Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle ganz besonders herzlich.
({0})
- Alle, ausnahmslos, selbstverständlich. Wir können ja
einmal sehen, ob es noch Anlässe für besonders ausgesuchte Begrüßungen gibt.
Jedenfalls müssen wir vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Wahl durchführen, weil der Kollege
Korte aus dem Kuratorium der „Stiftung Archiv der
Parteien und Massenorganisationen der DDR“ ausscheidet. Auf Vorschlag der Fraktion Die Linke soll als
neues ordentliches Mitglied der Kollege Stefan Liebich
berufen werden. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu? Das ist der Fall. Dann ist der Kollege in das Kuratorium
der Stiftung gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD
Tarifeinheit sicherstellen - Tarifzersplitterung
vermeiden
({1})
ZP 2 Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats
gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes
- Drucksache 17/8881 ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE
Zivilcourage gegen Nazis stärken
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Ich mache wie immer auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 1. März 2012 ({2}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der
Europäischen Union
- Drucksache 17/8682 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist offen-
sichtlich so. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a bis f:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Geschlechtergerechtigkeit im Lebensverlauf
- Drucksache 17/8879 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleichberechtigung in Entwicklungsländern
voranbringen
- Drucksache 17/8903 -
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({6}), Wolfgang Gunkel,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Anerkennung und Wiedergutmachung des
Leids der „Trostfrauen“
- Drucksache 17/8789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen verdienen mehr - Entgeltdiskriminierung von Frauen verhindern
- Drucksache 17/8897 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Gleichstellungsbericht
Neue Wege - Gleiche Chancen
Gleichstellung von Frauen und Männern im
Lebensverlauf
- Drucksache 17/6240 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({10}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring,
Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Geschlechtergerechte Besetzung von Führungspositionen der Wirtschaft
- Drucksachen 17/4842, 17/8830 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Dr. Kristina Schröder.
({11})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
vergangene Jahr war in mehrfacher Hinsicht ein wichtiges Jahr für Frauen. In Deutschland ging es dabei vor allen Dingen um die Frage, wie wir mehr Frauen Chancen
auf Führungspositionen eröffnen können. Wir haben hart
um den besten Weg gerungen, und wir werden auch weiterhin darum ringen. Ich denke, die unterschiedlichen
Positionen dabei sind klar; da müssen und da werden wir
auch nicht drum herumreden.
Wir können heute wieder vor allen Dingen darüber reden, was alles nicht geht. Besser wäre es, in den Mittelpunkt zu stellen, was möglich ist.
({0})
Und da stellen wir fest: Allein durch die Debatten, die
wir, auch in diesem Parlament, immer wieder geführt haben, ist in den Unternehmen eine Menge in Bewegung
gekommen.
({1})
Wenn ich mit den Personalvorständen der DAX 30
spreche, dann sagen die mir etwa, dass ihr Wort heute innerhalb des Unternehmens ein ganz anderes Gewicht hat
als noch vor wenigen Jahren. Vor kurzem wurden sie
noch belächelt, wenn sie zum Thema Frauenförderung
gesprochen haben. Heute werden die Personalvorstände
um Strategien gebeten.
Die Flexiquoten für alle Führungsebenen unter dem
Vorstand, die durch die DAX 30 im Jahr 2011 eingeführt
wurden, waren ein wichtiger Schritt in Richtung faire
Chancen. Leider haben diesen Fortschritt nur wenige gewürdigt. Viele haben sich über die Zielmarken sogar lustig gemacht. Damit sind sie genau denjenigen in den Rücken gefallen, die in den Unternehmen den Wandel
gestalten.
({2})
Dabei ist es doch viel schwieriger, den Frauenanteil in
allen Führungsebenen auf 25 Prozent zu erhöhen als
zum Beispiel nur im Vorstand, der vielleicht nur vier
Köpfe umfasst. 25 Prozent von 500 hilft mehr Frauen als
25 Prozent von 4.
({3})
Deshalb sage ich: Wir dürfen hier keine reine Elitendiskussion führen, sondern es geht um faire Chancen für
alle Frauen in Führungspositionen.
Meine Damen und Herren, ein wichtiges Jahr für
Frauen war das vergangene Jahr aber auch außerhalb
Deutschlands. Vor gut einem Jahr begann in Tunesien
das, was wir heute arabischer Frühling nennen. Fast
überall kämpfen Frauen in vorderster Reihe für Freiheit,
Teilhabe und Demokratie.
({4})
- Wenn Sie das erheiternd finden, finde ich das interessant. - Sie riefen über Facebook und Twitter zu Demonstrationen auf. Sie prangerten in ihren Blogs gesellschaftliche Missstände an. Sie gingen genauso wie
Männer für ihre Rechte auf die Straße. Sie ließen sich
nicht einschüchtern von Gewalt und Terror. Sie spürten,
dass es auf ihre Kraft ankommt im Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt.
Ich war deshalb gestern anlässlich des Weltfrauentages gemeinsam mit Abgeordneten in Tunesien. Wir waren in Tunesien, um uns selbst ein Bild von den Entwicklungen zu machen; denn ich bin überzeugt: Wenn Frauen
in der arabischen Welt es schaffen, ihre Rechte durchzusetzen, dann ist das ein Signal für Frauen in der ganzen
Welt.
({5})
Der letzte Friedensnobelpreis ging an drei Frauen, die
in ihren Ländern die Gesellschaft verändert haben. Dasselbe Selbstbewusstsein, dieselbe Kraft habe ich gestern
in Tunesien gespürt. Wir haben aber auch Skepsis und
Ängste gespürt, das Gewonnene wieder zu verlieren
oder sogar einen Rückschritt zu erleben.
({6})
- Es spricht für sich, wie Sie darauf reagieren, meine Damen und Herren.
({7})
Ich habe mit Präsident Marzouki gesprochen, der wegen seines Engagements für Freiheitsrechte jahrelang im
Exil lebte. Ich habe mit weiblichen Mitgliedern der verfassunggebenden Versammlung gesprochen, die hart darum ringen, ob die Scharia tragender Teil der Verfassung
wird. Ich habe mit Frauenrechtlerinnen gesprochen, die
seit den 80er-Jahren fordern, dass Frauenrechte vorbehaltlos gelten. Und ich habe jungen Bloggerinnen zugehört. Diese jungen Frauen haben mit ihren Tastaturen
eine Diktatur erschüttert und sturmreif geschrieben. Jetzt
wollen diese Frauen ihr Land mit gleichen Rechten und
guten Chancen in einer freien Demokratie aufbauen.
Diese Frage stellt sich in vielen Ländern, gerade auch
am Internationalen Frauentag. Deutschland steht hinter
all den Frauen in der Welt, die sich in ihren Ländern für
Gleichberechtigung, für Demokratie und für Menschenrechte einsetzen.
({8})
Auch in Deutschland ist Gleichberechtigung der
Frauen noch nicht überall verwirklicht, obwohl sie seit
über 60 Jahren im Grundgesetz steht. Doch ihre Verankerung im Grundgesetz hat es ermöglicht, über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich an ihrer Verwirklichung zu
arbeiten. Ohne dieses permanente Ringen um Gleichberechtigung wäre es um Wohlstand, um Zusammenhalt,
um Demokratie in unserer Gesellschaft sicherlich sehr
viel schlechter bestellt.
Ich denke, die Botschaft, die am heutigen Internationalen Frauentag von Deutschland ausgehen sollte, lautet:
kein gesellschaftlicher Fortschritt ohne faire Chancen für
Männer und Frauen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Ziegler für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das war’s also von unserer Frauenministerin!
({0})
- Unser Fraktionsvorsitzender ist hier im Raum.
({1})
Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir Gleichstellungspolitikerinnen hier im Deutschen Bundestag ebenfalls über dieses Thema, nämlich den Internationalen
Frauentag, diskutiert. Damals war es der 100. Frauentag,
den wir hier im Plenum gewürdigt haben - über alle
Fraktionsgrenzen hinweg. Wir alle waren uns einig: Wir
müssen Frauenrechte auch heute noch erkämpfen - also
im Gegensatz zur Ministerin, die das nicht tut -, weil sie
uns nicht in den Schoß fallen.
Was hat sich denn in dem einen Jahr getan? Nichts!
Die Bundesregierung hat das wichtige Feld der Gleichstellungspolitik völlig brachliegen lassen. Wir sind von
einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer die gleichen Verwirklichungschancen haben, ebenso weit entfernt wie 2011. Die Probleme kennen wir alle. Der
Gleichstellungsbericht, auf den sich die Ministerin ei19520
genartigerweise überhaupt nicht bezogen hat, der aber
Grundlage der heutigen aktuellen Debatte ist,
({2})
führt uns diese Defizite kompakt und schmerzlich vor
Augen. Die Rahmenbedingungen für Frauen stimmen
nicht, und das gilt für alle Bereiche.
„Menschen müssen essen, aber Frauen deshalb nicht
kochen“, hat einmal eine feministische Journalistin gesagt.
({3})
Das lässt sich beliebig fortsetzen: Familien müssen besser finanziell unterstützt werden, aber Frauen deshalb
nicht von Erwerbsarbeit ferngehalten werden.
({4})
Männer müssen gerechten Lohn bekommen, aber Frauen
deshalb nicht mit Niedriglöhnen und Minijobs abgespeist werden.
({5})
Unternehmen müssen rentabel arbeiten, aber Frauen deshalb nicht systematisch von Führungsfunktionen abgehalten werden.
({6})
Frauen sind in Deutschland strukturell benachteiligt.
Das Unbehagen darüber wächst aber - unter uns Abgeordneten hier im Bundestag, aber auch in weiten Teilen
der Gesellschaft. Es vergeht mittlerweile kaum eine Woche, in der nicht ein gleichstellungspolitisches Thema
die Schlagzeilen bestimmt:
Am 26. Februar hatten 250 Journalistinnen ihre meist
männlichen Chefs mit der Forderung nach einer Frauenquote für Führungsfunktionen in Verlagen und Redaktionen konfrontiert.
Am 1. März hat das Gremium, das die Bundeskanzlerin in Sachen Forschung und Innovation berät, die Abschaffung des Ehegattensplittings und den Verzicht auf
das Betreuungsgeld angemahnt.
({7})
Am 5. März hat die EU-Kommissarin Viviane Reding
eine EU-weite Frauenquote in Aussicht gestellt, weil
Freiwilligkeit nichts oder so gut wie nichts gebracht hat.
({8})
Die einen sehen den Innovationsstandort Deutschland
in Gefahr, wenn Fachkräfte fehlen. Sie wollen deshalb
den Schatz heben, den die vielen Millionen Frauen darstellen, die trotz vielfach guter Ausbildung nicht oder
nicht in vollem Umfang erwerbstätig sind. Die anderen
wollen endlich das Versprechen unserer Demokratie auf
gleiche Lebenschancen unabhängig vom Geschlecht einlösen. Die Motive mögen also unterschiedlich sein; einig
sind sich aber fast alle über den Weg: Wir brauchen eine
aktive staatliche Gleichstellungspolitik. Wir brauchen
gesetzliche Lösungen.
({9})
Nur die Bundesregierung sieht das nicht. Es ist wie im
Märchen von Frau Holle: Gesetzliche Regelungen hängen wie eine überreife Frucht am Baum und rufen unserer Ministerin Schröder zu: „Ach, schüttel mich, ach,
schüttel mich, wir sind lange überfällig!“ Doch unsere
Ministerin verschließt Augen und Ohren und geht beleidigt am Baum vorbei.
({10})
Schlimm ist, dass Sie diesen Realitätsverlust mit fatalen politischen Fehlentscheidungen kombinieren. Sie
lassen nicht vom Betreuungsgeld, obwohl alle Stimmen
vehement vor diesem Instrument warnen.
({11})
Statt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, will
Ministerin von der Leyen den Irrweg Minijobs sogar
noch ausweiten.
({12})
Die Bundeskanzlerin schaut dem Treiben desinteressiert
zu. Sie lässt sich viel lieber in Europa hofieren, als zu
Hause die Kärrnerarbeit zu machen.
({13})
Meine Fraktion hat die Kärrnerarbeit gemacht. Wir
haben überzeugende und umsetzbare Konzepte entwickelt. Wir haben Antworten, um beim Kitaausbau
Tempo zu machen. Wir stehen für einen gesetzlichen
Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro. Wir haben Instrumente entwickelt, mit denen in Betrieben gleiche
Löhne von Frauen und Männern verwirklicht werden
können - gesetzlich und verbindlich. Und morgen werden wir hier einen Gesetzentwurf für eine 40-ProzentQuote in Aufsichtsräten und Vorständen debattieren.
({14})
Ich könnte Ihnen, Frau Ministerin, jetzt zurufen: Greifen Sie doch unsere Konzepte einfach auf und setzen Sie
sie um!
({15})
Wir alle wissen: Das werden Sie nicht tun. Ihnen, Frau
Ministerin, könnte ich auch zurufen: Machen Sie doch
endlich Ihre Hausaufgaben! - Aber auch das werden Sie
nicht tun. Ich glaube, selbst die Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition erwarten nicht wirklich, dass Sie
sich noch in eine feurige Frauenrechtlerin und patente
Politikerin verwandeln könnten.
Ich will aber Ihnen, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, etwas zurufen: Lassen Sie uns über Fraktionsgrenzen hinweg das Gemeinsame betonen! Einig
sind wir uns doch darin, dass wir eine gesetzliche Quote
für Frauen in Führungspositionen brauchen - und eben
noch in diesem Jahr; denn im Jahr 2013 werden viele
Aufsichtsräte neu gewählt.
({16})
Parlamentarierinnen haben doch schon in der Vergangenheit die eine oder andere gesetzliche Regelung, die
für Frauen einen Fortschritt gebracht hat, gemeinsam
und solidarisch erzielt. Und daran waren jeweils auch
viele Männer beteiligt. Das war bei den Regelungen zum
Schwangerschaftsabbruch, dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Jahr 1992 und dem Verbot von
Vergewaltigungen in der Ehe, das seit 1997 gilt, der Fall.
Lassen Sie uns solche Beispiele zum Vorbild nehmen!
Lassen Sie uns für eine gesetzliche Quote gemeinsam
Mehrheiten im Deutschen Bundestag gewinnen! Lassen
Sie uns gemeinsam ein weiteres Frauenrecht erkämpfen!
Die Zeit läuft.
({17})
Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin BrachtBendt das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Mittelpunkt unseres Antrages heute zum Internationalen
Frauentag steht Geschlechtergerechtigkeit im Lebensverlauf.
({0})
Das klingt etwas sperrig. Der Begriff spiegelt aber genau
das wider, wo es in der Lebenswirklichkeit heute hakt.
Deshalb legt die christlich-liberale Koalition mit dem
vorliegenden Antrag bewusst den Finger in die Wunde.
({1})
Gleichstellungspolitik ist für uns Lebensverlaufspolitik,
das heißt, dass wir als Koalition auf die Veränderungen
wesentlicher institutioneller und soziokultureller Rahmenbedingungen mit klaren Konzepten reagieren wollen.
({2})
- Frau Humme, Sie haben vielleicht auch noch die Möglichkeit, etwas zu sagen.
Die Zeiten der Einverdienerfamilie, in denen der
Mann das Geld verdient und die Frau Hausfrau und Mutter ist, sind bekanntlich vorbei. Ob Bankkauffrau, Journalistin oder Wissenschaftlerin: Nur noch selten hängen
Frauen heute ihren Beruf an den Nagel, um sich ausschließlich um Familie und Haushalt zu kümmern. Dabei geht es keineswegs immer um den Wunsch nach beruflicher Karriere und Selbstverwirklichung. Häufig
reicht ein einziges Gehalt gar nicht aus, um über die
Runden zu kommen.
Moderne Gleichstellungspolitik muss heute eine Antwort geben auf die vielfältigen Lebensverläufe von
Frauen und Männern. Phasen des Lebens in einer Partnerschaft, des Alleinerziehens oder der Arbeitslosigkeit
können sich abwechseln. Frauen entscheiden sich in der
Familienphase häufig dafür, Teilzeit zu arbeiten. Kurzfristig ist das die Chance, um den Spagat zwischen Familie mit kleinen Kindern und Beruf hinzubekommen.
Jungen Frauen muss aber klar sein, dass dies keine Dauerlösung sein sollte, um später nicht in Altersarmut abzurutschen.
Dabei muss berücksichtigt werden, dass der oder die
Einzelne nicht unbedingt immer freiwillig die Weichen
für einen anderen Lebensverlauf neu stellt. Der Verlust
des Arbeitsplatzes und die berufliche Neuorientierung
können das Leben ziemlich durcheinanderbringen - oder
wenn der Ehepartner krank wird und zu Hause gepflegt
werden muss oder die an Demenz erkrankte Mutter.
Was die Situation von pflegenden Angehörigen betrifft, hat die Koalition mit dem neuen Familienpflegezeitgesetz ja schon einen wichtigen Meilenstein gesetzt.
Sie können nun im Beruf kürzer treten, um für kranke
Angehörige da zu sein, ohne ganz ohne Einkommen dazustehen und ohne später in Altersarmut abzurutschen.
Dieses Gesetz ist ein wichtiger erster Schritt auf dem
Weg zu Geschlechtergerechtigkeit. Unser Wunsch ist,
dass nicht mehr vor allem Frauen, sondern auch mehr
Männer als bisher Verantwortung in der Pflege übernehmen.
({3})
Aber es gibt noch mehr zu tun. Deshalb bin ich froh
über die aufschlussreichen Erkenntnisse des Ersten
Gleichstellungsberichtes, der die Grundlage für unseren
Antrag bildet. Darin heißt es
({4})
- hören Sie bitte mal zu -: Um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, müssen zunächst die Ursachen, die für
die Schieflagen verantwortlich sind, gezielt benannt
werden. Dazu gehört, dass Kinder kein Karrierehindernis sein dürfen. Es ist kein Geheimnis: Immer noch verzichten gut ausgebildete Frauen auf ihre Karriere, weil
es keine zuverlässige und vor allem keine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Kinderbetreuung gibt.
({5})
Die Bundesregierung hat mit dem Rechtsanspruch auf
einen Kitaplatz für unter Dreijährige einen wichtigen
Beitrag geleistet. Jetzt sind die Länder und die Kommunen in der Pflicht, ebenso die Unternehmen. Berufstätige
Eltern wünschen sich in ihrem Beruf mehr Freiräume
und flexiblere Arbeitszeiten - mehr Zeitsouveränität,
wie wir das im Antrag nennen.
({6})
Ich bin sicher, dass deutlich mehr Frauen leitende
Positionen wahrnehmen könnten und würden, wenn sich
Väter mehr Zeit für die Familie nehmen würden. Laut
den Aussagen von jungen Männern wollen sie das auch.
Eine Veränderung ist also festzustellen. Es hakt aber
noch an einigen Stellen. Zwar ist es ein gutes Signal,
dass 25 Prozent der Väter Elternzeit in Anspruch nehmen, aber es besteht weiterhin Nachholbedarf, an der
Akzeptanz in Beruf und Gesellschaft zu arbeiten. Darüber sind wir uns ja einig. Dass Väter mehr Zeit zu
Hause bei der Familie haben, scheitert aber teilweise daran, dass sich eine Familie das schlicht nicht leisten
kann, weil das Gehalt der Mutter nicht ausreicht, um
über die Runden zu kommen. Deshalb besteht Handlungsbedarf bei der Entgeltgleichheit. Dabei setzen wir
auf Transparenz und Eigeninitiative, und nicht wie Sie
von der Opposition auf staatliche Bevormundung.
({7})
Noch ein Stichwort: Präsenzkultur. Unsere skandinavischen Nachbarn machen es uns vor. In Norwegen und
Schweden ist es nichts Besonderes, wenn der leitende
Mitarbeiter am Nachmittag seine Kinder von der Kita
abholt. Ziel liberaler Politik ist die Chancengesellschaft
mit Wahlfreiheit. Hören Sie gut zu! Der Gleichstellungsbericht bestätigt einmal mehr, dass Chancen und Risiken
immer noch ungleich auf die Geschlechter verteilt sind.
Berufliche Verwirklichungschancen nehmen immer
noch in erster Linie Männer wahr, während Pflegeaufgaben weiterhin meistens von Frauen geleistet werden.
Hier liegt in unserer Gesellschaft noch einiges im Argen.
({8})
Denn eine Chancengesellschaft - und die streben wir an basiert auf Respekt und Anerkennung für die Leistung in
der Familie, und nicht nur für Erfolge im Beruf.
Meine Damen und Herren, der Gleichstellungsbericht
thematisiert, wie Frauen und Männer in eine nachteilige
Situation geraten, und zeigt Wege, wie sie wieder
herauskommen. Das unterstützen wir. Ein besonderes
Augenmerk richte ich dabei auf die Ursachen der Entgeltunterschiede zwischen Männern und Frauen. Gehaltsunterschiede bei gleicher Qualifikation aufgrund
des Geschlechts sind aus liberaler Sicht in keiner Weise
hinnehmbar.
({9})
Gleichstellung heißt für mich aber auch, Jungen und
Mädchen zu motivieren, bei der Berufswahl neue Wege
zu gehen. Wenn es uns gelingt, mehr Mädchen für technische Berufe zu begeistern und mehr Jungen für soziale
Berufe wie zum Beispiel Erzieher, dann kommen wir
dem Ziel einer geschlechtergerechten Gesellschaft entschieden näher.
Ganz herzlichen Dank.
({10})
Die Kollegin Yvonne Ploetz erhält nun das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Den Internationalen Frauentag, Herr Präsident, liebe
Kolleginnen und Kollegen, feiern wir heute zum
101. Mal. In meiner Fraktion sind heute nur Frauen anwesend. Wir sind die erste reine Frauenfraktion in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Damit wollen wir heute ein starkes Zeichen dafür setzen,
dass wir Frauen die Männerdomänen - nicht nur in der
Politik - ganz problemlos meistern.
({1})
Die Männer der Linksfraktion machen heute ein Tagespraktikum, und zwar in einem sogenannten typischen
Frauenberuf.
({2})
Sie werden das würdigen, was Frauen in Deutschland
Tag für Tag leisten.
({3})
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sorgt für Tumult. Ich will Ihnen aber sagen: Bei der Emanzipation
müssen alle mit, Frauen wie Männer.
({4})
Leider ist das noch nicht bei allen angekommen. Sicherlich kennen auch Sie sehr wenige Kfz-Mechanikerinnen
oder Lufthansa-Managerinnen. Dafür gibt es viele
schlechte Gründe, zum Beispiel altbackene Unternehmenskulturen oder die traditionellen Geschlechter- und
Berufsbilder. Sie aufzubrechen, genau darum muss es
uns gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Damit sind wir auch bei der Debatte, die derzeit die
Frauenpolitik bestimmt, nämlich die mittlerweile durchaus salonfähig gewordene Forderung nach einer Frauenquote in Führungsetagen. Da wurde Berlin in dieser Woche von Brüssel überholt: EU-Justizkommissarin Reding
hat angekündigt, dass es eine EU-weite Regelung zu einer verbindlichen Frauenquote geben soll. Sie hat genau
zur richtigen Zeit ein Signal gesendet, nämlich einen Tag
nachdem die FDP in einem Zwergenaufstand
({6})
Familienministerin Schröder umgepustet hat und die
Flexiquote in Ablage P wie Phrasen abgelegt wurde. Ich
weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich peinlicher finden
soll: diese bisslose Flexiquote oder das kampflose Einknicken der Frauenministerin in Frauenfragen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, 2012 ist
es an der Zeit, dass Old-Boys-Networks und Businessmachos nicht mehr einen Notausknopf in den Fahrstühlen drücken können, in denen Frauen in die Führungsetagen fahren;
({8})
ihr Aufstieg muss eine Selbstverständlichkeit sein. Solange das nicht so ist, lassen wir uns in unserer Forderung nach einer 50-Prozent-Quote nicht beirren.
({9})
Für viele Frauen ist Aufstieg aber wirklich noch eine
reine Utopie. Sie haben ganz andere, viel existenziellere
Probleme. Da ist zum Beispiel Katharina L. aus München. Sie ist Altenpflegerin, und das seit Jahren. Sie trägt
eine enorme Verantwortung für die Menschen, die sie
pflegt, und leistet körperliche Schwerstarbeit. Trotzdem
ist die Wertschätzung für ihre Arbeit nicht sonderlich
hoch. Sie hat keinerlei Aufstiegschancen, und sie verdient rund 1 000 Euro weniger als zum Beispiel ein Maschinenbauer. Mir kann wirklich niemand erklären, woher dieser Lohnunterschied kommen soll.
({10})
Deshalb fordern wir, die Linke, wie es so schön in Köln
heißt: Mehr Cash in de Frauentäsch!
({11})
Wir fordern, dass Frauen wie Katharina endlich in den
Fokus der frauenpolitischen Debatte in Deutschland
kommen.
({12})
Genau deshalb lenken unsere Männer heute die Aufmerksamkeit gezielt dahin. Gregor Gysi ist beispielsweise in einer Kita, Uli Maurer beim Friseur,
({13})
und Steffen Bockhahn putzt in Rostock.
({14})
Ich wette, sie werden dort enorm gute Arbeit leisten und
erfahren, mit welchen Problemen die Friseurin, die Reinigungsfrau, die Erzieherin und viele andere zu kämpfen
haben.
Es ist doch so: Frauen regeln den Haushalt, erziehen
die Kinder, unterstützen den Partner und versorgen die
Eltern. Sie leiten das berühmte kleine Familienunternehmen. Sie geben richtig viel und bekommen richtig wenig
zurück. Ich glaube, damit muss heute endlich Schluss
sein.
({15})
Da halte ich es mit einer ganz mutigen Feministin aus
dem Saarland, Marlies Krämer, die für die Frauen den
Männern sagt:
Wir wollen die Hälfte der
bezahlten Arbeit und Macht
Wir geben dafür die Hälfte
der unbezahlten Hausarbeit
({16})
Wie sieht es denn auf dem Arbeitsmarkt aus? Die Erwerbsquote von Frauen ist gestiegen, aber hauptsächlich
durch die Zunahme von Teilzeitarbeit, und das, obwohl
ein Großteil der Teilzeitarbeitnehmerinnen viel lieber
Vollzeit arbeiten würde. Die Aussage des Geschäftsführers des Handelsverbands Deutschland am letzten Frauentag, die Frauen wollten solche prekären Beschäftigungen, finde ich überhaupt nicht nachvollziehbar.
({17})
Es ist doch erwiesen: Junge Frauen machen die besseren Abschlüsse, leisten aber den Löwenanteil an den
richtig schlecht bezahlten Minijobs. Akademikerinnen
scheint es im Sonderangebot zu geben. Alleinerziehende
stehen oftmals wirklich ganz allein da und haben richtig
Angst vor Armut und Prekarität, und zwar für Mutter
und Kind. Um hier zu helfen, wäre doch eines ganz
wichtig: eine gut ausgebaute Infrastruktur in der Kinderbetreuung. In Dänemark werden 64 Prozent der unter
dreijährigen Kinder ganztags betreut. Nur so geht doch
die Gleichung von Beruf und Familie wirklich für jeden
und jede auf.
({18})
Will man das gesamte Knäuel, das es an Problemen
gibt, entwirren, dann gibt es dafür sogar einen Leitfaden.
Das ist das Sachverständigengutachten für den Ersten
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Darin sind
die Herausforderungen Punkt für Punkt aufgelistet. Um
nur einige Beispiele zu nennen: Sie müssen dafür sorgen, dass Pflege- oder Erziehungszeiten anerkannt werden, dass Niedriglohnfallen endlich beseitigt werden,
dass der Mindestlohn eingeführt wird, dass das Ehegattensplitting abgeschafft wird und dass mit einem Entgeltgleichheitsgesetz mit dem katastrophalen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen endlich Schluss
gemacht wird. Sie müssen doch nur Ihr eigenes Gutachten lesen und umsetzen.
({19})
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Für all das möchten wir
heute als Fraktion ein Zeichen setzen. Liebe Kolleginnen,
liebe Frauen, nach 101 Jahren ist viel erreicht. Doch es
gibt noch viel zu tun. Deshalb frei nach Astrid Lindgren:
Lasst euch nicht unterkriegen! Seid frech und wild und
wunderbar!
Vielen Dank.
({0})
Renate Künast ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Erst hatte ich gedacht, ich
könnte sofort zu der doch bemerkenswert schlechten
Rede der Ministerin Stellung nehmen.
({0})
Aber nun muss ich mich vorher noch mit einigen Worten
an Sie wenden, Frau Ploetz.
({1})
Ihre Rede empfinde ich als Frau - das empfinden sogar
die Männer; das gilt zumindest für die in unserer Fraktion - als eine ganz tolle Vorführung zum 101. Frauentag. Jetzt wissen wir, dass Ulrich Maurer heute endlich
dazu kommt, zum Friseur zu gehen. Das ist auch logisch,
weil es bei Gysi keinen Sinn machen würde. Aber was
hat das mit dem Frauentag zu tun? Ich verstehe es nicht.
({2})
Wir haben ein Schaltjahr. Das hat 366 Tage. Vielleicht
könnten die Jungs ihr Praktikum an irgendeinem anderen
der 365 Tage machen - notfalls auch am Wochenende;
da haben wir nämlich keine Sitzung.
({3})
Nun zur Rede der Ministerin. Wenn ich so richtig gemein wäre, würde ich aus meinem Herzen keine Mördergrube machen, Frau Schröder, und sagen: Die Rede war
so beachtenswert, dass sie unbedingt ins Archiv von
Alice Schwarzer, in den FrauenMediaTurm, gehört.
({4})
Dieses Archiv wird aber nur von wenigen Besucherinnen pro Jahr aufgesucht, sodass es schade wäre. Es sollten doch mehr Frauen und auch mehr Männer, die sich
für Gleichstellung interessieren, von dieser Rede wissen.
Sie haben hier in aller Ruhe vorgetragen, welches die
Sorgen der Frauen auf dem Globus sind und welchen
Freiheitskampf sie führen. Wir wissen das. Ich habe zum
Beispiel zuletzt Frau Tawakkul Karmann aus dem Jemen,
eine der drei - nicht zwei - Nobelpreisträgerinnen, getroffen. Wissen Sie, was sie sagte? Sie sagte: Wir brauchen eure ganz konkrete Unterstützung. Frau Schröder,
ich habe kein einziges Wort von konkreter Unterstützung
für diese Kämpferin gehört.
({5})
Sie haben geschrieben, dass Sie den tunesischen Präsidenten, vor dem auch ich Respekt habe, getroffen haben.
Aber wo war das Programm?
Man könnte viel dazu sagen, wie viel Unterstützung
diese Frauen brauchen. Es gibt Arbeitssklavinnen. Es
gibt Genitalverstümmelung. Es gibt Frauen, die deswegen Unterstützung brauchen, weil nach einer Revolution
und Umwälzungen letztendlich doch wieder nur die
Männer die entsprechenden Positionen übernehmen.
Kein Wort zu irgendeinem Programm! Deshalb war die
Rede dürftig.
({6})
Im Übrigen gibt es Arbeitssklavinnen auch hier in
Deutschland und in Europa. Sie gab es sogar in Botschaften in Berlin. Es gibt auch hier in Deutschland
Genitalverstümmelung. Kein Wort von Ihnen dazu! Deshalb war das nicht die Rede, die die Frauen dieses Landes erwartet und verdient haben.
({7})
Es ist der 101. Frauentag - es ist das Jahr 2012, wir
sind im 21. Jahrhundert -, und wir reden immer noch
darüber, dass Frauen, die erwerbstätig sein wollen und
müssen, keine Kindergartenplätze finden. Wir reden
immer noch über die Frage, wie Frauen in Führungsetagen kommen; denn das ist unser gutes Recht. Wir reden
immer noch darüber, dass Frauen für gleiche Arbeit
weniger Gehalt bekommen.
Wenn wir in diesem Land unterwegs sind, begegnen
uns in allen Gehaltsgruppen beeindruckende Frauen, die
trotz schlechter Infrastruktur ihre Frau stehen und ihren
Alltag meistern. Denen können und müssen wir heute
angesichts der Lage in Deutschland unseren Respekt
aussprechen.
({8})
Auch in der Wissenschaft arbeiten viele Frauen. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Juniorprofessorinnen bekommen teilweise nur befristete Verträge, sie werden schlecht bezahlt, und es gibt kein ausreichendes
Betreuungsangebot für ihre Kinder, obwohl sie sich in
einer Lebensphase befinden, in der sie Kinder haben, die
betreut werden müssen. Auch bei alleinerziehenden Lehrerinnen mit einer halben Stelle reicht das Gehalt nicht.
Hinzu kommt, dass das Angebot der Kindergärten sehr
schlecht ist. Sie haben große Schwierigkeiten, ihren Alltag zeitlich zu organisieren, und müssen durch die
Gegend hetzen. Es gibt Friseurinnen, die sagen: Ich
würde den Job ja gerne machen, aber von 5 Euro die
Stunde kann ich nicht leben.
Selbst Frauen in Spitzenpositionen in der Wirtschaft
müssen sich in unserem Land, wenn sie sich für einen
Aufstieg bewerben, immer wieder die Frage anhören:
Können Sie das überhaupt? - Im Jahr 2012 ist das ein
unhaltbarer Zustand in Deutschland.
({9})
Deshalb freue ich mich, dass Frauen auch aus diesem
Haus parteiübergreifend die Berliner Erklärung formuliert haben. Ich wünsche mir, dass möglichst viele
Frauen und auch Männer diese Erklärung unterschreiben.
({10})
Ich habe mich, ehrlich gesagt, sogar mehr gefreut, als
ich erfahren habe, dass es die Aktion „Pro Quote“ gibt,
die von jungen Journalistinnen und Journalisten ins
Leben gerufen wurde. Wir wissen doch: In den Zeitungen wird zwar über die Situation der Frauen berichtet,
aber in den Chefetagen der Verlage sitzen trotzdem immer noch nur Männer. Auch in diesem Bereich könnte
sich etwas ändern.
({11})
Als Aktivität in den nächsten 365 Tagen wünsche ich
mir, dass wir uns endlich der Umsetzung der Forderung
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ widmen und den in
Deutschland herrschenden Lohnunterschied beseitigen.
({12})
Die OECD hat festgestellt: In keinem europäischen
Land ist der Lohnunterschied zwischen Frauen und
Männern so groß wie in Deutschland, er beträgt nämlich
21,6 Prozent. Das ist beschämend. Was sagt Frau von
der Leyen dazu? Sie gibt zwar viele Interviews, aber
dazu habe ich von ihr nichts gehört. Von der FDP wage
ich gar nicht erst zu sprechen. Dabei war sie früher eine
Zeit lang Bürgerrechtspartei; sie hätte sich also für gleiche Löhne einsetzen müssen.
({13})
Wir bringen einen Antrag zur Entgeltgleichheit ein.
Das ist der Anfang. Wir müssen uns auch bewusst
machen, wie viel Lohn in den sogenannten Frauenberufen gezahlt wird. Erzieherinnen, Hebammen, Pflegerinnen und Verkäuferinnen leisten zentrale Beiträge für
unsere Gesellschaft. Bei Schlecker stehen derzeit über
10 000 Frauen vor der Kündigung. Wo ist denn da Frau
von der Leyen? Viele Frauen arbeiten in schlecht bezahlten, prekären Verhältnissen. Frau von der Leyen, wo ist
eigentlich die Qualifizierungsgesellschaft, die Sie diesen
Frauen anbieten?
({14})
Mein letzter Punkt: die Quote. Sie hat uns alle lange
Zeit beschäftigt, und sie wird uns auch noch eine Zeit
lang beschäftigen. Ich finde es ernüchternd, dass es an
dieser Stelle nicht weitergeht, aber wir bleiben dran. Ich
habe alle Vorstände der DAX-30-Unternehmen angeschrieben. Von einem der vier großen Energieversorger
bekam ich einen Brief, der einen Satz enthielt, den ich
einmal vorlesen möchte: Das Schlimmste, was den
Frauen passieren kann, ist, dass Damen in Positionen
gesetzt werden, die sie möglicherweise nicht ausfüllen
können.
({15})
In großer Übereinstimmung mit wahrscheinlich allen
Frauen aus den Fraktionen sage ich: Die Frauen unseres
Landes sind bereit. Gerade nach der Bankenkrise 2008,
nach der Euro-Krise und allen Krisen danach sind wir
bereit, die Debatte aufzunehmen, ob wir die Aufgaben
ausfüllen können oder nicht. Wir sind bereit, uns einem
Wettbewerb mit den Männern zu stellen; denn schlechter
kann es gar nicht werden.
({16})
Mein letzter Gedanke, Herr Präsident. - Dieses Parlament hat einen Auftrag. Es kann nicht sein, dass es in
unserem Land so viele Frauen mit exzellenten Schulabschlüssen, Berufsabschlüssen und Hochschulabschlüssen gibt, und am Ende trotzdem immer die Männer eingestellt werden. Ich schlage vor: Widmen wir uns einmal
den Themen Quote und Personalfindung; denn wenn
Frauen in den Schulen und in der Ausbildung besser
sind, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns endlich
um die Bestenauslese kümmern. Es kann nicht sein, dass
die Auslese darin besteht, einfach immer nur Männer
einzustellen.
({17})
Wir tragen in diesem Haus eine Verantwortung. Dieses Haus hat 620 Abgeordnete. Im Jahr 2012 haben die
Frauen dieses Landes eine Erwartung.
Frau Kollegin.
Sie erwarten, dass dieses Haus den Mut hat, notfalls
fraktionsübergreifend eine Initiative zu ergreifen - ich
verweise in diesem Zusammenhang auf frühere Initiativen: Organspende, Stammzellforschung, Patientenverfügung und Abtreibung, also § 218 StGB -, die den Frauen
zu mehr Rechten verhilft, und zwar noch in diesem Jahr.
({0})
Ingrid Fischbach erhält jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann nicht umhin, kurz auf meine
Vorrednerinnen einzugehen. Frau Ziegler, Sie haben
viele positive Beispiele aus dem Bereich der Gleichstellungspolitik und der Frauenpolitik genannt. Sie haben
erwähnt, was vom Parlament umgesetzt wurde. Sie
haben nur vergessen, zu sagen, dass wir daran immer
beteiligt waren.
({0})
Wir haben immer mitgemacht. Alles, was umgesetzt
wurde, ist mithilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
umgesetzt worden.
({1})
- Die großen Maßnahmen sind mit uns umgesetzt worden. - Das zeigt, und das ist wichtig: Wir können unsere
Vorhaben nur gemeinsam umsetzen.
Über einige der Kritikpunkte, die Sie in Ihrer Rede
genannt haben, kann man reden. Frau Ziegler, man muss
aber auch feststellen, dass der Erste Gleichstellungsbericht nicht unter Rot-Grün erstellt worden ist. Da
haben Sie etwas verpasst. Er liegt heute auf dem Tisch.
Diesen Bericht hat die Familien- und Frauenministerin
auf den Weg gebracht. Das muss man der Fairness halber
sagen.
({2})
- Frau Humme, Sie sind immer beteiligt; das weiß ich ja.
Aber Sie dürfen manchmal auch Vorreiter sein. In der
Opposition sind Sie immer sehr schnell mit dem Wort.
Aber wenn Sie in Regierungsverantwortung standen,
haben Sie sich immer schnell von starken Worten des
Kanzlers - Stichwort „Gedöns“ - zurückhalten lassen.
Da waren Sie dann nicht so durchschlagskräftig, wie Sie
es eigentlich sein sollten.
({3})
Seien wir doch ehrlich: Wir haben verschiedene Probleme zu lösen. Sie hatten diese Probleme, und wir haben
diese Probleme. Wir müssen sehen und erkennen - darauf möchte ich zu Beginn meiner Rede hinweisen -,
dass wir es nur gemeinsam schaffen können. An dieser
Stelle muss ich feststellen, dass Sie, meine Kolleginnen
von der Linken, ein ganz falsches Beispiel gesetzt haben.
Gleichstellungspolitik ist keine Frauenpolitik, und sie ist
ohne Männer überhaupt nicht zu machen. Sie haben
heute ein vollkommen falsches Signal gesetzt. Das geht
überhaupt nicht.
({4})
Frau Künast, ich habe gemerkt, dass Sie die Sache mit
dem Archiv von Alice Schwarzer in NRW getroffen hat.
Sonst hätten Sie keinen Satz darüber verloren.
({5})
Wenn wir über das Problem des Wiedereinstiegs von
Frauen in den Beruf reden, wenn wir über Entgeltungleichheit reden - ich richte mich damit an die Grünen
und die SPD -, dann müssen wir auch über die damit
verbundenen Probleme sprechen. Ein solches Problem
ist die mangelhafte Kinderbetreuung. Sie mahnen zu
Recht an, dass der Ausbau der Kinderbetreuung für unter
Dreijährige nicht schnell genug vorangeht. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel haben Sie jetzt alle Möglichkeiten der Welt, die Sache voranzubringen. Ich bitte
Sie im Sinne eines gemeinsamen Handelns: Tun Sie das!
Sehen Sie zu, dass die Zahlen besser werden! Das wäre
ein großes Ding für die Frauen. So können Sie die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit wirklich voranbringen.
({6})
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es nicht
hinnehmbar, dass Frauen in Deutschland - das ist wirklich ein großes Manko - heute im Durchschnitt immer
noch weit über 20 Prozent weniger verdienen als Männer.
({7})
Auch diesbezüglich brauchen wir CDU/CSU-Frauen uns
nicht zu verstecken, Frau Ferner. Wenn ich darüber
nachdenke, welche Initiativen auf den Weg gebracht
wurden, fällt mir auf, dass dies in der Zeit der Großen
Koalition und in dieser Legislaturperiode der Fall war.
Wir wollen Transparenz in der Lohngestaltung.
({8})
- Das können Sie ja machen. Aber das machen wir nicht.
Wir bieten Logib-D und den eg-check. Wir wollen, dass
transparent ist, was Unternehmen den beschäftigten
Frauen und Männern zahlen. Es gibt entsprechende
rechtliche Vorgaben.
({9})
Es dürfte also gar nicht passieren, dass Frauen weniger
verdienen als Männer. Es passiert aber trotz der rechtlichen Vorgaben. Das heißt, wir müssen die Schlupflöcher
ausfindig machen, sie klar benennen und schließen.
Wenn es sein muss, wenn es gar nicht anders geht, müssen wir auch mit einer gesetzlichen Initiative dagegen
vorgehen; das ist überhaupt keine Frage.
({10})
Wir müssen dafür sorgen, dass die Gründe, die zu diesen Entgeltungleichheiten führen, beseitigt werden. Ich
habe gerade schon gesagt, dass ein Grund die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit von Frauen ist. Wir müssen
also darüber nachdenken, wie wir mit den Erwerbsunterbrechungen umgehen, und dafür sorgen, dass sie kürzer
werden und dass Frauen schneller und ohne Einkommensverlust in den Beruf zurückkehren können. Das
wird unser Ziel sein.
Das heißt, wir müssen die Frauen beim Wiedereinstieg stärker unterstützen. Auch da brauchen wir uns
überhaupt nicht zu verstecken. Die „Perspektive Wiedereinstieg“ ist unter der Familienministerin auf den Weg
gebracht worden. Wir sagen: Es ist wichtig, dass Frauen
Unterstützung erhalten. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang - darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen sind die haushaltsnahen Dienstleistungen. Diese müssen
wir stärker ausbauen, damit Frauen und Männer, die zurück in den Beruf wollen, sie in Anspruch nehmen können. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass diejenigen, die diese Dienstleistungen ausüben, einen
vernünftigen und fairen Lohn erhalten.
({11})
Ich komme zum letzten Punkt; meine Redezeit neigt
sich dem Ende zu. Wie gehen wir mit der Bewertung von
Kindererziehungs- und Pflegezeiten um? Unserer Fraktion ist ganz wichtig, dass wir den Frauen, die große Erwerbsunterbrechungen hatten und in einem Alter sind, in
dem sie nicht mehr viel eigene Vorsorge treffen können,
das Signal geben, dass wir ihre Situation im Blick haben.
Wir müssen zum Beispiel die Anerkennung der Kindererziehungszeiten in der Rente verbessern, vor allen Dingen für die Kinder, die vor 1992 geboren sind.
({12})
Wir müssen deutlich machen, dass Kindererziehung und
Pflege gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind, Frau
Humme. Deswegen müssen wir im Bundestag darüber
sprechen. Wir müssen Antworten auf diese Fragen finden und den Frauen, die diese Arbeit leisten, Anerkennung zollen. Das ist wichtig und, ich denke, unser aller
Ziel.
Ich habe mit der Aussage, dass Gleichstellungspolitik
sowohl Männer als auch Frauen angeht, begonnen. Frauenfragen sind immer, egal wie wir es drehen, auch Männerfragen.
({13})
Wir brauchen die Männer, um die Probleme zu lösen und
Mehrheiten für entsprechende Maßnahmen zu finden.
Eines ist uns dabei klar: Gleichberechtigung hat immer
mit Rechten, aber auch mit Pflichten zu tun; diese betreffen Männer und Frauen.
({14})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Christel Humme
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
230 Seiten dick ist das Sachverständigengutachten zum
Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Auf
diesen 230 Seiten wird dargelegt, was in Deutschland im
Bereich der Gleichstellungspolitik fehlt und was wir unbedingt tun müssen. Die Stellungnahme der Bundesregierung dazu ist sehr dünn.
({0})
Weniger Interesse am Thema Gleichstellung kann die
Bundesregierung eigentlich nicht zum Ausdruck bringen.
({1})
Frau Fischbach, ich dachte, dass Sie dieses Gutachten
einmal zur Hand nehmen und einen Antrag dazu schreiben werden.
({2})
- Es ist richtig, Sie haben einen Antrag geschrieben, aber
Sie haben nicht eine einzige Forderung dieses Gutachtens aufgegriffen,
({3})
obwohl Ihnen dieses Gutachten Handlungsempfehlungen auf dem Silbertablett präsentiert, die Sie einfach nur
hätten übernehmen müssen.
({4})
Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen haben uns sehr über das Gutachten gefreut; denn es bestätigt, dass unser Kurs zur Gleichstellung der richtige ist.
Unser Kurs hat die gleichberechtigte Teilhabe von
Frauen und Männern - in diesem Punkt gebe ich Ihnen
vollkommen recht - im Erwerbs- und Familienleben
zum Ziel.
Was ist die Kernforderung dieses Gutachtens? Es fordert von uns Politikerinnen und Politikern eine konsistente Gleichstellungspolitik, die den gesamten Lebensverlauf in den Blick nimmt. Erstens fordern die
Sachverständigen eine Abkehr von starren Rollenbildern. Frauen wollen nicht mehr nur Zuverdienerinnen
sein und Männer nicht immer nur die Haupternährer.
Sie fordern zweitens eine Abkehr von alten Strukturen. Denn sie sind es, die die Frauen in Deutschland
nach wie vor benachteiligen, und nicht, wie Sie, Frau
Schröder, aber auch die Kanzlerin häufig unterstellen,
die Frauen selbst, weil sie nicht mutig genug sind.
({5})
Last, not least fordern sie von uns, dass wir die richtigen politischen Weichen stellen, und zwar von Anfang
an und ohne Zickzackkurs. Wir müssen vermeiden, dass
wir heute Vorteile gewähren, die später, zum Beispiel bei
der Rente, zu Nachteilen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, wie lauten Ihre Antworten darauf? In
Ihrem Antrag jedenfalls finde ich dazu nichts;
({6})
denn dann müssten Sie sich klar vom Modell der Zuverdienerin verabschieden. Aber ich glaube, dazu fehlt Ihnen der Mut. Das war in der Vergangenheit so und ist
auch jetzt so.
({7})
Im letzten Jahr fand eine Veranstaltung zu diesem
Gutachten statt, an der auch die Vorsitzende der Sachverständigenkommission, Frau Professor Klammer, teilgenommen hat. Sie ist gefragt worden, welche Themen
die Politikerinnen und Politiker ihrer Meinung nach zuerst angehen sollten, wenn sie den gesamten Forderungskatalog des Gutachtens abarbeiten wollten. Sie hat gesagt: Minijobs und Ehegattensplitting. - Ich denke, das
ist richtig so. Denn wir wissen: Minijobs sind weiblich,
verfestigen die Zuverdienerrolle und führen unausweichlich in die Armut; das haben wir heute schon mehrfach
gehört.
Die überwiegende Mehrheit der erwerbstätigen
Frauen arbeitet in schlecht bezahlter Teilzeit oder in
noch schlechter bezahlten Minijobs. Für immer mehr
Frauen ist der Minijob die einzige Erwerbsquelle; das
kommt fatalerweise hinzu. Dabei wollen die Frauen
mehr arbeiten. Sie wollen Vollzeit arbeiten und vor allen
Dingen finanziell auf eigenen Füßen stehen. Was tun
Sie? Statt sich um diese Frauen und ihre Wünsche zu
kümmern, wollen Sie die Minijobs sogar ausweiten. Das
ist meiner Ansicht nach ein fataler Irrweg.
({8})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, zu Recht erhebt
die Kommission auch die Forderung, das Ehegattensplitting zu reformieren. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehen das genauso. Denn zusammen mit
der Steuerklasse V signalisiert das Ehegattensplitting:
Frauen, bleibt doch zu Hause! Denn dann hat euer Ehemann als Alleinverdiener einen großen Steuervorteil.
Selbst die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission „Forschung und Innovation“ hat das
Ehegattensplitting in ihrem Bericht zum Fachkräftemangel, den sie in der letzten Woche vorgelegt hat, als
schädlich bezeichnet und gegeißelt. Sie machte deutlich,
dass es vornehmlich für Frauen Anreize schafft, keiner
oder nur einer geringen Beschäftigung nachzugehen.
Genau diese Kritikpunkte aufzugreifen, wäre der richtige Ansatz. Sie sollten darüber nachdenken und auch im
Steuerrecht etwas tun. Sie sollten das Ehegattensplitting
reformieren und eine Reform der Minijobs durchführen.
Aber beides packen Sie nicht an. Sie lassen die Frauen
mit ihrem lebenslangen Armutsrisiko allein. Mehr noch:
Sie verschärfen das Problem und schütten Öl ins Feuer;
denn Sie wollen gleichzeitig das Betreuungsgeld einführen.
Ich denke, alles zusammen - eine Ausweitung der
Minijobs, das Betreuungsgeld und keine Änderungen im
Steuerrecht - wird dazu führen, dass Sie alte Rollenbilder und alte Strukturen zementieren und - das ist wichtig, festzuhalten - schon jetzt die falschen Weichen stellen. Frau Bracht-Bendt, ich bin der festen Überzeugung:
An dieser Stelle betreiben Sie staatliche Bevormundung;
({9})
denn Sie tun genau das Gegenteil von dem, was im Gutachten vorgeschlagen wird.
Liebe Frau Ministerin, in Ihrem Buch werden wir lesen können - das haben Sie angekündigt -, dass Ihnen
eine Gesellschaft vorschwebt, in der Frauen und Männer
endlich frei entscheiden können, wie sie leben wollen.
({10})
Wenn das Ihr politischer Kompass ist,
({11})
dann frage ich mich, warum Sie alles dafür tun, die herkömmliche Rollenverteilung von Frauen und Männern
beizubehalten. Hören Sie doch auf, den Menschen Wahlfreiheit vorzugaukeln, aber eine anders ausgerichtete
Politik zu machen!
Ich appelliere an Sie: Lesen Sie den Gleichstellungsbericht sehr sorgfältig und aufmerksam! Nehmen Sie die
beschriebenen Handlungsoptionen ernst! Wir brauchen
keinen Rahmenplan - er liegt uns jetzt eigentlich vor -,
sondern einen konkreten Aktionsplan für Gleichstellung,
und zwar so schnell wie möglich, damit Sie in Ihrer Politik nicht schon jetzt die falschen Weichen stellen und die
Risiken in den Lebensläufen der Frauen erhöhen. Weiten
Sie die Minijobs nicht aus, und stoppen Sie das Betreuungsgeld! Investieren Sie in Betreuungsplätze! Schaffen
Sie für die Frauen mit einer verbindlichen Quote einen
Zugang zu den Chefetagen! Verabschieden Sie ein EntChristel Humme
geltgleichheitsgesetz, wie wir es bereits gefordert haben
und wie es die Grünen heute fordern! Führen Sie einen
Mindestlohn ein, der den vielen Frauen im Niedriglohnsektor hilft! Machen Sie endlich eine konsistente Gleichstellungspolitik!
({12})
Nun erhält der Kollege Patrick Döring das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
und die Einzelne sind Grund und Grenze liberaler Politik. In einer offenen Gesellschaft ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine Selbstverständlichkeit.
({0})
In einer offenen Demokratie müssen alle, die in der politischen Realität Verantwortung tragen, sich diesem Ziel
verpflichtet fühlen. Wir tun das.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in
der Frage, wie man dieses Ziel erreicht, sind wir uns aber
nicht immer einig. Es ist natürlich nur konsequent, geschätzte Kollegin Humme, dass Sie ein Entgeltgleichheitsgesetz fordern. Ich rufe der Kollegin Künast zu:
Ihre Rede haben Sie, was den Inhalt anbelangt, am falschen Ort gehalten. Wir müssen mit den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie mit den Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertretern sprechen, damit es
nicht zu einer ungerechten Entlohnung in den Unternehmen kommt, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.
Herr Kollege Döring, darf Ihnen der Kollege Beck
eine Zwischenfrage stellen?
Unbedingt.
Bitte schön, Herr Beck.
Sie sprachen davon, dass die Geschlechtergerechtigkeit und die Gleichstellung von Mann und Frau eine liberale Selbstverständlichkeit sei. Da diese Punkte für Sie
so selbstverständlich sind, möchte ich Sie fragen - ich
weiß es nämlich nicht -: Wie hoch ist eigentlich der
Frauenanteil in Ihrer Fraktion?
({0})
Geschätzter Kollege Beck, das wissen Sie ganz genau, weil Sie es vorhin noch im Handbuch nachgeschaut
haben. Ich gebe aber offen zu, dass wir noch daran arbeiten müssen, mehr Frauen in Parlamenten zu haben.
({0})
Geschätzter Herr Kollege, 25 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag sind weiblich. Wir sehen
aber auch in einigen Landesverbänden wie zum Beispiel
in meinem Landesverband, im Landesverband Niedersachsen, dass man auch ohne Quote fast eine 50-50-Situation herstellen kann. Viele Kolleginnen und Kollegen
bewerben sich um Mandate, geschätzter Kollege Beck.
In einer Demokratie ist es aber nun einmal so, dass das
Wahlverhalten nicht so steuerbar ist, wie das vielleicht in
Ihrer Partei der Fall ist.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich persönlich glaube, dass Sie den
jungen, gut ausgebildeten und engagierten Frauen in
Deutschland zu wenig zutrauen. Sie trauen - bei allem
Respekt - einer neuen Generation von Verantwortungsträgern in Unternehmen und Wissenschaft zu wenig zu.
Ich jedenfalls nehme wahr, dass es heute in den Unternehmen - egal ob groß oder klein - eine Selbstverständlichkeit ist, nicht mehr in den antiquierten Rollenbildern
zu denken, die Sie hier zum Teil vorgetragen haben.
({2})
Junge Frauen und junge Männer wissen, dass sie gemeinsam Unternehmen gestalten können. Dafür müssen
wir die Rahmenbedingungen verbessern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Dazu gehört in ganz besonderer Weise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Deshalb ist es besonders
bedauerlich, dass heute kein Vertreter der Länder anwesend ist. Ich selbst habe mich in meiner unternehmerischen Verantwortung sehr intensiv darum bemüht, Kinderbetreuungsplätze im Unternehmen zu schaffen. Für
ein mittelständisches Unternehmen ist es aber schlicht
unmöglich, die Standards einzuhalten, die in manchen
Ländern gelten. Dies gilt zum Beispiel für abgehängte
Waschbecken und abgehängte Klos, die kleine Kinder zu
Hause auch nicht haben. Diese muss man aber in einem
Unternehmenskindergarten vorhalten. Wir müssen weg
von dieser Vorstellung, wenn wir wollen, dass Unternehmen Betreuungsplätze schaffen, die der Arbeitsrealität
der Frauen entsprechen, also nicht auf einen Zeitraum
von 9 bis 12 Uhr beschränkt sind.
({4})
Frau Kollegin Humme, ich habe mich über Ihre Argumentation sehr gewundert. Als der Gesetzentwurf, in
dem das Recht auf Teilzeit festgeschrieben wurde, in
diesem Hause von Rot-Grün eingebracht und verabschiedet wurde, ist das von den Vertretern der damaligen
Koalition als herausragender gleichstellungspolitischer
Fortschritt verkauft worden. Ich bin der festen Überzeugung, dass flexible Arbeitszeiten - Teilzeit heißt nicht
nur halbtags, sondern auch Dreiviertelstellen oder
90-Prozent-Stellen - den Unternehmen und auch den
Frauen in den Unternehmen guttun. Deshalb habe ich
Ihre Argumentation überhaupt nicht verstanden. Übrigens nutzen auch zunehmend mehr Männer diese Möglichkeit in den Unternehmen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({5})
Nein, gesetzliche Regelungen sind nicht alles. Deshalb ein letztes Wort:
({6})
Wir setzen auf Verantwortung, Initiative und Selbstbestimmung.
({7})
Wer die Zusammensetzung der Vorstände und Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften verändern will, der sollte
schon morgen von den DAX-30-Unternehmen jeweils
eine einzelne Aktie erwerben und auf deren Hauptversammlungen die Reden halten, die Sie hier gehalten
haben; denn dort wird entschieden, und zwar immer besser, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Cornelia Möhring
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist heute tatsächlich das erste Mal, dass ein Gleichstellungsbericht der Bundesregierung im Deutschen Bundestag diskutiert wird, und es ist überhaupt das erste
Mal, dass es so einen Gleichstellungsbericht gibt.
Nun könnte Hoffnung aufkeimen, dass es zukünftig
um die Gleichstellung von Frauen und Männern besser
bestellt sein wird. Aber dazu kann ich an dieser Stelle
nur sagen: „Pustekuchen“, obwohl vor einem Jahr, als
das Sachverständigengutachten vorgestellt wurde, auch
das Lob aus der Bundesregierung groß war. Es wurde als
Meilenstein gefeiert, und aus dem gesamten Ministerium
war zu hören, wie wunderbar es doch sei, dass die Lebensverläufe von Frauen und Männern nun systematisch
verglichen würden.
Tatsächlich haben das Sachverständigengutachten
und die darin enthaltenen Handlungsempfehlungen
große Begeisterung hervorgerufen, nämlich bei Frauenverbänden, bei Gleichstellungsbeauftragten, bei Gewerkschaften und auch bei vielen von uns hier. Ich
betone aber: Dies bezog sich auf das Gutachten der
Sachverständigenkommission und deren Handlungsempfehlungen und nicht auf das, was die Bundesregierung daraus schlussfolgert, oder die Maßnahmen, die sie
eventuell angeschoben hat.
({0})
Seitdem tragen Sie die Methode, die Lebensverlaufsperspektive zu betrachten, wie eine Monstranz vor sich
her. Natürlich ist es richtig, dass man, wenn man sich die
Lebensverläufe von Männern und Frauen anguckt, zu
ganz anderen Schlussfolgerungen kommt, als wenn man
nur einen bestimmten Teil ihres Lebens herausgreift. Sie
handeln aber in keiner Weise nach den Erkenntnissen,
sondern sogar völlig entgegengesetzt. Sie kommen aus
Untersuchungen, aus Prüfungen und aus Erhebungen
überhaupt nicht mehr heraus.
({1})
Dafür will ich Ihnen auch einige Beispiele nennen.
Alle Experten sind sich darüber einig, dass die Altersarmut - besonders auch die von Frauen - zunehmen
wird. Welchen Impuls gibt unsere Ministerin? Es soll
eine Untersuchung darüber in Auftrag gegeben werden,
wie sich unterschiedliche Lebenswege auf die Alterssicherung auswirken. Ich kann Ihnen dazu nur sagen:
Das Geld können Sie sich sparen bzw. sollten Sie in soziale Projekte stecken.
({2})
Das Ergebnis lautet nämlich: Wer in seinem Leben zwischen seinen Erwerbszeiten immer wieder arbeitslos ist,
wer wegen der Betreuung von Kindern und Angehörigen
längere Zeiten nicht erwerbstätig sein kann oder wer in
Teilzeit oder zu Niedriglöhnen arbeiten muss, der wird
im Alter von Armut bedroht sein. Das ist so sicher, wie
zwei mal zwei vier ist, und es ist sicher, dass davon überwiegend Frauen betroffen sind.
({3})
Ein weiteres Beispiel, das hier auch schon angeklungen ist: Alte Rollenbilder von dem, wie eine gute Frau
und wie ein guter Mann sein soll, behindern die Gleichstellung. Eine gute Möglichkeit, solche alten Rollenbilder aufzubrechen, ist - das wird auch im Gutachten
empfohlen -, wenn sich junge Väter mehr um ihre Kinder und um die Sorgearbeit kümmern können. Viele
Männer wollen das auch. Anstatt aber das Elterngeld
auszubauen, mehr Vätermonate zu ermöglichen und
neue Anreize zu schaffen, tun unsere Regierungsparteien
was? Sie treiben neue Varianten der Herdprämie voran,
zuletzt in Form des Betreuungsgeldes. Das verfestigt
aber alte Rollenbilder und ist eher eine Reanimation der
Hausfrauenrolle und alles andere als Gleichstellungspolitik oder emanzipatorisch.
({4})
Eine zentrale Handlungsempfehlung der Sachverständigen dreht sich um das Thema „Arbeit in Minijobs“.
Jede fünfte erwerbstätige Frau und jeder zehnte erwerbstätige Mann arbeiten inzwischen ausschließlich in Minijobs. Das „Mini“ bezieht sich dabei nicht auf die eingesetzte Arbeitszeit; die ist bei Minijobberinnen manchmal
nämlich sehr ausufernd. Das „Mini“ bezieht sich noch
immer auf die Bezahlung und auf die Rente im Alter, die
nämlich zwangsläufig auch sehr mini ausfällt.
Im Gutachten - das wurde schon betont - wird darauf
hingewiesen, dass dann, wenn man es mit der Reduzierung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten im Beschäftigungssystem ernst meint, die Abschaffung von
Minijobs ein zentrales Element einer entsprechenden
Politik sein muss. Was tut die Bundesregierung? Sie
ignoriert diese Empfehlung und beschließt die Ausweitung der Minijobs und die Anhebung der Zuverdienstgrenze.
