sind erheblich. Dieser Skandal hat
auch hier im Parlament eine Debatte darüber ausgelöst,
dass Medizinprodukte künftig deutlich strenger reguliert
werden müssen. So wurden schnell Forderungen laut,
dass die Messlatte für Herzklappen, Hüftprothesen und
Brustimplantate ähnlich hoch gelegt werden sollte wie
für Arzneimittel.
Doch ganz so einfach sind die Regelungen für Zulassungskriterien und für Kontrollen nach der Zulassung
von Arzneimitteln nicht auf Medizinprodukte zu übertragen. Darum müssen wir uns hier darüber unterhalten,
welche sinnvollen Maßnahmen zur Verbesserung der
Sicherheit und des Nutzens von Medizinprodukten hoffentlich noch in dieser Legislaturperiode Eingang in das
Medizinproduktegesetz und in die europäischen Richtlinien finden, im Interesse der Patientinnen und Patienten. Dazu sehe ich in mehreren Fraktionen positive
Ansätze, wenngleich es teilweise nicht nur im Detail
Unterschiede gibt.
Die Linke meint: Die Zertifizierung könnte sinnvollerweise wie bei den Arzneimitteln durch eine Behörde
und nicht durch private Unternehmen erfolgen. Und:
Eine reine Dokumentenprüfung darf jedenfalls für Produkte höherer Gefahrenklasse nicht ausreichen; das
Produkt selbst muss untersucht und begutachtet werden.
Für Medizinprodukte der Klassen II b und III sollte eine
Bewertung des patientenrelevanten Nutzens oder auch
eine Kosten-Nutzen-Bewertung als Grundlage für die
Erstattungsfähigkeit in der GKV erwogen werden.
Schließlich muss im Zentrum stehen, was den Patientinnen und Patienten wirklich hilft.
Insbesondere will die Linke strengere Kontrollen
auch bei bereits eingeführten Artikeln. Staatliche Aufsichtsbehörden sollen unangemeldete Stichproben
durchführen - und zwar in der gesamten Produktionsund Lieferkette, vom Hersteller über den Zulieferbetrieb
bis zum OP-Tisch -, und bei höheren Gefährdungsklassen auch verdachtsunabhängig.
Wenn es trotzdem zu Schädigungen kommt, muss die
Regulierung patientenfreundlicher erfolgen. Erweiterungen bei der Produkthaftpflichtversicherung und auch
die Einführung eines Haftungsfonds sind hier zu überlegen. Darum hat die Linke auch einen Antrag für eine
Zu Protokoll gegebene Reden
schnelle Entschädigung der Opfer des PIP-Skandals
vorgelegt.
Durch Einrichtung von Medizinprodukteregistern - eines für alle in den Körper verbrachten Implantate und
eines für alle Schadensmeldungen - könnten Unregelmäßigkeiten schneller auffallen, könnten die betroffenen
Patientinnen und Patienten rascher informiert und
andere vor Schaden bewahrt werden. Wichtig wäre
dabei, dass auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte
ihrer Meldepflicht besser nachkommen. Zudem wollen
wir die Informationspflichten der Ärztinnen und Ärzte
erweitern, damit die Patientinnen und Patienten gesundheitliche Risiken durch die Medizinprodukte besser einschätzen können.
Wir begrüßen, dass auch aus anderen Fraktionen
eine Verbesserung der Studienlage angeregt wird. Das
fordert die Linke schon seit Jahren, aber hier im Haus
wurden Forderungen der Linken nach einem Studienregister und nach einem öffentlich finanzierten unabhängigen Studienfonds immer abgelehnt.
Insgesamt gehen einige Überlegungen der Oppositionsfraktionen in die gleiche Richtung. Selbst bei der
CDU/CSU wird über schärfere Kontrollen für Medizinprodukte nachgedacht. Und der französische Gesundheitsminister, der Chef der europäischen Arzneimittelaufsichtsbehörde und der oberste Arzneimittelprüfer in
Deutschland fordern strengere Regelungen für Medizinprodukte.
Nur Gesundheitsminister Bahr und seine FDP stehen
bislang treu und tapfer an der Seite der Industrie und
lehnen strengere Zulassungskriterien und Kontrollen ab.
Herr Bahr, wenn demnächst die Revision der europäischen Medizinprodukterichtlinien ansteht und eine
europaweite Regelung, den Marktzugang von Medizinprodukten zu verschärfen, an Ihnen scheitert, dann
bekommen Sie vielleicht vom Verband der Medizinproduktehersteller den goldenen Herzkatheter für Ihre Verdienste um das Wohl der Gesundheitswirtschaft verliehen, aber um die Belange der Patientinnen und
Patienten machen Sie sich so nicht verdient.
Die Linke meint: Die Interessen der Patientinnen und
Patienten haben Vorrang vor Wirtschaftsinteressen.
Gesundheit ist keine Ware!
Offenbar muss leider immer erst etwas passieren, damit sich etwas zum Positiven verändert. Der Skandal um
die mangelhaften Brustimplantate der französischen
Firma PIP hat deutlich gemacht, dass das Überwachungssystem für Medizinprodukte vermutlich in ganz
Europa nicht so funktioniert, wie es die Patientinnen
und Patienten erwarten dürfen. Neben erheblicher krimineller Energie ist auch eine monate- wenn nicht jahrelange Gedankenlosigkeit und Verantwortungsschwäche
bei vielen Behörden offenbar geworden. Spätestens
durch das Marktverbot für PIP-Implantate April 2010
war den deutschen Länderbehörden bekannt, dass mit
den französischen Implantaten etwas nicht stimmt. Aber
erst im Dezember 2011 haben sie angefangen, sich zum
Beispiel einen Überblick darüber zu verschaffen, welchen Patientinnen und Patienten eigentlich ein solches
Implantat eingesetzt wurde.
Natürlich ist es richtig, ausgehend von diesen Erfahrungen, die Marktüberwachung und die Kontrollen zu
verbessern und den Benannten Stellen zum Beispiel die
Möglichkeit zu geben, unangemeldet bei den Herstellern
von Implantaten Prüfungen durchzuführen. Auf diese
Weise lassen sich sicher Schlampereien oder kriminelles
Treiben wirksamer verhindern. Aber werden wir damit
dem Problem gerecht? Wir meinen: Nein. Die Probleme
bei den Medizinprodukten sind nur zu einem Teil mangelnder Kontrolle geschuldet. Wir müssen leider feststellen: In dem ganzen System von Überwachung und
Zulassung von Medizinprodukten und speziell von Implantaten steckt der Wurm drin.
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen illustrieren.
Vor wenigen Tagen war in dem Fachjournal „Lancet“
ein Artikel über metallene Hüftimplantate zu lesen. Die
Forscher haben in einer mehrjährigen Studie unter Einbeziehung von fast 400 000 Hüftoperationen herausgefunden, dass es bei der Verwendung dieser Prothesen
vermehrt zu erheblichen Komplikationen bei den betroffenen Patientinnen und Patienten gekommen ist. Berichtet werden Zerstörungen des Knochens, Schädigungen
des umliegenden Gewebes und das Versagen des Implantates. Gleichzeitig zeigten die wenigen überhaupt
vorhandenen Studien, dass diese Hüftendoprothesen
überhaupt keinen Vorteil gegenüber herkömmlichen
Produkten haben. Im August 2010 musste ein Hersteller
sein Produkt aufgrund erhöhter Revisionsraten vom
Markt nehmen. Die Probleme waren dem Hersteller allerdings schon seit Jahren bekannt.
Ohnehin sind die Revisionsraten bei Hüft-, aber auch
bei Endoprothesen erheblich. Neuere Untersuchungen
auf der Grundlage von GKV-Routinedaten zeigen, dass
3,45 Prozent aller Hüftendoprothesen innerhalb von
zwei Jahren nach der Implantation ausgetauscht werden
mussten. Ursächlich waren in fast 70 Prozent der Fälle
mechanische Komplikationen. Unter den 390 000 im
Jahr 2010 eingebauten Hüft- oder Knieendoprothesen
waren immerhin 37 000 Wechseloperationen.
Ein weiteres Beispiel: Im Jahre 2007 wurde in den
USA eine große Studie veröffentlicht, die zeigte, dass der
Nutzen von Gefäßprothesen, so genannten Stents, bei
Erkrankungen der Herzkranzgefäße gegenüber der alleinigen medikamentösen Therapie zumindest in bestimmten Fällen - vorsichtig ausgedrückt - fragwürdig
ist. Die Patientinnen und Patienten in der Studie hatten
durch die Verwendung der Gefäßprothese überhaupt
keinen Vorteil, weder war die Überlebensrate höher
noch konnte die Herzinfarktrate gesenkt werden. Eine
ähnliche Studie aus dem Jahr 2006, in der es ebenso um
den Einsatz von Implantaten bei Herzerkrankungen
ging, konkret um so genannte Ballonkatheter, konnte
ebenfalls keinen Vorteil gegenüber der medikamentösen
Therapie aufzeigen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass wir
uns zu wenig damit beschäftigen, welchen Nutzen bestimmte implantierbare Medizinprodukte eigentlich haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und ich will Ihnen noch ein drittes Beispiel nennen.
Seit einigen Jahren wird zur Behandlung von Schmerzen
infolge einer teilweisen oder vollständigen Wirbelfraktur sowie zur Stabilisierung der Wirbel Zement in die betroffene Körperregion gespritzt. Neuere Studien zeigen
jedoch, dass bei diesem Vertebroplastie genannten Verfahren das Risiko von Frakturen in benachbarten Wirbeln ansteigt. Andere Studien zeigen, dass die schmerzlindernde Wirkung dieser Methode nicht größer ist als
bei Verwendung eines Placebos.
Dieses alles legt den Schluss nahe: Mit schärferer
Überwachung und Kontrolle allein, wie es sich offenbar
Bundesregierung und Medizinproduktehersteller gemeinsam auf die Fahne geschrieben haben, kommen wir
da überhaupt nicht weiter. Es darf nicht länger sein,
dass hochinvasive Herzkatheter genauso behandelt werden wie Kondome oder gar Stützstrümpfe.
Prothesen, Herzkatheter und andere implantierbare
Medizinprodukte sind mit ähnlichen gesundheitlichen
Risiken verbunden wie Arzneimittel. Wir brauchen also
ein vergleichbar gestaltetes Zulassungsverfahren wie
bei den Arzneimitteln.
Deshalb fordern wir, implantierbare Medizinprodukte
schon vor dem Marktzugang genauer unter die Lupe zu
nehmen und anstelle der CE-Kennzeichnung für diese
Produkte eine zentrale Zulassung beispielsweise durch
das BfArM oder die Europäische Arzneimittelbehörde
einzuführen.
Die derzeit von den Herstellern bei der Zulassung der
Implantate vorzulegenden Studien sind überhaupt nicht
ausreichend, um Auskunft über Nutzen, therapeutische
Wirksamkeit und Risiken zu geben. Wir brauchen daher
auch höhere Anforderungen an die Studien, die die Hersteller bei der Zulassung vorlegen müssen. Das betrifft
beispielsweise die Dauer der Studien und die Anzahl der
einzubeziehenden Patientinnen und Patienten. Soweit
dies im Einzelfall möglich und sinnvoll ist, müssen auch
randomisierte Studien zur Voraussetzung bei der Zulassung gemacht werden.
Nötig ist zudem ein verbindliches Register für alle
Implantate. Auch hier kann ich nicht erkennen, warum
sich die Bundesregierung so vehement dagegen sträubt,
ein verbindliches Register einzuführen. Die Vorteile eines solchen Registers liegen auf der Hand. In Schweden
konnte die Revisionsrate nach Einführung eines solchen
Registers nahezu halbiert werden. Durch eine langfristige Marktbeobachtung kann schnell erkannt werden,
wenn sich bei einem Produkt die Komplikationen
häufen. In Verbindung mit einem wirksameren Vigilanzsystem für Medizinprodukte kann die zuständige Medizinproduktebehörde dann schnell die nötigen Konsequenzen ziehen und das Produkt vom Markt nehmen.
In unserem Antrag sind noch weitere Vorschläge enthalten, auf die ich hier nicht vertiefend eingehen
möchte. Wir brauchen beispielsweise auch eine bessere
Nutzenbewertung für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Es kann nicht sein, dass Gelder der solidarischen Krankenversicherung für fragwürdige Behandlungsmethoden ausgegeben werden.
Wir müssen zudem gewährleisten, dass Patientinnen
und Patienten vor der Implantation einer Prothese umfassend über die Risiken aufgeklärt werden.
Die Bundesregierung und ganz konkret die Koalitionsfraktionen müssen nun die Frage beantworten, ob
sie bereit sind, Patientinnen und Patienten durch eine
umfassende Reform der EU-Medizinprodukterichtlinien
wirksamer vor gesundheitlichen Risiken insbesondere
durch implantierbare Medizinprodukte zu schützen.
Wenn sie wie angekündigt nur ein bisschen an den Kontroll- und Überwachungsverfahren herumdoktern, setzen sie sich dem Vorwurf aus, die Interessen der Medizinproduktehersteller über die der Patientinnen und
Patienten zu stellen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8920 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim
Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Reisen für Kinder und Jugendliche ermöglichen - Förderung sicherstellen und „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in
Deutschland“ weiterentwickeln
- Drucksache 17/8924 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden
von Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Gabriele HillerOhm, Helga Daub, Jörn Wunderlich und Markus Tressel.
Wir freuen uns, dass nach unserem Koalitionsantrag
zum Kinder- und Jugendtourismus vom Januar 2012
jetzt im März auch die SPD einen eigenen Antrag zu diesem Thema vorgelegt hat. Und wir freuen uns, dass nun
auch die SPD die große wirtschaftliche, pädagogische
und soziale Bedeutung von Kinder- und Jugendreisen
erkannt hat.
Wer als junger Mensch, ganz gleich ob als Gast aus
dem In- oder aus dem Ausland, die Qualitäten des Reiselands Deutschland kennenlernt, wird diese auch als
Erwachsener zu schätzen wissen.
Der Jahresumsatz von Reisen in Jugendherbergen,
Schullandheime, Kinderferienlager, Jugendhotels sowie
Einrichtungen kirchlicher und privater Träger liegt bei
12 Milliarden Euro. Allein die 10,2 Millionen ÜberMarlene Mortler
nachtungen in Jugendherbergen bewirken eine Wirtschaftsleistung von etwa 1 Milliarde Euro.
Obwohl Kinder- und Jugendreisen helfen, den Tourismusstandort langfristig attraktiv zu halten, wird ihre
Bedeutung leider noch oft unterschätzt. Im Gegensatz zu
anderen Tourismussegmenten können sie auch dazu beitragen, wichtige pädagogische Ziele zu erreichen.
Solche Reisen ermöglichen Kindern und Jugendlichen
intensive Gruppenerfahrungen, das Kennenlernen der
eigenen Heimat sowie den wertvollen frühzeitigen Kontakt mit anderen Ländern und Kulturen. Auch Angebote
für gesunde Ernährung und Bewegung gehören zu den
pädagogischen Aspekten dieser Reisen. Deshalb ist eine
weitere Verbesserung der Qualität von Kinder- und
Jugendreisen eine wichtige gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Wir freuen uns, dass genau diese Punkte jetzt
auch von der SPD in ihren Antrag übernommen wurden.
Eine besondere Unterstützung sollte dem Ziel des
Deutschen Jugendherbergsverbandes gelten, den wie
bei Klassenfahrten leider noch sehr geringen Anteil von
Migranten zu erhöhen, deren Einbindung in entsprechende Gemeinschaftserlebnisse auch gesamtgesellschaftlich wichtig ist.
Wie im SPD-Antrag zu Recht ausgeführt wird, fördert
die Bundesregierung bereits mit erheblichen Mitteln
Fort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveranstaltungen, die internationale Jugendarbeit, den Bau
von Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten sowie von Jugendherbergen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich für eine
noch intensivere Unterstützung bei der internationalen
Vermarktung, der Vernetzung und Kooperation jugendtouristischer Angebote und den möglichen Aufbau einer
Internetplattform ein. Auch die Qualifizierung von im
Kinder- und Jugendtourismus tätigen Mitarbeitern und
ehrenamtlichen Helfern soll weiter gefördert werden. Es
soll geprüft werden, wie eine bessere Vernetzung und
Kooperation bei den Anbietern jugendtouristischer Angebote erreicht und unterstützt werden kann. Die Bundesregierung soll auch an geeigneter Stelle auf die Einsatzmöglichkeiten des neuen Bundesfreiwilligendienstes
in jugendtouristischen Einrichtungen hinweisen. Einige
dieser Punkte, die wir in unserem Koalitionsantrag aufgelistet haben, sind im SPD-Antrag aber leider noch
nicht einmal erwähnt.
Und ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, über Ihre Forderung, dass die Bundesregierung den 2002 ins Leben gerufenen „Aktionsplan
Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterentwickeln soll. Denn dieser sogenannte Aktionsplan
Kinder- und Jugendtourismus ist kein wirklicher
Aktionsplan, sondern lediglich der Titel eines im Bundestag beschlossenen Antrags der damaligen rot-grünen
Koalitionsfraktionen. Es ist also kein Aktionsplan der
Bundesregierung, und es gibt weder gegenwärtig noch
gab es früher einmal einen entsprechenden Haushaltstitel im Bundeshaushalt. Eine Weiterentwicklung dieses
Aktionsplans durch die Bundesregierung ist also gar
nicht möglich.
Der damalige „Aktionsplan“ beschreibt verschiedene Maßnahmen zur Qualitäts- und Quantitätssteigerung und sieht vor, dass die Bundesregierung im Tourismuspolitischen Bericht Stellung zum Stand der
Umsetzung des Aktionsplans nimmt. Dieser Aufforderung ist die Bundesregierung bereits auf vielfältige
Weise nachgekommen. So wurden im Rahmen der
Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Tourismuswirtschaft zwei Grundlagenuntersuchungen zur Datenlage des Kinder- und Jugendtourismus sowie Veranstaltungen des BundesForum Kinderund Jugendreisen e. V. unterstützt. Mit diversen Einzelmaßnahmen aus dem Kinder- und Jugendplan des
Bundes wurde die Arbeit an bundesweiten, trägerübergreifenden Fragen der Qualität des Kinder- und Jugendreisens mit jährlich bis zu 450 000 Euro gefördert. Dazu
zählen Fort- und Weiterbildungsangebote, Informations- und Beratungstage sowie Publikationen. Außerdem wurde gemeinsam mit der Stiftung Deutsche
Jugendmarke die bundesweite, trägerübergreifende
Klassifizierung von Kinder- und Jugendunterkünften in
Deutschland gefördert.
Mit dem Beschluss der Bundesländer für bundeseinheitliche Qualitätsstandards der Jugendleitercard im
Juni 2009 konnte ein weiteres Ziel des Aktionsplans erreicht werden.
Darüber hinaus kommen viele Maßnahmen des Bundes im Jugendbereich dem Jugendtourismus zugute. So
sind im Bundeshaushalt 2012 beim Kinder- und Jugendplan des Bundes für die internationale Jugendarbeit
Zuschüsse und Leistungen an Länder und Träger und für
Aufgaben der freien Jugendhilfe in Höhe von 20,3 Millionen Euro veranschlagt.
Für den deutsch-französischen und den deutschpolnischen Jugendaustausch ist ein Betrag von insgesamt 15,2 Millionen Euro vorgesehen. Bis heute konnte
damit rund 8 Millionen jungen Deutschen und Franzosen sowie mehr als 2 Millionen jungen Deutschen und
Polen die Teilnahme an Austauschprogrammen und Einzelmaßnahmen ermöglicht werden. Auch wir wissen,
dass mittlerweile nicht mehr alle Anträge für Gruppenaustauschprogramme, Einzelstipendien und andere
Projekte gefördert werden können. Es ist aber fraglich,
inwieweit eine weitere, grundsätzlich sicherlich wünschenswerte Aufstockung dieser bereits erheblichen
Mittel - wie im SPD-Antrag gefordert - angesichts der
angespannten Haushaltslage wirklich realistisch ist. Wir
sind ja nicht in Nordrhein-Westfalen!
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass auch eine
deutsch-israelische Jugendbegegnung - vom Deutschen
Jugendherbergswerk organisiert - jährlich in beiden
Ländern stattfindet. Sie wird ebenfalls aus Mitteln des
Kinder- und Jugendplans des Bundes gefördert. Außerdem werden der Bau, der Erwerb, die Einrichtung und
die Bauerhaltung von zentralen oder überregionalen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten sowie von
Jugendherbergen pro Jahr mit jeweils 5 Millionen Euro
unterstützt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
auch wir fordern in unserem Koalitionsantrag eine AufZu Protokoll gegebene Reden
listung, welche Bundesländer eigene Aktionspläne zum
Kinder- und Jugendtourismus aufgestellt haben und mit
welchen Maßnahmen dieser Bereich jeweils gefördert
wird. Denn die Zuständigkeit für viele Punkte liegt bei
den Bundesländern. Aber wir teilen nicht Ihre Auffassung, dass eine bessere Förderung des Kinder- und
Jugendtourismus nur dann gelingen kann, wenn alle
Länder solche Aktionspläne aufstellen.
Angesichts der Kritik der SPD an unserem Koalitionsantrag in der Plenumsdebatte im letzten Monat sind
wir enttäuscht, wie wenig Substanz der SPD-Antrag
selbst enthält und wie wenig eigene konkrete Vorschläge
gemacht werden. Wir hoffen, dass dies bei den Beratungen im Tourismusausschuss nachgeholt wird, damit wir
gemeinsam den wichtigen Bereich der Kinder- und
Jugendreisen weiter stärken können.
Es ist gerade sechs Wochen her, dass wir hier im Plenum über Kinder- und Jugendtourismus diskutiert haben. Grundlage der damaligen Debatte war unser Antrag der Koalitionsfraktionen, mit dem wir eine Reihe
von Vorschlägen vorgelegt haben, mit denen wir den
Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiter
fördern wollen.
Heute debattieren wir wieder über dieses Thema weil inzwischen auch die SPD dieses Thema erkannt hat.
Es ist gut, dass auch Sie sich jetzt diesem Thema widmen, nachdem wir im vergangenen Monat herausgearbeitet haben, welch große Bedeutung der Kinder- und
Jugendtourismus in Deutschland hat: sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht, wenn ich allein an über 10 Millionen Übernachtungen in Jugendherbergen mit einer
Wirtschaftsleistung von etwa 1 Milliarde Euro denke,
aber auch hinsichtlich der sozialen und pädagogischen
Bedeutung dieses Segments für junge Menschen.
Bei der damaligen Debatte hat die SPD-Fraktion
groß ausgeholt und unseren Antrag in Bausch und Bogen verdammt. Angesichts der großen Sprüche, die Sie
damals gewagt haben, ist das Ergebnis Ihres heute vorgelegten Antrages aber reichlich mickrig.
Zunächst fällt auf, dass Sie mit finanziellen Forderungen beginnen. Dies mag alles schön und wünschenswert
sein - aber Haushaltsberatungen haben wir heute nicht,
und wir alle sollten uns davor hüten, unabhängig von
Haushaltsberatungen, unabhängig von der Notwendigkeit, auch Finanzierungsvorschläge vorzulegen, einfach
neue Erwartungen zu wecken, was alles finanziert werden könnte.
Stattdessen stehen wir doch heute vor der Aufgabe,
mit möglichst effizientem Mitteleinsatz möglichst viele
positive Anreize zu setzen. Und es geht um inhaltliche,
um qualitative Entwicklungen, nicht nur darum, möglichst viel Geld zu versprechen.
Dabei leisten wir, leisten die Bundesregierung und
die Koalition, im Bundeshaushalt bereits viel für den
Kinder- und Jugendtourismus. Ich habe darauf bereits
in der Debatte am 9. Februar hingewiesen. Meine Kollegin Marlene Mortler wird darauf noch in ihrem Debattenbeitrag eingehen.
Ein wichtiges Ziel für den Kinder- und Jugendtourismus ist aus unserer Sicht eine bessere Vernetzung der
Akteure. Darauf sind wir in unserem Antrag eingegangen. Dies wollen wir unterstützen, zum Beispiel auch
durch einen Aufbau einer gemeinsamen Internetplattform „Jugendtourismus in Deutschland“. Dies halte ich
allemal für zielführender als den Vorschlag der SPDFraktion, eine interministerielle Arbeitsgruppe und einen einheitlichen Ansprechpartner in der Regierung zu
schaffen. Abgesehen davon, dass wir mit dem Tourismusbeauftragten, Staatssekretär Ernst Burgbacher, bereits einen einheitlichen Ansprechpartner für alle Angelegenheiten des Tourismus in der Regierung haben, der
seine Arbeit sehr gut macht, müssen wir nicht mehr
Bürokratie bewegen oder in den Ministerien neue Arbeitsgruppen bilden, sondern wir müssen die handelnden Akteure in der Branche zusammenbringen und unterstützen. Darum geht es; das möchten wir befördern.
Im Antrag der SPD-Fraktion vermisse ich zahlreiche
Themen, die wir mit unserem Antrag aufgegriffen haben.
Wir beschäftigen uns mit der inhaltlichen Fortentwicklung von Klassenfahrten, auch wenn dies die originäre
Kompetenz der Bundesländer ist. Aber wenn wir uns mit
dem Thema Kinder- und Jugendtourismus befassen,
dann gehört dazu, dass wir entsprechende Anregungen
gegenüber den Bundesländern mit ansprechen.
Es geht uns auch um die Qualifizierung, um Aus- und
Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch
der ehrenamtlichen Helfer im Kinder- und Jugendtourismus. Wir sprechen auch das Thema von Sexualität und
sexueller Gewalt an. Ein sicherlich schwieriges Thema,
das aber leider in der Vergangenheit spektakulär negative Schlagzeilen gemacht hat. Gerade dies ist ein wichtiger Aspekt in der Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter
im Jugendbereich. Hier müssen wir die Sensibilität aller
Beteiligten schärfen und die Initiativen, die es dankenswerterweise bereits gibt, unterstützen.
Wir sprechen auch die Vernetzung von Jugendfreizeiteinrichtungen, Jugendhilfe und Schulen an, die für uns
ein wichtiges Thema ist.
Außerdem thematisieren wir die Einsatzmöglichkeiten des neuen Bundesfreiwilligendienstes in jugendtouristischen Einrichtungen. Der Bundesfreiwilligendienst
hat sich als Ersatz für den ausgelaufenen Zivildienst als
wahres Erfolgsmodell herausgestellt und kann gerade
für jugendtouristische Einrichtungen neue Perspektiven
bieten.
Alle diese Themen vermisse ich im Antrag der Sozialdemokraten.
Stattdessen heben Sie ab auf den „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“, den es aber
eigentlich gar nicht gibt. Es gibt lediglich einen Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2002, aber auch die damalige SPD-geführte Bundesregierung hat keinen eigenen
Aktionsplan aufgelegt. Aus dem, was 2002 im Bundestag
beschlossen wurde, ist viel umgesetzt worden. Sie beantragen lediglich, dass die Bundesregierung über die
Zu Protokoll gegebene Reden
Umsetzung berichten möge. Da sind wir schon deutlich
weiter. Wir haben in unserem Antrag bereits zahlreiche
Maßnahmen aufgelistet, um zu zeigen, was die vergangenen Bundesregierungen und die heutige Bundesregierung für den Kinder- und Jugendtourismus leisten, auch
auf der Basis des damaligen Bundestagsbeschlusses.
Der SPD-Antrag enthält also nette finanzielle Versprechungen, die aber ungedeckte Schecks sind, bürokratische Vorschläge und Berichtsanforderungen. Echte
Inhalte fehlen.
Angesichts der Fundamentalkritik, die die SPD in der
vergangenen Debatte an unserem Antrag geübt hat, ist
dies ein mageres Ergebnis.
Dies ist umso bedauerlicher, als Sie in der Begründung zu Ihrem Antrag sehr wohl viele gute Ansätze aufgeschrieben haben, die sich mit unseren Vorstellungen
decken. Schließlich sind wir in der Zielsetzung ja auch
nicht auseinander, dass der Kinder- und Jugendtourismus ein wichtiges touristisches Segment darstellt, dass
sich die Anstrengungen lohnen, diesen Bereich weiter zu
unterstützen und fortzuentwickeln, aber dass auch bereits viel auf dem Weg ist, sowohl staatlicherseits als
auch seitens der vielen Akteure im Kinder- und Jugendtourismus: seien es zum Beispiel die Jugendherbergen
mit über 1 000 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, gemeinnützige Vereine und Organisationen oder Unternehmen, die sich in diesem Bereich engagieren und attraktive Angebote machen.
Dies alles lohnt, in den Ausschussberatungen vertiefend über dieses Thema zu diskutieren. Dies wollen wir
tun, und ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen.
Wir sprechen heute über ein ganz bedeutendes
Thema: Es geht um Kinder- und Jugendreisen. Die SPDFraktion hat dazu einen wegweisenden Antrag vorgelegt.
Warum muss uns dieses Thema am Herzen liegen?
Wir alle wissen: Reisen ist für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig. Wir SPD-Abgeordnete wollen, dass alle Kinder unabhängig vom Geldbeutel der Eltern reisen können.
Klar ist: Wer schon als Kind Erfahrungen in anderen
Regionen und Ländern sammeln konnte, hat einen deutlichen Bildungsvorsprung. Wenn junge Menschen durch
Deutschland reisen, lernen sie ihr eigenes Land kennen.
Im Ausland erfahren sie früh eine Menge über andere
Länder, Menschen und Kulturen.
Reisen verbindet und macht toleranter. Auch das wissen wir. Deshalb ist es so wichtig, Kindern und Jugendlichen sehr früh die Möglichkeit zu geben, sich fern von
zu Hause einmal in einer neuen Rolle auszuprobieren.
Das stärkt die persönliche Entwicklung und das soziale
Verhalten. Das macht Kinder selbstbewusster und stark.
Klassenfahrten und andere Gruppenreisen tragen
auch dazu bei, dass Integration und der Zusammenhalt
im eigenen Klassenverband gefördert werden.
Natürlich brauchen wir für Kinder- und Jugendreisen
besonders gute und pädagogisch hochwertige Angebote.