Würde man den Gleichstellungsbericht wirklich ernst
nehmen und wesentliche Schritte in der Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer wollen, dann bräuchten
wir keine weiteren Untersuchungen, sondern müssten
lediglich die Handlungsempfehlungen der Sachverständigen in Gesetze umwandeln,
({5})
zum Beispiel in ein Gesetz für einen flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn, in ein Gesetz zur Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige
Arbeit oder in ein Gesetz für eine solidarische Rentenversicherung.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat gleichstellungspolitisch schon lange das
Handtuch geworfen. Es wird Zeit für eine andere.
({6})
Bevor die Kollegen von SPD und Grünen jetzt frohlocken: Das schaffen auch Sie nicht ohne die Linke.
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Müller-Gemmeke
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Stellen Sie sich vor, eine Frau geht
einkaufen, beim Bezahlen nimmt die Kassiererin die
Zeitschrift und reißt erst einmal ein paar Seiten heraus.
Dann behält sie eine von vier Bananen, und vom Kuchen
bekommt die Frau auch nur drei Viertel. Der Mann
hinter ihr an der Kasse bekommt hingegen den ganzen
Kuchen.
Das hört sich absurd an; doch dieses Bild ist nicht
meiner Fantasie entsprungen. Es ist aus einem kurzen
Video der EU-Kommission, das auf unkonventionelle
Weise darstellt, was bei uns traurige Realität ist. Denn
Frauen verdienen in Deutschland noch immer weniger
als Männer. Es ist also an der Zeit, dass wir gemeinsam
diese Entgeltdiskriminierung beenden; denn Frauen verdienen mehr.
({0})
Entgeltdiskriminierung funktioniert oft unmittelbar
und direkt, beispielsweise wenn eine Abteilungsleiterin
als Nachfolgerin eines Mannes mit gleicher Qualifizierung und derselben Berufserfahrung 300 Euro weniger
verdient. Hier wird der Grundsatz „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ missachtet. Das ist ungerecht und nicht
akzeptabel.
({1})
Schwieriger aufzudecken ist die mittelbare Entgeltdiskriminierung, wenn es also um den gleichen Lohn für
gleichwertige Arbeit geht. Sie verbirgt sich in Regelungen, die nicht zwischen Männern und Frauen unterscheiden und dennoch auf Männer und Frauen unterschiedlich
wirken. Besonders diskriminierungsanfällig sind dabei
die Kriterien, mit denen Arbeit bewertet wird.
Wenn ein Mann beispielsweise auf dem Bau Steine
schleppen muss, dann wird diese Kraftanstrengung
selbstverständlich bezahlt, das Heben und Umbetten als
körperliche Belastung bei Frauen in der Pflege hingegen
nicht. Auch die emotionalen Belastungen in Frauenberufen werden häufig nicht bewertet und somit auch nicht
bezahlt.
Entgeltdiskriminierung ist also Realität, obwohl im
Grundgesetz, im AGG und im Europarecht die Gleichstellung und das Verbot der Entgeltdiskriminierung verankert sind. Im 21. Jahrhundert muss damit endlich
Schluss sein.
({2})
Selbstverpflichtungen und Freiwilligkeit haben zu
nichts geführt. Die Entgeltlücke ist sogar noch größer
geworden. Deshalb fordern wir Grünen mit unserem
Antrag ein eigenständiges Gesetz gegen Entgeltdiskriminierung. In einem ersten Schritt sollen die Tarifpartner
und Betriebe verbindlich überprüfen und nachweisen,
dass tarifliche und nichttarifliche Entgeltregelungen
diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Das reicht aber
nicht aus. Die Betriebe und der öffentliche Dienst müssen auch die Umsetzungspraxis überprüfen. Denn die
Anwendung darf vor Ort nicht wieder zu neuen Diskriminierungen führen.
Bei der Überprüfung setzen wir - anders als die Bundesministerin - auf analytische Arbeitsbewertungsverfahren. Entscheidend ist, dass die Kriterien transparent
und nachvollziehbar sind, die Tätigkeiten ihrem Wesen
nach beurteilt werden und die Kriterien somit diskriminierungsfrei gewählt sind, also endlich für Frauen und
Männer gleichermaßen gelten.
({3})
Bei Überprüfungen allein wollen wir es aber nicht belassen: Selbstverständlich müssen entdeckte Diskriminierungen auch beseitigt werden. Deshalb soll die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine Kontrollbefugnis
erhalten. Wir brauchen auch Sanktionen und insbesondere ein Verbandsklagerecht. Denn wir brauchen ein
wirksames Gesetz und keinen zahnlosen Tiger.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, im Gleichstellungsbericht „Neue Wege - Gleiche Chancen“ steht
die Überprüfung mit Arbeitsbewertungsverfahren im
Fazit. Wir Grüne haben mit unserem Antrag die Vorschläge konkretisiert. Wir nehmen also die Autorinnen
ernst. Dies erwarten wir jetzt auch von der Bundesregierung; denn Frauen verdienen mehr.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder ein
Weltfrauentag, wieder ein Jahr vorbei. Wie in jedem Jahr
ziehen wir in unserem Parlament frauenpolitische
Bilanz. Der Brennpunkt unserer Gleichstellungsdebatte
liegt in diesem Jahr beim Thema „Frauen in Führungspositionen“. Nach dem letzten Jahr, als wir - das wurde
schon erwähnt - 100 Jahre Weltfrauentag gefeiert haben,
ist hier trotz zahlreicher Beteuerungen und guter Vorsätze leider zu konstatieren, dass sich sehr wenig getan
hat. So ist der Anteil von Frauen in Toppositionen lediglich um 2 Prozentpunkte gestiegen. Das Thema ist sehr
frustrierend. Die Strukturen sind stark verkrustet, und
der Widerstand in der Wirtschaft ist noch immer sehr
heftig. So ist es ein bemerkenswert negatives Signal,
dass im Januar auf der Siemens-Hauptversammlung eine
30-Prozent-Frauenquote mit 93 Prozent der Stimmen
abgeschmettert wurde. 93 Prozent der Stimmen, so viel
Einigkeit würde ich mir bei manch anderen Themen
wünschen.
Wir stellen jedes Jahr erneut fest, dass Frauen die besseren Abschlüsse machen und mittlerweile die sogenannten richtigen Fächer studieren. Zudem hatten die
Unternehmen seit der Vereinbarung von 2001 elf Jahre
Zeit - also länger als die von uns geforderten zehn Jahre -,
weibliche Nachwuchskräfte zu fördern und einen entsprechenden Pool aufzubauen. Vor diesem Hintergrund
freue ich mich - wenn auch noch viel Wasser den Main
hinunterfließen wird, wie es bei uns heißt - auf Unterstützung aus Brüssel. Frau Reding sagt, sie möge zwar
die Quote nicht, brauche sie aber für Ergebnisse. Ich
denke, ganz genau darauf kommt es an.
Enttäuscht bin ich daher über die Aussage, die Diskussion müsse vertagt werden.
({0})
Ich glaube, wir haben die Diskussion schon zu lange vertagt. Früher wurde in Deutschland - das ist an die SPDFraktion gerichtet - Basta-Politik betrieben. Diese haben
wir mittlerweile überwunden. Wir müssen uns daher mit
den Themen gut auseinandersetzen. Es ist wichtig, den
Druck aufrechtzuerhalten und gemeinsam für eine
gleichberechtigte Teilhabe zu kämpfen.
Selbstverständlich arbeiten wir auch an anderen Themen der Gleichstellungspolitik. Ich bin über den Ersten
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung sehr froh;
den hat die Union in Auftrag gegeben, und auf den
bezieht sich unser heutiger Antrag. Dieser Bericht ist ein
Meilenstein der Frauenpolitik.
({1})
- Aber Sie müssen zugeben, dass die CDU/CSU zum
Großteil die Bundesregierung stellt.
({2})
Wenn Sie sich unseren Antrag genau durchlesen - hören
Sie zu; das ist wichtig; ich bin sicher, dass darüber Konsens im ganzen Haus besteht -, dann stellen Sie fest,
dass wir unter anderem fordern, den Gleichstellungsbericht zu institutionalisieren. Ich denke, dieser Forderung kann sich jeder anschließen.
Der Gleichstellungsbericht zeigt, dass es in allen
Etappen des Lebensverlaufs noch viel zu tun gibt.
Frauen unterbrechen ihr Berufsleben noch immer - auch
im Jahr 2012 - häufiger und länger als Männer, um sich
um die gemeinsamen Kinder oder um pflegebedürftige
Angehörige zu kümmern, und zwar nicht immer nur um
die eigenen Eltern, sondern oft auch - wie es für Frauen
typisch ist - um die Schwiegereltern. Frauen ermöglichen Männern oftmals gerade durch dieses Engagement
den beruflichen Aufstieg und nehmen dabei Einkommenseinbußen für sich selbst in Kauf.
Die Kollegin Fischbach hat es bereits angesprochen:
Ein besonderes Problem stellt daher die Alterssicherung
dar. Wir müssen aber auch über Minijobs reden. Frauen
haben häufig Minijobs und - das ist ein menschliches
Phänomen - berücksichtigen oft nur die aktuelle Situation. Sie sagen sich: Wenn ich beispielsweise im März,
April oder Mai 2012 einen Minijob habe, dann habe ich
erst einmal keine Abzüge. Das scheint wunderbar zu
sein. Aber das ist wenig vorausschauend. Denn was passiert im Alter? Ein Minijob ist oft nur eine vorübergehende Lösung. Die aus dem Moment heraus betrachteten
Vorteile sind nämlich langfristig mit großen Nachteilen
verbunden.
Deswegen ist es jetzt an uns - das tun unsere beiden
Fraktionen auch -, uns zu überlegen, wie wir die Forderungen aus dem Gleichstellungsbericht gezielt umsetzen.
({3})
- Wir werden es tun. Wir werden uns mit diesem Gleichstellungsbericht auseinandersetzen.
Natürlich dürfen wir im Rahmen einer ehrlichen Bestandsaufnahme - Sie haben ja gemerkt, dass ich auch
mit Kritik nicht spare - nicht übersehen, dass wir in anderen Bereichen schon sehr viel erreicht haben. Der
Ausbau der Kinderbetreuung läuft auf Hochtouren. Da
ist mein eigenes Bundesland, Bayern, federführend mit
dabei.
({4})
Es gibt das Elterngeld, das nach wie vor ein ganz großes
Erfolgsmodell ist und auf das wir wahnsinnig stolz sind,
und wir machen Programme für den Wiedereinstieg.
Bevor Herr Trittin noch einmal so genussvoll lacht:
Schauen Sie sich einmal die rot-grüne Regierung in
NRW an. Dort läuft es nämlich mit Abstand am schlechtesten in ganz Deutschland, was den Ausbau der Kinderbetreuung betrifft.
({5})
Sie müssen Ihren zuständigen Damen, die dort an der
Regierung sind, vielleicht noch einmal ein bisschen Anschub geben; denn es kann nicht sein, dass NRW das
Geld, das wir als Bund zur Verfügung stellen, überhaupt
nicht abruft, sodass die Kinder in Nordrhein-Westfalen,
die es in vielen Bereichen nötig haben, nicht die Chance
haben, eine adäquate, gute und qualitativ hochwertige
Kinderbetreuung zu bekommen.
({6})
Zurück zu dem, was wir schon erreicht haben: Wir
haben gute Programme zum Wiedereinstieg, dazu, wirklich wieder gut in den Beruf hineinzukommen; auch das
ist ein Topthema. Ich würde mir auch wünschen, dass die
Unternehmen noch wesentlich mehr beispielsweise auf
neue Medien setzten, um eine Abkoppelung, die gerade
in der Schwangerschaft bzw. im Mutterschutz entstehen
kann, gar nicht erst zuzulassen. Diese Möglichkeiten
werden noch zu wenig genutzt.
Mit unserem Hilfetelefon, das wir für Frauen in Notsituationen eingerichtet haben, haben wir ebenfalls wirklich Gutes auf den Weg gebracht.
Sie sehen also, wir haben an einigen Stellen schon
sehr viel getan. Selbstverständlich gibt es noch sehr viel
mehr zu tun. Ich bin mir aber sicher, dass keine junge
Frau und selbstverständlich auch kein junger Mann noch
Lust hat, sich im Zusammenhang mit der Gleichstellung
noch einmal um 10 oder 20 Jahre vertrösten zu lassen.
Von meiner Seite aus kann ich Ihnen nur sagen: Wir
wollen das anpacken. Ich möchte diese Rede 2013 nicht
mehr halten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Karin Roth für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreulich, dass wir in diesem Parlament dazu
in der Lage sind, am heutigen Internationalen Frauentag
mit dem Blick nach außen eine gemeinsame Strategie
und gemeinsame Forderungen festzulegen. Ich danke
deshalb meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen sehr dafür, dass sie gemeinsam mit
dem Bündnis 90/Die Grünen und der SPD heute einen
Antrag zur Gleichberechtigung der Frauen in den Entwicklungsländern vorlegen.
In diesem Antrag wird zu Recht darauf hingewiesen,
dass 70 Prozent der Armut in den Entwicklungsländern
weiblich ist. Das heißt, dass das, was wir heute auch für
unser Land konstatieren - wir beklagen immer noch,
dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ nicht gilt und dass der Zugang von
Frauen zu höheren Positionen in unserem Land nicht
möglich ist -, in verschärftem Maße natürlich gerade
auch für Frauen in Entwicklungsländern und insbesondere für Frauen in Schwellenländern gilt.
Da reicht eine Reise nach Tunesien nicht aus, um zu
sagen, dass man unter Berücksichtigung der Scharia ja
ein bisschen weitergekommen ist. Ich glaube, das ist ein
bisschen zu wenig für die Gleichstellungspolitik, die wir
hier wollen.
({0})
Wir wollen die Gleichstellung von Frauen überall:
politisch, sozial und wirtschaftlich. Deshalb bin ich sehr
froh, dass wir in diesem Antrag deutlich zum Ausdruck
gebracht haben, dass der Zugang der Frauen in die Politik, in die Verwaltung und in die Justiz Vorrang haben
muss und dass wir vor allem besondere Regelungen
brauchen. Ich weiß, dass sich einige Männer in den Koalitionsfraktionen schwergetan haben, weil das Thema
Quote natürlich ein Reizthema ist - keine liberale Selbstverständlichkeit, versteht sich. Daher haben wir uns darauf geeinigt, das so zu formulieren.
Ich bin dankbar dafür, dass man anerkennt, dass es
ohne eine Frauenquote nicht geht; das gilt sowohl für die
Wirtschaft wie für die Politik. Für uns, die Sozialdemokraten, steht natürlich fest, dass die Frauenquote notwendig ist, um die gläserne Decke zu durchbrechen. Anders
geht es nicht, meine Damen und Herren, vor allen Din19534
Karin Roth ({1})
gen liebe Kolleginnen und Kollegen; das wissen wir. Es
geht um Macht, es geht um Einfluss. Jawohl, wir Frauen
wollen Einfluss, wir Frauen wollen Macht, auch in diesem Parlament.
Ich freue mich, dass wir uns auch darüber verständigt
haben, Gewalt gegen Frauen in den Entwicklungsländern nicht nur nicht zu akzeptieren, sondern sie auch anzuprangern und durch Programme zu bekämpfen. Wenn
man sich unseren Antrag anschaut, sieht man, was wir
wollen: zum Beispiel vonseiten des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einen Gender-Aktionsplan, der mit der Europäischen
Union abgestimmt ist, damit wir die Frauen in den Entwicklungsländern in allen Bereichen, in der Wirtschaft,
in der Politik, gemeinsam voranbringen.
({2})
Offensichtlich hat dieses Thema, Gender, eine besonders aggressiv machende Wirkung, insbesondere bei
Männern der Koalition. Herr Brüderle, dass Sie sich überhaupt hierherwagen, ist eine unglaubliche Geschichte.
({3})
Ich habe mir sagen lassen, dass Herr Kauder und Sie
nicht bereit waren, eine Gender-Strategie mitzutragen,
weil Gender etwas ist, was man eigentlich nicht versteht.
({4})
Frau Kollegin Roth, wenn es so wäre, würde das aber
sein Recht des Zutritts zum Plenarsaal nicht aushebeln.
({0})
Herr Präsident, ich schlage vor: Denken Sie über ein
solches Verbot nach.
({0})
Frau Bär, Sie haben gesagt, Sie wollten in 2013 nicht
noch einmal eine Rede halten müssen, in der Sie Gleiches beklagen müssten. Ich gebe Ihnen recht. Ich bin sicher, dass die Kolleginnen in den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP in den nächsten zwölf Monaten noch
viel Überzeugungsarbeit leisten werden, um die Herren
ihrer Fraktionen und ihrer Parteien davon zu überzeugen, dass Gender bedeutet, dass Frauen überall den gleichen Zugang zu allen Positionen, zu allen Möglichkeiten
in Schule, Beruf und Ausbildung usw. haben. Wenn sie
das nicht wollen, dann kann man ihnen nicht helfen.
Aber dann müssen sie wirklich darüber nachdenken, ob
sie eigentlich noch auf der Höhe der Zeit sind. Ich würde
sagen: Das sind sie nicht.
({1})
Jetzt zum guten Schluss. Wir haben im Bereich der
Entwicklungspolitik gemeinsam sehr viel vor. Ich muss
sagen: Eines hat mich ein bisschen gestört, nachdem ich
den Antrag 17/8903 heute Morgen auf meinen Schreibtisch bekommen hatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen
der Regierungsfraktionen, ich danke Frau Pfeiffer und
Frau Wöhrl und ich danke Frau Dr. Christiane RatjenDamerau dafür, dass sie diesen Antrag unterschrieben
haben. Normalerweise müssten Sie, Herr Brüderle, Herr
Kauder und Frau Hasselfeldt es sein, die einen solchen
Antrag unterschreiben; aber sie haben es nicht getan.
Das ist schade; das ist zu bedauern. Wir lassen uns aber
nicht auseinanderdividieren. Dieser Antrag ist so gut,
dass er umgesetzt werden muss. Ich gehe davon aus,
dass uns dieses Parlament in dieser Frage unterstützt, damit wir in der Entwicklungspolitik einen Schritt weiterkommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nun erhält die Kollegin Ratjen-Damerau für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen
und Herren! Frau Roth, ich greife nur kurz auf, was Sie
gesagt haben, und möchte mich bei Herrn Brüderle bedanken, dass er heute gekommen ist und sich meine
Rede zu dem von mir unterzeichneten Antrag anhört.
Herzlichen Dank, Herr Brüderle!
({0})
Die Bundesministerin hat es schon erwähnt: Ich war
gestern mit einigen Kollegen in Tunesien.
({1})
- Herr Brüderle, jetzt wollen wir uns auf diesen Antrag
konzentrieren.
({2})
Das geht alles zulasten meiner Redezeit, Herr Brüderle.
({3})
Kollegen und ich waren gestern mit der Bundesministerin in Tunesien. Wir sprachen dort mit Frauen, ohne
die die Revolution in Tunesien nicht möglich gewesen
wäre. Diese Frauen haben mutig und stark in das revolutionäre Geschehen eingegriffen. Sie sind bei Diskussionen vertreten und schreiben Manifeste. Sie haben auch
jetzt noch eine starke Stimme und setzen sich für die
Rechte der Menschen, insbesondere für die Chancengleichheit der Frauen, ein.
({4})
Ich muss sagen: Ich war sehr beeindruckt von den jungen Frauen, die gut ausgebildet und mutig sind und über
das Internet ihre Meinungen und ihre Freiheitsgedanken
verbreiten.
Faire Chancen für Frauen sind die Voraussetzung für
Frieden, Sicherheit und Wohlstand in einer Gesellschaft
und in der gesamten Welt. Frauen sind der Schlüssel der
Entwicklung von Gesellschaften. Dort, wo Frauen weitgehend gleichberechtigt leben können, entwickeln sich
Gesellschaften schneller. Das Wirtschaftswachstum
nimmt zu, und die Armut wird verringert.
Die Weltbank hat nachgewiesen, dass Länder, in denen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei
Erziehung, Beschäftigung und Eigentumsrechten gering
sind, weniger Probleme mit Unterernährung und Kindersterblichkeit haben. Die Wirtschaft dieser Entwicklungsländer wächst schneller, und sie werden verantwortungsvoller regiert.
Verbesserte Bildungs- und Lebenschancen für Frauen
tragen außerdem zu einer bewussten Familienplanung
und zu einer Verminderung des Bevölkerungswachstums
bei. Außerdem ist bewiesen, dass von Frauen erarbeitetes Geld zu einem größeren Teil der Familie zugutekommt als das von den Männern erarbeitete Geld.
Doch Frauenrechte sind nicht nur ein volkswirtschaftlicher Faktor oder eine Frage des Wirtschaftswachstums.
Die Forderungen und Ansprüche der Frauen sind ein unverzichtbares und völkerrechtlich verankertes Menschenrecht. Es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen in
Entwicklungsländern dieselben Rechte - im Familienrecht, im Landrecht, im Scheidungsrecht oder im Erbrecht - besitzen. Es müsste selbstverständlich sein, dass
ihre körperliche Gesundheit und Unversehrtheit genauso
wertvoll sind wie die der Männer.
({5})
Und es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen die
gleichen Möglichkeiten und Chancen haben wie Männer.
Doch 70 Prozent der extrem armen Menschen sind
Frauen, und zwei Drittel dieser Personen sind Analphabeten. Die Gesundheit und die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen in vielen Teilen der Welt werden wenig
geachtet. Jede Minute stirbt eine Frau an den Folgen einer zum Teil ungewollten Schwangerschaft oder Geburt.
Frauen besitzen in den Entwicklungsländern nur 2 Prozent der Landfläche, und sie besetzen weltweit nur
17 Prozent der Parlamentssitze. Diese Beispiele zeigen,
dass wir zwar einen weltweiten Konsens über die Bedeutung der Frauen haben, dieser aber noch nicht zu einem
umfassenden Wandel bei den Rechten und Möglichkeiten geführt hat.
Daher fordern wir, die Entwicklungspolitikerinnen
der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der Grünen, in unserem interfraktionellen Antrag, dass die Bundesregierung die Weltgemeinschaft noch stärker als bisher bei
der Umsetzung der Ziele auf dem Weg zur Gleichberechtigung von Mann und Frau unterstützt
({6})
und dass sie bei der Auswahl ihrer Instrumente in der
Entwicklungspolitik darauf achtet, dass diese auf
Gleichberechtigung hinwirken und die Belange der
Frauen und Mädchen eine angemessene Berücksichtigung finden.
({7})
Wir fordern außerdem unsere Partnerländer auf, dass sie
Verantwortung übernehmen, ihrer Verantwortung gerecht werden und insbesondere den weiblichen Teil ihrer
Bevölkerung vor Gewalt und Ungerechtigkeit schützen.
Uns allen ist gerade am Weltfrauentag schmerzlich
bewusst, dass viele Frauen und Mädchen noch immer an
Unterdrückung und Diskriminierung leiden. Für mich ist
es daher besonders wichtig, dass wir diesen Antrag nicht
als Regierungskoalition, sondern als Entwicklungspolitikerinnen über die Fraktionsgrenzen hinaus stellen, dass
wir uns mit den Frauen in den Entwicklungsländern solidarisch zeigen und dass wir zusammenarbeiten, wenn es
darum geht, uns für alle Mädchen und Frauen in der
Welt einzusetzen.
An dieser Stelle danke ich ganz besonders meinen
Kolleginnen Sabine Weiss, Ute Koczy und Frau Roth für
die tolle, sehr kollegiale und nette Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Nadine Schön
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Bild der tunesischen Revolution ist das Bild einer jungen
Frau auf den Schultern eines jungen Mannes inmitten
der protestierenden Menschenmenge, in ihren Händen
ein Transparent. Das Bild der tunesischen Revolution ist
weiblich. Das haben uns gestern die Aktivistinnen in Tunis deutlich gemacht. Der Stolz und die Überzeugung
der tunesischen Frauen, für die richtige Sache gekämpft
zu haben, waren bei unseren Gesprächen gestern deutlich zu spüren.
Was aber auch zu spüren und wirklich mit Händen zu
greifen war, war Angst: Angst vor der Gefahr des Rückschritts, gerade jetzt in der Phase der Transformation in
Tunesien, Angst davor, dass im neuen tunesischen
Nadine Schön ({0})
Rechts- und Verfassungssystem die Scharia gelten
könnte und Frauenrechte hintangestellt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr bewusst wurde
mir bei diesen Gesprächen am Vortag des Weltfrauentags: In keinem Land der Welt ist Gleichberechtigung
erreicht. Auch im Jahr 2012 kämpfen überall auf der
Welt Frauen um Gleichberechtigung und Partizipation.
Nirgends ist das Erreichte sicher.
({1})
Deshalb finde ich es gut, dass wir heute neben der
nationalen Perspektive auch einen Antrag mit der globalen Perspektive beraten. Liebe Kollegen, auch wenn Sie
sich eben darüber lustig gemacht und das bagatellisiert
haben: Uns ist es nicht egal, wie es den Frauen in der
Welt ergeht, und deshalb reden wir heute sowohl über
das Nationale als auch über das Globale.
({2})
Deutschland spielt eine wichtige Rolle in der globalen
Gleichstellungspolitik. Wir sind ein anerkannter und respektierter Partner für viele Länder bei Projekten, zum
Beispiel auch bei der neuen Organisation UN Women.
Deshalb bekennen wir uns mit diesem Antrag gerade
auch zu unserer Verpflichtung gegenüber dieser Organisation, sowohl finanziell als auch organisatorisch. Das
ist am heutigen Tag ein starkes Zeichen.
Wir sind international auch Vorbild: Vorbild mit unserer modernen Methode, mit unserem modernen Ansatz
in der Gleichstellungspolitik, nämlich der Gleichstellungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive.
({3})
Lebensverlaufsperspektive heißt: Wir richten unsere
Gleichstellungspolitik nicht an Momentaufnahmen aus
und schon gar nicht nach einem einzigen Praktikumstag
in einem Frauenberuf. Wir betrachten die langfristigen
Folgen von Lebensentscheidungen von Frauen und Männern. Allzu oft - das zeigt auch der Gleichstellungsbericht - haben von Frauen und Männern gemeinsam
getroffene Entscheidungen im Lebensverlauf einseitig
negative Auswirkungen auf Frauen, so etwa beim
Thema Entgeltungleichheit oder auch bei der Rente.
Deshalb ist das gezielte Betrachten der konkreten
Lebensverlaufsperspektive wichtig, wenn es darum geht,
die richtigen Maßnahmen zu treffen.
({4})
Bisher können wir bei den Themen Entgeltgleichheit
und Rentensituation nicht zufrieden sein.
({5})
Wir können auch mit der politischen Partizipation auf
allen Ebenen nicht zufrieden sein. „Wer nervt mehr als
Claudia?“ ist eine wirklich gute Aktion der Grünen.
Wir können auch mit dem Anteil von Frauen in Führungsetagen der Wirtschaft nicht zufrieden sein - ein
Thema, das gerade in den letzten Tagen wieder intensiv
diskutiert wird. Wir müssen uns zusammen mit der Wirtschaft doch ehrlich fragen, ob wir wirklich die Europäische Union brauchen, um in Deutschland zu mehr
Frauen in Führungspositionen zu kommen.
({6})
Wir müssen uns zusammen mit der Wirtschaft fragen,
wie attraktiv wir eigentlich für ausländische weibliche
Fachkräfte sind, wenn sie in den Führungsetagen der
deutschen DAX-Unternehmen nur geschlossene Systeme, nahezu ohne Frauen, vorfinden. Wie attraktiv sind
eigentlich technische Berufe, wenn es keine weiblichen
Vorbilder gibt? Welche Signale senden wir an Frauen
meiner Generation, die motiviert ins Berufsleben starten? Ich will nicht, dass meine Generation die nächste
ist, die an der gläsernen Decke hängen bleibt. Ich will,
dass Politik und Wirtschaft das Thema Frauen in Führungspositionen noch heute angehen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles das sind
Punkte, bei denen wir wirklich unzufrieden sind, was wir
am heutigen Weltfrauentag auch artikulieren sollten.
Was wir aber nicht machen sollten und was uns wirklich
keinen Schritt weiterbringt, ist, gegenseitige Beschimpfungen, Diffamierungen und die Unterstellung auszusprechen, es würde uns nicht um die Rechte der Frauen
gehen, wie wir das heute wieder in vielen Reden erlebt
haben. Um den richtigen Weg in der Sache kann man
streiten, aber gegenseitige Diffamierungen sind garantiert der falsche Weg.
({8})
Der zweite Fehler, den wir nicht machen sollten, ist,
das Erreichte als selbstverständlich zu nehmen. Wir
haben in den vergangenen Jahren viel erreicht, etwa bei
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch beim
Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt und - ganz
aktuell im letzten Jahr - vor Zwangsheirat.
Wir haben weitere Verbesserungen erarbeitet, etwa
das Chancengleichheitsgesetz, das bundesweite Hilfstelefon - ein ganz wichtiges Thema für Frauen in Not und auch Partizipationsmöglichkeiten in allen Bereichen
geschaffen. Wir sind an vielen Punkten dran, und auch
das sollte am heutigen Tag erwähnt werden.
({9})
An einem Tag wie dem Weltfrauentag sollten wir die
Punkte nennen, bei denen wir unzufrieden sind; wir sollten aber auch die Erfolge benennen, und wir sollten die
Erfolge nie für selbstverständlich halten, sei es hier in
Deutschland, in Tunesien oder weltweit. Das ist mein
Anliegen am heutigen Weltfrauentag. Deshalb danke ich
an dieser Stelle allen, die sich beruflich, ehrenamtlich
oder einfach tagtäglich im Alltag dafür einsetzen, dass es
mehr Gleichberechtigung in Deutschland gibt.
Herzlichen Dank an Sie alle.
Nadine Schön ({10})
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Sozialdemokratie war immer auch international
aufgestellt. Eines der wichtigsten Ziele der politischen
Arbeit von August Bebel war, gegen Vorurteile zu kämpfen, die der vollen Gleichberechtigung der Frau entgegengestanden haben. Er hatte vor 133 Jahren recht, und
er hat es heute leider immer noch. Das zeigen uns die
jährlichen Debatten um den Internationalen Frauentag.
Von der Ministerin habe ich diesbezüglich leider wenig
gehört. Ich frage mich: Wie will sie Gleichstellung
umsetzen? Welche Rezepte bietet sie an? Das hätte sie
uns heute sagen müssen.
({0})
Die Internationalen Frauentage haben regelmäßig
zwei Schwerpunkte: auf der einen Seite der Kampf
gegen die Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben
und im gesellschaftlichen Leben und auf der anderen
Seite die Situation von Frauen, die Opfer von Gewalt
geworden sind. Zum ersten Themenbereich ist schon
viel gesagt worden. Ich kann meinen Vorrednerinnen,
die sich gegen strukturelle Benachteiligung ausgesprochen haben, die dagegen kämpfen und sich zum Beispiel
für ein generelles Gleichstellungsgebot in der Privatwirtschaft einsetzen, für ihre Aussagen, die über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen werden sollten, auch aus
menschenrechtlicher Sicht nur gratulieren und sie darin
bestärken.
Chancengleichheit durch Bildung und der Anspruch
auf gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit sind
weltweit Fundamente, auf die sich das Selbstbewusstsein von Frauen gründet. Dieses Selbstbewusstsein und
die Stärke brauchen Frauen auf der ganzen Welt, um
einen Platz im Leben zu finden und ihn zu verteidigen.
Besonders perfide ist es, dieses Selbstbewusstsein zu
brechen. Da bin ich beim Thema Gewalt gegen Frauen.
Hier bin ich bei vielen anderen Bereichen, die in diesem
Zusammenhang mit der schlechten Situation von Frauen
angesprochen werden müssen.
Eine Bemerkung zu der Reise nach Tunis: Man hätte,
denke ich, wie wir es im Menschenrechtsausschuss
immer getan haben, die Gespräche vor der Revolution
führen müssen und nicht erst danach.
({1})
Gewalttätiges Vergehen an Frauen ist zum Beispiel
seit Urzeiten ein brutales Mittel, den Kriegsgegner zu
demütigen. Diese Art der Kriegsführung gab es in den
Weltkriegen - dokumentiert zum Beispiel in der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ - und auch in den
Bürgerkriegen der letzten Jahrzehnte.
Ich möchte die Debatte zum Anlass nehmen, auf eine
Gruppe von Frauen aufmerksam zu machen, die bis heute
um ihre Anerkennung und ihre Ehre kämpft, nämlich die
sogenannten Trostfrauen. Sie sind heute über 80 Jahre alt.
Im Zweiten Weltkrieg waren sie junge Mädchen, die
jüngsten waren elf, zwölf Jahre alt. Die Japaner, Verbündete Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, haben sie aus
einer Reihe von asiatischen Ländern verschleppt. Sie
mussten in Militärbordellen japanischen Soldaten dienen.
Zu dem körperlichen Leid kam die Scham. Erst im Jahre
1992 haben diese Frauen es gewagt, an die Öffentlichkeit
zu treten. Seit 20 Jahren bemühen sie sich um Anerkennung, Wiedergutmachung und eine offizielle Entschuldigung. Ich denke, der Mut ist bewundernswert. Ich kann
die Bundesregierung nur auffordern, auf die japanische
Regierung einzuwirken - 67 Jahre nach dem Ende des
Krieges -, allen überlebenden Frauen Entschädigungen
zu zahlen und die staatlichen Archive für eine transparente, öffentliche Aufarbeitung zu öffnen. Ich bin sicher,
auch die UN-Sonderberichterstatterin für sexuelle
Gewalt gegen Frauen in Konflikten wäre Ihnen, liebe
Bundesregierung, für eine solche Initiative sehr dankbar.
({2})
Noch eine Anmerkung an Herrn Döring - er hat uns
schon verlassen, vielleicht können Sie ihm das ausrichten -: Die Frauenquote der FDP-Fraktion beträgt
24,7 Prozent - für den Fall, dass die Frage noch einmal
gestellt wird und er sie nicht beantworten kann.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({3})
Sabine Weiss hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Lassen Sie uns
Frauen das Gemeinsame suchen“; Kollegin Ziegler, das
haben Sie gegen Ende Ihres Beitrags heute gesagt. Dies
geht aber nicht - das hat auch meine Vorrednerin, Frau
Schön, betont - mit gegenseitigen und zum Teil unhaltbaren Vorwürfen. Wenn Sie in diesem Zusammenhang
unsere Bundeskanzlerin erwähnen, möchte ich hier einmal deutlich und klar sagen: Wir können doch froh und
stolz sein, dass wir mit ihr eine Frau an unserer Spitze
haben, die sich für unser Land gerade gegen die Männer
in dieser Welt durchsetzt.
Sabine Weiss ({0})
({1})
An die Kolleginnen der Linken auch von mir eine
kleine Anmerkung: Wenn Sie heute Ihre Männer von der
Debatte ausschließen oder zum Friseur schicken,
({2})
dann hat das nichts mit Gleichstellung zu tun. Das ist
nicht unser Ansatz. Das wollen wir nicht, und schon gar
nicht uniformiert, ob mit lila Schal oder anderswie.
({3})
Heute haben wir den Internationalen Frauentag; und
als Entwicklungspolitikerin möchte ich im Rahmen dieser Debatte einen Blick auf die armen Länder dieser
Erde werfen. Frauen in vielen Teilen dieser Welt können
von dem, was wir hier mittlerweile erreicht haben, nur
träumen. Armut, Bildungs- und Chancenlosigkeit sowie
Krankheit haben in vielen Teilen der Welt ein überwiegend weibliches Gesicht. Welche Chancen ein dort geborener Säugling bekommen wird, entscheidet sich viel zu
häufig dadurch, welche Gene er hat: xx oder xy, also
Mädchen oder Junge. Besonders dramatisch ist die Situation von behinderten Frauen, denen wir deutlich mehr
Aufmerksamkeit und Unterstützung schenken müssen.
({4})
Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, und ohne die
Beteiligung von Frauen ist nirgendwo ein Staat zu
machen. Die Benachteiligung von Frauen wird oft ausschließlich mit Kultur und Tradition begründet.
Ich möchte hier und heute auf einen Aspekt eingehen,
der mir besonders am Herzen liegt - eine Menschenrechtsverletzung, die so grausam ist, dass ich nie müde
werde, sie überall und immer wieder anzuprangern: die
weibliche Genitalverstümmelung. 150 Millionen Frauen
weltweit sind genitalverstümmelt. Unter der Entfernung
der äußeren Geschlechtsorgane leiden die Frauen ein
Leben lang, körperlich und seelisch, wenn sie überhaupt
überleben.
Die Genitalverstümmelung ist in etlichen Entwicklungsländern nicht unter Strafe gestellt; in anderen steht
sie offiziell unter Strafe, wird jedoch nicht verfolgt. Die
Tradition ist alt, und nach wie vor herrscht in etlichen
Ländern die Einstellung, dass nur eine beschnittene Frau
eine gute Frau ist. Ich kann und will mich nicht damit
abfinden, dass weiterhin 3 Millionen Mädchen pro Jahr
diese Tortur erleiden müssen.
({5})
Wir müssen weitere Maßnahmen gegen diese unsägliche
Praxis vorantreiben. Dazu gehört es zum Beispiel auch,
Beschneiderinnen dabei zu unterstützen, ein anderes
Auskommen zu finden und unsere Partnerländer in der
Implementierung einer Ächtung der Genitalverstümmelung zu beraten.
Wir senden mit unserem Handeln in Deutschland Signale an die Frauen in den Entwicklungsländern aus.
Wenn man in Deutschland beispielsweise die Genitalverstümmelung mit einem eigenen Straftatbestand unter
Strafe stellen würde, wäre das meines Erachtens ein
wichtiges gesellschaftspolitisches Zeichen und auch ein
Signal für die Entwicklungsländer, in denen Genitalverstümmelung eben nicht unter Strafe steht.
({6})
Ich freue mich, dass wir heute am Weltfrauentag
einen überfraktionellen Antrag zum Thema „Gleichberechtigung in Entwicklungsländern voranbringen“
präsentieren können; denn dies zeigt, wie wichtig dieses
Thema für uns alle ist, und auch, wie sehr uns die Situation der Frauen und Mädchen am Herzen liegt. Gleichstellung - oder wie immer man es auch nennen mag - ist
immer ein Schlüsselthema, hier bei uns und in aller Welt.
Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, nicht hier und
auch sonst nirgendwo auf dieser Welt.
({7})
Ich kann für mich, für viele Frauen, aber auch für viele
Männer sagen: Was immer auch nötig ist, um die Lebensbedingungen von Frauen in Entwicklungsländern
ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken - wir sind
dabei.
Herzlichen Dank.
({8})
Erika Steinbach ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Weltfrauentag ist natürlich auch immer Anlass, auf das
spezifische Leid von Frauen hinzuweisen. Frau Kollegin
Graf hat vorhin zu Recht darauf hingewiesen, dass es japanische Bordelle gegeben hat, in denen 100 000 bis
200 000 Frauen zur Prostitution gezwungen worden
sind. Der größte Teil der Opfer waren Koreanerinnen.
Sie stammten aber auch aus anderen Ländern, aus China,
Taiwan, den Philippinen, Indonesien, aber auch aus Japan selbst. Das Leid dieser Frauen ist wirklich unermesslich. Viele starben an den Folgen von Krankheit,
Folter und Hunger oder durch Erschöpfung. Die Frauen,
die diese Hölle der Zwangsbordelle überlebt haben,
überstanden häufig das Nachfolgende nicht: Sie fühlten
sich voller Scham und Schande und nahmen sich selbst
das Leben.
Die Angehörigen der Toten wie die Überlebenden
brauchen unser Mitgefühl. Aber, Frau Kollegin Graf, eines dürfen wir nicht übersehen - wir dürfen die Augen
davor nicht verschließen -: Weltweit wurde und wird leider auch heute noch das Mittel der Vergewaltigung als
Kriegsmittel eingesetzt. Die sexuelle Gewalt gegen
Frauen nahm in den Kriegen des 20. Jahrhunderts erschreckende Ausmaße an. Es ist nicht nötig, nach Asien
zu schauen: Stalins Rote Armee
({0})
hat weit mehr als 2 Millionen Frauen, Mädchen und Kinder vergewaltigt, Baltinnen, Polinnen, Deutsche, Ungarinnen, Ukrainerinnen, russische Zwangsarbeiterinnen.
Allein in Budapest sollen nach Einmarsch der Roten Armee Schätzungen zufolge 100 000 Frauen vergewaltigt
worden sein. Man schätzt die Zahl der deutschen vergewaltigten Frauen auf etwa 1,9 Millionen. Nur sind die
Zahlen gar nicht exakt zu benennen, weil sehr viele
Frauen nicht darüber reden können. Es gelingt ihnen
nicht, dieses Trauma abzuschütteln.
In den 90er-Jahren mussten wir auf dem Balkan fassungslos beobachten, dass diese Pest der Kriegsführung
immer noch vorhanden ist. Afrika ist heute ein beredtes
Beispiel dafür, was sich auf diesem Felde abspielt. Die
Opfer werden traumatisiert. Damit trifft man die Menschen, aber auch die Seele eines jeden Volkes.
Die Menschenrechtsverletzungen an den „Trostfrauen“ - so werden die japanischen Opfer genannt sind mit Entschädigungszahlungen alleine in keiner
Weise zu heilen. Die Aufarbeitung, die in Japan inzwischen beginnt, muss innerhalb der japanischen Gesellschaft erfolgen. Aber, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, ausgerechnet zum ersten Jahrestag der japanischen Erdbebenkatastrophe mit dem nachfolgenden Tsunami und 15 000 Toten bringen Sie einen
Antrag ins Plenum ein, der dieses schwer geschlagene
Land wegen eines Vergehens aus der Mitte des 20. Jahrhunderts an den Pranger stellt. Ich finde das absolut instinktlos, weil es dabei um ein generelles Thema geht; es
ist kein spezifisch japanisches Thema. Suchen Sie sich
einen anderen Zeitpunkt aus!
({1})
Eines müssen wir auch sehen: Die Mahnungen an Japan sind wohlfeil, solange man die Augen davor verschließt, in welchen unvorstellbaren Dimensionen auf
unserem europäischen Kontinent Massenvergewaltigungen als Mittel der Politik und der Kriegsführung eingesetzt worden sind. Nichts davon ist aufgearbeitet.
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, fordern Sie doch Ihren Exbundeskanzler Gerhard Schröder auf, zu seinem Lupenreinen-Demokraten-Freund Putin zu gehen und ihn zu bitten, die
Gräuel der Roten Armee an Frauen, Mädchen und Kindern aufzuarbeiten und sich zu entschuldigen. Dann tun
Sie ein gutes Werk.
({2})
Ich biete Ihnen aber gerne an, dass wir unter den
Fraktionen einen gemeinsamen Antrag zu dieser Gesamtthematik machen. Das alleine auf Japan zu fokussieren, finde ich zu diesem Zeitpunkt schlichtweg unanständig.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8879, 17/8789, 17/8897 und
17/6240 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8903 mit dem
Titel „Gleichberechtigung in Entwicklungsländern voranbringen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Antrag ist
mit breiter Mehrheit angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 3 f geht es um die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Geschlechtergerechte Besetzung von Führungspositionen der Wirtschaft“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/8830, diesen Antrag
der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein Jahr Fukushima - Die Energiewende muss
weitergehen
- Drucksache 17/8898 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auch hier ist interfraktionell eine Debattenzeit von
90 Minuten vorgesehen. - Offenkundig gibt es darüber
Einvernehmen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Sonntag jährt sich eine dreifache Katastrophe. Ein Erdbeben
und ein Tsunami zerstörten weite Teile der Küste Japans.
20 000 Menschen kamen ums Leben. Mehrere Tausend
Menschen sind bis heute vermisst. Unsere Gedanken
sind an diesem Tag bei den Opfern und ihren Angehörigen.
Das Erdbeben und der Tsunami haben nicht nur
Schiffe an Land gespült, sondern auch sechs Reaktoren
bei Fukushima so beschädigt, dass man sie nicht mehr
unter Kontrolle bekam. In mindestens drei dieser Reaktoren kam es zur Kernschmelze. Wir haben es mit einem
dreifachen Super-GAU zu tun. Das Undenkbare, das Unvorstellbare trat ein.
Ein Jahr nach dieser Katastrophe leben heute noch
320 000 Menschen in Notunterkünften. Nur der allerkleinste Teil von 23 Millionen Tonnen Schutt konnte bisher geräumt werden. Viele Kommunen weigern sich, den
Schutt auf ihre Deponien zu nehmen, weil sie fürchten,
er sei radioaktiv verseucht.
Die dreifache Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami
und Super-GAUs brachte unendliches Elend und Leid.
Sie brachte aber nicht nur Leid, sondern war auch eine
ökonomische Katastrophe. Die Münchener Rück beziffert die Schäden auf 210 Milliarden Euro und spricht von
der größten Naturkatastrophe überhaupt.
Fukushima war auch eine ökologische Katastrophe.
Das Norwegian Institute for Air Research hat errechnet,
dass die in Fukushima freigesetzte Menge an Radioaktivität die größte zivile Freisetzungsmenge in der Geschichte der Menschheit war.
Und was war die Reaktion? Die Betreiberfirma Tepco
und die japanische Regierung reagierten so wie immer,
wenn es um Atomkraft geht, und von einem solchen Verhalten in Deutschland konnten wir erst heute Morgen leider wieder bezüglich der verrosteten Atommüllfässer in
Brunsbüttel lesen. Es wird verschwiegen und abgewiegelt. Die Folge in Japan war: Es wurde zu spät und viel
zu zögerlich evakuiert. Bis heute sind weite Teile des
Landes radioaktiv verseucht. Das gilt nicht nur für die
unmittelbare Nachbarschaft, auch in der Millionenstadt
Tokio haben wir Werte, die eine Belastung aufzeigen.
Das Verschweigen und Beschönigen geht bis heute
weiter. Menschen wird versprochen, sie könnten zurückkehren, dabei ist derzeit gerade mal ein Reaktor notdürftig mit einem Zelt abgedeckt. Nach wie vor tritt Radioaktivität aus. Die Katastrophe ist einfach nicht vorbei.
Überall noch werden Lebensmittel verkauft, die selbst
die nach oben manipulierten Grenzwerte überschreiten.
Wann und wie mit dem Rückbau begonnen wird, ist
ungewiss. Sie müssen sich klarmachen: Mit dem Rückbau des Reaktors Three Miles Island in den USA konnte
erst 30 Jahre nach der Katastrophe überhaupt begonnen
werden. Von einer baldigen Rückkehr der Menschen
kann also leider nicht die Rede sein.
Fukushima hat die Einstellung der Menschen zur
Atomkraft weltweit verändert. Italien lehnte in einem
Volksentscheid den Einstieg in die Atomenergie ab, in
der Schweiz wurde ein Neubauverbot beschlossen, und
selbst in Frankreich gibt es in Umfragen Mehrheiten gegen den Neubau von Atomkraftwerken. In Japan liefern
gerade einmal zwei der 54 Atomkraftwerke Strom; der
Rest wurde vom Netz genommen, weil sich niemand
traut, die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Die Katastrophe traf in Deutschland eine Regierung
im atompolitischen Blindflug. Sie hatte gerade beschlossen, die Laufzeiten über 2040 hinaus zu verlängern.
Durch Fukushima wurde die Bundesregierung von der
Anti-AKW-Bewegung, von Grünen, von Sozialdemokraten und von Linken gezwungen, eine Halse in der
Atomenergiepolitik hinzulegen; sie musste in voller
Fahrt die Richtung wechseln. Sie haben vor knapp einem
Jahr die acht ältesten Kraftwerke stillgelegt. Sie wollen
bis 2022 aussteigen. Das rot-grüne Ausstiegsgesetz
wurde reaktiviert.
In Deutschland gibt es jetzt einen Konsens über den
Ausstieg. Ich sage sehr deutlich: Das ist gut so, und wir
begrüßen das.
({0})
Aber wir haben in Deutschland noch keine Energiewende; vielmehr sind wir an manchen Stellen Zeuge einer schwarz-gelben Konterrevolution gegen die Energiewende.
({1})
Wer die Energiewende wirklich will, der muss für den
Ausbau erneuerbarer Energien, für mehr Energieeffizienz und für Energieeinsparung sorgen. Aber was tun
Sie? Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien
durch Ihre EEG-Novelle abwürgen.
({2})
Sie blockieren seit einem Jahr ein verbindliches Energieeffizienzziel der EU von 20 Prozent, obwohl Ihre eigene
Kanzlerin dieses Ziel in der EU durchgesetzt hat. Sie
sind dagegen, dass das, was die Bundeskanzlerin durchsetzt, in Europa verbindlich wird. Sie verweigern ein europäisches, ambitioniertes Klimaschutzziel von 30 Prozent bis 2020. Die Folge sind billige CO2-Zertifikate und
ein Wiederanstieg des Ausstoßes von CO2 aus Braunkohlekraftwerken. Das nenne ich eine energiepolitische
Bankrotterklärung.
({3})
Sie zerstören Investitionssicherheit. Erst treiben Sie
den Strompreis nach oben, indem Sie die Energieverschwendung in Großbetrieben durch Haushalte und
kleine Handwerksbetriebe subventionieren lassen. Als
Sie dann feststellen müssen, dass die Preise sehr stark
gestiegen sind, behaupten Sie, dass Sie das EEG novellieren müssen. Die Wahrheit ist: Ohne diese Beschlüsse
wäre die EEG-Umlage gesunken und nicht gestiegen.
Der Preistreiber im Erneuerbare-Energien-Gesetz ist
nicht der Bereich der erneuerbaren Energien, er heißt
schlicht und ergreifend Rösler.
({4})
Lieber Kollege Kauch, Sie behaupten, es ginge Ihnen
um den Preis bzw. die Kostendämpfung. Wenn das so ist,
dann frage ich mich: Warum senken Sie besonders den
Anteil der preiswertesten Form der Energieerzeugung
durch Photovoltaik auf Freiflächen ab? Nein, es geht Ihnen nicht um den Preis. Sie wollen am Ende den Einspeisevorrang für erneuerbare Energien abschaffen. Deswegen gibt es nicht mehr 100 Prozent Einspeisung. Sie
wollen schlicht und ergreifend mehr Strom von RWE
und Eon. Sie wollen mehr Strom aus Kohlekraftwerken
statt mehr Strom aus Wind und Sonne im Netz haben.
Das ist Ihr Plan.
({5})
Mit dem Atomausstieg hat Deutschland den richtigen
Weg eingeschlagen. Die Welt schaut auf dieses Land.
Wir müssen hier zeigen, dass wir in der Lage sind, die
Energieerzeugung eines großen, wichtigen Industrielandes auf eine erneuerbare, effiziente und sparsame Basis
zu stellen. Dafür brauchen wir mehr als den Ausstieg.
Dafür brauchen wir die Energiewende. Sie gefährden
diese Energiewende durch das Desinteresse des Umweltministers, durch die aktiven Bemühungen des froschfressenden Teils Ihrer Koalition.
({6})
Die Energiewende ist machbar: mit einem konsequenten Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien, mit
Investitionen in Speicher und Netze, mit Energieeinsparung und mit verbindlichen Energieeffizienzzielen.
Diese Lehre aber haben Sie aus Fukushima noch zu
ziehen.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Paul für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
11. März des letzten Jahres, 14.46 Uhr Ortszeit, gab es
vor der Küste Japans, 130 Kilometer vor Sendai, ein
Erdbeben mit der Stärke 9,0 auf der Richterskala. Das
war eines der stärksten Erdbeben, das jemals gemessen
wurde. Circa eine Stunde später traf eine Tsunamiflutwelle auf das Festland, zwischen 7 und 15 Meter hoch.
Über 15 800 Menschen starben, 3200 werden noch heute
vermisst. Über 6000 Menschen wurden infolge des
Erdbebens und des Tsunamis verletzt. Über 350 000
Menschen verloren ihr Heim, davon 80 000 im Umkreis
des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi. Große Flächen
sind immer noch kontaminiert, radioaktiv belastet. Das
sind die schrecklichen Folgen des 11. März 2011 in
Japan. Im Namen meiner Fraktion spreche ich dem japanischen Volk unser tief empfundenes Mitgefühl für das
erlittene, unendliche Leid aus.
({0})
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen halte ich es auch
heute, ein Jahr später, für unangemessen, die Ereignisse
in Japan allein auf den Reaktorunfall in Fukushima und
den Kernenergieausstieg hierzulande zu reduzieren.
Heute, ein Jahr später, wissen wir: Im Kernkraftwerk
Fukushima lagen Meerwasserpumpen zur Kühlung der
Reaktorblöcke samt elektrischem Antrieb nur 5 Meter
über dem Meeresspiegel. Auch die Dieselgeneratoren
für den Notstrom für alle Blöcke der Anlage Fukushima
lagen im selben Raum nebeneinander, ebenfalls nur
5 Meter über der Wasserlinie. Die Türen des Reaktorgebäudes waren nicht gegen eindringendes Wasser gesichert, sodass die Pumpen und Generatoren ausfielen, als
sie überflutet wurden, was letztlich dazu führte, dass es
zur Kernschmelze in drei Blöcken des Kraftwerkes kam.
Heute wissen wir: Es gab in den letzten 510 Jahren allein 16 Tsunamis mit über 10 Meter Wellenhöhe. Das
heißt, statistisch tritt ein solcher Tsunami mit einer solchen Wellenhöhe in Japan etwa alle 30 Jahre auf. Die
Schutzmauer der Anlage in Fukushima war so konstruiert, dass sie einer Flutwelle von maximal nur 5,70 Meter
standhalten konnte. Es sind also massive Fehler bei der
Auslegung der Anlage gemacht worden. Um es ganz
klar zu sagen: Diese Anlage hätte so niemals an dieser
Stelle errichtet werden dürfen.
({1})
Anders als unmittelbar nach dem Beben wissen wir
heute: Hier wurden die Regeln für die erforderliche
Schadensvorsorge grob nicht eingehalten. Das hat nichts
damit zu tun, dass sich das sogenannte Restrisiko verwirklicht hat; denn „Restrisiko“ - das sagt auch das
Verfassungsgericht - heißt, dass eine der Technik innewohnende Gefahr verwirklicht wird, die vom menschlichen Erkenntnisvermögen nicht erfasst ist. Dass ein
Kernkraftwerk an der Küste des Pazifiks einem Tsunami, mit dem in dieser Gegend der Welt etwa alle
30 Jahre zu rechnen ist, standhalten muss, erschließt sich
jedem; dies geht sicher nicht über das menschliche
Erkenntnisvermögen hinaus. Mit Restrisiko hat das also
nichts zu tun.
({2})
Vor diesem Hintergrund können wir alle froh sein,
dass dort - über die fürchterlichen Folgen des Erdbebens
und des Tsunamis hinaus - radiologisch, also durch
radioaktive Strahlung bedingt, nicht mehr passiert ist. In
der letzten Woche war der langjährige Vorsitzende der
Strahlenschutzkommission, Professor Michel, bei uns im
Umweltausschuss. Auch er hat festgestellt: Durch radioaktive Strahlung gab es in Japan keine Toten und keine
Verletzten.
({3})
Auch in Zukunft, Herr Bülow, wird es weder bei der Bevölkerung noch bei den Arbeitern im Kraftwerk gesund19542
heitliche Auswirkungen durch radioaktive Strahlung geben,
({4})
vorausgesetzt die von der japanischen Regierung ergriffenen Maßnahmen werden fortgesetzt.
({5})
Dass Sie von der SPD und von den Grünen ausgerechnet das, was der langjährige Vorsitzende der Strahlenschutzkommission sagt, in Zweifel ziehen - er wurde
von Jürgen Trittin in die Kommission geholt und von
Sigmar Gabriel zum Vorsitzenden befördert -, das
spricht Bände.
({6})
Herr Kollege, es gibt eine Zwischenfrage der Kollegin Vogt. Möchten Sie diese zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Paul, wenn das alles unproblematisch ist
und kaum dramatische Folgen hat - so beschreiben Sie
es -, könnten Sie uns dann bitte erklären, wieso die Bundesregierung den Atomausstieg in der Form beschlossen
hat, wie sie ihn beschlossen hat?
Frau Vogt, das kann ich gerne tun.
({0})
Wir haben die Situation in Japan zu einem Innehalten
genutzt und uns mit der Frage beschäftigt, ob unsere
Energiepolitik so, wie wir sie angelegt haben, unter anderem im Energiekonzept von 2010, fortführbar ist. Im
Bundestag, im Bundesrat und auch in der Bevölkerung
war eine große Mehrheit der Auffassung - in diesem
Punkt war man sich einig -,
({1})
dass es keine Verlängerung der Laufzeiten - diese hatten
wir ursprünglich beschlossen - geben soll.
({2})
Spätestens im Jahre 2022 wird die Nutzung der Kernenergie zur elektrischen Energieerzeugung in Deutschland beendet sein.
Die zwei Arbeiter, deren Bilder wir vor einem Jahr im
Fernsehen gesehen haben, die Verbrühungen durch radioaktiv belastetes Kühlwasser erlitten haben, konnten
nach wenigen Wochen der Beobachtung aus dem Krankenhaus entlassen werden, da sie Gott sei Dank keine
Schäden durch radioaktive Strahlung davongetragen
haben.
({3})
- Sie müssen die Fakten zur Kenntnis nehmen.
({4})
Dass der Tsunami und das Erdbeben schreckliche Folgen
hatten, ist unbestritten. Dass wir radiologisch gesehen
unheimliches Glück hatten, steht auch außer Frage. Das
hat unter anderem damit zu tun, dass - anders als in
Tschernobyl - ein Sicherheitsbehälter vorhanden war,
der verhindert hat, dass noch mehr Strahlung ausgetreten
ist.
({5})
Wir haben in Deutschland die richtigen Schritte eingeleitet. Die Reaktor-Sicherheitskommission wurde
beauftragt, unverzüglich alle deutschen Kernkraftwerke
auf den Prüfstand zu stellen, gerade auch unter dem
Gesichtspunkt, ob unwahrscheinliche Ereignisse - auch
in einer Kombination miteinander - gefährlich werden
können. Das Ergebnis war eindeutig: Die Sicherheitsreserven deutscher Anlagen sind deutlich größer. Das
haben mittlerweile auch die Stresstests auf europäischer
Ebene bestätigt. Nicht nur Naturkatastrophen wie Erdbeben und Hochwasser wurden dabei betrachtet, sondern
auch menschlich beeinflusste Ereignisse wie Flugzeugabsturz und Terrorangriff.
Es kann also nicht davon die Rede sein, wie jetzt im
Antrag der Grünen zu lesen ist, dass die Bundesregierung zur Sicherheit laufender Anlagen nichts geliefert
hätte. Aber Sicherheit - auch das gilt es festzuhalten hört nicht an den Grenzen auf. Allein in Europa sind
über 150 Kernkraftwerke in Betrieb, weltweit sind es
über 430. An dieser Stelle sind wir uns mit den Kollegen
der Grünen einig: Das Risiko eines nuklearen Unfalls
wird nicht dadurch minimiert, dass wir Deutschland zur
kernkraftfreien Zone erklären. Auch in unseren Nachbarländern in Europa werden weiter Kernkraftwerke
betrieben und neue gebaut.
({6})
Daher begrüße ich außerordentlich, dass die Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene durchgesetzt hat - ich
bedanke mich dafür bei ihr -, dass für alle Anlagen in
Europa die Durchführung von Stresstests veranlasst
wurde.
({7})
Die Ergebnisse dieser Stresstests müssen auch in unseren Nachbarländern umgesetzt werden, und vorgeschlagene Maßnahmen müssen durchgeführt werden. Das
erhöht nicht nur die Sicherheit bei unseren Nachbarn
- Radioaktivität kennt keine Grenzen -, sondern auch
die Sicherheit bei uns.
Auch weltweit wird die Kernenergie in Zukunft eine
Rolle spielen - ob wir das gut finden oder nicht -, schon
allein deshalb, weil energiehungrige Schwellenländer
wie China, Indien, Brasilien und Südkorea nicht auf diesen Energieträger verzichten wollen.
({8})
Weil dies so ist und weil wir den Bau neuer Anlagen dort
nicht verhindern können,
({9})
halte ich es im Interesse unserer eigenen Sicherheit für
vollkommen richtig, dazu beizutragen, dass dort deutsche Technologie mit ihren anerkannten, hohen und
durch Forschung ständig weiterentwickelten Sicherheitsstandards zum Einsatz kommt.
({10})
Die beschlossene Energiewende hat eine Reihe von
Herausforderungen mit sich gebracht. Schon vorher waren unsere Ziele weltweit einmalig ehrgeizig. Wir verfolgen unter anderem das Ziel, den CO2-Ausstoß bis Mitte
des Jahrhunderts um 85 Prozent zu reduzieren.
Herr Kollege?
Ja, bitte?
Es gäbe noch eine zweite Zwischenfrage, diesmal von
der Kollegin Bulling-Schröter. Möchten Sie auch diese
Zwischenfrage zulassen?
Gern.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Dr. Paul. - Ich habe Ihre Rede
sehr aufmerksam verfolgt. Wir sind uns einig, dass
AKW - wenn wir sie schon nicht verhindern können nicht dort gebaut werden dürfen, wo es zu Erdbeben
kommt. Bald steht ja die Entscheidung der Bundesregierung zu Angra 3, einem AKW, das in einem Erdbebengebiet in Brasilien gebaut werden soll, an. Sie haben gesagt: Wir haben wenig Einfluss darauf, ob im Ausland
AKW gebaut werden oder nicht. Wir können lediglich
deutsche Technik zur Verfügung stellen. - Bald geht es
aber auch um das notwendige Geld. Eine Hermesbürgschaft steht an. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob die
Bundesregierung Ihrer Meinung nach bereit ist, zu
sagen: Wir finanzieren kein AKW, das in einem Erdbebengebiet gebaut werden soll und unsicher ist. - Die entsprechenden Studien haben sicher auch Sie in dieser Woche erhalten. Meine Frage: Wie stehen Sie dazu?
Meines Wissens hat die Bundesregierung zu diesem
Zweck Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis der
Gutachten liegt, soviel ich weiß, noch nicht vor. Die Regierung wird im Lichte der Ergebnisse der Gutachten
auch über die Hermesbürgschaften entscheiden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ein Jahr nach Fukushima ist festzustellen: Was die nuklearen Folgen angeht, sind wir Gott sei Dank mit einem
blauen Auge davongekommen. Es hätte angesichts der
Fehler, die beim Bau der Anlage gemacht worden sind,
viel schlimmer kommen können. Der beschleunigte
Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie, den die
große Mehrheit dieses Hauses und des Bundesrates beschlossen hat, hat die Herausforderungen noch größer
gemacht, als sie ohnehin schon waren. Um unser Ziel,
eine sichere, bezahlbare und umweltfreundliche Energieversorgung zu gewährleisten, zu erreichen, haben wir
noch viel Arbeit vor uns. Die Energiewende ist kein
Selbstläufer. Die Koalition nimmt diese Herausforderung entschlossen an.
({0})
Deutschland muss auch in Zukunft auf höhere Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke in Europa und weltweit drängen,
({1})
im Interesse der Sicherheit vor Ort, aber auch im Interesse unserer eigenen Sicherheit.
Ich bedanke mich.
({2})
Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Paul, ich bin Ihnen für Ihre Worte, die Sie als erster
Redner von der Koalition in dieser Debatte gewählt
haben, ausgesprochen dankbar.
({0})
Denn diese Worte zeigen, dass wir mitnichten über den
Berg sind und dass das, was vor einem Jahr auch mit Ihren Stimmen beschlossen wurde, für viele nur Taktik war
und nichts mit Überzeugung und Bewusstsein zu tun
hatte.
({1})
Was wollten Sie uns sagen? Sie haben gesagt, es gab
Baumängel und unglückliche Umstände. Das ist doch eigentlich eine Rechtfertigung für die Auffassung „Atomtechnologie ist gar nicht schlimm, Atomtechnologie darf
halt nur nicht mit unglücklichen Umständen verkettet
werden.“ gewesen. - Herr Paul, Sie sind auf dem völlig
falschen Dampfer.
({2})
Herr Bundesumweltminister, Sie haben in den Reihen
der Abgeordneten Platz genommen. Sie haben vorhin
viel mit Ihrem Kollegen diskutiert. Ich hoffe, es ging um
diese Rede. Ich frage Sie an dieser Stelle: Was ist das für
ein Zeichen, wenn, ein Jahr nachdem wir diese Katastrophe erlebt haben, hier eine Rechtfertigungsrede für all
diejenigen gehalten wird, die sagen: Wartet einmal ab,
wenn wir es weiter verschlafen, werden sie irgendwann
wieder auf uns zukommen, dann werden wir den Machtkampf gewinnen. - Denn nichts anderes steht dahinter,
ein großer Machtkampf der vier großen Energieversorger gegen dezentrale Einheiten, gegen Genossenschaften
vor Ort, gegen Bürgerinnen und Bürger, die sehr viel
weiter sind als Sie, Herr Paul.
({3})
Wir können die Rede immer wieder nachlesen, die
Sie gerade gehalten haben. Wir können jetzt nachempfinden, was in Ihren Reihen und in dieser Regierung los
sein muss, wenn es darum geht, etwas zugunsten von
erneuerbaren Energien zu beschließen, wenn es darum
geht, ein bisschen in Richtung Effizienz zu gehen. All
das bedeutet für Sie eine innere tiefe Auseinandersetzung. Ich merke heute Morgen, dass Sie noch lange nicht
beim neuen Denken angekommen sind. Sie sind noch im
alten Denken verhaftet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wann begreifen wir endlich, was dort geschehen ist?
Ein Tipp von mir: Gestern Abend lief eine hervorragende ZDF-Dokumentation im Fernsehen mit dem Titel
„Die Fukushima-Lüge“. Diese zeigt, dass die größten
Herausforderungen und die größten Gefahren in Fukushima noch vor uns liegen, weil es latente Gefahren gibt,
die zu einem Desaster führen könnten.
Herr Paul, schauen Sie sich solche Sendungen an!
Reden Sie dann mit uns darüber, was das tatsächlich für
die Menschen vor Ort bedeutet! Ich finde, die abstrakte
Diskussion ist das eine, das Beschäftigen mit den
Schicksalen vor Ort ist ein anderes.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Vor einigen
Monaten hatte ich die große Ehre, die Schirmherrschaft
für einen Parlamentarischen Abend von Greenpeace zu
übernehmen. An dieser Veranstaltung nahmen Menschen aus Fukushima teil, die beschrieben haben, wie es
ihnen augenblicklich geht, dass sie Existenzen aufgeben
mussten und nicht mehr in ihre Häuser und ihre Kinder
nicht mehr in die Schulen zurückkehren konnten. Diese
Menschen erleben tagtäglich, was diese Katastrophe für
sie bedeutet.
Ich sage Ihnen auch: Wir haben noch mehrere Zeitzeugen. Wir haben seit Jahrzehnten eine katastrophale
Situation in Tschernobyl. Wir können jeden Tag Kontakt
mit den Initiativen aufnehmen, um zu erfahren, was die
Menschen in Weißrussland heute noch, Jahrzehnte nach
der Katastrophe, spüren.
Herr Paul, ich fordere Sie auf: Diskutieren Sie mit
diesen Menschen! Versuchen Sie, zu verstehen, was eine
solche Katastrophe bedeutet, aber nicht nur für uns, sondern auch für die Menschen vor Ort! Ich bin mir sicher,
dann würden Sie diese Rede nie wieder halten.
({5})
Wann begreifen wir endlich, wie teuer die Energiewende ist? Wann begreifen wir in diesem Parlament endlich, welche volkswirtschaftlichen Folgekosten durch
eine einzige derartige Katastrophe entstehen? Wann begreifen wir endlich, dass die Energiewende Geld kostet,
aber das Warten auf diese Energiewende für nachfolgende Generationen um ein Vielfaches teurer werden
wird, liebe Kolleginnen und Kollegen? Tun wir doch
nicht so, als ob das, was in den vergangenen Jahrzehnten
in Deutschland passiert ist, billig gewesen ist. Wir haben
fossile Energie und Atomtechnologie mit Milliardenbeträgen subventioniert. Nur deswegen ging das mit der
Wirtschaft und den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
({6})
- Ja, Herr Kauch, dazu bekenne ich mich auch. Wir
bekennen uns aber auch zum Umstieg; denn das ist die
Zukunft, aber nicht die fossilen Energieträger und nicht
die Atomtechnologie, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Sie werden von einem Sozialdemokraten von diesem
Pult aus nicht hören, dass wir von dem, was wir 2001
begonnen haben, abrücken. Denn das war die eigentliche
Energiewende, an der Sie im Übrigen heute noch partizipieren. Die Leute haben sich von Ihrem Schlingerkurs
zum Glück größtenteils nicht beeindrucken lassen, sondern investieren weiter. Damit rühmen Sie sich heute.
Das sind aber die Erfolge von Rot-Grün aufgrund des
EEGs und aufgrund des Ausstiegsbeschlusses. Da kommen Sie überhaupt nicht mit.
({8})
Sie werden von einem Sozialdemokraten an diesem
Pult nicht hören, dass uns die Wirtschaft, die Industrie
etc. egal sind. Deswegen müssen wir das Ganze auch
adäquat steuern.
Das Schlimmste, was Sie für die Wirtschaft gemacht
haben, ist doch, dass Sie den Schlingerkurs eingeschlagen und Investitionsunsicherheit und nicht Investitionssicherheit geschaffen haben. Jeder kleine Handwerker
leidet augenblicklich zum Beispiel unter Ihrer Debatte
über die Solar- und Photovoltaikförderung.
({9})
Wenn wir versuchen wollen, die Interessen von Wirtschaft und Verbrauchern in Einklang zu bringen, dann
müssen wir überlegen, wie wir das hinbekommen können. Das erreichen wir nicht dadurch, dass wir einfach
nur die Großindustrie entlasten. Dafür sind wir zwar
auch, aber es kann nicht sein, dass der einfache Mittelständler und der Verbraucher diese Kosten tragen müssen, sondern wir brauchen hier andere Systeme. Tun Sie
nicht so, als ob die erneuerbaren Energien den Strompreis im Augenblick in die Höhe treiben. Das ist mitnichten der Fall, sondern die Preise resultieren auch aus
den Freistellungen von Netzentgelten oder beispielsweise auch von der EEG-Umlage, die Sie für die Wirtschaft und die Unternehmen durchgesetzt haben.
({10})
- Nein, eben nicht, sondern das, was Sie hier machen, ist
wirtschaftsfeindlich. 340 000 neue Arbeitsplätze im Mittelstand: Das ist die Wirtschaft der Zukunft, das ist die
rot-grüne Politik, wie sie hier seit 2001 betrieben wird
und die Sie durch Ihren Kurs gefährdet haben.
({11})
Lassen Sie mich abschließend noch einen weiteren
Part ansprechen; denn er hängt natürlich ganz eng mit
der Energiewende zusammen. Es geht um die Frage, wie
wir Effizienzprogramme, zum Beispiel zur Gebäudesanierung etc., eigentlich finanzieren.
Sie haben hier vor einiger Zeit die Innovation des
Lebens ausgerufen, indem Sie den Klima- und Energiefonds ins Leben gerufen haben. Heute stellen wir fest:
Die Hälfte der Einnahmen, die Sie eingeplant hatten,
konnten Sie nicht realisieren. Damit stehen ganz viele
Programme, die für die Energiewende sehr wichtig
wären, zur Disposition. Auch das zeigt, wie dünn das Eis
ist, auf dem Sie augenblicklich wandern.
Wenn man die Rede des Kollegen Paul hinzunimmt,
dann weiß man: Sie wollen die Energiewende eigentlich
nicht; Sie haben noch das alte Denken. Insofern müssen
wir alle gemeinsam aufpassen, dass Sie es endlich verstehen und dass sich spätestens 2013 tatsächlich etwas
bewegt - für die Wirtschaft, für die Verbraucher und für
die Umwelt in Deutschland.
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
({12})
Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege
Michael Kauch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Trittin hat sich, glaube ich, in fünf seiner sieben Minuten
Redezeit mit der Vergangenheit beschäftigt.
({0})
Den Rest der Zeit hat er die Regierung beschimpft. Die
Grünen haben keinen einzigen konstruktiven Vorschlag
zur Lösung der Probleme gebracht, vor denen wir bei der
Energiewende stehen. Das zeigt, welches Niveau Ihre
Politik inzwischen hat.
({1})
Die Energiewende ist auf einem guten Weg. Die SPD
kann hier noch so oft eine Büttenrede zum Weltfrauentag
halten. Dafür ist heute der falsche Tag; das muss man
eigentlich am Rosenmontag machen. Diese Energiewende ist politisch unumkehrbar, und dazu steht diese
Koalition geschlossen.
({2})
Die Union und die FDP haben einen schnellen Ausstieg aus der Kernkraft durchgesetzt.
({3})
Er war übrigens schneller, als es das Gesetz von RotGrün vorsah. Nach dem Trittin-Gesetz von 2001 wären
einige der Reaktoren, die wir abgeschaltet haben, noch
immer am Netz. So viel zur Modernität Ihrer Politik!
({4})
Anders als Sie vor zehn Jahren sorgen wir eben nicht nur
für den Ausstieg, sondern wir sorgen auch für den Einstieg in ein neues Zeitalter der Energieversorgung. Das
ist diese Koalition!
({5})
Erste Erfolge zeigen sich. Nie zuvor war der Anteil
der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung so
hoch wie in 2011,
({6})
und zwar nicht wegen der Politik von Rot-Grün, wie
Herr Miersch eben gesagt hat, sondern weil wir die Ausbauziele erhöht und die entsprechenden Anreize gesetzt
haben.
({7})
Die Zielmarken für die Photovoltaik sind unter dieser
Regierung doppelt so hoch wie unter SPD-Umweltminister Gabriel. Das ist die Wahrheit, meine Damen
und Herren.
({8})
Nie zuvor war der Energieverbrauch nach der Wiedervereinigung so niedrig wie 2011. Auch das ist die
Wahrheit, wenn es um Energieeffizienz in Deutschland
geht.
({9})
Die Stabilität des Stromnetzes konnte trotz der Abschaltung von acht Kernkraftwerken mit erheblichen
Anstrengungen gesichert werden. Das zeigt: Die marktwirtschaftliche Ordnung ist ausgezeichnet in der Lage,
auf Veränderungen der Rahmenbedingungen zu reagieren. Man stelle sich vor, was dabei herausgekommen
wäre, wenn wir das Modell der Linken hätten, nämlich
sozusagen ein VEB Netz: eine staatliche Netzgesellschaft. Ich möchte mir nicht ausmalen, welche Blackouts
wir mit einer solchen Verwaltungsgesellschaft in diesem
Jahr gehabt hätten.
({10})
Deshalb ist es für meine Fraktion - ich denke, ich
spreche auch für die Koalition - ein Anlass, all denen zu
danken, auf deren Leistungen wir bei der Energiewende
nicht verzichten können. Es sind die vielen Ingenieure
und Techniker, die dafür sorgen, das System stabil zu
halten. Es sind die Menschen, die in neue Energie investieren. Es sind die Stromhändler, die Angebot und Nachfrage zusammenbringen. Es sind die Planer, die die dringend notwendigen Stromtrassen auf den Weg bringen.
Es sind auch all die Menschen in den Naturschutzverbänden, die, anders als die Grünen, die unvermeidlichen
Konflikte zwischen erneuerbaren Energien und Naturschutz konstruktiv lösen wollen. All diesen Menschen
ganz herzlichen Dank!
({11})
Die FDP will eine Energieversorgung, die sicher, verlässlich und umweltverträglich ist und für die Menschen
bezahlbar bleibt. Das ist auch eine soziale Frage. Wir
kümmern uns darum, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt. Dabei geht es nicht um Konzerninteressen,
sondern um die Arbeitsplätze von vielen tausend Menschen.
({12})
- Ich denke auch daran, dass Sie als SPD daran gemessen werden könnten, was die Ministerpräsidentin von
Nordrhein-Westfalen jeden Tag als Forderung an die
Bundesregierung stellt, nämlich die industriellen Kerne
in Deutschland zu erhalten. Wir erhalten die industriellen Kerne in Deutschland.
({13})
Wenn die SPD sagt, wir würden die Großkonzerne
entlasten, und dafür würden die armen Verbraucher
bezahlen, halte ich ihr entgegen: Die energieintensiven
Großkonzerne sind unter SPD-Umweltminister Gabriel
immer entlastet gewesen. Was wir geändert haben, ist,
dass auch der energieintensive industrielle Mittelstand
entlastet wird. Wir schaffen nämlich Wettbewerbsgleichheit. Sie sind die Partei der Konzerne. Wir sind die Partei
für den Mittelstand. Das zeigt sich wieder eindeutig.
({14})
Bisher ist der Strompreisanstieg moderat ausgefallen.
Das soll so bleiben. Deshalb kürzen wir die Solarförderung, und zwar nicht deshalb, weil wir die Photovoltaik
kaputtmachen wollen, sondern weil die immer weiter
sinkenden Anlagepreise endlich an die Verbraucherinnen
und Verbraucher weitergegeben werden müssen. Die
Stromkunden sind nämlich diejenigen, die letzten Endes
von den erneuerbaren Energien profitieren sollen. Dafür
sorgen wir.
({15})
Wir dürfen aber nicht nur auf den Stromsektor
schauen. Die Energiewende entscheidet sich nicht
zuletzt im Wärmesektor. Wir brauchen mehr Wärmedämmung für Gebäude und mehr Ökoheizungen. Dabei
gilt für uns: Wir wollen Anreize statt Zwang.
Wir haben als Koalition am Sonntag noch einmal
bekräftigt, dass das Programmvolumen von 1,5 Milliarden Euro für die Gebäudesanierung steht. Wir wollen
auch die steuerliche Förderung der energetischen SanieMichael Kauch
rung. Die hat diese Koalition im Bundestag beschlossen,
und es sind SPD und Grüne, die im Bundesrat blockieren. Wo Sie wie im Bundesrat Verantwortung tragen, torpedieren Sie die Energiewende. Auch das ist ein Teil der
Wahrheit in der Energiepolitik.
({16})
Wir werden als FDP darauf drängen, dass wir auch im
Bereich erneuerbare Wärme Fortschritte erzielen. Auch
hier gilt der Grundsatz „Anreize statt Zwang“. Wir wollen kein Ordnungsrecht, sondern ein haushaltsunabhängiges Förderinstrument. Dazu haben wir bereits in unserem Wahlprogramm ein Modell vorgelegt, das zeigt, wie
man eine Mindestmenge erneuerbarer Wärme für alle
Großhändler vorschreiben kann, die Öl und Gas verkaufen. Wir sind offen für Vorschläge. Aber wir glauben,
dass dieses Thema endlich angegangen und dieses Problem endlich gelöst werden muss. Das ist ein weiterer
wichtiger Baustein unserer Energiewende.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Namen der Linksfraktion möchte ich zu Beginn meiner Rede aller Opfer der drei Katastrophen in Japan gedenken. - Erst das Leid Tausender Menschen im vergangenen Jahr hat dazu geführt, dass in Deutschland das
Fortschreiten auf dem Pfad der unverantwortlichen Nutzung der Atomkraft beendet wurde. Eigentlich ist das
beschämend. Richtigerweise wurden acht Atomkraftwerke sofort abgeschaltet. Der endgültige Ausstieg
wurde - wenn auch zu spät, aber immerhin - bis 2022
beschlossen.
Die Notwendigkeit der Energiewende ist klar. Die
Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft, der Weg
hin zur Wärme- und Stromerzeugung zu 100 Prozent aus
erneuerbaren Energiequellen, ist unumgänglich.
({0})
Dies erfordert aber von uns allen ein tatsächliches Umdenken. Es erfordert neue Ansätze für dezentrale, kommunale, kleinteilige Lösungen. Es erfordert Durchsetzungskraft und auch finanzielle Mittel für eine zielgerichtete
Forschung, für eine zielgerichtete Förderung und für einen sozialen Ausgleich insbesondere für Menschen mit
niedrigem oder gar keinem Einkommen - aber diese bitten Sie jetzt wieder zur Kasse, um die energieintensiven
Unternehmen zu entlasten -, es erfordert Geld für den
Ausbau von Netzen und Speicherkapazitäten.
Die Regierungsbilanz dazu ist beschämend. Im Januar
dieses Jahres nahm der Bundeswirtschaftsminister am
Empfang der IHK, des Unternehmerverbandes und der
Handwerkskammer in Leipzig teil. Er wurde mit einem
Heft und einem Koffer beschenkt, auf denen das Wort
„Energiewende“ zu lesen war. Der Koffer wurde geöffnet. Er war allerdings leer. Genauso sieht Ihre Regierungspolitik aus: Sie haben bisher nichts dazu beigetragen, die Energiewende wesentlich voranzutreiben.
({1})
Das Einzige, was Herr Rösler in den Koffer packen
könnte, wären Sunblocker. Er könnte auch das Schild
„Energiewende“ überstreichen; denn er betreibt nicht
wirklich eine Energiewende. Aufgrund Ihrer Fehlkonstruktion der Finanzierungsbasis - Sie haben die Einnahmen des Energie- und Klimafonds an die Handelspreise
der CO2-Zertifikate gebunden - droht selbst das wenige
Geld, das Sie zur Verfügung stellen wollten, zur Hälfte
wegzubrechen. Es droht eine Kürzung von 780 Millionen auf 452 Millionen Euro. Damit wird es Bundesminister Röttgen unter anderem nicht mehr möglich
sein, überhaupt noch Effizienzforschung zu betreiben.
Das ist eine Katastrophe.
Als Letztes möchte ich Sie eindringlich bitten: Wenn
Sie eine Lehre aus Fukushima, also aus der Gefährdung
von Atomkraftwerken durch Erdbeben, ziehen wollen,
dann seien Sie konsequent und geben keine Hermesbürgschaft für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in
Brasilien; denn dieses Kraftwerk soll in einem Erdbebengebiet errichtet werden.
({2})
Jens Koeppen hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am Sonntag jährt sich zum ersten
Mal der Tag, an dem zuerst ein Erdbeben der Stärke 9
und danach ein Tsunami mit einer 15 Meter hohen Welle
Leid, Elend, Tod, Verwüstung und Obdachlosigkeit nach
Japan gebracht haben. Allein diese Naturkatastrophe hat
die Welt zum Erstarren gebracht. Aber damit war es
noch nicht genug. Als Folge der Naturkatastrophen ereignete sich durch menschliches und technisches Versagen, geparrt mit technologischer Arroganz, der größte
anzunehmende Unfall in einigen Kernreaktoren. Menschen verloren ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Heimat, weil Lehren und Wissen über Naturkatastrophen in
Verbindung mit Kernenergieproduktion vehement missachtet wurden.
Deswegen ist es gut und wichtig, dass wir ein Jahr danach an dieser Stelle in der Kernzeit im Deutschen Bundestag an diese schrecklichen Ereignisse erinnern und an
die Menschen denken, die an diesem Tag zu Schaden gekommen sind.
Noch am 11. März 2011 hat die japanische Regierung
den nuklearen Notstand ausgerufen. Wenige Tage später
haben wir in Deutschland ein Moratorium bei der Kernenergieproduktion in Deutschland beschlossen.
Sie kennen alle die weitere Entwicklung. Im Konsens
haben wir gemeinsam die Energiewende beschlossen,
eine Energiewende hin zu regenerativen Energien. Und
wir haben beschlossen, dass die Kernenergieproduktion
in Deutschland früher als geplant eingestellt wird.
Natürlich ist eine Kausalität klar erkennbar. Dennoch
halte ich den Antrag so, wie Sie ihn gestellt haben, für
falsch. Ich halte ihn auch für reaktiv; denn er macht den
Eindruck, dass er das Ereignis sehr stark instrumentalisiert. Zumindest auf mich macht er auch den Eindruck,
dass daraus politisches Kapital geschlagen werden soll.
Das ist aus meiner Sicht trivial und durchsichtig.
({0})
So etwas hat bei Ihnen aber Methode. Das ist ähnlich
wie bei dem prognostizierten Klimawandel; denn an solchen Ereignissen richtet sich Ihre ganze Argumentationskette in der Energiepolitik aus.
({1})
Das ist unzureichend. Es ist auch einfallslos. Wir müssen
nämlich viel mehr agieren, statt nur zu reagieren.
({2})
Denn stellen Sie sich doch einfach einmal vor, es hätte
keine Naturkatastrophen wie in Fukushima, wie in Harrisburg vor 30 Jahren oder wie in Tschernobyl gegeben.
({3})
Stellen Sie sich das einfach einmal vor! Stellen Sie sich
auch vor, Herr Beck, statt hier herumzuschreien, es gäbe
keinen Klimawandel, der ja prognostiziert wird. Auch
und gerade dann müssen wir mit den Ressourcen, die
uns zur Verfügung gestellt sind, schonend umgehen
({4})
und haben wir die Pflicht, die Energieträger zu nutzen,
die nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehen.
({5})
Wir haben auch die Pflicht, danach zu suchen, dazu zu
forschen und diese zu entwickeln. Das ist unsere Aufgabe - nicht mehr und nicht weniger.
({6})
Meine Damen und Herren, als ich geboren wurde,
lebten 3 Milliarden Menschen auf der Erde. Jetzt sind es
ungefähr 7 Milliarden. In wenigen Jahrzehnten, vielleicht in wenigen Jahren, werden es 9 Milliarden Menschen sein. Die Frage ist doch: Hält dieser Planet das
aus? Werden die Menschen alle satt werden? Werden sie
genügend Energie haben? Das ist die Frage, vor der wir
stehen.
Deshalb ist der Umbau der Energieversorgung notwendig - nicht wegen Three-Eleven in Japan und nicht
wegen des vom IPCC vorausgesagten Klimawandels,
sondern aufgrund einer Vernunftentscheidung, die wir
gemeinsam getroffen haben. Dann stehen Sie doch endlich einmal dazu!
({7})
Deutschland soll eine der energieeffizientesten und
umweltschonendsten Volkswirtschaften der Welt sein bei wettbewerbsfähigen Energiepreisen und bei hohem
Wohlstand. Natürlich müssen wir sehen, wie wir das hinbekommen: weniger fossile Energieträger, effizienter
Umgang mit den Ressourcen, weniger Emissionen und
natürlich die Maßgabe, die oben ansteht, dass Energie
kein Luxusgut werden darf.
Nur die moderne Zeit und der technologische Fortschritt ermöglichen diese Entscheidung. Es gilt darum,
diese solide umzusetzen.
({8})
Vor allen Dingen müssen wir - das ist ganz wichtig auch bei der Energiewende und bei den Gesetzesnovellen auf Akzeptanz für die moderne Energiepolitik achten; denn das Ganze ist weiß Gott kein Selbstläufer.
Ich komme aus einer Gegend, in der sehr viel erneuerbare Energien produziert werden. Auch dort gilt sehr oft:
Not in my backyard; überall könnt ihr Windräder aufstellen, überall könnt ihr Solarfelder aufbauen, überall
könnt ihr Netze verlegen, aber nicht bei mir vor der
Haustür.
Meine Damen und Herren, viele in diesem Hause,
aber auch in der Gesellschaft wissen ganz genau, was sie
alles nicht wollen. Aber wenn es um Alternativen und
neue Ideen geht, sind die Bedenken da, und alles wird
beklagt. Diesem Missstand müssen wir vehement entgegentreten: mit weniger Ideologie, weniger partikularem
Egoismus und mehr Offenheit. Sonst stockt die Energiewende - und das gilt es zu verhindern.
({9})
Meine Damen und Herren, die EEG-Novelle ist notwendig. Mich erstaunen schon Ihre massiven Angriffe.
Mich erstaunen auch die Kurzsichtigkeit und das Ausblenden der Fakten. Ich bin fest davon überzeugt, dass
die geplante Novelle die Akzeptanz sichert und dass eine
Preisentwicklung, wie sie durch den unbegrenzten Zubau von Solaranlagen eingetreten ist, diese Zustimmung
erschwert. Dazu nur eine Zahl: Im Jahr 2011 haben die
Verbraucherinnen und Verbraucher 7 Milliarden Euro
für die Photovoltaikvergütung ausgegeben - 7 Milliarden Euro! Dagegen betrugen die gesamten Mittel für das
Elterngeld im Jahr 2011 4,7 Milliarden Euro. Hier besteht also ein krasses Missverhältnis, und das müssen
wir einfach angehen. Das ist eine ganz einfache Rechenaufgabe.
Mit der EEG-Novelle wollen wir dafür sorgen, dass die
Netzstabilität gewährleistet wird, dass Anreize zum Eigenverbrauch geschaffen werden, dass die ersten Schritte
zur Dezentralisierung vollzogen werden. Außerdem wollen wir dafür sorgen - es wurde schon angesprochen -,
dass die mittlerweile entstandenen Kostensenkungen bei
der PV-Vergütung an die Verbraucher zurückgegeben
werden. Das ist unsere Aufgabe.
({10})
Dazu brauchen wir innovative Produkte statt billiger
Produkte. Wir brauchen, gerade bei den Anlagen, höhere
Wirkungsgrade statt hoher Renditen; denn nur 15 Prozent der Module, die in Deutschland durch die PV-Vergütung an den Markt gebracht werden, stammen aus
unserer Produktion. Auch das ist ein krasses Missverhältnis. Wir werden den Wettbewerb mit den chinesischen Modulen nicht dadurch gewinnen, dass wir die
Preise um 10 oder um 20 Cent senken; diesen Wettbewerb können wir nur mit Innovationen gewinnen.
Mein Resümee: Der Umbau unseres ErneuerbareEnergien-Gesetzes ist unabdingbar. Es ist Zeit für einen
radikalen Systemwechsel im EEG. Wir müssen das EEG
zu einem Technologiegesetz umbauen. Sie selbst haben
die Bundesregierung in Ihrem Antrag aufgefordert, bis
zum Jahr 2020 den Anteil erneuerbarer Energien auf
dem Strommarkt auf über 45 Prozent auszubauen. Wie
soll ein Produkt, das annähernd 50 Prozent Marktanteil
hat, noch 20 Jahre lang gefördert werden? Das geht
volkswirtschaftlich einfach nicht. Das kann man niemandem erklären.
({11})
Meine Damen und Herren, wir müssen dazu kommen,
dass wir smart einspeisen und nicht blind. Wir müssen
dafür sorgen, dass wir Energieversorgung machen und
nicht Renditeversorgung. Wir müssen endlich dazu kommen, dass wir verfügbare Energien haben und nicht
flüchtige Energien. Wir müssen außerdem dafür sorgen,
dass wir technisches Know-how belohnen und nicht
kaufmännische Cleverness.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Marco Bülow bekommt jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Miersch hat gerade darauf hingewiesen: Gestern
gab es eine beeindruckende ZDF-Doku - ZDFzoom -,
die noch einmal deutlich gemacht hat, wie das Geflecht
von Politik, Atomlobby und Medien die Energiepolitik
in Japan dominiert hat. Dieses Geflecht hat auch dafür
gesorgt, dass so etwas wie das möglich geworden ist,
was wir vor einem Jahr in Fukushima erlebt haben. Dazu
gab es gestern keine Aussagen von Umweltpolitikern
oder von Umweltschützern, sondern vom ehemaligen
Präsidenten, von Gouverneuren, die deutlich gemacht
haben, dass in der dortigen Politik eigentlich immer nur
verheimlicht, verschwiegen, gelogen und getäuscht worden ist und dass das auch nach Fukushima immer noch
der Fall ist: Es werden falsche Informationen herausgegeben; man kann immer noch nicht glauben, was dort
veröffentlicht wird.
Wir erleben hier leider immer wieder ähnliche Szenarien: Auch hier gibt es weiterhin Märchenstunden. Herr
Paul hat sie vorhin fortgeführt, nach dem Motto: Ist ja alles gar nicht so schlimm. Wir brauchen vielleicht doch
kein Umdenken. Womöglich war das Umdenken zu
schnell. Von all dem, was dort passiert ist, werden die
Menschen nicht betroffen sein.
({0})
Ich denke, mit den Märchenstunden sollten wir endlich
aufhören, und wir sollten endlich Tacheles reden. Wenn
wir den Ausstieg machen, dann sollten wir ihn auch
ernst nehmen und nicht hinterher wieder zerreden.
({1})
Bestätigt hat Fukushima vor allen Dingen, dass
Mensch und Technik versagen können - eine menschliche Eigenschaft, die gar nicht verwerflich ist, die aber
ausschließt, dass wir Technologien nutzen, die einen solchen Schaden anrichten können. Bestätigt hat Fukushima auch, dass es eine Illusion war, dass es Sicherheit
gibt, egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen man trifft,
egal welche Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden
und egal wie achtsam die Menschen sind.
Klar ist auch geworden, dass man in Japan sehr viel
Glück gehabt hat, weil es nur 12 Kilometer von Fukushima entfernt ein Atomkraftwerk gab, in dem es auch
fast eine Kernschmelze gegeben hätte. Man hat auch
deswegen Glück gehabt, weil der Blow-out genau zu einem Zeitpunkt stattgefunden hat, als der Wind nicht in
Richtung Tokio wehte. Der ehemalige Ministerpräsident
von Japan hat gesagt, es sei nahe daran gewesen, dass
die Tepco-Mitarbeiter abgezogen worden wären. Das
hätte bedeutet, dass man Tokio hätte evakuieren müssen.
Vor diesem Hintergrund kann man heute nicht davon
sprechen, dass alles doch gar nicht so schlimm war. Genau diese Fakten sollten wir uns in Deutschland einmal
vornehmen.
({2})
Aber auch hier werden die Lügen- und Märchengebilde fortgesetzt. Sie haben uns nach dem Atomausstieg
Deutschlands erzählt, dies würde bedeuten, dass hier die
Lichter ausgehen würden - spätestens im Winter hätten
wir einen Energienotstand -, dass wir Atomstrom vor allen Dingen aus Frankreich importierten müssten und
dass der Strompreis steigen würde. Diese Märchen hat
man auch noch nach Fukushima erzählt, um uns vom
Atomausstieg abzuhalten.
Was ist passiert? Erstens. Der Strompreis an der
Börse ist erst leicht gestiegen; mittlerweile ist er wieder
auf dem Stand, wie er vorher war. Zweitens. Frankreich
hat im Winter Strom aus Deutschland importieren müssen. Ansonsten wären nämlich im Atomland Frankreich
die Lichter ausgegangen, nicht in Deutschland.
({3})
Drittens. Wir haben festgestellt, dass wir auch weiterhin
in der Lage sind, den Atomausstieg zu kompensieren,
und dass wir gerade durch den Ausbau der Erneuerbaren
die Energiewende wirklich schaffen können. Das sind
die Fakten, die im Zuge der Diskussion und der Bilanz
ein Jahr nach Fukushima sowie der Frage, wie wir weiter
mit dem Atomausstieg umgehen, auf den Tisch müssen.
Wir müssen vor allen Dingen auch darüber diskutieren, wie es insgesamt, auch international, weitergeht;
denn viele sagen jetzt: Wir steigen doch in Deutschland
aus. Es ist doch alles gut. - Das ist es eben nicht. Es gibt
weiterhin eine Reihe von Problemen. Wir haben in
Deutschland noch über zehn Jahre Atomkraftwerke am
Netz. Wir brauchen weitere Jahrzehnte - auch das müssen wir den Menschen sagen -, um diese Atomkraftwerke abzubauen und die Materialien einzulagern. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass es
18 Milliarden Euro kosten wird. Wir werden in Deutschland weiterhin eine Diskussion über die Endlager führen;
das Trauerspiel von Asse und Gorleben haben wir ja
häufig schon an anderer Stelle erörtert. Zudem werden
wir damit leben müssen, dass die folgenden Generationen die Lasten der Atomenergie jahrzehnte-, jahrhundertelang tragen müssen, ohne jemals irgendeinen Vorteil
davon gehabt zu haben. Auch das, so denke ich, muss
immer wieder erwähnt werden.
Wenn man es ernst meinte - ich zweifle heute nach
den Reden von Herrn Paul und anderen noch stärker daran, dass es die Union wirklich ernst meint -, dann
müssten wir auch international dafür sorgen, dass es einen Atomausstieg gibt.
({4})
Denn viele Länder setzen weiterhin auf Atom. Es gibt
benachbarte Länder, die an den deutschen Grenzen
Atomkraftwerke haben, die auch zu den Pannenreaktoren gehören. Wir haben in Europa lächerliche Stresstests
durchgeführt, die viele Kriterien eben nicht berücksichtigen, wie zum Beispiel einen Flugzeugabsturz. Wenn die
Union und die Regierung es ernst meinten, dann würden
sie darauf hinarbeiten, in Europa ebenfalls zu einem
Atomausstieg zu kommen, und würden nicht Euratom
weiter fördern; denn bei Euratom ist ganz klar festgelegt,
dass der Ausbau der Atomenergie das Ziel ist. So ein
Machwerk von früher muss beendet werden. Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass Euratom in ein Förderinstrument für erneuerbare Energien umgewidmet
wird. Das muss doch die Zielrichtung sein.
({5})
Auch müssen wir darauf hinwirken, dass die Forschungsmittel anders eingesetzt werden. Es kann doch
nicht sein, dass wir die Förderung für ein anderes Projekt
in Europa, ITER - es war einmal eine Förderung in
Höhe von 5,5 Milliarden Euro angesetzt -, mittlerweile
auf 13 Milliarden Euro hochschrauben, immer mit der
Aussage: Die Kernfusion wird in 40 Jahren einen Beitrag zur Energieversorgung leisten. - Das hat man schon
vor 20 Jahren gesagt. Ich sage heute voraus: Auch in
20 Jahren wird man noch von 40 Jahren sprechen. Diese
Gelder könnte man viel sinnvoller bei erneuerbaren
Energien und Effizienztechnologien einsetzen. Aber
auch dazu hört man von der Union kein Wort; es gibt
keine Initiative.
({6})
Der größte Skandal ist, dass wir in Deutschland wieder Hermesbürgschaften für Atomkraftwerke geben wollen, die in aller Welt gebaut werden, beispielsweise Angra 3. 1,3 Milliarden Euro gibt die Bundesregierung an
Bürgschaften für Angra 3. Das ist ein Atomkraftwerk in
Brasilien, das in Deutschland nach den neuesten Kriterien überhaupt nicht mehr gebaut werden dürfte.
({7})
Es soll in einer Küstenregion gebaut werden. Dahinter
ist ein Hang, an dem Erdrutschgefahr besteht. Ein Gutachten besagt deutlich: Wenn dieses Atomkraftwerk gebaut wird, besteht die große Gefahr, dass es Fukushima II
wird. - Das heißt, wir steigen in Deutschland aus, fördern aber mit deutschem Geld Atomkraftwerke, bei denen die gleichen Gefahren bestehen wie in Fukushima.
Das ist ein Riesenwiderspruch, und diesen Widerspruch
müssen Sie auflösen, wenn Sie es ernst meinen.
({8})
Rot-Grün hat mit den Hermesbürgschaften Schluss
gemacht. Ich sage: Wenn die SPD wieder in Verantwortung kommt, wird es keinen Cent für Atomkraftwerke
international geben, sondern wir werden auch international dafür sorgen, dass es eine Energiewende mit ErneuMarco Bülow
erbaren und Effizienztechnologien gibt, dass nicht weiter
auf Atomkraft gesetzt wird.
({9})
Wenn die Union es ernst meint, sollte sie genau dort anfangen.
Wir haben auf der einen Seite schöne Reden - heute
allerdings weniger, und wahrscheinlich wird es auch
Herrn Röttgen schwerfallen, die Aussagen von Herrn
Paul schönzureden bzw. zurechtzubiegen -, auf der anderen Seite aber Einschnitte bei den Erneuerbaren, einen
Klimafonds, der nicht greift, weil er zu wenig Geld hat,
Effizienz, die nicht vorankommt, international Doppelzusagen, obwohl die Mittel nur einmal ausgeteilt werden
können, und weiterhin international ein Festhalten an der
Atompolitik.
Zum Schluss ein Satz, der vielleicht noch einmal einiges deutlich macht. Herr Rösler hat neulich Herrn Klaus
Töpfer als konservativen Weltverbesserer beschimpft.
Herr Rösler zeigt damit, denke ich, wes Geistes Kind er
ist. Mir sind Wertkonservative jedenfalls viel lieber als
neoliberale Yuppies, die Politik als reines Machtgeschäft
betrachten. Ich hoffe, dass in der Union ein Umdenken
stattfindet. Ich weiß, dass es in der Union Leute gibt, die
es ernst meinen. Ich hoffe, sie überzeugen die Mehrheit.
({10})
Klaus Breil hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Fukushima hat uns klar vor Augen geführt:
Menschliches Handeln hat deutliche Grenzen. Mein
tiefstes Mitgefühl gilt den Opfern und deren Angehörigen.
({0})
Die Bundesregierung und die Koalition haben damals
umgehend reagiert. Die Entscheidungen wurden parteiübergreifend mitgetragen.
Herr Kollege Bülow, kann man etwas eigentlich noch
ernster angehen, als wir es mit unseren gemeinsamen
Entscheidungen getan haben? Ein bisschen weniger
Polemik wäre angemessen.
({1})
Parteiübergreifende Entscheidungen würde ich mir weiterhin wünschen. Wenn ich den vorliegenden Antrag
sehe, hege ich allerdings Zweifel, dass es dazu kommt.
Deutschland hat seit Jahren einen rückläufigen Energieverbrauch bei einem beachtlichen wirtschaftlichen
Wachstum. 2011 lag der Energieverbrauch gut 5 Prozent
unter dem Referenzwert von 2008. Diese Entkopplung
von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum haben
nur wenige andere EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen
geschafft.
({2})
Wir bekennen uns zu dem Ziel, die Energieeffizienz
in der EU bis 2020 um 20 Prozent zu steigern. Wir wollen
eine verbindliche Zielfestlegung mit hoher Flexibilität
bei der Umsetzung. Die bereits erfolgten Effizienzmaßnahmen vieler Unternehmen müssen dabei aber anerkannt werden. Die EU-Mitgliedstaaten sollen wählen
können zwischen einer Steigerung der Energieeffizienz
um 6,3 Prozent oder einer Senkung des Energieverbrauchs
um 4,5 Prozent innerhalb von drei Jahren. Sie hingegen
reden im Antrag von einer deutschen Blockadehaltung
bei der Energieeffizienz in der EU.
Beim Netzausbau die gleiche Unvernunft und Ignoranz in Ihrem Antrag! Bereits einen Monat nach dem
Unglück in Fukushima hat das Wirtschaftsministerium
die ständige Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“
ins Leben gerufen. Eine Ihrer grünen Kolleginnen sitzt
übrigens dort im Beirat. Hier sorgen Netzbetreiber, Bundes- und Länderinstitutionen sowie Verbraucher- und
Umweltverbände für Lösungsvorschläge zum Netzausbau. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind: gesellschaftliche Akzeptanz, Planungs- und Genehmigungsverfahren,
regulatorische Rahmenbedingungen für Investitionen,
die Netzanbindung von Offshorewindparks und vieles
mehr. All dies sind laufende Aktivitäten, die Sie in Ihrem Antrag immer noch einfordern. Sie ignorieren also
Fakten wider besseres Wissen.
({3})
Der Umbau der Energiemärkte ist mit erheblichen
Kosten verbunden. Deshalb darf die Energiepolitik nicht
nur rein mengenmäßige Zielgrößen im Auge haben.
Energiepreise müssen wettbewerbsfähig sein, damit die
deutsche Industrie im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Auch die privaten Haushalte sind auf bezahlbare Energiepreise angewiesen.
({4})
Der energetische Umbau wird noch schneller und reibungsloser funktionieren, wenn Sie als Opposition die
Realität anerkennen. Sie aber unterlaufen den Umbau,
wenn Sie mit unehrlichen Anträgen weiterhin Unsicherheit vor Ort schüren. Sie sollten sich lieber Ihrer Verantwortung bewusst werden.
Vielen Dank.
({5})
Dorothée Menzner hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte die Erfolge, die kleinen Erfolge, die im letzten Jahr erzielt wurden, nicht kleinreden. Ich möchte aber deutlich sagen: Wir sind genau an
der Stelle, an der wir ohne den Ausstieg aus dem Ausstieg, wie er nach 2009 erfolgt ist, heute auch wären. Als
Lehre aus Fukushima sage ich: Das ist deutlich zu wenig.
({0})
Bis vor wenigen Tagen war ich 14 Tage in Japan unterwegs, quer durch das Land, habe mit vielen Menschen,
mit Politikern, mit Wissenschaftlern, mit Bürgerinnen
und Bürgern, gesprochen und habe viele Präfekturen besucht. Wie ist die Situation in Japan heute, knapp ein Jahr
nach dem Desaster?
Erstens. Rund 80 Prozent der Japanerinnen und Japaner sind für einen schnellstmöglichen Atomausstieg. Es
finden große Demonstrationen statt. Inzwischen haben
sie auch Unterstützung von berühmten Leuten. Ich nenne
nur zwei Namen, die auch in Deutschland einen gewissen
Bekanntheitsgrad haben: zum einen den Schauspieler
Taro Yamamoto und zum anderen den Nobelpreisträger
Kenzaburo Oe. Ich habe mit beiden gesprochen. Beide
haben mir erzählt, sie bezahlen ihr Engagement mit öffentlicher Ächtung, mit weniger Aufträgen, mit finanziellen Einbußen und mit Anfeindungen. Ich denke, das
wirft ein bezeichnendes Licht auf eine Gesellschaft.
Zweitens. Wenn man Japanerinnen und Japaner auf
ihre Regierung und ihre Verantwortungsträger anspricht
und sie fragt, ob sie glauben, dass das Richtige passiert
ist und das Richtige getan wird, dann erntet man von allen ein verächtliches Lachen. Regierung und Verantwortliche haben jegliches Vertrauen verspielt.
Drittens. Es sind noch zwei von insgesamt 54 Atomkraftwerken am Netz. Egal wo ich unterwegs war, ich
habe nirgends Energieengpässe feststellen können. Es
gab keine Stromausfälle. Wenn man durch Japan fährt,
stellt man fest: Es gibt, auch ganz kurzfristig, ein riesiges
Energieeinsparpotenzial.
Viertens. Die Stadt Fukushima ist eine Stadt mit ursprünglich 2 Millionen Menschen. Es ist ein industrielles
Zentrum, landschaftlich wunderbar gelegen. Die Stadt
gehört nicht zum Evakuierungsgebiet. Die Strahlenwerte
sind aber höher als die, die ich im 20-Kilometer-Gürtel
im Süden gemessen habe. Es ist eine sterbende Stadt.
Alle Menschen, die es sich ökonomisch halbwegs leisten
können, ziehen weg, weil sie wissen, dass die Strahlung,
der sie ausgesetzt sind, auf Dauer schädlich ist. Viele
können sich aber ökonomisch den Wegzug nicht leisten,
weil sie es nur auf eigene Kosten tun können, da die
Stadt nicht zum Evakuierungsgebiet gehört.
Angesichts dieser und weiterer Beobachtungen habe
ich hinterfragt: Was sind die Ursachen? Wie kommt es
dazu? Es gab interessante und sehr erschreckende Antworten. Ich habe mich lange mit dem Kernphysiker Professor Hiroaki Koide von der Universität Kioto unterhalten. Er hat mir zwei Dinge deutlich gemacht.
Erstens. Japan hat in den letzten Jahren zu keinem
Zeitpunkt Atomstrom gebraucht, um sich mit Energie
versorgen zu können. Sie hatten immer genug andere
Möglichkeiten, Strom zu produzieren. Genau das wird
deutlich, wenn es jetzt keine Engpässe gibt. Man kann
darüber diskutieren, ob die Öl- und Kohlekraftwerke das
Gelbe vom Ei und zukunftsweisend sind. Aber das Risiko der Atomtechnik für die Stromversorgung der Menschen und der Industrie einzugehen, war nicht notwendig.
Zweitens. Die Situation ist beileibe nicht im Griff. Bis
heute kann kein Wissenschaftler sagen, was in den drei
Blöcken los ist, weil die Strahlung schlicht und ergreifend zu hoch ist und kein Mensch genauer hineinschauen
kann. Die größte Gefahr, die häufig gar nicht in unserem
Blickfeld liegt, geht von Block 4 aus - er war am
11. März abgeschaltet -, in dessen Obergeschoss sich ein
Abklingbecken mit 1 500 Brennelementen befindet. Die
Tragkonstruktion des Gebäudes ist dermaßen angeknackst, dass man sie abstützen musste. Fachleute gehen
davon aus, dass ein mittleres Erdbeben ausreichen
könnte, um die gesamte Konstruktion zum Kollabieren
zu bringen. Selbst Regierungsvertreter geben zu, dass in
einem solchen Fall die Evakuierung Tokios, eines Großraums mit 30 Millionen Menschen, notwendig würde.
Drittens. Wir stellen fest: Japan hat bislang keine
Abkehr von der Atomtechnik beschlossen. Angesichts
dessen, dass die Mehrheit der Bevölkerung das deutlich
fordert, fragt man sich: Was steckt dahinter? Es ist
bereits angesprochen worden - ich konnte die Dokumentation nicht sehen -: Die Macht der Atomkonzerne in
Japan ist enorm. Sie haben einen Rieseneinfluss auf die
Medien, aber auch auf politische Entscheidungsträger.
Das ist sicherlich ein Grund. Einen zweiten Grund, den
mir Historiker von der Universität in Hiroshima erläutert
haben, möchte ich nicht verschweigen. Gerade in der
Zeit, als ich in Japan war, haben Regierungsvertreter diesen zweiten Grund deutlich artikuliert; bei uns ist er in
den Medien nicht aufgetaucht. Der zweite Grund lautet:
Man möchte sich die Option auf eine Atombombe erhalten. Die zivile Nutzung der Atomkraft gehört nämlich
unteilbar immer auch zur militärischen.
Mein Fazit daraus - dieses Fazit sollten wir gemeinsam ziehen und nicht aus den Augen verlieren -: Die
Situation ist auch nach einem Jahr hochbrisant, und man
hat sie noch längst nicht im Griff.
Insgesamt möchte ich festhalten: Einige Konzerne
haben, ähnlich wie in anderen Ländern, enorme
Gewinne mit der Atomenergie gemacht. Die Menschen
jedoch zahlen, und zwar dreifach: Zum Ersten zahlen sie
durch den Verlust von Heimat und von sozialen Zusammenhängen. Sie verlieren ihr Zuhause, weil es verstrahlt
ist oder evakuiert werden musste. Zum Teil sind sie aus
freien Stücken gegangen, weil sie ihren Kindern und
ihrer Familie ein Leben dort nicht weiter zumuten wollten. Zweitens zahlen sie mit der Gefahr des Verlustes
ihrer Gesundheit. Es gibt zwar relativ wenige akut Strahlenkranke; aber auf lange Sicht ist diese Strahlung hochgefährlich, was Ihnen jeder Mediziner gerne bestätigen
wird. Drittens zahlen sie, indem sie die Kosten des Ganzen tragen. Sie tragen die Kosten privat, weil sie ein
Haus haben, das sie nicht mehr vermieten oder nicht
mehr selbst bewohnen können, für das sie aber weiterhin
die Hypotheken zahlen müssen. Sie zahlen es auch über
Steuern und Abgaben sowie aufgrund der ökonomischen
Probleme, die dieses Land zwangsläufig hat und noch
lange Zeit haben wird.
Das wäre in keinem Land der Welt anders; das wäre
auch in Deutschland im Falle eines Falles nicht anders.
Im Laufe der Jahre haben einige Wenige die Profite
gemacht, aber die normale Bevölkerung zahlt die Zeche.
Ich meine, nach Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima
ist es an der Zeit, dass wir daraus lernen. Das, was hierzu
bislang beschlossen wurde, ist jedoch deutlich zu wenig.
Ein Atomausstieg, und zwar ein unumkehrbarer, muss
schnellstmöglich erfolgen. Ein solcher Ausstieg ist deutlich schneller als erst 2022 möglich; hierzu haben wir
entsprechende Unterlagen vorgelegt, und Wissenschaftler belegen das.
({1})
Des Weiteren ist es notwendig, dass wir, die wir für
einen Ausstieg kämpfen, uns international vernetzen: auf
der parlamentarischen Ebene, aber auch in den gesellschaftlichen Bewegungen. Die japanischen Kolleginnen
und Kollegen haben das erkannt und kämpfen darum. Immerhin haben wir es mit globalen Konzernen zu tun, die
sich dagegenstellen. Es ist zudem notwendig - auch
wenn wir nur einen lockeren Ausstiegsbeschluss haben -,
uns dafür einzusetzen, dass unsere Technik nicht in
anderen Ländern importiert wird und wir kein Geld für
die Entwicklung von Atomkraftwerken in andere Länder
geben. Natürlich gehört auch dazu, dass wir bei uns vor
Ort einmal sehr genau hinschauen. Auch hier gibt es
durchaus Sicherheitsmängel und Probleme. Ich erinnere
nur an die verrosteten Fässer in Brunsbüttel, über die
gestern Berichte durch die Medien gingen.
Deswegen: Ich habe heute gelernt, dass diese Regierung weiterhin Druck braucht; das ist noch nicht gegessen. Ich glaube, die Menschen haben das auch kapiert
und werden sich zahlreich an den fünf Demos und an der
Lichterkette am Sonntag beteiligen - zum Gedenken der
Opfer in Japan und für einen schnellstmöglichen Atomausstieg.
Ich danke Ihnen.
({2})
Sylvia Kotting-Uhl hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
sehen: Die Opposition reist, um sich die Dinge vor Ort
anzuschauen. Ich war seit Mai letzten Jahres dreimal in
Japan, um Gespräche zu führen. Ich werde morgen wieder dorthin reisen, um bei den großen Demonstrationen
in Fukushima und Tokio zu reden.
({0})
Ich bin dort nicht als Grüne unterwegs, die gegen die
Bundesregierung zu Felde zieht, sondern als Botschafterin Deutschlands.
({1})
Die Menschen dort bewundern das Beispiel Deutschlands und brauchen es auch. Ich glaube, Sie unterschätzen die Verantwortung, die wir mit dem Bekenntnis zum
Atomausstieg und zur Energiewende in Deutschland
weltweit übernommen haben. Das ist nicht nur eine
deutsche Geschichte; das ist eine weltweite Aufgabe.
({2})
Ich habe bei meiner ersten Reise nach Japan in den
Gesprächen gelernt, dass die Desinformation durch die
japanischen Behörden, die Regierung und Tepco, über
die dort viel geklagt wird, kein Problem Japans ist, sondern ein Problem der Atomkraft. Jedes Land wäre mit
den Auswirkungen eines GAUs total überfordert. Das ist
die Botschaft, die ich aus Japan mitgenommen habe.
Japan braucht den Umstieg auf erneuerbare Energien
und mehr Energieeffizienz. Wie denn sonst, Kolleginnen
und Kollegen, soll Japan seinen Energiebedarf selbst bei
Einsparungen stillen? Dieses erdbebengefährdete Gebiet
muss weg von der Atomkraft.
({3})
Für diesen Umstieg braucht Japan ein Beispiel. Japan ist
ein hochindustrialisiertes Land. Die gleichen Argumentationen, die wir heute Morgen wieder gehört haben - die
Wirtschaft braucht bezahlbare Energiepreise, sonst
drohe der Untergang Deutschlands -, sind auch heute
noch in Japan zu hören. Es gibt eine große Furcht davor,
dass die Wirtschaft geschädigt wird, wenn man von der
Atomkraft Abstand nimmt. Japan braucht aber den
Atomausstieg zum Überleben; das hat uns doch dieses
Ereignis in Fukushima gezeigt. Deshalb braucht Japan
ein Beispiel; Japan braucht Unterstützung. Hier vermisse
ich ein Wort der Unterstützung von unserer Bundeskanzlerin; ich vermisse diesbezüglich überhaupt Worte dieser
Bundesregierung.
({4})
Was heißt es denn, den Atomausstieg ernst zu nehmen? Das heißt, die Energiewende hier voranzubringen
und sie eben nicht, wie wir es erleben, an die Wand zu
fahren. Das heißt, die Ausrichtung der Forschung an die
neuen Ziele anzupassen, und es heißt, weltweit, vor
allem in dem getroffenen Land Japan, für eine neue Ausrichtung der Energiepolitik zu werben und zu zeigen,
dass und wie es geht. Das ist unsere Aufgabe. Es wäre
die Aufgabe dieser Bundesregierung, mit dieser Botschaft dorthin zu gehen und vor Ort davon zu überzeugen, dass es anders geht, dass man die Atomkraft nicht
braucht. Darauf warten wir.
({5})
Der Kollege Josef Göppel hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende
ist die historische Konsequenz aus dem Unfall von
Fukushima. Die würdigste Art, der Opfer zu gedenken,
ist, den Weg in eine neue Energiepolitik einzuschlagen,
die solche Opfer in der Zukunft unmöglich macht.
({0})
Das ist der Weg der deutschen Energiewende.
Ich finde es schon bemerkenswert, und es freut mich,
wenn eine Grüne hier sagt, sie gehe als Botschafterin
Deutschlands nach Japan und Deutschland werde in der
Welt bewundert. In der Tat: Das deutsche Experiment
wird in der Welt skeptisch und hoffnungsvoll beobachtet. Das ist auch kein Wunder; denn kein anderes Land
hat eine solche Konsequenz aus diesem Unfall gezogen.
Frau Kotting-Uhl, ich meine, Sie sollten sich in dem
Punkt korrigieren: Sie müssen nicht auf Worte von Frau
Merkel warten, weil Frau Merkel mit der Tat geantwortet hat. Die deutsche Energiewende ist vollzogen.
({1})
Man muss allerdings sagen, dass das nicht möglich
gewesen wäre, wenn nicht die deutsche Bevölkerung
über Jahrzehnte diese Grundstimmung aufgebaut hätte.
Nur diese Grundstimmung hat es ermöglicht.
({2})
Diese Grundstimmung darf uns veranlassen, in diesem
Zusammenhang zu sagen: Wir sind stolz auf unser Land
und unsere Bevölkerung; denn dem Weg, mit dem die
Deutschen Zukunftsgerichtetheit ausdrücken, möchten
viele andere Länder folgen. Das erleben alle, die international unterwegs sind.
Darüber hinaus muss man feststellen: Ein Jahr nach
diesem Ereignis haben uns die Alltagsprobleme eingeholt. Für mich lautet der wichtigste Satz aus dem
Beschluss des Koalitionsausschusses vom vergangenen
Sonntag: Wir müssen sicherstellen, dass wieder eine ausreichende finanzielle Ausstattung des Klimafonds hergestellt wird. - Das heißt nichts anderes, als dass wir auf
europäischer Ebene eine Heraufsetzung des Klimaziels
von 20 auf 30 Prozent brauchen
({3})
und dass die vagabundierenden, überschüssigen Zertifikate eingesammelt werden.
Auch an dieser Stelle freut mich der Beifall der Opposition; denn Deutschland hat erklärt, dass auf nationaler
Ebene eine CO2-Minderung von 40 Prozent beschlossen
wurde und dass Deutschland diese Ankündigung auch in
den Brüsseler Verhandlungen aufrechterhält. Wir wissen, dass es im Moment drei osteuropäische Länder gibt,
nämlich Polen, Bulgarien und Rumänien, die sich mit
ihrem Veto gegen diese Maßnahmen stemmen. Für uns
ist das existenziell, weil Deutschland 100 Prozent seiner
Einnahmen aus dem Emissionshandel in den Klimafonds
steckt, während der Durchschnitt auf europäischer
Ebene bei nur 50 Prozent liegt. Es kommt entscheidend
darauf an, dass wir hier einen Durchbruch erzielen; das
muss an dem einjährigen Gedenktag der Energiewende
deutlich gemacht werden. Die Berliner Bühne ist dafür
nur begrenzt ausschlaggebend; maßgeblich ist hier die
europäische Ebene.
Was sich hier abspielt, ist im Kern eine technologische Wende, die die Politik nur nachvollzogen hat; denn
die Fortschritte in der Mikroelektronik sind es, die eine
kleinteilige Energieversorgung möglich machen. Der
Weg führt von den zentralen Großkraftwerken zur kleinteiligen Energieversorgung. Der Weg führt auch von den
anonymen Aktienpaketen zum breiten Volkseinkommen.
({4})
Es ist doch völlig klar, dass es da Widerstände gibt; denn
das führt zu Verschiebungen in der Wertschöpfungskette.
Ich sitze für eine Partei im Deutschen Bundestag, für die
CSU, die für ein breit gestreutes Einkommen, für den
Mittelstand und für das Handwerk eintritt. All das wird
mit der Energiewende erreicht.
Wir erleben eine echte Volksbewegung in der Gründung von Energiegenossenschaften. Wir erleben auch,
dass die Marktdurchdringung die Preise sinken lässt. Es
ist eine Tatsache, dass im Jahr 2011 der durchschnittliche Großhandelsstrompreis an der Leipziger Börse von
6,0 auf 5,5 Cent je Kilowattstunde gefallen ist, weil die
Erneuerbaren die Mittagsspitzen brechen.
({5})
Auch das muss im Zusammenhang mit der Diskussion
um eine EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent je Kilowattstunde gesagt werden; denn dies ist immer nur ein Differenzbetrag.
Natürlich muss man auch über die Befreiungen diskutieren. Ich bin für die Befreiung unserer energieintensiven Betriebe, damit sie wettbewerbsfähig bleiben.
Aber man darf über diese 3,5 Cent nicht ohne Berücksichtigung der preissenkenden Wirkung der erneuerbaren Energien und der kostenerhöhenden Wirkung der
Befreiungen diskutieren. Das muss auch einmal gesagt
werden.
({6})
Insbesondere die Entwicklung im Bereich der Solarenergie ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn wir die
Novelle, die morgen in erster Beratung im Parlament
behandelt wird, beschließen, dann beträgt die durchschnittliche Vergütung für eine Kilowattstunde Solarstrom 17 Cent; sie ist damit 1 Cent billiger als eine Kilowattstunde Windstrom von der See. Das ist eine
technologische Erfolgsgeschichte, die langfristig anhalten wird. Warum? Im Bereich der erneuerbaren Energien
gibt es ein besonderes Charakteristikum. Man hat eine
hohe Anfangsinvestition, aber im weiteren Verlauf sind
die Betriebskosten niedrig; denn der „Brennstoff“ für
Wind und für Solar kostet nichts. Das bedeutet: Wenn
erst einmal investiert wurde und die anfallenden Kosten
abgeschrieben sind, dann kommt es tendenziell zu sinkenden Strompreisen. Das ist eine positive Aussicht für
die Verbraucher. Deswegen ist der eingeschlagene Weg
richtig, und es ist gut, dass er entschlossen gegangen
wird.
({7})
Ich möchte noch einmal auf die Energiegenossenschaften zu sprechen kommen, die sich im ganzen Land
bilden. Das ist nicht nur etwas für die ländlichen Räume.
Wir sollten auch entsprechende Rahmenbedingungen
schaffen, damit sich Mieter in den Großstädten zum
Beispiel an Solaranlagen auf den Dächern beteiligen
können, die die Häuser dann unmittelbar mit Strom versorgen. Die Zukunft liegt in der zellenartigen Struktur, in
der kleinteiligen Stromversorgung, die die Belastung der
großräumigen Netze verringert und auf diese Art und
Weise Wertschöpfung und Einkommen vor Ort schafft.
({8})
Der Kollege Michael Gerdes hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
dreifache Katastrophe von Fukushima steht für tiefe
menschliche und politische Einschnitte: Erdbeben, Tsunami, Atomunfall - für die Betroffenen in Japan bedeutet diese schlimme Kettenreaktion großes persönliches
Leid. Viele Familien haben ihre Angehörigen und ihre
Heimat verloren. Nach wie vor ist die Strahlenbelastung
in der Region um Fukushima kaum einschätzbar, und
weitere Risiken sind nicht abzuschätzen. Unser Mitgefühl gilt den Opfern von Fukushima.
Die vielen Mahnwachen und Großdemos, die es in
Deutschland gab, haben gezeigt, wie groß die Angst vor
den Gefahren der Kernenergie ist. Bei Naturkatastrophen
sind wir weitgehend machtlos, bei der Wahl der Energieerzeugung allerdings nicht. Politisch gesehen stellt
Fukushima eine Zäsur dar, weil erstmals ein technisch
hochgerüstetes Land die Kontrolle über die Atomkraft
verloren hat, und zwar trotz höchster Sicherheitsstandards und trotz gut ausgebildeter Ingenieure. Sind wir
wirklich besser? Nur scheinbar haben auch Union und
FDP begriffen, wie wenig sicher diese Form der Energieerzeugung ist. Hinzu kommt die immer noch ungelöste Endlagerfrage.