Attraktive Unterkünfte in reizvoller Umgebung tragen
stark zum Erfolg einer Reise bei. Zum Glück gibt es viele
gemeinnützige Einrichtungen, die sich dies auf ihre Fahnen geschrieben haben. Jugendverbände, Sportvereine
und Kirchen leisten hier wichtige Arbeit. Die Angebotspalette von gemeinnützigen, aber auch von gewerblichen Kinder- und Jugendreisen ist breit und vielfältig.
Es ist beeindruckend, wie viele Einrichtungen wir in
Deutschland haben. Ich zähle einige auf: 530 Jugendherbergen, 400 Naturfreundehäuser, 350 Schullandheime, 920 Häuser in konfessioneller Trägerschaft.
Hinzu kommen zahlreiche Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten. Sie alle stehen für preiswerten,
nachhaltigen und pädagogisch wertvollen Jugendurlaub.
Die SPD-Fraktion setzt sich dafür ein, dass alle Kinder und Jugendlichen unabhängig vom Einkommen der
Eltern reisen können. Wir wissen, dass Kinder aus
armen Elternhäusern sehr viel schlechtere Bildungschancen haben als Kinder aus wohlhabenderen Elternhäusern. Das ist eine große Ungerechtigkeit. Nun gibt es
eine Studie, die sagt, dass deutlich weniger Jugendliche
aus einkommensschwachen Haushalten verreisen und
sich dadurch nicht wie andere Kinder weiterbilden können. Dies verstärkt die Kluft bei den Chancen weiter.
Das dürfen wir nicht hinnehmen! Das müssen wir
ändern!
Auch die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP
haben einen Antrag zum Kinder- und Jugendtourismus
vorgelegt. Die Überschrift des Antrags lautet „Kinderund Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern“.
Stellen Sie sich vor: Ich habe mich darüber gefreut, als
ich dies gesehen habe. Toll, dachte ich, die machen mal
was für unsere Kinder.
Als ich den Antrag dann aber gelesen habe, war ich
schon nach wenigen Sätzen ernüchtert. Ich hatte erwartet, dass es um Förderung geht. So steht es ja in der
Überschrift. Und wo Förderung draufsteht, muss auch
Förderung drin sein! Das ist aber überhaupt nicht der
Fall.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU und
FDP, Sie machen keine Aussage darüber, wie viel Geld
die Bundesregierung in den nächsten Jahren in die Hand
nehmen soll, um Qualitätsangebote zu sichern und neue
zu entwickeln. Besonders schlimm finde ich, dass Sie
noch nicht einmal Ihre Rotstiftattacke bei den Jugendherbergen zurücknehmen. Diese Geschichte verschweigen Sie. Wir haben das nicht vergessen! Im letzten Haushalt wollten Sie die Gelder für den Bau und die
Erhaltung von Jugendherbergen und Bildungsstätten um
sage und schreibe 40 Prozent kürzen! Nur durch unseren
kraftvollen Einsatz konnten wir dies verhindern. Gekürzt
haben Sie - wenn auch nicht um 40 Prozent - dann aber
trotzdem.
Unglaublich ist dabei auch, dass Sie in Ihrem Antrag
schreiben, dass die überregionalen Jugendbildungsstätten und Jugendherbergen pro Jahr mit 5 Millionen Euro
Zu Protokoll gegebene Reden
unterstützt werden. Diese Zahl ist schlichtweg falsch! Es
ist viel weniger Geld. Ich fordere Sie auf: Stellen Sie dies
richtig!
Sie selbst sagen, die Jugendherbergen müssen ihre
Häuser in Schuss halten, damit Kinder und Jugendliche
sich dort wohl fühlen. Gleichzeitig hauen Sie den Bildungsstätten und Jugendherbergen aber das Geld für
notwendige Investitionen weg. Das geht gar nicht! Sie
streuen den Menschen Sand in die Augen. So fördern Sie
den Kinder- und Jugendtourismus nicht.
Zum Glück gibt es die SPD. Mit unserem Antrag bringen wir die Bundesregierung wieder auf den richtigen
Weg. Wir wissen, worauf es ankommt: Ohne Moos nix
los!
Wir fordern erstens, den Haushaltstitel, den Sie
gekürzt haben, wieder auf 5 Millionen Euro anzuheben.
Wir wollen, dass die Jugendherbergen und Bildungsund Begegnungsstätten vernünftig planen können.
Zum Zweiten fordern wir, dass die Bundesmittel für
den Kinder- und Jugendtourismus in voller Höhe erhalten bleiben. Also: Hände weg vom Rotstift!
Drittens. Wir wollen den internationalen Jugendaustausch stärken. Uns liegen die Beziehungen zu unseren
Nachbarn Polen und Frankreich besonders am Herzen.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, gemeinsam mit der französischen und der polnischen Regierung hierfür das nötige Geld zur Verfügung zu stellen.
Ein wichtiges Anliegen ist uns viertens, den vor zehn
Jahren von Rot-Grün aufgelegten „Aktionsplan Kinderund Jugendtourismus in Deutschland“ fortzuführen und
weiterzuentwickeln. Hiermit haben wir in den ersten
Jahren viel angeschoben. Leider ist der Aktionsplan
unter Schwarz-Gelb ins Stocken geraten. Wir wollen den
Motor wieder anwerfen.
Nun ist ja nicht nur der Bund für einen guten Kinderund Jugendtourismus verantwortlich. Auch die 16 Bundesländer - von Schleswig-Holstein bis Bayern - sind
gefordert. Es muss eine gute Abstimmung erfolgen, und
die einzelnen Aktivitäten müssen stärker miteinander
verzahnt werden. Über die Fortschritte soll die Bundesregierung dann in ihrem Tourismuspolitischen Bericht
regelmäßig Auskunft geben. Da ist noch viel Musik drin!
Die Angebote können noch weiter verbessert werden.
Gesundheit ist auch für Kinder und Jugendliche ein großes Thema geworden. Hier brauchen wir noch mehr
Angebote. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat mit ihrer Jugendaktion „GUT DRAUF“
einen guten Aufschlag gemacht.
Dann gibt es noch einen weiteren Bereich, in dem wir
besser werden können. Wie sieht es mit den vielen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Betreuerinnen und
Betreuern im Kinder- und Jugendtourismus aus? Stellen
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
genügend Geld und Power bereit, damit sie sich vernünftig qualifizieren und weiterbilden können? Nein,
das tun Sie nicht. Auch hier muss eindeutig mehr
geschehen. Wir brauchen feste Mindeststandards für
alle Veranstalter, ob gemeinnützig oder gewerblich.
Fünftens ist uns wichtig, die vorhandenen Kompetenzen im Kinder- und Jugendtourismus zusammenzuführen
und die verschiedenen Zuständigkeiten innerhalb der
Bundesregierung zu bündeln. Jetzt ist es so, dass viele
Ministerien zuständig sind, und selbst in den einzelnen
Ministerien gibt es wieder unterschiedliche Ansprechpartner. Das geht so nicht! Dieses unübersichtliche
Wirrwarr muss gelichtet werden! Wir wollen, dass es
einen festen Ansprechpartner gibt, an den sich Vereine,
Verbände und alle Akteure wenden können. Sie sollen
sich nicht länger im Dschungel der Ministerien verirren.
Wichtig ist uns auch eine bessere Zusammenarbeit
der einzelnen Ministerien beim Kinder- und Jugendtourismus. Deshalb schlagen wir die Einrichtung einer
interministeriellen Arbeitsgruppe vor.
Mit unseren Forderungen schaffen wir eine solide
Grundlage für hochwertigen Kinder- und Jugendtourismus. Kein Kind darf dabei auf der Strecke bleiben. Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
Deshalb haben wir uns dafür eingesetzt und durchgesetzt, dass ein- und mehrtägige Klassenfahrten für Kinder aus armen und einkommensschwachen Familien
vom Staat bezahlt werden. Das ist uns wichtig, denn wir
wollen, dass alle Kinder gute Chancen erhalten. Bildungsgerechtigkeit darf kein leeres Wort bleiben!
Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat in jedem
Jahr ein bestimmtes Motto. Im kommenden Jahr wird
dies das „Junge Reiseland Deutschland“ sein. Kinder
und Jugendliche sollen besonders angesprochen werden. Ich freue mich sehr darüber und hoffe, dass dieses
Motto uns gemeinsam anspornen wird.
Ich freue mich, mit Ihnen im Tourismusausschuss weiter zu diskutieren, und werbe schon an dieser Stelle:
Schließen Sie sich unserem Antrag an!
Es gibt Beratungspunkte auf der Tagesordnung des
Hohen Hauses, die sich eigentlich schon von selbst erledigen. Dieser Punkt gehört dazu. Nicht etwa, weil das
Thema unwichtig ist. Der Kinder- und Jugendtourismus
ist sehr bedeutsam, und deswegen hatten wir als Koalitionsparteien erst vor wenigen Wochen einen Antrag
dazu eingebracht und mehrheitlich beschlossen. Vorher
hatte sich der Tourismusausschuss ausgiebig damit beschäftigt, und auch die SPD hatte bei dieser Gelegenheit
ihre Standpunkte vertreten.
Besonders pikant finde ich allerdings, dass in der
Begründung des Antrags, der hier auf dem Tisch liegt,
schon Argumente dafür gegeben werden, warum er
eigentlich obsolet ist. Dort ist beispielsweise von dem
Themenjahr „Junges Reiseland Deutschland“ die Rede,
das uns die Deutsche Zentrale für Tourismus auch auf
der diesjährigen ITB vorgestellt hatte. Die Vielfalt der
Angebote an Kinder- und Jugendreisen in Deutschland
wird ebenso erwähnt wie der Aufwärtstrend bei Jugendherbergen und die steigenden Umsatzzahlen generell.
Worum geht es also heute?
Wieder einmal wollen die Sozialdemokraten ihre altbekannten und längst verworfenen Instrumente auspaZu Protokoll gegebene Reden
cken. Hier soll ein Haushaltstitel angehoben werden,
dort sollen Bundesmittel erhöht werden, Statistiken erstellt und neue bürokratische Positionen geschaffen
werden. Das alles kostet ein Heidengeld! Mit Verlaub:
Wohin diese Form von SPD-Politik führt, sehen wir ja
gerade in NRW.
Unverändert richtig bleibt: Kinder und Jugendliche
werden als bedeutende Zielgruppe für die Reisebranche
häufig unterschätzt. Beim Reisen entwickeln die jungen
Menschen den Blick für Neues und anderes. Die soziale
Kompetenz wird gestärkt oder auch erst richtig erlernt,
denn zunehmend sind die Jugendlichen in der Familie
Einzelkinder. Nie mehr im Leben ist der Mensch so lernfähig und aufnahmebereit wie gerade in der Jugend, und
gerade deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugendtourismus mehr in den Fokus zu nehmen. Das wir das
tun wollen, ist aber längst klar. Die Initiative der DZT
beweist das. Insgesamt hilft die öffentliche Hand an vielen Stellen bereits heute bei notwendigen Finanzierungen. Mit McPom, einem speziellen Angebot für Klassenund Jugendreisen aus Mecklenburg-Vorpommern, gibt
es ein Beispiel dafür, was auf Länderebene noch alles
getan werden kann. An diesem Beispiel könnten sich
auch andere Bundesländer orientieren und evaluieren,
welche touristischen Angebote für Kinder und Jugendliche vorhanden sind und wo Verbesserungen möglich
sind. „Action am Strand“, Rangertouren im Wald oder
„Paddeln statt Pauken“ sind Ideen, die sich nicht nur in
Mecklenburg-Vorpommern umsetzen lassen. Man muss
eben nur einmal genau hinsehen.
Ich will mich an dieser Stelle nicht wiederholen, verweise aber auch noch einmal beispielhaft auf die Entwicklung eines einheitlichen Qualitätssiegels. Das BundesForum Kinder- und Jugendreisen hat deswegen für
die Entwicklung eines Qualitätsmanagementsystems
unsere Anerkennung verdient. Die positiven Rückmeldungen aus dem ganzen Land sprechen für sich. Mittlerweile sind nach Angaben des Forums über 400 Häuser
in Deutschland beteiligt. Hinzu kommt nun noch eine
Zertifizierung der Rahmenbedingungen für Reisebegleiter. Die bessere Vernetzung von Vermittlung steht ebenfalls bereits auf dem Programm.
Richtig bleibt: Die Bundesregierung wird diesen
wichtigen touristischen Bereich weiter unterstützen;
finanziell - aber auch dort, wo es gilt, die ausgetretenen
Pfade zu verlassen und Neues zu wagen. Aber Gießkannenpolitik à la SPD bringt uns auch beim Kinder- und
Jugendtourismus nicht weiter. Gute Ideen sind gefragt,
und die waren in dem bereits beschlossenen Koalitionsantrag längst enthalten. Wir sehen deswegen überhaupt
keinen Grund, jetzt diesem überflüssigen Antrag der
SPD zuzustimmen.
Unsere Fraktion hält es für richtig, dass sich der
Bundestag zum zweiten Mal in diesem Jahre mit dem
Thema Kinder- und Jugendreisen befasst. Der Antrag
der Koalition vom Februar vermittelte dazu ohnehin nur
den Eindruck einer Pflichtübung anlässlich der jährlichen Internationalen Tourismusbörse.
Die Linksfraktion beobachtet seit längerem, dass in
diesem wichtigen Tourismussektor bei weitem nicht nur
Resultate vorhanden sind, die mit der Elle des Umsatzes
gemessen werden können - wie Sie es, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, meist tun. Auch wir
wissen natürlich, dass 20 Prozent aller Inlandstouristen
Jugendliche und junge Erwachsene sind, die der deutschen Tourismuswirtschaft jährlich zu einem Umsatz
von 12 Milliarden Euro verhelfen. Das reicht uns aber
nicht!
Wir meinen, auch die Qualität von Kinder- und Jugendreisen, die die Koalition einseitig in die Verantwortung der Träger von Kinder- und Jugendreisen delegiert
und zwischen den Zeilen ihres Antrags mit Kritik belegt,
ist nicht der einzige Punkt, dem unsere ganze Aufmerksamkeit gelten muss. Insofern freuen wir uns, dass der
SPD-Antrag einen Teil der wirklichen Probleme anspricht.
Wir sind alarmiert, wenn wir zur Kenntnis nehmen
müssen, dass Urlaubsreisen für mehr als ein Fünftel der
Haushalte, in denen Kinder unter 16 Jahren leben, aus
finanziellen Gründen unerschwinglich sind. Dies ermittelte das Statistische Bundesamt im Rahmen der Untersuchung „Wie leben Kinder in Deutschland?“ für das
Jahr 2008. Das bedeutet für rund 4 Millionen junger
Menschen erhebliche Defizite an geistiger Bildung, kulturellem Austausch, Gesundheits- und Erholungsmöglichkeiten. Diese Zahlen verwundern nicht. So legte der
Paritätische Wohlfahrtsverband erst unlängst dar, dass
jedes siebte Kind unter 15 Jahren von Hartz IV lebt, in
Ostdeutschland sogar jedes vierte. Und wenn in
Deutschland jeder vierte Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor arbeiten muss, dann wirkt sich das unmittelbar
auf die Familienbudgets aus.
Es gehört zu den Verdiensten des BundesForum Kinder- und Jugendreisen, BuFo, im Rahmen einer umfassenden Studie wichtige soziale Aspekte des Kinder- und
Jugendtourismus in die öffentliche Debatte gebracht zu
haben. Danach verreisen deutlich weniger Jugendliche
aus einkommensschwachen Haushalten - im Vergleich
zu allen anderen Jugendlichen - einmal im Jahr. Gleichzeitig wurde nachgewiesen, dass die Zahl öffentlich geförderter Kinder- und Jugendreisen seit Jahren rückläufig ist. Es geht also nicht allein um Qualität auf diesem
Gebiet - wofür sich im Übrigen Tausende Ehrenamtliche und oft schlechtbezahlte Hauptamtliche - Jahr für
Jahr mit hohem Einsatz bemühen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die soziale
Spaltung unserer Gesellschaft vor dem Tourismus nicht
haltmacht und seit einigen Jahren auch im Kinder- und
Jugendtourismus angekommen ist. Dem ist mit der Wiederholung des Koalitionslippenbekenntnisses zur Teilhabe aller Bevölkerungsschichten am Tourismus nicht
abzuhelfen. Hier sind Taten gefragt, die zu Veränderungen führen. Und die kosten Geld!
Allein mit Prüfaufträgen, Appellen, Absichtserklärungen, Anregungen und Hinweisen an Dritte, wie sie
die Koalition in ihrem Antrag vom Februar inflationär
verbreitete, ist wenig zu bewegen. Aber braucht man
denn mehr? Wo doch die Regierung laut eigenem Antrag
Zu Protokoll gegebene Reden
im Wesentlichen genug für Kinder- und Jugendreisen
tut. Ich nenne das Veränderungswillen bei Verhaltensstarre.
Denn die Bundesregierung tut nichts, um wenigstens
ein paar der - von Trägern und Verbänden, aber auch
von der Opposition - geforderten Schritte in die Wege zu
leiten. Hierzu gehört unter anderem der Aufbau einer
aussagekräftigen Statistik zu Kinder- und Jugendreisen,
die nach unserer Auffassung in eine generell notwendige
Statistik zu sozialen Aspekten des Tourismus eingebettet
sein sollte. Auch hier hat das BundesForum Kinder- und
Jugendreisen mit seiner Studie bereits Vorarbeit geleistet. Der SPD-Fraktion ist völlig zuzustimmen, wenn sie
eine Evaluierung des „Aktionsplanes Kinder- und Jugendtourismus“ und dessen Weiterentwicklung in Zusammenarbeit von Bund und Ländern fordert. Eine
ganze Reihe der in diesem Antrag gestellten Forderungen können wir unterstützen.
Wie notwendig eine Bündelung der Kompetenzen im
Bereich des Kinder- und Jugendtourismus und eine Verbesserung der interministeriellen und länderübergreifenden Zusammenarbeit der für Kinder- und Jugendreisen verantwortlichen Institutionen sind, hatte die
Koalition selbst peinlich offenbart. So waren den Verfassern bestimmte positive Entwicklungen zum Beispiel auf
dem Gebiet des Qualitätsmanagements für Jugendübernachtungsstätten überhaupt nicht bekannt. Sonst hätte
man im Antrag darauf verweisen und auf eine bundesweite Übernahme dieser Erfahrungen orientieren müssen, statt allgemein über Qualität zu schwafeln.
An dieser Stelle sei mir eine Frage an die Koalition
und die Vertreter der Regierung erlaubt: Warum haben
Sie auf den reichen Erfahrungsschatz der Akteure auf
dem Gebiet der Kinder- und Jugendreisen verzichtet und
hinter verschlossenen Türen mit einigen wenigen den
Antrag erstellt? Welches Interesse hatten Sie an einem
Verzicht auf eine gemeinsame Diskussion? Beschämend
kommt für mich hinzu, dass die heute Ausgeschlossenen
morgen den Aktionsplan umsetzen sollen.
Die Hauptaufgaben einer Regierungskoalition beim
Thema Kinder- und Jugendreisen können doch nicht darin bestehen, Auflistungen zu erstellen, Bundesländer
auf positive Effekte hinzuweisen und Prüfaufträge anzuregen. Die Absicht der Antragsteller war klar: Alles darf
möglichst wenig, am besten gar nichts kosten!
Aber sozialer Tourismus ist - wie auch der SPD-Antrag zeigt - nicht zum Nulltarif zu haben. Von der Regierungskoalition hätte man schon erfahren wollen, welche
Weichen im Haushalt anders gestellt werden müssten,
um allen Kindern und Jugendlichen künftig jährlich eine
erlebnisreiche Urlaubsreise zu ermöglichen, und was
getan werden soll, um den besorgniserregenden Trend
des Rückgangs öffentlich geförderter Kinder- und Jugendreisen umzukehren.
Vielleicht können wir heute dazu etwas erfahren?
Wie wäre es, wenn sich die Bundesregierung zu einer
konzertierten Aktion gemeinsam mit den Bundesländern
unter dem Motto „Alle Familien und Kinder sollen reisen können!“ entschließen könnte? Es ist doch bekannt,
dass sich bereits sieben der sechzehn Bundesländer von
der Förderung von Familienreisen verabschiedet haben.
Wir möchten an dieser Stelle einige weitere Forderungen und Vorschläge an die Bundesregierung richten, die
unmittelbar aus der Tätigkeit einer Reihe von Trägern
für Kinder- und Jugendreisen resultieren und die über
die Forderungen der SPD hinausgehen. Dazu gehört:
den Anspruch auf Kinder- und Jugendreisen im SGB
festzuschreiben und die entsprechenden Mittel dafür bereitzustellen; den „Aktionsplan Kinder- und Jugendreisen“ zu evaluieren und fortzuschreiben; die Mittel für
individuelle und institutionelle Förderung von Kinderund Jugendreisen aufzustocken; darunter fällt auch,
Klassenfahrten wieder in der schulischen Bildung zu
verankern und die Lehrer entsprechend vorzubereiten;
die Qualifizierung von Begleitern im Bereich Kinderund Jugendreisen, die sich um Kinder und Jugendliche
mit Behinderung kümmern, besonders zu unterstützen;
pädagogisch wertvolle Programme für Kinder- und
Jugendreisen zu fördern, breiter anzuwenden und in diesem Zusammenhang den Erfahrungsaustausch zu intensivieren; die Qualitätsentwicklung im Kinder- und Jugendtourismus durch die Einführung gesetzlicher
Mindeststandards auf der Grundlage bereits vorliegender Erfahrungen zu stärken; Grundlagen für die wissenschaftliche Begleitung von Kinder- und Jugendreisen zu
schaffen; die Inklusion auf dem Gebiet von Kinder- und
Jugendreisen umfassend zu fördern und die dafür erforderlichen materiellen und finanziellen Voraussetzungen
zu schaffen; politische Lösungen für die Sicherung der
erforderlichen Arbeitsplätze im Bereich Kinder- und Jugendreisen im Zusammenhang mit der Einführung von
gesetzlichen Mindestlöhnen zu schaffen.
Auf welchen Boden werden wohl diese Forderungen
bei der Koalition fallen? Wer sich dem internationalen
Trend des Sozialtourismus mit dem Argument verweigert, Deutschland tue bereits genug, damit auch Menschen mit geringen finanziellen Möglichkeiten reisen
können, bei dem werden sie sicher auf taube Ohren stoßen - nicht aber in der Öffentlichkeit, die die Debatten
des Bundestages verfolgt.
Nicht nur die Linken waren es, sondern auch der
Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU, der die Mitgliedstaaten seit längerem auf ihre Verantwortung für
die soziale Dimension des Tourismus hinweist. Wir als
Linksfraktion unterstützen deshalb den Antrag der SPD,
weil wir nicht hinnehmen wollen, dass sich im Tourismus eine Zweiklassengesellschaft etabliert und verfestigt, nur noch jede zweite Familie verreisen kann und
Erholungsurlaube immer kürzer werden.
Ihnen von der Regierungskoalition kann ich auf den
sogenannten guten Weg nur mitgeben: Greifen Sie die
Vorschläge und Forderungen der Opposition auf, und
stellen Sie damit unter Beweis, dass Sie den europäischen Zug des Sozialtourismus noch nicht völlig verpasst haben.
Die Tourismuspolitik im Bundestag zeigt immer wieder, dass wir uns über Parteigrenzen hinweg einigen
Zu Protokoll gegebene Reden
können. So war das in der Vergangenheit auch beim Kinder- und Jugendtourismus, wo stets das Interesse an interfraktionellen Verhandlungen bestand. Vonseiten der
grünen Bundestagsfraktion besteht dieses Interesse auch
weiterhin, nicht zuletzt, weil wir mit dem Aktionsplan
eine erfolgreiche Basis im Jahr 2002 gelegt haben. Die
erhobenen Zahlen und Erkenntnisse, mit denen wir
heute argumentieren, sind maßgeblich darauf zurückzuführen. Ich hoffe, dass die Initiative der SPD dazu führt,
sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und ein politisches Signal aus der Mitte des Deutschen Bundestages
zu senden.
Der Antrag der Koalition hat eine schöne Prosa, aber
einen - um es ganz freundlich zu formulieren - ausbaufähigen Forderungsteil. Aber das soll nicht heute im Fokus stehen. Denn der heutige Antrag der SPD geht in
seinen Forderungen schon weiter. Das zeigt: Die Zuwendung aus der Opposition kann nur guttun. Wir sehen
jedoch weitere Punkte, die wir gerne gemeinsam mit Ihnen diskutieren würden. Denn es fehlen weiterhin einige
wichtige Zielstellungen. Der vorliegende Antrag der
SPD weist zumindest in der Begründung darauf hin,
dass wir eine soziale Dimension zu beachten haben. Einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge besteht für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche in
Deutschland die Gefahr, nicht am Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen zu können. Betroffen von Armut
sind oft junge Menschen, die in Familien leben, in denen
die Eltern arbeitslos sind oder sehr wenig verdienen,
welche einen Migrationshintergrund haben, welche kinderreich sind oder die aus Alleinerziehenden bestehen.
Die Teilhabe am Reisen unterstützt jedoch eine gesunde
Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Über die
positiven Effekte von Kinder- und Jugendreisen besteht
aber ohnehin Konsens. Deshalb lassen sie uns dieses
Ziel gemeinsam erreichen. Wenn wir es denn wirklich
ernst meinen, müssen wir gemeinsame Antworten finden, anstatt uns im politischen Klein-Klein zu streiten.
Ich muss auch darauf aufmerksam machen, dass unsere
Kolleginnen und Kollegen in den Ländern hier entscheidende Rollen einnehmen. Es wäre also dringend geboten, im Rahmen einer Bund-Länder-Koordinierung für
gemeinsame Ziele zu werben. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass es wichtig wäre, wenn alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages eine solche Initiative unterstützen würden. Sie kennen die Mehrheitsverhältnisse in den
Ländern. Es wäre also nicht allein des politischen Prozesses wegen äußerst hilfreich, hier interfraktionell zu
agieren.
Ich habe es vor wenigen Wochen gelassen, und ich
unterlasse es auch heute, genauer auf den Antrag einzugehen. Dazu bleibt in den Ausschüssen genug Zeit.
Stattdessen möchte ich neben der Bedeutung eines interfraktionellen Antrags auch die Ziele grüner Politik darlegen.
Wir wollen, dass auch Kinder und Jugendliche aus
einkommensschwachen Familien am Tourismus teilnehmen können. Das betrifft mehr als 70 Prozent der Kinder
und Jugendlichen. Sie nehmen schon heute deutlich weniger an Reisen teil. Auch öffentlich geförderte Kinderund Jugendreisen sind dabei sowohl im Kontext von
Kinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf die
internationale Jugendarbeit seit den 1990er-Jahren
rückläufig. Es wundert daher nicht, dass die Urlaubsintensität der Deutschen bis zu 13 Jahre ein Rekordtief seit
seiner Erfassung erreicht hat. Um dem wirkungsvoll zu
begegnen, helfen keine Prüfaufträge. Da hilft nur gemeinsames Agieren!
Wir brauchen zudem Maßnahmen im Bereich Ernährung, Verpflegung, Gesundheitsvorsorge, Prävention
und nachhaltiger Bildung. Heutzutage gibt es doppelt so
viele übergewichtige sowie adipöse Kinder und Jugendliche wie vor 20 Jahren. Wir müssen auch Antworten auf
den „Sauftourismus“ finden. 35 Prozent der jungen Erwachsenen als auch 35 Prozent der Jugendlichen ohne
Begleitung wählen Spaß-, Fun- und Partyurlaub.
Was wir brauchen, ist eine Sensibilisierung für bundesweite Qualitätsstandards. Höchstens 5 Prozent der
Unterkünfte sind mit dem Qualitätssiegel Kinder- und
Jugendreisen zertifiziert. Weitere Siegel sind „QMJ Sicher Gut!“, „Mit Sicherheit pädagogisch!“ und „GUT
DRAUF“. Sie alle sind kaum bekannt.
Qualität und Nachhaltigkeit gehören zusammen.
Doch knapp 50 Prozent der Schüler fällt nichts zum
Thema Nachhaltigkeit ein, und nachhaltige Angebote im
Kinder- und Jugendreisebereich liegen unter 10 Prozent.
Wenn wir den Kinder- und Jugendreisesektor stärken
wollen, müssen wir seine zunehmende ökonomische Bedeutung in den Vordergrund stellen. Das kann allerdings
zu einer wachsenden Kommerzialisierung des Sektors
führen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders problematisch, wenn gemeinnützige Träger unter einer dramatischen Senkung öffentlicher Förderung um 30 Prozent
leiden.
Wir brauchen auch Kenntnisse über den Zustand der
Einrichtungen im Kinder- und Jugendreisebereich. Es
herrscht aber nicht nur Unwissenheit über den Zustand
der Einrichtungen, es fehlen auch weiterhin geeignete
Maßnahmen. Das Einzige, was wir quantifizieren können, ist die Zertifizierung der Häuser: Nur 300 von
6 000 bis 8 000 sind zertifiziert. Wir haben also einiges
vor uns.
Die Qualifizierung der meist ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuer inklusive einer Bescheinigung ist
ebenso vonnöten wie der bundesweite Erwerb der Jugendleitercard. Seit Juni 2009 gibt es bundeseinheitliche
Qualitätsstandards der Jugendleitercard, und mittlerweile besitzen circa 300 000 Ehrenamtliche das Dokument. Das müssen wir weiter konstruktiv begleiten.
Über die internationale Dimension ist bislang wenig
gesprochen worden. Ein Ausbau der Beziehungen zu den
EU-Staaten und den Nachbarländern ist aber wichtig.
Durch das EU-Aktionsprogramm „JUGEND“ wurden
von 2006 bis 2010 13 Millionen Euro für Deutschland
bereitgestellt. Es werden auch etwa 400 000 Jugendliche durch Förderprogramme des Familienministeriums
erreicht. Dazu muss man in diesem Zusammenhang über
Stiftungen, Erasmus, InWEnt gGmbH, DED, AuslandsZu Protokoll gegebene Reden
BAföG, Freiwilligendienstprogramme und vieles mehr
diskutieren.
Der Austausch von Kinder und Jugendlichen, insbesondere von Schulklassen muss gestärkt werden. Ein
Wettbewerb, den man mit positiven Zielen wie Nachhaltigkeit, Qualität, Ernährung, Bewegung etc. verbinden
sollte, würde auch die Kinder und Jugendlichen bei der
Ausgestaltung einer solchen Reise unterstützen und sie
spielerisch lehren, sich damit auseinanderzusetzen. Das
betrifft im Übrigen etwa 2 Millionen Schülerinnen und
Schüler, die im Rahmen einer Schulfahrt pro Jahr verreisen. Das bringt etwa einen Umsatz von 300 Millionen
Euro. Doch laut Experten ist auch hier die Tendenz fallend.