Die Kehrtwende der Kanzlerin war ohne Frage beachtlich, wenngleich wir an der Motivation für den
Atomausstieg zweifeln.
({0})
Passend dazu schrieb die Süddeutsche Zeitung vorgestern:
Angela Merkel und die Atomkraft - das ist die Geschichte einer langen Beziehung, aus der sie am
Ende schnell ausstieg. Weil sie ihr politisch keine
Energie mehr brachte.
Wenn ich sehe, wie viel Geld das Bundesministerium für
Bildung und Forschung in die Atomforschung steckt und
dass es zudem auf das Exportpotenzial deutscher Atomtechnologie verweist, bezweifle ich, dass Schwarz-Gelb
tatsächlich von der Kernkraft abgekehrt ist. Die Ausführungen des Kollegen Paul haben das heute gezeigt.
({1})
Die SPD-Fraktion steht ohne Wenn und Aber zum
Ausstieg aus der Atomkraft. Allein mit dem Abschalten
der Atomkraftwerke ist die gewünschte Energiewende
aber noch lange nicht vollzogen. Vielmehr ist es jetzt
notwendig, den eingeleiteten Umbau unseres Energiesystems hin zu einem nachhaltigen, sicheren und sozial
gerechten System fortzusetzen, und zwar mit Volldampf.
Wenn ich mir das Regierungshandeln der letzten Monate
anschaue, dann stelle ich fest, dass dieser Dampf fehlt.
Wir brauchen dringend mehr politische Anstrengungen
beim Netzausbau, bei der Speicherung von Strom und
Wärme, bei den modernen Kraftwerkstechnologien und
vor allem im Bereich der Energieeffizienz.
Ich lese viele Schlagworte und Überschriften, aber es
fehlt die Strategie. Vor allem fehlt die stringente und
transparente Koordinierung der Energiepolitik. Wer ist
denn überhaupt verantwortlich für die Energiewende?
({2})
Frau Merkel selbst, der Wirtschaftsminister oder vielleicht Herr Röttgen? Oder schaltet am Ende sowieso
Herr Schäuble das Licht aus, weil das Geld fehlt und der
Energie- und Klimafonds auf Sand gebaut ist? - An
dieser Stelle hat die Koalition nicht geklatscht, Herr Kollege Göppel.
In der Zwischenbilanz zur Energiewende, die seitens
der Bundesregierung am 23. Februar 2012 vorgelegt
wurde, steht geschrieben, dass die Bundesregierung einen Steuerungskreis zur Umsetzung der Energiewende
einsetzen will, und zwar auf Ebene der Staatssekretäre.
Wenn ich weiterlese, stelle ich aber fest, dass dieser
Kreis halbjährlich zusammenkommen soll. Das kann
doch nicht wahr sein. Deutschland will einen Systemwechsel, der komplexer und ehrgeiziger nicht sein
könnte, und die Staatssekretäre treffen sich zwei Mal im
Jahr. Das ist definitiv zu wenig.
({3})
Trotz aller Kritik bleibt festzuhalten, dass es viele
gute Ansätze und Projekte auf dem Weg zur Energiewende gibt. Wir müssen sie allerdings besser fördern
und darauf drängen, dass gute Beispiele schnell und
flächendeckend Schule machen. Ich will ein Beispiel
nennen: Meine Heimatstadt Bottrop in Nordrhein-Westfalen steht wie keine andere Stadt für das, was ich unter
Energiewende verstehe. Wir wandeln uns von der Bergbaustadt zur Modellstadt für Klimaschutz und Energieeffizienz. Jahrzehntelang haben wir mit der Förderung
von Steinkohle für Energie gesorgt, und wir tun es immer noch. Dass die Kohleförderung trotz modernster
Technologien und bestausgebildeter Bergleute vorbei
sein soll, bedauere ich persönlich. Dennoch gehen wir
unter und über Tage neue Wege. In den Schächten könnten Pumpspeicherkraftwerke entstehen, um zur Verstetigung volatiler Energien beizutragen. Grubenbaue könnten in Zukunft als Energiespeicher dienen. Schon heute
kann die Wärme des Grubenwassers zur Gebäudeversorgung genutzt werden, und über Tage entsteht die Innovation City Ruhr. Herzstück des Modellprojektes ist die
energetische Sanierung eines kompletten Stadtteils.
Wenn es gelingt, die bestehenden Gebäude in einer Größenordnung von 14 400 klimafreundlich zu sanieren und
den CO2-Ausstoß bis 2020 um die Hälfte zu reduzieren,
wird dies ein Vorbild für weitere Projekte in ganz
Deutschland sein.
({4})
Jede Kilowattstunde, die eingespart wird, braucht nicht
erzeugt zu werden, braucht nicht transportiert zu werden
und verursacht keine Emissionen. Das ist die Wende, die
wir brauchen.
Herzlichen Dank. Glück auf!
({5})
Angelika Brunkhorst hat jetzt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen nehmen den Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Fukushima zum Anlass für einen Rundumschlag gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie
und fordern den absoluten, den weltweiten Atomausstieg. Ich halte diese Forderung für anmaßend; denn das
ist nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt
genesen. - Ich denke, dass alle Staaten souverän sind
und selbst über ihre Energieversorgung entscheiden
wollen.
({0})
Im Umweltausschuss haben wir mehrfach über Fukushima diskutiert. Zuletzt hat die Strahlenschutzkommission am 29. Februar 2012 darüber berichtet.
Aufgrund des Erdbebens brach die öffentliche Stromversorgung zusammen, aber die Reaktoren blieben
zunächst unbeschädigt. Auch die Schnellabschaltung erfolgte noch. Erst durch den folgenden Tsunami, durch
die hohe Welle, wurden die Notstromversorgung und die
Notkühlsysteme außer Kraft gesetzt. So konnte die
Nachzerfallswärme nicht mehr abgeführt werden, und es
kam zur Katastrophe.
Frau Kollegin, Herr Rebmann würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?
Nein, das möchte ich nicht.
({0})
Der Vollständigkeit halber muss man an dieser Stelle
sagen, dass der Reaktorunfall von Fukushima auch eine
andere, grundlegende Ursache hat, nämlich die Fehlauslegung der Anlage an sich. Die Anlage ist nur für Erdbeben bis zur Stärke 8 der Richterskala ausgelegt und
vor Tsunamis bis zu einer Wellenhöhe von 5,70 Meter
geschützt. Man hätte bei der Konstruktion der Anlage
also eine entsprechend höhere Eindeichung vorhalten
müssen. Tatsächlich waren die Notstromdieselaggregate
und die Notkühlpumpen vor der Überflutung infolge des
Tsunamis nicht ausreichend geschützt.
In Deutschland sind keine vergleichbaren Erdbeben
und auch keine Tsunamis zu erwarten; die Seite des
Erdballs, auf der wir leben, ist davon kaum betroffen.
Mehrfachkatastrophen in dieser Dimension sind in
Deutschland nicht zu befürchten.
Alle deutschen Kernkraftwerke verfügen über mehrfach hintereinander gestaffelte Sicherheitsbarrieren;
diese sind technisch unterschiedlich wirksam. Durch
diese Grundsätze der Redundanz und Diversität wird in
Deutschland ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet.
Dies ist weltweit anerkannt.
({1})
Alle deutschen Kernkraftwerke an Standorten mit entsprechender Gefährdung wurden bei ihrer Errichtung
gegen Hochwasser und Erdbeben ausgelegt. Bei der
Auslegung der Kernkraftwerke beispielsweise gegen
Erdbeben wird im kerntechnischen Regelwerk das
stärkste anzunehmende Erdbeben in einem Umkreis von
200 Kilometern zugrunde gelegt.
Es war richtig, dass nach den Erfahrungen mit Fukushima zusätzlich zu den regelmäßig stattfindenden Kontrollen deutscher Kernkraftwerke diese gesonderte Risikoanalyse stattgefunden hat.
({2})
Es wäre schön, wenn auch die Grünen die positiven Ergebnisse dieser Sicherheitsanalyse erwähnen würden.
Ich glaube, dass unsere Kernkraftwerke über ein hohes Sicherheitsniveau verfügen. Dies wird durch die sehr
strenge atomrechtliche Aufsicht der zuständigen Behörden in den Ländern gewährleistet.
({3})
- Er arbeitet nicht in einer Landesbehörde. Nein danke,
Herr Trittin.
({4})
Deutschland wird Japan gerne helfen, zum einen
moralisch - Japan hat natürlich unser Mitgefühl -; zum
anderen werden wir Japan mit unseren Erfahrungen, mit
unserem technischen Wissen und Know-how unterstützen, wenn die Japaner das möchten.
({5})
Die Katastrophe in Japan führte auch in Deutschland
zu einer Neubewertung der Risiken; dies war richtig. Die
Kanzlerin hat gehandelt. Ich möchte hier noch einmal
sagen, dass die Koalition im Sommer 2011 - abweichend vom Energiekonzept aus 2010, in dem wir bereits
das Ziel bekräftigt hatten, perspektivisch auf die Kernenergie zu verzichten - eine Neuausrichtung der
Nutzung der Kernenergie vorgenommen hat. Wir werden
beschleunigt aus der Nutzung der Kernenergie aussteigen und einen beschleunigten, ambitionierteren, vernunftorientierten und gangbaren Weg in das Zeitalter der
regenerativen Energien aufzeigen. Ich denke, wir sind
auf einem guten Weg.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Dieter Jasper hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr, am 11. März 2011, hielt die Welt den Atem an.
An diesem Tag bebte vor der japanischen Ostküste die
Erde. Das Epizentrum des Bebens lag rund 150 Kilometer nordöstlich des Kraftwerkes Fukushima. Nach wenigen Sekunden erreichten die Primärwellen das Kraftwerk. Das Beben dauerte ungefähr zwei Minuten und
hatte eine Stärke von 9,0. Eine knappe Stunde später
trafen die ersten der bis zu 15 Meter hohen Wellen in
Fukushima ein.
Das Kernkraftwerk besteht aus sechs Reaktorblöcken.
Neben jedem Reaktor befindet sich ein Abklingbecken
zur Zwischenlagerung verbrauchter und neuer Brennelemente. Reaktoren und Abklingbecken müssen permanent gekühlt werden. Die eintreffenden Primärwellen
des Bebens bewirkten eine Schnellabschaltung der drei
in Betrieb befindlichen Reaktoren. Gleichzeitig fiel die
externe Stromversorgung aus, sodass die Kühlung durch
Notstromaggregate sichergestellt werden musste. Bis
dahin war die Situation noch überschaubar und beherrschbar.
Dann erreichten die Tsunamiwellen das Kraftwerk.
Die Reaktorblöcke wurden vollkommen überschwemmt.
Die in den Gebäuden befindlichen Generatoren fielen
aus und somit die gesamte Kühlung. Trotz verzweifelter
Rettungsmaßnahmen kam es zu einer Überhitzung der
Reaktoren und der Abklingbecken und in der Konsequenz zu Kernschmelzen in den drei Reaktoren. Explosionen führten zu schweren Verwüstungen des Kraftwerks und des Kraftwerksgeländes. Die Strahlenbelastung auf dem Gelände wuchs stark an. Vier von sechs
Reaktorblöcken wurden vollständig zerstört. Die Entsorgungsarbeiten werden mehrere Jahrzehnte dauern. Die
verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt sind nicht
abzuschätzen. Jeder von uns hat die furchtbaren Bilder
vor Augen, die alle Sender seinerzeit weltweit live übermittelten. Diese schlimmen Tage werden uns immer in
Erinnerung bleiben. Wir fühlen mit den japanischen Bürgerinnen und Bürgern, die durch diese Katastrophe unmittelbar bedroht wurden und es heute noch werden.
Und doch war da auch dieses Gefühl der Fassungslosigkeit: Wie konnte es sein, dass eine technisch so hoch
stehende Nation wie Japan scheinbar so hilflos bei der
Bewältigung dieser Katastrophe war? Natürlich stellte
sich auch die Frage: Ist so etwas auch bei uns in
Deutschland denkbar und möglich? Rein technisch betrachtet hatte sich durch den Unfall in Fukushima die Sicherheitslage der Reaktoren in Deutschland nicht geändert. Aber das Erdbeben in Japan hatte nicht nur das
Kraftwerk Fukushima erschüttert und zerstört. Erschüttert und zerstört wurde auch das bis dahin vorherr19558
schende Vertrauen, dass die Risiken der Kernkraft beherrschbar seien.
({0})
Es fand auf politischer Ebene eine Neubewertung der
Risiken statt. Auch das bis dahin Unvorstellbare wurde
jetzt als Möglichkeit akzeptiert. Das geltende Energiekonzept sah zwar einen Ausstieg aus der Kernkraft vor,
aber erst zu einem späteren Zeitpunkt. Jetzt fand eine
grundlegende Korrektur statt. Die Energiewende wurde
vollzogen. Acht Kraftwerke wurden vom Netz genommen; die restlichen folgen bis zum Jahr 2022. Deutschland stand und steht somit vor einer seiner größten Herausforderungen seit der deutschen Einheit.
Doch wie kann eine der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt seine Energieversorgung binnen zehn Jahren auch ohne Kernkraftwerke sicherstellen? Kernelement der Energiewende ist der Ausbau der erneuerbaren
Energien. Das sind in erster Linie Wind, Sonne und Biomasse. Bei der Stromerzeugung haben diese Energieformen sprunghaft zugelegt. Es wurde zwischenzeitlich ein
Anteil von über 20 Prozent erreicht. Dazu haben vor allen Dingen die stärkere Nutzung von Windenergie und
Biogas sowie der kräftig gestiegene Solarstromanteil
beigetragen.
Diesem dynamischen Ausbau der Regenerativen stehen erhebliche Probleme gegenüber. Da ist zunächst die
Infrastruktur zu nennen. Die Deutsche Energie-Agentur
schätzt den Bedarf an zusätzlichen Hochspannungsleitungen auf bis zu 4 500 Kilometer. Doch der notwendige
Ausbau insbesondere der Trassen von Nord- nach Süddeutschland stößt in Teilen der Bevölkerung auf erhebliche Widerstände. Oft sind es leider die Vertreter der Parteien, die sich hier im Bundestag als Gralshüter
ökologischer Energiepolitik aufführen, die vor Ort in der
ersten Reihe der Protestierer stehen.
({1})
Hier wären mehr Standvermögen und weniger Populismus hilfreich, um die notwendigen Maßnahmen durchführen zu können.
Zweites Thema: Netzsicherheit. Zu den größten Problemen der regenerativen Energien gehören deren hohe
Volatilität und die fehlenden Speichermöglichkeiten.
Dies gilt insbesondere für Energie aus Wind und Sonne.
Eine der wenigen bisher vorhandenen Möglichkeiten der
Speicherung bieten Pumpspeicherwerke. Doch hier gilt
das Gleiche wie beim Netzausbau: Es reicht nicht aus, in
Berlin Forderungen zu stellen. Man muss diese auch vor
Ort vertreten und darf sich nicht wegducken, wenn es
schwierig wird. So machen derzeit beispielsweise im
Schwarzwald die örtlichen Bündnisgrünen Front gegen
ihren eigenen Ministerpräsidenten, der dort den Bau eines Pumpspeicherwerks plant. Bei allem Verständnis für
die Bedenken der Menschen vor Ort sollte es gerade für
die Grünen eine Selbstverständlichkeit sein, hier aufklärend und vermittelnd zu wirken. Einfach nur dagegen zu
sein, hilft nicht wirklich weiter.
({2})
Aufgrund der hohen Volatilität der regenerativen
Energien brauchen wir zukünftig weiterhin grundlastfähige Gas- und Kohlekraftwerke. Wir haben in Nordrhein-Westfalen und speziell in meinem Wahlkreis einen
funktionierenden Steinkohlebergbau. Die Steinkohle ist
eine unserer letzten nationalen Energiereserven. Vor dem
Hintergrund der bestehenden großen Unsicherheiten
würde eine weitere Förderung der heimischen Steinkohle ein Mehr an Sicherheit und ein Mehr an Zuverlässigkeit bewirken. Deshalb trete ich in der Konsequenz
für den Bau neuer hocheffizienter Kohlekraftwerke mit
verbessertem Wirkungsgrad ein.
Die Realität bei uns in Nordrhein-Westfalen ist leider
eine andere. Bereits gebaute hochmoderne Kohlekraftwerke wie das in Datteln werden aufgrund des Widerstands des grünen Umweltministers verhindert und nicht
in Betrieb genommen. Eine Investitionsruine von über
1 Milliarde Euro droht. Dies ist sowohl unter Klimaschutzgesichtspunkten als auch unter dem Aspekt einer
sicheren Energieversorgung nicht zu verstehen. Lieber
Kollege Gerdes von der SPD, ich hätte mir von Ihnen
eine klare Aussage zugunsten des Bergbaus bei uns in
Deutschland gewünscht. Ich glaube aber, dass wir uns da
auf der gleichen Linie bewegen.
({3})
Dritter und letzter Punkt: die Kosten; dieser Aspekt
ist für mich als Wirtschaftspolitiker besonders wichtig.
Die Menschen in Deutschland wollen mit großer Mehrheit den Ausstieg aus der Kernenergie. Dies hat vielfältige Konsequenzen, natürlich auch monetäre. Eine der
Konsequenzen wird sein, dass die Kosten für die Energieversorgung steigen. Aktuell erhalten Ökostromproduzenten von den Verbrauchern einen Betrag von
3,59 Cent pro Kilowattstunde. Das sind bereits etwa
14 Prozent des gesamten Strompreises. Die Bürger und
die Unternehmen dürfen aber nicht überfordert werden.
Der Strom muss nicht nur sicher und sauber, er muss
auch bezahlbar bleiben. Das ist nicht nur eine Frage der
Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch eine Frage der Akzeptanz der Energiewende in der deutschen Bevölkerung.
Ich will dies am Beispiel der Photovoltaik deutlich
machen, zu der wir morgen noch eine ausführliche
Debatte führen werden. Gegenüber 2009 wurde die
Einspeisevergütung für Solarstrom nahezu halbiert. Dennoch wurden in den beiden letzten Jahren jeweils
7 500 Megawatt neu installiert.
Vor dem Hintergrund rapide gefallener Weltmarktpreise für PV-Module ist die aktuelle Anpassung der
Vergütungssätze konsequent und folgerichtig. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, dass die Photovoltaik
schon in einigen Jahren Marktreife erlangt und ohne Förderung auskommt.
Die von unserem Umweltminister Norbert Röttgen
und dem Wirtschaftsminister gemeinsam getroffene Entscheidung, im Bereich der PV einen klaren Einschnitt
vorzunehmen, ist richtig, nachvollziehbar und findet
meine volle Unterstützung.
Photovoltaik wird in Deutschland weiterhin erfolgreich sein. Die deutsche PV-Industrie zählt zu den internationalen Technologieführern. Gleichzeitig besteht die
Herausforderung darin, die mit dem inländischen Zubau
verbundenen Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher wirkungsvoll zu steuern und in überschaubaren
Grenzen zu halten.
Fazit: Den regenerativen Energien gehört die Zukunft. Der Weg dorthin ist schwierig, bietet aber gerade
für unsere Unternehmen in Deutschland vielfältige
Chancen. Die weitere Umsetzung des Energiekonzepts
muss zügig und konsequent erfolgen. Wir brauchen
wettbewerbsfähige Energiepreise auf Basis einer effizienten und umweltschonenden Energieerzeugung.
({4})
Zu den wichtigsten zukünftigen Aufgaben zählen der
zügige Ausbau leistungsfähiger Netze, die Steigerung
der Energieeffizienz, der Zubau effizienter und flexibler
Gas- und Kohlekraftwerke, mehr Markt und mehr
Marktintegration sowie eine permanente Kostenkontrolle, um eine Fehlallokation der Fördermittel zu vermeiden und die Kosten der Energiewende zu begrenzen.
Unser Bundesumweltminister Norbert Röttgen macht
hier einen ganz hervorragenden Job. Es geht bei der Energiewende nicht um kurzfristigen Beifall, den sich Vertreter von Rot und Grün gerne auf interessegeleiteten Veranstaltungen abholen. Wenn die Energiewende erfolgreich
gelingen soll, dann müssen ökologische Notwendigkeiten
und ökonomische Erfordernisse abgewogen und miteinander verknüpft werden. Die Bundesregierung und
Norbert Röttgen sind hier auf einem guten Weg.
Die Neuausrichtung der Energieversorgung in Deutschland ist jedoch eine Gemeinschaftsaufgabe und kann - so
die Ethikkommission - nur mit einer gemeinsamen Anstrengung auf allen Ebenen der Politik, der Wirtschaft und
der Gesellschaft gelingen.
Herzlichen Dank und Glück auf.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8898 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis m auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 12. Oktober 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Indien über Soziale Sicherheit
- Drucksache 17/8727 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eurojust-Gesetzes
- Drucksache 17/8728 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Siebten Änderung des Übereinkommens über den
Internationalen Währungsfonds ({1})
- Drucksache 17/8839 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 30. September 2011 des Übereinkommens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung
der Europäischen Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung
- Drucksache 17/8840 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. September 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/8841 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - zur Änderung
des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts -, zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008
- Drucksache 17/8842 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Förderung der Bildungsforschung weiter vorantreiben
- Drucksache 17/8604 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({7}), Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kein Zugang von Kindern und Jugendlichen
zu Kriegswaffen bei Bundeswehr-Veranstaltungen
- Drucksache 17/8609 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz
- Drucksache 17/8795 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz
- Drucksache 17/8895 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schweinepest tierschonend bekämpfen - Not-
impfung ersetzt grundloses Keulen
- Drucksache 17/8893 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherschutz stärken - Finanzmarktwächter einführen
- Drucksache 17/8894 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Dagmar Freitag, Sabine BätzingLichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleistungszentren und Bundesstützpunkten konsequent bekämpfen
- Drucksache 17/8896 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({12})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann verfahren wir so.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 32 a bis i. Es
handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine
Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkte 32 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Energieverbrauchskennzeichnungsrechts
- Drucksachen 17/8427, 17/8803 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13})
- Drucksache 17/8900 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8900, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
17/8427 und 17/8803 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen
wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion. Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt. Die Linke hat
sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, erheben sich bitte. - Die Gegner stehen bitte
jetzt auf. - Wer sich enthalten möchte, steht bitte jetzt
auf. - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor.
Tagesordnungspunkt 32 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Thomas Silberhorn, Monika Grütters,
Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann,
Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
UNESCO-Welterbestätten in Deutschland
stärken
- Drucksachen 17/7357, 17/8858 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Ulla Schmidt ({15})
Dr. Lukrezia Jochimsen
Claudia Roth ({16})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8858, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei
Zustimmung durch die Koalition angenommen. Die Opposition hat abgelehnt.
Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 32 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 397 zu Petitionen
- Drucksache 17/8779 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 398 zu Petitionen
- Drucksache 17/8780 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und die SPD angenommen. Dagegen
hat die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich
enthalten.
Tagesordnungspunkt 32 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 399 zu Petitionen
- Drucksache 17/8781 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 400 zu Petitionen
- Drucksache 17/8782 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Gegenstimmen
durch die Linke angenommen. Alle anderen waren dafür.
Tagesordnungspunkt 32 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 401 zu Petitionen
- Drucksache 17/8783 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und die SPD angenommen. Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 32 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 402 zu Petitionen
- Drucksache 17/8784 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktionen und die Linke, dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und SPD gestimmt. Die Sammelübersicht ist
angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 403 zu Petitionen
- Drucksache 17/8785 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und Gegenstimmen durch die Opposition angenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:
Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats
gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes
- Drucksache 17/8881 Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
daher gleich zur Abstimmung.
Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlag
auf Drucksache 17/8881? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Zivilcourage gegen Nazis stärken
Das Wort für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Ingrid Remmers.
({24})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland ein Problem mit Rechtsextremismus. Einigen ist diese Erkenntnis früher, anderen später gekommen. Spätestens seit der Aufdeckung
des NSU-Terrors kann aber wohl niemand mehr leugnen, dass alle friedliebenden Menschen gemeinsam gegen Nazis vorgehen müssen. Rechtsextremismus gefährdet das friedliche Zusammenleben; er gefährdet die
Meinungsfreiheit, die Sicherheit des Einzelnen und nicht
zuletzt unser Bild im Ausland.
({0})
Erst in den vergangenen Tagen sind wieder Waffenlager von Neonazis in verschiedenen Bundesländern entdeckt worden. Mein Wahlkreisbüro in Ahlen wurde in
nicht einmal zwei Jahren bereits dreimal von Rechtsextremen angegriffen; ähnlich geht es vielen anderen linken Abgeordneten.
({1})
Aber nicht nur deswegen bin ich immer wieder froh,
zu sehen - ob in Dresden, Münster oder anderswo -,
dass viele Bürgerinnen und Bürger friedlich, humorvoll
und effektiv gegen Nazis demonstrieren und ihre Aufmärsche zum Desaster machen.
({2})
Umso schockierender ist es, wie auf den friedlichen Protest vonseiten der Behörden und auch von Teilen der Regierungen in Bund und Ländern immer wieder reagiert
wird. Das beginnt mit der illegalen Sammlung von
Handydaten in Dresden, geht weiter mit der unerklärlichen Tatenlosigkeit der Verfassungsschützer bei den
NSU-Morden und endet beim Verhalten vieler Polizeieinheiten gegenüber friedlichen Gegendemonstranten
bei Naziaufmärschen.
Ja, ich weiß, dass auch Rechtsextreme in einem
Rechtsstaat Versammlungsfreiheit genießen. Ich weiß
aber auch, dass die Polizei nicht unter allen Umständen
gezwungen ist, einer Nazidemo den Weg freizuprügeln.
Hier muss doch die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
({3})
Ich bin weiterhin der Meinung, dass friedliche Sitzblockaden der Demoroute keine Straftat darstellen.
Darin wird mir sicherlich auch Herr Thierse zustimmen,
gegen den schon einmal ein Verfahren wegen Nötigung
eingeleitet wurde, weil er in Berlin friedlich sitzend den
Nazis den Weg versperrt hatte. Dieses Verfahren wurde
letztlich wegen geringer Schuld eingestellt. Anders als
bei meinen Parteikollegen Janine Wissler, Willi van
Ooyen, André Hahn und Bodo Ramelow wäre wahrscheinlich auch niemand auf die Idee gekommen, Herrn
Thierse deswegen die Immunität abzuerkennen.
Meine Immunität als Abgeordnete wurde am letzten
Samstag von in Münster eingesetzten Polizeikräften
massiv beschädigt. Trotz meiner Kenntlichmachung als
parlamentarische Beobachterin wurde ich von einer Polizeibeamtin tätlich angegriffen und anschließend festgenommen, nachdem ich darum gebeten hatte, in einem
Konflikt deeskalierend wirken zu dürfen.
Aber mein Beispiel steht nur exemplarisch für die
vielen Menschen, die dem Aufruf, auch der Politik, folgen und tatsächlich Zivilcourage zeigen
({4})
und die zum Dank zunehmend in ihrer Bewegungsfreiheit und, wie auch in Münster, in einer Vielzahl ihrer
Persönlichkeitsrechte eingeschränkt werden. Das darf in
einem Rechtsstaat nicht passieren.
({5})
Es ist doch paradox, dass heutzutage in Deutschland
den Nazis ihre grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit gewährt wird und sie so mit ihrer menschenverachtenden Ideologie durch die Städte ziehen dürfen, während gleichzeitig der berechtigte und auch so notwendige
Protest der Couragierten auf abgeschiedene Kundgebungsplätze ausgelagert wird, wo ihn niemand sieht oder
hört. Es ist doch paradox, dass sich wegen der Nazis
Menschen mit Zivilcourage in ihrer eigenen Stadt nicht
mehr frei bewegen dürfen und dass die Wasserwerfer der
Polizei auf Demokratinnen und Demokraten statt auf
Nazis zielen. Ein Blick ins Internet zeigt: Die Nazis
lachen sich darüber kaputt. Es ist auch paradox, dass
Anwohnerinnen und Anwohner vorab von der Polizei
aufgefordert werden, keine Protestplakate und Transparente aufzuhängen, weil die Nazis gefährlich sind.
({6})
Die im Vorfeld in Münster getroffenen Absprachen
der Polizei mit den Menschen in den Wohnvierteln wurden so desaströs nicht umgesetzt oder gar ins Gegenteil
verkehrt, dass die Anwohnerinnen und Anwohner nun
einen offenen Brief an den Polizeipräsidenten und die
Öffentlichkeit gerichtet haben. Dazu ein kleiner Hinweis
an die Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Egal wie
groß möglicherweise Ihre Vorurteile gegenüber den
meist jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten sind,
zeigt das Ganze einmal mehr, dass dieses Problem längst
die Mitte der Gesellschaft erreicht hat und deshalb auch
Sie ansprechen sollte.
({7})
Nicht erst seit dem letzten Samstag, der mich persönlich sehr verstört hat, wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche und politische Debatte darüber, wie wir
künftig damit umgehen wollen, dass zugunsten der
Grundrechte von Nazis die Grundrechte von Demokratinnen und Demokraten eingeschränkt werden. Ja, wir
müssen gemeinsam dahin kommen, das Grundgesetz zu
achten, aber für alle Menschen, allen voran die sogenannten Aufrechten. Dazu gehört unter anderem die
Kenntlichmachung der Polizeibeamtinnen und -beamten
und der Abzug der V-Leute aus der NPD. Dazu gehört
auch, dass die gesamte bisherige Vorgehensweise auf
den Prüfstand gestellt wird und neue Wege gesucht werden.
Lassen Sie uns zusammen diese inzwischen verkehrte
Welt wieder zurechtrücken.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Zuerst möchte ich denjenigen danken, die am vergangenen Samstag in Münster gegen den
Neonazi-Aufmarsch demonstriert haben. Ich danke auch
Ihnen, Frau Remmers, dass Sie die Situation so, wie sie
ist, angesprochen haben.
({0})
Ich brauche dazu keine Ausführungen zu machen. Es ist
gut, wenn die Situation und die Sorgen, die wir mit dem
Neonazi-Aufmarsch und allem, was drumherum passiert
ist, haben, deutlich angesprochen werden. Schlimm ist
aus meiner Sicht, dass es noch immer 300 Neonazis gab,
die den Weg nach Münster gefunden haben und ihre
unsäglichen Parolen in die Öffentlichkeit haben tragen
können. Wir haben keine Toleranz gegenüber diesen
Neonazis, weder inhaltlich noch personell.
({1})
Positiv ist aber, dass 5 000 Männer und Frauen ein
Zeichen gegen diese dummen Menschen gesetzt haben
({2})
und dass auch Abgeordnete aus Bund und Land darunter
waren. Wichtig ist dabei, dass die weit überwiegende
Mehrheit der Demonstrantinnen und Demonstranten
friedlich ein Zeichen gesetzt hat, so wie es das Demonstrationsrecht gebietet, ein Recht, um das uns andere
Gesellschaften beneiden. Sie haben damit auch gezeigt,
dass Rassismus, Zerstörung und Gewalt nicht toleriert
werden und dass eine zivile Gesellschaft anders miteinander umgeht. Sie haben das beste Vorbild gegeben,
wie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit zu
nutzen ist. Die Versammlungen müssen friedlich abgehalten werden.
Es verbieten sich aggressive Ausschreitungen, das
Vorgehen gegen Personen, Sachbeschädigungen einschließlich Schottern, also das Beschädigen von Gleisen,
genauso wie Nötigungen; Sie haben das bereits angesprochen. Ich glaube allerdings, dass auch das Anketten
an Schienen oder andere Gegenstände den Straftatbestand der Nötigung erfüllt. Wer meint, gewalttätig
demonstrieren zu müssen,
({3})
genießt die Versammlungsfreiheit nicht und - passen Sie
bitte auf - spielt den braunen Rattenfängern in die
Hände.
({4})
Daher sollten Sie gewalttätige Demonstrationen nicht
tolerieren.
({5})
- Das ist kein Unsinn. Ich erkläre es Ihnen. Genau das
wollen Rechtsradikale, Rechtsextreme bzw. rechte Terroristen doch.
({6})
Sie wollen, dass ihre Aktionen medial immer wieder in
den Fokus gerückt werden. Deswegen bitte ich Sie:
Unterstützen Sie gewaltfreie Demonstrationen!
({7})
Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Linken, heute machen, ist falsch. Ich wünsche mir, dass wir
in Respekt vor der Sache etwas gemäßigter miteinander
debattieren. Sie wollen politischen Nutzen aus dem
Engagement gegen rechts ziehen.
({8})
Ich weiß, dass gerade die Polizei in Münster allen
Abgeordneten die Teilnahme an der Demonstration eingeräumt hat und dass es Leitlinien der Einsatzleiter gab,
wonach Abgeordnete betreut und an alle Orte gefahren
werden sollten, zu denen sie möchten. Dazu musste man
sich natürlich bei der Polizei anmelden und seinen Abgeordnetenausweis mitbringen, so wie es der CDU-Kollege Josef Rickfelder und zwei Kolleginnen von den
Grünen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag getan
haben. Diese Abgeordneten hatten sich angemeldet und
sind mit der Polizei zu den jeweiligen Orten gefahren.
Die Polizei ist hier kooperativ. Man muss dieses Angebot aber auch wahrnehmen.
Frau Remmers, Sie haben das nicht gemacht. Sie
haben sich weder angemeldet noch ihren Abgeordnetenausweis dabei gehabt.
({9})
- Das ist so. Frau Remmers hat das in einem Interview
selbst gesagt. Da müssen Sie Ihre Kollegin schon fragen.
Die Polizei ist des Weiteren bemüht, dann, wenn
jemand behauptet, Abgeordneter zu sein, das aufzuklären. Nur muss der Betreffende mitwirken. Der Polizeipräsident Hubert Wimber hat aber auch gesagt, er hätte
sich eine optimalere Verhaltensweise seiner Polizei
gewünscht.
({10})
Juristisch gesehen war der Einsatz jedenfalls nicht
rechtswidrig; er war einwandfrei. Frau Kollegin, Sie sind
im Rahmen einer polizeilichen Aktion in eine körperliche Auseinandersetzung geraten.
({11})
Sie konnten sich nicht ausweisen und sind dem Platzverweis der Polizisten nicht nachgekommen.
({12})
Daher war es richtig, dass eine Personenidentifizierung
stattgefunden hat; denn jeder kann sagen, er sei Abgeordneter, Staatsanwalt oder Polizist. Dann muss man
sich entsprechend ausweisen können. Das konnten Sie
aber nicht.
({13})
Als Sie zur Dienststelle verbracht wurden, war es richtig,
dass Sie durchsucht wurden, und zwar zu Ihrem Schutz,
zum Schutz der Polizisten und zum Schutz weiterer
Beteiligter. Dies ist ein völlig rechtmäßiges Verhalten.
Ich frage mich, wie in solchen Situationen eine gelbe
Weste mit der Aufschrift „Parlamentarischer Beobachter“ helfen soll. Eine solche Funktion gibt es gar nicht.
Zwischen wem wollten Sie eigentlich schlichten, Frau
Kollegin Remmers? Wollten Sie zwischen rechte und
linke Gewalttäter gehen? Wollten Sie dort dazwischengehen, wo die Polizei ihren Kopf hinhalten muss?
({14})
Oder wollten Sie nicht eher zwischen linke Demonstranten und die Polizei gehen, um Aktionismus zu zeigen
und Ihre Klientel zu bedienen? Ich halte das alles für
nicht sehr glücklich.
({15})
Ich würde mir wünschen - das ist mein letzter Satz -,
dass Zivilcourage sich dadurch zeigt, dass wir gemeinsam für eine zivile Demonstration ohne Gewalt einstehen - da bin ich gerne mit Ihnen gemeinsam bei der
nächsten Demonstration dabei, Frau Remmers -, aber
dann, wenn Gewalttaten stattfinden, die staatlichen
Organe unterstützen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({16})
Ich möchte gerne darauf hinweisen, dass es in einer
Aktuellen Stunde keine Kurzinterventionen gibt, auch
wenn jemand persönlich angesprochen worden ist. Jetzt gebe ich Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Sensburg, Sie haben wirklich gut angefangen und auch Applaus bekommen. Das,
was danach kam, wurde aber immer unterirdischer. Dazu
komme ich gleich auch noch.
({0})
Wenn ich für mich persönlich kurz zusammenfassen
sollte, was das beste Rezept gegen Nazis und gegen
menschenverachtende Ideologie ist, würde ich zwei
Punkte nennen.
Erstens: niemals Räume lassen; die Räume für Nazis
und für rechtsextreme Ideologie dichtmachen.
Zweitens: Solidarität der gesamten Bevölkerung mit
den Betroffenen erklären.
({1})
„Keine Räume lassen“ meine ich in vielfältiger Hinsicht. Wir dürfen keine Jugendklubs und keine Vereine
den Nazis überlassen. Wir dürfen Szeneläden nicht
akzeptieren, wie das gerade in Chemnitz passiert ist.
Dort ist ein neuer Thor-Steinar-Laden eröffnet worden zunächst unter dem Namen „Brevik“. Da fehlt nur das I
zu dem Namen des Massenmörders, der in Norwegen
zahllose sozialdemokratische Jugendliche niedergemetzelt hat; ein wirklich widerwärtiger Vorgang. Es war der
Widerstand der Chemnitzerinnen und Chemnitzer, der
zumindest in einem ersten Erfolg zur Umbenennung dieses Ladens geführt hat. Ich spreche hier bewusst von
Daniela Kolbe ({2})
einem ersten Schritt. Wir dürfen solche Szeneläden in
unserem Land generell nicht akzeptieren.
({3})
„Keine Räume“ bedeutet auch, Nazis nicht in Parlamente zu lassen, also Wahlkampf zu machen. Das heißt,
Räume über den Stammtischen nicht preiszugeben eine der schwersten Aufgaben, glaube ich. Es heißt aber
auch, dieser Ideologie und den Nazis auf der Straße
keine Räume zu lassen; weder den Kameradschaften, die
ganze Ortschaften drangsalieren - da ist sicherlich vor
allen Dingen die Polizei gefragt -, noch bei Demonstrationen. Dafür ist neben staatlichen Institutionen und der
Polizei auch eine starke Zivilgesellschaft besonders
wichtig.
Zumindest verbal hat die Bundesregierung das auch
anerkannt. Ich habe die Merkel-Rede bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des NSU sehr wohl gehört. Ehrlich gesagt, bin ich während ihrer Rede aber ganz unruhig auf meinem Stuhl hin und her gerutscht; denn das,
was sie da erzählt hat, passt leider mit der Realität und
der Politik dieser Bundesregierung überhaupt nicht
zusammen.
({4})
Dieses Jahr bin ich wieder Erstunterzeichnerin des
Aufrufs des Bündnisses Dresden-Nazifrei gewesen, weil
ich das gemeinschaftliche friedliche Entgegentreten
gegenüber Nazis legitim finde. Und mehr noch: Ich
glaube sogar, dass Menschen, die das tun, unser aller
Solidarität brauchen.
Herr Sensburg, ich gebe die Aufforderung gerne an
Sie zurück. Unterstützen auch Sie als CDU friedliche
Demonstrationen gegen Rechtsextremismus.
({5})
Da haben Sie noch Luft nach oben, und zwar jede
Menge.
Ich rate uns allen dazu, das Vorgehen gegen die Kollegin Remmers sachlich und ruhig zu klären. Es ist in
unser aller Interesse und im Interesse unserer Demokratie, dass hier ein vernünftiger Umgang gefunden wird
und auch Entschuldigungen ausgesprochen werden.
Ich habe gegenüber der Bundesregierung aber auch
noch an anderen Stellen ein mulmiges Gefühl, wenn ich
mir anschaue, mit welchem Misstrauen sie der Zivilgesellschaft gegenübertritt.
Als erstes Stichwort nenne ich die Extremismusklausel der Ministerin Schröder. Sie ist absurd, sie ist
schändlich, und sie behindert die Zivilgesellschaft da,
wo diese notwendig ist.
({6})
Zu nennen ist aber auch ihr Kompetenzzentrum gegen
Rechtsextremismus. Das ist aus meiner Sicht eine Verstaatlichung von Aufgaben, die die Zivilgesellschaft in
der Vergangenheit schon ganz gut hinbekommen hat
({7})
und auch in Zukunft sicherlich sehr gut hinbekommen
würde, wenn man sie denn ließe. Stattdessen steht jetzt
das Kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus im
Raum.
Über den Sachstand informiert man sich aus meiner
Sicht am besten in der letzten Ausgabe der heute-show.
Bisher ist da nämlich überhaupt nichts geklärt. Das dürfen wir uns nicht leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Ich muss ganz generell sagen: Ihre Präventionsarbeit
gegen Rechtsextremismus kommt im Moment ohne viel
Sachverstand aus.
({9})
Ich lese in Ihren Texten immer häufiger davon, dass Sie
pädagogisch-präventive Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen vorantreiben wollen. Das Ganze kulminiert
aus meiner Sicht in der absurden Förderung des Projektes „Dortmund den Dortmundern“, in dem normale Jugendliche mit Autonomen Nationalisten zusammenarbeiten sollen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich stand mit
20 Jahren das erste Mal vor einer Schulklasse und habe
antirassistische Bildungsarbeit gemacht. Ich kann Ihnen
aus meiner eigenen Erfahrung sagen: Mit einem rechtsextremen Jugendlichen in einer Schulklasse kommt man
klar; da kann man etwas bewirken. Aber wenn Sie glauben, man könne mit einer ganzen Gruppe von rechtsextrem orientierten Jugendlichen arbeiten, dann muss
ich sagen: Sie haben von politischer Bildung wirklich
keine Ahnung.
({10})
Das ist absurd, das ist Geldverschwendung, und das ist
naiv. Wenn Naivität und Rechtsextremismus zusammenkommen, dann wird es gefährlich.
Ich kann Ihnen nur raten, sich auf den Hosenboden zu
setzen, sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammenzusetzen, zuzuhören, nachzudenken
({11})
und die Zivilgesellschaft einzubinden, statt sie verächtlich zu machen. Derzeit jedenfalls muss ich sagen: Diese
Bundesregierung ist im Bereich Prävention gegen
Rechtsextremismus extrem versetzungsgefährdet.
Daniela Kolbe ({12})
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich den Titel der heutigen Aktuellen Stunde las,
habe ich mich gefreut. Es geht darum, dass die Linke das
Thema auf die Tagesordnung bringt, wie man Rechtsextremismus in Deutschland bekämpft. Das tut man am
besten, indem man mit Zivilcourage die Zivilgesellschaft Gesicht zeigen lässt, indem man demonstriert, indem man immer wieder dagegen eintritt, wenn Intoleranz und ein feindliches, unchristliches Menschenbild
die Diskussion beherrschen.
({0})
Gegen Rechtsextremismus kämpft man nicht allein
mit repressiven Mitteln. Natürlich müssen Straftäter verfolgt werden, natürlich müssen Menschen, die Verfassungsfeinde sind, beobachtet werden, und natürlich müssen wir dafür sorgen, dass Prävention auch im Bereich
Strafrecht Platz greift. Aber wir werden den Kampf gegen rechts nicht gewinnen, wenn wir nicht alle die Bindungskräfte unserer Parteien, der FDP, der CDU, der
CSU, der SPD, der Grünen und auch der Linken, nutzen,
um den Kampf gegen die Überzeugungen der Rechtsextremen zu gewinnen.
({1})
Ich glaube, dass ein Ansatz, der allein auf Verbote setzt,
etwa darauf, die NPD oder bestimmte Vereine zu verbieten - so sinnvoll das im Einzelfall sein mag -, zu eindimensional ist. Er wird deswegen nicht tragen. Das war
der erste Punkt.
Mein zweiter Punkt. Ich war allerdings betrübt, dass
wir anlässlich eines Einzelfalls ein solch wichtiges
Thema diskutieren. Es handelt sich um einen Einzelfall,
den keiner von uns abschließend beurteilen kann. Herr
Sensburg hat dazu viele richtige Worte gefunden. Ich
glaube, dieses Thema ist zu ernst, als dass wir eine einzelne Demonstration und einen einzelnen Vorfall für
eine Aktuelle Stunde missbrauchen und ins Zentrum der
Debatte rücken sollten.
({2})
Wir müssen uns darüber einig werden, dass wir alle gemeinsam gegen rechts vorgehen, statt solche Einzelfälle
zu diskutieren.
({3})
Zur Aufklärung solcher Fälle gibt es Behörden in diesem
Staat, etwa Strafverfolgungsbehörden. Man kann
Rechtsmittel einlegen, wenn man unrecht behandelt
worden sein sollte, was sich mir bei Ihnen, Frau
Remmers, noch nicht erschließt. Aber es ist nicht die
Aufgabe des Parlaments, eine Art Ersatzstrafverfolgungsbehörde oder Demonstrationsfreiheitssicherungsbehörde zu werden; vielmehr müssen wir Parlamentarier
uns über das politische Vorgehen gegen Rechtsextremismus verständigen.
Ein dritter Punkt. Ich glaube, wir müssen unseren Extremismusbegriff schärfen.
({4})
- Frau Lazar, ich hoffe, Sie klatschen gleich immer
noch. - Wir haben einerseits, wie im Antisemitismusbericht der Bundesregierung sehr überzeugend dargelegt,
linksextremistische Tendenzen in unserer Gesellschaft,
die diesen Staat bedrohen, wir haben religiös motivierten
Extremismus in Deutschland, und - das ist das gravierendste Problem - wir haben Rechtsextremismus in
Deutschland. Immer dann, wenn wir in diese Linksrechts-Debatten verfallen,
({5})
wenn wir nicht sagen: „Jede Form des Extremismus
muss verfolgt und bekämpft werden“, dann tun wir der
Sache keinen Gefallen.
({6})
Wir müssen stattdessen dafür sorgen, dass in Deutschland jede Form von Extremismus bekämpft wird.
({7})
Ich persönlich verstehe auch nicht, warum Sie sich
damit so schwertun, weil ich Sie alle als gute Demokraten kennen und schätzen gelernt habe.
({8})
- Fast alle, Herr Kauder. - Deswegen müsste es Ihnen
doch ein Leichtes sein, sich von solchen Tendenzen abzugrenzen.
Ein vierter Punkt. Natürlich können wir den Extremismus in Deutschland nicht überall mit den gleichen
Mitteln bekämpfen. Es ist eben nicht sinnvoll, die gleichen präventiven Maßnahmen gegen rechts wie gegen
links einzusetzen,
({9})
es ist nicht sinnvoll, religiös motivierten Extremismus
genau so anzugehen wie den Rechtsextremismus.
Wie erinnern uns vielleicht an die 90er-Jahre, als in
Deutschland viele Menschen entsetzt über das waren,
was beispielsweise in Rostock geschehen ist. Wir erinnern uns auch an die Präventionsprogramme, die damals
aufgelegt wurden. Aus heutiger Sicht wirken sie fast
hilflos. Warum? Sie waren gut gemeint, aber es gab
keine klare Vorstellung davon, wo der politische Extremismus in Deutschland sitzt, welche Strukturen er hat
und wie man ihn angehen muss. Insofern sind wir heute
deutlich weiter. Unsere Erkenntnisse sollten wir auf die
Bekämpfung auch des Linksextremismus und des religiösen Extremismus übertragen.
({10})
Schlussendlich freue ich mich über den Ansatz der
Linken: Zivilcourage, Aufstehen, Gesicht zeigen, im
persönlichen Umfeld für Toleranz kämpfen, auch für Toleranz unter uns allen als Demokraten - das ist, glaube
ich, ein besserer Ansatz als ein rein repressives System.
Nur wenn wir die Mitte der Gesellschaft stärken, werden
wir diesen Kampf gewinnen. Dazu fordere ich alle auf.
Ich freue mich, wenn wir das gemeinsam tun können.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
wie der Anfang der Rede des Kollegen Sensburg gut
war, war der Schluss der Rede vom Kollegen Ruppert
gut.
({0})
Ich denke, wir sind uns wirklich im gesamten Hause einig, dass Zivilcourage wichtig ist. Ich erinnere daran,
dass in Münster das gesamte demokratische Spektrum
zur Demonstration aufgerufen hat, also auch CDU und
FDP. Das ist sehr gut und ist bei dem Thema auch sehr
wichtig. Wir sollten uns dabei so wenig wie möglich
auseinanderdividieren lassen.
({1})
Allerdings ist es so, dass sich bei Demonstrationen
die Abgeordneten nicht bei der Polizei anmelden müssen.
({2})
Wir müssen unseren Abgeordnetenausweis dabeihaben,
damit wir ihn der Polizei vorzeigen können, aber wir
müssen uns nicht anmelden. Das ist in diesem Zusammenhang wichtig.
({3})
Die Polizei muss natürlich eine Demonstration schützen, egal welche; denn das Versammlungsrecht ist ein
Grundrecht und ist deshalb sehr hoch angesiedelt. Allerdings ist es nicht hinnehmbar, wenn die Polizei unverhältnismäßig reagiert. In diesem Sinne müssen die Vorkehrungen, die in Münster getroffen worden sind,
untersucht und ausgewertet werden.
({4})
Demonstrationen und auch Blockaden können wichtig und notwendig sein.
({5})
Ich möchte einige Beispiele der letzten Wochen aus
Sachsen erzählen. Sachsen ist meistens berühmt für
seine negativen Beispiele, aber in den letzten Wochen
hatten wir auch Positives zu berichten.
Am letzten Montag gab es eine sehr große Antinazidemo in Chemnitz, wo die Rechtsextremen wieder einmal ihren sogenannten Trauermarsch durchziehen wollten. Dort ist es der Polizei gelungen, deeskalierend zu
wirken und dafür zu sorgen, dass Demonstrationen in
Hör- und Sichtweite möglich waren. Das ist gut so, und
das ist wichtig.
({6})
Genauso gut hat es in diesem Jahr in Dresden geklappt. Am 13. Februar, als die Nazis in Dresden den
Tag der Bombardierung ausnutzen wollten, gab es friedliche Blockaden, die wichtig waren, weil die Strecken
freigehalten wurden. Es ist friedlich geblieben. Auch
hier hat die Polizei deeskalierend eingewirkt. Die Nazis
mussten ihre Route verkürzen. Sie sind einmal kurz um
den Block gelaufen und haben sich darüber wahrscheinlich nicht sehr gefreut.
Am 18. Februar haben wir dann noch einmal eine gut
besuchte, bunte Demo in Dresden gehabt. Seit vielen
Jahren gibt es eine gute Arbeit vor Ort in Dresden. Es ist
das dritte Jahr in Folge, dass die Demonstration so erfolgreich war. Ich möchte von hier aus allen Demonstrantinnen und Demonstranten von nah und fern danken,
dass sie uns bundesweit unterstützt haben.
({7})
Die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern ist es,
bei Demonstrationen unterstützend, beobachtend und
deeskalierend tätig zu sein.
({8})
Allerdings ist es auch Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Initiativen zu
schaffen, das heißt für uns, die passenden präventiven
Programme für die Bürgerinnen und Bürger aufzulegen,
die sich in ihrer Region gegen alte und neue Nazis engagieren.
({9})
Man muss leider konstatieren, dass die Regierung hier in
den letzten Jahren nichts dazugelernt hat. Die Ministerin
legt lieber Programme gegen sogenannten Linksextre19568
mismus auf. In der letzten Woche war in den Medien zu
lesen, dass das Deutsche Jugendinstitut, das eine Evaluation dieses Programms durchgeführt hat, diesem Programm ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt hat. Es
wurde kritisiert, dass der Begriff „Linksextremismus“
wissenschaftlich völlig unzureichend ist. Man kann nicht
die richtigen Programme auflegen, weil man gar nicht
weiß, was da der Ansatz ist. Deshalb rufe ich die Ministerin auf, die 2,5 Millionen Euro endlich den Programmen gegen Rechtsextremismus zur Verfügung zu stellen;
denn dort ist das Geld immer noch sehr nötig.
({10})
Kollegin Kolbe hat die Extremismusklausel angesprochen. Nach den aktuellen Vorfällen kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, dass Sie immer noch daran
festhalten und ausgerechnet von denen, die sich tagtäglich, auch in schwierigen Regionen, für unsere Demokratie engagieren, eine Unterschrift abverlangen.
({11})
Das ist wirklich kontraproduktiv. Von daher - auch wenn
Sie es nicht mehr hören können; wir machen so lange
weiter, bis wir es geschafft haben -: Die Extremismusklausel muss wirklich endlich weg.
({12})
Positiv zu erwähnen ist, dass wir im November nach
den Erkenntnissen zum NSU wirklich einmal einen gemeinsamen Antrag hinbekommen haben. Damit ist jetzt
im gesamten Spektrum hier im Bundestag klar: Es ist
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns stellen müssen.
Allerdings: Was kam danach? Aktionismus! Ministerin Schröder stellt das nun doch nicht gekürzte Budget
der Bundesprogramme nicht den Initiativen zur Verfügung, sondern schafft ein Informations- und Kompetenzzentrum. Ich kann nur noch einmal wiederholen: Es gibt
genügend Know-how und Vernetzung. Was fehlt, ist die
nachhaltige Förderung. Das ist die Hauptaufgabe. Es
geht nicht darum, noch zusätzliche Strukturen zu schaffen, die den Leuten vor Ort überhaupt nicht zugutekommen.
Ganz zum Schluss möchte ich sagen, dass wir die
richtigen Lehren aus all den Ereignissen ziehen müssen,
egal ob wir auf Demonstrationen, auf der Straße oder
hier im Plenum sind. Wir müssen mehr in unsere Demokratie investieren. Wir müssen die engagierten Initiativen und Projekte unterstützen und dürfen sie nicht, wie
es die Koalition immer noch tut, behindern.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Es ist schauderlich und erschreckend, dass in unserem Land fast kein Wochenende
mehr vergeht, an dem sich nicht in irgendeiner Stadt, in
irgendeiner Gemeinde rechtsradikale Fratzen zeigen und
ihre widerwärtigen und menschenverachtenden Parolen
kundtun. Ich möchte gerade deshalb wirklich an dieser
Stelle all denjenigen ganz herzlich danken, die jedes Wochenende Gesicht zeigen und deutlich machen, dass
Rechtsradikale, dass Neonazis in Deutschland nichts zu
suchen haben, dass sie nicht willkommen sind.
({0})
Hunderte von Menschen zeigen jedes Wochenende in
Deutschland Gesicht. Sie zeigen damit Zivilcourage.
Auch in meinem Wahlkreis, der sehr ländlich strukturiert ist, gab es in der jüngsten Vergangenheit zwei
schreckliche Vorfälle. Zweimal fanden Aufmärsche von
Neonazis statt; einmal ist ein Gasthof okkupiert worden.
Ich bin froh, dass es beide Male möglich war, in einem
breiten gesellschaftlichen Konsens alle politisch und gesellschaftlich relevanten Gruppierungen dazu zu bringen, Gesicht zu zeigen. Die Gegendemonstrationen verliefen durchweg friedlich, ohne Waffen,
({1})
und so soll es auch sein. Art. 8 Grundgesetz schützt die
Versammlungsfreiheit in Deutschland. Das ist mit Sicherheit eines der wichtigsten und vornehmsten Grundrechte. Er schützt das Recht aller Deutschen, sich ohne
Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln.
Leider sind die Demonstrationen am vergangenen
Samstag in Münster-Rumphorst diesem Kriterium nicht
gerecht geworden. Es gab neun Gegendemonstrationen
- an einer davon haben Sie, Frau Kollegen Remmers,
teilgenommen -, die nicht friedlich waren. Ich möchte
nur einmal aus der Berichterstattung der örtlichen Presse
zitieren: Es gab mehrere Antifa-Demonstranten, die
extra zur Gegendemonstration anreisten, Waffen und
Feuerwerkskörper bei sich führten und diese nicht der
Polizei übergeben wollten, als sie dazu aufgefordert
wurden. Sie wurden daraufhin festgenommen, und ihr
Zug musste vollständig geräumt werden. Friedlicher
Protest sieht anders aus.
({2})
Mehrmals haben bis zu 300 Menschen, teilweise vermummte Gegendemonstranten, versucht, Absperrungen
Stephan Mayer ({3})
zu durchbrechen, was ihnen an mindestens zwei Stellen
auch gelang. Friedlicher Protest sieht anders aus.
Polizisten sind mit Steinen und Wasserflaschen durch
Gegendemonstranten mehrmals beworfen worden.
Friedlicher Protest sieht auch hier anders aus.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamt sind am vergangenen Samstag in Münster sechs
Menschen verletzt worden, darunter vier Polizeibeamte.
Es sind insgesamt 24 Personen festgenommen worden,
überwiegend wegen des Vorwurfs, Körperverletzungen
begangen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
geleistet zu haben.
({4})
32 Personen wurden in Gewahrsam genommen, 62 Personen wurden Platzverweise erteilt.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, wie die Vorgeschichte dieser Gegendemonstration aussah. So hatten
sich am 1. März die Vertreter des Aktionsbündnisses
„Keinen Meter den Nazis“ zu einer Strategiebesprechung versammelt, bei der die Gegendemonstrationen
vorbereitet werden sollten. Vor 150 Teilnehmern wurden
Hilfestellungen und Anleitungen gegeben, wie man am
effektivsten Polizeiabsperrungen umgeht. Zusätzlich
wurden die Teilnehmer darüber „informiert“, dass bei
Massendelikten dieser Art die Strafverfolgung an ihre
Grenzen stößt oder teilweise gänzlich unmöglich gemacht wird. Dann verwundert es nicht, wenn sich zwei
Tage später mehrere Hundert Menschen bewusst gegen
die Anordnungen der Einsatzkräfte stellen und somit
gegen das Versammlungsrecht verstoßen.
({5})
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen deutlich gemacht, dass Art. 8 des Grundgesetzes
politisch neutral ist. Er schützt sowohl Meinungen und
Äußerungen von Rechten als auch von Linken. Als gute
Demokraten müssen wir aushalten,
({6})
dass wir uns mit Äußerungen und Meinungen konfrontiert sehen, die uns nicht lieb sind. Es ist aber nicht
hinnehmbar, dass unter dem Mantel der Versammlungsfreiheit Straftaten begangen werden.
({7})
Dies war in eklatanter Form am vergangenen Samstag in
Münster der Fall.
({8})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion Die Linke, ich halte es für einen Treppenwitz, dass ausgerechnet Sie sich zum Gralshüter der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung und unserer
sozialen Marktwirtschaft machen.
({9})
Ausgerechnet Sie, die offenkundig verfassungswidrige
Tendenzen aufweisen, über eine kommunistische Plattform verfügen, die 1 500 Mitglieder hat,
({10})
die Ergebenheitsadressen an einen Fidel Castro zu dessen 85. Geburtstag schreiben, die immer noch Probleme
mit dem Existenzrecht Israels haben, gerieren sich hier
als großer Gralshüter der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung.
({11})
Das ist wirklich schauderlich. Das ist in jeder Hinsicht
bemerkenswert.
({12})
Ich kann hier nur sagen: Versammlungsrecht ist wichtig. Art. 8 ist ein wichtiges Grundrecht. Es gilt, dies zu
achten und die Regeln einzuhalten, wenn man Gegendemonstrationen vornimmt.
In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und
Herren: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
einem Satz, den Sie, Herr Kollege, gerade geäußert
haben, möchte ich vor allem Stellung beziehen. Sie
haben gesagt: Wir müssen es aushalten, wenn es linke
Demonstrationen gibt und wenn es rechte Demonstrationen gibt. - Nein, wir müssen rechte Demonstrationen
nicht aushalten.
({0})
Dies passt auch in Ihrer Rede nicht zusammen: In Ihrem
ersten Satz haben Sie erst denjenigen gedankt, die auf
die Straße gehen, um gegen Rechtsextremismus und
gegen die Demonstration zu demonstrieren, und dann
anschließend gesagt, wir müssten sie aushalten. Das
passt nicht zusammen.
({1})
Nein, wir brauchen allen zivilgesellschaftlichen Mut
dazu, dagegen anzugehen, allen friedlichen Mut dazu,
dagegen anzugehen. Den sollten wir auch nutzen.
({2})
Natürlich danken wir allen gemeinsam, die auf die
Straße gehen, wenn irgendwo Nazis aufmarschieren
wollen, und gegen Rechtsextremismus demonstrieren.
Genau dann ist es richtig und wichtig, sich zu zeigen,
statt sich zu verstecken. Wir alle kennen die Diskussionen in einigen Orten und Kreisen, wo es dann heißt: Ach
komm, wenn die da sind, lasst die doch einfach marschieren. Schenkt ihnen keine Aufmerksamkeit; das
haben sie doch alles gar nicht verdient. - Nein, wir müssen aufmerksam sein; denn wenn wir sie nicht wahrnehmen und nicht beobachten, dann begehen sie noch viel
mehr schlimme Taten. Deshalb brauchen wir sichtbare
Gegendemonstrationen.
({3})
Der Anstand der Anständigen und der Zuständigen
schließt uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich
auch mit ein.
({4})
Wir sind Vorbilder für die Zivilgesellschaft, wir sind
hoffentlich auch alle Teil dieser Zivilgesellschaft. Deshalb sollten wir nicht nur dann zu Demonstrationen gehen, wenn es vielleicht gerade en vogue ist; vielmehr
sollten wir auch dann demonstrieren und gegen Nazis
auf die Straße gehen, wenn es gerade nicht en vogue
oder vielleicht schwierig ist, auf der Straße zu stehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hier
fehlt es manchmal am ganz breiten Bündnis. Die Gewerkschaften und die Kirchen sind immer mit dabei;
meistens auch die Sozialdemokraten, die Linken und die
Grünen.
({5})
Aber das Schmieden großer Bündnisse scheitert häufig
daran, dass vonseiten der CDU, CSU oder FDP niemand
teilnehmen will.
({6})
Jeder Protest gegen Nazis muss unterstützt werden.
({7})
- Jeder friedliche Protest muss unterstützt werden.
({8})
Wenn es dabei nach Ihrer Ansicht Menschen gibt, die
sich mit einreihen und die nicht friedlich sind, dann müssen Sie zeigen, dass Sie als friedliche Gruppe größer
sind. Also reihen Sie sich mit ein und zeigen Sie damit,
dass Sie die Unfriedlichen nicht tolerieren!
({9})
Bei der Frage, wie wir mit den Nazis umgehen, geht
es um unsere eigene Grundeinstellung zu diesem Thema
und darum, was wir ihnen zur Verfügung stellen. Ich
habe den Reden genau zugehört und finde es in Ordnung, dass gesagt wird, dass wir uns allgemein mit dem
Thema Extremismus beschäftigen müssen. Egal auf
welcher politischen Seite oder in welche Richtung er
passiert, wir haben ihn nicht zu dulden. In Debatten aber,
in denen es um Zivilcourage gegen den Rechtsextremismus geht, müssen wir uns mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen. Denn im Kampf gegen Nazis und
gegen Rechtsextremismus bedarf es einer anderen Zivilcourage und einer anderen Herangehensweise als gegen
andere politische Extremisten.
Diese Gleichmacherei von Links- und Rechtsextremismus führt leider auch dazu, dass wir die eine Art von
Extremismus herabspielen. Nachdem im Zusammenhang mit der Entdeckung der Morde durch die Nazis
deutlich geworden war, welche dramatischen Fakten
sich dahinter verbergen, darf es nicht sein, dass gleichzeitig die Familienministerin sagt: Aber es gibt auch
schlimmen Extremismus auf der linken Seite. - Das ist
eine Verhöhnung der Opfer und vor allen Dingen der
Angehörigen der Opfer.
({10})
Kurz nachdem aufgedeckt wurde, dass die Morde von
Nazis begangen wurden, haben wir hier gemeinsam
beschlossen, dass wir Hindernisse und Hemmnisse abbauen wollen, um zivilgesellschaftliche Aktivitäten
gegen Rechtsextremismus zu unterstützen. Bis jetzt ist
nichts passiert. Kein einziges Hemmnis ist abgebaut
worden. Ein Zeichen können Sie setzen - Herr Kues, bestellen Sie Frau Schröder einen schönen Gruß -: Sie soll
endlich die Extremismusklausel wieder abschaffen.
({11})
Ich komme gerade aus dem Untersuchungsausschuss,
der die Nazimorde aufarbeiten soll. Wir haben uns als
Beweismaterial die Sequenzen aus diesem schrecklichen
Film mit dem rosaroten Panther angeschaut, der auch in
den Medien eine Rolle spielte. Ich will noch einen
Appell loswerden: Wir dürfen nicht zulassen, dass sich
Nazis unsere Symbole, unsere Plätze und unseren Raum
aneignen. Hier müssen wir fortwährend Widerstand leisten und sagen: Nein, all das gehört uns; die Räume,
Symbole und Plätze gehören uns. Wir sind die Demokraten, und wir sind in der Mehrheit.
({12})
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Patrick Kurth.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein entschiedenes Vorgehen gegen Rechtsextremismus ist Konsens in diesem Hause. Alle demokratischen
Kräfte gehen gemeinsam gegen Rechtsextremismus und
rechte Gewalt vor. Rechtsextremismus schädigt unsere
Gesellschaft, schädigt unsere Demokratie. Insbesondere
Deutschland hat eine historische Verantwortung und
Sensibilität; wir haben eine wehrhafte Demokratie.
Aber es gibt Schwierigkeiten im Umgang mit Rechtsextremismus. Ich will darauf eingehen. In den letzten
Jahren, vor allen Dingen in den letzten Monaten - bedingt durch die schrecklichen Taten, die offenkundig
wurden und dazu führten, dass über dieses Thema geredet wird -, kamen zu all den berechtigten Diskussionen
Phänomene hinzu, gegen die wir uns entschieden gewehrt haben: Es wurde davon geredet, dass es rechtsextreme Hochburgen gäbe, dass ganze Regionen in
Deutschland rechtsextrem wären, dass es No-go-Areas
gäbe. Da wurde die Situation nicht nur nicht richtig
dargestellt, sondern die Darstellung schlug sogar ins Gegenteil um: Plötzlich spielten Städte in Thüringen wie
Jena eine Rolle; ein Parlamentarischer Geschäftsführer
forderte hier in einer Debatte, dass die Bundeswehr dort
einmarschieren sollte oder Ähnliches. Ich muss sagen:
Hier wird die Realität falsch wahrgenommen.
Am 20. April 2000, also vor zwölf Jahren, an einem
bewussten Datum, gab es in Erfurt, zum ersten Mal in
meinem Heimatland, einen Anschlag auf eine Synagoge.
Einen Tag später kamen 50 Leute zu Mahnwachen. Einen weiteren Tag später kamen 6 000 Leute zu Demonstrationen und Mahnwachen. Wenn wir diese schrecklichen Taten in der Öffentlichkeit benennen, dann
benennen wir bitte auch im gleichen Atemzuge, dass die
Deutschen, in dem Fall die Thüringer, aufstehen und gegen Rechtsextremismus demonstrieren. Die Mehrheit
haben die Rechten in keiner einzigen Region in Deutschland, meine Damen und Herren.
({0})
Das zweite Problem in der Debatte, die wir hier führen, ist der Umgang mit dem Begriff „Rechtsextremismus“. Wir Politiker tun immer so, als wäre die Definition von Rechtsextremismus klar, als gäbe es eine
eindeutige Begrifflichkeit. Wir dürfen und können es
nicht kritisieren, dass das in Überschriften und Aufrufen
vereinfacht wird. Aber hier in diesem Raum, in dem wir
Gesetze und Maßnahmen beschließen, sollten wir nicht
so über Rechtsextremismus reden, als ob jedem klar
wäre, worum es geht. Das wird der tatsächlichen wissenschaftlichen, rechtlichen und politischen Debatte nicht
gerecht.
Sie von der Linken reden in diesem Hause sehr oft
von Faschismus, Antifaschismus usw. Diese Begriffe
sind aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung völlig raus.
({1})
Die Begriffe „Faschismus“ und „Antifaschismus“ können nicht das Phänomen des modernen Rechtsextremismus erklären. Sie befleißigen sich, sie als politische
Kampfbegriffe zu verwenden.
Das gilt auch für Rot und Grün, die ein Mischmasch
der Begriffe „Extremismus“ und „Faschismus“ verwenden und die Ansätze entsprechend vermengen.
({2})
Wir, die bürgerliche Mitte in diesem Hause, gehen
von einer Positivierung aus. Wir fragen: „Wofür stehen
wir ein?“, und nicht: „Wogegen definieren wir uns?“ Wir
stehen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Wir wehren uns gegen diejenigen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen, egal ob sie
links, rechts, oben, unten, hinten oder vorne sind. Wir
bekämpfen diejenigen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir lehnen es deshalb auch
ab, Extremisten mithilfe von Extremisten zu bekämpfen;
das schließt sich aus.
({4})
Wir lehnen es ab, Extremisten mit den Mitteln der Extremisten zu bekämpfen. Das geht nicht.
Alle hier sind gegen Rechtsextremismus. Viele haben
ein Problem damit, als Antifaschisten bezeichnet zu werden, weil sie dann mit Autonomen, Anarchisten und
Fundamentalisten in einer Reihe stehen,
({5})
die hier nicht hingehören und die unsere Freiheit und
Demokratie genauso bekämpfen. Deswegen ist der Begriff „antifaschistisch“ völlig falsch und daneben.
({6})
Meine Damen und Herren, auch das muss gesagt werden: Zu den Mitteln der Extremisten gehört zum Teil
auch, Pflastersteine auf Polizisten zu werfen, Versammlungen zu sprengen, Blockaden zu errichten, Polizeisperren mit Gewalt zu durchbrechen. Das hat mit demokratischen Umgangsformen nichts zu tun. Es hat auch nichts
mit bürgerlichem Engagement gegen Nazis zu tun. Wir
lehnen das entschieden ab.
Patrick Kurth ({7})
({8})
Am Ende möchte ich sagen: Das Leben ist immer
konkret. Wir können hier im Bundestag viele Reden
halten; aber die Probleme müssen vor Ort angepackt
werden.
({9})
- Das machen Sie von der Linken in ganz hervorragender Weise: Es gibt in Sachsen-Anhalt einen Ort, in dem
ein hoher Funktionär der NPD in der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr tätig ist.
({10})
Die Bürgermeisterin dieses Ortes ist von den Linken.
Angesprochen von der FDP, ob man möglicherweise mit
der Aufnahme des Passus „Unsere Mitglieder bekennen
sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ in
die Satzung, wie bei vielen Vereinen in Sachsen-Anhalt
oder Thüringen geschehen, dafür sorgen könne, dass der
NPD-Funktionär nicht mehr in der Jugendfeuerwehr
tätig ist, sagte diese linke Bürgermeisterin: Nein, den
kenne ich persönlich. Ich kann nichts Schlechtes über
ihn sagen.
({11})
Meine Damen und Herren, das Leben entscheidet sich
vor Ort. Vor Ort müssen Sie aktiv werden. Daher kann
ich Sie nur auffordern: Halten Sie hier keine Schaufensterreden. Seien Sie vor Ort aktiv.
({12})
Gehen Sie mit der Demokratie und mit den Antidemokraten richtig um. Setzen Sie sich auch damit auseinander, wie Antifaschisten in diesem Land die Demokratie
bedrohen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die
rechte Seite des Hauses hier heute wieder bietet, zeigt,
wie Sie Rechtsextremismus weiterhin verharmlosen. Sie
versuchen, Opfer zu Tätern umzudefinieren, indem Sie
sagen, dass sie entweder etwas mit Gewalttätern zu tun
hätten oder dass sie Extremisten seien. Darin sind Sie
schon recht geübt. Das haben wir bei den NSU-Morden
gesehen.
({0})
Es ist wirklich ein Skandal, wie Sie hier auftreten.
({1})
Es ist üblich in diesem Haus, dass wir hier insbesondere an Gedenktagen Reden gegen den Rechtsextremismus hören. Am 27. Januar hat der Bundestagspräsident
sehr richtige Worte gefunden, als er sagte: Es gibt viele
Menschen - beispielsweise Menschen, die in Vereinen
organisiert sind -, die den Rechtsextremen, die durch
ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegentreten. Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen,
nicht wegsehen und Diskriminierung nicht unwidersprochen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispiel
geben und Mut machen.
({2})
Auch ich, meine Damen und Herren, habe es am letzten Wochenende in Münster sehr ermutigend gefunden,
dass Tausende von Münsteraner Bürgerinnen und Bürgern gegen die Nazis auf die Straße gegangen sind und
dass vor allem die Anwohner den Nazis, die durch ihre
Straßen gingen, mit Transparenten deutlich gemacht haben: Nazis raus! Ihr habt in unserem Land nichts zu suchen!
({3})
Doch der staatliche Umgang mit Zivilcourage gegen
rechts ist leider ein ganz anderer als der, der oft in Festtagsreden beschworen wird. Die Polizeiwillkür, die unsere Kollegin Ingrid Remmers in Münster am eigenen
Leib erfahren musste, ist leider nur die Spitze des Eisberges.
({4})
Viele junge Menschen, die auf die Straße gehen, müssen
diese Polizeiwillkür erleben und werden nicht selten angegriffen. Daher muss man diese Vorkommnisse ernst
nehmen, darf sie nicht verharmlosen und darf nicht sagen, das sei alles nicht so schlimm.
({5})
Hier muss man vielleicht auch noch einmal deutlich
sagen: Sie sollten von dem Polizeipräsidenten in Münster lernen. Immerhin hat er sich dafür entschuldigt, was
seine Polizisten dort veranstaltet haben.
({6})
Meine Damen und Herren, damit es ganz klar ist:
Schuld sind keineswegs nur die übereifrigen Polizisten.
Die Bundesregierung selbst - das haben wir heute hier
gehört - stellt den Antifaschismus unter extremistischen
Generalverdacht.
({7})
Der Fisch stinkt, wie wir wissen, vom Kopfe her. So
heißt es beispielsweise auf der Webseite des Verfassungsschutzes - Zitat -:
Der „Antifaschismus“ zielt nur vordergründig auf
die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen.
({8})
Vielmehr bekämpfen Linksextremisten … die freiheitliche demokratische Grundordnung als „kapitalistisches System“,
({9})
um deren angeblich immanente Wurzeln des „Faschismus“ zu beseitigen.
Mit anderen Worten: Wer gegen Nazis auf die Straße
geht, der steht in den Augen der Bundesregierung offenbar schon mit einem Fuß außerhalb des Grundgesetzes.
({10})
Nach dieser Maxime knebelt übrigens die Familienministerin, die bei dieser Debatte nicht anwesend ist, die
zahlreichen bürgerschaftlichen Projekte gegen Rechtsextremismus mit der Extremismusklausel. Es ist heute
schon mehrfach gesagt worden, dass diese Klausel weg
muss.
({11})
Nach dieser Maxime prügeln auch Polizisten in Münster
und andernorts Nazis den Weg frei. Das muss man ganz
klar so sagen. Das ist staatlicher Anti-Antifaschismus in
Reinform.
({12})
Ich fordere Sie auf: Lesen Sie, was die Nazis auf ihren
Homepages schreiben, dann stellen Sie nämlich fest,
dass sich die Nazis eins ins Fäustchen lachen.
Tausende Antifaschisten waren in den letzten Jahren
aktiv, sie haben sich zum Beispiel im Februar in Dresden
dem größten Naziaufmarsch seit Jahren entgegengestellt. Was war die Antwort der staatlichen Seite? Knüppel, Tränengas und ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung,
({13})
und zwar nicht gegen Nazis, sondern gegen Antifaschisten. Millionen von Handydaten von unbescholtenen
Bürgern wurden gespeichert. Die Immunität mehrerer
Landtagsabgeordneter wurde aufgehoben, weil sie zur
Blockade des Naziaufmarsches aufriefen.
({14})
Das ist die traurige Realität, wenn Bürger gegen Nazis aktiv werden. Daran wird sich auch nichts ändern, solange kein Umdenken bei der Regierung und auf der
rechten Seite des Hauses stattfindet, solange Sie in Ihrer
ideologischen Verbohrtheit
({15})
Antifaschismus für eine Einstiegsdroge zur Revolution
halten
({16})
und solange Sie weiterhin beide Augen vor dem alltäglichen Terror der Nazibanden verschließen. Leider ist es
Realität, dass Sie jahrelang vor dem Problem des rechten
Terrors beide Augen verschlossen haben.
({17})
Seit 1990 haben wir über 160 Tote zu beklagen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. - In diesem
Jahr verzichten die Nazis übrigens erstmals darauf, in
Dresden zu marschieren. Das ist einzig und allein der Erfolg der Blockaden gewesen.
({0})
Ich kann Sie daher nur aufrufen: Beteiligen Sie sich an
den Blockaden gegen die Nazis!
({1})
Das ist die Sprache, die diese nicht gerne hören.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Ruprecht Polenz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin mir nicht so sicher, ob der bisherige Verlauf dieser
Aktuellen Stunde die Menschen in Deutschland tatsächlich ermutigt, Zivilcourage gegen Nazis zu zeigen.
({0})
Ich befürchte, dass der unbefangene Zuhörer von dieser
Aktuellen Stunde den Eindruck vermittelt bekommt: Wir
streiten untereinander und verlieren aus dem Blick, worum es eigentlich geht.
({1})
Warum ist es wichtig, Zivilcourage gegen Nazis zu
zeigen? Es ist wichtig, weil sie unsere Werte nicht teilen,
weil sie gegen die gleiche Würde aller Menschen sind
und dumpfe Ressentiments vor allen Dingen gegenüber
Ausländern schüren, weil sie gewalttätig sind und antisemitisches Gedankengut verbreiten. Es ist allerdings auch
zu beobachten, dass manche sich sozusagen zur Tarnung
zu 150-prozentigen Freunden Israels gerieren, weil sie
dann per definitionem keine Rechtsradikalen mehr sein
können und umso ungehinderter ihre Hetze gegen Muslime vom Stapel lassen können. Darum geht es.
({2})
Man muss diesem Hass und dieser Fremdenfeindlichkeit
- vor allen Dingen dem Hass, der sich gegen die Muslime und gegen den Islam richtet und der nichts mehr
mit Religionskritik zu tun hat - entgegentreten.
({3})
Ich darf Ihnen vor dem Hintergrund der heutigen Debatte eine E-Mail vorlesen, die im Augenblick ziemlich
viele Menschen bekommen, die aufgrund ihres Namens
als Menschen mit Migrationshintergrund erkennbar sind.
Ich zitiere:
Wir möchten Sie mit diesem unserem persönlichen
Anschreiben dazu veranlassen, in Ihrem eigenen
Sinne unser Land freiwillig, friedlich und gewaltfrei zu verlassen, da ansonsten für Ihre und Ihrer
Familie Gesundheit und Leben nicht garantiert werden kann.
({4})
Weiter heißt es:
Verstehen Sie den Ernst der Lage und handeln Sie
danach, bevor es für Sie und Ihre Familie zu spät
ist.
({5})
Sollte diese Aufforderung zum Verlassen unseres
Landes ignoriert, missachtet oder dieser nur spärlich nachgekommen werden, gehen Sie davon aus,
dass wir diese Ausweisung zur Not mit allen uns
zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen werden,
({6})
um dieses Problem für uns zu lösen, was wir mit
diesem Schreiben jedoch doch gerne verhindern
wollen.
Als Verfasser bezeichnet sich eine sogenannte Reichsbewegung.
Sie fragen, warum ich das hier vorlese. Weil ich
glaube, dass bekannt sein muss, was Menschen per
E-Mail an Drohadressen bekommen. Nur so können wir
bei der Mehrheit der Bevölkerung Empathie wecken und
die Menschen dazu bringen, sich mit dieser Bevölkerungsgruppe solidarisch zu zeigen. Hier hilft nur Transparenz. Deshalb habe ich das mit Abscheu hier vorgelesen: damit man sich dagegen wendet und Solidarität
zeigt.
({7})
Deshalb war es, als die Nazidemonstration in Münster
angekündigt wurde, auch richtig, nicht zu schweigen,
nicht wegzuschauen und sich nicht wegzuducken. Es gab
eine einstimmige Resolution der sieben Fraktionen bzw.
Gruppierungen im Rat, die zu friedlichen Gegendemonstrationen aufgerufen haben. Wir vier Bundestagsabgeordnete aus Münster, Frau Klein-Schmeink, Herr Strässer,
Herr Bahr und ich, haben ebenfalls gemeinsam dazu aufgerufen, friedlich gegen die Demonstration der Nazis aufzutreten. Das war erfolgreich. Über 5 000 Menschen haben demonstriert. Auf der größten Kundgebung haben
der Oberbürgermeister, Vertreter des DGB und der Kirchen sowie der Vorsitzende des Integrationsrates gesprochen. Das war ein starkes Signal gegen die Nazis.
Jetzt zu dem Punkt, dem in dieser Debatte viel zu viel
Raum gegeben wurde, nämlich zur Frage, wie das mit
Gewaltausschreitungen am Rande der Kundgebung war.
Wenn wir unsere Werte verteidigen, dann müssen wir
uns auch selber danach richten. Zu unseren Werten gehören auch unsere Rechtsordnung, Recht und Gesetz. Die
Versammlungsfreiheit schützt auch das Demonstrationsrecht - hören Sie jetzt gut zu - von verfassungsfeindlichen Organisationen, solange sie nicht verboten sind.
Das ist das Konzept unserer wehrhaften Demokratie.
Auf diese Weise soll politische Auseinandersetzung
stattfinden. Es ist Aufgabe der Polizei, das sicherzustellen. Wenn man die Polizei dafür denunziert und sagt, sie
mache sich mit den Nazis gemein, dann denunziert man
unseren Rechtsstaat, meine Damen und Herren von der
Linken.
({8})
Die offenen Fragen, die angesprochen worden sind,
werden untersucht. Frau Kollegin, Sie haben nicht erzählt, dass sich der Polizeipräsident inzwischen schriftlich bei Ihnen entschuldigt hat.
({9})
Das wird geklärt. Ich denke, das sollte nicht im Mittelpunkt stehen.
({10})
Der Spiegel hat die Ereignisse des vergangenen Wochenendes in einem Bericht so zusammengefasst - ich
darf zitieren -:
Neue Bühne, alte Parolen: Erstmals sind Hunderte
Neonazis durch das zutiefst bürgerliche Münster
marschiert. Die Stadt reagiert ebenso vorbildlich
wie entschieden: Mit Transparenten, Sprechchören
und Trillerpfeifenkonzerten protestieren Tausende
gegen die Extremisten.
Vielen Dank.
({11})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Sonja Steffen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Rechtsextremismus ist ein nationales Problem, das in diesem Jahr
durch die Aufdeckung der Morde des NSU einen sehr
traurigen Höhepunkt erlebte.
Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern
haben 22,7 Prozent der Wähler in Usedom-Stadt die
NPD gewählt. In Kamminke, einem Ort ganz in der
Nähe der Grenze zu Polen, waren es 23,9 Prozent und in
Bansin-Dorf 24,9 Prozent, und das, obwohl Usedom
eine lebendige Insel ist. Usedom hat nichts mit den Dörfern gemein, die sich von der Welt aufgegeben fühlen.
In dieser Debatte geht es um Zivilcourage gegen
rechts und um die Stärkung derselben. Sie verlangt Mut,
die Zuversicht der Menschen, dass ihnen nichts passiert,
wenn sie sich den Nazis entgegenstellen, und sie verlangt Entschiedenheit. Usedomer Bürgerinnen und Bürger stellen sich mutig mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Rechtsextremismus. Es gibt
zum Beispiel einen Bürgermeister auf Usedom, der die
Satzung geändert hat, als die NPD eine neue Sporthalle
nutzen wollte, um dort ihre Aufmärsche zu üben. Er ging
dabei das Risiko ein, dass diese Satzung einer rechtlichen Überprüfung vielleicht nicht standhalten würde.
({0})
In Heringsdorf ist es seit zwei Jahren verboten, dass Parteien ihre Plakate an Laternenmasten anbringen.
In meinem Wahlkreis und in ganz Mecklenburg-Vorpommern zeigen die Menschen Flagge, indem sie NaziAufmärschen mutig mit Storch-Heinar-T-Shirts entgegentreten, obwohl NPD-Anhänger dabeistehen und sie
provokant fotografieren, um Angst zu schüren. Im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ist die NPD leider
noch mit fünf Abgeordneten vertreten. Die demokratischen Fraktionen dort haben sich darauf verständigt,
dass auf jeden Antrag der NPD nur ein Abgeordneter im
Namen aller demokratischen Fraktionen mit einem Redebeitrag antwortet.
({1})
Gegen die Nazis sprechen die demokratischen Parteien
im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern mit einer
Stimme.
Wahrscheinlich haben viele von uns schon Aktionen
gegen rechts organisiert und begleitet. Wir haben uns geärgert - mein Kollege Sönke Rix hat vorhin schon darauf
hingewiesen -, wenn Widerstand und Zivilcourage an
technokratischen Bedenken scheiterten. Viele von uns
haben schon das Argument gehört, man dürfe nicht so
viel über die NPD reden, damit sie nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt.
Leider ist es auch in meinem Wahlkreis in Stralsund
so, dass das Aktionsbündnis gegen rechts nicht von den
kommunalpolitischen CDU-Abgeordneten begleitet
wird, obwohl darin Kirchen, Gewerkschaften und eine
Reihe von Vereinen vertreten sind. Nein, wir müssen die
rechtsextremen Aktionen nicht aushalten. Es ist richtig
und wichtig, dass sich die Menschen dem braunen Haufen mutig entgegenstellen. Wir als Parlamentarier haben
das Recht und die Pflicht, diese Zivilcourage zu begleiten und zu unterstützen.
({2})
Was Ihnen in Münster passiert ist, Frau Remmers,
finde ich persönlich schlimm und entwürdigend. Ich
hoffe, dass es für Sie keine Nachwirkungen geben wird.
Gleichzeitig hoffe ich, dass es für die handelnden Polizeibeamten hingegen Nachwirkungen geben wird, dass
dort ermittelt und der Sachverhalt aufgeklärt wird.
Aber ich frage: Darf und muss die Zivilcourage so
weit gehen, dass uns Bundestagsabgeordneten ein Sonderstatus eingeräumt wird?
({3})
Sollten wir, wenn es um Rechtsextremismus geht, von
der Möglichkeit der Immunität Gebrauch machen dürfen, um uns vor Aktionen der Staatsanwaltschaft und der
Polizei zu schützen? Die verfassungsrechtlich verankerte
Immunität ist ein hohes Gut, aber kein Freifahrtsschein
für Abgeordnete. Das ist gut und richtig so. Sie alle kennen die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten genauso gut wie ich. Sie wissen, dass der Immunitätsausschuss nie in eine Beweiswürdigung eintritt und keine
Feststellungen über Recht oder Unrecht, Schuld oder
Nichtschuld trifft. Ob Sitzblockaden eine Nötigung darstellen, dürfen wir im Immunitätsausschuss nicht prüfen
und bewerten.
Für den einzelnen Abgeordneten ergeben sich hier
keine Sonderrechte. Er hat nur den Anspruch, dass sich
der Bundestag bei der Entscheidung über eine Aufhebung der Immunität nicht von sachfremden Motiven leiten lässt. Deshalb darf der Immunitätsausschuss auch bei
Ermittlungsverfahren gegen Abgeordnete, die im Zusammenhang mit Aktionen der Zivilcourage gegen
rechts eingeleitet werden, keine Beweiswürdigung oder
politische Wertung vornehmen; denn dann würde die Arbeit des Immunitätsausschusses willkürlich. Das gilt für
alle Abgeordneten, für Herrn Thierse genauso wie für
Sie, Frau Remmers. Er ist nicht anders behandelt worden
als andere Abgeordnete, die sich im Wege der Zivilcourage gegen die Rechten gestellt haben.
({4})
Es gibt andere Mittel, die uns zur Verfügung stehen
bzw. die wir schaffen und stärken müssen. Viele sind
hier schon genannt worden. Ich will mich deshalb auf
zwei beschränken. Ein Mittel ist, den Menschen, vor allem den Menschen in Ostdeutschland, eine bessere Perspektive zu bieten, um dem rechtsextremistischen Gedankengut den Boden zu entziehen. Schließlich gehört
auch ein Verbot der NPD dazu, damit sie unsere schönen
Städte und Landschaften zukünftig nicht mehr mit ihren
widerlichen Plakaten verschandeln kann und damit wir
ihre Äußerungen in den Parlamenten nicht länger ertragen müssen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zivilcourage bedeutet sozialverantwortliches Handeln und geschieht beispielsweise in Situationen, in denen zentrale Wertüberzeugungen und soziale Normen
wie Menschenwürde, Menschenrechte oder Gerechtigkeit verletzt werden. Zivilcouragiert handelt eine Person,
wenn sie bereit ist, trotz drohender Nachteile für die eigene Person als Einzelner für die Wahrung humaner und
demokratischer Werte einzutreten.
In Deutschland haben wir starke demokratische
Strukturen, aber auch funktionierende Sicherheitsstrukturen. Für mich hört Zivilcourage dort auf, wo das Demonstrationsrecht von Gegendemonstranten gebrochen
wird. Diese Schlussfolgerung ziehe aus den aktuellen
Demonstrationen der Neonazis in Münster.
Eines der wesentlichen Merkmale unserer Demokratie ist, dass wir auch Meinungen zulassen und tolerieren,
die nicht unsere demokratischen und rechtsstaatlichen
Grundprinzipien und Wertvorstellungen widerspiegeln,
wie es der Kollege Polenz vorhin schon sagte. In Art. 5
und Art. 8 des Grundgesetzes sind die Meinungs- und
die Versammlungsfreiheit ausdrücklich garantiert. Die
Ausübung des grundgesetzlich garantierten Versammlungsrechts ist jedoch dann eindeutig verletzt, wenn, wie
in Münster geschehen, Gegendemonstranten versuchen,
Polizeiabsperrungen zu überwinden. Dies hat für mich
nun wirklich nichts mehr mit Versammlungsfreiheit und
Zivilcourage zu tun.
({0})
Den erheblichen Zuwachs im neonazistischen Spektrum und die steigende Gewaltbereitschaft innerhalb der
Neonazi-Szene betrachte auch ich mit größter Sorge.
Wir müssen verhindern, dass rechtsextremistische Ideologien zu Mord und Terror führen. Deswegen setzen wir
im familienpolitischen Bereich auf Prävention bei Kindern und Jugendlichen. Für die Prävention gegen
Rechtsextremismus geben wir so viel Geld aus wie keine
andere Bundesregierung zuvor.
Mit verschiedenen Aktions- und Bundesprogrammen
hat die Bundesregierung erfolgreich pädagogische Bildungsprojekte und Beratungsangebote gegen Rechtsextremismus unterstützt. Hauptzielgruppe waren Kinder
und Jugendliche, deren Eltern, Erziehungsberechtigte,
Lehrer, Erzieher und seit 2007 auch explizite Meinungsträger im Umfeld der Jugendlichen. Insbesondere mit
dem Bundesprogramm „Toleranz fördern - Kompetenz
stärken“ wollen wir die Entwicklung von Kindern und
Jugendlichen durch präventiv-pädagogische Arbeit stärken. Kinder und Jugendliche müssen gegen rechtsextremistisches Gedankengut immun werden. Der beste
Impfstoff ist, dass wir unsere Kraft darauf verwenden,
sie für unsere Werte wie Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit zu gewinnen.
Für das Bundesprogramm „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ stehen jährlich 24 Millionen Euro zur
Verfügung. Da die Verwaltung intern durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
wahrgenommen wird, haben wir Einsparungen in Höhe
von 2 Millionen Euro erzielt. Unser Ziel war nicht, bei
der überaus erfolgreichen Projektarbeit zu sparen. Im Gegenteil: Wir haben die Bekämpfung des Rechtsextremismus verstärkt, indem wir die Gelder weiter aufgestockt
haben. Auf Antrag meiner Fraktion wurde der bestehende
Haushaltstitel „Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt,
Toleranz und Demokratie“ im Haushaltsjahr 2012 um
2 Millionen Euro erhöht.
({1})
Auch wenn wir den Rechtsextremismus mit allen uns
zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, so müssen
wir doch stets auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bleiben. Dazu, liebe Kollegen
von der Opposition, gehört auch die Extremismusklausel. Diese hat sich bewährt und bleibt bestehen. Wir können Extremismus nicht mit Extremismus bekämpfen.
({2})
Für mich gilt eine absolute Nulltoleranz gegenüber
denjenigen, die nichts anderes im Sinn haben, als sich
gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung
zu stellen. In den vergangenen Jahren haben wir im
Kampf gegen den Rechtsextremismus durch die Erprobung unterschiedlicher Ansätze viel Wissen und Kompetenz gewonnen. Dieses Wissen wollen wir zukünftig
auch für die Gesellschaft nutzbar machen. Zu diesem
Zweck ist bis Ende dieses Jahres die Einrichtung eines
bundesweiten Informations- und Kompetenzzentrums
geplant. Dabei handelt es sich um eine Plattform zum
Wissenstransfer: von zivilgesellschaftlichen Organisationen an Multiplikatoren im Bildungssystem und an die
Zivilgesellschaft.
Zum Schluss, meine Damen und Herren, ein Appell
an Sie alle: Nur wenn wir uns alle aktiv für Toleranz und
für die Werte und Errungenschaften unserer Demokratie
einsetzen, können wir den Rechtsextremismus erfolgreich aus unserer Gesellschaft verbannen.
Vielen Dank.
({3})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Zu einer Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach
§ 32 unserer Geschäftsordnung erteile ich das Wort der
Kollegin Ingrid Remmers von der Fraktion Die Linke.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie werden mir
nachsehen, dass ich spätestens nach dem Beitrag des
Kollegen Sensburg das dringende Bedürfnis habe, einige
Punkte klarzustellen.
Der Kollege Sensburg hat behauptet, ich hätte mich
am letzten Samstag nicht ausweisen können.
({0})
Ich möchte klarstellen, dass ich meine Abgeordnetentätigkeit bzw. mein Mandat zu jedem Zeitpunkt innerhalb
von einer Minute hätte nachweisen können.
Darüber hinaus möchte ich feststellen, dass während
des gesamten Samstags an keiner Stelle meine Identität
infrage gestellt wurde. Meine Identität ist erst im Nachhinein infrage gestellt worden, als klar war, was man
sich hier geleistet hat.
({1})
An dieser Stelle möchte ich auch darauf eingehen,
dass der Kollege Polenz von gewaltbereitem Protest gesprochen hat. Ich möchte Ihnen die Situation einmal veranschaulichen. Es war eine angemeldete und genehmigte
Kundgebung, die ausgelagert war zwischen zwei Siedlungen auf einem Feld und einem Feldweg, wo niemand,
aber auch gar niemand diesen Protest wahrnehmen oder
hören konnte. Dass junge Menschen, die zu diesen Demonstrationen gereist sind, um ihre Meinung im Kampf
gegen rechts kundzutun, diesen Kundgebungsplatz irgendwann auch verlassen möchten, weil sie mit ihrem
Protest nirgendwo wahrgenommen werden, muss man
anders sehen, als es hier dargestellt wird. Es war keine
Gewaltbereitschaft, sondern der Wunsch, zeigen zu können, wo man steht, und dagegen angehen zu können.
Was am Samstag auf diesem Kundgebungsplatz passiert ist, ist einzig und allein, dass sich junge Leute vom
Kundgebungsplatz in Richtung einer nicht abgesperrten
Siedlung abgesetzt haben. Die Absperrung wurde erst
viel später errichtet. Dieses Verlassen hat zu einem massiven Polizeieinsatz geführt.
Ich habe versucht, zu intervenieren, als ein junger
Mann, der etwas abseits gelaufen ist, um weiter in Richtung Demoroute zu kommen, zu Boden geworfen worden ist. Ein Polizist hat sich auf ihn gekniet - sein Knie
war im Nacken des Mannes - und hat seinen Arm nach
hinten gedrückt. Der Polizist ist in dieser Position geblieben, obwohl der junge Mann überhaupt keinen Widerstand geleistet hat.
Diese Situation war für mich Anlass, hinzugehen. Als
ich von einer Polizistin aufgehalten worden bin, habe ich
sofort gesagt, wer ich bin. Ich war jederzeit als Abgeordnete identifizierbar.
({2})
- Wenn Sie es so genau wissen wollen: Ich hatte selbstverständlich meinen Personalausweis in der Tasche.
Zwei Meter hinter mir stand mein Mitarbeiter mit seinem Mitarbeiterausweis, auf dem auch mein Name steht.
Das hat aber niemand wissen wollen. Niemand hat infrage gestellt, dass ich Abgeordnete bin. Deswegen
spielt der Punkt, ob ich den richtigen Ausweis in der Tasche hatte, überhaupt keine Rolle; denn das war jederzeit
feststellbar.
({3})
Aber auch der junge Mann, um den es eigentlich ging,
ist nicht gewalttätig gewesen, sondern er hat versucht,
den Kundgebungsplatz zu verlassen. Er ist massiv angegriffen und niedergedrückt worden, und ich wollte vermittelnd eingreifen.
Ich bitte Sie, das zu respektieren. Sie sind nicht dort
gewesen und konnten die Situation also nicht beobachten, genauso wie die Koalitionsfraktionen ohnehin bei
keinem Kampf gegen rechts irgendwo auftauchen und in
dieser Frage eher ein Totalausfall sind.
({4})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes
- Drucksache 17/8801 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider19578
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
spruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim
Otto das Wort.
({1})
Danke schön. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit der Energiewende stellen wir
unsere Energieversorgung auf eine neue Grundlage. Für
diesen Umbau brauchen wir neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien, neuer Netze und Speichertechnologien auch Investitionen in neue hochmoderne Kraftwerke sowie eine signifikante Steigerung der Effizienz.
Mit dem Entwurf einer Novelle des KWKG schlagen
wir jetzt ein Bündel von Maßnahmen vor, durch das die
Kraft-Wärme-Kopplung deutlich vorangebracht werden
kann und gleichzeitig auch Anreize für Investitionen in
neue Erzeugungsanlagen gesetzt werden.
Die Bundesregierung steht zur Kraft-Wärme-Kopplung als Effizienztechnologie. Durch Nutzung der bei
der Stromerzeugung anfallenden Abwärme für Heizzwecke können Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent erreicht werden, wenn ein entsprechender Wärmebedarf
besteht. Unbestrittenes Ziel ist es, bis zum Jahre 2020
den Anteil der Stromerzeugung aus KWK-Anlagen auf
25 Prozent zu steigern. Sie wissen es sicherlich: Momentan beträgt dieser Anteil 15 Prozent.
Der Ihnen jetzt vorliegende und heute zu debattierende Gesetzentwurf enthält insbesondere eine Ausweitung der Förderung von Wärmenetzen. Ein intensivierter
Ausbau der Netze erschließt neue Wärmesenken und ist
somit ein Schlüssel zur Steigerung des Anteils von
KWK. Weiterhin soll die Förderung von Modernisierungsmaßnahmen deutlich erleichtert und eine neue
Möglichkeit zur Unterstützung der Nachrüstungen mit
KWK geschaffen werden. Hierdurch kann die Effizienz
bestehender Anlagen deutlich gesteigert werden.
Neu aufgenommen wurde auch eine Möglichkeit zur
Förderung von Wärmespeichern. Wärmespeicher bieten
eine Möglichkeit zur Entkopplung der Stromerzeugung
von der Nutzung der Wärme. Hierdurch können KWKAnlagen flexibler eingesetzt werden und besser zum
Ausgleich der zwangsläufig fluktuierenden Einspeisung
erneuerbarer Energien beitragen.
Der Regierungsentwurf enthält schließlich für emissionshandelspflichtige Anlagen eine Anhebung der Zuschläge um 0,3 Cent pro Kilowattstunde. Der Vorschlag
zielt auf den Ausgleich der ab dem Jahre 2013 schrittweise beginnenden Einbeziehung der Wärmeerzeugung
in den Emissionshandel. Er soll also trotz dieser beginnenden Zusatzbelastung Anreize für Neuinvestitionen
setzen.
Einige Verbände und auch der Bundesrat haben diesen Teil des Gesetzentwurfes kritisiert. Sie fordern eine
Anhebung der Zuschläge auf breiterer Front. Die Bundesregierung hat zugesagt - sie wird das auch tun -, die
Vorschläge gerade im Hinblick auf eine Anreizwirkung
für notwendige Investitionen in flexible neue Kraftwerke
zu prüfen und gegebenenfalls im Laufe des Beratungsverfahrens einen konkreten Vorschlag hierzu vorzulegen.
Zum Abschluss möchte ich noch darauf hinweisen,
dass das KWKG, anders als andere umlagefinanzierte
Förderinstrumente, eine feste Begrenzung der Kosten
der von den Verbrauchern zu tragenden Umlagen auf
750 Millionen Euro pro Jahr enthält. Durch diesen festen
Deckel bleibt auch die maximale Belastung der Verbraucher kalkulierbar. Selbst im Falle einer vollen Ausschöpfung des Betrages würde sich der Strompreis für Endkunden nur um circa 0,3 Cent pro Kilowattstunde
erhöhen. Ich will aber klarmachen: Im vergangenen Jahr,
2011, betrugen die Zusatzkosten
({0})
für die Verbraucher gerade einmal 0,03 Cent pro Kilowattstunde. - Herr Kollege Krischer, ich freue mich,
dass wir wenigstens in diesem einen Punkt über dieselben Informationen und über Einigkeit verfügen.
Meine Damen und Herren, ich denke, dass dieser
Deckel und damit die Kalkulierbarkeit der Kosten für die
Verbraucher ein weiteres wirtschaftliches Argument für
die Effizienztechnologie Kraft-Wärme-Kopplung ist. Ich
freue mich auf eine konstruktive Debatte heute hier im
Plenum des Bundestages und anschließend natürlich
auch in den zuständigen Ausschüssen.
Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir hatten in der letzten Sitzungswoche eine Aktuelle
Stunde zum Thema Energieeffizienz. Es gab berechtigte
Kritik vonseiten der Opposition an dem Handeln - oder
sagen wir vielleicht besser: Nichthandeln - der Bundesregierung.
({0})
Heute liegt ein Gesetzentwurf zum Thema KraftWärme-Kopplung vor. Kraft-Wärme-Kopplung ist anerkanntermaßen ein wesentlicher Pfeiler in jeder Effizienzstrategie.
Wir möchten uns bedanken, Herr Staatssekretär, dass
Sie etwas vorgelegt haben, das als Grundlage für die
Beratungen im Deutschen Bundestag dienen kann. Es
hat zwar lange gedauert, aber immerhin: Es geht in die
richtige Richtung. Wir sind auch fair genug, das an einer
solchen Stelle zu sagen.
Beim Thema Effizienz wird genau wie beim Thema
KWK von allen Seiten immer wieder betont, es sei sozusagen eine Allzweckwaffe. Deswegen muss man erheblich daran arbeiten, um damit voranzukommen.
Es gilt deshalb als Allzweckwaffe, weil KWK auf der
Angebotsseite, also bei der Strom- und Wärmeerzeugung, ein Effizienzangebot ist und weil sie in einem System, das wir weiterentwickeln wollen und das flexibel
sein soll, über Wärmespeicher einen besonderen Beitrag
leisten kann. Wir müssen aber auch darauf achten, dass
wir in diesem Bereich nicht nur Kraftwerke bauen, sondern auch dafür sorgen, dass Wärmesenken vorhanden
sind. Deswegen geht es auch um den Ausbau und die
Verdichtung von Wärmenetzen. Wenn wir erfolgreich
sind, dann entlasten wir über mehr Dezentralität letztlich
auch Übertragungsnetze im Strombereich und stabilisieren insgesamt die Strom- und Wärmeversorgung.
Insofern ist zu loben, dass wir heute eine taugliche
Beratungsgrundlage bekommen haben. Ganz verkneifen
können wir uns aber nicht die Kritik daran, dass es so
lange gedauert hat und dass zwei konservative und zwei
liberale Wirtschaftsminister dieses Thema so lange vor
sich hergeschoben haben.
({1})
Richtig ist auch - das kann auch niemand abstreiten -,
dass es einen engen Zusammenhang mit dem Thema
Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke gibt. Denn in
ein Szenario mit verlängerten Laufzeiten von Atomkraftwerken hat der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung
natürlich nicht richtig hineingepasst. Das wäre eine
Konkurrenz für die großen Kraftwerke der großen Vier
gewesen. Deswegen hat man das in den vergangenen
Jahren nicht angepackt.
Jetzt ist es Gott sei Dank so weit. Die Vorlage, die Sie
geliefert haben, ist von den Marktakteuren insgesamt positiv aufgenommen worden, vermutlich auch deshalb,
weil man aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit gar nicht mehr damit gerechnet hat.
Jedenfalls ist klar, dass wir im Deutschen Bundestag
eine Anhörung beantragen werden, um das auch aufzugreifen, was Sie als konstruktives Angebot - wir nehmen
das ernst - gerade gemacht haben, als Sie gesagt haben,
dass Sie noch flexibel sind und Sie die konstruktive
Kritik und die Vorschläge aus den Branchen prüfen und
gegebenenfalls noch in Ihr Konzept einarbeiten wollen.
Dabei wird es unter anderem um die Frage der Zuschlagshöhen gehen. Sie haben gerade einige Beispiele
genannt. Ich stimme dem von Ihnen genannten Kriterium für die Höhe des Zuschlags zu, der so hoch sein
muss, dass er zu dem gewünschten Ausbauziel von
25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung führt.
Sie haben als zweites Stichwort die Modernisierung
von Kraftwerken genannt. Ich glaube, dass das bisher erheblich unterschätzt worden ist und dass wir sogar eine
Menge an finanziellen Ressourcen einsparen können,
wenn wir gerade bei der Modernisierung von KraftWärme-Kopplungsanlagen und -netzen erfolgreich sind.
Wir müssen sehr genau darauf achten, dass wir nicht
durch falsch gesetzte Schwellen dieses Thema totmachen, bevor es überhaupt begonnen hat, zu atmen.
({2})
Auch aus den Branchen hören wir, dass das, was bisher vorgeschlagen worden ist, nämlich dass man die Modernisierung ein Stück weit antreiben will, in der Grundrichtung richtig ist, dass man aber, wenn man das
umsetzen will, was möglich ist, auch darüber nachdenken muss, ob man die Schwellen nicht niedriger ansetzen muss, also die Modernisierung auch dann unterstützt, wenn weniger als 50 oder 30 Prozent einer Anlage
modernisiert werden.
({3})
Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist die
industrielle Kraft-Wärme-Kopplung. Wir wissen, dass es
diese Anlagen gerade im industriellen Bereich vielfach
gibt. Wir müssen aber sehr genau darauf achten, dass wir
diesen Markt am Leben erhalten. Auch dabei gilt es, das
Potenzial auszuschöpfen, indem wir die richtigen Anreize setzen. Dazu gibt es entsprechende Vorschläge aus
der Branche.
Einige Vorschläge betreffen übrigens nicht das KraftWärme-Kopplungsgesetz selbst, sondern andere, flankierende Gesetze, etwa das Erneuerbare-EnergienGesetz oder das Energiewirtschaftsgesetz. Wenn man
dabei die Rahmenbedingungen falsch setzt, kann dadurch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durchaus
behindert werden.
Uns geht es auch um das Ausschöpfen des Potenzials
der Mini-KWK- und der Mikro-KWK-Anlagen. Es gibt
ein großes Interesse der Bevölkerung, hier aktiv zu werden. Aber dann müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Aus diesem Grunde sollten wir uns das noch einmal genauer anschauen.
({4})
Sie haben das Emissionshandelssystem angesprochen. Es hat indirekt Auswirkungen auf die KraftWärme-Kopplung. Wir begrüßen sehr, dass es zum Ausgleich der Auswirkungen des Emissionshandelssystems
entsprechende Zuschläge geben soll. Wir bitten aber
auch hier, noch einmal über die Höhe der Zuschläge
nachzudenken und die Vorschläge aus der Branche zu
prüfen. Ich denke, das wird eines der Themen der bevorstehenden Anhörung sein. Insbesondere müssen wir
darüber nachdenken, wie wir Anlagen, die nicht in das
Emissionshandelssystem einbezogen sind, behandeln
wollen. Wir dürfen nicht durch Maßnahmen an einer
Stelle negative Nebeneffekte an einer anderen Stelle erzeugen.
Wenn man ein Fazit ziehen will: Wir freuen uns, dass
es jetzt eine verhandlungsfähige Grundlage gibt. Wir
freuen uns auf die Anhörung und Beratungen im Deutschen Bundestag und hoffen, dass wir am Ende zu einem
Ergebnis kommen, das seinen Niederschlag in den
Marktaktivitäten zum Bau und zur Modernisierung von
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen sowie zur Verdichtung
und zum Ausbau der Wärmenetze finden wird.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Bareiß von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Lieber Kollege Hempelmann, herzlichen Dank
für Ihren konstruktiven Beitrag. Ich glaube, dass Sie
recht haben: Das, was jetzt vorliegt, ist eine sehr gute
Grundlage für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung.
Sie wird eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung
der Energiewende spielen. Wir brauchen die KraftWärme-Kopplung mehr denn je, um die hohen Ziele unseres Energiekonzepts tatsächlich erreichen zu können.
Erlauben Sie mir, trotz Ihrer sehr konstruktiven Rede
ein paar wenige Kritikpunkte anzusprechen. Sie haben
gesagt, bei der Kraft-Wärme-Kopplung gehe es viel zu
langsam voran. Sie selber können vor Ort dafür sorgen,
dass die Kraft-Wärme-Kopplung verstärkt zum Einsatz
kommt. Ich habe schon öfter von diesem Rednerpult aus
gesagt - Sie lächeln schon, Herr Hempelmann; Sie wissen offenbar, was nun kommt -: In Nordrhein-Westfalen
steht eine der modernsten und größten Kraft-WärmeKopplungsanlagen, die es in Europa gibt. Sie könnte
hundertausend Haushalte mit Wärme beliefern und wartet nur darauf, ans Netz zu gehen.
({0})
Aber die rot-grüne Regierung in Düsseldorf schafft es
nicht, diese Anlage ans Netz zu bekommen. Dieses Problem haben wir häufiger vor Ort.
({1})
Es gibt noch andere Beispiele dafür, dass Rot-Grün
gegen die Kraft-Wärme-Kopplung ist. Im niedersächsischen Stade wartet ein Chemiewerk dringend darauf,
dass eine Kraft-Wärme-Kopplungsanlage ans Netz geht.
Dadurch könnten 40 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart werden. Hier könnten wir ebenfalls vorangehen.
Aber die Grünen im Landtag in Niedersachsen verhindern das und demonstrieren ständig dagegen.
({2})
Ähnlich verhält es sich beim Kraftwerk Staudinger in
Hessen. Überall demonstrieren und agieren Sie gegen
Kraft-Wärme-Kopplungsprojekte. Aber auch Sie übernehmen vor Ort Verantwortung und sollten für solche
Projekte kämpfen. Deshalb fordere ich Sie auf, nicht nur
große Reden zu halten, sondern auch vor Ort für die
Kraft-Wärme-Kopplung einzutreten.
({3})
Die Kraft-Wärme-Kopplung hat schon heute einen
großen Anteil an unserer Stromversorgung. Mehr als
15 Prozent unseres Stroms kommen aus der KraftWärme-Kopplung. Wir haben das Ziel, bis 2020 den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung
auf 25 Prozent zu steigern. Wir sind derzeit auf einem
guten Weg. Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung
zeigt, dass wir unter den jetzigen Rahmenbedingungen
wahrscheinlich 21 Prozent schaffen können, obwohl wir
in den letzten zwei, drei Jahren enorme Kritik erfahren
mussten. Wenn wir die Stellschrauben, die wir jetzt
anpacken, justiert haben, werden wir sicherlich die angestrebten 25 Prozent erreichen.
Dies ist sinnvoll - meine beiden Vorredner haben es
schon angesprochen -: Während normale fossile Kraftwerke einen Wirkungsgrad von 40 bis 50 Prozent erreichen, erzielen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen einen
Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent. Wenn wir nicht nur
in eine Zukunft der regenerativen Energien starten wollen, sondern auch in eine energieeffiziente Zukunft gehen möchten, brauchen wir mehr Kraft-Wärme-Kopplung. Auch das ist eine wichtige Botschaft des heutigen
Tages.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: der Beitrag der Kraft-WärmeKopplung zur Netz- und Systemstabilität. Die größte
Herausforderung der nächsten Jahre wird sicherlich die
hohe Volatilität in unseren Netzen sein. Ich glaube, dass
die Kraft-Wärme-Kopplung hier eine ganz entscheidende Rolle spielen könnte. Deshalb müssen wir die
richtigen Weichen stellen, damit die Volatilität auch
durch die Kraft-Wärme-Kopplung ausgeglichen wird.
Meine Damen und Herren, wir haben vor einem Jahr
ein Energiekonzept vorgelegt, das seinesgleichen sucht.
Dieses Energiekonzept baut auf einer bezahlbaren, umweltverträglichen und sicheren Energieversorgung in unserem Land auf. Die Kraft-Wärme-Kopplung passt hier
hervorragend hinein.
Sie wird unter dem ersten Gesichtspunkt, den ich genannt habe, der Bezahlbarkeit, in den nächsten Jahren
eine größere Rolle spielen. Vor dem Hintergrund, dass
wir heute beim Ausbau der erneuerbaren Energien, für
die nächsten 20 Jahre gerechnet, von Kosten in Höhe
von 200 Milliarden Euro ausgehen, wird die KraftWärme-Kopplung mit dafür sorgen, dass die Energiewende in den nächsten Jahren bezahlbar bleibt.
Schließlich stellen unsere Verbraucher immer öfter
die Frage, wie sie die Strompreise in den nächsten Jahren bezahlen können. Diese Frage wird aber nicht nur
von den Privatverbrauchern aufgeworfen. Auch die Industrie, die Ihnen seit kurzem so stark am Herzen liegt
und die die Energiepreise immer stärker infrage stellt,
braucht zukünftig verlässliche und günstige Energiepreise. Wir sollten darauf achten, dass die Industrie, die
nach wie vor einen sehr hohen Anteil an der Wertschöpfung in Deutschland hat - er liegt bei 25 Prozent -, hier
nicht abgewürgt wird, sondern eine gute, verlässliche
Energieversorgung zu bezahlbaren Preisen angeboten
bekommt.
({4})
Deshalb brauchen wir unter anderem mehr KraftWärme-Kopplung. Wir brauchen aber - ich sage es in aller Deutlichkeit; wir haben es heute schon mehrfach diskutiert - weniger Photovoltaik; denn das ist sicherlich
ein Ansatz, der in Deutschland nicht in der Form umsetzbar ist wie andere Bereiche.
Wir haben im letzten Jahr schon viel getan; das
möchte ich in aller Deutlichkeit sagen. Bereits im Jahr
2011 haben wir den ersten Grundstein für den Ausbau
der Kraft-Wärme-Kopplung gelegt. Im Rahmen unserer
Diskussion über die Energiewende haben wir im Frühjahr 2011 eine Gesetzesnovellierung vorgelegt, wodurch
wir die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung flexibler
gestaltet und Investitionssicherheit für die nächsten
Jahre geschaffen haben. So haben wir das Kriterium der
maximal zulässigen Betriebsjahre aus dem Gesetz herausgenommen und haben als Grundlage für die Förderung nur noch maximal 30 000 Betriebsstunden festgelegt.
Darüber hinaus haben wir den Förderzeitraum, der im
Jahr 2016 endete, bis 2020 verlängert. Konkret hat das
dazu geführt, dass Kraft-Wärme-Kopplungsprojekte
auch in den nächsten zwei Jahren verwirklicht werden,
bis die neue Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes dann auch greift.
Diese beiden Gesetzesveränderungen haben also dazu
geführt, dass die Kraft-Wärme-Kopplung auch in diesem
Jahr weiter ausgebaut wird.
Mit der Novelle, die jetzt kommen wird, wollen wir
weitere, noch bessere Investitionsanreize liefern, Bürokratie abbauen und die bestehende Förderung noch einmal optimieren.
Es wurden schon viele Punkte angesprochen, die im
Gesetzentwurf eingearbeitet sind. Ich möchte einige wenige Punkte, die mir besonders wichtig sind, noch einmal herausstreichen.
Der erste Punkt ist das Thema Speichertechnologie,
das vorhin schon angesprochen wurde. Meines Erachtens wird dieser Bereich nicht nur in den Zeiten enorm
wichtig, in denen wir wenig Strom und wenig Energie
haben, sondern auch in den Zeiten, in denen wir viel
Strom und viel Energie haben, weil wir dann wiederum
Reserven schaffen können, um die enormen Spitzen, die
kommen werden, auch abfangen zu können. Dabei wird
das Thema Speicher eine große Rolle spielen.
Mit dem jetzigen Ansatz, Wärmespeicher stärker zu
fördern, ermöglichen wir es meiner Einschätzung nach
auch kleineren Einheiten, beispielsweise Stadtwerken,
etwas zu tun. Auch sie können dann in Wärmenetze investieren, was vielleicht zu einem größeren diesbezüglichen Angebot in Städten und Gemeinden führt. Eine
wichtige Komponente in Verbindung mit der Förderung
von Wärmenetzen ist die Förderung von Kältenetzen;
das ist neu. Damit haben wir einen weiteren wichtigen
Ansatz mit aufgenommen.
Hier bieten wir ein Gesamtfördervolumen von
150 Millionen Euro an, damit in diese Bereiche stärker
investiert wird. Das macht dann Projekte auch wirtschaftlich, was derzeit in vielen Regionen nicht der Fall
ist. Damit werden wir in den nächsten Jahren meines Erachtens noch einmal einen Investitionsschub auslösen,
wie er auch heute schon besteht. In den letzten zwei Jahren haben wir 797 Kilometer Wärmefern- und -nahnetze
ausgebaut. Mit einer Förderung in Höhe von 64 Millionen Euro haben wir ein Investitionsvolumen von über
250 Millionen Euro erzielt. Das zeigt, dass das System
- zu bezahlbaren Preisen - funktioniert und vor Ort für
viel Effizienz sorgt.
Darüber hinaus wollen wir die Modernisierung von
Kraft-Wärme-Kopplung vorantreiben, alte, also bestehende fossile Kraftwerke zu Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen umbauen, wie beispielsweise in Stade oder beim
Kraftwerk Staudinger; das bezieht sich auf die Projekte,
die ich vorhin genannt habe. Auch das ist sicherlich ein
Weg, um unseren bestehenden Kraftwerkspark zu modernisieren und um hier Investitionen zu ermöglichen.
Ein weiterer Punkt - er liegt mir ebenso wie Herrn
Hempelmann sehr am Herzen - ist die dezentrale Energieversorgung durch Mikro- und Mini-KWK-Anlagen;
sie sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirtschaftlich.
Auch da wollen wir etwas tun. Ich halte den im Gesetzentwurf verfolgten Ansatz, zu pauschalisieren, zu vereinfachen und zu entbürokratisieren, für richtig. Ganz
konkret: Wir versuchen, es den Kleinanlagen möglich zu
machen, zu investieren. Eine einfache Umsetzung der
Förderung soll ein Anreiz sein, schneller an Geld zu
kommen und Investitionen zu tätigen.
({5})
Was für kleine Anlagen gilt, gilt auch für große Anlagen. Ab 2013 wird der Emissionshandel teilweise auch
für Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gelten. Das heißt,
wir müssen einen gewissen Ausgleich in Erwägung ziehen. Deshalb halte ich den im Gesetzentwurf verankerten
Ansatz, eine zusätzliche Vergütung von 0,3 Cent einzuführen, für richtig. Dadurch müssten größere KraftWärme-Kopplungsanlagen nicht stillgelegt werden; vielmehr könnte man schauen, wie beim Emissionshandel
für einen Ausgleich gesorgt werden kann.
Das Gute an all den Punkten, die ich genannt habe,
ist, dass wir einen Förderdeckel haben: 750 Millionen
Euro dürfen maximal ausgegeben werden. Das heißt, der
Verbraucher wird bis zu einem Betrag von maximal
750 Millionen Euro belastet. Ich erlaube mir die Randnotiz: Eine solche Förderobergrenze wünsche ich mir
auch für andere Bereiche, in denen wir ein bisschen effizienter vorgehen sollten. Hier, bei der Kraft-WärmeKopplung, funktioniert die Deckelung. Ich glaube, dass
wir gegenüber dem Verbraucher guten Gewissens sagen
können, dass wir damit auf der sicheren Seite sind, und
dass wir ihm eine KWK-Umlage von maximal 0,3 Cent
zugestehen können.
Trotz aller Euphorie und Freude über die KraftWärme-Kopplung müssen wir uns in den nächsten zwei,
drei Jahren stärker darüber unterhalten, welchen Vorrang
die Kraft-Wärme-Kopplung bekommen soll. Wir werden
meines Erachtens immer mehr in einen Systemkonflikt
mit den erneuerbaren Energien hineingeraten; das stellen
wir schon heute in den Diskussionen mit Betreibern von
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen fest, beispielsweise mit
Industrieunternehmen, die sehr stark auf Kraft-WärmeKopplung setzen. Wir haben einen Einspeisevorrang bei
den erneuerbaren Energien; dieser Vorrang war und ist
richtig. Wenn wir den Anteil der erneuerbaren Energien
in den nächsten Jahren auf 30 Prozent erhöhen wollen
und den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung auf 25 Prozent steigern wollen, dann werden sich diese beiden
Systeme irgendwann einmal gegenseitig behindern. Zukünftig müssen wir Marktdesigns kreieren, um mehr
Wettbewerb im Energiemarkt zu ermöglichen.
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde von der Mehrheit der einzelnen Betroffenen dieser Branche begrüßt;
das finde ich sehr gut. Auch die Opposition scheint konstruktiv mitarbeiten zu wollen. Insofern freue ich mich
auf die kommende Gesetzesberatung. Ich glaube, dass
sie für uns eine große Chance bedeutet. Sie ist ein weiterer Baustein auf dem Weg der Energiewende. Wir hatten
heute Morgen, ein Jahr nach Fukushima, eine große Debatte dazu. Mit diesem Gesetzentwurf werden unsere
Pläne ganz konkret. Der richtige Ansatz ist, nicht darüber zu diskutieren, wo wir aussteigen, sondern darüber, wo wir einsteigen. In die Kraft-Wärme-Kopplung
steigen wir ein, und deshalb herzlichen Dank an die Regierung für diesen Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Strom von unten ist die Devise der Energiewende. Die
Erzeugung des Stroms soll an erster Stelle natürlich regenerativ geschehen: mit Windkraft, Solarzellen oder
Biomasse. Strom von unten kann es aber auch dezentral
auf Basis von Erdgas geben, vorzugsweise dann, wenn
nicht nur Strom erzeugt wird, sondern im gleichen Prozess auch Wärme. Hierbei wird im Vergleich zur getrennten Erzeugung viel CO2 eingespart. Wir reden von
der Kraft-Wärme-Kopplung, KWK.
Ich möchte eingangs eine Lanze für die Mini-KWK
und die BHKW, die Blockheizkraftwerke, brechen. Einer neuen Studie zufolge könnte ihr Einsatz die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger allein bis 2020 um bis zu
eine halbe Milliarde Euro entlasten, wenn sie intelligent
vernetzt werden. Zudem sind sie eine Brückentechnologie par excellence.
In Verbindung mit Wärmespeichern können viele
kleine stromgeführte BHKW zusammengeschaltet als
flexibles virtuelles Kraftwerk fungieren, Stichwort
„Schwarmstromkonzept“. In Zeiten schwankender Einspeisung aus Windkraftanlagen - darüber wurde gerade
gesprochen - werden die Anlagen hoch- oder heruntergefahren, um die Differenz zum Strombedarf regional
auszugleichen. Sie können also zur Integration der erneuerbaren Energien in das Stromsystem beitragen. Weil
Energieerzeugung und -verbrauch ortsnah stattfinden,
könnte der Ausbau des deutschen Stromnetzes deutlich
bescheidener ausfallen als bislang geplant. Das ist also
ein weiterer Vorteil; denn der Strom muss nicht mehr so
weit transportiert werden, und dies wird eine Menge
Geld einsparen.