Ich komme zum Schluss: Der Kinder- und Jugendtourismus steht erst am Anfang einer notwendigen ({0})
Entwicklung. Das Ziel, allen Kindern und Jugendlichen
die Teilhabe am Reisen zu ermöglichen, ist noch lange
nicht erreicht. Lassen Sie uns zusammenarbeiten sowie
konstruktiv und erfolgversprechend auf dieses Ziel hin-
arbeiten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8924 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger
Veit, Daniela Kolbe ({0}), Petra Ernstberger,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des aufenthalts- und freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs
- Drucksache 17/8921 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Europarecht beim Ehegattennachzug umsetzen
- Drucksache 17/8610 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir nehmen auch hier die Reden zu Protokoll. Das
betrifft die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel,
Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Sevim Dağdelen und
Memet Kilic.
Als der SPD-Kollege Dieter Wiefelspütz vor wenigen
Wochen bei einer Veranstaltung mit vielen Leitern der
Goethe-Institute aus aller Welt im Rahmen einer Podiumsdiskussion Ihre Initiative zur Abschaffung der verpflichtenden Deutschkenntnisse vor dem Ehegattennachzug
präsentierte, da war die Reaktion völlig eindeutig:
Kopfschütteln, bei einigen Entsetzen. Nach der Veranstaltung kamen etliche von diesen Leitern der GoetheInstitute zu mir und sagten ganz klar, dass sie zwar nicht
Stammwähler der CDU/CSU seien, aber dass wir mit
diesem Instrument der Vorintegration einen sehr wichtigen Schritt für einen wirklich nachhaltigen Integrationsprozess unternommen haben und sie deshalb für das
Vorgehen und den Kurswechsel der SPD kein Verständnis haben.
Nur zur Erinnerung: Wir haben in der Zeit der Großen Koalition die verpflichtenden Deutschkenntnisse
vor dem Ehegattennachzug gemeinsam eingeführt. Die
SPD nimmt jetzt Abschied von einer erfolgreichen Neuausrichtung in der Integrationspolitik. Sie liefern mit Ihrem Gesetzentwurf und vor allem mit Ihrer Begründung
dafür einen integrationspolitischen Offenbarungseid ab.
Frei nach Margot Käßmann: Nichts ist gut in Ihrem Antrag, und vor allem stimmt nichts von den Argumenten,
mit denen Sie ihn begründen. Wenn man das liest, was
Sie da aufgeschrieben haben, könnte man glauben, Sie
seien in einen langjährigen integrationspolitischen Tiefschlaf verfallen.
Ihr zentrales Argument lautet: Die nachziehenden
Ehegatten können Deutsch doch im Inland nach ihrem
Umzug lernen. Das ist nun wirklich abwegig. Unsere
zentrale Überlegung in der Zeit der Großen Koalition
für die Einführung des Sprachnachweises war doch gerade die Erfahrung aller, die sich in Sachen Integrationskursen auskennen, dass wir nun leider gerade die,
die es am nötigsten hätten, mit unserem Angebot nicht
erreichen. Das sind doch gerade die, die in abgeschotteten Verhältnissen leben und in deren Lebensalltag
Deutsch leider keine Rolle spielt. Das sind gerade die
Familien, in denen auch die in Deutschland geborenen
Kinder aufwachsen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen,
wodurch sie von vornherein schlechtere Chancen in
Schule und Ausbildung haben.
Das können wir uns angesichts unserer demografischen Entwicklung aber nicht mehr leisten. Weil es uns
um ein echtes Zusammen- und nicht Nebeneinanderleben geht, müssen wir in jede Migrantenfamilie die klare
Botschaft aussenden: Ohne Deutsch geht es nicht!
Es ist sehr unehrlich, wenn Sie in der Begründung Ihres Antrags darauf verweisen, dass der Besuch der Integrationskurse verpflichtend sei. Das ist theoretisch richtig. Sie wissen aber genauso gut wie ich, dass wegen des
EU-Assoziierungsabkommens und aus anderen rechtlichen Gründen es praktisch nicht möglich ist, einen Ehegatten wieder des Landes zu verweisen, weil er seiner
Pflicht zum Besuch eines Integrationskurses nicht nachgekommen ist. Insofern ist die Verpflichtung ein eher
stumpfes Schwert.
Und Sie wollen es in der Praxis doch auch gar nicht
anwenden: Es ist der Gipfel der Unehrlichkeit, wenn Sie
jetzt plötzlich davon sprechen, dass mit der Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes im Jahre 2011 die Überprüfung der Einhaltung der Verpflichtung zum Besuch
des Integrationskurses „effektiver wurde“, wie Sie jetzt
plötzlich in ihrem Antrag schreiben. Als wir die letzte
Änderung des Aufenthaltsgesetzes im vergangenen Jahr
debattiert haben, da haben Sie genau das noch kritisiert
und uns vorgeworfen, wir würden unsere ausländischen
Mitbürger mit Katalogen von Sanktionen traktieren. Ihr
Antrag und Ihre Argumentation sind von vorne bis hinten falsch und unehrlich.
Es ist ebenso nur schwer erträglich, wie Sie mit der
Frage umgehen, ob es denn verfassungsrechtlich zulässig sei, von den nachziehenden Ehegatten vor der Einreise einfache Deutschkenntnisse zu verlangen. Ich habe
noch sehr genau im Ohr, wie diejenigen in der SPD, die
schon immer für eine andere Ausländerpolitik standen,
wie Herr Edathy etwa, uns prophezeit haben, wir würden mit diesem Instrument sowieso vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Das Gegenteil ist eingetroffen: Die Karlsruher Richter haben dieses wichtige
Instrument der Integration und der Verhinderung der
Zwangsehe für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.
Das erwähnen Sie am Rande Ihres Antrags und schreiben dann, die eigentlich zutreffende Auffassung hätten
die von Ihnen in der Anhörung bestellten Sachverständigen vertreten, die unsere Vorschrift für verfassungswidrig erklärt hätten. Zu Deutsch: Ein Professor und eine
Verbandsvertreterin legen das Grundgesetz zutreffender
aus als das Bundesverfassungsgericht. Da fällt mir der
zutreffende Spruch ein: Ideologen sind Menschen, die
sich auch von Tatsachen nicht beirren lassen.
Das alles wäre ja nicht ganz so schlimm, wenn Sie nicht
Ihre ausländerpolitische Ideologie auf dem Rücken insbesondere von Frauen, aber auch von vielen jungen Männern austragen würden, die das Angebot der Goethe-Institute und vieler anderer Schulen und Sprachkursanbieter
dankbar annehmen.
Das war ja gerade das Ergebnis der Tagung der Leiter der Goethe-Institute, von der ich eingangs berichtet
habe: Es gab keinen Einzigen, der nicht gesagt hätte,
das sei richtig, was wir an Maßnahmen der Vorintegration beschlossen hätten. Die Sprachkurse sind deshalb
wertvoll, weil unsere zukünftigen Mitbürger eben nicht
nur die deutsche Sprache erlernen, sondern auch sehr
viel über unser Land, über Lebensgewohnheiten, unsere
Kultur und unsere Gesetze erfahren. Durchgehend wird
uns berichtet, dass die Teilnehmer für die Vorbereitung
auf das ihnen doch so fremde Land dankbar sind.
Was soll die abwegige Frage nach belastbarem empirischem Material, wie viele Zwangsehen denn nun konkret verhindert worden sind? Sie wissen ganz genau,
dass es solche Statistiken naturgemäß nicht geben kann.
Aber die Berichte der oftmals ja weiblichen Kurslehrer
sind eindeutig und sie sind positiv. Sie berichten auch
von einer erstzunehmenden Zahl von jungen Frauen, die
absichtlich durch die Prüfung fallen, um nicht nach
Deutschland verheiratet zu werden.
Es muss doch eigentlich auch für jedermann nachvollziehbar sein, dass die besten Hilfs- und Beratungsangebote in Deutschland völlig leerlaufen, wenn eine
Frau sich am Telefon noch nicht einmal Hilfe holen
kann, wenn sie familiärer Gewalt ausgesetzt ist. Natürlich ist es ganz klar ein wirksames präventives Mittel gegen Zwangsehen, wenn die in Deutschland lebenden und
meist fundamentalistisch geprägten Familien wissen:
Da kommt eine junge Frau, die kann Deutsch, und sie
weiß um ihre Rechte und unsere Gesetze. Es ist völlig
unverständlich, dass Sie jungen Frauen, die wir stärken
möchten, denen wir Selbstvertrauen vor dem für sie oftmals schwierigen Umzug nach Deutschland geben,
diese Unterstützung verweigern wollen.
Es ist außerdem wirklich dreist und unehrlich, wenn
Sie die Ungleichbehandlung zwischen den Frauen, denen wir einfache Deutschkenntnisse abverlangen, und
solchen Frauen beklagen, die aus Ländern stammen, mit
denen Visafreiheit besteht. Es sind die Vertreter der SPD
bei den damaligen Koalitionsverhandlungen gewesen,
der Kollege Wiefelspütz und unser damaliger Kollege
Bürsch, die genau auf diese Regelung gedrängt haben.
Ihre Argumentation war damals, dass wir, wegen des
schon seinerzeit von Ihnen beklagten mangelnden Zuzugs von hochqualifizierten Arbeitskräften, mit den verpflichtenden Deutschkenntnissen für die Ehegatten eine
weitere Hürde für die Zuwanderung auf den deutschen
Arbeitsmarkt aufbauen würden.
Wenn Sie heute in Ihrem Antrag schreiben, dass von
der Staatsangehörigkeit dieser nachziehenden Ehegatten nicht automatisch auf einen geringeren Integrationsbedarf geschlossen werden kann, dann haben Sie völlig
recht. Aber das war damals gerade unser Argument, das
Sie nicht gelten lassen wollten.
Von mir aus können wir diese Privilegierung sofort
aufheben, weil es in der Tat widersprüchlich ist, dass
eine Türkin ohne Deutschkenntnisse zwar nicht zu einem
Türken nachziehen dürfte, aber zu einem Japaner. Diesen Widerspruch hat uns aber die SPD in den Koalitionsverhandlungen eingebrockt. Die CDU/CSU wollte
das noch nie!
Sie dramatisieren auch die angeblichen Probleme
beim Spracherwerb im Ausland. In nahezu allen
Hauptherkunftsländern gibt es auch in kleineren Städten
Sprachkursangebote. Gerade im Falle der Türkei hat
eine Reihe von Rückkehrern aus Deutschland sich durch
die Gründung kleiner Sprachschulen sogar eine wirtschaftliche Existenz aufgebaut. Die sehr verzweigten familiären Netzwerke führen auch dazu, dass es kein Problem darstellt, einen gewissen Zeitraum bei Verwandten
in größeren Städten zu leben und dort Deutsch zu lernen.
Es gibt vielfältige mediale Sprachkursangebote, die von
den in Deutschland lebenden Ehegatten zur Verfügung
gestellt werden können, und auch die Deutsche Welle
bietet im Internet einiges.
Es ist auch kein Versagen unserer Visastellen im Ausland, in denen hochprofessionell gearbeitet wird, wenn
zwischen dem Besuch des Sprachkurses und dem Umzug
nach Deutschland zum Teil mehrere Monate liegen und,
wie Sie in Ihrem Antrag erwähnen, die DeutschkenntZu Protokoll gegebene Reden
nisse wieder verloren gehen. Zunächst einmal ersetzt
der Spracherwerb im Ausland ja nicht die Verpflichtung
zum Besuch eines Integrationskurses im Inland. Das Niveau, das im Ausland erreicht werden muss, ist A1 nach
dem europäischen Referenzrahmen. Das Niveau, das am
Ende des Integrationskurses erreicht worden sein soll,
ist B1, wie Sie ja sehr genau wissen. Wir müssen einfach
von den Familien verlangen, dass sie den Umzug nach
Deutschland etwas gewissenhafter vorbereiten und alle
Dokumente vorliegen, wenn der Ehegattennachzug beantragt wird. Die Unvollständigkeit der Dokumente ist
in aller Regel das Problem. Im Grunde sollte der
Sprachkurs erst zu einem Zeitpunkt begonnen werden,
zu dem alle anderen notwendigen Unterlagen vorliegen.
Dann kann es zwischen Ende des Sprachkurses und Erteilung des Visums zur Einreise nach Deutschland sehr
schnell gehen. Ansonsten sind die Kommunen vor Ort
aufgefordert, für einen schnellen Besuch von Integrationskursen nach dem Umzug zu sorgen.
Was Sie hier vortragen, sind doch alles vorgeschobene Argumente. Sie wollen mit Ihrer Haltung jetzt bei
den Landtagswahlen und später bei der Bundestagswahl, insbesondere bei türkischstämmigen Wählern,
Stimmen abgreifen. Das ist das einzig wahre Ziel, das
hinter Ihrem Antrag steckt.
Das ist nun wirklich schlimm: Auf der einen Seite hat
die SPD nicht den Mumm, Herrn Sarrazin aus der SPD
auszuschließen, weil man weiß, dass er eben gerade
auch in der SPD-Wählerschaft auf Resonanz stößt, und
die will man nicht verprellen. Auf der anderen Seite
wollen Sie gleichzeitig die Stimmen von Integrationsverweigerern einkassieren, denen die Verpflichtung zum
Deutschlernen ein Dorn im Auge ist. Das hat alles mit
seriöser Politik nichts mehr zu tun, und deshalb lehnen
wir Ihren Antrag ab.
Zwar ist richtig: Die Regelung des Spracherwerbs
vor Ehegattennachzug, die wir mit unserem heute eingebrachten Gesetz abschaffen wollen, wurde unter der
Großen Koalition eingeführt und somit notgedrungen
auch von uns mitgetragen. Viele von uns - ich gehörte
auch dazu - haben aber insbesondere die Einführung
des Kriteriums Spracherwerb damals schon für falsch
gehalten und das an dieser Stelle wiederholt zum Ausdruck gebracht.
Dass die meisten von uns dem Gesetz dennoch zugestimmt haben, lag einzig und allein darin, dass die
Kompromisse, insbesondere die Verschärfungen im
Familiennachzug, der „Preis“ für die erstmalige Einführung einer gesetzlichen Altfall- und Bleiberechtsregelung waren.
Die Einführung dieses Spracherwerbserfordernisses
im Jahre 2007 sollte neben der Verbesserung der Integrationschancen für nachziehende ausländische Ehegatten vor allem ein Mittel zur Bekämpfung von Zwangsehen sein; so lautete die Begründung der CDU. Heute,
fünf Jahre nach Einführung der Regelung, fehlen weiterhin jedwede empirische Belege dafür, dass dieses Ziel
mit der Einführung des Spracherfordernisses vor Einreise erreicht worden wäre. Ein Gesetz aber, dessen erklärtes Ziel nicht erreicht wird, hat keine Berechtigung
und muss entweder abgeschafft oder modifiziert werden.
Das geltende Recht führt zudem in vielen Fällen zu
unverhältnismäßigen und, wie wir meinen, nicht mit
Art. 6 Grundgesetz vereinbaren Härten. So gibt es in
vielen Ländern gar keine Goethe-Institute, oder die Institute sind zu weit vom Wohnort entfernt. Dies wiederum kann zu unüberwindbaren finanziellen Belastungen
führen, wenn aufgrund der großen Entfernung zum
Wohnort eine Wohnung in Kursnähe angemietet und
gleichzeitig die Arbeitstätigkeit am Wohnort aufgegeben
werden muss. Dazu kommen dann noch die Kurskosten
selbst, die gemessen an den Lebenshaltungskosten im
Herkunftsland häufig recht hoch sind. Dabei wird meist
aus dem Blick verloren, dass es sich hier nicht allein um
aus der Türkei stammende nachzugswillige Ehegatten
handelt. Als Beispiel möchte ich vielmehr eine in Vollzeit
arbeitende Fabrikarbeiterin an der ostsibirischen Beringsee nennen. Sie hat bis zum nächsten Goethe-Institut
in Novosibirsk eine Anfahrt von 6 000 Kilometer Luftlinie. Sollte sie dann noch ein Kind alleine erziehen,
steht sie endgültig vor unüberwindbaren Hindernissen.
Nicht erst seitdem der EuGH das in seinem Urteil vom
4. März 2010 in der Rechtssache Chakroun - C-578/08 festgestellt hat, ist es so, dass „der den Mitgliedstaaten
eröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer
Weise genutzt werden“ darf, „die das Richtlinienziel - die
Begünstigung der Familienzusammenführung - und die
praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen
würde.“
Genau das ist jedoch geltende Rechtslage bei uns und
mit Art. 6 Grundgesetz und Art. 8 EMRK nur sehr
schwer vereinbar, die beide Ehe und Familie unter den
besonderen Schutz des Staates stellen.
Zwar haben das Bundesverfassungsgericht und das
Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass die Regelung des Spracherfordernisses vor Einreise nach
Deutschland sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit
der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar ist.
In einem Kostenbeschluss wurde vom Bundesverwaltungsgericht kürzlich jedoch angedeutet, dass diese
nationale Rechtsprechung im Lichte der EuGH-Entscheidung wohl nochmals überprüft werden müsse.
In den vergangenen fünf Jahren haben Berichte von
Rechtsanwälten und Verbänden sowie zahlreiche Petitionen von Einzelpersonen gezeigt, dass es viele Menschen gibt, denen das Leben ihrer Ehe aufgrund des für
die Zusammenführung geforderten Spracherfordernisses auf unbestimmte Zeit unmöglich gemacht wird. Dieser konkret gelebten und von Menschen in unserem Land
täglich erfahrenen Not können und wollen wir uns nicht
verschließen.
Dennoch sagen wir deutlich: Ausländische Ehepartner müssen Deutsch lernen, aber eben erst hier in
Deutschland - und zwar mit dem Ziel der Prüfung des
zwei Stufen höheren Sprachniveaus B1. Nur so können
sie sich in Deutschland integrieren. Das Aufenthaltsgesetz verpflichtet sie, sich unverzüglich nach ihrer
Zu Protokoll gegebene Reden
Einreise in Deutschland zu einem Integrationskurs anzumelden. Das ist geltendes Recht, und das soll auch so
bleiben.
Aber wir wollen das Erfordernis des Spracherwerbs
vor Einreise auch noch aus einem anderen Grund abschaffen: Es führt zu großen Ungleichbehandlungen und
insbesondere zu einer deutlichen Inländerdiskriminierung. Wenn ein in Deutschland lebender Ausländer zu
der Gruppe von Ausländern gehört, die visumsfrei nach
Deutschland einreisen dürfen, dann muss der nachziehende Ehegatte keine Deutschkenntnisse bei Einreise
nachweisen. Wenn also beispielsweise ein Türke zu
seiner in Deutschland lebenden koreanischen Ehefrau
ziehen möchte, muss er vor der Einreise kein Deutsch
lernen; der türkische Ehemann, der mit seiner in
Deutschland lebenden deutschen Ehefrau zusammenleben möchte, muss dies jedoch vor Einreise tun.
Aus dem EuGH-Urteil Metock folgt, dass die EU-Mitgliedstaaten schon seit 2008 im Anwendungsbereich der
Familienzusammenführungsrichtlinie keine eigenen
Regelungen die Familienzusammenführung betreffend
einführen können. Die brasilianische Ehefrau eines in
Deutschland lebenden Franzosen muss demnach keinen
Deutschtest vor Einreise machen, die brasilianische
Ehefrau eines Deutschen kann jedoch nur mit Sprachkenntnissen zu ihrem Ehemann ziehen.
Und schließlich - so berichten Verbände und Sprachschulen - vergehen zwischen Bestehen des Deutschtests
im Ausland und der Erteilung des Visums und der Einreise nach Deutschland häufig Monate. In dieser Zeit
vergessen viele Menschen das Erlernte wieder, weil sie
es nicht anwenden können. In Deutschland beginnen sie
dann nicht selten bei Null, und viel Mühe und Zeit sind
für wenig Nutzen investiert worden.
Aus den dargelegten Gründen halten wir das Spracherwerbserfordernis vor Einreise für ungeeignet, überflüssig, mehrfach diskriminierend und europarechtswidrig.
Die SPD hat in gemeinsamer Regierungskoalition mit
der Union den Sprachnachweis für den Ehegattennachzug eingeführt. Dass sich die SPD jetzt, ein halbes Jahrzehnt später, davon distanziert, ist wohl als reine Taktik
zu bewerten. Sollte die SPD wieder einmal regieren,
wird sie anders reden als jetzt in der Opposition.
Dass von Personen, die ein Visum zum Zwecke des
Ehegattennachzuges nach Deutschland beantragen, die
Fähigkeit zur Verständigung in deutscher Sprache „auf
einfache Art“ verlangt wird, ist nicht nur zumutbar, sondern sogar ganz im Sinne der Zuwanderer.
In der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich des Erwerbs und des Nachweises der erforderlichen Sprachkenntnisse gab es anfänglich Berichte
über eine Anwendungspraxis, die die Antragsteller vor
zusätzliche, in Einzelfällen unzumutbare Hürden stellt.
Inzwischen hat eine Evaluierung ergeben, dass es mittlerweile vielfältige Möglichkeiten gibt, Deutsch im Herkunftsland zu lernen. So hat sich die Anzahl der öffentlichen und privaten Sprachlernzentren erhöht. Was die
Abnahme der notwendigen Sprachprüfung vom Niveau
„Start 1“ betrifft, sind neben den Goethe-Instituten eine
Reihe anderer Institutionen, wie telc, eine Tochter des
Deutschen Volkshochschul-Verbands e. V., prüfungsberechtigt. Diese sind insbesondere auf dem Balkan und in
der Türkei vertreten, woher eine hohe Zahl von Personen stammt. Ebenso wird das österreichische Sprachdiplom anerkannt.
In den wichtigsten Herkunftsländern, zum Beispiel
Türkei, Kosovo und Russische Föderation, gibt es auch
in ländlichen Gebieten Privatschulen und Privatlehrer,
die Deutsch anbieten. Ferner gibt es kostenlose Internetdeutschkurse der Deutschen Welle und weitere
Selbstlernkurse.
2009 haben weltweit 65 Prozent der Teilnehmer die
Sprachprüfung bestanden; bei Teilnehmern, die zuvor
einen Sprachkurs des Goethe-Instituts besucht hatten,
lag die Bestehensquote sogar bei 81 Prozent.
Dem Deutschen bleibt es ferner unbenommen, seinen
ausländischen Ehepartner persönlich zu unterstützen.
Ein Problem entstand zudem aus der Privilegierung
nichtdeutscher EU-Bürger: Unionsbürger müssen keine
Sprachkenntnisse vorweisen; auch mögliche Familienangehörige aus Nicht-EU-Staaten benötigen beim Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Unionsbürgern
keine Sprachkenntnisse. Diese Ungleichbehandlung
lässt sich nicht ganz vermeiden, ist in Relation zu dem
Ziel der verbesserten Integration jedenfalls als nachrangig anzusehen.
Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Sie
sind aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte sowie Demokratie
und Rechtsstaat sind das für alle geltende Fundament
unserer Gesellschaft.
Die Linken wie die Sozialdemokraten wollen, wie sie
auch mit den vorliegenden Anträgen zeigen, etwas anderes: Sie wollen die Abschaffung der Nachzugsregelung.
Damit werden sie, wie immer mit solchen Anträgen zur
Migrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern in
Deutschland erschweren, indem sie falsche Erwartungen wecken und statt Engagement nur Anspruchsdenken
fördern.
Wir wollen weiter die Möglichkeiten verbessern, im
Ausland Deutsch zu lernen.
Ein Wort noch zu dem in diesem Zusammenhang stets
gemachten Verweis auf Art. 6 Grundgesetz. Auch wenn
SPD und Linke das nicht wahrhaben wollen: Art. 6
Grundgesetz ist von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nie als Freibrief für unkontrollierte und bedingungslose Zuwanderung nach Deutschland gedacht gewesen. Bis heute wird er von der Rechtsprechung auch
nicht so interpretiert.
Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom
30. März 2010 ({0}) - das auch im Gesetzentwurf erwähnt wird - entschieden, dass die Regelung zum
Sprachnachweis beim Ehegattennachzug in der geltenden Form verfassungsgemäß und mit europäischem
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({1})
Recht vereinbar ist. Das Gericht hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Regelung auch ohne allgemeine Härtefallregelung mit dem Grundgesetz vereinbar
ist und dass der Erwerb einfacher Deutschkenntnisse im
Herkunftsland auch nicht deshalb unzumutbar sei, weil
die türkische Klägerin des Ausgangsverfahrens Analphabetin ist.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist durch
einen Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25. März 2011 ({2}) noch
einmal bestätigt worden
Ich finde es befremdlich, dass die SPD mit ihren gegenteiligen Ausführungen meint, das Verfassungsgericht
tadeln zu müssen.
Die Oppositionsparteien verwenden jeden beliebigen
Vorgang aus der Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwanderung das Wort zu reden. Wachsenden
Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme und ansteigende Ausländerfeindlichkeit nehmen sie dafür billigend in Kauf.
Wenn etwa die SPD zur Untermauerung der Deutschlernpflicht von nachgezogenen Ehegatten eine entsprechende Sanktionierung fordern würde, wäre sie glaubwürdiger.
Wir sollten doch so ehrlich sein, gemeinsam anzuerkennen, dass abgeschottete Migrantenbiotope mit Ehegattenimport aus unseren gesellschaftlichen Werten
fernstehenden Zonen nicht unbedingt zu einem friedlichen Zusammenleben in Deutschland beiträgt.
Die FDP hat ihre Kritikpunkte an der Ehegattennachzugsregelung nie versteckt, hält das Integrationsziel
aber für übergeordnet. Wenn die Oppositionsparteien
endlich einmal nicht nur mit Anträgen der vorliegenden
Art um Migrantenstimmen buhlen, sondern auch die Anliegen des friedlichen Zusammenlebens und der Bekämpfung der Gettobildung ernst nehmen wollten, wären ihre Initiativen ernst zu nehmen.
Wir Liberalen gestalten dagegen die Zuwanderungspolitik mit der Union neu. Statt politischer Nachsicht mit
Integrationsfehlleistungen einerseits und daraus resultierenden Ressentiments der Bevölkerung gegen Zuwanderer andererseits wollen wir eine Steuerung der
Zuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten und gewichteten Kriterien, die die Integrationsziele klar benennt und einfordert. Wer dauerhaft
hier leben und Bürgerrechte ausüben will, muss Deutscher werden wollen.
Umgekehrt wollen wir das dann aber auch ohne
Wenn und Aber zugestehen: Wir wollen eine neue Kultur
des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf
Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet: für die, die nicht nur „territorial“
nach Deutschland kommen, sondern auch in unserem
Land und unserer Gesellschaft wirklich ankommen wollen.
Wir halten es nicht für unzumutbar, Deutsch zu lernen. Wir halten Zuwanderer nicht, wie SPD oder Linke,
für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, denen
nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werden
kann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort
„Migrationshintergrund“ stigmatisiert werden sollen.
Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgen
muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigenden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungen muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich
positiv denken. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für diejenigen, die das geschafft haben. Wir halten
integrierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für eine
große Bereicherung unserer Gesellschaft. Wir beglückwünschen diejenigen, die sich erfolgreich integriert haben! Sie können stolz auf ihre Leistung sein, und wir sind
dankbar und stolz, dass sie sich für Deutschland entschieden haben.
Am 1. März lief die Frist zur Stellungnahme zum
Grünbuch der EU-Kommission zur EU-Familienzusammenführungsrichtlinie ab. Die Linke hat, wie zahlreiche
andere Verbände und die Bundesregierung auch, eine
entsprechende Stellungnahme abgegeben. Die Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie in
Deutschland im Jahr 2007 und insbesondere die Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug durch CDU/
CSU und SPD haben wir damals wie heute scharf kritisiert. Namentlich der Fraktion Die Linke habe ich die
EU-Kommission aufgefordert, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung einzuleiten, weil
die jetzige deutsche Rechtslage und Praxis eindeutig gegen die geltende Richtlinie, die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes und die Auslegung der
Richtlinie durch die EU-Kommission widersprechen.
Die Linke setzt sich seit langem für ein möglichst umfassendes Recht auf Familienzusammenführung ein, das
insbesondere auch nicht von der wirtschaftlichen und
sozialen Lage der Betroffenen abhängig gemacht werden darf. Insofern sehen wir auch einige Anforderungen
der Richtlinie, etwa zur Lebensunterhaltssicherung, kritisch, die im Grünbuch nicht infrage gestellt werden. Die
Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie in
Deutschland im Jahr 2007 kritisieren wir aber insbesondere deshalb, weil sie dazu genutzt wurde, um den Familiennachzug nach politischen Nützlichkeitserwägungen
des Aufnahmelandes einzuschränken. Die Neuregelung
der Sprachnachweise im Ausland wirkt sozial ausgrenzend. Sie trifft insbesondere wirtschaftlich, sozial und
bildungsbenachteiligte Menschen, ältere Menschen, Analphabetinnen und Analphabeten und die ländliche Bevölkerung mit schwierigem Zugang zu Sprachkursen
usw. Die von der deutschen Gesetzeslage geforderten
mündlichen und schriftlichen Sprachkenntnisse auf dem
Niveau A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen stellen nach Kenntnis der
Linksfraktion die höchsten Anforderungen in der Europäischen Union dar. Die Behauptung der damaligen
schwarz-roten Bundesregierung, die Neuregelung solle
angeblich dem Kampf gegen Zwangsverheiratungen
bzw. einer besseren ({0})Integration der Betroffenen
dienen, war von Anfang an heuchlerisch und zynisch.
Einen Beleg für diese absurde Behauptung ist die BunZu Protokoll gegebene Reden
Sevim Da?delen
desregierung bis heute schuldig geblieben. Was damit
allerdings erreicht wurde, war die Verfestigung von Ressentiments gegenüber Migrantinnen und Migranten allgemein und Türkinnen und Türken im Besonderen. Das
war schon damals schäbig und ist es bis heute.