Der KWK-Zuschlag fließt jedoch nach dem vorliegenden Gesetzentwurf weiterhin nur unabhängig vom
Zeitpunkt der Erzeugung. Damit besteht aber weniger
Interesse für die Anwender, Beiträge zur Systemintegration - ich habe vorhin erklärt, was das ist - zu leisten,
sprich, in dem Augenblick Strom zu produzieren, in dem
in einer Region zu wenig Windstrom anfällt. Es ist sinnvoll, wenigstens übergangsweise einen Flexibilitätsbonus für virtuelle Kraftwerke zu zahlen, um einen Anreiz
dafür zu schaffen, die Mini-KWK in den Strommarkt zu
integrieren.
({0})
Die Deutsche Umwelthilfe hat einen Vorschlag für
eine Flexibilitätsprämie gemacht. Vielleicht schauen Sie
sich diesen einmal an, Herr Bareiß. Schwarmstromkonzepte sollen dann eine zusätzliche Förderung erhalten,
wenn sie erstens eine gemeinsame Steuerung haben und
zweitens ausgeschlossen ist, dass die KWK-Anlagen
wärmegeführt sind; denn dann würden sie sich nicht zur
flexiblen Fahrweise eignen. Auf der anderen Seite müssen klassische wärmegeführte KWK-Anlagen auch vor
Maßnahmen des Netzmanagements geschützt werden,
etwa wenn Netzbetreiber bei Starkwinden die Abschaltung von Erzeugungsanlagen erzwingen. Auch darüber
haben Sie kurz gesprochen. KWK-Anlagen, die in ein
Fernwärmenetz einspeisen, dürfen jedoch nicht einfach
zwangsabgeschaltet werden, solange ihre Wärme der
Beheizung von Haushalten dient. Das geht dann natürlich nicht.
Aber das ist bisweilen schon passiert, beispielsweise
in Jena in diesem Winter. Im Rahmen des Erzeugungsmanagements des Netzbetreibers 50 Hertz Transmission
musste das örtliche Heizkraftwerk mehrere Tage heruntergeregelt werden. In den Wohnblöcken in Jena-Lobeda
zog darauf allmählich die Kälte ein. Das geht natürlich
überhaupt nicht. Das kann nun auch nicht Ergebnis der
Energiewende sein.
({1})
Immerhin umfasst der Regierungsentwurf erstmals
die Förderung von Wärme- und Kältespeichern. Dies ist
ein echter Fortschritt; denn die Wärmespeicherung für
stromgeführte KWK ist im Wettbewerb mit Heizkesseln
oft nicht wirtschaftlich, gleichwohl die CO2-Gesamtbilanz bei KWK deutlich besser ist. Diese gute TreibhausEva Bulling-Schröter
gasbilanz macht BHKW im Übrigen auch zu einer guten
Zwischenlösung, um schnell und preiswert CO2 im Gebäudesektor einzusparen. Bei 20 oder 30 Jahre alten
Häusern dürfte es nämlich sinnvoller sein, zunächst auf
die KWK als Klimaschutzmaßnahme zu setzen, als im
Rahmen einer energetischen Sanierung funktionstüchtige Gebäudeteile herausreißen zu müssen. Darüber
muss man diskutieren.
Wir begrüßen zudem, dass der Gesetzentwurf zwei
Neuerungen enthält, die auch die Linke in der letzten
Wahlperiode gefordert hatte. Zum einen ist das Ziel von
25 Prozent KWK-Strom bis 2020 nun im Gesetz verankert, zum anderen soll die Stromabnahmeverpflichtung
durch Netzbetreiber auch über die KWK-Förderzeit hinaus gelten. Ferner wurde für Kleinstanlagen bis 2 Kilowatt ein sinnvoller Investitionsanreiz geschaffen, indem
die Möglichkeit zur pauschalen Auszahlung der Zulage
für 30 000 Vollnutzungsstunden besteht. Damit steht den
Investoren das Geld direkt bei der Anlagenbeschaffung
zur Verfügung.
Hohe Liquidität bereits in der Investitionsphase, das
ist übrigens eines der Geheimnisse der Expansionsstrategie chinesischer Anbieter in Deutschland beim Verkauf
von Photovoltaikanlagen. Die Chinesen haben Zahlungsziele von einem halben Jahr. Damit ist für die
Betreiber die Investitionsphase durchfinanziert - ein äußerst lukratives Geschäft. Vielleicht sollte die Bundesregierung zur Verteidigung der heimischen Solarmodulproduktion entsprechende Kreditprogramme kreieren,
damit heimische Modulhersteller den Investoren ähnliche Konditionen bieten können.
Aber zurück zur KWK. Unverständlich ist, dass der
Deckel für die KWK-Förderung von 750 Millionen Euro
weiter bestehen bleibt. Ich sage dies angesichts der Tatsache, dass Deutschland momentan noch weit von dem
Ziel - KWK-Anteil von 25 Prozent - entfernt ist.
Halten wir uns vor Augen, dass die Abwärme des
deutschen Kraftwerksparks ausreicht, den gesamten Gebäudebestand zu heizen, so wird klar, welche Potenziale
hier liegen. Wir als Linke stellen uns darum die Frage,
ob es ausreicht, dass das KWK-Gesetz nur als Förderinstrument fungiert. Aus unserer Sicht ist es vielmehr
Zeit für verpflichtende Vorgaben für den Einsatz von
KWK sowie Wärme- und Kälteplänen. Ein solcher Rahmen hat in anderen Ländern zu einem KWK-Anteil von
bis zu 50 Prozent geführt. Die EU-Kommission macht
Vorgaben in diese Richtung. Das müssen wir diskutieren. Das wäre vernünftig.
Zum Schluss noch: Die Blockaden des Bundeswirtschaftsministeriums in Brüssel zeigen leider, dass zumindest Herr Rösler von der Energiewende immer noch
nicht viel begriffen hat. Also: Lernen Sie sie, Herr
Rösler!
({2})
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bareiß, ich hatte mir echt vorgenommen, hier einmal ein nettes Wort über die Koalition zu sagen.
({0})
Aber nach Ihrem Beitrag fällt das wieder sehr schwer.
Das Einzige, was Ihnen beim Thema Kraft-WärmeKopplung einfällt, ist - das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen -: Datteln und Staudinger.
({1})
Das habe ich bei Ihnen gehört.
Zu Datteln sage ich Ihnen:
({2})
Eine schwarz-gelbe Landesregierung in NordrheinWestfalen unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers - die
Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an ihn;
({3})
das ist schon ein bisschen länger her; der Mann ist ein
bisschen in der Versenkung verschwunden ({4})
hat dort ein Kraftwerk gebaut,
({5})
zu dem alle zuständigen Gerichte gesagt haben, nicht aus
einem Grund, aus einem Dutzend von Gründen, dass das
ein offizieller Schwarzbau ist. Jetzt ist eine andere Landesregierung, eine rot-grüne Landesregierung, dabei, mit
großem Aufwand und großer Sorgfalt die Fehler zu reparieren. Das können Sie denen nicht vorhalten. Das sind
Ihre Fehler!
({6})
Zum Thema Staudinger. Da unterlaufen genau die
gleichen Fehler. Da droht etwas Ähnliches. Wer ist da
verantwortlich? Mir ist neu - die Kollegin Maisch
könnte das wissen; ich habe es jedenfalls nicht mitbekommen -, dass in Hessen die Grünen regieren.
({7})
Es wird demnächst dazu kommen, aber das ist noch
nicht der Fall. Auch da trägt Schwarz-Gelb die Verantwortung.
Es geht hier um Kraft-Wärme-Kopplung, und da sind
Staudinger und Datteln allenfalls Randanekdoten, die
man erzählen kann, weil da auch ein paar Megawatt
Wärme ausgekoppelt worden sind.
({8})
Es geht um etwas ganz anderes.
Wir haben ein Ziel, nämlich 25 Prozent des Stroms
aus KWK zu erzeugen. Wir sind im Moment bei 13 oder
14 Prozent.
({9})
Wir wollen das in den nächsten acht Jahren mehr oder
weniger verdoppeln. Es gibt unterschiedliche Zahlen,
aber im Grunde geht es darum, dass wir das verdoppeln.
Wenn wir das schaffen, dann erledigen sich viele Fragen,
die in der Energiewende eine Rolle spielen, dann brauchen wir kein Kraftwerksförderungsprogramm, wie Sie
es wollen; denn wir schaffen das dann mit Kraft-WärmeKopplung. Das funktioniert dann auch so. Das ist allemal eine bessere Lösung, als fossile Kohlekraftwerke,
reine Kondensationskraftwerke, zu subventionieren, wie
Sie das vorhaben.
({10})
Hier wird oft ein Gegensatz aufgebaut - das kam in
der Debatte bisher noch nicht, aber das hört man manchmal in den Diskussionen -, nämlich zwischen KraftWärme-Kopplung und erneuerbaren Energien. Ich sage
klipp und klar: Erneuerbare Energien und Kraft-WärmeKopplung ergänzen sich ideal, weil Kraft-Wärme-Kopplung die Back-up-Kapazität darstellen kann, wenn der
Wind nicht weht, die Sonne nicht scheint und die Erneuerbaren nicht liefern können. Da sind die Speicherpotenziale. Das müssen wir erschließen.
({11})
Ich sage Ihnen: Das können wir vor allen Dingen
durch eine dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung schaffen,
indem wir in Millionen von Heizungskellern, in denen
noch alte Heizungsanlagen laufen, stromerzeugende
Heizungen bauen. Es ist doch ein Irrsinn, dass wir rund
um die Ballungsgebiete - es wurden Datteln und Staudinger, in der Nähe von Rhein-Main, erwähnt - Kohlekondensationskraftwerke bauen, und gleichzeitig heizen
wir mit teurem, aus Russland importiertem Gas schlecht
isolierte Wohnungen. Das müssen wir zusammenbringen. Da müssen wir jeden Keller zum Kraftwerk machen; Tausende Anlagen bauen. Es gibt viele Unternehmen, die solche Anlagen bauen. Diese Unternehmen
müssen wir stärken. Das muss das Ziel der Politik sein.
({12})
Dass das geht, belegen viele andere Länder, die eine
konsequente KWK-Politik betrieben haben, wie zum
Beispiel die Niederlande mit einem KWK-Anteil von
über 30 Prozent, Finnland mit einem ähnlich hohen Anteil, Dänemark sogar mit einem Anteil von über 50 Prozent. Unser 25-Prozent-Ziel in Deutschland ist dagegen
eher bescheiden. Das Problem ist, dass man es politisch
wollen muss. Herr Bareiß, hierzu habe ich von Ihnen
nichts gehört. Die letzten zwei Jahre dieser Regierung
waren für die Kraft-Wärme-Kopplung völlig verlorene
Jahre.
({13})
Sie haben ein Energiekonzept vorgelegt. In diesem
kommt die Kraft-Wärme-Kopplung nicht mehr vor. Sie
taucht lediglich in einem Nebensatz auf. Das ist die
Realität von Schwarz-Gelb. Sie mussten schmerzlich kapieren, dass Sie ohne die Kraft-Wärme-Kopplung nicht
auskommen. Sie müssen an dieser Stelle etwas vorlegen,
wenn Sie die Energiewende halbwegs ernsthaft anstreben.
({14})
Das Ergebnis ist - das hat der Staatssekretär gerade
mit entwaffnender Ehrlichkeit gesagt -, dass wir ein
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz haben, das schon lange
hätte novelliert werden müssen; denn es hat praktisch
seine Wirkung verloren. Die Umlagesumme pro Kilowattstunde ist auf 0,032 Cent gesunken. Das sind Ihre eigenen Zahlen. Das sind drei hundertstel Cent. Hier passiert praktisch nichts mehr. Es steht an der Stelle still,
weil Sie es verpasst haben, früher zu handeln. Genau das
ist das Problem. Jetzt legen Sie uns eine Gesetzesnovelle
vor. Hierzu sage ich ganz offen: Nach dem, was ich von
dieser Regierung in den letzten zwei Jahren erlebt habe,
ist dies schon etwas.
({15})
Dass überhaupt etwas kommt, kann man positiv sehen.
({16})
An anderen Stellen - hier nenne ich das ErneuerbareEnergien-Wärmegesetz und die Energieeffizienzrichtlinie - treiben Sie es in die andere Richtung. Da machen
Sie überhaupt nichts. Da blockieren Sie nur. Dass Sie
hier etwas vorlegen, ist immerhin etwas. In Schulnoten
ausgedrückt, würde ich es mit mangelhaft plus mit Tendenz zu ausreichend benoten. Immerhin kommt von Ihnen etwas.
Ich sage aber auch klipp und klar: Wer die Energiewende ernsthaft betreiben will, muss mehr tun als das,
was hier vorgelegt wird.
({17})
Hier gibt es in der Tat einige richtige Punkte. Es reicht
aber bei weitem nicht aus, wenn wir das 25-Prozent-Ziel
tatsächlich erzielen wollen. Ich will ein paar Beispiele
nennen: Wir brauchen eine Erhöhung der Fördersätze.
Ich glaube - das habe ich eben auch von der BundesOliver Krischer
regierung gehört -, dass man das inzwischen selbst gemerkt hat. Man muss in allen Anlagenkategorien etwas
drauflegen, damit wir hier vorankommen, wenn tatsächlich etwas passieren soll. Wir brauchen einen Flexibonus
als Anreiz zur Verbesserung und Nutzung der Speicherkapazität. Dort muss etwas passieren. Die Probleme mit
dem Netzanschluss für Klein-KWK-Anlagen müssen gelöst werden. Solange die bürokratischen Hürden bestehen bleiben, kommen Sie überhaupt nicht voran.
Last, not least ein ganz wichtiger Punkt: Sie wollen
zum ersten Mal die Wärmespeicher fördern. Das ist völlig richtig. Das Mindestspeichervolumen von 5 Kubikmetern betrifft aber nur die größeren Anlagen. Bei den
interessanten Klein-, Mini- und Mikro-KWK-Anlagen
kommen Sie überhaupt nicht voran. Hier muss mehr passieren.
Jenseits des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes muss
man noch auf einen Punkt hinweisen, der ganz wichtig
ist, der nicht in diesem Gesetz enthalten ist. Das ist das
Mini-KWK-Programm. In der Großen Koalition wurde
es von Herrn Gabriel eingeführt. Herr Röttgen hatte nach
seinem Amtsantritt nichts Besseres zu tun, als dieses
Programm nach langer Unklarheit wieder einzustampfen. Jetzt führen Sie es wieder ein. Sie brauchen ein halbes Jahr, um die Förderrichtlinie zu schaffen. Wir hören
jetzt, dass kein Geld im Energie- und Klimafonds vorhanden ist. Wahrscheinlich wird am Ende wieder gar
nichts bezahlt werden können. So verunsichert man eine
junge, innovative Branche, die sich in den letzten Jahren
entwickelt hat. Das haben Sie in zwei Jahren geschafft.
Ihre Bremsspuren sind an allen Ecken und Enden zu erkennen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Da kann ich nur an Sie appellieren, dass wir im Ausschuss eine konstruktive Beratung darüber hinbekommen, wie man das, was Sie hier vorgelegt haben - das
Gesamtkonzept Ihrer KWK- und Energiepolitik -, verbessern kann. Ich hoffe, dass wir vielleicht eine vernünftige Lösung im Sinne der Sache finden.
Danke schön.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Klaus
Breil das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Novelle des KWK-Gesetzes passen wir die
schon bestehenden Anreize für Investitionen in hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an die Realität
an.
Hören Sie gut zu, Herr Kollege Krischer: Sie haben
davon gesprochen, was wir brauchen, ich werde jetzt
vortragen, was wir machen.
({0})
An unserem Ziel hat sich nichts geändert. Wir wollen
den Anteil der Stromerzeugung aus KWK bis 2020 auf
25 Prozent erhöhen. Aktuell liegen wir noch bei 16 Prozent.
Bedauerlicherweise hat uns die Zwischenüberprüfung
gezeigt, dass wir auf der Basis des aktuell gültigen Gesetzes lediglich 20 Prozent erreichen werden.
({1})
Ich persönlich - hören Sie zu, Herr Krischer ({2})
glaube das nicht; vielmehr glaube ich, dass bis 2020
mehr drin ist,
({3})
und dieses Potenzial wollen wir heben.
({4})
Sowohl Anlagen der allgemeinen Versorgung als auch
industrielle Anlagen könnten vielerorts noch Teile ihrer
Abwärme absetzen. Es bedarf lediglich genauerer Analysen. Wärmesenken sind häufig vorhanden, häufiger als
meistens angenommen wird. Gerade in meiner Heimatregion, inklusive meiner Heimatgemeinde Bernried in
Oberbayern, mache ich die Erfahrung, dass viel mehr
Potenzial vorhanden ist, als bisher angenommen wurde.
({5})
Allerdings - und das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen - verwahre ich mich gegen jede Verpflichtung, neue Kraftwerke mit Wärmeauskopplung bauen zu
müssen. Solchen Vorgaben wie in der EU-Energieeffizienzrichtlinie müssen wir von vornherein entschieden
entgegentreten. Wir setzen eben nicht auf Zwang. Daher
wird es in der Novelle im Rahmen der Möglichkeiten
maßvolle Erhöhungen der Zuschläge geben. Es werden
fortan auch Nachrüstungen gefördert, sowohl bei Kraftwerken der allgemeinen Versorgung als auch bei Industrieanlagen.
Wir wollen mit der Novelle außerdem den Bau von
Wärmenetzen, der zuletzt ins Stocken geriet, und den
Bau von Wärmespeichern stärker unterstützen. Die Speicher sind dabei besonders wichtig; dadurch können die
Anlagen bei unterschiedlicher Wärme- und Stromnachfrage auch einmal nur stromgeführt gefahren werden.
Unser zukünftiger Energiemix mit zunehmender Ein19586
speisung fluktuierender Leistung braucht diese Flexibilität.
Auf diese Anforderung reagieren die großen Versorger im Übrigen auf ihre eigene Weise. In Essen - bei Ihnen, Herr Hempelmann -,
({6})
in München, Stuttgart und Berlin rauchen nämlich die
Köpfe. Abseits der Ballungsgebiete sollen flächendeckend BHKW eingesetzt werden. Die einst marktbeherrschenden Akteure suchen sogar die Zusammenarbeit mit
den Kommunen. Sie tun dies aus der Erkenntnis heraus,
dass nur das zielführend sein kann. Das ist eine Art der
Rekommunalisierung, mit der ich mich anfreunden
kann. So viel zum Thema „Konterrevolution“, das Herr
Trittin heute Morgen ansprach - Herr Krischer, das können Sie ihm ja einmal ausrichten.
({7})
Die Sache hat noch einen weiteren positiven Nebeneffekt: Werden die skizzierten Pläne realisiert, bräuchte
man möglicherweise nur eine geringere Zahl an neuen
Gaskraftwerken, zum Beispiel auch in Bayern, wo ich
herkomme.
Interessant finde ich auch die Mini- und MikroKWK-Anlagen bis 2 Kilowatt Leistung. Dort haben wir
die Rahmenbedingungen vereinfacht. Die Zuschlagszahlungen werden im neuen Gesetz pauschaliert.
„Schwarmstrom“ ist das Stichwort, unter dem mehr und
mehr Verteilnetzbetreiber den Einsatz von Mini- und Mikro-KWK-Anlagen planen. In diesem Zusammenhang
finde ich auch den Vorschlag des Bundesrates, die Förderung für Anlagen auf Brennstoffzellenbasis anzuheben, höchst interessant.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Vorreden der Opposition habe ich entnommen, dass wir uns
im Ziel einig sind; allein der Weg unterscheidet uns leider wie so oft. Aber Sie können sicher sein, dass der
Ausbau der KWK wie die gesamte Energiewende bei
uns in guten Händen ist.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dirk Becker von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Breil, Sie
haben eingangs ein ehrliches Wort gesprochen, nämlich
dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wir
brauchen, und dem, was Sie tun. Das war durchaus ehrlicher als Ihre Schlusspointe.
Herr Bareiß, ich muss eines deutlich sagen: Sie können sich darauf verlassen - das wissen Sie auch -, dass
wir versuchen, das Gesetzgebungsverfahren beim Thema
KWK konstruktiv zu begleiten. Es geht aber nicht, nun
zu sagen: Jetzt geht’s los! - Sie haben eben wieder gesagt: Jetzt erfolgt der Einstieg in die Kraft-WärmeKopplung. - Der Einstieg in die Förderung der KraftWärme-Kopplung ist vor mehr als zehn Jahren geschehen. Eines, was Sie in dieser Legislatur gemacht haben,
war, den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durch die
Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke nachhaltig zu behindern.
({0})
Sie haben doch im letzten Jahr sicher auch mit Vertretern
der Stadtwerke und anderen gesprochen: Viele Projekte
des Neubaus von KWK-Anlagen, die lange geplant waren, die in der Pipeline waren, sind daraufhin auf Eis gelegt worden. Das heißt, Sie haben den Ausbau der KraftWärme-Kopplung zunächst einmal nachhaltig behindert.
Ich sage aber ganz klar: Wir wollen jetzt nicht beim
Nachkarten bleiben, sondern nach vorn schauen. Ich
muss jetzt hier nicht noch einmal den Werbeblock für die
Kraft-Wärme-Kopplung einschieben; die Vorzüge sind
nachhaltig beschrieben worden. Herr Staatssekretär, ich
will Ihren Beitrag ausdrücklich würdigen. So eine Rede
von einem Staatssekretär Ihres Hauses hätte es hier vor
zwei Jahren noch nicht gegeben.
({1})
- Das stelle ich ja lobend fest.
Sie sind jetzt sicherlich in einer Situation, in der Sie
an vielen Stellen erkennen, welche Weichenstellungen
notwendig sind, und wissen, woran das KWKG krankt.
Allerdings fehlt Ihnen noch ein bisschen der Mut, dann
die Maßnahmen konsequent zu Ende zu bringen.
({2})
Ich will auf einige Bereiche eingehen.
Ja, die Kraft-Wärme-Kopplung ist der ideale Partner
des Ausbaus der erneuerbaren Energien, insbesondere
der fluktuierenden erneuerbaren Energien; denn die
Kraft-Wärme-Kopplung ist bedarfs- und verbrauchsgerecht steuerbar. Die Wärme ist heute schon speicherbar;
im Strombereich führen wir immer so eine tolle Debatte
über die Thematik der Speicherung. Im Wärmebereich
haben wir die Möglichkeit, vorhandene Speicherkapazitäten zu verbessern und auszubauen. Wir haben natürlich
auch - das ist ein weiterer großer Vorteil - eine sehr
breite Brennstoffpalette. Ich sage einmal: Der Weg vom
fossilen Zeitalter ins Zeitalter der erneuerbaren Energien
ist mit der Kraft-Wärme-Kopplung darstellbar, nicht nur
mit fossilen Brennstoffen, sondern auch mit Technologien wie beispielsweise der Erdwärme.
Das alles wissen wir; das alles wurde von allen Fraktionen bestätigt. Wenn wir uns einig sind, dass die KraftWärme-Kopplung diese Rolle spielen soll, ist jetzt die
Frage zu stellen: Reicht denn das, was jetzt im vorgelegten Entwurf vorgesehen ist?
({3})
- Darüber reden wir. - Ich will deutlich machen, dass die
Verlängerung der Anmeldezeiträume bis 2020, die Sie
2011 durchgeführt haben - Kollege Bareiß hat das gesagt -, ein erster wichtiger Schritt war; wir haben das damals entsprechend unterstützt.
Entscheidend ist jetzt aber - ich beginne natürlich mit
dem Kernthema -, wie wir die Schaffung zusätzlicher
Kapazitäten im Markt tatsächlich anreizen. Der Kern
dieses Anreizes ist natürlich Cash, ist die Frage: Wie
werden wir die Fördersätze künftig ausgestalten? Da
muss man vorsichtig sein und schauen, was tatsächlich
angemessen ist und wo es wirtschaftliche Nachteile gibt.
Da muss man auch noch einmal in den Erfahrungsbericht und in das Gutachten schauen. Leider werden im
Erfahrungsbericht und im Gutachten die Kraftwerkskapazitäten, die von besonderer Bedeutung sind, nur unzureichend beleuchtet. Aber wir, ich denke, auch Sie, wissen - das klang an -, dass wir hier zusätzliche Anreize
brauchen. Denn eines ist doch klar - das haben Sie selbst
gesagt -: Die Erhöhung der Zuschläge um 0,3 Cent, die
Sie jetzt im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz vorsehen, ist
nichts anderes als der Ausgleich einer Benachteiligung,
die über den Emissionshandel entsteht, aber kein zusätzlicher Anreiz. Damit alleine werden Sie keine neuen Zubauten schaffen. Das heißt, wir brauchen hier eine moderate Erhöhung. Verbändeübergreifend werden Hausnummern genannt. 0,5 Cent sind ein Betrag, der geringfügig
darüber liegt und der aus unserer Einschätzung erforderlich sein wird, um neue Projekte anzureizen, und - das
will ich bei Umlagedebatten sagen - der nicht dazu führen wird, dass wir mit der Umlage ein Problem bekommen.
Sie selbst haben die Entwicklung dargestellt. Ich will
noch einmal die absoluten Zahlen nennen. Wir haben
insgesamt 750 Millionen Euro pro Jahr als oberen Deckel für die Umlage vorgesehen. Nach den Prognosen,
die uns vorliegen, gehen wir ab dem Jahr 2011 in der
Summe auf eine Größenordnung von unter 150 Millionen Euro zu. Wir haben also auch auf Basis dessen, was
in der Großen Koalition vereinbart wurde, genügend Potenzial im Markt.
Ich möchte jetzt einige Punkte und konkrete Vorschläge meiner Fraktion zur Verbesserung des vorgelegten Entwurfes aufgreifen; eines klang auch bei Herrn
Breil an. Richtig ist, dass wir in dem veränderten Energiemarkt jetzt auch stärker auf die stromgeführte KraftWärme-Kopplung gucken müssen, um gerade die Flexibilität im Strommarkt abzubilden. Das heißt allerdings,
dass wir für die stromgeführte KWK einen zusätzlichen
Anreiz brauchen werden. Wir schlagen daher an dieser
Stelle vor, die Vergütung nicht erneut unterschiedlich zu
gestalten, sondern die Zahl der anrechnungsfähigen Vollbenutzungsstunden von 30 000 auf 40 000 auszudehnen.
Für uns ist es ein großes Problem, dass der Ausbau
der Mini- und Mikro-KWK sowie der industriellen
KWK mit ihren großen Potenzialen durch diesen Entwurf nicht hinreichend angereizt wird. Aus welchem
Grund? Gerade im Bereich der industriellen KWK ist es
künftig so: Wenn ein industrieller KWK-Betreiber beispielsweise Unternehmen der chemischen Industrie versorgt, die selber dem Emissionshandel unterliegen, dann
kommt er nicht in den Genuss dieser Begünstigung. Also
lohnen sich zusätzliche Investitionen für ihn schlichtweg
nicht. Wir glauben, dass Anreize für diese Kraft-WärmeKopplungsanlagen der Industrie geschaffen werden
müssen.
Ebenso müssen zusätzliche Anreize für die Mini- und
Mikro-KWK geschaffen werden. Schwarmstrom toll zu
finden, ist das eine. Dann muss man im Gesetz allerdings
auch abbilden, wie man die nachweisbaren Benachteiligungen beseitigt. Das heißt, auch für den Ausbau der
Mini-KWK brauchen wir eine zusätzliche Förderung.
Wir schlagen vor, diese mit einem sogenannten Systemdienstleistungsbonus zu kombinieren und, sofern kleine
Mini-KWK-Anlagen im Markt regelbar Systemdienstleistungen erbringen, hierfür zusätzlich 2 Cent vorzusehen.
Zwei Punkte zum Schluss, die in dieser Debatte immer wichtig sind. Zunächst zur Frage, wie wir Modernisierungen stärker anreizen. Ja, Sie haben einen richtigen
Schritt gemacht. Sie haben die Grenze, die im alten
KWKG war - für Modernisierung mussten 50 Prozent
der Kosten für einen Neubau ausgegeben werden -, auf
25 Prozent abgesenkt. Ich glaube, dass wir auch damit
weitere Potenziale verschwenden. Denkbar ist, auf
10 Prozent zu gehen, mit einem gleitenden Anstieg. Ich
bitte, das zu überlegen. Wir werden diese Vorschläge sicherlich auch nach der Anhörung machen.
Wir verschenken an zwei Punkten Potenziale. Das gilt
zum einen für die Speicherförderung. Es macht keinen
Sinn, die förderfähige Speichergröße nach unten zu begrenzen; das hat der Kollege Krischer vorhin deutlich
gemacht. Nun ist eine Größe von 5 Kubikmetern vorgesehen. Eine Förderfähigkeit muss allerdings auch bei
kleineren Anlagen gegeben sein, um auch die Betreiber
kleinerer KWK-Anlagen und Schwarmstromnutzer zu
erreichen.
Zum anderen darf die Fördersumme nicht auf 5 Millionen Euro je Projekt gedeckelt werden. Denn es gibt
auch größere Speicher, die wir brauchen und die wichtig
sind. Daher glauben wir, dass diese Begrenzung ebenso
nicht erforderlich ist wie die Begrenzung der Investitionszuschüsse für den Netzausbau. Auch diese Summe
ist in ihrer Höhe gedeckelt. Das verhindert, dass gerade
große Potenziale ausgeschöpft werden; beispielsweise
könnten in Nordrhein-Westfalen vorhandene Anlagen
ausgebaut werden. Auch hierzu werden wir Vorschläge
machen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, das will ich gerne machen. - Ich
komme zum Ergebnis: An vielen Stellen haben Sie die
Schwachstellen erkannt. Um diesen Entwurf allerdings
gut auszugestalten und zu erreichen, dass wir gemeinsam das Ziel von 25 Prozent KWK-Strom erreichen,
müssen wir Nachbesserungen vornehmen. Ich habe einige wenige genannt. Ich hoffe, dass Ihr Angebot, konstruktiv mit der Opposition zusammenzuarbeiten, dann
auch in der Praxis gilt.
Vielen Dank.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es waren
eine bemerkenswerte Diskussion und eine bemerkenswerte Beratung in diesem Hause, Herr Becker. Die konstruktive Art war wohltuend. Herr Staatssekretär, ich
danke Ihnen.
Die Bundesregierung legt heute einen offenbar ausgesprochen guten Gesetzentwurf vor.
({0})
Herr Staatssekretär, Ihr Angebot, dass wir in der Beratung über die einzelnen Punkte noch reden können,
werden wir sicher annehmen. Es ist in der Tat so, dass
man über eine ganze Reihe von Details durchaus noch
reden kann. Es ist auch nicht so - wie von Herrn
Krischer dargelegt -, dass für uns die Stromerzeugung
durch Kraft-Wärme-Kopplung und die Stromerzeugung
durch die erneuerbaren Energien etwas Gegensätzliches
ist. Ich vertrete eher die umgekehrte Auffassung: Wenn
wir das Ganze klug gestalten, dann wird die KraftWärme-Kopplung einen nennenswerten Beitrag zum
Ausgleich der volatilen Stromerzeugung im Bereich erneuerbare Energien leisten können. Die zentrale Frage
ist: Wie bekommen wir das hin? Darauf werden wir in
der parlamentarischen Beratung und in der Anhörung
unseren Schwerpunkt legen.
Wir meinen es mit der Energiewende ernst. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie werden sich daran gewöhnen und Ihre Standardreden umschreiben müssen.
({1})
In der nächsten Zeit werden Sie sich häufig mit von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzesvorlagen befassen müssen, aus denen hervorgeht, wie wir die Instrumente zum Gelingen der Energiewende einsetzen.
({2})
Wir werden nicht mehr auf pauschale Vorwürfe eingehen
müssen, beispielsweise auf den Vorwurf, dass es zu
lange gedauert hat, bis wir eine Novelle zum KraftWärme-Kopplungsgesetz hinbekommen haben.
({3})
Herr Staatssekretär, mir ist es schon lieber, wenn die
Bundesregierung mit der Vorlage von Gesetzesentwürfen wartet, bis eine fundierte Grundlage aufgrund von
Erfahrungsberichten vorliegt, damit wir in der parlamentarischen Beratung relativ rasch zu guten Ergebnissen
kommen. Ich möchte eine vernünftige Basis für die anstehenden Entscheidungen haben.
Es stimmt nicht, dass der Bundesregierung der Mut
fehlt. Wir beraten eine ganze Reihe von Novellen, durch
die wir zielorientiert an das Gelingen der Energiewende
herangehen.
({4})
Ich will nicht auf die sieben wesentlichen Punkte der Gesetzesnovelle eingehen - sie wurden schon mehrfach genannt -; vielmehr möchte ich auf die Frage eingehen,
wie es uns gelingen kann, dass wir die Kraft-WärmeKopplung stärker unter dem Aspekt der Stromführung
sehen, wie wir mit dem angebotenen Instrument der Förderung der Erhöhung der Speicherkapazitäten stärker
dazu beitragen können, dass aus diesem Bereich größere
Mengen an Strom nachgeführt werden, sobald bei der
Stromerzeugung im Bereich der erneuerbaren Energien
Schwankungen entstehen.
Die Kraft-Wärme-Kopplung hat mit Sicherheit eine
neue Bedeutung bekommen. Über die Frage, ob wir die
Grenze für die Förderfähigkeit von 30 000 Kilowattstunden auf 40 000 Kilowattstunden erhöhen können, müssen wir reden. Das scheint ein interessanter Ansatz zu
sein. Dies müsste man einmal ausrechnen.
In diesem Zusammenhang interessiert mich die Frage
- das werden wir in der Anhörung klären -: Wo genau
liegen die wirklichen Potenziale? Liegen sie im Großkraftwerksbereich, für den es eine Anhebung der Umlage zum Ausgleich des Zertifikatehandels geben soll?
Oder bieten die Minikraftwerke die besseren Chancen?
Im Bereich Minikraftwerke haben wir einen technologischen Prozess hinter uns. Nach meinen Informationen
sind die Minikraftwerke in den zurückliegenden Zeiträumen immer besser geworden. Auch wir müssen noch einen Lernprozess durchlaufen. Ich wehre mich prinzipiell
nicht dagegen, im Bereich Minikraftwerke ganz konkret
über eine direkte Förderung nachzudenken.
Der Gesetzentwurf wurde im Plenum sehr positiv aufgenommen, Herr Staatssekretär. Ich meine, wir sollten in
der parlamentarischen Beratung die sachliche Auseinandersetzung in der Form, in der wir das in dieser Stunde
getan haben, fortsetzen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8801 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Musikförderung durch den Bund
- Drucksachen 17/4901, 17/7222 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Siegmund Ehrmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wer viel fragt, kriegt viele Antworten“, so die Überschrift einer ersten Analyse der Antwort auf die Große
Anfrage der SPD-Fraktion zur Musikförderung durch
den Bund in der Neuen Musikzeitung. In der Tat haben
wir ein breit gefächertes Spektrum von Fragen unterbreitet. Für die umfassenden Antworten der unterschiedlichen Ressorts und der unterschiedlichen Förderinstitutionen bedanke ich mich ausdrücklich bei allen, die
daran mitgewirkt haben.
({0})
Zunächst einmal möchte ich diese Debatte einordnen
und daran erinnern, dass die Bundesmusikförderung uns
bereits in der letzten Legislaturperiode grundlegend beschäftigt hat. Seinerzeit haben wir in der Großen Koalition gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der
Union einen Antrag unterbreitet, der insbesondere darauf ausgerichtet war, der populären Musik seitens des
Bundes mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Aus diesem
Impuls ist die „Initiative Musik“ entstanden, die mittlerweile mächtig Fahrt aufgenommen hat. Seitdem wurde
das Thema „Musikförderung durch den Bund“ wiederholt im Ausschuss behandelt. Ich nenne nur die Stichworte „Bundeskulturstiftung“ und „JeKi“ und erinnere
an diverse Debatten mit Vertretern des Deutschen Musikrates und der „Initiative Musik“, aber auch an Gesprächsrunden, zum Beispiel mit Vertretern der Bundeskonferenz Jazz.
Nachdem wir uns mit einer Fülle von Einzelaspekten
befasst haben, ist es nun an der Zeit für eine Bestandsaufnahme. Es ist Zeit für eine Gesamtschau der Musikförderung. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Ziele die Bundesregierung mit ihrer Förderung
verfolgt. Nach welchen Kriterien fördert sie Musik, und
welche Schwerpunkte setzt sie dabei? Kurz: Welches
Konzept liegt der Musikförderung des Bundes zugrunde?
Ich will mich in meinem Debattenbeitrag im Wesentlichen auf die Fragen der Musikförderung beschränken.
In der Großen Anfrage sind noch andere wichtige
Aspekte angesprochen worden, zum Beispiel die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und
Künstler oder Fragen zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, zum Beispiel zum Urheberrecht. Es wird sicherlich andere Gelegenheiten geben, um darüber an dieser
Stelle vertieft zu debattieren. Ich konzentriere mich auf
die Frage der Musikförderung.
Zunächst möchte ich einen Überblick geben. Die Antwort der Bundesregierung zeigt das breite Spektrum des
Engagements für die Musik. Rund 44 Millionen Euro
wurden im Jahr 2010 für Konzerte, Festspiele, Wettbewerbe, für die Arbeit der Verbände und für Forschungsprojekte aufgewandt - von der Klassik und neuer Musik
über Jazz, Pop und Rock bis zu Electro und Hip-Hop;
viele Genres sind davon betroffen. Einige Formate
werden institutionell gefördert, andere erhalten einmalig
oder wiederholt Projektförderung. Der BKM ist beteiligt. Eine Fülle von Ministerien ist auf diesem Gebiet
unterwegs. Es gibt aber auch wichtige Institutionen, die
gewissermaßen als Förderagenturen für die Bundesregierung tätig werden, zum Beispiel die Kulturstiftung
des Bundes, der Deutsche Musikrat oder die „Initiative
Musik“, die ich schon erwähnte. Bezogen auf Berlin
nenne ich die Kulturveranstaltungen des Bundes in
Berlin GmbH und den Hauptstadtkulturfonds. Man kann
die allgemeinen Ziele der Musikförderung, die man in
der Antwort der Bundesregierung findet, einfach nur unterstreichen. Es geht um die Wahrung des kulturellen Erbes auch in der Musik, es geht um die Förderung und
Entwicklung der zeitgenössischen Musik und ihre
Rezeption, und es geht auch um die Präsenz der Musik
in der auswärtigen Kulturpolitik. Das ist überhaupt nicht
streitig.
Aber die Antwort der Bundesregierung auf unsere
Frage nach Konzepten und Kriterien der Musikförderung stellt uns - das muss ich deutlich sagen - nicht zufrieden. Sie offenbart tatsächlich ein Förderkonzept,
auch wenn es nicht explizit so genannt wird, aber es ist
ein, wie ich finde, sehr zweifelhaftes Förderkonzept, das
im Wesentlichen auf drei Regeln basiert.
Die erste Regel lautet: Jeder, wie er meint.
({1})
Unterschiedliche Entscheidungsträger in unterschiedlichen Ministerien oder beauftragten Institutionen beschließen ohne einen übergreifenden Plan, ohne eine
übergreifende Idee, wen sie in welcher Weise fördern,
und vor allen Dingen, in welcher Höhe. Dabei koordinieren sie sich, so steht es in der Antwort, allenfalls „anlassbezogen“, was immer das heißen mag. Es ist - einmal
abgesehen vom Deutschen Musikrat, der Kulturstiftung
des Bundes und der „Initiative Musik“ - nicht immer
klar, an welchen Kriterien sich Förderentscheidungen
orientieren.
Nur ein Kriterium taucht wie ein roter Faden in den
verschiedenen Antworten auf: die gesamtstaatliche Bedeutung. Natürlich sind die Länder in unserer föderalen
Ordnung vorrangig in Obligo, aber es bleibt offen, wann
und in welchem Maße es gerechtfertigt ist, dass sich der
Bund mit einem begründeten Interesse engagiert. Dieser
Frage weicht die Bundesregierung aus. Dafür, worin genau das Bundesinteresse besteht, lässt sich ein Zitat
finden: Das „lässt sich angesichts der Vielfalt der Sachverhalte nicht verallgemeinern.“ So schreibt es die Bundesregierung in ihrer Antwort. Aber wenn sich die Verantwortung des Bundes gewissermaßen subsidiär aus der
Verantwortung der Länder ableitet, wie es gestern der
Staatsminister in unserem Ausschuss ausdrücklich betont hat, dann müssten sich die Länder ihrer fördernden
Eigenverantwortung bewusst sein und ihr nachkommen.
Ich will das an einem Beispiel darstellen. Man muss
klären, ob diese Art und Weise der Förderung durchgängig der Fall ist. Das Festival JazzBaltica - es findet,
Wolfgang Börnsen, in deinem wunderschönen Schleswig-Holstein statt ({2})
ist sicherlich ein tolles Festival. Es ist durch schwere
Krisen gegangen. Ich begrüße es außerordentlich, dass
sich der Bund für das Jahr 2012 zu einer Anschubfinanzierung für das Festival durchgerungen hat. Aber wie
steht es - Stichwort „Subsidiarität“ - um die Verantwortung des Landes Schleswig-Holstein? Die Stadt Timmendorfer Strand ist mit 75 000 Euro dabei. Das Land
Schleswig-Holstein ist sozusagen Nutznießer des
Marketings durch das Festival, aber aktives Handeln,
eine finanzielle Unterstützung ist nicht zu erkennen.
Auch andere Festivals haben nationale und internationale Bedeutung. Kommunen und Länder finanzieren sie
erheblich; gleichwohl werden diese nicht durch den
Bund gefördert. Was sind also die Kriterien für eine
Förderung? Ist die konkrete Förderentscheidung im Vergleich zu ähnlich gelagerten Projekten nachvollziehbar
und gerecht? Diese Fragen bleiben offen.
Die zweite Regel lautet: Das haben wir schon immer
so gemacht. Das verdeutliche ich anhand des sogenannten Omnibusprinzips. Dies gilt insbesondere für die institutionelle Förderung. Das heißt, wenn jemand dauerhaft institutionelle Förderung bekommt, ist diese auch
langfristig gesichert. Eine neue institutionelle Förderung
ist nur vorstellbar, wenn eine andere wegfällt. Nur wenn
jemand anders aussteigt, kann ein Neuer einsteigen. Das
bedeutet, dass ohne kritische Reflexion einige wenige
seit vielen Jahren eine institutionelle Förderung erhalten;
alle anderen haben Pech und können allenfalls jedes Jahr
erneut Projektanträge stellen. Permanente Projektverlängerung bindet den Bundeshaushalt ohnehin.
Dies hat zwei Effekte. Auf der Seite der Antragsteller
ist es Planungsunsicherheit - bekomme ich eine Zuwendung? -, also ein wirtschaftlicher Effekt. Der zweite Effekt ist ein kolossaler Verwaltungsaufwand in einer Zeit,
in der man Bürokratie eigentlich abbauen möchte. Dies
ist also wirtschaftlich und administrativ problematisch.
({3})
Dieses Prinzip - das haben wir schon immer so gemacht - verfestigt die Förderstrukturen und Ungleichgewichte zwischen der Förderung des kulturellen Erbes
durch die klassische Musik und den neueren Genres.
Natürlich ist die Pflege des kulturellen Erbes wichtig,
aber wir tragen auch eine Verantwortung für die zeitgenössische Musik. Dem steht das starre Fördersystem im
Wege.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin die
„Initiative Musik“ angesprochen. Auf sie wird immer
dann verwiesen, wenn es um populäre Musik geht. Sie
macht auch gute Arbeit; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Aber sie kann längst nicht all das stemmen, was
ihr aufgebürdet wird. Die jährliche Zuwendung liegt in
diesem Jahr bei etwa 1,5 Millionen Euro; sie kommt
übrigens aus dem Etat des BKM, also des Kulturstaatsministers. Die „Initiative Musik“ hat nicht vorrangig
eine kulturfördernde Funktion, sondern eher eine kulturwirtschaftliche Dimension. Ich erlaube mir an dieser
Stelle, die Frage aufzuwerfen, wieso der Etat des Wirtschaftsministers dafür nicht stärker herangezogen wird.
Das ist zumindest eine Frage, über die wir einmal diskutieren sollten.
({5})
Zwischen dem Aufsichtsrat der „Initiative Musik“
und der Bundeskonferenz Jazz finden Dialoge statt.
Allerdings gibt es hier nach wie vor kulturpolitischen
Diskussionsbedarf; damit müssen wir uns auseinandersetzen. Diese Diskussionen darf man nicht einfach, wie
in einer Hamsterrolle, in Gremien hineinschieben, sondern wir müssen uns mit diesen Fragen auch in der
Kulturpolitik aktiv beschäftigen. Die entsprechenden
Debatten sind bereits aufbereitet. Es geht zum Beispiel
um die Fragen: Wie sieht es eigentlich mit der Spielstättenförderung aus? Inwieweit kann man den Bund hier
ernsthaft in die Verantwortung nehmen? Ich will die
Antworten nicht vorwegnehmen; aber diese Debatte
muss geführt werden. Es gibt einen weiteren Streitpunkt.
Was steht im Vordergrund: die Künstlerförderung oder
die Infrastrukturförderung? Auch diese Debatte muss
geführt werden. Ich glaube, hier ist die Musikpolitik des
Bundes gefordert.
({6})
Im Herbst letzten Jahres hat sich der Deutsche Komponistenverband hilfesuchend an den Staatsminister gewandt und auf die Probleme der neuen Musik aufmerksam gemacht. Der Staatsminister hat diese Nöte in
seinem Antwortschreiben grundsätzlich anerkannt und
angeregt, dass man über die richtigen Schritte und vordringlichen Konzepte auch öffentlich diskutieren müsse.
Genau darum geht es. Das ist eine richtige Feststellung.
Es geht um eine öffentliche Debatte darüber, welche
Schwerpunkte der Bund künftig in der Musikförderung
setzt. Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrem Hause genug Expertise, um diese Debatte zu führen.
({7})
- Ich muss sagen: Mir ist im Vorfeld signalisiert worden,
dass er aufgrund einer Terminkollision nicht hier sein
kann.
({8})
Allerdings verdient dieses Thema natürlich auch seine
Präsenz in diesem Hause.
({9})
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.
Herr Kollege.
Die dritte Regel des Förderkonzepts lautet: Kontrolle
ist gut, Vertrauen ist besser. Auch was die Evaluation betrifft, besteht dringender Klärungsbedarf. Eine Evaluation wird von der Bundeskulturstiftung und der „Initiative Musik“ durchgeführt.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss.
Nicht dass Sie nach Ablauf Ihrer Redezeit noch einen
vierten Punkt ansprechen. Das war mir jetzt zu heikel.
Nein, Frau Präsidentin. Schönen Dank für Ihr Verständnis. - Ich führe meinen Gedanken ganz kurz zu
Ende: Es ist sehr wichtig, dass wir uns mit den Ergebnissen der Evaluation durch die Bundeskulturstiftung und
die „Initiative Musik“ auseinandersetzen. Kurzum: Was
nach dieser Anfrage nottut, ist, dass der Ausschuss mit
allen Akteuren in einen intensiven gemeinsamen Dialog
über die künftige Ausrichtung der Musikförderung eintritt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Wolfgang Börnsen hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Mit Ihrer
freundlichen Zustimmung möchte ich in das Thema
Musik auf besondere Weise einführen.
({0})
Man könnte das auch als Kanon singen. Leider lässt die
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages das nicht
zu.
({1})
Es gäbe zwischen uns nicht einmal Misstöne.
({2})
Ich möchte mit einer Bemerkung beginnen, die an das
anschließt, was Siggi Ehrmann gesagt hat. Siggi
Ehrmann, es ist richtig, manche Komposition im Bereich
der politischen Musikförderung ist überprüfenswert.
Vergiss aber nicht, Siggi: Die Grundlagen für die Musikförderung nach diesen Kriterien haben drei sozialdemokratische Staatsminister gelegt. Jetzt soll ein christdemokratischer Staatsminister das regeln. Vergiss nicht: Die
Sozialdemokraten haben in der Großen Koalition diese
Art der Förderung auch begrüßt. Die Einlassung, dass
das überprüfenswert ist, teilen wir, und wir werden uns
auch aktiv beteiligen.
Deutschland ist ein starkes Musikland. Über 7 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger musizieren oder sind
in Chören engagiert. Unsere Orchesterlandschaft mit
750 erstklassigen Sinfonie- und Staatsorchestern ist
weltweit einzigartig. Über 50 000 Rock-, Pop- und Jazzbands, fast 50 000 Kirchen-, Laien- und Profichöre sind
von Flensburg bis Freiburg aktiv. 60 Millionen Menschen hören jährlich Chorkonzerte in unserem Land.
Die Musikwirtschaft unseres Landes mit einem Umsatz von fast 6 Milliarden Euro gehört zur Weltspitze.
({3})
Wolfgang Börnsen ({4})
Erfreulich und ermutigend ist, dass jeder vierte Jugendliche in Deutschland selbst Musik macht. Das ist
ein tolles Ergebnis.
({5})
Der Dank der Unionsfraktion und sicher auch des
ganzen Hauses gilt den Musikverbänden, den Vereinen,
den Musikschulen und -erziehern, den Chorleitern und
Dirigenten, die alle zu einer klingenden Republik beitragen.
Musik bildet, verbindet, begeistert, baut Brücken zu
den Migranten und zwischen den Generationen.
Die Große Anfrage weist nach, das Notenbuch der
Bundesregierung ist wohlfeil geschrieben, auch wenn
manche Komposition überarbeitet werden muss. Allein
die jährliche Bundesförderung beträgt 44 Millionen
Euro. Noch umfangreicher sind die Leistungen der
Kommunen und der Länder.
Verdienstvoll hat sich die Bundeskulturstiftung der
zeitgenössischen Musik angenommen, und zwar mit
42 Millionen Euro in den vergangenen Jahren. Engagiert
und ideenreich trägt der Deutsche Musikrat, der weltweit
größte Kulturverband dieser Art, zu einem vielfältigen
Musikleben bei und rechtfertigt damit die jährliche Bundesförderung von über 4 Millionen Euro.
Auch wenn die Musikförderung verfassungsgemäß
auf Projekte von gesamtstaatlicher Bedeutung beschränkt sein muss, ist es dem amtierenden Staatsminister gelungen, neue Akzente zu setzen. Kulturförderung
ist zugleich Musikförderung. Die Abgrenzung zwischen
allein auf die Kunst ausgerichteter Kulturförderung und
dem Wachstumsmarkt der Kreativ- und Kulturwirtschaft
ist gefallen. Die Tür für viele neue Arbeitsplätze ist damit geöffnet.
({6})
Die vor fünf Jahren gegründete „Initiative Musik“,
die über 450 Maßnahmen im populären Bereich präsentieren kann, ist beispielgebend dafür. Neben Bernd
Neumann, Hans-Joachim Otto, Monika Griefahn hat
Dieter Gorny wesentlich zu dieser Erfolgsgeschichte
beigetragen.
Einen Boom erfahren derzeit die über 1 000 öffentlichen und privaten Musikschulen mit über 1 Million
Schülerinnen und Schülern. Wartelisten gibt es jedoch
nicht allein für die Jungen, sondern auch für die Senioren. Die Zahl ihrer Bewerbungen hat sich verdoppelt.
Auch bei ihnen gibt es Engpässe.
Musik wird als lebensbereichernd empfunden.
Bei der Musikeinzelförderung durch den Bund sind
drei sogenannte B-Standorte besonders bemerkenswert.
Berlin erhält bedingt durch den Hauptstadtvertrag mit
jährlich gut 16 Millionen Euro die höchste Zuwendung.
Es folgen Bonn - NRW eingeschlossen - und Bayerns
Bayreuth, derzeit eine komplizierte Baustelle, musikalisch jedoch von internationaler Bedeutung.
Diese Einschätzung teilte auch Bundeskanzler
Gerhard Schröder, der als erster Kanzler diesen Operntempel im Jahr 2003 besuchte und ihm seinen Regierungssegen gab. Beobachter der Premiere registrierten
damals, dass die „Schwarze“ Frau Merkel in Grün gekommen war, die „Grüne“ Roth in Pink und der „Rote“
Schily im Smoking. Das fraktionsübergreifende Bekenntnis zu den Bayreuther Festspielen von damals
sollte auch heute noch halten; denn die weltweite Bedeutung von Richard Wagner hat sich nicht geändert. Deswegen bin ich für eine Gemeinsamkeit in Bayreuth.
({7})
Neben der Auffassung zum Handlungsfeld Bayreuth
und zu einer verbesserten Perspektive für den Jazz teilen
wir auch die Auffassung des Deutschen Musikrates zur
Reform des Urheberrechtes: „Stillstand entrechtet Urheber“ - so seine These; „ohne Komponisten keine Musik“.
Die Piraterie im Netz ist eine Herausforderung für
den Kultur- und den Arbeitsmarkt in Deutschland - und
für den Standort ebenso. 900 Millionen Songs wurden
alleine 2010 illegal im Netz genutzt. Die Musikwirtschaft erleidet jährlich einen Schaden von 90 Millionen
Euro. Sachkenner sagen für alle Kulturbereiche - Film
und Theater eingeschlossen - einen jährlichen Verlust
von insgesamt 70 000 Arbeitsplätzen voraus. Diese Entwicklung vernichtet Arbeitsplätze, entmutigt die Kreativen und schadet unserem Land.
Das gilt auch für eine andere Sache: Das Jahreseinkommen von Musikern in Deutschland ist mit
11 500 Euro ausgesprochen dürftig. Das gilt es, zu verbessern. Das gilt auch für die Einkommen der Lehrbeauftragten an den 24 Musikhochschulen. Wir haben der
KMK geschrieben und hätten es für aufrichtig gehalten,
wenn die Fraktion der Grünen darauf aufmerksam gemacht hätte, dass sie in den Ländern ebenfalls eine Mitverantwortung trägt; denn die Lehrbeauftragten sind
Ländersache.
({8})
Die Musik - damit komme ich zum Ende - steht bei
der jungen Generation gleich nach der Freundschaft an
zweiter Stelle - weit vor dem Sport und dem Internet.
Als ehemaliger Schlagzeuger von Jazzbands kann ich
das durchaus nachvollziehen. Musik fasziniert. 82 Prozent der 12- bis 19-Jährigen besitzen einen MP3-Player.
Musik hören ist Volkssport geworden, selbst Musik machen sollte es aber auch sein.
Herr Kollege.
In der Lessingschule in Nordhausen wird aus diesem
Wunsch sicher schon bald Wirklichkeit.
Frau Präsidentin, ich komme jetzt wirklich zum
Schluss.
Wirklich.
Deshalb begrüßen wir die Initiative „Jedem Kind ein
Instrument“. 70 000 Schüler sind daran bereits beteiligt.
Der Bund fördert dies mit 10 Millionen Euro. Ich würde
mir wünschen, dass die ganze Republik von dieser neuen
Initiative profitiert.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich singe leidenschaftlich gerne, aber meistens nicht sehr
gut. Insofern erspare ich uns hier eine Intonation zu Beginn dieser Rede.
Musik spielt im kulturellen Selbstverständnis der
Bundesrepublik Deutschland eine wesentliche
Rolle. … Die Bundesregierung misst der Pflege des
Musiklebens … einen hohen Stellenwert bei.
Solch Grundsätzliches liest man gerne. Man vernimmt
es mit Freude, Genugtuung, ja, Stolz. Deutschland ist
eine Musiknation - von alters her bis auf den heutigen
Tag.
Wenn man dann allerdings in der umfangreichen Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur
Musikförderung durch den Bund in dem konkreten,
sachlichen Teil der Statistik nachliest, welche Jahreseinkommen 2009 die Musikerinnen und Musiker nach Auskunft der Künstlersozialkasse hatten - Orchestermusiker
„Ernste Musik“: 9 237 Euro im Jahr, Instrumentensolist
„Ernste Musik“: 10 498 Euro im Jahr, Oper-, Operettenund Musicalsänger: 9 585 Euro im Jahr, Lied- und Oratoriensänger: 10 335 Euro im Jahr -, dann muss man sagen: Hier stimmt doch etwas nicht.
({0})
Hier tut sich ein gravierender Unterschied zwischen der
Proklamation und der Wirklichkeit auf. Auch Komponisten, Texter und Librettisten kommen im Jahr gerade
einmal auf rund 16 000 Euro. Das sind 1 333 Euro im
Monat. Man könnte sagen: Glanz und Elend spiegelt
diese Ausarbeitung der Bundesregierung zur Musikförderung durch den Bund.
Staatsminister Neumann hat gestern im Kulturausschuss betont, dass die Förderung durch den Bund nur
subsidiär, also zusätzlich, ist, da die Förderung von Musik vorrangig Aufgabe der Länder ist. Das ändert aber
nichts an den Arbeits- und Einkommensverhältnissen
der Musikerinnen und Musiker in all den vielfältigen
Sparten der Kunst in unserem Land.
({1})
Es ist zu begrüßen, dass mit dem vorliegenden Bericht eine wichtige Übersicht vorliegt. Sie könnte allerdings strukturierter und systematischer sein. Am besten
wäre es, wenn sie einem umfassenden Kulturbericht zugeordnet wäre, wie ihn die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ bereits vor Jahren gefordert hat.
({2})
Die Musikförderung des Bundes hat zwei Ziele: einerseits die Bewahrung des Erbes und die umfassende
Erschließung und Vermittlung seiner Potenziale und andererseits die Entwicklung der zeitgenössischen Musik
und ihre Rezeption. Das ist nicht leicht zu leisten, wenn
die Mittel nicht von Jahr zu Jahr steigen. Denn die
Pflege des Erbes wird nicht von sich aus weniger. Aber
das Zeitgenössische nimmt zu und braucht mehr Unterstützung und Mut zum Experiment. Wie kann man also
die Balance halten und Gerechtigkeit walten lassen?
Rund 44 Millionen Euro stellte die Bundesregierung
für die Musikförderung 2010 zur Verfügung. Ein Viertel
dieser Summe ging an die Rundfunkorchester und Chöre
in Berlin. Das ist eine Aufgabe und Verpflichtung, die
aus der Vereinigung unseres Landes herrührt. Es ist eine
glanzvolle Verpflichtung von wahrhaft gesamtstaatlicher
Relevanz. Das Gleiche gilt für die Verpflichtungen im
Hauptstadtkulturvertrag, Kostenfaktor: 4,3 Millionen
Euro.
Es bleiben rund 28 Millionen Euro als Fördersumme.
Werden sie gerecht verteilt zwischen Alt und Neu? Jazzmusikerinnen und -musiker haben in diesen Tagen mehr
als tausend Unterschriften gesammelt und fordern mehr
staatliche Subventionen und vor allem mehr Spielstätten
sowie Gleichbehandlung mit der ernsten Musik.
In der Künstlerförderung der „Initiative Musik“ entfallen 17,7 Prozent auf Jazzprojekte. Das entspricht einer erbärmlichen Summe von rund 230 000 Euro im
Jahr, und gefördert wird nur dann, wenn die Musiker
selbst 60 Prozent der Projektkosten aufbringen können.
Wie sollen da viele Bands, Talente und Musiker unter
dieser Regelung noch gefördert werden?
({3})
Lässt sich dabei noch von einer einigermaßen gerechten
Mittelverteilung reden? Nein.
Ein Umverteilungsvorschlag: Rund 2,3 Millionen
Euro fließen jedes Jahr vom Bund an die Bayreuther
Festspiele, ein Musikereignis, das sich vor Nachfrage
kaum retten kann. 400 000 Kartenbitten können jedes
Jahr nicht berücksichtigt werden. Die Bundesregierung
gibt an, dass sie seit 1953 die Festspiele mitfinanziert,
damit sie - das ist ein Zitat - bei bezahlbaren Karten für
breite Bevölkerungsschichten zugänglich seien. Das ist
doch Hohn und Spott!
({4})
Schauen Sie sich doch an, was heute in Bayreuth passiert. Bezahlbare Karten für breite Bevölkerungsschichten? Ich sage: Hohn und Spott. Solange dies so ist, könnten die 2,3 Millionen Euro gut anderen Projekten
zugutekommen.
({5})
Das wäre dann übrigens das Zehnfache für den Jazz und
damit für zeitgenössische Musik.
Ich danke Ihnen.
({6})
Reiner Deutschmann hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, dass wir heute im Deutschen Bundestag die Gelegenheit haben, uns einmal etwas ausführlicher mit der
Musikförderung des Bundes auseinanderzusetzen.
Musik ist für Deutschland ein ganz wichtiger Bereich
des kulturellen Schaffens und integraler Bestandteil unseres kulturellen Erbes. Komponisten wie Bach,
Brahms, Beethoven oder Schubert, um nur einige zu
nennen, haben die musikalische Landschaft nicht nur
Deutschlands, sondern der Welt geprägt. Deutsche Orchester sind in der Welt geschätzt und werden für ihre
Darbietungen verehrt. Auch deutsche Musik, zum Beispiel von Kraftwerk oder der mitteldeutschen Band „Tokio Hotel“, war und ist ein Aushängeschild deutscher
musikalischer Schaffenskraft. Ich lasse es mir in diesem
Zusammenhang nicht nehmen, auch „Silbermond“ zu erwähnen. Diese Gruppe hatte schließlich ihre Anfänge als
Schülerband in meinem Wahlkreis Bautzen.
({0})
Die Förderung der Musik hat in Deutschland durchaus eine jahrhundertelange Tradition. Bereits an Fürstenhöfen fand sie statt. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher das Engagement sowohl des Staates als auch
des Privatsektors; denn gerade Verlage und Label sorgen
sich um eine blühende Musiklandschaft in Deutschland.
Ohne diese Unterstützung wären viele Erfolge von
Künstlerinnen und Künstlern einfach nicht denkbar.
Ich denke, es ist unbestritten, dass für die Musikförderung in erster Linie Länder und Kommunen zuständig
sind. Deshalb gibt es auch kein ganzheitliches Musikförderkonzept des Bundes, wie von der SPD gewünscht.
Nur dort, wo das gesamtstaatliche Interesse es gebietet,
kann der Bund als Förderer tätig werden. Dass sich der
Bund dieser Verantwortung in entsprechenden Größenordnungen stellt, wissen wir nicht erst seit der Beantwortung der Großen Anfrage, über die wir gerade sprechen.
Das spüren wir bei jeder Haushaltsdebatte. Auf die seit
Jahren vorgenommenen Weichenstellungen - das wurde
vom Kollegen Börnsen schon gesagt - können wir als
Abgeordnete des Deutschen Bundestags durchaus stolz
sein.