Die Linke. hat seit 2007 zahlreiche parlamentarische
Initiativen zur Rückgängigmachung dieser Verschärfung
des Ehegattennachzugs unternommen, darunter mehr
als 15 Kleine Anfragen an die Bundesregierung. Im Mai
2010 haben wir den Antrag „Ehegattennachzug ohne
Sprachhürden ermöglichen“ eingebracht. Die Bundesregierung will aber offensichtlich an dieser menschenfeindlichen Regelung aus politischen Gründen so lange
wie nur irgend möglich festhalten, obwohl längst klar
ist, dass spätestens der Europäische Gerichtshof die
deutsche Praxis stoppen wird, nachdem die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland leider so kläglich versagt hat. Die Bundesregierung stellt sich auf
parlamentarische Anfragen hin taub und nimmt nicht
zur Kenntnis, dass selbst das Bundesverwaltungsgericht
seine bisherige Auffassung ändern musste und nunmehr
eine Klärung durch den Europäischen Gerichtshof für
erforderlich hält. Sie ignoriert die Rechtsauffassung der
EU-Kommission genauso wie das überzeugende Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes und die Rechtsprechung und Praxis unseres Nachbarlandes Niederlande. Unser aktueller Antrag fasst die Entwicklung und
Argumente im Europarecht zusammen. Die Bundesregierung argumentiert rein formal - und nimmt Menschenrechtsverletzungen im staatlichen Gewand damit
sehenden Auges in Kauf. Wer jedoch die Gewährleistung
von Menschenrechten vom Nachweis von Deutschkenntnissen abhängig macht, verletzt das Grundgesetz und
die Menschenrechte mehr, als es die vermeintlichen Integrationsverweigerer je könnten. Hören Sie also endlich
auf, unter dem Deckmantel der Integration die Rechte
von Migrantinnen und Migranten einzuschränken!
Nunmehr will auch die SPD auf der Oppositionsbank
die selbst eingeführte Regelung der Sprachanforderung
wieder zurücknehmen. Wie bei der sogenannten Optionspflicht bzw. Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft sowie der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige sieht sich die SPD
genötigt, den Schulterschluss mit den - potenziell Betroffenen zu suggerieren. In ihrer elfjährigen Regierungszeit jedenfalls hat sie entsprechende parlamentarische Initiativen immer abgelehnt. Doch nun ist
schließlich wieder Wahlkampf in mehreren Bundesländern. Und da setzt die SPD mal wieder auf die Vergesslichkeit der Migrantinnen und Migranten. Doch, liebe
Migrantinnen und Migranten, die Sprachanforderungen
beim Ehegattennachzug im Jahr 2007 wurden bekanntlich mit der SPD beschlossen. Warum sollte man der
SPD glauben, dass sie wirklich ihre grausamen Gesetze,
die sie trotz massiver Kritik und Proteste der Betroffenen
und vieler Verbände hier im Bundestag beschlossen hat,
zurücknehmen wird? Mir jedenfalls fällt kein Grund ein.
Doch die SPD fordert nicht einmal etwa eine uneingeschränkte und bedingungslose Umsetzung von Menschen- und Grundrechten. Nein! Die SPD hält am
Zwang zum Deutscherwerb fest. Auch wenn dieser erst
nach der Einreise erfolgen soll, so wird er dann umso
vehementer eingefordert. Dass Kenntnisse der deutschen Sprache zwar wichtig, aber nicht ausreichend
sind für die Integration in die Gesellschaft, ist der SPD
genauso wenig wichtig wie der Umstand, dass viele Migrantinnen und Migranten die deutsche Sprache beherrschen, das jedoch nichts bzw. kaum etwas an ihrer Situation in Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt ändert.
Völlig kritiklos wird in der Begründung darauf Bezug
genommen, dass die aufenthaltsrechtlichen Zwangsund Sanktionierungsregelungen zum Spracherwerb zum
1. Juli 2011 verschärft wurden - in dem Antrag heißt es
euphemistisch: „effektiviert“. Dass Migrantinnen und
Migranten jeweils nur eine längstens einjährige Aufenthaltserlaubnis erhalten sollen, solange sie nicht Sprachkenntnisse des Niveaus B1 nachgewiesen haben, hält die
SPD offenbar für unproblematisch. Die Linke ist strikt
dagegen, die Gewährung grundlegender Rechte vom
Nachweis von Deutschkenntnissen eines bestimmten Niveaus abhängig zu machen und Integration durch
Zwangsmittel erreichen zu wollen. Angebote zum DeutschSpracherwerb im In- und Ausland müssen freiwillig ausgestaltet werden. In Bezug auf die größte Migrantengruppe in Deutschland, türkische Staatsangehörige,
folgt dies übrigens schon aus dem Verschlechterungsverbot des Assoziationsrechts - wie die Gerichte und Behörden in den Niederlanden längst begriffen haben. Leider scheint das bei Ihnen noch immer nicht angekommen
zu sein.
Die Linke fordert, dass die Einschränkung des Menschenrechts auf Familienzusammenleben endlich ohne
Wenn und Aber beendet wird. Die Bundesregierung
muss dem niederländischen Vorbild folgen und die europarechtswidrigen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug sofort zurücknehmen. Auch die Bundesregierung muss diesem Beispiel folgen, will sie nicht
hinter die rechtspopulistisch beeinflusste Regierung in
den Niederlanden zurückfallen. Die FDP scheint zumindest dies bereits begriffen zu haben.
Schon vor meiner Wahl in den Bundestag war es mir
ein wichtiges Anliegen, die Familienzusammenführung
zu vereinfachen. Als Jurist habe ich diesbezüglich viele
Fälle behandelt. Etliche Paare müssen über Jahre unzumutbare und unnötige Trennungen durchleben. Dies
ist ein großes menschenrechtliches Problem. Unmittelbar nach meiner Wahl in den Bundestag erreichten mich
viele Beschwerden wegen der restriktiven Einwanderungsregelungen beim Ehegattennachzug. Die Beschwerden erfolgen immer noch, in Form von Briefen,
Anrufen und eingereichten Petitionen.
Vorab möchte ich mitteilen, dass ich für den Gesetzentwurf der SPD und den Antrag der Linkspartei eine
Zustimmung empfehle. Unsere Fraktion hat bereits letztes Jahr einen Gesetzentwurf zum Ehegattennachzug
eingereicht. Damit wollen wir ebenfalls die im Jahr
2007 eingeführten Verschärfungen wieder aufheben.
Insbesondere geht es uns um die Aufhebung des sogenannten Spracherfordernisses sowie um die Lebensunterhaltssicherungspflicht beim Nachzug zu Deutschen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Sprachnachweis wurde von der Großen Koalition damit begründet, dass Sprachkurse Zwangsehen
verhindern würden ({0}). Belege dafür konnte die Regierung bislang
nicht vorlegen.
Auch die FDP ist der Ansicht, die Regelung ist problematisch, weil sie auf die Staatsangehörigkeit des
Stammberechtigten und nicht des nachziehenden Ehegatten abstellt. Darüber hinaus ist auch sie der Meinung, dass die Regelung unverhältnismäßig ist, weil der
Erwerb von Sprachkenntnissen für die Ehegatten im
Ausland oft unzumutbar ist ({1}).
Sprachen lernt man am besten dort, wo sie gesprochen werden. Der Spracherwerb in Deutschland ist viel
leichter, schneller, günstiger und weniger belastend für
die betroffenen Familien als im Ausland. Grundsätzlich
ist die Teilnahme an Integrationskursen in Deutschland
sogar seit 2005 verpflichtend und kann mit Mitteln des
Verwaltungszwangs durchgesetzt werden.
Abschließend möchte ich auf drei Umsetzungsverstöße im deutschen Recht hinweisen:
Erstens. Das Spracherfordernis beim Ehegattennachzug verstößt gegen die Familienzusammenführungsrichtlinie. Das ergibt sich aus der Entscheidung des
EuGH in der Rechtssache Chakroun sowie für assoziationsrechtberechtigte türkische Staatsangehörige aus
der Entscheidung des EuGH in der Sache Toprak. Dies
hat die Europäische Kommission in einer schriftlichen
Stellungnahme vom Mai 2011 in dem Verfahren Imran
vor dem EuGH bezüglich der dem deutschen Recht vergleichbaren niederländischen Regelung festgestellt. Die
Richtlinie verbiete es den Mitgliedstaaten, Sprachtests
als „Bedingung“ zu verstehen, von der das Recht auf
Familienzusammenführung selbst abhängig ist.
Zweitens. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz
setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum
Familiennachzug in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Nur im Ausnahmefall darf nach
deutschem Recht von der Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden. Nach der Chakroun-Entscheidung darf die mangelnde Lebensunterhaltssicherung nicht zu einer Regelnachzugssperre
führen. Denn Art. 17 RL 2003/86/EG fordert in allen
Fällen der Ablehnung eines Antrags auf Familiennachzug eine Einzelfallabwägung.
Drittens. Gemäß § 29 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz kann
der Zugang zum Arbeitsmarkt für nachgezogene Ehegatten von Drittstaatsangehörigen für einen Zeitraum von
bis zu zwei Jahren eingeschränkt werden. Die Familienzusammenführungsrichtlinie berechtigt die Mitgliedstaaten, Bedingungen aufzustellen, nach welchen Familienangehörige aus Drittstaaten eine Erwerbstätigkeit
ausüben können. Gemäß Art. 14 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie dürfen diese Bedingungen
jedoch nur eine Frist von zwölf Monaten vorsehen, in
der die Mitgliedstaaten eine Arbeitsmarktüberprüfung
durchführen können, bevor sie den Familienangehörigen die uneingeschränkte Ausübung einer Erwerbstätigkeit gestatten.
Wir sollten nicht warten, bis das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof uns aufträgt,
die geltenden Regelungen aufzuheben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8921 und 17/8610 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann sind auch
diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Novelle des Bundesberggesetzes und anderer
Vorschriften zur bergbaulichen Vorhabengenehmigung
- Drucksache 17/9034 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wir nehmen die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll. Dies betrifft Andreas G. Lämmel,
Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Eva Bulling-Schröter
und Oliver Krischer.
Im Januar hatten wir bereits über einen Antrag der
Grünen debattiert, der den Bergbau in Deutschland wirtschaftlich zum Erliegen bringen würde. In eine ähnliche
Richtung geht nun der vorliegende Antrag der Linken.
Der Antrag der Grünen war keine Überraschung und
er entsprach in seiner teils wirtschaftsfeindlichen Ausrichtung auch sicher allen Erwartungen. Dass nun ausgerechnet die Linken einen solchen Antrag einbringen,
ist doch überraschend, wenn nicht grotesk. Ihre große
Vorgängerpartei, die SED, hat über 40 Jahre brutalen
Raubbau an Kultur, Mensch und Natur in Ostdeutschland betrieben, und nun fordern ausgerechnet Sie Mechanismen zur Konfliktregelung, welche „die Interessen
der Umwelt und der vom Abbau betroffenen Menschen
und Unternehmen angemessen berücksichtigt“. Aus
Ihrer Feder ist diese Forderung nicht notwendig, da dies
im gegenwärtigen Berg- und Umweltrecht bereits so
vorgesehen ist. Dies gilt ebenso für die von Ihnen geforderten Umweltverträglichkeitsprüfungen, UVP. Sie suggerieren, in Deutschland gäbe es keine Abwägung zwischen den Interessen der Anwohner, des Bergbaus und
der Umwelt. Das ist schlicht unzutreffend.
Bevor ich auf den Inhalt Ihres Antrages zu sprechen
komme, muss ich aber auf die Glaubwürdigkeit des Antragsstellers eingehen. Unter der Verantwortung der
Vorgängerpartei der Linken, der SED, wurden in der
ehemaligen DDR unter rücksichtsloser Zerstörung von
Kultur, Mensch und Natur Rohstoffe abgebaut. Die zwei
großen Sünden lauten Uran- und Braunkohleabbau.
Erstens zum Uranabbau der Wismut in Sachsen und
Thüringen. Bis 1990 wurden in dicht besiedelten Gebieten circa 230 000 Tonnen Uran abgebaut und in die
Sowjetunion geliefert. Die Hinterlassenschaften waren
circa 3 700 Hektar radioaktiv kontaminierte Halden und
Betriebsflächen. 300 Millionen Kubikmeter Bergmaterial wurden gefördert und auf 48 Halden abgelagert.
160 Millionen Kubikmeter schadstoff- und uranbelastete
Schlämme wurden produziert. Nach der Wiedervereinigung wurde der Abbau sofort gestoppt und erste Sanierungskonzepte ausgearbeitet, diese fehlten zu DDRZeiten völlig.
Aus dem Haushalt des Bundes wurden bis Ende 2011
5,6 Milliarden Euro ausgegeben, um diese gewaltigen
Umweltzerstörung zu korrigieren. Manche Sanierungsprojekte werden noch bis 2020 dauern. Bis 2040 werden
die Sanierungsmaßnahmen insgesamt voraussichtlich
7,1 Milliarden Euro gekostet haben.
Zweitens zum Braunkohleabbau. Hier war das Bild
ähnlich verheerend wie beim Uranabbau. 120 000 Hektar durch Tagebau und Braunkohleveredlungsanlagen
zerstörte Landschaft, extrem hohe Pro-Kopf-Belastung
an Schwefeldioxid und Staub, dazu schwerwiegende
Eingriffe in den Wasserhaushalt der Abbauregionen und
die Verklappung von Abbauresten und Industrieabfällen
in ausgebeuteten Tagebauen.
Nun alle Notwendigkeiten der Sanierung aufzuzählen, sprengt den zeitlichen Rahmen, daher nur drei
Punkte: Das Defizit an Grundwasser in den ostdeutschen Braunkohlerevieren betrug 12,7 Milliarden Kubikmeter. 100 000 Tonnen industrielle Rest- und Schadstoffe in 100 Betriebsanlagen ({0}) waren fachgerecht zu entsorgen.
215 Tagebaurestlöcher wurden vorgefunden. Der Bund
sowie die Länder Brandenburg, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen haben für die Sanierung dieser
Hinterlassenschaften seit 1990 bis 2012 fast 9,1 Milliarden Euro ausgeben.
Von den Zerstörungen kultureller Güter sowie der
menschlichen Gesundheit habe ich noch gar nicht
gesprochen. Allein im Uranbergbau sind knapp 9 000
Bergleute mit Berufskrankheiten durch ionisierte Strahlung - Klartext: Lungenkrebs - und 38 000 Menschen
mit bergbautypischen Krankheiten anerkannt.
All die Maßnahmen zur Sanierung und Renaturierung
wurden erst nach 1990 unter Geltung des neuen Bergrechts möglich. Die freiheitlich-demokratische Marktwirtschaft hat die ökologischen Verbrechen der sozialistischen Planwirtschaft geheilt. Vielleicht bedenken Sie
das bei der Linken, wenn Sie mal wieder nach neuen
Wegen in den Kommunismus suchen.
Inhaltlich erwähnt der Antrag wenigstens die wirtschaftliche Bedeutung der Verfügbarkeit von Rohstoffen,
jedoch wird diese Bedeutung im Forderungsteil nicht
erneut aufgegriffen. Stattdessen unterbreiten Sie Vorschläge, die entweder längst Realität sind oder den
Bergbau in Deutschland bis zur praktischen Undurchführbarkeit einschränken würden. Sie erwähnen nicht,
dass ein in Deutschland einheitliches Bergrecht in dieser Form seit den frühen 80er-Jahren besteht. Das Bergrecht wurde seit seinem Inkrafttreten 1982 ständig an
umweltrechtliche Vorgaben, insbesondere denen des
EU-Rechts, angepasst. Auch in der ständigen Rechtsprechung der Gerichte wurden keine Differenzen zwischen
dem Bergrecht und bestehenden umwelt- oder verfahrensrechtlichen Regelungen angemahnt.
Das Bergrecht hat selbstverständlich den Zweck, die
Rohstoffgewinnung zu ermöglichen. Aber dies geschieht
natürlich unter Abwägung der Interessen Dritter, primär
der ansässigen Bevölkerung und der Natur. So ist seit
1990 für größere Vorhaben die Durchführung eines
Planfeststellungsverfahrens inklusive Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung obligatorisch. Speziell für den Braunkohlenbergbau ist noch
das raumordnerische Braunkohlenplanverfahren vorgesehen, welches mehrere Jahre in Anspruch nimmt und
unter Durchführung von Umweltprüfungen, Öffentlichkeitsbeteiligung und auf Basis von zahlreichen Gutachten die gesamtheitliche Abwägung der Braunkohlengewinnung im Tagebau mit allen anderen berührten
Belangen vollzieht. Die Wiedernutzbarmachung der
Erdoberfläche nach erfolgtem Abbau ist ein weltweit
einmaliger Bestandteil eines Bergrechts. 98 Prozent
aller Umsiedlungsfälle werden gütlich geregelt, und
Grundabtretungsverfahren werden vermieden. Das geltende Bergrecht erfüllt also seinen Zweck: Es schafft bereits Ausgleich zwischen den Interessen der Menschen,
der Natur und der Rohstoffgewinnung. Viele der Forderungen sind daher überflüssig.
Besonders fragwürdig und wirklichkeitsfremd ist Ihre
Forderung unter Punkt 8. Bergbauprojekte sind kapitalintensive Unternehmungen, die sich oft über Jahrzehnte
erstrecken und daher umfassende Rechtssicherheit benötigen. Eine ständige Überprüfung erteilter Genehmigungen, wie von Ihnen gefordert, steht dem aber entgegen. Sie würden jede Investitionsentscheidung im
Bergbau de facto verhindern. Auch verhindern Sie damit
Rechtssicherheit und Klarheit für die Betroffenen, um
die es Ihnen doch vordergründig geht.
Wir benötigen Bergbau zur Gewährleistung der Rohstoffversorgung und zur Sicherung des Know-hows in
Deutschland. Das geltende Bergrecht berücksichtigt dabei die Interessen anderer Beteiligter.
Erneut empfehle ich Ihnen Urlaub in Sachsen. Dort
können Sie in der Lausitz beobachten, wie aus alten
Braunkohletagebauen touristische Destinationen entstehen und sich die Natur vom Raubbau der Planwirtschaft
erholt. Oder fahren Sie ins Erzgebirge und lassen Sie
sich zeigen, wie die Menschen vor Ort mit Stolz die
Tradition des Bergbaus pflegen und die Folgen der
Devastierung einer Landschaft wegen eines fehlenden
Bergrechts fast nicht mehr zu finden sind. Belehrungen
von den Linken sind in dieser Frage weder notwendig
noch glaubwürdig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag der Linken beschäftigt sich mit einer Revision des Bergrechts. Auslöser der Debatte ums Bergrecht ist die aktuelle Situation beim unkonventionellen
Erdgas. Das geltende Bergrecht verfügt aus unserer
Sicht über Unzulänglichkeiten bei den Regelungen zur
Aufsuchung und Förderung. Daher haben wir einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der sich mit der Transparenz und der Umweltverträglichkeit von Fördermethoden beim Fracking beschäftigt.
Im Antrag der Fraktion Die Linke finden wir für eine
mögliche Weiterentwicklung des deutschen Bergrechts
einige gute Ideen, jedoch sind da auch Mängel.
In Deutschland bildet der industrielle Sektor das
Fundament für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.
Eine Grundlage für diesen industriellen Kern ist die Versorgung mit Rohstoffen und Materialien. Deutschland
gehört zu den größten rohstoffverbrauchenden Ländern
weltweit. Die deutsche Wirtschaft ist auf die Nutzung
heimischer Rohstoffe angewiesen, denn sie macht uns
unabhängiger von Rohstoffimporten. Und: Deutschland
ist nicht rohstoffarm. In Deutschland werden jährlich
Tonnen von Sanden, Erden, Tonen oder Kohle abgebaut.
Von den nichtmetallischen Rohstoffen stammen vor allem Kali- und Steinsalz sowie der größte Teil der Steine
und Erden aus heimischer Produktion. Damit decken wir
größtenteils unseren Bedarf. Bei den fossilen Energierohstoffen importieren wir dagegen circa 98 Prozent
des Erdöls, 87 Prozent des Erdgases und etwa 77 Prozent der Steinkohle. Vor dem Hintergrund des steigenden
Anteils erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung
- Wind, Photovoltaik - und der damit verbundenen höheren Volatilität müssen wir mindestens für eine Übergangszeit andere nichtvolatile Stromerzeugungsarten
nutzen, um eine stabile und sichere Stromversorgung zu
garantieren. Dabei kann der Fokus nicht allein auf Gaskraftwerke gelegt werden.
Die SPD sieht auch die Konkurrenzen zwischen Rohstoffabbau und anderen Nutzungen des Bodens und des
Untergrunds. Jedoch legen wir großen Wert auf eine
echte Güterabwägung im Sinne eines fairen ChancenRisiken-Vergleichs.
Ich hatte es schon in der letzten Debatte gesagt: Der
deutsche Bergbau und damit auch das deutsche Bergrecht verkörpern eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte.
Die enorme Beschäftigungsentwicklung, der Aufschwung der Bergbauregionen oder der schnelle Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wären ohne die
Nutzung der energetischen und nichtenergetischen Rohstoffe aus heimischen Lagerstätten nicht möglich gewesen. Wir sehen aber auch, dass manche Teile des historisch gewachsenen Bergrechts trotz mancher Weiterentwicklung nicht mehr in eine moderne, aufgeklärte und
an Teilhabe interessierte Gesellschaft zu passen scheinen. Eine Überarbeitung muss deshalb angemessene
Regelungen zu Transparenz und frühzeitig beginnender
Bürgerbeteiligung enthalten. In unserer Gesellschaft
spielen heute, im Gegensatz zu der Zeit, aus der das Ursprungsberggesetz stammt, umwelt- und wasserrechtliche Aspekte eine wichtige Rolle. Diesen Aspekten muss
Rechnung getragen werden.
Im Antrag der Linken sind konkrete Änderungspunkte
aufgeführt. Bei einer möglichen Weiterentwicklung des
deutschen Bergrechts sollten wir über die Aufteilung der
Bodenschätze in grundeigene und bergfreie diskutieren.
Auch können wir über die Planungs- und Genehmigungsverfahren sprechen. Aber wir sollten uns in der
Diskussion keine Denkblockaden auferlegen.
Der SPD ist wichtig, dass am Ende eines Verfahrens
eine rechtsgültige Entscheidung steht, die den berechtigten Interessen der betroffenen Menschen und der betroffenen Unternehmen gerecht wird. Dies erzeugt Rechtssicherheit und schafft Vertrauen. Wir sehen die Herausforderung darin, eine Beschleunigung der Verfahren mit
einer Verbesserung von Transparenz und Bürgerbeteiligung zu verbinden.
Es gibt viel zu besprechen. Und: Wir sollten uns zu
den verschiedenen Aspekten weiteren Sachverstand einholen. Daher werden wir im Wirtschaftsausschuss eine
Anhörung durchführen.
Das Einzige, was Sie können, ist - wie immer - fordern. Was wir hingegen ständig erreichen, ist - wie immer - fördern.
Fördern ist besser für alle - auch für unsere Rohstoffversorgung. Nur so macht es Sinn!
Sie verlangen in Ihrem Antrag, ein neues Bergrecht
müsse vor allem auf Konfliktvermeidung setzen. Es
müsse sich bei der Genehmigung von Bergbauvorhaben
an den Planfeststellungsverfahren orientieren. Es soll
zudem den Erfordernissen der Rohstoffversorgung
Rechnung tragen. Ebenso soll es auch die Interessen der
Umwelt und der vom Abbau betroffenen Menschen berücksichtigen.
Sie fordern, dass die Gewinnung der unter Siedlungen liegenden Bodenschätze ausgeschlossen ist - es sei
denn, es bestehe mit den Grundstückeigentümern und
Nutzungsberechtigten sowie den betroffenen Kommunen
Einvernehmen. Einfach gesagt: Ein einziger Mieter soll
Ihrer Meinung nach die Arbeitsplätze Hunderter, wenn
nicht gar Tausender - wie zum Beispiel in der Schwarzen Pumpe in der Lausitz - behindern, blockieren und
letztendlich vernichten können. Dies erklären Sie bitte
den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in der Lausitz besser selbst.
Außerdem soll auf geförderte Bodenschätze eine Förderabgabe von mindestens 15 Prozent erhoben werden.
Na klar! Hier höre ich das alte und leidige Lied der ewigen Umverteilung. Zuerst wird ostentativer Neid geschürt, dann folgt das Abschöpfen - natürlich aus vermeintlich sozialen Gründen. Der Umstand allerdings,
dass Rohstoffgewinnung mit erheblichen Investitionen
und Zeitaufwand zu tun hat, ist Ihnen fremd.
Fragen Sie doch mal bei den Bergbauingenieuren
nach, die gerade im Osten Deutschlands neue Lagerstätten erschließen. Die werden Ihnen was erzählen!
Zu Protokoll gegebene Reden
Tatsächlich erfolgt Rohstoffgewinnung in Deutschland seit vielen Jahrzehnten sachgerecht und im Einklang mit umweltrechtlichen Belangen sowie unter Wahrung der Interessen der betroffenen Menschen.
Den ordnungspolitischen Rahmen hierfür stellt - außerordentlich erfolgreich - das Bundesberggesetz. Es
schafft Planungs- und Rechtssicherheit und ermöglicht
so letztlich hohe Investitionen zur Verbesserung der Versorgungssicherheit durch Nutzung heimischer Lagerstätten. So sichert das Bundesberggesetz den Erhalt von
Wertschöpfungsketten im Inland und setzt wichtige Akzente zur Beschäftigungssicherung - insbesondere in
strukturschwachen Regionen der Bundesrepublik.
Auch das dürfte Ihnen bekannt sein: Wir sind in vielen Bereichen auf den Import von Rohstoffen angewiesen, sei es bei der Versorgung der Metall- und Elektroindustrie, der Deckung des Bedarfs an Erdöl und Erdgas
oder der Entwicklung von Hochtechnologie.
Auch kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, die Produktion von leistungs- und zukunftsfähigen Windenergieanlagen und Brennstoffzellen nicht
ohne die Einfuhr spezifischer Rohstoffe aus. Damit sind
schon heute erhebliche Teile der deutschen Wirtschaft
der Ergiebigkeit globaler Lagerstätten sowie der gesellschaftlichen und politischen Stabilität in den jeweiligen
Regionen ausgesetzt.
Zudem haben sich in den letzten Jahren, vor allem
durch das Gebaren Chinas, die Bedingungen an den
Weltmärkten für Rohstoffe durchaus verschlechtert. Zumindest in Teilen dient die Nutzung heimischer Ressourcen somit auch der Kompensation globaler Entwicklungen. So kann beispielsweise gerade die Braunkohle in
Zeiten sich weltweit verknappender Energieressourcen
und damit verbundener Preissteigerungen stabilisierende Effekte hervorrufen.
Auch deren Verwendung im Rahmen der stofflichen
Umwandlung von chemischen Erzeugnissen, wie Coal to
Liquids oder Coal to Gas, ist eine gewisse Bedeutung
beizumessen. Insgesamt steht damit die Nutzung eigener
Bodenschätze im öffentlichen Interesse und sollte nicht
vernachlässigt werden.
Bergbau war und ist immer eine Anpassung an naturbedingte Verhältnisse der Lagerstätte. Gerade deshalb
kommt der frühzeitigen und gründlichen Betrachtung
der Auswirkungen durch Inanspruchnahme von Flächen
eine besondere Bedeutung zu.
Verantwortungsvolle öffentliche Planung führt in der
Regel zu einer sukzessiven und parallel verlaufenden
Wiedernutzbarmachung der beanspruchten Gebiete.
Dadurch liegt der zur Rohstoffgewinnung in Anspruch
genommene Flächenanteil in Deutschland seit langem
konstant bei 0,2 Prozent der Landesfläche.
Nachweislich ermöglicht diese Vorgehensweise auch
die Chance zur Bereinigung früherer Fehlentwicklungen
und die Anwendung neuester Erkenntnisse in Bezug auf
Landschaftsgestaltung sowie den Natur- und Artenschutz. Auf die so in der Bundesrepublik zahlreich entstandenen Naturschutzflächen, Biotope, Gewässer, Verkehrswege und Naherholungsgebiete sei an dieser Stelle
verwiesen.
Gerade die im Bundesberggesetz enthaltenen Vorgaben
hinsichtlich der Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen im Zuge des Planfeststellungsverfahrens
oder das vorgelagerte raumordnerische Braunkohlenplanverfahren - um nur zwei Punkte aufzugreifen haben hieran maßgeblichen Anteil. Ergänzend sei hier
angemerkt, dass bergbauliche Planungen und Entscheidungen sich nicht isoliert an Regelungen des Bundesberggesetzes orientieren. Vor allem die Landes- und Regionalplanung ist in hohem Maße gefordert.
Das Bundesberggesetz, BBergG, besteht seit 1980. In
seiner mehr als 30-jährigen Historie wurde es mehrfach
und umfassend an neue Vorgaben und Erfordernisse,
insbesondere aus dem Bereich des Umweltrechts, sowie
europäische Richtlinien angepasst. Nicht zuletzt hat
auch die richterliche Rechtsprechung in dieser Zeit prägend auf das Bergrecht eingewirkt. Im Ergebnis weist
das deutsche Bergrecht ein hohes Niveau von Schutz und
Vorsorge für Umwelt und Betroffene auf, was auch im
Ausland bereits zu positiven Einschätzungen geführt
hat.
Auch in Zukunft wird sich das deutsche Bergrecht an
veränderte Bedingungen anpassen. Wie in der Vergangenheit werden diese Änderungen sachdienlich und mit
Augenmerk erfolgen.
Forderungen, die darauf hinauslaufen, Bergbauaktivitäten unmöglich zu machen oder zumindest stark zu
verzögern, lehnen wir jedoch entschieden ab.
Das Bergrecht ist rechtlich etwas für Spezialistinnen
und Spezialisten; kaum jemand kennt sich damit wirklich aus. Praktisch hat es aber für viele Menschen
enorme Folgen. Das gilt insbesondere für die Kohleregionen in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, SachsenAnhalt, Sachsen und Saarland. Denn das Bergrecht
räumt der Förderung von Bodenschätzen systematisch
Vorrang vor allen anderen Interessen ein, seien es die
der Grundstückseigentümerinnen und Grundstückseigentümer, von Mieterinnen und Mietern oder von Umwelt- und Landschaftsschutz.
Gerade infolge von Tagebauen verlieren viele Menschen die ihnen vertraute Heimat und Arbeit. Ganze
Dörfer werden umgesiedelt, riesige Landstriche werden
lange Zeit zu Wüsten. Aber auch beim Abbau etwa von
Salzen in den Kaliregionen Thüringens und Hessens
schafft das Vorrecht des Bergbaus jede Menge Konflikte;
denken wir nur an die Versalzung der Werra.
Längst überfällig ist darum ein modernes Bergrecht,
das zwei Funktionen erfüllen muss: Es muss zum einen
der Notwendigkeit der Rohstoffgewinnung und den Besonderheiten des Bergbaus Rechnung tragen, zum anderen aber viel stärker als bisher die Interessen von Anwohnern und Umwelt berücksichtigen.
Für eine solche Novelle hat sich unter anderem der
Frankfurter Rechtsanwalt Dirk Teßmer stark gemacht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Seine Thesen lagen in vielen Punkten dem vor wenigen
Wochen eingebrachten Antrag der Grünen zugrunde. Sie
sind auch wesentliche Grundlage unseres Antrags. Gemeinsam ist beiden Anträgen darum die Kernforderung,
den automatischen Vorrang des Abbaus von Rohstoffen
vor allen anderen Interessen zu beenden. Dafür soll unter anderem künftig ein Planfeststellungsverfahren mit
UVP anstelle der bisherigen Verfahren treten.
Zudem soll das vorgelagerte Bergwerkseigentum abgeschafft werden. Abbaurechte sollen erst dann an Unternehmen verliehen werden, wenn ein Abbau in einem
demokratischen Verfahren beschlossen wurde, und zwar
unter Abwägung aller Interessen und nach einer sorgfältigen Umweltverträglichkeitsprüfung - und keinen Tag
vorher.
Gemeinsam ist beiden auch die Forderung nach mehr
Transparenz sowie nach mehr Beteiligungs- und Klagemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger sowie für
Verbände und Kommunen. Ferner soll in Haftungs- und
Entschädigungsfragen künftig die Position der Anwohnerinnen und Anwohner deutlich gestärkt werden.
Es gibt aber auch Differenzen zum Grünen-Antrag.
Die Linke möchte beispielsweise den Unterschied im
Bundesberggesetz zwischen sogenannten grundeigenen
und bergfreien Bodenschätzen abschaffen. Zu den ersten
gehören beispielsweise eine Reihe wertvollerer Mineralien wie Bauxit, Glimmer oder hochwertiger Quarz. Sie
gehören heute den Grundstückseigentümern. Zu den
zweiten gehören Kohle, Gas, Erze oder Salz, die als
„herrenlos“ gelten, was man auch als Gemeineigentum
bezeichnen kann. Dazu sollen auch sämtliche grundeigenen Bodenschätze, die gegenwärtig außerhalb des
Bundesberggesetzes behandelt werden - wie mineralische Massenrohstoffe, also Kiese, Sande, Naturstein etc. -,
dem reformierten Bundesberggesetz unterworfen werden. Auch diese gehören gegenwärtig den Grundeigentümern.
Mit unserer Regelung würden in Deutschland künftig
sämtliche Bodenschätze dem Bundesberggesetz unterliegen, wobei alle Bodenschätze als bergfrei definiert würden. Dies hätte zwei Folgen: Zum einen wären alle
Bodenschätze Gemeineigentum. Zum anderen würde
gleichzeitig der Abbau jeglicher Bodenschätze einem
Planfeststellungsverfahren mit UVP unterworfen. Die
Grünen wollen zwar auch den Unterschied zwischen
bergfreien und grundeigenen Bodenschätzen abschaffen. Ihr Antrag lässt aber leider offen, welche Rechtsgrundsätze nun zum Tragen kommen sollen: die für
bergfreie oder die für grundeigene Bodenschätze?
Zudem knüpft die Linke im Gegensatz zu den Grünen
die Genehmigungsvoraussetzung für einen Abbau unter
besiedeltem Gebiet an streng nachzuweisende Ausnahmetatbestände. Künftig soll also vom Vorhabenträger
nachgewiesen werden, dass ein unabweisbarer volkswirtschaftlicher Bedarf für den Rohstoff besteht. Zudem
muss der Abbau tatsächlich alternativlos sein.
Wir finden diese Konstruktion wichtig und überzeugend, weil sie beispielsweise verhindern könnte, dass
neue Braunkohletagebaue genehmigt werden, die noch
weit nach 2040 laufen würden. Denn für diese Zeit kann
davon ausgegangen werden, dass Strom und Wärme fast
vollständig regenerativ bereitgestellt werden können.
Braunkohle braucht dann kein Mensch mehr, höchstens
noch ein paar wenige flexible Gaskraftwerke.
Unser Antrag hat, ähnlich wie der der Grünen, noch
zahlreiche weitere Reformvorschläge, die ich hier im
Einzelnen nicht darstellen möchte. Dafür haben wir ja
die Ausschüsse. In diesem Zusammenhang freuen wir
uns auf die Anhörung zu unseren beiden Bergrechtsanträgen nach Ostern. Denn bei allen Unterschieden ist
klar: Das stellenweise mittelalterlich anmutende deutsche Bergrecht gehört überarbeitet - und zwar gründlich, umfassend und zügig.
Es ist nicht einmal ganz zwei Monate her, dass wir
uns zum letzten Mal hier im Plenum mit dem Thema
Bergrecht beschäftigt haben. Damals haben wir über
unseren Antrag zu demselben Thema debattiert und ihn
in die Ausschüsse überwiesen. Wir freuen uns, dass die
Linke diese Zeit sinnvoll genutzt hat, um unseren Antrag
zu weiten Teilen abzuschreiben und hier nun als ihren eigenen Antrag einzubringen. Es wird Sie daher auch
nicht verwundern, dass wir als Bündnis 90/Die Grünen
dem Antrag der Linken grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Ich freue mich, dass die Debatte über eine Änderung des Bergrechts offensichtlich endlich in Gang
kommt und wir nicht mehr die Einzigen sind, die eine
grundlegende Reform des deutschen Bergrechts fordern.
Dieses Thema bewegt nicht nur die Menschen in den traditionellen Kohleabbaugebieten Nordrhein-Westfalens,
des Saarlandes und der Lausitz, sondern auch die Menschen an vielen anderen Orten in Deutschland, an denen
Bodenschätze abgebaut werden. Dies geschieht nämlich
an mehr Orten, als man gemeinhin denkt, und das Bundesberggesetz, kurz das Bergrecht, ist dort immer wieder
der Ausgangspunkt für politische und gesellschaftliche
Debatten.
Genau wie wir fordern die Linken in ihrem Antrag die
Beweislastumkehr, eine häufigere und stringentere Anwendung der Umweltverträglichkeitsprüfung als Instrument zum Schutz von Mensch und Natur in der Planungsphase bergbaulicher Vorhaben, und die Linke
fordert auch eine viel stärkere Transparenz und Einbeziehung der Bevölkerung in die Genehmigungsprozesse.
Diese und viele weitere Punkte sind dringend notwendig, um das deutsche Bergwerk an die Rahmenbedingungen einer modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts anzupassen. Es gibt kaum ein Projekt ohne
tiefgreifende Konflikte, für deren Lösung das seit über
30 Jahren nicht mehr entscheidend geänderte Bergrecht
mit in großen Teilen noch älteren Rechtsgrundsätzen,
die ausschließlich auf die Rohstoffgewinnung ausgerichtet sind, eher Hindernis als eine Hilfe ist.
Das heißt nicht, dass wir als Bündnis 90/Die Grünen
in Deutschland keinen Bergbau mehr haben wollen: In
Deutschland gibt es eine lange Bergbautradition. Ohne
den Bergbau wäre in den vergangenen Jahrhunderten
und Jahrzehnten die wirtschaftliche Entwicklung
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschlands so nicht möglich gewesen. Auch wenn der
Bergbau heute nicht mehr so eine große wirtschaftliche
Rolle spielt, wird der Abbau von Bodenschätzen auch in
Zukunft in Deutschland ein wesentlicher Bestandteil der
Ökonomie sein und sein müssen. Doch die dafür geltende Rechtsgrundlage ist nicht mehr zeitgemäß. Sie ist
in Teilen regelrecht aus der Zeit gefallen. Moderne Bürgerbeteiligung, Transparenz, Interessenabwägung sind
beinahe Fremdworte bei der Genehmigung von Bergbauvorhaben und deren Umsetzung.
Um es auf den Punkt zu bringen: Das deutsche Bergrecht ist geprägt von einem starren Über- und Unterordnungssystem. Das heißt, dem öffentlichen Interesse des
Bergbaus wird weitgehend Vorrang vor anderen Belangen, Interessen und Rechten, insbesondere denen Privater, eingeräumt. Eine gleichwertige Interessenabwägung
in der Planungs- und Genehmigungsphase findet faktisch nicht statt. Es ist längst überfällig, dass der Gesetzgeber diese Probleme angeht und Abhilfe schafft. Die
Anforderungen an das deutsche Bergrecht werden weiter zunehmen, je stärker auch heimische Bodenschätze
durch steigende Weltmarktpreise wieder in den Fokus
der bergbautreibenden Unternehmen rücken. Darüber
hinaus werden immer mehr Anforderungen durch neue
Technologien wie die Nutzung der Geothermie, die Förderung von unkonventionellem Erdgas oder die Errichtung großer Erdgasspeicher an den Untergrund gestellt
werden. Dafür ist das Gesetz in seiner derzeit gültigen
Fassung jedoch überhaupt nicht ausgelegt. Nach unserer Auffassung steht das deutsche Bergrecht daher
zurzeit von mehreren Seiten unter Druck, und eine Anpassung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts erscheint dringend erforderlich.
Eines müssen mir die Antragsteller von der Linken im
Verlauf der Debatte in den Ausschüssen aber noch erklären: Während Sie hier die Umsiedlung von Menschen
im Rahmen bergbaulicher Vorhaben nahezu komplett
verbieten möchten, arbeiten Ihre Parteigenossen in
Brandenburg eifrig daran, neue Tagebaue für den
Braunkohleabbau zu genehmigen, und haben dabei
auch mit Umsiedlungen offenbar keinerlei Probleme.
Diese wären im Falle der geplanten und auch von der
Linken geforderten Tagebaue Jänschwalde-Nord und
Welzow-Süd nämlich erforderlich und würden ganze
Dörfer für immer auslöschen. Knapp 2 000 Leute wären
davon allein in diesen beiden Gebieten betroffen. Auch
die Tatsache, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, DIW, vor kurzem durch eine Studie nochmals
belegt hat, dass für den Betrieb der Braunkohlekraftwerke in Brandenburg der Aufschluss neuer Tagebaue
nicht erforderlich ist, da die vorhandenen Tagebaue ausreichen, um die Kraftwerke bis zu deren Lebensende zu
beliefern, ist offenbar kein Grund für den brandenburgischen Wirtschaftsminister der Linken, diese Vorhaben
abzusagen. Dieses Vorgehen der Linken in Brandenburg
lässt aus meiner Sicht leider ernsthaft am tatsächlichen
Willen der Linken zweifeln, die Inhalte dieses Antrags
auch umzusetzen, wenn es vor Ort darauf ankommt.
Da ich im Grundsatz aber viele Übereinstimmungen
mit unserem Antrag zum Thema Bergrecht sehe, freue
ich mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9034 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind offensichtlich damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Volker Beck ({0}),
Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine engere Kooperation mit Georgien
- Drucksache 17/8778 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt nehmen wir zu Protokoll. Dies betrifft die Kolleginnen und
Kollegen Manfred Grund, Florian Hahn, Franz Thönnes,
Birgit Homburger, Wolfgang Gehrcke und Viola von
Cramon-Taubadel.
Es ist ja durchaus verdienstvoll, die Aufmerksamkeit
des Hohen Hauses auf Georgien zu lenken. Georgien ist
ein wichtiger Partner für uns. Es ist ein Land von großer
strategischer Bedeutung. Das gilt nicht nur für seine Bedeutung als Transitland für Energielieferungen, sondern
auch für seine Lage in einer Region, die nach wie vor
von zwischen- und innerstaatlichen Konflikten geprägt
wird wie sonst keine Region im euroatlantischen Raum.
Es ist keine Frage: Georgien trägt besonders schwer
am postsowjetischen Erbe, an den Konflikten, die der
Zerfall der Sowjetunion hinterlassen hat. Dabei ist es
ein Land, dessen gerade jüngere politische Entwicklung
durch Ambivalenzen gekennzeichnet blieb. In Georgien
haben sich beeindruckende Reformprozesse vollzogen.
Die Fortschritte sind bemerkenswert: beim Zugewinn an
internationaler Wettbewerbsfähigkeit, bei der Bekämpfung der Korruption, bei der Gewährleistung von
Rechtssicherheit. Eine Folge sind ebenso beachtliche
Wachstumsraten. Wer weiß, wie lähmend Korruption
und fehlende Rechtssicherheit sich in anderen Ländern
auf die Entwicklungs- und Zukunftschancen ganzer Gesellschaften auswirken, der kann die Bedeutung dieser
Fortschritte gar nicht überschätzen.
Zugleich aber haben politische Reformen mit der
wirtschaftlichen Entwicklung nicht überall Schritt gehalten. Allerdings scheint mir der vorliegende Antrag in
Wortwahl und Kritik auch verschiedentlich über das Ziel
hinauszuschießen. Nicht jede Aussage ist so nachvollziehbar; und man fragt sich gelegentlich, durch welche
Quellen sie gestützt werden.
Zugleich war sicher die Außenpolitik Georgiens nicht
immer glücklich. Das wird man sagen können, ohne im
Detail die Frage nach den Ursachen und Anlässen des
Krieges von 2008 zu diskutieren. Das wird man sagen
dürfen, obgleich einzuräumen ist, dass die Lage Georgiens eine ungleich schwierigere, eine ungleich unsicherere ist als die Lage Deutschlands in Europa und der
Welt.
Zugleich mag man kritisieren, wie es der vorliegende
Antrag tut, dass pragmatischere Ansätze bei der Bewältigung der Konflikte um Abchasien und Südossetien größere Fortschritte bei der Annäherung der betroffenen
Gesellschaften versprechen.
Auch darin pflichten wir der Intention des vorliegenden Antrages bei: Natürlich unterstützen wir eine engere
Zusammenarbeit. Das zu sagen, ist für Georgien nicht
ganz so selbstverständlich, wie es für viele in diesem
Hause klingen mag. Tatsächlich ist bei vielen Menschen
in Georgien der Eindruck entstanden, in der deutschen
Politik stünde die Unterstützung für Georgien hinter
dem Interesse an den Beziehungen zu Russland zurück.
Hier besteht sicher Klärungsbedarf gegenüber den
georgischen Partnern.
Gleichwohl fragt man sich bei dem vorliegenden Antrag: Wo ist der inhaltliche Mehrwert? Es finden sich
darin nicht weniger als 30 Forderungen, doch in vielen
nichts Neues. Natürlich unterstützen wir eine engere Anbindung Georgiens an die EU. Es liegt auch auf der
Hand, dass Georgien über das Recht verfügt, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU zu stellen. Doch was
bedeutet diese Aussage politisch: eine Beitrittsperspektive oder nicht? Grundsätzlich meine ich, wir müssen
uns von dem Entwicklungspfad der bisherigen Erweiterungsprozesse lösen. Vielleicht wird künftig keine Beitrittsperspektive mehr am Beginn eines langjährigen
Verhandlungs- und Implementierungsprozesses stehen,
sondern der Beitritt dann konkret verhandelt, wenn die
Kriterien erfüllt sind.
Ähnlich vage wie bei der Frage der EU-Mitgliedschaft bleibt der Antrag in seinen Aussagen zur NATOMitgliedschaft. Dass Georgien der NATO beitreten
kann, wurde bereits beim Gipfel in Bukarest beschlossen. Dass zugleich gefordert wird, ein solcher Beitrittswunsch solle zurückhaltend behandelt werden, darauf
hat man sich ebenfalls bereits damals verständigt. Spätestens seit dem Georgien-Krieg gibt es in dieser Hinsicht auch einen breiten Konsens im Bündnis. Nur, was
nutzt es, dies zu wiederholen?
Diese Vag- und Halbheiten entsprechen ja an sich nur
den Realitäten. Es ist nicht weniger und nicht mehr als
eine Situationsbeschreibung. Nur rechtfertigt das eben
noch keinen Antrag. Ebenso verhält es sich mit den
meisten anderen Aussagen sowie den meisten Forderungen. Mehr noch: Viele dieser Forderungen sind ja bereits mittelbar oder unmittelbar Regierungspolitik. So
beispielsweise in den eben erwähnten Fragen der EUAnnäherung und NATO-Mitgliedschaft. Hier wird von
der Bundesregierung gefordert - und damit implizit als
Desiderat kritisiert -, was tatsächlich bereits getan
wird. Dem können wir nicht zustimmen.
Darüber hinaus verliert sich jede sinnvolle Stoßrichtung in der Vielzahl der Forderungen und in ihrer Bandbreite; und diese Bandbreite erstreckt sich zudem nicht
nur auf spezifisch georgische Fragen, sondern zum Teil
auch auf die grundsätzliche Konzeption europäischer
und deutscher Politik. So beispielsweise, wenn gefordert
wird, im Rahmen des ENPI die Bekämpfung der ländlichen Armut zu verstärken oder im Rahmen des verhandelten Freihandelsabkommens stärker soziale und ökologische Fragen zu prüfen. Wer vollumfänglich alle
Probleme zu lösen versucht, löst am Ende keines.
Dabei gibt es in dem Antrag durchaus eine Anzahl
diskussionswürdiger Punkte, nicht zuletzt im Blick auf
den Umgang mit den Konflikten um Abchasien und Südossetien. Hier wäre ein stärker zielgerichteter Antrag
wohl sinnvoller gewesen. Dabei hätte es auch Sinn machen können, erst einmal den interfraktionellen Dialog
zu suchen.
Seit fast genau 20 Jahren bestehen nun diplomatische
Beziehungen zwischen Deutschland und Georgien. So
war es die Bundesrepublik Deutschland, die damals als
erstes europäisches Land die georgische Unabhängigkeit anerkannt hat.
Nach wie vor pflegen wir diese enge Bindung. Die
Zusammenarbeit reicht vom studentischen Austausch bis
hin zu wirtschaftlicher Kooperation. Allein im letzten
Jahr ist der bilaterale Handel um 46 Prozent gegenüber
dem Vorjahr gewachsen. Darüber hinaus ist Deutschland nach den USA zweitwichtigster Geber von Mitteln
in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit mit Georgien.
Georgien strebt eine weitere Annäherung an die
Europäische Union und an die NATO an. Das ist gut,
und wir unterstützen diese Bemühungen nach Kräften.
Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft verhandeln
die Europäische Union und Georgien seit knapp zwei
Jahren über ein Assoziierungsabkommen. Gespräche
über ein Freihandelsabkommen beginnen alsbald.
Auch wird sich die Bundesregierung als Fürsprecher
hinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens verwenden. Das hat Bundesminister Westerwelle auf seiner
Reise nach Tiflis in der letzten Woche noch einmal betont. Deutschland betätigt sich außerdem schon lange
als Vermittler im Hinblick auf eine friedliche Konfliktlösung für die georgische Republik Abchasien. Schon wenige Tage nach Beendigung des georgisch-russischen
Krieges besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel im
August 2008 Tiflis.
Deutschland gehörte zu den ersten Staaten, die Georgien nach Ausbruch des Krieges humanitäre Hilfe leisteten. Die Bundesregierung sagte bei der Brüsseler Geberkonferenz im Oktober 2008 33,7 Millionen Euro für
humanitäre Projekte zugunsten der Opfer und Vertriebenen und zur Unterstützung des Wiederaufbaus im Land
zu. So konnten mit deutscher Unterstützung in Gori nahe
Südossetien Häuser gebaut werden.
Am 15. September 2008 fasste die EU den Beschluss,
eine Beobachtungsmission nach Georgien zu entsenden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch hierbei hat sich Deutschland von Anfang an aktiv
beteiligt und sogar den Missionsleiter gestellt.
Die Kaukasus-Initiative des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit
der südkaukasischen Republiken Aserbaidschan, Armenien und Georgien. Die Maßnahmen im Rahmen der
Kaukasus-Initiative sollen sowohl zur wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklung der Länder im Südkaukasus
beitragen als darüber hinaus auch einen spezifisch deutschen Beitrag zum Konfliktabbau und zur Krisenprävention in der Region leisten.
All diese Initiativen zeigen Wirkung. Deshalb ist der
vorliegende Antrag in vielem, was Bundesregierung und
Europäische Union unternehmen, redundant und deshalb abzulehnen.
Ich möchte jedoch nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass es wichtig ist, die russisch-georgischen Beziehungen zu verbessern. Sicherlich ist dies kein einfaches
Unterfangen; dennoch lohnt es sich - nein, es ist für alle
Seiten absolut notwendig, daran zu arbeiten.
Staatspräsident Saakaschwili hat am 23. November
2010 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament
und in rechtlich verbindlichen Briefen an den VN-Generalsekretär und an internationale Organisationen einen
Verzicht auf den Einsatz von Gewalt bei der Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens erklärt.
Ich sehe dies als zukunftsweisenden Ansatz für eine regionale Kooperation.
Ferner freue ich mich darüber, dass auf wirtschaftlichem Gebiet eine Annäherung stattfindet. Die russischen Investitionen in Georgien sind von 2 Millionen
US-Dollar im Jahre 2009 auf 5,3 Millionen US-Dollar
im ersten Quartal 2010 gestiegen.
Der Antrag der Grünen konstatiert zu Recht, dass
nach wie vor große Missstände in Georgien im Wahlrecht sowie bei der Durchführung von Wahlen zu verzeichnen sind. Fehlende Wählerlisten, Missbrauch administrativer Ressourcen und Vorteilsnahme durch die
Regierung sind leider noch an der Tagesordnung.
Hier fordere ich die georgische Regierung entschieden auf, ihre Hausaufgaben zu machen! Im Oktober
2012 stehen Parlamentswahlen an, die Präsidentschaftswahlen folgen dann im nächsten Jahr. Diese müssen nach demokratischem Vorbild gestaltet werden. Dies
ist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie, und nur so kann es eine weitere Annäherung
an die EU geben.
Es gibt keinen Zweifel: Die Situation in und um Georgien gibt weiterhin Anlass zur Unzufriedenheit. Das georgische Interesse mit seinem Beitrittsgesuch an die
NATO und der stärkeren Anbindung an die EU wird mit
unvermindertem Nachdruck artikuliert, nicht zuletzt von
einer Delegation des georgischen Parlaments, die Ende
Februar dieses Jahres den Deutschen Bundestag besuchte. Und man setzt dabei insbesondere auf die Unterstützung Deutschlands.
Die Richtung ist klar: Georgien will zum Westen und
zu Europa. Georgien will Distanz zu Russland.
Ebenso wie die Tatsache, dass Georgien 2008, wie es
der spätere Bericht der vom Europäischen Rat eingesetzten, unabhängigen internationalen Untersuchungskommission vom 30. September 2009 ausdrückt, den
Krieg mit Russland begonnen hat, es seit 2008 zwar einen Sechspunkteplan zum Waffenstillstand mit Russland
gibt, der allerdings bis heute nicht vollständig umgesetzt
ist, so steht natürlich auch die Anerkennung Abchasiens
und Südossetiens durch Russland einem stabilen und
dauerhaften friedlichen Nebeneinander beider Staaten
im Wege. Auch die damalige „unverhältnismäßige Reaktion“ Russlands, wie es in dem oben genannten Bericht heißt, ist für Georgien eine nicht zu vergessende
geschichtliche Erfahrung. Während ihres Besuches haben die georgischen Parlamentarier gleichfalls zum
Ausdruck gebracht, dass durch eine erneute Wahl
Wladimir Putins zum Präsidenten der Russischen Föderation die Herausforderungen zum Aufbau des notwendigen Vertrauens mit Sicherheit nicht geringer werden.
Umgekehrt ist aber ebenso klar: Ohne Russland wird
es keine Lösung der bestehenden Problematik geben.
Die engen Kooperationsgeflechte sowohl auf der wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und zivilgesellschaftlichen Ebene mit der EU ebenso wie die Formen der
Zusammenarbeit mit der NATO bedingen die Lösungsfindung mit Russland. Sie sind gleichzeitig auch gute Voraussetzungen hierfür. Derzeit kann niemand aufgrund
der internen politischen Prozesse nach den Wahlen in
Russland genau sagen, welche konkrete Ausrichtung
künftig die Politik des neuen Präsidenten und der russischen Regierung sowohl innenpolitisch im Umgang mit
den neuen Oppositionsbewegungen und den Reformerfordernissen wie auch außenpolitisch haben wird. Bei
letzterem dürfte eher davon ausgegangen werden, dass
kaum mit wesentlichen Veränderungen zu rechnen ist.
Dennoch muss es dass Ziel sein, daran zu arbeiten, dass
sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern normalisieren. Den diesbezüglichen Äußerungen von Bundesaußenminister Guido Westerwelle während seiner Südkaukasus-Reise im März 2012 ist hier zuzustimmen.
Georgien aber ist vor allem innenpolitisch gefordert.
Inzwischen kann durchaus die Vermutung aufkommen,
dass die politische Führung unter Präsident
Saakaschwili sich in erster Linie auf die Konsolidierung
und Zentralisierung ihrer Macht konzentriert. Parlament und Medien sehen sich einer immer stärkeren Kontrolle ausgesetzt. Die georgische Medienlandschaft
vermittelt den Eindruck, nicht wirklich frei und pluralistisch zu sein. Die beiden wichtigsten privaten Fernsehsender Imedi TV und Rustavi 2, die zusammen einen
Marktanteil von über 60 Prozent haben, sowie der staatliche öffentliche Rundfunk gelten als regierungstreu, geben der Opposition wenig Sendezeit und verzichten weitgehend auf kritische Berichterstattung.
Opposition und Kritiker fühlen sich immer stärker
von der Regierung bedrückt. So leidet bereits seit zwei
Zu Protokoll gegebene Reden
Jahren die Gewerkschaftsbewegung im Land unter den
Versuchen, sie auszuschalten. Bei der gewaltsamen Auflösung von Oppositionsprotesten im Mai 2011 kamen
fünf Menschen ums Leben, es gab Hunderte Verhaftungen und zahlreiche Fälle von Folter und willkürlicher
Polizeigewalt. Ende Dezember 2011 wurden Gesetze zur
Neuregelung der Parteien- und NGO-Finanzierung im
Parlament beschlossen. Der Eindruck, dass hierdurch
die Opposition und die kritische Zivilgesellschaft von finanziellen Zuwendungen abgeschnitten werden sollen,
ist weiterhin vorhanden.
Nach dem neuen Parteienfinanzierungsgesetz sind
Zuwendungen von Unternehmen und Organisationen an
Parteien generell verboten. Parteien können nur noch
Zuwendungen von Privatpersonen erhalten, jedoch
nicht mehr als 60 000 GEL - circa 27 000 Euro - pro
Jahr. Mitgliedsbeiträge sind auf 1 200 GEL - circa
500 Euro - pro Jahr und Parteimitglied begrenzt. Besonders kritisch einzuschätzen ist ein Paragraf, der das
Finanzierungsverbot auf solche Organisationen ausdehnt, die direkt oder indirekt mit politischen Parteien
verbunden sind. Diese Regelung verstärkt die Möglichkeiten, gegen unliebsame NGOs und ihre Unterstützer
vorzugehen. Internationale Organisationen sind aufgrund dieser Regelung gezwungen, ihre Kooperation mit
kritischen NGOs zu überprüfen und möglicherweise einzustellen.
Anlass für die Neuregelung war der überraschende
Eintritt des georgischen Milliardärs Bidzina Ivanishvili
in die Politik, der im Dezember 2011 die politische Organisation „Georgian Dream“ gründete. Von Beobachtern wird er nicht zuletzt aufgrund seiner stabilen ökonomischen Situation und seinen unterschiedlichen
gesellschaftlichen Verbindungen als ernstzunehmende
politische Konkurrenz für die derzeitige Regierung angesehen. Inzwischen wurde ihm die georgische Staatsbürgerschaft entzogen und eine Kandidatur für ein politisches Amt damit vorerst unmöglich gemacht.
Außerdem wurden eine Untersuchung gegen die ihm gehörende Cartu-Bank eingeleitet, Gelder beschlagnahmt
und Kunden angehalten, zu anderen Banken zu wechseln. Durch die erwähnte Neuregelung der Parteienfinanzierung sollte zudem verhindert werden, dass der
Milliardär sein Privat- oder Firmenvermögen zur
Finanzierung seiner Partei nutzen kann. Bereits vier
Tage nach Inkrafttreten der neuen Finanzierungsregeln
wurde „Georgian Dream“ aufgefordert, ihre Finanzen
gegenüber einer neu errichteten Kontrollbehörde offenzulegen. Die autoritären Maßnahmen gegen Ivanishvili
und der Versuch, seine Kandidatur unter allen Umständen zu verhindern, zeigen, dass die derzeitige Regierung
noch erhebliche Schwierigkeiten mit einem offenen Pluralismus und wirkungsvollen demokratischen Strukturen
hat. Ein weiterer Ausdruck hierfür dürfte auch die 2012
erfolgte Verlegung des Parlaments in das vier Autostunden von der Hauptstadt Tiflis und damit vom Regierungssitz entfernte Kutaisi sein. Ein Parlament im Abseits kann keine Regierung wirksam kontrollieren.
Angesichts dieser kritischen innenpolitischen Entwicklungen, aber ebenso aufgrund der zu Beginn bereits
erwähnten außenpolitischen Bedingungen und Konfliktpotenziale ist der Prozess der Annäherung Georgiens an
die EU ebenso wie bei der Unterstützung seines NATOBeitrittsgesuchs mit Augenmaß und höchster politischer
Sensibilität zu gestalten.
Deshalb ist bei einer Debatte wie dieser zu fragen:
Welche konkrete Botschaft wollte Bundesaußenminister
Westerwelle dem georgischen Staatspräsidenten bei seinem Besuch im März 2012 anlässlich des 20-jährigen
Bestehens der diplomatischen Beziehungen zwischen
Georgien und Deutschland übermitteln? Was heißt es,
wenn in diesem Zusammenhang der Außenminister erklärt, er wolle „aktiver Fürsprecher“ bei der Annäherung Georgiens an die euroatlantischen Strukturen sein?