({1})
Musik ist beides: Sie ist Kultur- und zugleich Wirtschaftsgut. 2009 setzte die Musikindustrie 5,5 Milliarden
Euro um. Zehntausende Menschen arbeiten in diesem
Sektor und finanzieren dadurch ihren Lebensunterhalt.
Der Musiksektor ist somit ein wichtiger Bestandteil der
Kultur- und Kreativwirtschaft unseres Landes. Dass es
auch hier soziale Probleme gibt, ist uns allen bewusst.
Wir haben in verschiedenen Bereichen versucht, nachzusteuern. Aber nicht alles ist Sache des Bundes. Wir können beispielsweise nicht beeinflussen, wie viel eine
Schauspielerin oder ein Sänger an einem Landestheater
verdient.
Eine der größten Herausforderungen für die Musikwirtschaft ist ohne Zweifel die Digitalisierung. Lassen
Sie mich an dieser Stelle ausdrücklich betonen: Kreativität muss sich lohnen. Kreative müssen von ihrer Arbeit
leben können. Dies gelingt nur, wenn wir es schaffen,
auch in Zeiten des Internets einen gerechten Ausgleich
zwischen den Interessen der Rechteinhaber und der Nutzer geistigen Eigentums zu erzielen. Dazu gehört aber
auch, dass die Wirtschaft weitere Modelle entwickelt,
die es ermöglichen, zu attraktiven Bedingungen Werke
legal im Internet zu erwerben.
({2})
Auch damit begegnen wir nachhaltig den millionenfachen illegalen Downloads. Eines ist ganz klar: Die FDPBundestagsfraktion steht ohne Wenn und Aber für die
Rechte der Urheber als geistiger Mütter und Väter ihrer
Werke. Mit uns wird es immer eine Unterstützung für
das geistige Eigentum geben. Das kann ich Ihnen versichern.
Was tut der Bund konkret für die Förderung der Musiklandschaft in Deutschland und über die Grenzen hinaus?
Dazu gibt die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der SPD detailliert und umfassend Auskunft. Aber auch ein Blick in den jeweiligen Haushaltsplan des Bundes hilft hier weiter. 2010 wurden insgesamt 44,2 Millionen Euro durch den Bund für die
Musikförderung ausgegeben. Mit zahlreichen Maßnahmen bewahrt der Bund unser musikalisches Erbe, fördert
zeitgenössische Musik und transportiert deutsches Musikschaffen im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik - zum Beispiel durch das Auswärtige Amt
oder durch Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut - in alle Welt.
Über die Kulturstiftung des Bundes wurde - das ist
schon mehrfach erwähnt worden - das Projekt „Jedem
Kind ein Instrument“ angeschoben und unterstützt. Es
war erstmals im Ruhrgebiet verfügbar und ist inzwiReiner Deutschmann
schen von elf Bundesländern aufgegriffen und eigenständig weitergeführt worden. Wir fördern Orchester wie
die Rundfunkorchester und Chöre in Berlin und ebenso
Sparten wie den Jazz durch Projekte wie das Bundesjazzorchester oder durch das Projekt „Jugend jazzt“. Wir unterstützen den Deutschen Musikrat jährlich mit rund
3 Millionen Euro. Was dort geleistet wird, ist durchaus
sehenswert. Die schon erwähnte „Initiative Musik“ ist
beispielgebend für den Export deutscher Musikkunst.
Dadurch können wir Bands und Solokünstler hervorragend unterstützen und international bekannt machen.
Ich möchte aber auch die Bayreuther Festspiele erwähnen. Der Bund bekennt sich ausdrücklich zu diesem
Ereignis von Weltgeltung. Aber aus gegebenem Anlass
möchte ich genauso deutlich darauf hinweisen, dass die
bestehenden Probleme im Bereich der wirtschaftlichen
Führung gelöst werden müssen.
Ich möchte hier aber auch den Tanz thematisieren;
denn er stellt für mich eine ganz besondere Form der
Umsetzung von Musik dar. Dazu gehört zum einen die
direkte Förderung des Tanzes. Zum anderen müssen
Tänzer in besonderer Weise sozial abgesichert werden.
Schließlich kann dieser Beruf aufgrund der körperlichen
Belastung nur zeitlich begrenzt ausgeübt werden. Deshalb setzen wir Liberale uns sehr stark für die Stiftung
„TANZ - Transition Zentrum Deutschland“ ein, die Tänzern hilft, nach dem Ende der Karriere eine neue berufliche Perspektive zu finden.
({3})
Nach Ministerien aufgeschlüsselt, fördern neben dem
BKM und dem Auswärtigen Amt das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Musik.
Dies geschieht zum Beispiel im Rahmen der Initiative
„Kultur- und Kreativwirtschaft“ oder, ganz konkret,
durch Messeförderung im Ausland. Nennen möchte ich
aber auch solche Forschungs- und Bildungsprojekte wie
die Begleitforschung zum Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ oder den Bundeswettbewerb Komposition
2010, in dessen Rahmen sich Schülerinnen und Schüler
mit Eigenkompositionen beteiligen konnten. Es ist mir
wichtig, dass die Förderung durch den BKM und andere
nachhaltig erfolgt. Es ist besonders erfreulich, dass man
erkennen kann, dass die Ziele des Bundes tatsächlich erreicht werden; genannt wurde schon das sehr erfolgreiche Projekt „Jedem Kind ein Instrument“.
Anschubfinanzierungen, gerade für Festivals, können
nachweislich Anreize für neue Entwicklungen schaffen.
Zu Recht spricht die Bundesregierung in ihrer Antwort
auf die Große Anfrage von einem „kulturpädagogischen
Impuls“. Damit stärken wir nicht nur die Kreativen im
Bereich der Musik, sondern wir tun auch etwas für die
kulturelle Bildung unserer jungen Menschen.
({4})
Ich stelle also abschließend fest, dass wir, der Bund,
im Bereich Musik gut aufgestellt sind. Natürlich könnte
das eine oder andere noch umfassender gefördert werden. Da gibt es durchaus noch Spielraum, insbesondere
beim Feintuning. Im Bereich Jazz sind wir das gerade
angegangen. Ich bin mir durchaus bewusst - dafür stehe
ich auch ein -, dass nicht alles, was über Jahrzehnte gefördert wurde, immer wieder gefördert werden muss. Da
sollten wir tatsächlich einiges auf den Prüfstand stellen;
vieles wächst nach, und die Töpfe werden nicht unbedingt größer. Deshalb muss man auch über Förderungen
einmal neu nachdenken. Wichtig ist für uns als Kulturpolitiker, dass wir neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen sind; denn Kunst und Kultur leben von der Kreativität der Menschen und sind damit eine ganz wichtige
Voraussetzung für die weitere Entwicklung unserer gesamten Gesellschaft.
Ich danke Ihnen.
({5})
Jetzt hat Agnes Krumwiede das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir begrüßen die Große Anfrage der SPD
sehr.
({0})
Die Antworten sagen einiges aus über das Musikförderkonzept der Bundesregierung: Sie hat nämlich keins.
({1})
In ihrer Antwort gesteht die Regierung ein, dass eine Definition gesamtstaatlicher Relevanz konkretisiert werden
muss. Wenn aber keine genaue Definition vorliegt, stellt
sich die Frage, auf welcher Grundlage überhaupt Mittel
an Kulturinstitutionen und Festivals vergeben werden.
({2})
Die Wagner-Festspiele jedenfalls entwickeln sich für
die Bundesregierung zur Götterdämmerung von gesamtstaatlicher Bedeutung. Nachdem mittlerweile der Bayerische Oberste Rechnungshof interveniert hat, ergreift
der Kulturstaatsminister - lieber spät als nie - endlich
die Initiative und sorgt hoffentlich dafür, dass die
Wagner-Festspiele keine Exklusivveranstaltung zur Unterhaltung eines Fördervereins bleiben.
({3})
Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für musikalisches Schaffen steht nicht im Fokus der Bundesregierung. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von
Musikern liegt bei 11 700 Euro. Altersarmut ist vorprogrammiert. Erschreckend hilflos sind die Antworten der
Bundesregierung auf Fragen zur sozialen Absicherung
und zur Altersvorsorge für Musiker: Jeder könne mit der
Riester-Rente aufstocken, und die Einkünfte durch Urheber- und Leistungsschutzrechte seien ja auch eine geeignete Altersversorgung. In die Riester-Rente einzahlen
kann nur, wer es sich leisten kann. Einkünfte durch
Urheber- und Leistungsschutzrechte als Altersversorgungsquelle zu nennen, zeugt von Inkompetenz. Ganze
Berufsgruppen im Bereich Musik, zum Beispiel die Instrumentallehrer, hat die Bundesregierung offenbar vergessen. Musikunterricht ist nicht urheberrechtlich geschützt.
({4})
Die Lage vieler Lehrkräfte im Bereich Musik ist prekär.
Dabei übernehmen sie hauptsächlich die Förderung von
Musik in Deutschland.
({5})
Wir haben Ihnen mit unserem Antrag, zum Beispiel
zu Reformen des Arbeitslosengeld-I-Bezugs, ein allgemein gültiges Modell präsentiert, das Sie nur umsetzen
müssten, um die Bedingungen für Künstler und Musiker
zu verbessern. Außerdem brauchen wir branchenspezifische Mindestlöhne - auch im Kulturbetrieb.
({6})
Gravierende Schwachstellen offenbart die Bundesregierung auch bei der sogenannten Exportförderung. Was
die Zuschüsse für Tourneen betrifft, sind deutsche Solokünstler und Bands gegenüber anderen Ländern klar im
Nachteil. Exportförderung für Auslandstourneen erhalten bei uns in erster Linie prominente Bands, die es ja
wohl am wenigsten nötig hätten.
({7})
Die Bundesregierung sollte sich am skandinavischen
Vorbild orientieren und ein Programm zur Tourförderung von Bands auflegen. Ob Jazz, Hip-Hop, Rap, Punk
oder Techno - bei fast allen Fragen nach der Förderung
neuer musikalischer Ausdrucksformen verweist die Bundesregierung auf die „Initiative Musik“. Über 40 Millionen Euro gibt der Bund pro Jahr für Musikförderung aus,
die „Initiative Musik“ bekommt 1,5 Millionen Euro.
({8})
Davon sollen so gut wie alle neuen Musikbereiche gefördert werden. Zum Vergleich: Die Wagner-Festspiele erhalten pro Jahr rund 2 Millionen Euro, und damit wird
nur ein einziges Festival finanziert.
Auch was die zeitgenössische Klassik betrifft, ist vonseiten der Bundesregierung Saure-Gurken-Zeit angesagt.
Das erfolgreiche Programm „Netzwerk Neue Musik“ ist
gerade ausgelaufen; jetzt klafft eine große Lücke bei der
Förderung zeitgenössischer Klassik. Was an Neuem in
der Musik entsteht, muss gleichberechtigt an Mitteln aus
dem Kulturetat beteiligt werden.
({9})
Die Zukunft unserer Musiklandschaft besteht in einem
Überwinden des qualitativ unterscheidenden Denkens in
U- und E-Musik.
({10})
Wir brauchen ein anderes Kulturverständnis, eines
ohne Scheuklappen. Das geht schon bei den Spielstätten
los.
({11})
Ein Konzerthaus ist eine Spielstätte für alle. Dort sollten
Angebote und Aufführungen für Jung und Alt, Reich
oder Arm einen Platz finden. Opern, Theater und andere
Institutionen müssen als Kulturerlebnisorte für alle Bedürfnisse begriffen und bespielt werden, nicht als exklusive Heimat einer Musikrichtung. Wir brauchen institutionelle und Projektförderung, bei der Interaktion von
Musikbereichen, also Jugendkultur, Pop und Klassik, genauso vorgesehen ist wie eine Mindestgage, ein ausgewogener Frauenanteil und der interkulturelle Austausch.
({12})
Es gibt viel zu tun. Ich freue mich darauf, mit Ihnen
gemeinsam ein Musikförderkonzept zu entwickeln, das
unserer Tradition als dem Land der großen Komponisten
gerecht wird.
Vielen Dank.
({13})
Christoph Poland hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon
Napoleon wusste, dass Musik von allen Künsten den
tiefsten Einfluss auf das Gemüt hat und ein Gesetzgeber
sie deshalb am meisten unterstützen soll. Das tun wir,
das tut die Bundesregierung.
Ich kann Ihnen nach 32 Jahren Tätigkeit als Musiklehrer und nach 18 Jahren Tätigkeit als Musikveranstalter hier und heute sagen, dass wir für Musikveranstaltungen auf Anfrage immer Sponsoren und Unterstützer
gefunden haben, egal wie wir um Unterstützung gebeten
haben.
({0})
Die umfassenden Antworten auf die 74 Fragen der
SPD zeigen, wie großartig und umfangreich die Förderungen des Bundes sind.
({1})
Die schon genannten über 44 Millionen Euro für die Musikförderung, die zur Verfügung gestellt werden, sind ein
beredtes Beispiel dafür. Für seine Förderung hat der
Bund objektive, überprüfbare Kriterien formuliert. Dabei ist, so finde ich, die Nachhaltigkeit bei den geförderten Projekten besonders wichtig. Wir sehen es am Beispiel JeKi, welche Auswirkungen es haben kann, wenn
ein Projekt angeschoben wird.
Der Bund fördert Einrichtungen und Projekte mit gesamtstaatlicher Bedeutung. Das haben wir heute schon
gehört. Dazu kommt die Förderung der Musik als Teil
der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Als Beispiel für die Förderung von Leuchttürmen der Kultur
möchte ich folgende hervorheben: Beim Mitteldeutsche
Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e. V. handelt es sich um ein Leuchtturmprojekt in
den neuen Bundesländern. Durch das Zusammenwirken
von drei Ländern und dem Bund wird ein Beitrag zur
Bewahrung, Erforschung und aktiven Vermittlung der in
dieser Region überreichen Zeugnisse des musikalischen
Erbes von Bach, Händel, Schütz, Telemann und weiteren
Komponisten geleistet.
Auch das Musikfestival auf Usedom mit seinem
grenzüberschreitenden europäischen Ansatz bekommt
zu Recht eine Bundesförderung. In diesem Jahr ist dort
das Thema russische Musik.
Ein weiteres Beispiel sind die Zuschüsse für die
Dachverbände der Laienmusik. Denken Sie an den Deutschen Musikrat! Dort werden Veranstaltungen und Projekte der musikalischen Breitenarbeit und der nationale
Spitzennachwuchs gefördert. Ich freue mich daher besonders über die Förderung des Bundesjugendorchesters
und des Wettbewerbs „Jugend musiziert“.
Übrigens gibt es auch Bundeswettbewerbe für Jugendbands.
({2})
Nur denke ich, dass es unser Uranliegen sein muss, in
Deutschland die Hochkultur zu erhalten.
Mit der einmaligen Anschubfinanzierung des Bundes
und des Landes Nordrhein-Westfalen für die Etablierung
eines ECHO Jazz im Jahr 2010 sollte ein neues Forum
entstehen. Das läuft nun ohne Förderung erfolgreich
weiter. Die herausragenden Leistungen bundesweit und
international im Bereich des Jazz sollen gewürdigt und
öffentlich wieder mehr wahrgenommen werden. Der Anteil von nur noch 1,4 Prozent des Jazz am Gesamtumsatz
der Plattenindustrie ist ein Vermarktungsproblem,
({3})
aber auch Ausdruck einer schwindenden Anerkennung
des Jazz in der breiten Öffentlichkeit.
({4})
Daher möchte ich an dieser Stelle auch die Förderung
des Jazz im Rahmen der „Initiative Musik“ hervorheben.
Als Professor Gorny hierzu im Ausschuss war, deutete
sich eine fraktionsübergreifende Neigung an, den Jazz
stärker zu unterstützen.
Die Forderungen der Bundeskonferenz Jazz wurden
von der „Initiative Musik“ aufgenommen und ausgewertet. Hier die Bilanz: 88 Jazzmusiker und Jazzprojekte
wurden von 2008 bis 2011 mit 1,5 Millionen Euro gefördert.
({5})
Auch das ist ein Spitzenergebnis.
Das ebenfalls vom Bund geförderte Bundesjazzorchester kümmert sich um den Nachwuchs. Hier leistet
die „Initiative Musik“ ebenfalls erfolgreiche Arbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Musikförderung
des Bundes ist historisch gewachsen und strukturiert. Sie
unterstützt das vielfältige Musikleben in Deutschland.
Musik ist ein zentraler Bestandteil unseres kulturellen
Selbstverständnisses.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat das Wort für die CDU/CSU der Kollege Paul
Lehrieder.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Musikförderung des Bundes
verdeutlicht die unionsgeführte Bundesregierung einmal
mehr, welch großes Gewicht sie auf die Förderung von
Musik legt, und das ist gut so.
Die Antwort auf die Große Anfrage mit ihren 74 Fragen umfasst immerhin 47 Seiten. Das zeigt die ganze
Bandbreite - es wurde von einigen Vorrednern bereits
darauf hingewiesen - der vielfältigsten Facetten der Musikförderung in Deutschland.
Kollege Börnsen hat in seiner Auftaktrede bereits darauf hingewiesen - man kann es gar nicht oft genug wiederholen -: 44 Millionen Euro hat die Bundesregierung
2010 für die Förderung der Musik in Deutschland zur
Verfügung gestellt.
Frau Kollegin Krumwiede, Sie sagen, es könne manches noch besser werden, die soziale Absicherung der
Künstler müsse verbessert werden. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass wir derzeit über eine Verände19598
rung des Künstlersozialversicherungsgesetzes verhandeln. Wir wollen die soziale Absicherung der Künstler,
den Arbeitslosengeld-I-Bezug, schon in den nächsten
Wochen verbessern.
({0})
Wir kümmern uns auch im Ausschuss für Arbeit und Soziales um die Belange der Künstler. Das ist bei uns in guten Händen. Frau Krumwiede, machen Sie sich mal
keine Sorgen!
({1})
Ich freue mich natürlich immer, wenn bei solchen Debatten auch die Nutznießer unserer Förderung als Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne dabei sind.
Insbesondere die jungen Leute können von dem vielfältigen Musikangebot in den Schulen, aber natürlich auch in
den Vereinen profitieren.
Ja, es ist richtig: Die Musikförderung des Bundes ist
eine Facette. Sie ist die Ergänzung zu den Maßnahmen
der Länder und der Kommunen. In Bayern etwa gibt es
den Bayerischen Musikplan, durch den eine großzügige
Unterstützung der Musik, auch der Laienmusik, erfolgt.
Für den letzten Redner einer Debatte ist es immer
schwierig, noch viel Neues und Sinnstiftendes beizutragen. Ich möchte mich deshalb auf zwei Facetten beschränken. Das ist einmal der Bereich der Laienmusik;
hierauf hat der Kollege auch schon kurz hingewiesen.
Um die Laienmusik als Teil der Breitenkultur geht es in
Abschnitt X Ihrer Anfrage, Herr Kollege Ehrmann.
Es ist schon beeindruckend, wenn man sich die Zahlen aus der Anfrage vor Augen führt. Allein die Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände umfasst elf
Mitgliedsverbände und immerhin 23 000 Laienorchester.
Dort wird eine hervorragende Arbeit geleistet. Machen
Sie sich einmal klar, welche Jugendarbeit in den Laienorchestern betrieben wird! Wir hatten gerade auf
Antrag der Linken eine Aktuelle Stunde mit dem Titel
„Zivilcourage gegen Nazis stärken“. Wenn wir die Programme des Familienministeriums gegen rechts und entsprechend auch gegen links einbeziehen, so können Sie
eigentlich gar nicht ermessen, welche wertvolle Jugendarbeit in den Kapellen, in den Gesangsvereinen, in den
Chören und natürlich auch in den Sportvereinen geleistet
wird und was dadurch auch für den Staat an Prophylaxe
und Zusammenhalt generiert wird. Das, was wir in den
Laienorchestern haben, ist ein Wert, ein Goldschatz der
Gesellschaft, auf den man in einer solchen Debatte ausdrücklich hinweisen sollte. Für die geleistete Arbeit
möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.
({2})
Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände
hat deutschlandweit immerhin 48 500 Chöre mit
2,5 Millionen Mitgliedern. Hier sind Ehrenamtliche unterwegs, die in ihrer Freizeit anderen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern Lebensqualität, Freude am Leben,
Freude am Gesang - der Kollege Börnsen hat es sich
nicht nehmen lassen, hier zu singen - vermitteln. Das
zeigt, dass wir optimistisch und positiv in die Zukunft
schauen können. Das können wir auch über unsere
Chöre und Verbände organisieren.
({3})
Ich bedanke mich noch einmal bei der Jugendarbeit.
Ich selber bin stellvertretender Bezirksvorsitzender im
Nordbayerischen Musikbund, war viele Jahre lang als
Kreisvorsitzender für 75 Blaskapellen zuständig. Jetzt
bin ich für 360 Kapellen mit zuständig. Ich weiß aus eigener Erfahrung: Wenn über 300 000 Kinder und Jugendliche allein über die Deutsche Bläserjugend vom
Bund mit gefördert werden, so ist das eine sinnvolle zukunftsfähige Jugendarbeit. In mehr als 10 000 Spielmanns- und Fanfarenzügen sind unsere Jugendlichen organisiert.
Frau Kollegin Jochimsen, eines tut mir weh, wenn Sie
versuchen, Jazzmusik und Bayreuth gegeneinander auszuspielen. Wir sollten uns in Deutschland mit unserer
vielfältigen Kulturszene beides leisten können. Bayreuth
darf gefördert werden. Ich bin froh, dass der Staatssekretär der Debatte zugehört hat. Herr Kollege Koschyk, das
ist ein Aushängeschild deutscher Kultur. Das sollte man
nicht verstecken und man sollte nicht sagen: Wir können
es nicht fördern.
({4})
Der Bekanntheitsgrad Bayreuths ist nicht nur für die
Region, nicht nur für Bayern, nicht nur für Deutschland,
nicht nur für Europa wichtig, er ist für die ganze Welt
wichtig. Wir sind stolz darauf, dass Wagner und Bayreuth auch über die Festspiele ein Markenzeichen für
deutsche Kultur sind. Das sollten wir nicht schlechtreden.
({5})
Ich wünsche uns weiterhin ein konstruktives Mitarbeiten, damit wir die Kultur in Deutschland weiterentwickeln, Frau Kollegin Krumwiede, damit wir in Zukunft
eine vielfältige Kulturlandschaft mit Laienorchestern,
Profiorchestern, Jazzkapellen, Schlagzeugen in Jazzkapellen - dort hat der Kollege Börnsen früher gespielt haben. Wenn das gut weitergeht, hat die Gesellschaft davon einen Nutzen. Dafür Sorge zu tragen, ist auch die
Aufgabe der Politik. Herzlichen Dank an alle Gutmeinenden, die hier mitwirken.
Danke.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausPeter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren
- Drucksache 17/8882 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Hierzu haben die Fraktionen verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Herr Börnsen, ich weiß nicht, ob Sie jetzt im Duo singen wollen. Vielleicht ist das auch draußen möglich.
Ich würde gern dem Kollegen Ralph Brinkhaus für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort geben.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Er wird Ihnen den Gefallen tun, die Rede nicht vorzusingen.
Meine Damen und Herren! Der Zugang zu Rohstoffen
ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch
aus sozialen Gründen die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Deswegen ist es richtig, dass sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen dazu entschieden haben, das zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen.
Im Übrigen weiß ich, dass sich auch die Oppositionsfraktionen intensiv mit diesem Thema befassen. Es gibt
eine Vielzahl von Initiativen - in der Außenpolitik, in
der Wirtschaftspolitik, in der Landwirtschaftspolitik und
in der Entwicklungshilfe -, die das Thema Rohstoffe betreffen.
Ich denke, es ist Zeit, dass auch wir Finanzpolitiker
uns mit diesem Thema beschäftigen, und zwar ganz konkret mit der Spekulation mit Rohstoffen, mit Rohstoffderivaten und Rohstofftermingeschäften. Dies will ich Ihnen anhand von fünf Punkten erläutern:
Erster Punkt: Worum geht es überhaupt? Was sind
Rohstoffderivate? Rohstoffe kennen wir alle, die holt
man aus der Erde oder vom Acker. Mit Rohstoffen ist im
Übrigen schon immer gehandelt worden, vom Klafter
Holz in der Antike bis zu den Seltenen Erden, die man
heute braucht, um Handys zu produzieren. Es gab auch
immer schon die Spekulation mit Rohstoffen oder Termingeschäfte mit Rohstoffen: Als Beispiel nenne ich den
Bauern im Mittelalter, der sein Saatgut nicht bezahlen
konnte und dafür dem Saatguthändler versprochen hat:
Ich gebe dir für das Saatgut im Herbst einen Teil meiner
Ernte. - Heutzutage ist es der Stahlproduzent, der eine
feste Lieferverpflichtung gegenüber VW und Audi zu einem gewissen Preis zu erfüllen hat und der heute schon
wissen möchte, was er am Ende des Jahres für Eisenerz
bezahlen muss.
Diese beiden Beispiele haben eines gemeinsam: Erstens werden Verträge über Dinge abgeschlossen, die es
körperlich noch nicht gibt und die noch nicht zur Verfügung stehen. Zweitens sind diese Geschäfte gar nicht so
unvernünftig; denn sie machen wirtschaftlich durchaus
einen Sinn.
Trotzdem machen wir uns Sorgen um den Markt für
Rohstoffderivate. Warum machen wir uns diese Sorgen?
Diese Sorgen machen wir uns deswegen, weil wir einige
alarmierende Entwicklungen sehen. Die erste alarmierende Entwicklung ist die starke Schwankung der Rohstoffpreise. Normal wäre es, dass die Rohstoffpreise steigen, weil es eine erhöhte Nachfrage gibt, weil auf dieser
Welt mehr Menschen leben, die essen und etwas konsumieren wollen. Dass die Preise jedoch stark schwanken,
ist beunruhigend - im Übrigen nicht nur für uns in der
Politik, sondern auch für die mittelständische Wirtschaft,
die ja damit leben muss.
Zweiter Punkt. Wir sehen, dass im Rohstoffderivatebereich eben nicht nur der von mir erwähnte Bauer oder
das Stahlwerk, zusammen mit den Hausbanken, tätig
sind. Nein, wir sehen vielmehr, dass in diesem Bereich
auch Investmentbanken Fuß fassen und sich dort Hedgefonds und Versicherungen tummeln. Wir sehen, dass unglaublich viel Kapital in diesen Bereich hineinfließt und
dass es in dem Zusammenhang immer wieder Empfehlungen gibt: Geht weg von unsicheren Produkten wie
beispielsweise Staatsanleihen und investiert in Rohstoffe!
Das müsste uns zunächst einmal nicht beunruhigen,
und wir könnten sagen: Es ist uns doch egal, was da passiert. Aber wir sind gebrannte Kinder, und zwar deshalb,
weil es auf dem Markt der Finanzderivate zu einer ähnlichen Entwicklung kam. Es gibt einige Parallelen: Man
hat Sicherungsgeschäfte getätigt über Zins und über
Währung. Das geschah aus sehr gutem Grund und war
Anfang der 80er-Jahre auch noch eine tolle Sache.
Dann haben wir jedoch gesehen, dass sich das Volumen dieser Geschäfte verhundertfacht hat. Ein erheblicher Teil der Probleme, zu denen es im Rahmen der Finanzmarktkrise gekommen ist, ist genau auf diesen
Moloch Derivatemärkte zurückzuführen, der mittlerweile das Vielfache des Bruttosozialproduktes der ganzen Welt umfasst und der mit menschlichem Vorstellungsvermögen von den Zahlen her mit all den Nullen
schon gar nicht mehr fassbar ist. Dementsprechend muss
er derzeit von uns mühsam zurückgeführt werden.
Genau diese Probleme wollen wir im Zusammenhang
mit den Rohstoffmärkten vermeiden. Das wollen wir
auch aus einem anderen Grund, nämlich weil Rohstoffe
eine andere Bedeutung haben als Geld. Ich kann gegebenenfalls ohne Geld Stahl produzieren, aber nicht ohne
Eisenerz. Das heißt: Es hängt viel von diesen Rohstoffen
ab. Deswegen führen Rohstoffe auch zu sehr starken
Verwerfungen. Wegen Rohstoffen werden Kriege geführt, beispielsweise im Kongo wegen Coltan. Aufgrund
von Rohstoffspekulationen kommt es zu Hungersnöten
und sozialen Verwerfungen. Ich denke, deswegen ist es
wichtig, dass wir dieses Thema anpacken.
Dritter Punkt: Wie packen wir es an? Welche Möglichkeiten stehen uns offen? Zunächst einmal brauchen
wir Transparenz. Wir müssen wissen, was dort überhaupt passiert. Alles, was ich bislang gesagt habe, beruht
auf Indizien. Es handelt sich um Vermutungen, weil
diese Geschäfte völlig intransparent abgewickelt werden. Deswegen brauchen wir Meldepflichten und Plattformen, über die diese Geschäfte abgewickelt werden.
Weiterhin brauchen wir Regeln für Rohstoffderivategeschäfte, und zwar strenge Regeln, damit wir nicht in
eine Risikosituation hineingeraten, wie das bei den Finanzmärkten der Fall war. Überdies brauchen wir außer
den Regeln noch eine Aufsicht, die die Einhaltung der
Regeln überwacht. Diese Aufsicht muss vor allem kommunizieren, nicht nur im Finanzmarktbereich, sondern
beispielsweise auch mit der Welternährungsorganisation
oder mit anderen Organisationen, die für Rohstoffe zuständig sind.
Schließlich brauchen wir ein Eingriffsinstrumentarium. Die Aufsicht muss auch eingreifen können. Sie
muss sagen können: „Geschäfte in dieser Höhe erlauben
wir nicht“ - da spricht man von Positionslimits - oder:
„Wir untersagen Geschäfte ganz“ oder - letzter Punkt „Wir untersagen missbräuchliche Geschäfte“, zum Beispiel wenn Insiderhandel stattfindet. Ich denke, es gibt
einige Eingriffsmöglichkeiten. Aber einer Eingriffsmöglichkeit wollen wir uns versagen: dem kompletten Verbot von Rohstoffderivategeschäften; denn sie können ich habe es bei meinem Eingangsbeispiel gesagt - durchaus den wirtschaftlichen Nutzen der Absicherung haben.
Wer kann das umsetzen? Am besten natürlich die
G 20, indem sie eine weltweite Regelung findet, bei der
kein Land ausscheren kann. Die Erfahrungen, die wir
mit der G 20 gemacht haben, die sich im Übrigen mit
diesem Thema beschäftigt, ist, dass das erstens lange
dauert und dass zweitens immer wieder irgendwelche
Länder sagen: „Wir machen da nicht mit“. Insofern müssen wir ganz realistisch sein: Wir haben da keine schnellen Ergebnisse zu erwarten.
Die zweite Möglichkeit wäre eine Lösung auf europäischer Ebene. Die Europäische Kommission hat ein
Positionspapier hierzu vorgelegt. Das ist auch ein Aufruf
an die Bundesregierung, daran mitzuarbeiten und sich
einzubringen. Ich denke, wir werden dort einiges auf den
Weg bringen können.
Zur letzten Möglichkeit. Wenn auch das nicht fruchtet
und wir auf europäischer Ebene nichts hinbekommen,
dann müssen wir schauen, was wir auf deutscher Ebene
regeln können. Wir haben das in einigen Fällen durchexerziert. So haben wir im Alleingang die Leerverkäufe
verboten; heute ist das europäischer Standard. Wir haben
ein Gesetz zur Restrukturierung von Banken auf den
Weg gebracht. Heute steht in der Zeitung: Österreich
schreibt das so ab, wie wir es aufgesetzt haben. Das
heißt, es lohnt sich, an der einen oder anderen Stelle voranzugehen. Ich glaube, das Thema ist so wichtig, dass
man das auch hier machen sollte.
Aber es gibt natürlich auch Kritiker, die sagen: Die
Rohstoffderivatemärkte sollten gar nicht reguliert werden, weil Spekulationen und Derivate wichtig sind; denn
sie tragen dazu bei, dass es auf den Märkten eine bessere
Preisfindung gibt, dass Liquidität, dass Angebot und
Nachfrage organisiert werden. Richtig; das wollen wir
auch. Aber wenn wir erkennen, dass die Finanzderivatemärkte ein Volumen von über 600 Billionen US-Dollar
haben, ein Vielfaches des Bruttosozialprodukts, das in
der Welt erwirtschaftet wird - ich habe es eben schon erwähnt -, dann müssen wir ganz ehrlich sagen: Ein so
großes Volumen brauchen wir nicht, damit die richtigen
Preise entstehen und Liquidität in den Markt kommt.
Deswegen sagen wir ganz klar: Es gibt eine Legitimation
dafür, in diese Märkte einzugreifen und sie zu regulieren. Die Argumente der Gegner einer Regulierung an
sich sind an der Stelle zu schwach, als dass ich sie gelten
lassen würde.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erklärt, warum wir das Thema Rohstoffderivate angehen müssen.
Ich habe aufgezählt, mit welchen Instrumenten man das
machen kann. Ich habe Ihnen gezeigt, wer das machen
kann bzw. auf welcher Ebene man das machen kann. Ich
habe auch gesagt, dass es Kritiker gibt, aber dass man
mit den kritischen Argumenten durchaus umgehen kann.
Ich denke, alles in allem ist das Thema wert, dass wir es
angehen. Der Entschließungsantrag, der heute von der
CDU/CSU-Fraktion zusammen mit den liberalen Kollegen vorgelegt wird, ist dabei ein erster Schritt, genauso
wie der Kongress zu diesem Thema, den die CDU/CSUFraktion am Montag zusammen mit den Finanzpolitikern, aber auch mit den Entwicklungspolitikern durchgeführt hat. Diese ersten Schritte sind wichtig, aber es
sind natürlich nicht die abschließenden Schritte; wir sind
nicht am Ende.
({0})
Wir sind sehr gespannt darauf, welche zusätzlichen
Anregungen wir von der Opposition, von der Wissenschaft und auch aus der Praxis bekommen. Ich glaube, es
ist höchste Zeit, dass wir Finanzpolitiker uns mit diesem
Thema beschäftigen, dass wir es angehen. Insofern
freuen wir uns auf eine kritische, konstruktive Diskussion. Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir bei den
Rohstoffderivatemärkten relativ schnell verhindern, was
bei den Finanzderivatemärkten passiert ist. Ich bin optimistisch, dass wir das gemeinsam hinbekommen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Tatsache, dass die Regierungskoalition die Verwerfungen auf den Rohstoffmärkten endlich hier im Deutschen Bundestag thematisiert, muss man schon als Fortschritt bezeichnen. Der Kollege Brinkhaus nennt das
hier „die ersten Schritte“. Das sind späte erste Schritte.
Die Probleme werden schon lange thematisiert. Sie sind
vielfach auch in diesem Hause diskutiert worden; es gab
dazu verschiedene Initiativen. Wir von der SPD-Fraktion
wie auch andere haben dieses Thema schon vor längerer
Zeit angesprochen. Lange hat es gedauert; immer gab es
abwehrende Reaktionen. Jetzt scheint ein gewisser Ruck
durch die Koalition gegangen zu sein. Da kann man nur
sagen: Schwarz-Gelb, bravo! - Das hat aber lange gedauert und wurde wirklich Zeit.
({0})
Ihr Antrag mit der Überschrift „Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren“ weckt große Erwartungen.
({1})
Wenn man ihn sich allerdings genauer anschaut, dann
macht sich - so war es jedenfalls bei mir, Herr Kollege tiefe Enttäuschung breit. Denn ähnlich wie in der Rede
meines Vorredners werden die Probleme hier auf einer
beschreibenden Ebene benannt, und es sind Tausende
von Prüfaufträgen vorgesehen. Es kommt aber nichts
Konkretes. Es sind alles Dinge, die lange bekannt sind.
({2})
Ihr Antrag kommt sehr spät.
Sie greifen viele Verwerfungen auf und wollen erst
einmal die Entwicklung beobachten. Meine Damen und
Herren, Sie sind nicht auf der Vogelwarte eines Naturreservats. Sie regieren. Sie können sich nicht mit Beobachtungen zufriedengeben, sondern müssen an dieser
Stelle handeln.
Ich sage das auch deshalb, weil wir - da will ich aufnehmen, was hier eben gesagt worden ist - Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten wahrnehmen, die nicht
mehr damit zu erklären sind, dass sich Angebot und
Nachfrage auseinanderentwickeln, dass die Nachfrage
zu groß ist, dass es vielleicht realwirtschaftliche Faktoren wie Produktionseinbrüche und Produktionsschwierigkeiten, Naturkatastrophen und anderes gibt. Diese
Einflüsse sind es eben nicht, die dazu geführt haben,
dass es auf den Rohstoffmärkten zu Preisexplosionen, zu
Preisblasen und anderem gekommen ist und immer mehr
Menschen in die Hungersnot getrieben werden, dadurch
allein 40 Millionen im letzten Jahr. Das ist mit realwirtschaftlichen Faktoren nicht mehr zu erklären. In diesem
Zusammenhang möchte ich den Präsidenten der Weltbank, Herrn Zoellick, zitieren, der von einem giftigen
Gemisch aus menschlichem Leid und sozialem Aufruhr
spricht und darauf hinweist, dass es zu Verselbstständigungen auf den Derivatemärkten gekommen ist, die zu
dieser Situation geführt haben.
Es hat Preisexplosionen gegeben. Der Preis für
Grundnahrungsmittel beispielsweise hat sich verdoppelt.
Bei Weizen, Mais, Reis ist es in den Jahren zwischen
2000 und 2011 sogar zu einem Anstieg von über
150 Prozent gekommen. Den Grund dafür hat Kollege
Brinkhaus angesprochen. Allerdings hat er die Verselbstständigung auf diesen Derivatemärkten als Marktentwicklung bezeichnet. 1990 waren wir in der Situation,
dass die Derivatemärkte ein Weltvolumen von 2 Billionen Euro und das reale Weltbruttoinlandsprodukt 20 Billionen Euro umfasst haben; es herrschte also ein Verhältnis von 1 : 10. Im Jahre 2010 waren es 600 Billionen
Euro an Derivaten und 60 Billionen Euro an realem
Weltbruttoinlandsprodukt. Das Verhältnis betrug also
10 : 1. Die Welt ist auf den Kopf gestellt worden, und
das ist auch die Ursache für die Explosion auf den Rohstoffmärkten. Dies müssen wir mit den Regulierungen
auf den Finanzmärkten angehen. Davon sprechen wir
schon lange, aber Sie nehmen das erst jetzt auf - zu spät,
wie ich schon sagte.
({3})
Wenn man sich anschaut, was Sie jetzt prüfen wollen,
dann stellt man fest, dass Sie nichts weiter machen, als
sich in dem Regime zu bewegen, das wir schon kennen
und das aufgrund der Regulierung, die die Europäische
Kommission vorschlagen wird, kommen wird. Da geht
es um die Finanzmarktrichtlinie zur Regulierung des
Wertpapierhandels; MiFID ist angesprochen worden. Sie
sagen, man solle sie nutzen, um die Transparenz auf den
Märkten zu erhöhen. Richtig! Aber was heißt das konkret? Sind Sie bereit, sehr schnell Maßnahmen zu ergreifen, damit wir zentrale Verrechnungsstellen für die Bereiche einrichten, die neben den Börsen und im Schatten
von wichtigen wirtschaftlichen Ereignissen bestehen?
Das sagen Sie nicht konkret. Sie sprechen davon, dass
das Entstehen von Preisblasen eingeschränkt werden
soll. Wie wollen Sie das machen, meine Damen und
Herren? Auch darauf finden wir keinen Hinweis. Bei
Agrarderivaten fällt Ihnen wirklich nichts Besseres ein,
als die Bundesregierung aufzufordern, zu prüfen. Ich
sage es noch einmal: Das ist zu spät.
({4})
- Diese Entwicklung ist in den letzten elf Jahren vorangeschritten, aber man hat das erst mit Ausbruch der
Finanzkrise gemerkt, Herr Kollege.
({5})
Ich will deutlich sagen: Es war der sozialdemokratische
Finanzminister Peer Steinbrück, der in Pittsburgh mit
deutlichen Worten vorangegangen ist.
({6})
Seit 2009 regieren Sie. Sie schaffen an dieser Stelle
überhaupt nichts. Ihre Krakeelerei drückt Ihre Armseligkeit aus; sie zeigt nämlich, dass Sie keine Argumente
haben. So kommen Sie nicht weiter.
({7})
Herr Kollege, möchten Sie die Zwischenfrage des
Kollegen Heiderich zulassen? - Bitte schön.
Herr Kollege Sieling, ist Ihnen bekannt, dass die Bundeskanzlerin schon beim G-8-Gipfel ein Programm auf
den Weg gebracht hat, um die Spekulationen auf den
Agrarmärkten einzudämmen? Ist Ihnen dieses Programm bekannt? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass
wir bereits gehandelt haben und dass ein Teil der Lösung, nämlich erst einmal Transparenz auf den Märkten
zu schaffen, bereits existiert? Insofern agieren wir nicht
erst heute, sondern schon seit geraumer Zeit.
Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege. Das ist mir
sehr wohl bekannt, und nicht nur mir.
({0})
Dieses Thema wird seit Jahren, allerspätestens zum jetzigen Zeitpunkt intensiv diskutiert: in der Öffentlichkeit,
auf internationalen Plattformen und auch hier im Hause
aufgrund verschiedener Aktivitäten und Anträge. Wir
sind überrascht und auch entsetzt darüber, dass die Koalition erst jetzt aufwacht. Sie hätten schon viel weiter
sein können, wenn Sie sich in diesem Punkt von der
Kanzlerin hätten mitschleppen lassen.
({1})
Ich frage mich: Warum kommen Sie erst jetzt mit Ihren
Prüfaufträgen? Warum dackeln Sie erst jetzt hinterher?
Das zeigt nur: Diese Koalition ist nicht handlungsfähig
und nicht in der Lage, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
({2})
- Herr Kollege, es ist natürlich immer dasselbe, weil das
Elend mit Schwarz-Gelb immer dasselbe ist.
({3})
Das ist die Ursache. Verwechseln Sie nicht Ursache und
Wirkung.
Muss das eigentlich so laut sein, Frau Präsidentin?
({4})
Das muss nicht so sein. Sie sind aber auf jeden Fall
lauter; für Sie haben wir das Mikrofon angestellt.
Das nutze ich auch für mich. Ich bedanke mich.
Ich möchte zum Schluss sagen,
({0})
dass ich es natürlich nicht versäumt habe, mir anzuschauen, was Herr Rösler in den letzten Tagen vorgelegt
hat. Auch dies ist ein Dokument in dem bereits genannten Sinne: eine Aufzählung von bekannten Allgemeinplätzen. Die Bereitschaft, zu handeln, fehlt. Nehmen Sie
sich endlich der Entwicklung auf den Derivatemärkten
an, und ergreifen Sie entsprechende Maßnahmen! Ich
frage mich, warum Sie zu den vielen Vorschlägen, die es
gibt, nichts Konkretes sagen. Warum ergreifen Sie nicht
die Gelegenheit beim Schopf und schlagen uns die Einführung eines wesentlichen Instruments vor?
({1})
Warum sprechen Sie sich nicht für die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer zur Beschränkung der Finanzmärkte aus?
({2})
Ich hoffe, die nächsten Redner haben trotz der FDP den
Mut, das zu sagen.
({3})
Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Tat ist dieses Thema von außerordentlicher Wichtigkeit, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist die Rohstoffversorgung von elementarer Bedeutung für die deutsche Wirtschaft. Die Industrie muss mit
Rohstoffen versorgt werden. Die Industrie produziert
Güter und schafft damit überhaupt erst die Möglichkeit,
dass sich der Arbeitsmarkt im tertiären Sektor so wahnsinnig gut entwickelt, wie er sich in der Vergangenheit
entwickelt hat. Rohstoffe sind die Grundlage für jedes
erfolgreiche Wirtschaften, für jede Form von Wirtschaftswachstum. Deswegen haben sie eine große Bedeutung für Deutschland.
Zum anderen gibt es Rohstoffe, die wir alle zum Leben brauchen, nämlich die Lebensmittel. Deshalb erfährt
dieses Thema eine besondere Beachtung. Es wird von
den Menschen in besonderer Art und Weise wahrgenommen, weil es ihr unmittelbares Lebensumfeld betrifft.
Dieses Thema ist daher moralisch-ethisch aufgeladen.
Dieser Bereich ist nicht grau, vielmehr bunt, auf gar
keinen Fall aber schwarz-weiß. Rohstoffderivatgeschäfte
sind wichtig für die Realwirtschaft; denn sie hat ein Interesse daran, sich gegen Risiken abzusichern. Der Hersteller von Pommes frites zum Beispiel möchte das
ganze Jahr über Pommes frites anbieten, und zwar in
gleichbleibender Qualität und - das ist auch aus Sicht
der Verbraucher wichtig - zu einem gleichbleibenden
Preis. Deswegen versucht er, sich Kartoffeln möglichst
frühzeitig zu sichern. Dazu nutzt er ein Derivat. Insofern
haben Derivate eine wichtige Funktion auf diesem
Markt.
Preisschwankungen hat es bei Rohstoffen schon immer gegeben, weil Rohstoffmärkte von verschiedenen
Faktoren beeinflusst werden. Da ist zum einen die
Knappheit des Gutes. Es kommt darauf an, wie man an
das Gut herankommt. Das ist teilweise relativ aufwendig. Das wird klar, wenn wir zum Beispiel an den Bergbau denken. Wir haben Unwägbarkeiten: Wenn eine
Grube verschüttet ist, steht sie erst einmal nicht zur Verfügung. Das bedeutet, dass es sofort zu einer Verknappung des Gutes und in der Folge zu einer Preisschwankung kommt. Auf den Agrarmärkten hat man mit dem
Bevölkerungswachstum zu kämpfen und nicht zuletzt
mit dem Wetter und der politischen Lage in den jeweiligen Fördergebieten, die bezogen auf einige Märkte außerordentlich heikel ist.
Die Finanzinvestoren, die auf diesen Märkten unterwegs sind, werden benötigt; denn irgendjemand muss
das Risiko übernehmen. Nicht immer hat man eine entsprechende Gegenpartei zur Verfügung. Das heißt, man
braucht jemanden, der bereit ist, zu sagen: Okay, ich
nehme dieses Risiko auf mich. - Das kennen wir beispielsweise von den Buddenbrooks. In dem großen Roman von Thomas Mann hat Thomas Buddenbrook die
Jahresernte von Gut Pöppenrade zum halben Preis „auf
dem Halm“ gekauft und damit Schiffbruch erlitten, weil
es einen Hagelschlag gegeben hat. Buddenbrook hat als
Spekulant das Risiko auf sich genommen. In diesem Fall
war das positiv für den Gutsbesitzer; denn er hatte für
seine Ernte zumindest den halben Preis erzielt.
Wir beobachten - auch das ist richtig -, dass Finanzinvestoren zunehmend auf Rohstoffmärkte ausweichen.
Diese Entwicklung kann man durchaus erklären: Die Finanzinvestoren weichen von den stärker regulierten
Märkten auf einen Markt aus, von dem sie den Eindruck
haben, dass er noch nicht so stark reguliert ist. Man muss
sagen: Auch das ist nicht zuletzt ein Erfolg der Regulierungsbemühungen dieser Bundesregierung und der sie
tragenden Koalitionsfraktionen.
({0})
Wir wollen diese „Finanzialisierung“ der Rohstoffmärkte, wie es heißt, an dieser Stelle aber nicht. Wir
möchten, dass die Rohstoffmärkte ganz normal, von den
natürlichen Preisschwankungen getrieben werden. Sie
sollen einen realwirtschaftlichen Hintergrund haben und
von den natürlichen Faktoren beeinflusst werden. Diese
Finanzialisierung kann die Schwankungen verstärken.
Das genau wollen wir nicht.
Was wir auch nicht wollen, sind entsprechende Preisobergrenzen im Bereich der Landwirtschaft - das ist ein
Instrument, das immer wieder ins Spiel gebracht wird -;
denn wenn man eine Preisobergrenze festsetzt, muss
man natürlich auch eine Preisuntergrenze festsetzen, sozusagen einen Mindestpreis einführen. Das wäre ein
Eingriff in den Markt, den wir an dieser Stelle nicht wollen.
Mit dem vorliegenden Antrag sollen die Bemühungen
der Bundesregierung unterstützt werden. Er liefert Argumente und zielt darauf, dass der Deutsche Bundestag
seinen politischen Willen zum Ausdruck bringt. Die
Maßnahmen, die die Bundesregierung auf G-20- und
EU-Ebene bereits angestoßen hat, sollen weiter in die
richtige Richtung vorangetrieben werden.
Wir schlagen ein Bündel von Maßnahmen vor, mit
denen wir die Fehlentwicklungen in den Griff bekommen können. Die Transparenz ist ein ganz scharfes
Schwert;
({1})
denn der Spekulant scheut das Licht. Eine Spekulation
ist nur dann erfolgreich, wenn Sie über Wissen verfügen,
das nur Sie haben. Nur dann können Sie Gewinne machen. Daneben haben wir die Positionslimits. Auch das
ist ein Mittel, um Spekulationspositionen zu vermeiden.
Wir wollen eine verstärkte Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden bei allen Märkten, um einen Überblick
zu haben, wie sich ein Markt entwickelt, und Fehlentwicklungen zielgerichtet unterbinden zu können. Darüber hinaus greift der Antrag den Hochfrequenzhandel
auf - es ist richtig, dass dies getan wird - und verortet
ihn als einen Bereich, der einer Regulierung bedarf.
Auch hier unterstützen wir die Bundesregierung in ihren
Bemühungen, diesen Bereich einer Regulierung zuzuführen. Die Hochfrequenzhändler sollen unter Finanzaufsicht gestellt werden, und den Börsenbetreibern sollen weitere Mittel an die Hand gegeben werden, um
gegebenenfalls einzuschreiten.
({2})
Unter dem Strich geht es in dem Antrag um Folgendes: Wir unterstützen die bereits getroffenen Maßnahmen der Bundesregierung sowie die von ihr mitgetrage19604
nen Maßnahmen auf EU-Ebene und auf G-20-Ebene.
Wir als Deutscher Bundestag dokumentieren hier unseren Willen, die Bundesregierung bei der Umsetzung der
Maßnahmen, die bereits getroffen wurden, weiterhin zu
unterstützen. Es ist ein sehr guter Antrag. Man kann ihm
zustimmen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ulla Lötzer hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich müssen wir in diesem Zusammenhang über die
Rolle der Finanzmarktakteure und der neuen Finanzinvestoren auf den Rohstoffmärkten reden. Sie haben zwischen 2003 und 2008 ihre Investitionen in die Rohstoffmärkte von 13 Milliarden Euro auf 200 Milliarden Euro
erhöht; inzwischen haben sie diese Summe verdoppelt.
Die Deutsche Bank ist einer der wichtigsten Spieler in
diesem Derivatemarkt. Sie hat knapp 5 Milliarden USDollar direkt in Agrarrohstofffonds und knapp 3,6 Milliarden US-Dollar in Energiefonds investiert, 45 eigene
Rohstofffonds aufgelegt und beschäftigt in diesem Bereich 250 Fachleute in 21 Städten. Sie wollen mir doch
nicht im Ernst sagen, dass dies mit einer Absicherung
gegen Preis- und Währungsschwankungen bei Realgeschäften zu tun hat. Das hat mit Spekulationen und Milliardengewinnen zu tun.
({0})
Der Agrarfonds der Deutschen Bank gilt als weltweit
größter. Es geht aber nicht nur um Spekulationen. Diese
Anleger sind zusammen mit den fünf bis sechs großen
Bergbaukonzernen, den Rohstoffhändlern wie Glencore
und den Agrarmultis verantwortlich für Hungersnöte,
Landgrabbing, skandalöse Arbeits- und Umweltbedingungen beim Abbau von Rohstoffen in Entwicklungsländern und, wie es in Ihrem Ressourceneffizienzprogramm heißt, für 18 Kriege, die durch Konflikte um
Rohstoffe verursacht werden. Deshalb sind diese Debatte und entsprechende Maßnahmen dringend erforderlich. Es ist schön, dass jetzt auch Schwarz-Gelb dieses
Thema aufgreift und einen Vorschlag macht; besser spät
als nie. Aber die Maßnahmen, die Sie treffen, sind in
jeglicher Hinsicht völlig unzureichend.
Erstens. Sie sind nicht, wie hier eben dargestellt, der
Treiber auf der Ebene der G 20, wenn es um die Begrenzung geht, sondern eher der Bremser. Bei Agrarrohstoffen und sogenannten Konfliktmetallen sind zum Beispiel
selbst die USA weiter. Sie treffen Maßnahmen, die die
Bundesregierung ablehnt. Dort wurde beispielsweise das
Vorsichtsprinzip eingeführt. Das heißt, dass Behörden
aufgefordert sind, exzessiver Spekulation vorzubeugen.
Das fehlt bei Ihnen völlig. In den USA wurde bereits
2010 festgelegt, dass börsennotierte Unternehmen und
deren Zulieferer der Aufsichtsbehörde Rechenschaft
über die Herkunft bestimmter Konfliktrohstoffe und damit zusammenhängender Zahlungsströme ablegen müssen. Die Einführung einer solchen Vorschrift auf europäischer Ebene verweigert die Bundesregierung.
Zweitens. Der europäische Vorschlag sieht zumindest
Obergrenzen für die Zahl der abgeschlossenen Verträge
vor, die einzelne Händler eingehen können, sogenannte
Positionslimits. Sie wollen das jetzt mit alternativen Regelungen, über die Sie sagen, sie hätten eine gleichwertige Wirkung, aufweichen. Das wäre wieder das perfekte
Schlupfloch für die Finanzindustrie, die ihre Lobbytätigkeit seit Wochen in diese Richtung konzentriert.
Drittens. Sie ziehen keine Konsequenz aus Ihrer Analyse des Hochfrequenzhandels. Dieser wird durch eigenständig handelnde Hochleistungscomputer auf Basis
elektronisch erhaltener Marktinformationen betrieben.
Wegen der großen Menge lassen sich hier mit minimalen
Kursdifferenzen Milliardengewinne erzielen. Das hat
nichts, aber auch gar nichts mit einer Absicherung gegen
Preisänderungen oder Wechselkursrisiken bei realen Geschäften zu tun. Deshalb gehört der Hochfrequenzhandel
wie andere außerbörsliche Geschäfte ganz einfach verboten und nicht nur registriert.
({1})
Viertens. Sie machen keine konkreten Vorschläge zur
Erhöhung der Transparenz bezüglich Rohstoffhändlern,
-investoren und -produzenten. Das wäre aber neben der
Beschränkung der Spekulation äußerst dringend.
Die FDP meinte bei einer Anhörung Anfang Februar
dieses Jahres, dass die Regierungen der Entwicklungsländer selbst die Verantwortung dafür hätten, transparente Rohstoffwertschöpfungsketten aufzubauen. Ich bestreite sicherlich nicht, dass es in dem einen oder
anderen Land schwache Regierungsstrukturen und Korruption gibt. Aber auch Sie wissen, dass die Rohstoffmärkte durch mächtige transnationale Konzerne und inzwischen auch durch Finanzinvestoren außerordentlich
vermachtet sind.
Es gibt viele Beispiele dafür, dass lateinamerikanische Länder die Rohstoffförderung aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit diesen skrupellosen Konzernen in
die eigene Hand nehmen wollen oder zumindest hohe
Konzessionszahlungen oder Steuern verlangen. Dann
aber werden sie wegen Wettbewerbsverzerrung vor die
WTO gezerrt. Der freie Zugang zu billigen Rohstoffen
ist Ihnen wichtiger als Umwelt- und Sozialstandards, die
Entmachtung der Konzerne und Finanzmarktakteure
oder die Verhinderung von Spekulation.
Kurzum: Sie schützen nicht die Produzenten und Unternehmen, die realwirtschaftliche Risiken absichern.
Erst recht nicht schützen sie die Menschenrechte. Sie
sorgen auch nicht für Konfliktfreiheit in Rohstofffragen.
Sie sind die Bremser. Wenn Sie tatsächlich etwas tun
wollen, dann müssen Sie endlich von dieser Bremse gehen, auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene.
Vielen Dank.
({2})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass uns dieser Antrag vorliegt, ist grundsätzlich zu begrüßen. Die Fragen sind bloß: Was steht eigentlich Substanzielles drin? Ist das dem Problem wirklich angemessen? Herr Brinkhaus hat gerade gesagt, wir müssten im
Hinblick auf Rohstoffderivate das verhindern, was bei
Finanzderivaten passiert ist. Diesem Satz kann ich nur
zustimmen. Man muss aber darauf hinweisen, dass die
jüngsten Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten
sehr viel damit zu tun haben, dass die Europäische Zentralbank gerade viel zusätzliche Liquidität in den Markt
gibt und dies notwendig geworden ist, weil die Bundesregierung das Problem mit ihrer Krisenpolitik nicht in
den Griff bekommen hat. Das ist ein Teil der unangenehmen Wahrheit.
({0})
Konkret zu Ihrem Antrag. Sie fordern erstens die konsequente Umsetzung der von den G 20 beschlossenen
Maßnahmen. Das klingt knackig. Aber Sie weichen
diese Forderung wieder auf. Ich will das deutlich machen: Die G 20 haben beschlossen, dass konkrete Exante-Positionslimits eingesetzt werden und die Regulatoren über diese verfügen sollten. Was steht in Ihrem Antrag? Es sollen Alternativen zu starren Ex-ante-Limits
intensiv geprüft werden. Die harten Regeln, die die G 20
festgelegt haben, wollen Sie offensichtlich nicht mehr.
({1})
Daran sieht man, dass hinter Ihren knackigen Worten an
manchen Stellen im Endeffekt eine Aufweichung der
G-20-Positionen steht.
({2})
Das zweite Beispiel hört sich sehr interessant an. Sie
wollen, dass angemessene Eingriffsinstrumente eingeführt werden und die Transparenz erhöht wird. In Punkt
2 c Ihres Antrags heißt es, man müsse den legitimen Absicherungsinteressen der Realwirtschaft angemessen
Rechnung tragen. Wer die entsprechende Debatte in den
USA verfolgt hat, weiß: Dort ist nicht darüber geredet
worden, dass die Interessen der Finanzindustrie eingeschränkt werden könnten. Dort hat man vielmehr ganz
gezielt die realwirtschaftlichen Unternehmen vorgeschickt. Dadurch wurde die knackige Regulierung im
Hinblick auf Derivate im Endeffekt verhindert.
Wenn Sie hier nicht klarmachen, was Sie mit einer angemessenen Berücksichtigung der Realwirtschaft meinen, dann befördern Sie, dass es nachher weicher wird
als eigentlich gedacht. Wenn Sie diesen Interessenkonflikt nicht klar offenlegen, dann sagen Sie nicht, was Sie
wollen. Dann sind die Überschriften, die Sie liefern,
nicht viel wert.
({3})
Ich möchte ganz konkret auf einen Schwerpunkt eingehen, den wir in dieser Debatte legen. Dies betrifft die
Frage der Agrarrohstoffe. Herr Sänger hat gesagt, diese
Debatte sei manchmal moralisch-ethisch aufgeladen. Da
hat es mich schier vom Stuhl gerissen. Die Debatte ist
nicht aufgeladen, sondern es ist eine ethische Debatte.
({4})
Wenn in Deutschland oder in Europa Menschen in
Produkte investieren und davon profitieren, wenn der
Preis für Weizen steigt, und wenn auf der anderen Seite
der Erde der Preis für Weizen steigt und deswegen Menschen Schwierigkeiten haben, ihren Hunger zu stillen,
dann ist das eine ethische Frage, und die muss man beantworten.
({5})
Was steht dazu in Ihrem Antrag? Sie treten lediglich
dafür ein, für Agrarderivate zusätzliche und strengere
Regulierungsmaßnahmen zu „prüfen“.
({6})
Wir haben bereits einen Antrag vorgelegt, den Sie
abgelehnt haben. In diesem Antrag haben wir etwas
Konkretes dazu vorgeschlagen. Wir haben in diesem Antrag vorgeschlagen, Finanzinstituten soll untersagt werden, in physische Agrarrohstoffe zu investieren; denn
wir müssen das trennen vom Markt für Finanzderivate.
Banken sollen natürlich nach wie vor mit Finanzderivaten handeln müssen. Der Rohstoffbereich muss aber
davon getrennt werden, damit die „Finanzialisierung“,
die Sie beklagen, wirklich zum Halten kommt. Ohne
diese Schneise werden Sie das Phänomen, das Sie beklagen, nicht stoppen. Den Antrag, den wir dazu gestellt
haben, haben Sie aber abgelehnt. Offensichtlich haben
Sie ein Problem damit.
({7})
Außerdem sind wir der Meinung, indirekte Investitionen über Derivate in Agrarrohstoffe sollen untersagt
werden. Wir sagen: Mit Essen spielt man nicht.
({8})
Ich will ein konkretes Beispiel nennen. Um einmal
nicht die Deutsche Bank zu zitieren, habe ich mir angebotene Produkte noch einmal angeschaut und ein Produkt der Royal Bank of Scotland ausgewählt, nämlich
ein Open-end-Zertifikat auf Weizen. Solche Produkte
werden im Internet und an anderen Stellen schön beworben: Profitieren Sie von der rasanten Preisentwicklung
von Agrarrohstoffen. Dies ist eines der Produkte, bei
dem Sie das tun können.
Wir halten es ethisch aber nicht für richtig, die Preise
von Produkten in die Höhe zu treiben, die die Lebensgrundlagen von anderen Menschen sind. An dieser Stelle
sind wir für Verbote auf Finanzmärkten. Wir meinen, in
diese Richtung sollte die Bundesregierung auch hier in
Deutschland tätig werden, aber nicht nur einen Marketingantrag hier vorlegen.
Vielen Dank.
({9})
Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Beiträge der Opposition waren nicht wirklich sehr hilfreich in einer doch sehr wichtigen Debatte
zu einem sehr wichtigen und bewegenden Thema, das
aus ethischen Gründen zu diskutieren ist, Herr
Dr. Schick. Wir sind Menschen - das gilt wahrscheinlich
für viele in diesem Haus -, die aus einer christlichen
Motivation heraus Politik machen für die Menschen in
der Verantwortung für unser Land, für Europa,
({0})
aber auch für die ganze Welt, ja, auch für die ganze Welt.