Was versteht er genau, wenn er Stabilität und Rechtssicherheit als Voraussetzungen hierfür betrachtet?
Wir sehen es mit kritischem Blick, wenn die Bundesregierung unter Bezug auf die im Oktober 2012 anstehenden Parlamentswahlen und die 2013 stattfindenden
Wahlen des Präsidenten bereits jetzt große Fortschritte
sieht und glaubt, dass Georgien auf diesem Weg weiter
voranschreite. Selbstverständlich müssen sich Deutschland und die EU weiter für den Aufbau einer starken und
lebendigen Demokratie in Georgien einsetzen. Die SPDBundestagfraktion wird hierzu ihre Beiträge leisten. Allerdings überwiegen derzeit unserer Ansicht nach jedoch mehr die Mängel als die geringen Fortschritte.
Deswegen kommen wir auch in Bezug auf die Frage der
Annäherung an die euroatlantischen Strukturen zu einer
kritischeren Einschätzung.
Wichtig und davon unbenommen ist und bleibt die
weitere Einbindung Georgiens in die Politik der Östlichen Partnerschaft. Diese Form der europäischen
Nachbarschaftspolitik bringt Georgien näher an die EU,
sowohl auf bilateraler wie auf multilateraler Ebene.
Hier geht es um die Bereiche Demokratie und gute Regierungsführung, Wirtschaft, Energie und den direkten
Kontakt zwischen den Menschen. Dort ist noch ein erheblicher Spielraum für Fortschritte, insbesondere in
enger Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen
Vertretern vor Ort, durch den Austausch von Know-how
und gegenseitigen Erfahrungen.
Auch die Europäische Union erkennt zwar die Bestrebungen Georgiens zur Annäherung an die EU und seine
Selbstverpflichtung, eine stabile Demokratie aufzubauen, ebenso wie seine Fortschritte bei der Modernisierung von Staat und Gesellschaft an. Sie fordert aber
unter Bezugnahme auf die anstehenden Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen von Georgien, dass diese nach
international anerkannten demokratischen Standards
erfolgen müssen. Diese Entwicklung müsse man in Georgien bis zu den Wahlen sehr genau beobachten. Unabdingbar sei die Stärkung der demokratischen Strukturen
wie Pluralismus, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und gleicher Zugang zu Medien sowie eine unabhängige Justiz.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir
heute in erster Lesung behandeln, ist ein umfassender
Forderungskatalog, in dem viele Themen und Bereiche
der engeren Kooperation mit Georgien engagiert aufgegriffen werden. Inwieweit die Bundesregierung auf diese
Zu Protokoll gegebene Reden
Forderungen in den Ausschussverhandlungen eingehen
wird, bleibt offen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird die
Beratungen entsprechend der ausgeführten Sichtweise
konstruktiv-kritisch begleiten.
Deutschland und Georgien feiern in diesem Jahr
20 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen ihren
Ländern. In dieser Zeit gab es eine stetige Intensivierung der Zusammenarbeit und Annäherung Georgiens
an die Europäische Union und die NATO. Die FDP hat
diesen Kurs stets ausdrücklich unterstützt. Wie wichtig
dieser Bundesregierung die Beziehungen zu Georgien
sind, hat der Bundesaußenminister mit seiner Reise in
den Kaukasus Mitte März noch einmal unterstrichen.
Vor allem hat Georgien stets ein großes Interesse an
einer Mitgliedschaft in der NATO erkennen lassen. Die
NATO hat im September 2008 in Bukarest beschlossen,
dass Georgien ein NATO-Beitritt in Aussicht gestellt
wird.
Georgiens Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit in
Afghanistan und sein vielfältiges Engagement in der
europäischen und transatlantischen Staatengemeinschaft kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.
Auch die Bundesregierung will auf dem Chicagoer Gipfel im Mai dieses Jahres dieses beachtliche Engagement
Georgiens würdigen.
Ein zentraler Punkt bleiben die regionalen Konflikte.
Leider sind nach wie vor keine großen Fortschritte in
Abchasien und Südossetien gemacht worden, trotz intensiven Engagements der Europäischen Union im Rahmen
der Beobachtermission EUMM und der Östlichen Partnerschaft. Die Region bleibt gespalten, trotz vielfältiger
Bemühungen und Kontakte zur Konfliktlösung.
Es werden bereits heute wesentliche Anstrengungen
gemeinsam unternommen, um die Situation zu verbessern. Deutschland ist beispielsweise als größter Beitragszahler der EU an dem Programm Confidence Building Early Response Mechanism, COBERM, das von
der Europäischen Kommission durchgeführt wird, beteiligt. Es wurde dadurch unter anderem ein Verbindungsmechanismus zwischen den De-facto-Behörden in Abchasien und der Regierung in Tiflis eingerichtet.
Insofern sind die nötigen Anstrengungen bereits in vollem Gange und müssen nicht etwa von den Grünen in einem Antrag angemahnt werden.
Die völkerrechtliche Anerkennung Abchasiens und
Südossetiens durch Russland ist und bleibt unzulässig.
Völkerrechtlich sind beide Gebiete eindeutig georgisches Staatsgebiet. Die territoriale Integrität Georgiens
ist - aus meiner Sicht - auch weiterhin ein zentraler
Punkt, der nicht verhandelbar ist.
Immerhin gibt es seit Ende letzten Jahres wenigstens
eine gewisse Bewegung. Georgien hat Ende letzten Jahres dem Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation
zugestimmt und somit seine Bereitschaft zur Kooperation demonstriert. Das Angebot der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen von Russland an Georgien
vor wenigen Wochen ist nun ein Schritt Russlands hin
zum Abbau der Spannungen.
Gleichwohl bleibt nach wie vor die vollständige Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen vom August 2008 und des Implementierungsabkommens vom
September 2008 offen. Hierzu zählt der Rückzug der russischen Truppen auf die vor Ausbruch der Feindseligkeiten im August 2008 eingenommenen Positionen. Hier
gilt es auch weiter in Gesprächen auf Russland einzuwirken, seinen Verpflichtungen vollständig nachzukommen.
Wichtig bleibt weiterhin die Forderung nach freiem
Personenverkehr zwischen den Sezessionsgebieten und
Georgien. Auch hier muss sich Russland bewegen.
Wir werden auch weiterhin die Beziehungen zu Georgien stärken und das Land bei den Reformen und in seiner weiteren Entwicklung unterstützen. Dies haben wir
unter anderem durch eine Vereinbarung und Erleichterungen im Visaverfahren getan. Die Schaffung von Visafreiheit zwischen Georgien und der Europäischen Union
bleibt weiter unser Ziel.
Der von den Grünen vorgelegte Antrag ist ein erneuter Anlass zur Beschäftigung mit der Region, der jedoch
nicht nötig gewesen wäre. Denn die Region steht für uns
ohnehin im Fokus deutscher Außenpolitik.
Bündnis 90/Die Grünen beantragen, dass sich die
Bundesregierung für eine engere Kooperation mit Georgien einsetzen soll, dies vor allem auch über die EU.
Eine gute Kooperation mit Georgien und anderen Ländern der Kaukasus-Region ist sinnvoll und nötig. Neue
Aufrüstung, Abbau demokratischer Rechte, die Gefahr
bewaffneter Konflikte muss ausgeschlossen werden. Der
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu Georgien beinhaltet viel Kritisches zur Lage in Georgien und zur
deutschen Kaukasus-Politik. Das ist vernünftig und unterstützenswert. Glaubwürdiger allerdings wäre es,
wenn sich die richtige Kritik nicht nur auf die schwarzgelbe Regierungszeit beschränken würde, sondern die
Regierungszeit Schröder/Fischer mit einbezöge.
Der Kaukasus-Raum war geschichtlich und ist aktuell
in hohem Maße umkämpft. Immer ging es in dieser
Region um den Zugriff auf Naturressourcen, die in
Georgien selbst weniger, aber in der Region in großem
Umfang vorhanden sind. Georgien ist wichtig als
Transitland auch für die Energieversorgung, als politisches und kulturelles Zentrum, als eine der Mächte, die
in dieser Region um Hegemonie kämpfen. Diese Zusammenhänge auszublenden, wie es zum Teil im Antrag
geschieht, hieße, eine falsche Politik fortzusetzen. Ein
Blick in den Antrag „Keine NATO-Erweiterung - Sicherheit und Stabilität mit und nicht gegen Russland“ der
Linken vom 3. Dezember 2008 ({0})
könnte für den Erkenntnisfortschritt sinnvoll sein.
Der Antrag der Grünen enthält leider keinen frischen, neuen Gedanken. Er stellt zu Recht fest, dass Georgien den Krieg gegen Russland begonnen hat. Das ist
mutig, aber nicht ganz neu. Er blendet aber die Analyse
Zu Protokoll gegebene Reden
aus, was die georgische Politik zu diesem irrationalen
Schritt ermuntert hat. Ist es nicht so, dass die USA in der
Bush-Regierungszeit und bis heute Georgien aufgerüstet
hat? Ist es nicht so, dass allein das Versprechen, Mitglied der NATO werden zu können, zum georgischen
Abenteuer ermuntert hat? Gehört es nicht zu einer vernünftigen Politik, festzuhalten, dass die Ausweitung der
NATO in den südlichen Raum der ehemaligen Sowjetunion alle Einkreisungsängste in Moskau bestärken
muss? Der NATO-Mitgliedschaft Georgiens ist eine
prinzipielle Absage zu erteilen, weil sie das strategische
Gleichgewicht im euro-asiatischen Raum extrem verändern würde. Eine solche Festlegung vermeidet der grüne
Antrag. In der NATO-Frage agieren die Grünen, speziell
auch mit diesem Antrag, nach dem Motto: Wasch mir
den Pelz, aber mach mich nicht nass.
Keine ganz neue, jedoch eine hochentscheidende
Frage wäre das Verbot aller Waffenexporte in den kaukasischen Raum. Die Linke ist für ein prinzipielles Verbot von Waffenexporten. Eine solche Haltung wollen wir
den Grünen ja gar nicht abnötigen und erwarten sie
auch nicht von ihnen. Aber eine Festlegung, an die Konfliktländer Georgien, Aserbaidschan und Armenien werden keine Waffen exportiert, unabhängig davon, ob das
zur Zeit praktisch geschieht oder nicht, ist trotzdem notwendig. Als Mitglied der NATO trägt Deutschland nicht
nur für das eigene Verhalten, sondern für die Gesamtheit
der NATO-Politik Verantwortung.
Zu einer neuen Politik im Kaukasus-Raum würde
auch gehören, Grundlagen für eine Konferenz für
Sicherheit und Zusammenarbeit zu schaffen. Die Staatengebilde Abchasien und Südossetien sind von der
Mehrheit der Staaten nicht anerkannt, und sie sind,
genau wie der Kosovo, völkerrechtswidrig zustande gekommen. Nichtsdestotrotz sind sie eine Realität. Wie soll
also damit umgegangen werden? Wie soll sich künftig
das Verhältnis Georgien - Russland entwickeln? Wäre
nicht auch hier der Rückgriff auf eine Konzeption „Wandel durch Annäherung“ angesagt? Erste Schritte sind
gegangen worden. Der Antrag spricht sich in diese Richtung aus. Wäre, das intensiver zu befördern, nicht Aufgabe eines solchen Antrages? Georgien hat über 1 000
Soldaten in der ISAF-Mission in Afghanistan und plant,
2012 weitere Soldaten zu entsenden. Bis zum 1. September 2011 sind in Afghanistan zehn georgische Soldaten
zu Tode gekommen. Dazu schweigt der grüne Antrag.
Das wundert mich nicht. Wäre es nicht ein solidarischer
Rat an die georgische Politik, die georgischen Soldaten
aus Afghanistan abzuziehen? Einen Antrag zu formulieren, der solche Fragen nicht ausspart, sondern sie thematisiert, wäre ein interessanter Beitrag zur deutschen
Außenpolitik.
Der grüne Antrag konzentriert sich auf die Europäische Union. Aber diese wird so zeitlos geschildert wie
ein blauer Faltenrock. Haben wir es nicht mit einer Europäischen Union in einer tiefen Krise zu tun? Und darf
man der Frage, wie kooperationsfähig die EU derzeit
ist, völlig ausweichen?
Nun hat der Westen, hat die EU und hat die deutsche
Politik ja in der Vergangenheit nicht wenig Einfluss auf
die Entwicklung Georgiens genommen. Die sogenannte
Rosenrevolution wurde vom Westen massiv unterstützt.
Dieser bisherige Einfluss des Westens hat jene Ergebnisse gezeitigt, die Sie zutreffend kritisch benennen. Sie
müssen feststellen, dass die Bilanz der demokratischen
Entwicklung gemischt ist. Die Bekämpfung der Korruption, die Polizeireform, die Reform der Steuergesetzgebung und die Verbesserung der Investitionsbedingungen
durch Privatisierung und Marktliberalisierung haben in
den letzten Jahren Fortschritte erzielt. Aber es bestehen
Missstände beim Wahlrecht und in der Durchführung
von Wahlen, das Justizwesen ist nicht demokratisch und
unabhängig, es gibt autoritäre Tendenzen, die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition, der Medien und der Zivilgesellschaft sind eingeschränkt. Anders ausgedrückt:
Das, was die europäischen multinationalen Konzerne,
die Energieriesen interessiert, das funktioniert. Was
nicht funktioniert, ist die Demokratie für die Menschen
in Georgien. Und die Bevölkerung verarmt. Entwicklung
gibt es für das Kapital; die Menschen haben keinen Einfluss auf ihre Zukunft.
Die Linke steht für Schutz der Souveränität der Staaten, für das Recht auf eigenständige Entwicklung und
Nichteinmischung. Im Interesse einer friedlichen Entwicklung der Region und Georgiens unterstützen wir die
Bemühungen um eine ständige Konferenz für Sicherheit
und Zusammenarbeit im Kaukasus. Wir sind der Meinung, dass der Kaukasus nicht in erster Linie für unsere
Energiesicherheit zuständig ist, sondern dass wir - unter strikter Beachtung der Gleichberechtigung und
Nichteinmischung - mithelfen müssen, den kaukasischen
Gesellschaften eine unabhängige Entwicklung in Sicherheit zu ermöglichen.
Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi haben
für Russland einen hohen ökonomischen und emotionalen Stellenwert. Ich gebe zu, dass ich kein Freund der
wachsenden Kommerzialisierung von Sportereignissen
und des damit verbundenen Kampfes um nationales
Prestige bin; im Gegenteil. Aber den Anlass der Olympischen Winterspiele in der Region ernst zu nehmen und
Vorschläge zu unterbreiten, dass nicht nur ein olympischer Friede gewahrt wird, sondern um die Olympischen Spiele in Sotschi herum hinsichtlich des Friedens
ver- und gehandelt wird, dass vertrauensbildende Maßnahmen stattfinden, daraus muss mehr als ein Appell an
die russische und georgische Politik werden.
Der vorliegende Antrag der Grünen spricht en détail
viele wichtige Fragen an, die auch die Linke stellt,
drückt sich aber um wichtige politische Probleme und
strategische Ausrichtungen. Darüber werden wir mit
den Antragstellern und allen Fraktionen streiten.
Mit großem Interesse haben wir die Reise von Bundesaußenminister Westerwelle in der vergangenen Woche in den Südkaukasus verfolgt. Wir freuen uns, dass er
bei seinen Gesprächen in Tiflis für eine verstärkte regionale Kooperation geworben hat. Das war ganz in unserem Sinne.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland und die EU müssen sich weiter für den
Aufbau „einer starken und lebendigen Demokratie in
Georgien“ einsetzen. In einer Rede an der Nationalen
Universität von Tiflis hat der Minister die Vision eines
„paneuropäischen Raumes der Freiheit, Sicherheit,
Rechtsstaatlichkeit und des Wohlstands“ skizziert. Nehmen wir den Anspruch des Bundesaußenministers beim
Wort!
Wer jedoch eine solche Vision in den Raum stellt,
sollte vorher die Kriegswunden von 2008 heilen. Mit der
Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und
Südossetien sowie der Nichtumsetzung des vereinbarten
Abzugs der russischen Armee aus den Sezessionsgebieten erscheinen die Hürden für eine Annäherung an Russland derzeit noch unendlich hoch.
Der zivilen EU-Beobachtungsmission EUMM - im
Moment die einzige internationale Präsenz zur Überwachung und Mediation des Konflikts - wird dazu von den
De-facto-Regierungen der Zugang verweigert. Die Genfer Gespräche bringen keine Fortschritte und laufen
sich regelmäßig fest.
Mit diesem Antrag möchten wir einen Beitrag leisten,
um die starren Fronten aufzuweichen: Alle beteiligten
Seiten müssen sich aufeinander zu bewegen. Hilfreich
sind aus unserer Sicht Projekte, die unterhalb der
tatsächlichen Statusfrage ansetzen. Wir wollen die
Menschen in den Regionen zueinander bringen und vertrauensbildende Maßnahmen intensivieren - mit den
vorhandenen Mitteln der Außen- und Auswärtigen Kulturpolitik.
Gleichzeitig müssen die Menschen im Südkaukasus
auch spüren, dass sie im Kerneuropa willkommen sind.
Dafür müssen wir ihnen deutlich mehr anbieten als bisher.
Erst wenn die Menschen aus Georgien ohne große
Hürden nach Europa kommen können, können sie von
den Erfahrungen der parlamentarischen Demokratie direkt lernen.
Daher werten wir die im Rahmen der EU-Mobilitätspartnerschaft am 1. März 2011 in Kraft getretene Visaliberalisierung für ausgewählte Personenkreise als ersten
Schritt, sehen diesen jedoch kaum als hinreichend an:
Wenn sich die Georgierinnen und Georgier nicht enttäuscht von der EU abwenden sollen, muss deutlich
mehr passieren als die Halbierung der Visakosten und
der erleichterte Zugang für kleine Kreise der Bevölkerung. Wir möchten eine zeitnahe Umsetzung der Visafreiheit für alle Georgierinnen und Georgier.
Innenpolitisch hat Georgien bei der Bekämpfung der
Korruption einige Erfolge erzielt. Darauf sollte aufgebaut werden. Mittlerweile scheint allerdings die Reformbereitschaft eher erlahmt zu sein. Die Regierung
Saakaschwili klammert sich an ihre Macht. Mit repressiven Methoden baut sie stärker auf Machterhalt als auf
inhaltliche Überzeugung der eigenen Bevölkerung. Der
Druck auf die politische Opposition nimmt zu.
Internationale Nichtregierungsorganisationen wie
Amnesty International berichten von einer verstärkten
Kontrolle der Oppositionspolitiker und parteiloser Unterstützerinnen und Unterstützer. Sie werden vom Rechnungshof befragt. Allerdings dienen diese Befragungen
weniger der Aufklärung steuerrechtlicher Vergehen,
sondern sind vielmehr Teil einer politischen Einschüchterungsstrategie. Die Opposition hat verstanden, ihre
Kräfte zu bündeln und sich mit einem alternativen Programm zu präsentieren. Das macht sie erstmals für den
amtierenden Präsidenten gefährlich.
Die Parlamentswahlen in diesem Jahr sind ein echter
Lackmustest. Sie werden Aufschluss darüber geben, welche Schritte Georgien auf dem Weg zur Demokratie bereits gegangen ist und welche noch zu gehen sind.
Beispielhaft dafür steht die Reform des Wahlrechts:
Vieles von dem, was die Venedig-Kommission bemängelt
hatte, konnte aufgegriffen und umgesetzt werden. Nun
muss man sehen, wie sich das Beschwerde- und Anfechtungsverfahren, die neu zugeschnittenen Wahlbezirke
oder auch das System der Wahlkampfberichterstattung
bei den ersten Wahlen bewähren.
In den zurückliegenden Wahlen gab es zahlreiche Beschwerden seitens der Oppositionsparteien über den
Missbrauch administrativer Mittel und Ressourcen
durch die Regierungspartei. Aber erst mit einer ordnungsgemäß abgelaufenen Wahl zeigt sich, ob ein Land
wirklich den Weg in die Richtung einer Demokratie beschritten hat. Erst wenn tatsächlich gleiche Bedingungen für alle Kandidatinnen und Kandidaten herrschen,
wenn es adäquaten Medienzugang für die Opposition
landesweit gibt, dann wird auch in Georgien davon gesprochen werden können, dass es sich um freie und faire
Wahlen handelt.
Darüber hinaus ist das Justizwesen immer noch Ausgangspunkt für Kritik. Bislang werden die Richter auf
zehn Jahre gewählt. Angekündigt wurde hier nun eine
Reform bzw. eine Verfassungsänderung für die Zeit nach
den Präsidentschaftswahlen von 2013, die die Ernennung von sämtlichen Richtern auf Lebenszeit vorsieht.
Mit einer solchen Reform ließe sich die Unabhängigkeit
der Justiz sicherlich verbessern.
Allerdings ist die Quote der Freisprüche mit 0,2 Prozent im internationalen Vergleich immer noch unfassbar
niedrig. Von einer unabhängigen Justiz kann kaum gesprochen werden, wenn bei den Urteilen fast ausnahmslos den Anträgen der Staatsanwaltschaft entsprochen
wird.
Ähnlich wird die Lage von den Vertretern der jungen
Rechtsanwälte Georgiens eingeschätzt, die die Urteile
gegen Oppositionelle und Aktivisten nach den regierungskritischen Demonstrationen 2009 analysiert hatten. Offenbar wurden sie nach einem einheitlichen
Muster verurteilt: Als Zeugen waren ausschließlich
Polizisten geladen, Prozesse wurden auffallend schnell
abgewickelt, und das Urteil in der zweiten Instanz wich
in keinem der Fälle von dem der ersten ab. Auch an dieser Stelle trat eine gewisse Ernüchterung über die Unabhängigkeit des Justizsystems ein.
Damit bleibt die von Bundesminister Westerwelle
skizzierte Vision eines „paneuropäischen Raumes der
Zu Protokoll gegebene Reden
Freiheit, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und des Wohlstands“ vorerst viel Wunschdenken, aber umso mehr
wird eine intensivere Zusammenarbeit mit Georgien benötigt, die das Land auch tatsächlich zu weiteren Reformen stimuliert.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8778 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({0}), Dr. Sascha Raabe, Lothar
Binding ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit - Behindertenrechtskonvention umsetzen
und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv
gestalten
- Drucksache 17/8926 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Dies betrifft
Klaus Riegert, Karin Roth, Helga Daub, Dr. Ilja Seifert
und Uwe Kekeritz.
Die UN-Behindertenrechtskonvention will sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen den gleichen
menschenrechtlichen Schutz erhalten wie Menschen
ohne Behinderungen. Sie schafft somit keine Sonderrechte, sondern konkretisiert die universellen Menschenrechte für die Bedürfnisse und Lebenslagen behinderter Menschen. Im Zentrum steht das Recht auf
Gleichbehandlung, Teilhabe und Selbstbestimmung.
Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll als einer der ersten Staaten
am 30. März 2007 unterzeichnet und am 24. Februar
2009 ratifiziert. Seit Ablauf der 30-Tage-Frist am
26. März 2009 sind die UN-Behindertenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll für Deutschland verbindlich.
Die Einhaltung der Menschenrechte hat für die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung einen äußerst hohen Stellenwert. Im Menschenrechtskonzept hat
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Menschenrechtsorientierung
der Entwicklungszusammenarbeit zur verbindlichen
Vorgabe gemacht. Die Strategie des BMZ beruht auf der
Förderung sowohl spezifischer Menschenrechtsvorhaben als auch der Querschnittsverankerung des Menschenrechtsansatzes in allen Sektoren und Schwerpunkten der EZ.
Der Weltbehindertenbericht belegt: Die meisten Menschen mit Behinderungen haben schlechtere Chancen
auf Gesundheitsversorgung, Schul- und Berufsbildung
und wirtschaftliche Teilhabe. Sie werden in den Entwicklungsländern häufig diskriminiert und ausgegrenzt.
Viele der weltweit über 1 Milliarde Menschen, die eine
Behinderung haben, leben in Armut. In Entwicklungsländern hat unter den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung jeder Fünfte eine Behinderung. Ihre Behinderung
ist nicht nur auf ihre körperlichen, sensorischen oder
geistigen Beeinträchtigungen zurückzuführen, sondern
auf ein Umfeld, das ihnen die gesellschaftliche Teilhabe
verwehrt.
Menschen mit Behinderungen werden weder in der
Millenniumserklärung noch in den Millenniumsentwicklungszielen - MDG - ausdrücklich erwähnt. Deshalb ist
es notwendig und richtig, die Einhaltung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit zu thematisieren. Wenn wir Menschen mit Behinderungen nicht in unsere Arbeit mit
einbeziehen, werden wir die Millenniumsentwicklungsziele nicht erreichen.
Eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit fördert
Gleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Wir betrachten sie als aktive Partner bei der
Umsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nur
Programme für Menschen mit Behinderungen. Wir streben an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Menschen
mit Behinderungen zugänglich sein müssen.
Die Aufforderung im SPD-Antrag, den „twin
track“-Ansatz weiter auszubauen und messbar zu machen, diesen Ansatz haben wir längst verinnerlicht. Unsere Botschaft lautet: Entwicklung inklusiv gestalten!
Unser Menschenrechtskonzept sieht vor, dass die
Durchführungsorganisationen in Zukunft Vorhaben auf
menschenrechtliche Auswirkungen und Risiken prüfen
müssen. Weiter verbessern wir menschenrechtliches Monitoring und Evaluierungen.
Das BMZ unterstützt in vielen Partnerländern die
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsprojekten.
In Sierra Leone und Äthiopien werden beispielsweise
Menschen mit Behinderungen in Beschäftigungsförderungsmaßnahmen einbezogen.
In Vietnam, Indonesien und Kambodscha berät die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit nationale Regierungen, wie der Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Gesundheitsdienstleistungen und sozialen Sicherungsprogrammen verbessert werden kann.
In Chile hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Behörden dabei unterstützt, das nationale System zur Früherziehung inklusiv für Kinder mit Behinderungen zu gestalten. Durch das Projekt wurden über
2 200 behinderte Kinder im ganzen Land in Regelkindergärten aufgenommen.
Nach dem Erdbeben in Haiti hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit für Tausende Familien Übergangsunterkünfte gebaut. Dabei wurde besonders auf
die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen geachtet.
Wir haben uns im Dezember bei unserem Haiti-Delegationsbesuch ein Projekt der Christophel Blindenmission, CBM, angesehen. Da wird schon einiges geleistet.
Aber, es war auch zu sehen, dass es noch eine Menge zu
tun gibt. Darüber hinaus konnten im Rahmen von öffentlichen Beschäftigungsprogrammen auch Menschen mit
Behinderungen ein zusätzliches Einkommen verdienen.
In allen deutschen Maßnahmen des Wiederaufbaus in
Haiti werden die Rechte von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit arbeitet
eng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Eine besondere Rolle kommt dabei der Förderung
von Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit
Behinderungen zu.
In Tansania, Kambodscha und Vietnam hat das BMZ
die Einbeziehung von Behindertenverbänden in nationale Armutsreduzierungsprozesse unterstützt.
In Haiti werden Organisationen behinderter Menschen mit Trainings und Workshops zu einer besseren
politischen Teilhabe befähigt.
In Bangladesch werden solche Gruppen bei der Erstellung lokaler Aktionspläne zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention beteiligt.
Seit dem Jahr 2000 hat das BMZ 188 spezifische Projekte mit einem Gesamtvolumen von knapp 54 Millionen
Euro gefördert.
Neben spezifischen Projekten wird das Thema Inklusion zunehmend in bilateralen Vorhaben querschnittsmäßig berücksichtigt. Für die querschnittsmäßige Verankerung bei der Beauftragung von Programmen gibt es
noch kein systematisches Monitoring. Die bestehende
Informationsgrundlage ist daher begrenzt. Möglichkeiten zur besseren Datenerfassung werden zurzeit untersucht.
Das BMZ fördert derzeit mindestens 14 inklusiv gestaltete Entwicklungsmaßnahmen in Afghanistan, Bangladesch, Chile, Haiti, Indonesien, Indien, Sierra Leone,
Tansania und Usbekistan.
In Folge der Ratifikation der Konvention hat die Bundesregierung am 15. Juni 2011 den „Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention ({0})“ beschlossen.
Mit dem Aktionsplan regen wir einen Prozess an, der in
den kommenden zehn Jahren nicht nur das Leben der
rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderungen in
Deutschland maßgeblich beeinflussen wird. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung, NAP, enthält im
Anhang mehrere Maßnahmen auf die sich das BMZ verpflichtet hat. So ist die Entwicklung einer BMZ-Strategie
zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der
Entwicklungszusammenarbeit angekündigt.
Deutschland gehört zu den ersten europäischen Ländern, die sich einen eigenen Aktionsplan zur Stärkung
der Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Entwicklungspolitik geben. Die BMZ-Strategie
soll das Format eines Aktionsplans haben. Unsere Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,
Gudrun Kopp, hat am 2. Februar 2012 im Rahmen des
3. Runden Tisches zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit die
Eckpunkte für den Aktionsplan vorgelegt und diese mit
Vertretern der Zivilgesellschaft, Vertretungsorganisationen von behinderten Menschen und anderen wichtigen
Stakeholdern diskutiert.
Nächste konkrete Schritte bei der Entwicklung des
Aktionsplans sind die Entwicklung konkreter Maßnahmen, ein erster Gesamtentwurf sowie eine Expertenanhörung. Der BMZ-Aktionsplan soll bis Ende 2012 abgeschlossen sein und dann in die Umsetzung gehen.
Auch im weiteren Erstellungsprozess ermöglichen
wir der Zivilgesellschaft ein hohes Maß an Beteiligung.
Die VENRO AG Behinderung und Entwicklung ist das
prominenteste Gremium in der Zivilgesellschaft, das
sich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen
in der Entwicklungszusammenarbeit befasst. Die Arbeitskontakte sind gut und konstruktiv.
Meine Damen und Herren Sozialdemokraten: Sie
müssen uns nicht auffordern, die Zivilgesellschaft an der
Erarbeitung der BMZ-Strategie zu beteiligen. Wir tun
dies bereits! Dieses gemeinsame Engagement werden
wir mit einem eigenen Antrag würdigen und unterstützen!
Weltweit leben 1 Milliarde Menschen mit einer Behinderung. Das sind rund 15 Prozent der Weltbevölkerung
und weit mehr Menschen, als man bisher annahm. Etwa
80 Prozent der Menschen mit Behinderungen weltweit
leben in den Entwicklungsländern. Menschen mit Behinderungen haben einen erschwerten Zugang zu medizinischen Dienstleistungen und Arbeit, sie sind aus vielen
Lebensbereichen ausgeschlossen und erfahren gravierende Menschenrechtsverletzungen. Dennoch wurden
Menschen mit Behinderungen nicht in den Millenniumsentwicklungszielen erwähnt. Dies muss sich ändern.
In einer Broschüre des Vereins „Behinderung und
Entwicklungszusammenarbeit“ wird ein Afrikaner mit
Behinderung wie folgt zitiert: „In den reichen Ländern
kämpfen Menschen mit Behinderung für ein selbstbestimmtes Leben und für bessere Unterstützung. In den
armen Ländern kämpfen die Menschen um Nahrung und
Wohnung.“ Das bringt es auf den Punkt. Noch etwas zugespitzter kann man sagen: Die Menschen mit Behinderung kämpfen ums blanke Überleben, und ihre Chancen
sind noch schlechter als die der Menschen, die nicht zusätzlich eine Behinderung haben.
Im Jahr 2000 hat sich die Weltgemeinschaft auf die
sogenannten Millenniumsentwicklungsziele geeinigt,
mit denen man bis zum Jahr 2015 die weltweite Armut
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
halbieren will. Aber Menschen mit Behinderung wurden
nicht erwähnt, obwohl sie von jedem einzelnen Ziel angesprochen sind.
Ziel 1: Halbierung der Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben. Ein Fünftel dieser Menschen, so
wird geschätzt, hat eine Behinderung.
Ziel 2: Bildung. Nach UNESCO-Schätzungen gehen
circa 90 Prozent der Kinder mit Behinderung nicht zur
Schule.
Ziel 3: Gleichstellung der Geschlechter. Frauen und
Mädchen mit Behinderung sind sozusagen doppelt diskriminiert: als Frau und als Behinderte. Frauen mit Behinderung werden weit häufiger Opfer sexueller Übergriffe.
Ziel 4: Kindersterblichkeit. Die Sterblichkeit von Kindern mit Behinderung liegt weltweit bei 80 Prozent.
Ziel 5: Müttergesundheit. Komplikationen während
der Schwangerschaft und bei der Geburt führen häufig
zu Behinderungen bei Mutter und/oder Kind.
Ziel 6: Im Kampf gegen Aids werden Menschen mit
Behinderung weitgehend ausgeschlossen, weil man beispielsweise häufig annimmt, sie seien sexuell nicht aktiv.
Gleichzeitig sind aber - siehe Ziel 3 - Frauen und Mädchen mit Behinderung einem deutlich höheren Risiko
ausgesetzt, Opfer sexueller Gewalt zu werden.
Ziel 7: Umweltschutz. Ein Drittel aller Krankheiten,
die eine Behinderung verursachen können, werden
durch Umweltrisiken ausgelöst.
Und, last but not least, Ziel 8: Globale Partnerschaft
für Entwicklung. Dies bedeutet auch, dass Menschen mit
Behinderungen in alle Strategien und Programme aufgenommen werden, nicht nur als Begünstigte, sondern
auch als Mitwirkende.
Wenn es eines Beweises bedurfte, warum die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen längst
überfällig war, dann reicht ein Blick auf die Millenniumsziele. Aber es reicht eben nicht, dass diese Konvention seitens der Bundesregierung ratifiziert wurde.
Sie muss auch umgesetzt werden.
Erst auf Druck von Zivilgesellschaft und Opposition
hat die Bundesregierung die internationalen Aspekte im
Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention aufgenommen. Minister Niebel
kündigte 2010 zwar vollmundig eine Strategie für eine
inklusive Entwicklungszusammenarbeit an; diese liegt
aber noch immer nicht vor. Wenn es gut läuft, wird jetzt,
fast drei Jahre später, ein erster Entwurf vorliegen. Allgemein wird wahrgenommen, dass das Engagement der
Ministeriumsleitung in dieser Frage weit hinter dem für
Wirtschaftskooperationsprojekte zurücksteht.
Und wie man hört, gibt es auch noch keinerlei Pläne
für eine Finanzierung des Ganzen. Dabei ist es genau
jetzt Zeit, politische Entscheidungen durch finanzielle
Ressourcen im Rahmen des Haushalts 2013 zu treffen.
Deswegen fordern wir die Aufnahme einer Zielgröße
„Menschen mit Behinderung“ in den Einzelplan 23 jetzt.
Wir brauchen eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit. Die Broschüre des Vereins „Behinderung und
Entwicklungszusammenarbeit“ in einfacher Sprache
stellt dies mit klaren Worten dar: „Inklusiv bedeutet:
Für alle Menschen gleich. Für Menschen mit und ohne
Behinderung. Entwicklungs-Zusammen-Arbeit bedeutet:
Die reichen und die armen Länder arbeiten zusammen,
damit das Leben in den armen Ländern besser wird. Es
soll dort allen Menschen besser gehen. Menschen mit
und ohne Behinderung. Alle Menschen sollen einen guten Beruf haben. Sie sollen ein selbstbestimmtes Leben
führen. Sie sollen am Leben in der Gesellschaft teilnehmen können.“
Klarer lassen sich die Ziele, auch die Ziele unseres
Antrags, kaum ausdrücken.
Inklusion wird auch bei den Durchführungsorganisationen noch immer als Randthema wahrgenommen. Die
praktische Umsetzung der Belange von Menschen mit
Behinderungen bleibt hinter der theoretischen Berücksichtigung in Konzepten und Strategien der staatlichen
EZ zurück. Ein wirksames Monitoring fehlt, ebenso wie
belastbare Daten und wissenschaftliche Erkenntnisse
über wirkungsvolle Maßnahmen der Inklusion.
Es muss also dringend gehandelt werden. Auf internationaler Ebene muss die Bundesregierung insbesondere für zwei Dinge Sorge tragen. Zum einen muss die
Situation von Menschen mit Behinderung bei der
Rio+20-Konferenz behandelt werden. Zum anderen
muss die Situation von Menschen mit Behinderungen sowohl in den Millenniumszielen verankert werden als
auch fester Bestandteil des Nachfolgeprozesses nach
2015 werden.
Auf nationaler Ebene geht es darum, die Entwicklungszusammenarbeit in allen Bereichen inklusiv zu gestalten.
Ihr sonst üblicher Ablehnungsgrund eines Antrags
der SPD - er sei zu lang und es gebe zu viele Forderungen - kann diesmal nicht greifen. Deswegen schauen Sie
sich den Antrag an, und überlegen Sie ganz genau, ob
Sie wirklich gute Argumente haben, um diese Forderungen abzulehnen, und wie Sie dies den Betroffenen erklären.
Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und deren Umsetzung in der Entwicklungszusammenarbeit ist
ohne Zweifel ein Thema, welches wichtig ist. Da sind wir
uns hier im Haus alle einig.
Für die Liberalen ist Behinderung ein Menschenrechtsthema. Schon zu Beginn dieser Legislaturperiode
hat das BMZ deutlich gemacht, dass wir die Realisierung der Menschenrechte wieder stärker in den Mittelpunkt deutscher Entwicklungspolitik stellen werden. Die
Rechte von Menschen mit Behinderungen sind hierbei
ein besonderes Anliegen.
Menschen mit Behinderungen sind weltweit eine der
Gruppen, deren Menschenrechte am eklatantesten missachtet und verletzt werden - besonders aber in EntwickZu Protokoll gegebene Reden
lungsländern. Ob es um Arbeitsplätze, Bildungschancen
oder den Zugang zu medizinischer Versorgung geht:
Überall finden sich Benachteiligungen für Menschen mit
Behinderung.
Die von Deutschland 2009 ratifizierte VN-Behindertenrechtskonvention wird von uns auch in der Entwicklungszusammenarbeit als Verpflichtung und Leitgedanke
für die Arbeit am Nationalen Aktionsplan empfunden
und zugrunde gelegt.
Bevor ich auf den Stand des Nationalen Aktionsplans
eingehe, sei mir ein Wort der Verwunderung an Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD, gestattet: Ich empfinde es als, gelinde gesagt, seltsam, wenn in einem laufenden Prozess bereits das Ergebnis infrage gestellt
wird. Sie schreiben über die angekündigte Strategie für
eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit, es sei „fraglich, ob diese ausreichend konkret und vom gesamten
BMZ getragen sein wird, um zu effektiven Fortschritten
zu führen, zumal bisher auch keinerlei Aussagen zur
Finanzierung gemacht wurden. Zudem wäre auch ein
explizites Engagement des Bundesministers notwendig,
damit sowohl das BMZ als auch die Durchführungsorganisationen dem Thema die notwendige Priorität einräumen.“
Den aktiv Beteiligten eines Entstehungsprozesses von
vornherein zu unterstellen, sie würden nicht hinter dem
Ergebnis dieses Prozesses stehen, das muss leider als
reines Oppositionsgebaren eingestuft werden. Schade bei diesem so wichtigen Thema.
Und der Bundesregierung, insbesondere dem BMZ,
zu unterstellen, nicht explizit engagiert zu sein, wird insbesondere auch unserer Parlamentarischen Staatssekretärin Gudrun Kopp nicht gerecht, die sich dieses Themas
mit Leidenschaft angenommen hat und aktiv an allen
Schritten des Nationalen Aktionsplans mitwirkt.
Ihr Antrag, so gut er sicherlich gemeint war, ist völlig
überflüssig. Denn mit Ihren Forderungen rennen Sie
doch bereits weit geöffnete Türen ein.
Das offensichtlichste Beispiel ist die Forderung, die
Zivilgesellschaft müsse bei der Erarbeitung der BMZStrategie eingebunden werden. Das ist sie doch! Das
BMZ hat von Beginn an Wert darauf gelegt, das große
Engagement der Zivilgesellschaft nicht nur zu würdigen,
sondern Interessensvertretungsgruppen ein hohes Maß
an Beteiligung zu ermöglichen. Die VENRO-AG „Behinderung und Entwicklung“ ist das wohl bekannteste
Gremium in der Zivilgesellschaft, das sich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit befasst. Die Arbeitskontakte sind
gut und konstruktiv.
Der BMZ-Aktionsplan soll bis Ende 2012 abgeschlossen sein und dann in die Umsetzung gehen. Natürlich
hätten wir uns schon vor Jahren einen solchen Aktionsplan gewünscht; aber erst unter liberaler Führung hat
das Ministerium mit der konkreten Umsetzung begonnen. Nach der Erarbeitung einer Gliederung mit strategischen Zielen im Oktober 2011 folgten mehrere Expertenworkshops und Runde Tische mit allen Beteiligten.
Noch vor dem Sommer sollen die konkreten Maßnahmen
im Rahmen des Aktionsplans entwickelt sein, um im
Sommer, wiederum unter Einbeziehung auch der zivilgesellschaftlichen Experten, den ersten Gesamtentwurf abzustimmen.
Schon jetzt brauchen wir uns mit unserem Engagement nicht zu verstecken: Im Jahr 2009 hat das BMZ
über den Titel für private Träger 22 behinderungsspezifische Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund
4 Millionen Euro gefördert; das ist im Vergleich zu 2008
fast eine Verdopplung.
Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die humanitäre
Hilfe an. Hier hat das BMZ mit der Förderung des Wiederaufbaus in der Region rund um die Stadt Léogâne auf
Haiti meines Erachtens sehr gute Arbeit geleistet. Schon
bei der Prüfmission war ein Experte dabei, der vor Ort
mit behinderten Menschen gesprochen hat, um ihre Perspektive bei der Projektplanung zu berücksichtigen. Bei
der Umsetzung bei allen Aktivitäten wurde darauf geachtet, dass auch Menschen mit Behinderungen daran
teilhaben können; sei es bei der Katastrophenvorsorge,
der Stärkung lokaler Akteure oder der wirtschaftlichen
Unterstützung der lokalen Bevölkerung.
Weitere Beispiele sind vom BMZ geförderte inklusiv
gestaltete Projekte in Afghanistan, Bangladesch, Chile,
Haiti, Indonesien, Sierra Leone, Tansania und Usbekistan.
In einem Punkt gebe ich Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD, recht: Es muss noch viel mehr für
Menschen mit Behinderung in der Entwicklungszusammenarbeit getan werden.
Daher freue ich mich auf die Ergebnisse der intensiven Arbeit am Aktionsplan des BMZ - und darauf, gemeinsam mit Ihnen und allen Kollegen in diesem Haus
an der Umsetzung mitzuwirken.
Über 800 Millionen Menschen in den sogenannten
Entwicklungsländern leben mit unterschiedlichsten
Beeinträchtigungen. Kriege, Wasser- und Nahrungs-
mangel, Epidemien, Naturkatastrophen und fehlende
medizinische Versorgung sind Ursachen für einen über-
proportional großen Anteil von Menschen mit chroni-
schen Krankheiten und Behinderungen an der Bevölke-
rung. Insbesondere betrifft es Kinder und Jugendliche.
Schlechte gesundheitliche und soziale Versorgung,
eingeschränkter Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit,
fehlende Barrierefreiheit in der gesamten Infrastruktur
und geringe Möglichkeiten für die Entwicklung emanzi-
patorischer Behindertenbewegungen schränken die
Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens in Würde
und umfassender Teilhabe massiv ein. Es dürfte für alle
Fraktionen unstrittig sein: Menschen mit Behinderun-
gen zählen zu den am meisten benachteiligten und ärms-
ten Gruppen in Entwicklungsländern.
Gern möchte ich an dieser Stelle auf Professor
Stephen W. Hawking in seinem Vorwort zum Weltbericht
Behinderung von WHO und Weltbank - in der vom Bun-
destag gefertigten Übersetzung - verweisen: „Dieser
Zu Protokoll gegebene Reden
Bericht … beschreibt die verschiedenen Barrieren, de-
nen Menschen mit Behinderungen begegnen - in der
Haltung, beim physischen Zugang und im finanziellen
Bereich. Diese Barrieren abzubauen, liegt im Rahmen
unserer Möglichkeiten.“
Deswegen freue ich mich, dass die SPD mit ihrem An-
trag das Thema Behinderung und Entwicklungszusam-
menarbeit in Verbindung mit der UN-Behindertenrechts-
konvention, vor allem der Art. 11 und 32, auf die
Tagesordnung gesetzt hat. Die Linke teilt das Anliegen
dieses Antrages.
Die Behindertenrechtskonvention wurde vor über
fünf Jahren in der UN-Vollversammlung angenommen
und ist seit dem 26. März 2009 in Deutschland geltendes
Recht. Gute Worte - sogar von der Bundesregierung -
zum Thema gibt es durchaus. Auch die wenigen Hand-
lungsempfehlungen und Maßnahmen im Nationalen
Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention sind nicht falsch. Ge-
braucht werden aber mehr Veränderungen im wirkli-
chen Leben: im Denken und im Handeln von Politik,
Wirtschaft und allen anderen Bereichen der Gesell-
schaft. Die Belange von Menschen mit Behinderungen
werden noch zu oft als Ressortpolitik - Soziales - miss-
verstanden, anstatt sie zum inklusiven Bestandteil in al-
len Bereichen von Politik und Gesellschaft zu machen.
Dabei denke ich unter anderem auch an die politi-
schen Stiftungen mit ihren zahlreichen Auslandsbüros.
Hier passiert meines Erachtens noch zu wenig. Ich
kenne aber auch schon gute Beispiele. So gibt es bereits
mehrere erfolgreiche Aktivitäten des Büros der Rosa-
Luxemburg-Stiftung in Moskau zur Einbeziehung von
Behindertenverbänden in Veranstaltungen sowie bei der
Setzung von behindertenpolitischen Themen. Auch vor-
handene und künftige Städtepartnerschaften bilden ein
nicht gering zu schätzendes Potenzial in diesem Bereich.
In der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es in
Art. 32: „Die Vertragsstaaten anerkennen die Bedeutung
der internationalen Zusammenarbeit … und treffen diesbe-
züglich geeignete und wirksame Maßnahmen, zwischen-
staatlich sowie … in Partnerschaft mit den einschlägigen
internationalen und regionalen Organisationen und der Zi-
vilgesellschaft, insbesondere Organisationen von Menschen
mit Behinderungen … um a) sicherzustellen, dass die internationale Zusammenarbeit, einschließlich internationaler Entwicklungsprogramme, Menschen mit Behinderungen einbezieht und für sie zugänglich ist ...“
Als Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland „Für Selbstbestimmung und
Würde“ e. V., ABiD, durch meine Mitarbeit im Deutschen Behindertenrat, DBR, im European Disability Forum, EDF, und die internationale Zusammenarbeit mit
mehreren Behindertenverbänden, vor allem aus Osteuropa, weiß ich sehr gut, wie oft die Belange von Menschen mit Behinderungen in der Außen- und Entwicklungspolitik „vergessen“ werden und wie oft auch die
Einbeziehung von Vertretern der Behindertenbewegung
„vergessen“ wird.
Wann waren denn einmal Vertreterinnen und Vertreter von Behindertenverbänden aus Deutschland in den
Regierungsdelegationen der Kanzlerin oder des Außenministers oder des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oder anderer Mitglieder der
Bundesregierung? Ich sehe da vor allem Wirtschaftsvertreter. Und in welchen bilateralen oder multilateralen
Vereinbarungen mit anderen Staaten spielen Projekte
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
eine Rolle? Alle meine diesbezüglichen Anfragen an die
Bundesregierung in den letzten Jahren wurden mit einer
Fehlmeldung beantwortet.
Laut Bundesminister Niebel geht es bei langfristiger
Entwicklungszusammenarbeit um den Schutz der Menschenrechte und die Stärkung von Eigenverantwortung
und Selbsthilfekräften in den Entwicklungsländern. Herr
Minister: Die UN-Konvention ist ein Menschenrechtsdokument! Deswegen erwarte ich von Ihnen und der
gesamten Bundesregierung spür- und messbare Veränderungen bei der Förderung der Zusammenarbeit zwischen und mit den Behindertenverbänden in den Entwicklungsländern und Deutschland.
Dieser Aspekt, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD, kommt in Ihrem Antrag viel zu kurz. Sie reden für
und über Menschen mit Behinderungen. Das Prinzip
„Nichts über uns ohne uns!“ zieht sich leider nicht
durch Ihren Antrag.
Solche Zusammenarbeit kann davor schützen, in anderen Ländern die gleichen Fehler zu machen, wie wir
es in Deutschland taten. Dazu gehören unsere Erfahrungen mit Aussonderungseinrichtungen.
Zu unkonkret sind mir im SPD-Antrag die mit den inhaltlichen Forderungen verbundenen Konsequenzen für
den Bundeshaushalt. Natürlich muss man auch über die
gesellschaftlichen Ursachen von Behinderungen und
unsere Verantwortung dafür reden: zum Beispiel durch
Waffenexporte. Entwicklungszusammenarbeit muss gesellschaftliche Ursachen von Behinderungen zumindest
minimieren.
Lassen Sie mich zum Schluss an einem Beispiel noch
etwas zur Hilfe zur Selbsthilfe sagen. Bei meinen Reisen
in Länder Osteuropas sehe ich viele technisch und moralisch verschlissene, in Deutschland ausgesonderte
Busse, Straßenbahnen und auch für die Beförderung von
Menschen mit Behinderungen vorgesehene Autos. Diese
Busse und Straßenbahnen sind natürlich nicht barrierefrei und die „Behindertentransporter“ entsprechen unseren Sicherheitsanforderungen in keiner Weise. Das ist
keine Entwicklungszusammenarbeit, die hilft, Menschen
mit Mobilitätsbeeinträchtigungen eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Schrottentsorgung unter dem Deckmantel der Nächstenliebe und
damit auch noch Geld verdienen, das ist für mich Heuchelei.
„Breaking barriers to include!“ Unter diesem Motto
stand der erste Weltbericht Behinderung, den die WHO
und die Weltbank im vergangenen Jahr gemeinsam verZu Protokoll gegebene Reden
öffentlicht haben. Der Bericht hat erstmals umfassend
das Thema Behinderung beschrieben, analysiert und
politisch bewertet. Mit diesem Bericht wurde ein wichtiges Zeichen gesetzt und das Thema Behinderung endlich
auf die internationale Bühne gebracht.
15 Prozent der gesamten Weltbevölkerung leben mit
einer Behinderung; das sind über 1 Milliarde Menschen.
Etwa 80 Prozent dieser Menschen leben in Entwicklungsländern und haben kaum Zugang zu medizinischen
Rehabilitationsmaßnahmen oder Bildung; ihre Situation
ist prekär. Was oft vergessen wird: Die Situation von
Frauen mit Behinderung ist besonders dramatisch; sie
erleben oftmals eine doppelte Benachteiligung.
Armut und Behinderung sind zwei Faktoren, die sich
wechselseitig beeinflussen. Einerseits sind Menschen
mit Behinderung in Entwicklungsländern meist bitterarm. 90 Prozent aller Kinder mit Behinderung haben
dort keinerlei Zugang zu Bildungsangeboten. Sie finden
später keine Arbeit und bleiben ihr Leben lang vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Andererseits
sind viele Krankheiten, die Behinderungen auslösen, armutsbedingt und könnten bei einer angemessenen Behandlung gelindert oder gar geheilt werden.
Daher muss das Thema Inklusion in der Entwicklungszusammenarbeit endlich systematisch berücksichtigt werden. Der vorliegende Antrag der SPD fordert
ganz richtig, Inklusion als Querschnittsaufgabe in allen
Bereichen der deutschen und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu verankern. Deshalb unterstützen wir auch diesen Antrag.
Dieses Ziel muss sowohl bei der Arbeit der Durchführungsorganisationen als auch bei der Förderung von
Projekten privater und kirchlicher NGOs unbedingt gewährleistet sein. Die Strategie des Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
zur Inklusion von Menschen mit Behinderung, die schon
lange angekündigt, aber leider noch immer nicht in Arbeit ist, muss einen echten Paradigmenwechsel herbeiführen und verbindlich sein!
Das deutsche Engagement für behinderte Menschen
darf nicht zu einem Papiertiger verkommen; stattdessen
muss bei jedem Projekt hinterfragt werden: Werden die
Belange der Menschen mit Behinderung ausreichend berücksichtigt, werden sie besonders gefördert? Es ist darüber hinaus sicherzustellen, dass das neu geschaffene
Evaluierungsinstitut bei seiner Tätigkeit auch diesen Aspekt besonders berücksichtigt und überprüft, inwieweit
man dem Anspruch der Integration gerecht wird. Dazu
muss die Bundesregierung diesen Bereich auch mit angemessenen finanziellen Mitteln ausstatten. Anders kann
das Motto des Weltberichts Behinderung nicht umgesetzt
und können die Rechte der Menschen mit Behinderung
nicht gewahrt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8926 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind offensichtlich auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung - Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts
ITER
- Drucksachen 17/3483, 17/9025 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Martin Neumann ({1})
Sylvia Kotting-Uhl
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden von Dr. Stefan Kaufmann, René Röspel, Klaus
Hagemann, Dr. Peter Röhlinger, Dr. Petra Sitte, Sylvia
Kotting-Uhl.
Der vorliegende Antrag der SPD mit dem Titel „Für
eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen
Grundlagenforschung - Keine finanziellen Einschnitte
beim Europäischen Forschungsrat zugunsten des Einzelprojekts ITER“ vom 27. Oktober 2010 ist mittlerweile
überholt. Es hat keine Einschnitte beim Europäischen
Forschungsrat zugunsten von ITER gegeben. Im Gegenteil: Der Horizon-2020-Entwurf der EU-Kommission
sieht richtigerweise eine deutliche Steigerung der Mittel
für den Europäischen Forschungsrat vor.
Zum besseren Verständnis möchte ich jedoch zunächst das ITER-Projekt vorstellen:
Beim ITER-Projekt handelt es sich um den Internationalen Thermonuklearen Experimental-Reaktor, ITER,
im französischen Cadarache. Beteiligt an dem Projekt
sind außer der Europäischen Union auch China, Indien,
Japan, Südkorea, Russland und die USA. Mit 45,5 Prozent trägt die EU als Sitzland den Hauptteil der Kosten.
ITER soll die technische und ökonomische Machbarkeit
der Energiegewinnung aus Kernfusion demonstrieren.
Die Vorteile einer solchen Energiegewinnung wären
zahlreich:
Erstens. Die für den Fusionsprozess nötigen Grundstoffe - Deuterium, das in natürlichem Wasser enthalten
ist, und Tritium, das aus Lithium gewonnen wird - sind
nahezu überall auf dieser Welt vorhanden.
Zweitens. Die Fusionstechnik hat eine extrem hohe
Energiekonzentration zur Folge und benötigt im Gegensatz zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehr
wenig Fläche.
Drittens. Klimatische Schwankungen haben - wie
auch bei der Kernspaltung - keinerlei Einfluss auf die
Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für die
Grundlastversorgung von Ballungsräumen sowie der
Großindustrie.
Viertens. Bei der Kernfusion entstehen praktisch keinerlei CO2-Emissionen. Es ist eine saubere Energieform. Wir dürfen daher die Kernfusion - anders als Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ihrem
Antrag - nicht gegen die Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz ausspielen. Bei harter internationaler Konkurrenz um Wertschöpfungschancen
liegt die Zukunft Deutschlands als Innovationsstandort
in der Forschung. Die Fortführung von ITER hat also
nichts damit zu tun, die Förderung erneuerbarer Energien oder Forschungsausgaben in diesem Bereich zurückzufahren. Im Übrigen ist die Kernfusion aufgrund
der faktisch unbegrenzten Verfügbarkeit der verwendeten Brennstoffe den erneuerbaren Energien gleichzustellen.
Fünftens. Die Kernfusionstechnologie bietet auch
jenseits der Energiegewinnung im Kraftwerk bahnbrechende Entwicklungsmöglichkeiten. Es entstehen Innovationen und Entwicklungen, die ohne diese Forschung
kaum zustande gekommen wären. Zahlreiche technologische Nebenprodukte und spin-off-fähige Entwicklungen sind im Zuge der Kernfusionsforschung entstanden.
Dazu zählen Entwicklungen im Bereich der Supraleiter,
der Prallplatten, der Materialforschung, der Fabrikationsprozesse, der Halbleitertechnologie, der Gesundheitsforschung, der Mikrowellentechnologie, der
Magnettechnologie, der Hochleistungsbremsen, der
Luft- und Raumfahrt und vieles mehr. Sie selbst beschreiben in Ihrem Antrag die Fusionsforschung als einen - ich zitiere - „spannenden Forschungsbereich“,
dessen Vorteile „die dafür langfristig verfügbaren Ressourcen und die relative Umweltverträglichkeit im Vergleich zur Kernspaltung“ sind.
An anderen Stellen in Ihrem Antrag lässt sich jedoch
eine Distanz zum ITER-Projekt erkennen, die Ihre Unterstützung des Gesamtprojekts zumindest infrage stellt.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass der ITER-Vertrag unter der rot-grünen Regierungszeit ausgehandelt wurde. Heute wollen Sie davon
selbstverständlich nichts mehr wissen. Dabei stehen wir
auch in internationaler Verantwortung. Das bietet
Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobachtung aus. Die Partnerstaaten beobachten sehr genau,
wie sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zukunftsweisenden Projekt verhält. Ständige Forderungen
seitens der SPD nach finanziellen Einschränkungen für
das ITER-Projekt sind dabei wenig hilfreich. Zudem
müssen die Auswirkungen auf die europäische Forschungszusammenarbeit und die deutschen Fusionsprojekte in Garching und Greifswald bedacht werden. Die
Helmholtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe,
vor allem aber das IPP in Garching, haben bisher überproportional von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert. Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht, ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald
bzw. dem Nachfolger DEMO ab circa 2025 die Perspektive.
Dieses Zukunftsprojekt ITER haben Sie in Ihrem Antrag mit dem Europäischen Forschungsrat, ERC, verknüpft. Ihre Einschätzung, dass beide Projekte unmittelbar miteinander zusammenhängen, kann ich nicht teilen.
Der Europäische Forschungsrat wurde vor allem auf
Betreiben der Bundesregierung mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm im Jahre 2007 eingeführt. Innerhalb
kürzester Zeit hat sich der ERC in der europäischen
Forschungslandschaft als ein vorbildliches Modell für
die Förderung der Grundlagenforschung etabliert.
Diese Entwicklung ist zu begrüßen, und ich denke, wir
alle setzen uns für eine weitere Stärkung des ERC ein.
Erst gestern haben bei einer Veranstaltung zu Horizon
2020 von DFG und MPG in der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland alle Podiumsteilnehmer betont, wie wichtig die geplante deutliche Aufstockung der Mittel für den ERC ist.
Nun aber zu den einzelnen Forderungen der SPD in
Ihrem Antrag:
Ihre erste Forderung, „sich auf europäischer Ebene
weiter dafür einzusetzen, dass der ERC so weit als möglich frei von administrativen Hürden der Europäischen
Kommission arbeiten kann und ein wirklicher Bottomup-Ansatz verwirklicht wird“, wurde erfüllt. Genau dafür haben wir uns eingesetzt.
Ihre zweite Forderung, „dafür zu werben, dass die
administrativen Hürden bei der Begutachtung und Auszahlungen der Fördergelder durch den ERC auf ein Mindestmaß zurückgefahren werden“ - auch unter dem
Stichwort „Vereinfachung“ zu subsumieren -, wird
ebenfalls fraktionsübergreifend geteilt.
Ihre dritte Forderung, „darauf hinzuarbeiten, dass
das europäische Forschungsbudget innerhalb des
8. Forschungsrahmenprogramms insgesamt erhöht und
dabei der ERC verstärkt bedacht wird“, wird aller Voraussicht nach erfüllt. Das Budget für Horizon 2020 soll
nach dem aktuellen Entwurf der EU-Kommission von
etwa 55 auf 80 Milliarden Euro steigen. Das Budget des
Europäischen Forschungsrates wird dabei besonders
stark erhöht: von etwa 7,5 auf 13,2 Milliarden Euro.
Dies ist besonders erfreulich und wird sicherlich auch
fraktionsübergreifend begrüßt. In diesem Punkt ist Ihr
Antrag also eindeutig überholt.
Ihre vierte Forderung, „sicherzustellen, dass die jetzt
für ITER ausgehandelten Mehrkosten die absolute Finanzierungsobergrenze bleiben“, wird ebenfalls von der
Regierungskoalition geteilt. Maßgeblich auf deutsche
Initiative gehen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates aus dem Juli 2010 zurück, die das Ziel einer
besseren Kostenkontrolle und einer Verbesserung des
Managements bei ITER verfolgen. So wurde eine Kostendeckelung für den Euratom-Anteil auf 6,6 Milliarden
Euro beschlossen. Das Management von ITER wird reZu Protokoll gegebene Reden
gelmäßig evaluiert, strenge Aufsichtskommissionen
wurden eingerichtet, die die Finanzsituation kritisch beobachten und alle Prüfungsberichte kritisch begleiten
sollen.
Auch in der Realität wurden seitdem zahlreiche Verbesserungen in der Struktur und beim Kostenmanagement erreicht. Dazu zählt auch die für den europäischen
Anteil zuständige Agentur Fusion for Energy, F4E, mit
Sitz in Barcelona. Das Management wurde ausgetauscht
und Kontroll- und Überprüfungsmechanismen installiert. Außerdem wurde ein Projektbegleiter etabliert, der
die Auftragsvergabe kontrolliert. Auch das Controlling
wurde verbessert. Insgesamt wurden die Gremien personell erheblich umbesetzt. Die Forderungen der Bundesregierung sind dabei weitestgehend umgesetzt worden.
Im Ergebnis sind die Ausschreibungsbedingungen für
deutsche Unternehmen zum Beispiel in Haftungsfragen
deutlich verbessert worden. Auch bei Transparenz und
Vergabepraxis können Fortschritte festgestellt werden.
An einigen Punkten müssen wir jedoch weiter arbeiten.
Hinsichtlich der Finanzierungslücke bei ITER von
gut 1,3 Milliarden Euro für die Jahre 2012 und 2013
wurde nach langen und sehr zähen Verhandlungen im
Dezember 2011 im Trilog ein Ergebnis erreicht:
100 Millionen Euro stammen aus den Haushaltslinien
für ITER aus dem Haushaltsjahr 2012; die Obergrenze
der Verpflichtungsermächtigungen in Haushaltskategorie 1 a ({0}) wird für die Jahre 2012 und 2013 um
insgesamt 840 Millionen Euro angehoben. Im Gegenzug
werden die Verpflichtungsermächtigungen von 650 Millionen Euro aus dem Haushalt 2011 und 190 Millionen
Euro aus dem Haushalt 2012 abgesenkt. Diese Mittel
entstammen den Haushaltskategorien 2 ({1})
und der Haushaltskategorie 5 ({2}); 360 Millionen Euro kommen aus Mitteln, die im EU-Haushalt 2013
innerhalb der Obergrenzen des mehrjährigen Finanzrahmens bereitzustellen sind. Dies ist aus forschungspolitischer Sicht mit Blick auf wichtige, laufende Projekte eine angemessene Verteilung. Für die langfristige
Finanzierung von ITER nach 2013 ist noch offen, ob
diese aus dem EU-Forschungsetat erfolgt oder ob die
Ausgaben dort gedeckelt werden, sodass Finanzierungsrisiken zulasten der Mitgliedstaaten gehen würden.
Stimmt die SPD der Europäischen Kommission etwa zu,
wenn diese das ITER-Projekt außerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens, MFR, finanzieren will? Die Mitgliedstaaten hätten nur geringen Einfluss, müssten aber
für die Finanzierungsrisiken voll haften. Diese Position
ist nicht unsere. Wer die Verantwortung trägt, muss auch
die finanziellen Mittel bereitstellen. Wir als CDU/CSUFraktion unterstützen die Bundesregierung in ihrer
Position, dass Zuständigkeit und Verantwortung zusammengehören.
Ihre fünfte Forderung, „dafür Sorge zu tragen, dass
ITER nicht auf Kosten gut funktionierender und auch international als innovativ bewerteter Institutionen und
Projekte finanziert wird“, können wir ebenfalls unterschreiben. Bisher ist mir kein derartiges Beispiel bekannt. Für den Europäischen Forschungsrat gilt dies ja
ausdrücklich nicht, wie ich bereits zuvor ausgeführt
hatte.
Ihre sechste und siebte Forderung, „dafür Sorge zu
tragen, dass ITER nicht auf Kosten der Erforschung und
Nutzung der erneuerbaren Energie und der Energieeffizienz finanziert wird, sondern diese Bereiche ebenfalls
stärker ausgebaut werden“, sowie Ihre Aufforderung,
dass wir uns dafür einsetzen mögen, „dass für alle Projekte und Institutionen im Forschungsbereich, die jetzt
aufgrund von ITER finanzielle Einschränkungen hinnehmen müssen, es im nächsten Haushalt mindestens einen gleichrangigen finanziellen Ausgleich geben wird“,
zeigen Ihre bereits erwähnte Distanz zum ITER-Projekt.
Völlig ohne finanzielle Einschränkungen werden die
Mehrkosten des ITER-Projekts nicht finanziert werden
können. Außerdem müssen wir auch der Realität Rechnung tragen. Natürlich war es sinnvoll, den europäischen Finanzierungsbeitrag zu ITER nicht zuletzt auf Intervention der Bundesregierung auf 6,6 Milliarden Euro
zu deckeln. Aber es handelt sich hier schließlich um
Spitzentechnologie mit höchsten Qualitätsansprüchen.
Was nützt es, wenn wir die Kosten reduziert haben, der
Reaktor am Ende aber nicht funktioniert?
Ihre achte Forderung, „Lösungen zu finden, wie
ITER verstärkt durch privatwirtschaftliche Gelder mitfinanziert werden kann“, ist zutreffend. Allerdings muss
immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es sich
hier um Grundlagenforschung handelt. Wenn Sie konkrete Vorschläge oder sogar Angebote vorliegen haben,
werden wir diese gerne unterstützen.
In Ihrer neunten Forderung wiederholen Sie sich einmal mehr. Es bleibt festzuhalten: Ihr Versuch, den Europäischen Forschungsrat und das ITER-Projekt gegeneinander auszuspielen, ist nicht gelungen. Vielmehr hat
sich gezeigt, dass Versuche, eine Verknüpfung zwischen
dem Europäischen Forschungsrat und dem ITER-Projekt herzustellen, unberechtigt und nicht zielführend
sind.
Somit können wir zusammenfassen: Das Grundanliegen der SPD - Stärkung des Europäischen Forschungsrates und eine ausgewogene Finanzierung des ITERProjekts - ist richtig, jedoch bereits umgesetzt. Sie zetern - die Regierungskoalition handelt. Das ist der Unterschied. Dementsprechend wäre es eher an der Zeit,
dass Sie die Regierungskoalition auch einmal für ihre
gute Arbeit loben! Ich empfehle die Ablehnung des vorliegenden Antrags.
Wer aktuell durch die Bundestagsgebäude geht, findet
in der Halle des Paul-Löbe-Hauses eine Ausstellung der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG. Dort wird
anhand verschiedener Exponate gezeigt, was für unterschiedliche Projekte die DFG aktuell in Deutschland
fördert. Dabei können wir Beispiele aus der Geisteswissenschaft genauso wie aus den Natur- oder Ingenieurwissenschaften bewundern. Alle vorgestellten Projekte
haben gemeinsam, dass sie exzellente Ansätze verfolgen
und der Grundlagenforschung zuzurechnen sind. Dabei
handelt es sich also um Ansätze, die - zumindest im AnZu Protokoll gegebene Reden
satz - keine direkte Anwendung versprechen. Da mag
sich der eine oder andere fragen, ob denn das überhaupt
sinnvoll sei. Die Antwort lautet ganz klar: Ja! Denn was
uns heute „unnütz“ erscheint, kann morgen bereits die
Grundlage für einen technischen oder gesellschaftlichen
Durchbruch bedeuten. Selbst Aristoteles, Al-Chwarizmi,
Galileo oder Newton hätten sich wohl niemals träumen
lassen, dass aufgrund ihrer wissenschaftlichen Arbeiten
im Bereich der Gravitation einmal Flugzeuge durch den
Himmel fliegen würden. Glück für uns, dass diese großen Wissenschaftler sich ganz dem Erkenntnisgewinn
verschrieben hatten.
Vielleicht zeigt dieses Beispiel bereits, wie wichtig
und gesellschaftlich notwendig die Förderung der
Grundlagenforschung ist. In Deutschland haben sich
besonders die DFG und die Max-Planck-Gesellschaft
dieser Aufgabe verschrieben. Leider existieren ähnliche
Strukturen aber nicht in allen europäischen Ländern.
Deshalb spielt die europäische Förderung der Grundlagenforschung eine so wichtige Rolle.
Vor fünf Jahren wurde unter deutscher EU-Präsidentschaft der Europäische Forschungsrat, ERC, eingerichtet.
Die deutsche DFG stand dabei Pate. Der ERC fördert exzellente Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie bereits etablierte Spitzenforscherinnen
und -forscher bei ihrer Grundlagenforschung in Europa.
Einziges Kriterium ist die Exzellenz. Im aktuell laufenden 7. europäischen Forschungsrahmenprogramm sind
für diese Förderung 7,5 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2007 bis 2013 eingestellt. In nur fünf Jahren
hat sich der ERC in der weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft einen exzellenten Ruf aufgebaut. Und das zu
Recht! Deshalb ist es nur folgerichtig, dass im derzeit
diskutierten Nachfolgeprogramm Horizon 2020 für den
ERC eine Budgetverdoppelung eingeplant ist.
Heute diskutieren wir aber auch über ein zweites Programm der Grundlagenforschung, welches durch europäische Gelder finanziert wird: das Fusionsforschungsprojekt ITER. Hierdurch sollen grundlegende Fragen im
Bereich der Fusion und Energiegewinnung geklärt werden. Durch die bisherigen Arbeiten haben wir durchaus
interessante Erkenntnisse gerade im Bereich der Materialforschung gewonnen. Die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler haben aber noch einen weiten Weg vor
sich. Das wäre noch hinzunehmen, wenn dieses Projekt
nicht solche enormen Kosten verursachen und uns
gleichzeitig Ressourcen in anderen drängenden Bereichen fehlen würden.
In der letzten Zeit gab es die berechtigte Befürchtung,
dass die aktuellen Mehrkosten bei ITER durch die
Beschneidung anderer europäischer Grundlagenforschungsbereiche gegenfinanziert werden könnten. Dies
wäre unverantwortlich. Soweit wir wissen, hat der einstimmige Widerstand, auch aus diesem Haus, dies erst
einmal verhindert. Die Finanzierungsdebatte ist aber
noch nicht vom Tisch. Aktuell wird in Brüssel darüber
diskutiert, ob und, wenn ja, wo sich die Finanzierung für
ITER in neuen EU-Budgets wiederfinden wird. Um Konkurrenz zu anderen Forschungsbereichen zu vermeiden,
wäre meiner Meinung nach ein eigener Titel innerhalb
des EU-Haushaltes der transparenteste Platz für die
ITER-Finanzierung.
Die öffentliche Förderung der Grundlagenforschung
auf nationaler und europäischer Ebene ist richtig und
muss ausgebaut werden. Das bisher vorgelegte Konzept
für Horizon 2020 zielt dabei in die richtige Richtung. Es
muss aber auch zukünftig verhindert werden, dass ein
Bereich, in diesem Fall die Fusionsforschung, auf Kosten aller anderen Bereiche und Strukturen vorangetrieben wird. Dafür werden wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch weiterhin einsetzen.
Die Fusionsforschung kann langfristig einen Beitrag
für die Energiesicherheit in Europa bieten. Die Forschung auf diesem Feld ist eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft. Der Fusionsreaktor ITER ist
aber nur ein Teil dieses Forschungsfeldes - und deshalb
wollen wir diese Form der Energiegewinnung nicht um
jeden erdenkbaren Preis erforschen und finanzieren.
Die Kosten für dieses Projekt sind in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen - von 2,7 Milliarden
Euro bei der Vertragsunterzeichnung auf 7,2 Milliarden
Euro, die zuletzt verhandelt wurden. Einige Kritiker gehen bereits jetzt von weit höheren Summen aus. Spät und
hoffentlich nicht zu spät hat die Frau Bundesministerin
Schavan einen Kostendeckel von 6,6 Milliarden Euro
auf europäischer Ebene vereinbart.
Im mittelfristigen Finanzrahmen, der sich derzeit in
Verhandlungen auf europäischer Ebene befindet, ist
ITER nicht enthalten. Es soll für die Finanzierung ein
Nebenhaushalt geschaffen werden, der die Mitgliedstaaten mit Beiträgen stärker in die Pflicht nehmen würde
als bisher. Das ist nicht akzeptabel. Der Fusionsreaktor
ist ein Paradebeispiel für das, was ein europäischer
Mehrwert genannt wird - ein Projekt, das die Europäische Union finanziert, weil es allen Mitgliedstaaten zugutekommt und keiner es alleine finanzieren kann. Deshalb ist es nur richtig, europäische Mittel aus einem
europäischen Haushalt dafür zu verwenden. Doch birgt
dieses Vorgehen auch Risiken. Wenn ITER als Teil des
Europäischen Forschungsrahmens behandelt wird, wird
dieses Projekt einen großen Teil der Mittel binden - Mittel, die für andere Forschungsvorhaben nicht zur Verfügung stehen. Wir sehen die große Gefahr, dass damit
verschiedene Forschungsfelder der Zukunft gegeneinander ausgespielt werden.
Will man sich wirklich an den Finanzdeckel halten,
dann werden Reformen bei den Managementstrukturen
unumgänglich. Es kann beispielsweise nicht hingenommen werden, dass den Vertretern des Bundes im Aufsichtsrat der europäischen ITER-Agentur „Fusion for
Energy“ keine detaillierten Informationen in finanziellen Fragen vorliegen. So ist es kein Wunder, wenn das
Projekt teurer und teurer wird. Eine solche Aufsichtsfunktion innerhalb der Agentur muss auch der übertragenen Verantwortung gemäß wahrgenommen werden.
Trotz der enormen Summen, die für die Entwicklung
des Fusionsreaktors bereitgestellt werden, kommt die
Zu Protokoll gegebene Reden
deutsche Industrie bislang kaum vor. Die Ausschreibungen für die Entwicklung einzelne Komponenten gingen
bisher fast ausschließlich an andere europäische Bewerber. Auf unsere Anfrage hin musste das Bundesministerium für Bildung und Forschung einräumen, dass erst
ein niedriger Millionenbetrag für Aufträge an deutsche
Unternehmen und Forschungsinstitute ging. Bei Ausschreibungen in Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden
Euro ist das für den Technologie- und Wissenschaftsstandort Deutschland eine einzige Enttäuschung.
Es genügt nicht, wenn die Bundesregierung beklagt,
dass die Beteiligung der deutschen Industrie an den Vergabeverfahren bislang nicht zufriedenstellend gelöst ist
und auf Einwerbungen in späteren Projektphasen hofft.
Frau Schavan muss endlich aus ihrer Zuschauerrolle
herauskommen und hierzulande umgehend schlagkräftige und professionelle Managementstrukturen aufbauen. Nur so lässt sich eine dem Wirtschafts- und
Forschungsstandort Deutschland und den gezahlten
finanziellen Beiträgen angemessene industrielle Beteiligung an dem Fusionsprojekt erreichen. Der Haushaltsausschuss hat dazu auf Drängen der SPD bereits 2008
einen Return-on-Investmentplan von der Bundesregierung eingefordert.
Es ist gut, dass ITER hier regelmäßig auf der Tagesordnung steht, damit wir dieses Großprojekt nicht aus
den Augen verlieren. Heute ist ein SPD-Antrag an der
Reihe.
Sie sprechen in Ihrem Antrag wichtige Fragen an.
Die Kostensteigerungen sind erheblich, und wie sich das
weiter entwickelt, ist schwer vorherzusagen. Wann wir
kommerziell Elektroenergie aus der Kernfusion nutzen
können, können wir auch noch nicht aufs Jahr genau datieren. Sicher ist, dass noch ein gutes Stück Forschungsarbeit vor uns liegt. Der Zeitplan hierfür ist Ihnen allen
bekannt. ITER soll Anfang 2020 fertiggebaut sein und
bis 2030 zeigen, dass ein energielieferndes Fusionsfeuer
unter kraftwerksähnlichen Bedingungen möglich ist.
Richtig ist auch: Bei der Bewältigung der Herausforderungen der Energiewende wird ITER noch keinen Beitrag leisten.
Ich freue mich darüber, dass Sie in Ihrem Antrag trotz
dieser angesprochenen Probleme ITER nicht grundsätzlich infrage stellen. Und ich freue mich ebenso darüber,
dass Sie die europäische Grundlagenforschung und die
Arbeit des Europäischen Forschungsrates so positiv bewerten. Es geht hier um sehr viel Geld, aber es geht
auch um Spitzenforschung und um wissenschaftliche Exzellenz. Das sind Zukunftsthemen für Europa wie für
Deutschland. Dass die wichtigste Oppositionspartei das
nicht grundsätzlich anders sieht als die Koalition, ist
meiner Meinung nach sehr erfreulich und zeugt von einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein.
Demgegenüber möchten Linke und Grüne bei ITER
am liebsten aussteigen. Das hat sich auch in der gestrigen öffentlichen Anhörung im Europaausschuss zu den
Themen Euratom-Vertrag und ITER wieder gezeigt. Den
Linken missfällt außerdem, dass für vom Europäischen
Forschungsrat geförderte Projekte nur Qualität als Kriterium zählt. Sie würden daneben gerne noch regionalen
Proporz berücksichtigen und eine Frauenquote einführen. Das wäre aus unserer Sicht weder zielführend noch
zukunftsweisend. Glücklicherweise stehen solche Überlegungen nicht zur Diskussion.
Die SPD befürchtet, dass die weitere Finanzierung
von ITER zulasten der vom Europäischen Forschungsrat geförderten Projekte gehen könnte. Das wäre allerdings ein Schritt in eine ganz falsche Richtung. Das darf
nicht passieren und das wird auch nicht passieren, da
können Sie sicher sein! Im Gegenteil, die Projektförderung soll im Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020
weiter ausgebaut werden.
Ich halte in diesem Zusammenhang den Vorschlag
der EU-Kommission für sehr interessant, für ITER ein
eigenes Forschungsprogramm im Rahmen des EuratomVertrages zu implementieren.
In der Tat, die Kostensteigerung bei ITER ist beträchtlich, aber sie ist nicht etwa willkürlich, sondern es
gibt dafür handfeste Gründe. Dazu gehören die ganz
normale Inflation ebenso wie die Entwicklung der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt, aber auch Anpassungen
und Weiterentwicklungen in der Planung, „Re-Design“,
sowie die Berücksichtigung von neuen Erkenntnissen in
der Physik. Dass das Projektmanagement nicht immer
und überall optimal funktioniert, spielt zweifellos ebenfalls eine Rolle. Dennoch: Wir halten ITER und die Fusionsforschung nach wie vor für sinnvoll, und wir halten
an dem Ziel fest, Kernfusion langfristig als Energiequelle nutzbar zu machen. Wir tragen auch weiterhin mit
eigenen Vorschlägen sowohl zur Verbesserung des Projektmanagements als auch zur Deckelung der Kosten
dazu bei, die Akzeptanz für ITER wieder zu erhöhen.
Auch dies ist eine Voraussetzung für den Erfolg.
Wie die Mehrkosten finanziert werden können, wird
derzeit ausgehandelt. Wir treten dafür ein, sie durch
Umschichtung innerhalb des EU-Haushalts zu bestreiten. Wir wollen weder, dass die nationalen Haushalte
damit belastet werden, noch wollen wir eine Sonderfinanzierung neben und außerhalb des EU-Haushalts;
solche Vorschläge der EU-Kommission lehnen wir ab.
Dass die höheren ITER-Kosten aus dem Forschungsrahmenprogramm mitfinanziert werden, ist jedoch ebenso
wenig vorgesehen wie eine Reduzierung der Projektförderung durch den Europäischen Forschungsrat. Der
vorliegende Antrag ist deshalb gegenstandslos.
Seit Fertigstellung des heute debattierten Antrags vor
einem Jahr hat sich beim Problem der explodierenden
Kosten beim Bau des Fusionsreaktors ITER nichts verändert. Wir müssen mit nicht geplanten Mehrausgaben
von satten 2,7 Milliarden Euro rechnen; 1,3 Milliarden
muss der EU-Haushalt schon in den kommenden zwei
Jahren zusätzlich stemmen. Infolgedessen sollen allein
dieses Jahr 100 Millionen Euro auf Kosten anderer Forschungsprojekte im Haushalt des 7. Forschungsrahmenprogramms eingespart werden. Da der immer teurer
Zu Protokoll gegebene Reden
werdende ITER auf Dauer den EU-Haushalt sprengt,
soll er nach derzeitigem Planungsstand daraus komplett
herausgenommen und ab 2014 über einen zwischenstaatlich vereinbarten Extrahaushalt finanziert werden.
Ein außer Kontrolle geratenes Projekt auf diese Weise
außerhalb der Kontrolle des EU-Parlaments zu platzieren, ist kein Weg, der von Zukunftsfähigkeit des Projekts
zeugt.
Die finanziellen Rahmenbedingungen sind also anhaltend schlecht. Völlig gekippt ist inzwischen die von
Anfang an umstrittene Zweckmäßigkeit der Vision
„Fusionsenergie“. Denn nach Fukushima ist selbst bei
eingefleischten Befürwortern der Kernenergie als Klimaretter die Überzeugung in die Brüche gegangen, dass
wir mit einem Mix aus Kohle, Öl, Kernenergie und den
Erneuerbaren bis 2050, 2060 oder 2070 auskommen, bis
dann möglicherweise der Stern der Fusionsenergie am
Horizont aufgegangen ist. Der Schock von Fukushima
drückt nun beim Ausbau und bei der Erforschung erneuerbarer Energiequellen und Speichertechnologien deutlich auf die Tube. Zur notwendigen Energiewende kann
ITER das nächste halbe Jahrhundert lang nichts beitragen, bindet aber immer mehr Mittel, die für andere
Forschung und Entwicklung fehlen. So entspricht Kernfusion im 6. Energieforschungsprogramm der Bundesregierung mit 0,6 Milliarden Euro für die Jahre 2011 bis
2014 fast der Hälfte der gesamten Förderung der erneuerbaren Energien. Dazu hat sogar die regierungseigene
Expertenkommission für Forschung und Innovation,
EFI, in ihrem aktuellen Jahresgutachten dringend angemahnt, eine Diskussion über Sinn und Zweck dieser Ausgaben zu führen.
Die drohenden Versorgungsengpässe in Großregionen nach Abschaltung von Kernkraftwerken in Japan
oder Deutschland zeigen zugleich, wie anfällig Energieversorgung ist, wenn sie aus Großanlagen zentralisiert
erfolgt. Das Projekt ITER zielt im Ergebnis jedoch ebenfalls auf Mammutanlagen, die an wenigen Orten die Versorgung und die Preispolitik bestimmen werden.
Insgesamt teilen wir die Grundkritik des SPDAntrags an ITER, finden die Schlussfolgerungen aber
äußerst inkonsequent. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen und der Dringlichkeit der Energiewende
schlägt aus Sicht der Linken die Stunde für eine Beratung über den Ausstieg aus ITER.
Erfreulicher sehen mit Stand von heute die Aussichten
für die Grundlagenforschung auf europäischer Ebene
aus. Der Europäische Forschungsrat ERC fällt, anders
als befürchtet, offenbar nicht dem Sparzwang wegen
ITER zum Opfer, da der aktuelle Entwurf für das 8. Forschungsrahmenprogramm eine Verdopplung der Mittel
für den ERC vorsieht. Da das Forschungsbudget der EU
für die sieben Jahre ab 2014 um insgesamt 46 Prozent
steigt, sind fast 100 Prozent Aufwuchs für den ERC ein
klares Signal für die Stärkung der wissensgetriebenen
und nach dem Bottom-up-Prinzip ausgewählten Forschung.
Kritisch sieht meine Fraktion aber nach wie vor, dass
der Entwurf für das 8. FRP nicht auf die in Evaluationen
dargelegte, mehrfach ungerechte Förderpraxis des ERC
eingeht. Mit keinem Wort werden Maßnahmen für die
Erhöhung der geringen Erfolgsquote von Frauen erwähnt, obwohl es beispielsweise in Deutschland mit
Gleichstellungsstandards bei der DFG, die Patin für den
ERC gestanden hat, gute Erfahrungen gibt. Immerhin
wird die regional äußerst ungerechte Verteilung gesehen.
Die neuen EU-Beitrittsländer kommen beim ERC bislang kaum zum Zuge und begleiten die Ausweitung des
ERC-Budgets mit entsprechender Skepsis. Beim gestrigen parlamentarischen Abend zum Horizont 2020, also
dem 8. Forschungsrahmenprogramm, sprach der Leiter
der Generaldirektion Forschung und Innovationen
Smits nunmehr davon, dass an Verfahren gearbeitet
werde, um Mitgliedsländer mit weniger entwickelten
Forschungsstrukturen beim ERC ins Boot zu holen, ohne
an den Exzellenzkriterien zu rütteln. Dass aber auch die
letzteren Teil des Problems sind, weil sie ein ganz eng
gefasstes Modell von Wissenschaftlerkarrieren prämieren, hatte sogar die anwesende Wissenschaftlerin bemängelt, der es selbst schließlich gelungen ist, eines der
begehrten Forschungsstipendien des ERC zu bekommen. Der ERC kann also durchaus weiter von unten
nach oben im Sinne des Bottom-up-Prinzips verbessert
werden.
Letzte Woche war ich anlässlich des Jahrestages der
Reaktorkatastrophe von Fukushima in Japan unterwegs.
Die Eindrücke dieser Reise und die Gespräche mit den
Menschen vor Ort haben mich einmal mehr in meiner
Überzeugung bestärkt, dass atomare Technologien der
Vergangenheit angehören müssen und die Zukunft der
Energieversorgung in den erneuerbaren Energien, in
mehr Energieeffizienz und größerer Energieeinsparung
liegt. Der beschlossene Atomausstieg ist dabei ein wichtiger Schritt.
Diese Entwicklung sollte sich allerdings auch in der
energie- und forschungspolitischen Ausrichtung der
Bundesregierung widerspiegeln. Das Gegenteil können
wir derzeit beobachten. Die schwarz-gelbe Bundesregierung fährt mit der geplanten Kürzung der Solarförderung die Energiewende gegen die Wand und unterstützt stattdessen weiterhin das Milliardengrab ITER.
Dieses Projekt wird keine Lösung für die Energieprobleme der Zukunft bieten.
Denn selbst wenn das sehr optimistische Ziel, im Jahr
2050 mit dem Fusionsreaktor mehr Energie zu produzieren als zu verbrauchen, erreicht werden könnte, geht
dieses Ansinnen am Prinzip der Nachhaltigkeit völlig
vorbei. Bis 2050 müssen es die Industrienationen
geschafft haben, mit einem wesentlich geringeren Energiebedarf auszukommen und ihre Energieproduktion auf
100 Prozent Erneuerbare umzustellen. Nur so können
wir den Erhalt einer für alle lebenswerten Erde erreichen. 2050 brauchen wir keine Massen von teuer produzierter Energie mehr, die Erneuerbaren werden
unschlagbar billig sein.
Die ständig steigenden Ausgaben, die für den Kernfusionsreaktor anfallen, begrenzen die notwendigen InZu Protokoll gegebene Reden
vestitionen für erneuerbare Energien und Effizienz. In
diesen Bereichen müssen viel mehr Forschungsmittel
aufgewendet werden, denn dort können sie bereits kurzfristig einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele und
der Energieversorgungssicherheit leisten.
Die Baukosten für ITER explodieren und werden
heute auf insgesamt 16 Milliarden Euro geschätzt. Der
europäische Beitrag wird sich von ursprünglich 2,7 Milliarden Euro auf 7,2 Milliarden Euro verdreifachen,
wobei der vom Rat vorgesehene Kostendeckel von
6,6 Milliarden Euro nicht zu halten sein wird. Allein
2012 und 2013 müssen Ausgaben in Höhe von 1,3 Milliarden Euro aus dem jeweiligen EU-Haushalt bestritten
werden, Geld, das die Haushalte der EU-Mitgliedstaaten in schwierigen Zeiten sinnlos belastet und in anderen
Forschungsbereichen sinnvoller ausgegeben werden
könnte.
Da hilft es auch nicht, wenn das Europäische Parlament mit immer neuen Kompromissen und Umschichtungen weitere Finanzierungsmöglichkeiten auf den Weg
bringt oder die EU-Kommission ab 2014 wegen der
Größenordnung des ITER-Projekts und potenziellen
Kostenüberschreitungen eine Finanzierung über einen
zwischenstaatlichen Fonds außerhalb des mehrjährigen
Finanzrahmens anstrebt. Diese vermeintliche Lösung
zur Finanzierung von ITER ist eine Mogelpackung, denn
das Problem wird nur verlagert. Das haben jetzt sowohl
der EU- als auch der Finanzausschuss erkannt und dem
Bundesrat empfohlen, in seiner Entschließung zur Änderung des Euratom-Vertrags Bedenken gegen dieses Vorgehen anzumelden.
Um die europäische Forschung und ihren Beitrag zur
Energiewende nicht weiter zu bremsen, brauchen wir
eine klare Position, die den Ausstieg aus dem Projekt
ITER einfordert. Die Unterstützung der Bundesregierung für ITER ist ein energie- und forschungspolitisches
Versagen auf ganzer Linie. Noch ist es jedoch nicht zu
spät, den Großteil der immensen Baukosten sinnvoller
zu investieren. Dieses aus Steuergeldern finanzierte
Fass ohne Boden gehört versenkt und die frei werdenden
Mittel in Forschungsvorhaben in den Bereichen Erneuerbare, Effizienz und Energieeinsparungen investiert.
Der EU-Energiekommissar und Handlanger der Atomlobby Günter Oettinger sollte seine Lektionen endlich
lernen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9025, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/3483 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion der SPD bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit bei den letzten Tagesordnungspunkten.
Ich berufe den Deutschen Bundestag zur gemeinsamen Sitzung mit dem Bundesrat anlässlich der Vereidigung des Herrn Bundespräsidenten auf morgen, Freitag,
den 23. März 2012, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.