({1})
Deswegen müssen wir hier Regelungen finden, die
angemessen sind. Das Thema ist aber nicht so einfach
abzugreifen, wie Sie es angesprochen haben, Herr
Dr. Schick. Ich glaube, man muss auch hier in die Verästelungen der Thematik schauen. Einfach Dinge zu verbieten - das hatte der Kollege Brinkhaus angesprochen -,
das kann man aufgrund der weltweiten Komplexität der
Materie nicht.
({2})
Wir sind dabei, Regelungen zu finden. Herr
Dr. Sieling, Ihre Rede war diesem Thema nicht angemessen. Sie beschuldigen uns, wir würden Dinge auf die
lange Bank schieben.
({3})
Sie waren jedoch auch einmal an der Regierung und
haben das Thema nicht angepackt. Wir sind dabei, einen
großen Strauß von Themen zu bearbeiten, den Euro zu
retten und vieles mehr richtig anzugehen und verlässliche Entscheidungen für die Menschen auf den Weg zu
bringen. Dazu gehört auch der Rohstoffhandel. Wir müssen Lösungen für die Menschen finden, die angemessen
und praktikabel sind. Das geht halt nicht mehr allein bezogen auf Deutschland, sondern das geht nur europaweit
bzw. weltweit.
({4})
Deswegen ist die Bundeskanzlerin dabei, auf der Ebene
der G 20 darüber zu verhandeln. Auf der europäischen
Ebene sind wir dabei, diese auf der Ebene der G 20 ausgehandelten Dinge umzusetzen. Das dauert einfach. Hier
brauchen wir auch die Unterstützung des ganzen Hauses.
Ich glaube, wir sind uns in der Stoßrichtung einig,
dass etwas getan werden und man verlässliche Lösungen
finden muss. Der Populismus, den Sie hier an den Tag
gelegt haben, Herr Sieling, gehört aus meiner Sicht nicht
wirklich dazu.
({5})
- Na ja, wir machen hier kein Marketing, sondern verlässliche Politik für die Menschen in Deutschland und in
der Welt. Ich habe ja vorhin versucht, das anzusprechen.
Prinzipiell sind Termingeschäfte im Rohstoffbereich
nicht allgemein zu verteufeln. Sie dienen sowohl den
Produzenten von Rohstoffen als auch den realwirtschaftlichen Unternehmen als Instrument zur Absicherung vor
Preisrisiken. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass
Rohstoffderivate auch für spekulative Zwecke eingesetzt
werden. Diese Spekulationen müssen wir verhindern;
denn es darf nicht sein, dass hier Fehlentwicklungen auftreten. Hier müssen gezielte Regulierungsmaßnahmen
eingefordert werden.
Fehlende Liquidität und mangelnde Absicherung sind
Auswirkungen und können vor allem auf den Märkten
zu schweren Verwerfungen führen. Wir als Bundesrepublik Deutschland haben in unserem Land nicht unbedingt sehr viele Rohstoffe. Deswegen ist für uns der
Rohstoffhandel natürlich wichtig. Wie vorhin schon
angesprochen, gehört auch eine effiziente Regulierung
auf die Tagesordnung unseres politischen Handelns.
Die Transparenz ist eines der großen Themen, die wir
hier ansprechen müssen. Es muss eine Aufsicht geben,
die die Fehlentwicklungen sehr frühzeitig erkennt. Preisübertreibungen auf den Terminmärkten müssen eingedämmt werden. Eine solide Informationsbasis beschränkt darüber hinaus auch die Gefahren von Marktmissbrauch. Die Europäische Kommission hat bereits in
ihrem Vorschlag zur Überarbeitung der MiFID konkrete
Vorschläge zur Verbesserung der Transparenz gemacht.
Die Transparenz ist aber nur ein Schritt für eine erfolgreiche Regulierung. Damit die Aufsichtsbehörden
gegen Fehlentwicklungen effektiv vorgehen können,
brauchen sie die nötigen Eingriffsbefugnisse. Im
Rahmen der MiFID soll es hierzu die Möglichkeit zur
Verhängung von Positionslimits geben.
Weitere wichtige Bestandspunkte unseres Antrags
sind die strengere Regulierung des Hochfrequenzhandels, die Verbesserung der Aufsicht, die Prüfung strengerer Regeln für Agrarderivate und striktere Marktmissbrauchsregelungen für Rohstoffderivate. Meine sehr
geehrten Damen und Herren der Linken, wir arbeiten
also schon daran, die Themen, die Sie angesprochen haben, umsetzen zu können.
({6})
Die Spekulationen mit Rohstoffen, gerade im Nahrungsmittelbereich, halte ich für bedenklich. Wir, die
christlich-liberale Koalition, setzen uns daher für eine
effektive Regulierung der Rohstoffderivatemärkte ein.
Wir fordern eine rasche Umsetzung der Regeln auf europäischer Ebene. Das Wohlergehen der Menschen, meine
sehr geehrten Damen und Herren in diesem Hohen
Hause, muss Ziel unseres Handelns sein.
Kollege Brinkhaus hat es angesprochen: Wir haben in
dieser Woche einen sehr interessanten Kongress der
Fraktionen gehabt, auf dem auch der Bundesfinanzminister gesprochen hat. Er hat eine sehr wichtige Äußerung gemacht, die wir alle uns als Handlungsrahmen
geben sollten. Er sagte: Wir müssen die Manipulationsrisiken auf diesen Märkten verringern. Wenn wir dem
Treiben tatenlos zusehen, haben wir aus der Finanzkrise
nichts gelernt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Schlüsse aus
der Krise, die wir im Moment bewältigen, ziehen können, auch in diesem Bereich. Wir leben in einem Land,
in dem die Menschen darauf vertrauen, dass die Politik
die Dinge verantwortungsvoll umsetzt und dass wir dem
Handlungsrahmen folgen: unserem Grundgesetz und der
Wirtschaftsordnung, die wir uns gegeben haben, nämlich
der sozialen Marktwirtschaft.
Es gilt hier, dass Regelungen getroffen und Grenzen
gesetzt werden. Dies gilt auch in Bezug auf den Rohstoffhandel. Das darf aber nicht nur in unserem Land,
sondern muss auch auf europäischer Ebene und weltweit
passieren. Deswegen sollten wir gemeinsam daran arbeiten, dass wir Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung
in unserem Land, in Europa und weltweit sichern können.
Deswegen bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag; denn nur gemeinsam können wir verlässlich Politik
für die Menschen in unserem Land und auf dieser Welt
machen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat Lothar Binding das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen waren enttäuscht darüber, dass wir den Antrag nicht
rundum gut finden; denn die Überschrift finden wir
rundum gut. Was erwartet man unter der Überschrift
„Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren“? Man hat
schließlich seine Erwartungen, und als Opposition erwartet man auch konkrete Vorschläge.
Wir finden aber nichts zur Finanztransaktionsteuer.
Wir finden nichts zum Trennbankensystem. Wir finden
nichts dazu, wie Handelsplattformen organisiert werden
müssen, um graue und schwarze Märkte in den Griff zu
bekommen. Wir finden nichts dazu, wie Sie zwischen
spekulativem und notwendigem Hedging unterscheiden
wollen. Man merkt: Wir finden nichts Konkretes.
Herr Brinkhaus wollte uns erklären, wie das Thema
angepackt werden muss. Im Antrag finden wir das Stichwort „Transparenz“. Transparenz funktioniert immer
und überall; deshalb funktioniert es letztlich nirgends.
({0})
Im Antrag ist von angemessenen Eingriffsinstrumenten die Rede. Grundsätzlich sind wir sofort dafür, aber
wir müssen auch wissen, was das konkret ist. Sie wollen
den legitimen Absicherungsinteressen angemessen
Rechnung tragen. Schon wieder heißt es „angemessen“.
Wir wollen doch alle angemessene Politik machen. Das
muss man so nicht aufschreiben.
Sie wollen strengere Regulierungsmaßnahmen. Die
wünschen wir uns auch. Aber wie wollen Sie vorgehen?
Wollen Sie irgendetwas Spezielles verbieten, oder haben
Sie Ideen? Nein. Es bleibt im Abstrakten und Allgemeinen. Das macht die Sache kompliziert.
Wir haben schon viel über Ethik gehört. Vielleicht
können wir die Moral noch dazunehmen. Die Agrarmärkte sind total unter Druck. Agrarmärkte heißt auch:
Weizen, Mais und Sojabohnen. Wir wissen genau: Die
Volatilität, also die Schwankungsbreite, der Preise im
Zeitverlauf führt dazu, dass die Preise kontinuierlich
steigen. Die kontinuierliche Preissteigerung hat etwas
mit kontinuierlicher Gewinnzunahme zu tun. Die kontinuierliche Gewinnzunahme hat etwas damit zu tun, dass
immer mehr Menschen ärmer werden. Deshalb wollen
wir etwas dagegen tun.
({1})
Das kommt daher, dass Finanzinvestoren nicht nur
von den Preisschwankungen profitieren, nein, sie erzeugen sie auch. Deshalb muss man genau da ansetzen, Arbitragegeschäfte auf dieser Ebene zu verbieten. Diesen
Mut muss man haben. Das widerspricht natürlich jedem
neoliberalen Konzept, demzufolge klar ist: Die Märkte
reinigen sich selbst. Genau diese Ideologie müssen wir
durchbrechen. Das merkt man Ihrem Antrag nicht an.
Das hätten wir uns als Opposition aber gewünscht, weil
es in diesen Märkten ein starkes Herdenverhalten gibt.
So schaukeln sich die Preise auf.
Lothar Binding ({2})
Wir wissen: Es gibt Schwarmintelligenz. Wir haben
aber auch gelernt: In diesen Märkten gibt es noch mehr
Schwarmdummheit.
({3})
Deshalb glaube ich, wir müssen den strengen, monotonen Preisgestaltungen durch diese Menschen oder sogar
Preisgestaltungen, die durch automatische Investitionsentscheidungen entstehen, begegnen. Denn sowohl bei
den Preissteigerungen machen Menschen Gewinne als
auch dann, wenn die Preise sinken. Wenn wir Pech
haben und es nur dumm genug anstellen, dann zahlt hinterher der Steuerzahler zuerst den Gewinn des einen und
dann den Gewinn des anderen.
Wenn man diese Mechanismen nicht aufbricht, dann
läuft der Antrag ins Leere. Mit dem Abstraktionsniveau,
auf dem Sie Ihren Antrag formuliert haben, haben wir,
glaube ich, noch keine Instrumente, um die Verteuerung
spekulativer Transaktionen, eine Verlangsamung der
Handelsfrequenz und eine Verlängerung der Assethaltefristen zu erreichen und um letztendlich bestimmte notwendige Hedgefunktionen in der Realwirtschaft zu erhalten.
Wir wissen alle: Hedging an sich ist nicht böse, aber
so, wie es heute betrieben wird, ist es sehr oft schädlich
und vergrößert die Armut in der Welt.
Ich glaube, dass es nicht nur um Finanzpolitik geht.
Ich will nur einen Aspekt erwähnen. Es geht auch
darum, Handelsplätze zu koordinieren. Dazu braucht
man eine funktionierende Außenpolitik. Wenn wir uns
so dilettantisch aufstellen und weiterhin eine solche
Außenpolitik betreiben, dass das Misstrauen gegenüber
Deutschland zunimmt, dann kann der Finanzminister
international keine diplomatische Plattform finden, auf
der er das verabredet.
Wir müssen deshalb eine Außenpolitik höherer Qualität erreichen. Wenn wir das schaffen, dann können wir
eine bessere Finanzpolitik machen.
Vielen Dank.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8882 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen - Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten - Einfluss der Beschäftigten stärken
- Drucksache 17/8880 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu
eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Sabine
Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei Schlecker sollen 11 750 Arbeitsplätze abgebaut werden. Es sind vor allen Dingen Frauenarbeitsplätze. Viele Frauen sind alleinerziehend und viele jenseits der 50. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich
die Kolleginnen und Kollegen von Schlecker begrüßen,
die heute „ihre“ Debatte verfolgen. Herzlich willkommen!
({0})
Ich denke, ich spreche in eurem Namen, wenn ich sage:
Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung den
Schlecker-Beschäftigten bisher kein klares Signal gegeben hat.
({1})
Es geht hier um die nackte Existenz der Kolleginnen und
Kollegen sowie ihrer Familien. Wir können doch nicht
zulassen, dass so viele Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut werden.
({2})
Die Linke sagt klar: Die Politik trägt eine Mitverantwortung. Sie alle hier, die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP, haben die Gesetze gemacht, die es einem Herrn Schlecker erlauben,
ein Unternehmen mit Milliardenumsätzen nach Gutsherrenart zu führen.
({3})
Sie alle haben auch durch die Gesetzeslockerungen etwa
bei den Ladenöffnungszeiten dazu beigetragen, einen
brutalen Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel anzuheizen und eine Spirale nach unten in Gang zu setzen.
({4})
Die Politik kann sich also nicht aus der Verantwortung
stehlen. Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben am
Wochenende verlauten lassen, es seien 20 000 offene
Stellen im Einzelhandel vorhanden. Sie haben aber vergessen, zu erwähnen, dass es zugleich 300 000 arbeitslose Menschen in dieser Branche gibt. Wie soll das denn
der Markt regeln?
Offen bleibt auch, welchen Beitrag die Bundesregierung wenigstens für eine mögliche Transfergesellschaft
leisten will. Hier brauchen wir schnell klare Antworten.
({5})
Es drängt sich im Übrigen der Verdacht auf: Dieser Regierung sind Frauenarbeitsplätze weniger wert, und das
heute, am 8. März.
({6})
Die Linke legt heute einen Antrag zur Rettung der Arbeitsplätze bei Schlecker vor. Es geht um die Beschäftigten. Es geht nicht um Anton Schlecker. Er hat dieses Desaster maßgeblich zu verantworten. Er muss mit seinem
vollen Familienvermögen haften. Wir brauchen hier
volle Transparenz über die Vermögensverhältnisse von
Anton Schlecker.
({7})
Die Beschäftigten haben das Unternehmen großgemacht, mit ihrer Hände Arbeit. Sie haben Betriebsräte
gegründet. Sie haben für Tarifverträge gestritten. Das alles darf doch nicht umsonst gewesen sein. Wir fordern
von der Bundesregierung, sich für ein alternatives Unternehmenskonzept starkzumachen. Das, was der Insolvenzverwalter jetzt vorgelegt hat, ist kein Unternehmenskonzept, sondern ein Kahlschlagkonzept.
({8})
Die Beschäftigten und Verdi wollen etwas anderes. Sie
wollen die Filialen und die Arbeitsplätze weitgehend retten.
Denkbar wäre etwa der Umbau des Unternehmens zu
einem modernen Nahversorger mit starker Belegschaftsbeteiligung.
({9})
- Sie können eigene Ideen einbringen - das ist ganz einfach - und nach mir noch reden.
Für einen solchen Umbau kann es dann auch staatliche Hilfen geben. Um dies zu entwickeln, bedarf es aber
Zeit. Deshalb fordern wir eine Änderung des Insolvenzrechts und auch, dass das Insolvenzgeld länger als drei
Monate gezahlt wird.
({10})
Denn die Kolleginnen und Kollegen brauchen Zeit. Man
muss ihnen die Pistole von der Brust nehmen.
Arbeitslosigkeit kostet pro Beschäftigten rund
18 000 Euro pro Jahr. Selbst wenn jeder zweite Beschäftigte einen neuen Job findet, würden sich die gesellschaftlichen Folgekosten der Arbeitslosigkeit auf
113 Millionen Euro im Jahr belaufen. Es wäre doch
Wahnsinn, wenn die Politik Arbeitslosigkeit statt Arbeitsplätzen finanzieren würde. Ich fordere Sie im Namen der vielen Tausend Beschäftigten von Schlecker
und der Linken auf, endlich zu handeln. Die Zeit drängt.
Danke schön.
({11})
Paul Lehrieder hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Für die Zuschauer auf den Tribünen,
insbesondere für die Beschäftigten der Firma Schlecker:
Auf der linken Seite dieses Hauses fehlen heute die
Männer, weil heute der Internationale Frauentag ist. So
geht die Linke mit Ihrem Anliegen um. Die Hälfte der
Fraktion wird ausgegrenzt, wenn es darum geht, über
diesen Tagesordnungspunkt zu diskutieren.
({0})
Das ist Ihr Verständnis von Demokratie, meine Damen
und Herren von den Linken.
Wir arbeiten lieber mit unseren Frauen zusammen,
um die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Die Grünen
machen es genauso. Die SPD macht es so. Die FDP
macht es so. Bei den Linken trägt man exotische Tücher
und grenzt die Hälfte der Fraktion aus. Also, so etwas
habe ich noch nicht erlebt. Es erschüttert mich.
Seit Bekanntgabe der Insolvenzanmeldung des Drogeriekonzerns von Anton Schlecker Ende Januar häufen
sich die Hiobsbotschaften über Filialschließungen und
drohende Entlassungen. Das Ausmaß der Pleite hat alle
überrascht. Daher ist es nur verständlich, dass die derzeit
rund 12 000 betroffenen, zumeist weiblichen Beschäftigten sorgenvoll in die Zukunft blicken. Mit dem vorliegenden Antrag „Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen
- Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten - Einfluss der
Beschäftigten stärken“ haben auch die Kolleginnen und
Kollegen der Linksfraktion - heute sind es nur Kolleginnen - bewiesen, dass sie sich dazu ein paar Gedanken
gemacht haben. Das ist im Grunde lobenswert; doch leider sind ihre gutgemeinten Vorschläge wie so oft nicht
zielführend.
({1})
Uns allen liegt das Schicksal der Schlecker-Beschäftigten am Herzen. Daher hat sich unsere Bundesarbeitsministerin, Frau Dr. von der Leyen - sie verfolgt die
ganze Debatte hier; sie zeigt, dass sie hinter den
Schlecker-Beschäftigten steht, mehr als diejenigen, die
populistische Anträge stellen -,
({2})
bereits mit dem Vorstandsmitglied der Bundesagentur
für Arbeit, Herrn Raimund Becker, mit dem Verdi-Chef
Frank Bsirske und mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz getroffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
({3})
Dabei hat Frau Ministerin Dr. von der Leyen klargestellt, dass die bislang bei Schlecker beschäftigten Frauen
gute Perspektiven haben, schnell wieder einen Arbeitsplatz zu finden, und zwar nicht allein wegen ihrer Qualifikation. Derzeit ist die Nachfrage im Einzelhandel nach
guten Mitarbeitern hoch, sodass die Chancen auf Vermittlung sehr gut sind. Dies bestätigte der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, bereits in der
vergangenen Woche. Seit Jahren baut der Einzelhandel
neue Arbeitsplätze auf. Derzeit gibt es in dieser Branche
gut 20 000 offene Stellen.
({4})
Frau Zimmermann möchte gerne eine Zwischenfrage
stellen. Möchten Sie das zulassen?
Sie möchte sie in Ermangelung der Männer stellen.
Ich würde sie von Herrn Birkwald genauso annehmen. Bitte, Frau Zimmermann, selbstverständlich, gern.
Bitte schön.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Lehrieder, ich
habe eine Frage: Worauf beruht Ihre Erkenntnis, dass die
Schlecker-Beschäftigten, wenn sie denn gekündigt werden, auf dem Markt aufgefangen werden? Schließlich
weist die Statistik, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe,
20 000 offene Stellen aus, während diese Branche
300 000 Arbeitslose verzeichnet?
({0})
Die Schlecker-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter haben eine vernünftige Ausbildung; sie sind gut eingearbeitet. Natürlich wird eine Umschulung erforderlich
sein. Wenn man bisher Reinigungsmittel oder Zahnpasta
verkauft hat und in Zukunft vielleicht Damenoberbekleidung verkaufen soll, dann kann man nicht von heute auf
morgen umsteigen. Aber: Motivierte, freundliche, gut
ausgebildete weibliche Beschäftigte - ich kenne sie aus
meinem Wahlkreis - werden in vielen Einzelhandelsunternehmen gebraucht. Deren Beschäftigung schon jetzt
schlechtzureden und zu sagen: „Das können sie nicht; sie
werden nicht gebraucht; sie erhalten keine sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse“, das ist
Ihre Denkweise, aber nicht unsere. Lassen Sie uns versuchen, mit möglichst viel Erfolgsorientierung an diese
Geschichte heranzugehen. Lassen Sie uns dann in ein
paar Wochen einmal schauen, was dabei herausgekommen ist.
({0})
Von diesen guten Voraussetzungen werden gerade die
Schlecker-Mitarbeiter profitieren können; ich habe es
bereits ausgeführt. Hätten Sie ein bisschen gewartet,
Frau Zimmermann, hätte sich Ihre Frage möglicherweise
erübrigt.
Qualifiziertes Personal hat gute Chancen, abseits der
reinen Drogeriemarktsparte eine Anstellung zu finden.
Laut Handelsverband Deutschland haben die Unternehmen zwischen Juni 2010 und Juni 2011 rund 62 000 Jobs
geschaffen, davon 60 000 sozialversicherungspflichtige.
Insgesamt ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Einzelhandel zuletzt stärker als die geringfügige Beschäftigung gewachsen. Auch das ist eine positive Entwicklung, die Sie in Ihren Anträgen regelmäßig
nicht beschreiben. Von einer Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch geringfügige
Beschäftigung, wovor Sie immer eindrucksvoll warnen,
kann folglich in dieser Branche nicht die Rede sein.
Unter enormem Zeitdruck haben vor zwei Tagen die
Verhandlungen zwischen Insolvenzverwalter und Gewerkschaft über einen Sozialplan für den Abbau von
11 750 Arbeitsplätzen beim Unternehmen Schlecker begonnen. Voraussichtlich bis zum Ende der Woche werden alle Beteiligten geklärt haben, ob die notwendigen
Voraussetzungen für eine Transfergesellschaft geschaffen werden können. Auch die Einrichtung einer dezentralen Onlinetransfergesellschaft ist im Gespräch.
Zudem wird geprüft, ob für die Qualifizierung der Mitarbeiter Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds in
Anspruch genommen werden können.
Ich möchte noch auf einen stereotypen Passus in Ihrem Antrag eingehen. Auf Seite 3 oben schreiben Sie,
ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde würde die
Kaufkraft um 26 Milliarden Euro erhöhen.
({1})
Schauen Sie doch einmal, was gestern in Berlin passiert
ist: In Berlin ist vom Bürgermeister ein Mindestlohn von
8,50 Euro abgelehnt worden mit der Begründung, hierdurch würden keine Arbeitsplätze geschaffen werden
können.
({2})
- Moment! Sie regieren doch in Berlin mit. In Berlin
gibt es eine rot-rote Regierung, die es noch nicht einmal
schafft, einen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Weg
zu bringen. Und jetzt schreiben Sie wieder 10 Euro in Ihren Antrag. Machen Sie die Hausaufgaben, wo Sie Verantwortung haben, und dann schauen wir, was dabei herauskommt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Schlecker ist eine Schande
für Deutschlands Unternehmen, und das nicht erst seit
der spektakulären Pleite, die wir erleben mussten. Mitbestimmungsrechte wurden immer wieder mit Füßen getreten. Mitarbeiterinnen wurden bespitzelt, und Tariflöhne
wurden nicht gezahlt.
Wir alle hier im Plenum des Bundestages werden uns
noch an die XL-Schweinerei von Schlecker erinnern.
Das ist noch nicht so lange her. 2010 haben wir hier intensiv darüber diskutiert. Damals wurden Schlecker-Filialen geschlossen und wenig später auf der anderen
Straßenseite als XL-Schlecker als eigenständige GmbH
wieder aufgemacht.
({0})
Die Mitarbeiterinnen wurden aus den alten Schlecker-Filialen entlassen. Sie haben ihre Arbeit verloren, aber
dann ein Angebot von der extra gegründeten Leiharbeitsfirma Menia erhalten, um bei XL-Schlecker die
gleiche Arbeit, die sie vorher getan haben, zum Teil für
den halben Lohn zu leisten.
({1})
Das ist eine Sauerei. Dies haben wir hier scharf kritisiert.
Diese Firmenphilosophie und Unternehmensstrategie
von Anton Schlecker - dies haben wir hier gesagt - ist
schon damals, 2010, hart kritisiert worden.
({2})
Ministerin von der Leyen wurde schon 2010 zum
Handeln aufgefordert, solchen miesen Praktiken einen
gesetzlichen Riegel vorzuschieben. Leider ist es so, dass
Leiharbeiter sehr lange auf ihren Mindestlohn warten
mussten. Es hat sehr lange gedauert, bis dies endlich
durchgesetzt wurde. Aber unsere Forderung „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ wurde noch immer nicht umgesetzt. Da ist sie noch in der Bringschuld. Bis heute ist
nichts umgesetzt. Auch das ist eine Schande für Deutschland.
({3})
Wie kam es zur Schlecker-Pleite? Es wurden verheerende Managementfehler gemacht. Sinkende Kundenund Umsatzzahlen wurden schlichtweg verschlafen. Ein
Unternehmen mit über 25 000 Beschäftigten, überwiegend Frauen, wurde voll an die Wand gefahren. Vielleicht haben einige von Ihnen am Montag im ZDF die
Sendung Frontal 21 gesehen. Es war ganz interessant,
was dort eine Gewerkschafterin zu dem Thema ausgeführt hat. Sie sagte, sie habe das Gefühl, dass Anton
Schlecker sein Unternehmen wie eine Würstchenbude
geführt habe und nicht professionell wie ein multinationales Großunternehmen. Und wieder müssen die
Beschäftigten die Suppe auslöffeln. Etwa 2 400 der bundesweit 5 400 Schlecker-Filialen sollen geschlossen
werden. 12 000 der insgesamt über 25 000 Beschäftigten
- zu über 90 Prozent Frauen - sind betroffen. Das bedeutet: Jeder zweite Arbeitsplatz fällt weg. Betroffen sind
vor allem - das wurde schon gesagt - viele ältere Beschäftigte, alleinerziehende Frauen und auch viele Teilzeitbeschäftigte. Diese Frauen, diese Menschen können
nichts für die Pleite.
Vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt ein
Scherbenhaufen. Was können wir tun? Wie kann man
den Betroffenen am besten helfen? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, fordern in Ihrem Antrag
Staatshilfen für Schlecker und die Entwicklung eines
neuen Zukunftskonzepts, damit die Filialen und somit
die Arbeitsplätze weitgehend erhalten bleiben.
Wir hier im Bundestag können keine Konzepte machen. Dies ist Aufgabe des Insolvenzverwalters. Der
sieht offensichtlich keine andere Lösung als die Schließung der 2 400 Filialen.
({4})
Das müssen wir erst einmal so zur Kenntnis nehmen.
Auch Wirtschaftsexperten diagnostizieren, dass Schlecker
in der derzeitigen Form und Größe keine wirtschaftlich
erfolgreiche Zukunft haben kann.
Wir müssen nun überlegen: Was kann getan werden?
Sie haben Vorschläge gemacht. Unser Wirtschaftsminister Nils Schmid aus Baden-Württemberg hat sich auch
schon mit Vorschlägen zu dem Thema geäußert.
({5})
Ganz wichtig finde ich, dass zügig Transfergesellschaften gegründet werden und den entlassenen Mitarbeiterinnen schnell und gezielt neue Perspektiven eröffnet und
vor allen Dingen neue Arbeitsstellen vermittelt werden.
({6})
Die Drogeriekette Rossmann hat bereits angekündigt,
dass sie allein in diesem Jahr 1 000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen will. Das wäre schon ein
erster Schritt.
Aber natürlich brauchen die Beschäftigten auch Unterstützung von unserer Arbeitsministerin; da stimme ich
Ihnen voll zu. Die Arbeitsministerin ist gefordert, diese
strukturelle Kurzarbeit im Sinne der Beschäftigten zu
bewältigen.
Wir als SPD haben in entsprechenden Krisen sehr
gute Erfahrungen mit unserem damaligen Arbeitsminister Olaf Scholz gemacht. Er hat in solch kritischen Situationen sehr schnell, sehr gut und sehr zielgenau gehandelt.
({7})
Ich erwarte, dass Ähnliches genauso zielführend auch
von Ministerin von der Leyen geleistet wird. Es wurde
gesagt, dass schon Gespräche mit Verdi geführt werden.
Ich bin sehr auf die Ergebnisse gespannt. Wir haben für
die nächste Ausschusssitzung auch schon einen Bericht
zu diesem Thema angefordert.
({8})
Natürlich müssen auch die Arbeitsagenturen und die
Jobcenter ran. Das ist ganz wichtig. Die Arbeitsplätze
fallen nicht vom Himmel; das ist uns allen klar. Wir
müssen jetzt sicherstellen, dass die betroffenen Frauen
gute Beratung, Qualifizierung und Umschulung, wenn es
sein muss, also Unterstützung, erhalten und dass sie
dann mit aller Kraft in neue Arbeit vermittelt werden. Es
muss alle Kraft aufgewandt werden, damit dies gelingt.
Was brauchen wir dafür? Sind die Agenturen und Jobcenter dafür ausreichend ausgestattet? Natürlich braucht
man dafür Personal. Natürlich braucht man auch Geld
für arbeitsmarktpolitische Instrumente; das ist doch klar.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, daran hapert es
jetzt leider. Die Bundesregierung hat die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik massiv gekürzt.
({9})
Zahlreiche arbeitsmarktpolitische Instrumente wurden
von Pflicht- in Ermessensleistungen umgewandelt und
damit praktisch abgeschafft.
({10})
Das ist eine ganz schlimme Sache, die uns jetzt auf die
Füße fällt. Wir sehen: Arbeitslose haben in der Bundesregierung keine Lobby. Das müssen wir wieder ändern.
({11})
Frauen sind besonders betroffen. Die Entlassungen bei
Schlecker verdeutlichen, wie die Arbeitsmarktsituation
vieler Frauen in Deutschland aussieht: Sie haben oft unsichere Arbeitsplätze. Die Arbeit wird schlecht bezahlt.
Gut zwei Drittel von ihnen sind Niedriglohnbeschäftigte.
Das betrifft sogar jede dritte Frau mit Vollzeitstelle. Karrierechancen sind gering. Viele arbeiten in Teilzeit und
verdienen damit 4 Euro im Durchschnitt weniger als in
einer Vollzeitstelle. Ihre Arbeitsplätze sind in der Regel
schlecht abgesichert. Ein Beispiel sind die Minijobs.
Eine Frau, die zwei Kinder erzogen hat und 30 Jahre lang
in einem Minijob gearbeitet hat, kommt damit auf monatlich sage und schreibe knapp 150 Euro Rente.
Das geht so nicht. Das müssen wir ändern. Wir müssen alle Kraft darauf richten, um diese Situation in
Deutschland zu verbessern. Jetzt muss unser Augenmerk
den Frauen von Schlecker gelten, damit wir dort einen
Schritt vorankommen, und wir müssen den dort beschäftigten Frauen unsere Solidarität zeigen.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eines vorweg: Die FDP lehnt diesen Antrag der
Linken ab.
({0})
Es ist schließlich noch gar nicht so lange her, da waren
Arbeitsplätze bei der Firma Schlecker für Sie der Inbegriff von schlechter Arbeit.
({1})
Jetzt sehen Sie das offenbar komplett anders. Sie rühmen
Schlecker als Nahversorger. Bei mir entsteht der Eindruck, dass Sie die Schlecker-Insolvenz als Vorwand
nutzen, um hier im Parlament mal wieder die Gutmenschen zu mimen.
({2})
Die Beschäftigten der Firma Schlecker erleben derzeit eine sehr belastende Zeit für sich und ihre Familien.
Sie erleben eine Zeit der Anspannung, der Existenzangst
und der Ungewissheit. Die Verantwortlichen im Unternehmen versuchen gleichzeitig mit Hochdruck, die
Firma zu retten. In dieser Situation einen solchen Antrag
zu stellen, zeigt Ihre wahre Geisteshaltung. Auf dem Rücken der Betroffenen formulieren Sie Forderungen, die
den Menschen bei Schlecker mitnichten helfen.
({3})
Wie konstruiert Ihr Antrag ist, zeigt schon der Titel.
Darin sprechen Sie ausschließlich die Verkäuferinnen
an. Es gibt bei Schlecker natürlich auch Verkäufer und
andere männliche Angestellte. Auch die haben Familien
zu ernähren und bangen um ihre Arbeitsplätze. Diese
männlichen Angestellten passen aber nicht zum Weltfrauentag und damit nicht zu Ihrem Antrag. Es geht Ihnen gar nicht um die Sache selbst, sondern nur um einen
weiteren Anlass, Ihr Verständnis von Staatswirtschaft zu
transportieren.
({4})
Sie regen beispielsweise an, dass die Politik ein nicht
näher erklärtes Zukunftskonzept für Schlecker erarbeiten
soll. Jetzt möchte ich Sie doch direkt fragen: Glauben
Sie allen Ernstes, dass Politiker die besseren Unternehmer sind?
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, auch Ihre
volkswirtschaftliche Erfahrung müsste doch für die EinGabriele Molitor
schätzung reichen, dass Planwirtschaft auf Dauer nicht
gut geht.
({6})
Und was machen Sie dann bei Betrieben, die nicht die
Größe und damit die öffentliche Aufmerksamkeit wie
Schlecker haben? Soll die Politik für alle Firmen ein Sanierungskonzept erarbeiten, die in Schwierigkeiten sind?
({7})
Nein, das ist vollkommen absurd und passt nur in Ihr
schräges Verständnis einer Volkswirtschaft.
Aber es geht noch weiter: Natürlich fordern Sie in
dem Antrag auch, dass die Bundesregierung mit Geld
helfen soll. Auch bei dieser Argumentation bleibt offen,
warum ausgerechnet im Fall von Schlecker und nicht
auch bei anderen Unternehmen. Oder plädieren Sie für
die generelle Verstaatlichung insolventer Firmen?
Ein weiterer Punkt in Ihrem Katalog sind neue Formen der Mitbestimmung bis hin zur Übernahme insolventer Unternehmen durch die Belegschaft in Form von
Genossenschaften. Genossenschaften sind per se nichts
Schlechtes, aber glauben Sie allen Ernstes, dass es für
Mitarbeiter attraktiv ist, ein insolventes Unternehmen in
diesem Stadium zu übernehmen?
({8})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, all diese
Punkte zeigen, dass dieser tragische Fall von Unternehmensinsolvenz nur Anlass ist, Ihre wirtschaftspolitischen Irrungen aufzuzeigen. Sie legen mit diesem Antrag einen kruden Mix aus Frauentag, Mindestlohn und
Subventionen vor, ohne ein wirkliches Interesse an einer
Lösung des Falls Schlecker zu haben.
({9})
Eine solche Politik wird der Situation der betroffenen
Menschen nicht gerecht. Was jetzt wirklich zählt, sind
Taten.
({10})
Die Verantwortlichen bei Schlecker sind aufgefordert,
alle weiteren Schritte vor allem im Interesse des Unternehmens einzuleiten. Die bestehenden Instrumente sind
dafür ausreichend. Gerade das Beispiel Schlecker zeigt,
dass die Marktwirtschaft offensichtlich stark genug ist,
Konzepte, die nicht funktionieren, zum Scheitern zu
bringen.
({11})
Die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt ist sehr
gut. Ich denke, den Beschäftigten von Schlecker wird es
angesichts ihres guten Ausbildungsstandes möglich sein,
Alternativarbeitsplätze zu finden. Die Bundesregierung
hat jedenfalls ein großes Interesse daran, dass möglichst
viele Arbeitsplätze bei Schlecker gerettet werden. Wir
haben allerdings kein Interesse daran, in Deutschland
wieder die Planwirtschaft einzuführen.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 12 000
Schlecker-Beschäftigten, weit überwiegend Frauen,
droht der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Schuld an diesem Desaster trägt einzig und allein die katastrophale
Unternehmensführung des Schlecker-Patriarchen.
({0})
Hier ist auch ein Geschäftsmodell gescheitert - ein Geschäftsmodell, das auf Lohndrückerei, Entrechtung der
Beschäftigten und inakzeptable Arbeitsbedingungen gesetzt hat.
({1})
- Und auf Spitzelei, genau. - Das alles hat ebenfalls
dazu beigetragen, dass die Kunden weggeblieben sind
und der Laden dichtgemacht werden musste.
({2})
Die Politik trägt an der Schlecker-Pleite nun wirklich
keine Schuld. Wir haben sie nicht verbockt. Trotzdem
sind wir jetzt in der Pflicht, den Schlecker-Beschäftigten
ein Angebot zu machen, um ihnen eine neue Jobperspektive zu eröffnen. Natürlich muss es zunächst einmal darum gehen, dass unter Beteiligung der Beschäftigten
- das möchte ich betonen - ein Zukunftskonzept entwickelt wird. Aber selbst wenn das gelingt, wird es nicht
dazu führen, dass alle Beschäftigten weiterhin eine berufliche Perspektive bei Schlecker haben. Deswegen
müssen wir auch denjenigen Beschäftigten ein Angebot
machen, denen die Arbeitslosigkeit droht, und zwar ein
Angebot - das will ich an dieser Stelle betonen -, das
über die Perspektive des Einzelhandels hinausgeht. Dafür brauchen wir dringend eine Transfergesellschaft.
({3})
Ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Frau von
der Leyen in dieser Debatte nicht das Wort ergriffen hat,
und zwar deswegen, weil sie presseöffentlich versprochen hat, bis zum Ende dieser Woche die Transfergesellschaft in trockenen Tüchern zu haben. Es wäre für uns
alle interessant, einen Bericht über den Stand der Dinge
zu erhalten.
({4})
In der Branche heißt es übrigens: Wer bei Schlecker
schafft, der schafft es überall. Ich finde, das sagt sehr
viel aus über das Durchhaltevermögen und die Leidensfähigkeit, aber auch über das Arbeitsethos dieser Frauen.
Diese Frauen können etwas. Es ist unsere Aufgabe, sie
darin zu unterstützen, dieses Können auszubauen. Dafür
brauchen wir die Transfergesellschaft.
({5})
Ein spezielles Problem der Schlecker-Insolvenz besteht darin, dass die bedrohten Arbeitsplätze über ganz
Deutschland verteilt sind. Deswegen kann man nicht
einfach sagen: In der Branche gibt es doch eine Menge
freier Arbeitsstellen. Diese freien Arbeitsstellen müssen
auch in dem kleinen Ort vorhanden sein, in dem eine Filiale zugemacht wird. Es kommt eben sehr stark auf die
besondere regionale Arbeitsmarktsituation an. Deswegen geht es nicht nur darum, die Frauen von Schlecker
aus in einen anderen Supermarkt zu vermitteln,
({6})
sondern es geht auch darum, diese Krise als Chance für
die Beschäftigten zu nutzen und sie auch für andere Zukunftsberufe zu qualifizieren.
({7})
Warum sollen sie zukünftig nicht die Beschäftigtenlücke
im Erziehungsbereich, in der Pflege oder auch in männerdominierten Zukunftsberufen füllen? Das wäre gut
für die Betroffenen, und das wäre gut für diese Branchen.
Meine Damen und Herren, heute sind die Betriebsräte
gemeinsam mit Verdi auf die Straße gegangen. Sie haben
für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstriert und die
Politik zum Handeln aufgefordert. Sie fordern, Arbeit zu
organisieren statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Ich
finde, daran sollten wir uns halten.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat nun Gitta Connemann für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
komme aus einem kleinen Dorf aus Ostfriesland. Dort
gibt es einen Bäcker und zwei Dorfläden, und es gab
Schlecker. Dort erwarben Ältere und Mütter ihre Drogerieprodukte. Die Filiale ist geschlossen worden. Diese Geschäftsaufgabe ist für die Gemeinde ein großer Verlust.
Es ist aber eine persönliche Katastrophe für die Beschäftigten und ihre Familien.
({0})
Meine Damen und Herren von der Linken, aus diesem
menschlichen Leid, das sich hinter jeder Verkäuferin,
übrigens auch hinter jedem Verkäufer, verbirgt, versuchen Sie einmal mehr, politisches Kapital zu schlagen.
({1})
Denn es geht Ihnen erkennbar nicht um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schlecker. Sie suchten ein
Thema für den heutigen Weltfrauentag.
({2})
Meine Damen und Herren von der Linken, es gibt
keine Fraueninsolvenz, es gibt auch keine Männerinsolvenz, es gibt nur eine Insolvenz in Gänze. Die tut jedem
weh, insbesondere den Familien.
({3})
Wir von der Union wehren uns dagegen, dass die
Linke die Mitarbeiterinnen von Schlecker für ihre ideologischen Anträge in Geiselhaft nimmt.
({4})
Diese Mitarbeiterinnen - und ich habe, anders als Sie,
mit diesen gesprochen - haben eine bessere Behandlung
verdient.
({5})
Ich spreche aus eigener Erfahrung: Anders als Sie mit
Ihren lila Schals brauche ich keine Symbolpolitik; denn
anders als Sie bin ich eine gelernte Verkäuferin und habe
mit diesen Frauen die Schulbank gedrückt. Ich bin heute
noch mit diesen Frauen befreundet.
({6})
Sie verkauften übrigens nicht nur in diesen Filialen,
sondern sie leiteten auch diese Filialen. Deshalb ist ihr
Ruf in der Branche - Frau Pothmer hat zutreffend darauf
hingewiesen - zu Recht sehr gut.
Die Konkurrenten von Schlecker buhlen um diese
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, übrigens ohne Staatshilfe, Frau Hiller-Ohm.
({7})
Deshalb ist die Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz
wirklich begründet, übrigens auch wegen der dezentralen Struktur von Schlecker. Denn die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter - 12 000 an der Zahl - werden nicht an
einem Ort entlassen, sondern über das Bundesgebiet
verteilt.
({8})
Nach Aussagen des Handelsverbandes Deutschland
haben sie eine gute Chance, auch weil der Arbeitsmarkt
übrigens besser ist, als es uns der Antrag der Linken
glauben lässt.
({9})
Im vergangenen Jahr sind über 60 000 Stellen im Einzelhandel entstanden. Der Handel meldet auch jetzt offene
Stellen. Wenn Sie, Frau Zimmermann, andere Zahlen anführen, dann sage ich Ihnen ganz deutlich: Diese sind
falsch. Es geht Ihnen hier um eine bewusste Dramatisierung aus parteipolitischem Kalkül.
({10})
Natürlich brauchen die Schlecker-Beschäftigten, die
nicht sofort am Arbeitsmarkt unterkommen, eine Perspektive. Ich sage ganz deutlich im Namen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion: Sie können sich auf uns verlassen.
({11})
Denn wir werden ihnen reale Hilfe geben. Sie brauchen
keine lila Schals und keine Girls’-Day-Ausflüge der
männlichen Abgeordneten. Was sie brauchen, ist reale
Hilfe, zum Beispiel in Form einer Transfergesellschaft.
({12})
Da bin ich dankbar, dass die Gespräche auf Hochtouren
laufen, dass sich das Bundesarbeitsministerium dieser
Sache so intensiv annimmt. Wir in der Union werden
dafür sorgen, dass Gelder für diese Transfergesellschaft
bereitstehen.
({13})
Übrigens: Sinnigerweise steht im Antrag der Linken
kein nennenswertes Wort über Transfergesellschaften
etc.
({14})
Es geht Ihnen auch nicht um die Beschäftigten, sondern
um den Aufbau des real existierenden Sozialismus.
({15})
So wollen Sie Schlecker vergesellschaften, vielleicht in
memoriam Konsum oder HO. Dafür verlangen Sie eine
Anschubfinanzierung durch den Bund. Ich warne Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition: Der
künstliche Erhalt von Unternehmen durch den Staat ist
in der Vergangenheit stets grandios fehlgeschlagen.
({16})
Die Neue Heimat, co op AG oder Holzmann lassen grüßen. Gescheiterte Unternehmen lassen sich nicht retten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Zimmermann?
Immer sehr gerne.
Frau Connemann, nehmen Sie bitte Folgendes zur
Kenntnis: Sie sagen, es stehe nicht in unserem Antrag
drin, dass wir eine Insolvenzgeldverlängerung bzw. die
Gründung einer Transfergesellschaft fordern. Das sind
zwei Hauptforderungen in unserem Antrag. Sind Sie
meiner Meinung, dass Sie nicht gelesen haben, was wir
formuliert haben?
Liebe Frau Zimmermann, ich habe es so genau gelesen, dass mir die Augen übergequollen sind.
({0})
Ich habe den Antrag hier vor mir liegen, und wissen Sie,
was mich an diesem Antrag am meisten erbost? Das ist
die Tatsache, dass eigentlich schon der erste Satz in diesem Antrag Ihre Absicht entblößt. Sie fordern uns auf,
gerade und besonders am Internationalen Frauentag den
Kampf der mehrheitlich weiblichen Schlecker-Beschäftigten um ihre Arbeitsplätze zu unterstützen.
({1})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn das alles ist, sich nur
am Frauentag für Beschäftigte einzusetzen,
({2})
dann ist uns das zu wenig.
({3})
Übrigens, was Ihre staatlichen Hilfen angeht, so
könnte auch jeder andere Unternehmer fragen: Weshalb
wird mir nicht geholfen?
({4})
Auch dies beweist: Die Schlecker-Insolvenz ist für Sie
nur ein Vorwand für den Umbau dieser Wirtschaftsordnung.
({5})
Ihre Forderungen bleiben dabei immer dieselben. Das
macht sie nicht besser.
So wollen Sie zum Beispiel die paritätische Mitbestimmung ab 100 Mitarbeitern. Bislang gilt dafür ein
Schwellenwert von 2 000 Beschäftigten, und ich frage
mich: Haben Sie sich schon einmal annähernd Gedanken
darüber gemacht, dass ein kleiner Handwerksbetrieb mit
einer Aktiengesellschaft wie der Daimler AG in keiner
Weise zu vergleichen ist?
({6})
Nach Ihrem Willen müssten dann auch solche Betriebe
Aufsichtsräte einrichten. Was für Kosten und was für ein
wahnsinniger bürokratischer Aufwand!
({7})
Dann wünschen Sie sich ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in wirtschaftlichen Fragen.
Mit unternehmerischer Freiheit hat das nichts mehr zu
tun.
({8})
Ich erinnere Sie daran: Diese Freiheit wird durch das
Grundgesetz geschützt. Aber was interessiert Sie schon
unsere Verfassung, meine Damen und Herren von der
Linken? Doch einen Pieps.
({9})
Und schließlich soll nach Ihrem Willen der Aufsichtsrat an Belegschaftsabstimmungen gebunden sein.
Wissen Sie wirklich nicht, dass der Aufsichtsrat eine
Überwachungsfunktion hat? Er ist aus gutem Grund ein
unabhängiges Gremium, das nur dem Unternehmenswohl verpflichtet ist. Eine Bindung seiner Entscheidungen an Voten welcher Art auch immer würde genau diese
Unabhängigkeit konterkarieren.
({10})
Meine Damen und Herren von der Linken, aus unserer Sicht hat sich die Mitbestimmung in unserem Land
bewährt. Aber was mich an Ihrem Antrag noch sehr viel
mehr stört als die immerzu wiederholten rechtlichen und
inhaltlichen Mängel, ist seine Unredlichkeit; das möchte
ich betonen. Sie versuchen, aus dem Scheitern eines Unternehmens,
({11})
aus dem Verlust von Arbeitsplätzen und aus menschlichem Leid politisches Kapital zu schlagen. Mit diesem
Versuch lassen wir Sie nicht durchkommen. Deshalb
werden wir den Antrag ablehnen.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8880 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart,
Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutsches Ressourceneffizienzprogramm Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften
- Drucksachen 17/8575, 17/8875 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Horst Meierhofer
Oliver Krischer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Katherina Reiche für die Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rohstoffengpässe können das Wachstum in Europa gefährden. Das ist leider keine abstrakte Betrachtung mehr,
sondern wird zunehmend zu einer konkreten Gefahr.
Die KfW hat vor kurzem eine Studie zur Rohstoffversorgung in Deutschland in Auftrag gegeben. Sie stuft
die Versorgungslage für 13 mineralische Rohstoffe mittlerweile als kritisch oder sehr kritisch ein: darunter Germanium, das für die Produktion von Glasfaserkabeln gebraucht wird, oder Rhenium, das in Legierungen
Flugzeugturbinen Festigkeit verleiht, Gallium für Mikrochips, Seltene Erden für Batterien bzw. Generatoren oder
Indium für Displays. Die Studie sieht in der zunehmenden Rohstoffverknappung Risiken, aber auch Chancen
gerade für deutsche Unternehmen. Hier setzen wir mit
dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm an, kurz
ProgRess, das in der vergangenen Woche durch das Bundeskabinett beschlossen worden ist. Ich möchte mich bei
den Fraktionen von CDU/CSU und FDP bedanken, dass
sie uns in ihrem gemeinsamen Antrag unterstützen.
Wir erleben derzeit weltweit die Entwicklung, dass
die Nachfrage nach Rohstoffen dramatisch ansteigt.
2009 wurden ungefähr 60 Milliarden Tonnen an Rohstoffen eingesetzt. Das sind doppelt so viel wie Ende der
70er-Jahre und noch ein Drittel mehr als im Jahr 2000.
Im Jahr 2050 werden Prognosen zufolge 9 Milliarden
Menschen auf der Welt leben. Entwicklungs- und
Schwellenländer werden dann Industrieländer sein, das
heißt, dass sich der in Industriegesellschaften lebende
Bevölkerungsanteil verdreifachen wird - mit all ihren
Bedürfnissen nach Wohlstand, Konsumgütern und Rohstoffen.
Ein effizienter Umgang mit Rohstoffressourcen ist
deshalb eine Schlüsselkompetenz zukunftsfähiger Gesellschaften. Wer dies frühzeitig erkennt, der wird nicht
nur helfen, Umweltbelastungen zu vermeiden, sondern
wird auch seine Wettbewerbsfähigkeit auf globalen
Märkten stärken und dadurch Beschäftigung sichern.
Roland Berger Consulting hat eine Verdreifachung des
Umsatzes im Leitmarkt Rohstoffeffizienz von 95 Milliarden Euro im Jahr 2007 auf 335 Milliarden Euro im
Jahr 2020 prognostiziert. Diese Zahlen beschreiben sehr
gut die ökonomische Dimension, über die wir sprechen.
Deutschland hat die besten Voraussetzungen, sich zu einer der ressourceneffizientesten Volkswirtschaften der
Welt zu wandeln. Innovationskraft, deutsche Ingenieurskunst, eine moderne Industrieinfrastruktur, anspruchsvolle Umweltstandards, aber auch ein hohes Nachhaltigkeitsbewusstsein unserer Bevölkerung tragen dazu bei.
Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm ist ein
wichtiger Schritt auf dem Weg, Wirtschaftswachstum
und Wohlstand möglichst weitgehend vom Ressourceneinsatz zu entkoppeln und Umweltbelastungen zu reduzieren. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet. Es geht um die sichere Versorgung mit
Rohstoffen, es geht darum, die Rohstoffeffizienzen in
der Produktion zu steigern, den Konsum effizienter zu
gestalten, eine ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft
weiter auszubauen sowie übergreifende Instrumente zu
nutzen.
Das Programm setzt insbesondere auf Marktanreize,
auf Information, Beratung, Bildung, Forschung und
Innovation, auf freiwillige Maßnahmen und deren
Stärkung sowie auf Initiativen in Wirtschaft und Gesellschaft.
({0})
Anhand konkreter Beispiele wird ausführlich dargestellt,
wie in besonders relevanten Feldern Ressourcen effizienter genutzt werden können. Um ein Beispiel zu nennen: Beim Recycling von Kupfer aus Kupferschrotten
nach dem neuesten Stand der Technik werden im
Vergleich zur Primärproduktion 30 Prozent Energie eingespart, bei der Verarbeitung von Aluminiumschrott
können sogar 90 Prozent Energieaufwand eingespart
werden.
Mit steigendem Rohstoffbedarf werden Recycling
und die Verwendung von Sekundärrohstoffen immer
lohnender. Hier haben wir mit der Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes, das gerade von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde, wichtige Maßnahmen ergriffen. Dieses Gesetz ist ein wichtiges Instrument
unserer Ressourceneffizienzpolitik.
Mitte Januar hat das Europäische Parlament die Revision der Richtlinie über Elektro- und Elektronikaltgeräte
verabschiedet. Es lohnt, hier anzusetzen; denn nach Angaben der Europäischen Kommission produziert jeder
EU-Bürger im Durchschnitt pro Jahr 17 Kilogramm
Elektroschrott. Im Jahr 2020 werden es 24 Kilogramm
sein. Auch diese Ressourcen müssen wir besser nutzen.
Die Richtlinie enthält auch Regelungen, um den illegalen Export von Elektroaltgeräten in Zukunft besser bekämpfen zu können. Auch dies ist dringend erforderlich.
Vielleicht erinnert sich einer von Ihnen an das UNICEFFoto des Jahres 2011, das einen kleinen Jungen auf einer
Müllkippe in Ghana zeigt, der Elektroschrott verbrennt.
Das ist ein sehr bedrückendes Bild.
Noch ist das Verfahren auf europäischer Ebene nicht
endgültig abgeschlossen. Nach Inkrafttreten der Richtlinie werden wir diese durch eine Änderung des Elektround Elektronikgerätegesetzes in Deutschland in nationales Recht umsetzen. Der Kampf gegen den illegalen
Export von Elektroschrott ist ebenso wie die Steigerung
der Ressourceneffizienz mehr als nur eine Änderung von
abfallrechtlichen Vorschriften. Das ist, wie ich finde,
auch Teil unserer ethischen Verantwortung.
({1})
Angesichts eines zunehmenden Wettlaufs um Ressourcen und Rohstoffe wird die Rohstoffquelle „Ressourceneffizienz“ weiter an Bedeutung gewinnen, und
ökonomische Anreize werden zunehmen. Deutschland
kann und wird zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg und
Ressourceneinsparung zwei Seiten einer Medaille sind.
Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist die Inanspruchnahme von Rohstoffen in Deutschland zwischen 2000 und 2010 bei deutlich gestiegenem
Wirtschaftswachstum um 11,2 Prozent gesunken.
Durch den Aufbau einer geeigneten Recyclinginfrastruktur eröffnen sich auch Schwellen- und Entwicklungsländern Chancen für eine eigene Entwicklung.
Nach den UNEP-Zahlen - wir vertrauen diesen Zahlen wird beispielsweise der Elektroschrott aus Computern in
China und Südafrika um 200 bis 400 Prozent ansteigen.
In Indien werden es sogar 500 Prozent mehr sein.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Gerne. - Ressourceneffizienz ist also nicht nur eine
ökologische Notwendigkeit, sondern ein zentrales Element und ein internationales Markenzeichen. Ich möchte
schließen mit Ernst Ulrich von Weizsäcker, der sagte:
Wenn die Preise uns vorgaukeln, die Natur sei unendlich, rennen der technische Fortschritt und die
Zivilisation in den Abgrund.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Gerd Bollmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ressourcenschutz und knapper werdende Rohstoffe
sind inzwischen ein viel diskutiertes Thema. Zahlreiche
Medienberichte über knapper und teurer werdende Rohstoffe haben einer breiten Öffentlichkeit die Wichtigkeit
vor Augen geführt. Begrifflichkeiten wie Seltene Erden,
Rohstoffmangel oder strategische Ressourcen tauchen
immer wieder auf. Die deutsche Wirtschaft warnt davor,
dass ein Mangel an wichtigen Rohstoffen Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze gefährdet. Allen Beteiligten
scheint klar zu werden, dass Rohstoffe nicht unendlich
vorhanden sind und ein anderer Umgang damit dringend
vonnöten ist.
Daher begrüßen wir ausdrücklich den Antrag.
40 Jahre nach dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome und elf Jahre nach Einsetzung
des Nachhaltigkeitsrates durch die rot-grüne Bundesregierung wird die Notwendigkeit eines umfassenden Ressourcenschutzes allseits bejaht. Viele Jahre nachdem unser allseits geschätzter ehemaliger Kollege Ernst Ulrich
von Weizsäcker als Leiter des Wuppertal-Instituts die
Diskussion über Nachhaltigkeit angestoßen und mitgeprägt hat, bemüht sich nun auch die schwarz-gelbe Bundesregierung um ein umfassendes, nachhaltiges Ressourcenschutzprogramm.
({0})
Meine Damen und Herren von Union und FDP, letzte
Woche hat das Bundeskabinett dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm, kurz: ProgRess, zugestimmt. Die
SPD begrüßt, dass ein solches Programm vorgelegt wird.
Für die deutsche Industrie und Wirtschaft sei, so die
Bundesregierung, eine ausreichende Versorgung mit
Rohstoffen äußerst wichtig. Dies stimmt, und entsprechende Konsequenzen sind notwendig.
Die Sozialdemokratie setzt sich seit langem für einen
nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen und ihren
Schutz ein. Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung jetzt, zwar spät, aber umfangreich, ein Ressourceneffizienzprogramm vorlegt.
Die Probleme scheinen erkannt zu sein; auch Lösungsansätze und konkrete Maßnahmen werden teilweise genannt. Kernaussagen sind unter anderem: effizienterer
Umgang mit Rohstoffen, Verbindung der ökologischen
Notwendigkeiten mit den ökonomischen Chancen, soziale und globale Verantwortung als zentrale Orientierung bei der nationalen Ressourcenpolitik. Weiterhin
werden folgende Ziele genannt: Verbesserung der Kreislaufwirtschaft, mehr Recycling, Kaskadennutzung, Verringerung des Pro-Kopf-Verbrauchs von Rohstoffen und
qualitatives Wachstum. Diese Kernaussagen und Ziele
sind lobenswert; sie sind richtig. Ich denke, heutzutage
wird sich niemand öffentlich dagegen aussprechen.
({1})
Ebenso sind einige Punkte vor allem im Hinblick auf
Forschung und Entwicklung durchaus positiv zu bewerten. Aber schauen wir uns einmal die Umsetzung an. Blicken wir auf das, was fehlt. In dem Antrag der Koalitionsfraktionen und im Regierungsprogramm zum
Ressourcenschutz werden hohe Recyclingquoten insbesondere für mineralische Abfälle gefordert. Das ist gut
so. Aber warum haben Sie dann beim gerade erst geänderten Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz höhere
Verwertungsquoten abgelehnt?
({2})
Warum haben Sie für Bauschutt eine Verwertungsquote
von 70 Prozent durchgesetzt, wenn bereits 2008 in
Deutschland 93 Prozent stofflich verwertet wurden?
({3})
Warum haben Sie durchgesetzt, dass die energetische
Verwertung der stofflichen Verwertung sozusagen durch
die Hintertür wieder nahezu gleichgesetzt wird, obwohl
dies europäischem Recht widerspricht? Warum gibt es
im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz keine konkreten Aussagen zur Abfallvermeidung, obwohl dies nach
Ihren eigenen Feststellungen wichtig ist?
Meine Damen und Herren von Union und FDP, die
sozialdemokratische Bundestagsfraktion, der Bundesrat
und auch die Fraktion der Grünen hatten Änderungsanträge gestellt, in denen man sich für genau dies aussprach: für höhere Recyclingquoten, für den eindeutigen
Vorrang der stofflichen Verwertung und für konkrete
Abfallvermeidung. All diese Anträge haben Sie abgelehnt.
({4})
Ähnlich sieht es bei den Elektroaltgeräten aus. Sie beklagen den illegalen Export von Elektroschrott, und Sie
fordern höhere Sammel- und Verwertungsquoten. Die
Revision der Elektro-Altgeräte-Richtlinie der EU haben
Sie begrüßt, auch die darin enthaltene Rücknahmepflicht
für Elektrokleingeräte und die Beweisumkehrpflicht
beim Export; dies ist im Übrigen eine hervorragende Regelung. Richtig so! Aber warum setzen Sie dies nicht sofort um? Warum warten Sie? Niemand hindert Sie, sofort
eine Rücknahmepflicht der Händler für Elektrokleingeräte und Energiesparlampen einzuführen.
In der Befragung der Bundesregierung in der letzten
Sitzungswoche hat Bundesumweltminister Röttgen
zweimal betont, dass die Ressourceneffizienz bis 2020
verdoppelt werden soll. In der unmittelbar vorher beendeten Ausschusssitzung wurde ein Antrag der Grünen
mit dem gleichen Ziel von Union und FDP abgelehnt.
Warum?
({5})
Das haben wir und auch einige Abgeordnete von FDP
und CDU/CSU nicht verstanden.
Es wird die Berücksichtigung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten, von Umwelt- und Gesundheitsschutz
beim internationalen Rohstoffabbau und -handel geforGerd Bollmann
dert; das ist völlig richtig. Wo aber findet sich die Berücksichtigung dieser Rechte beim Regierungsabkommen mit Kasachstan? Warum wird deutscher Müll nach
China exportiert, dort unter menschenunwürdigsten Bedingungen per Hand verarbeitet und dies dann in
Deutschland als stoffliche Verwertung anerkannt? Damit
unsere Quoten eingehalten werden? Damit China mehr
Sekundärrohstoffe erhält?
Transparenz im Rohstoffsektor wird gefordert. Aber
die Bundesregierung blockiert die Ausarbeitung der
EU-Richtlinie zur projektbasierten Offenlegung von
Zahlungsströmen von Rohstoffunternehmen an ausländische Regierungen.
({6})
Mir ist bewusst, dass gerade im Spannungsfeld von wirtschaftlichen Interessen und Menschenrechten die Erreichung der genannten Ziele schwierig ist. Aber gerade
hier ist mehr möglich, als die jetzige Bundesregierung
leistet.
({7})
Bundesumweltminister Röttgen will Ressourcenweltmeister werden. Die Bundesregierung schafft es aber
noch nicht einmal, die öffentliche Beschaffung konsequent an Ressourcenschonung auszurichten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, bitte weniger Schlagworte benutzen und dafür mehr handeln.
({8})
Noch einige Anmerkungen zu dem, was fehlt. Das
Europaparlament hat vor kurzem ebenfalls ein Ressourcenschutzprogramm gefordert; das haben wir gerade gehört. Das Europaparlament geht jedoch viel weiter als
Schwarz-Gelb. Es fordert zum Beispiel ein Top-RunnerProgramm in den Bereichen Energie und Rohstoffeffizienz. Davon lese ich bei ProgRess nichts. Daher nehme
ich an, dass Sie - wie in der Vergangenheit - ein TopRunner-Programm ablehnen. Ebenso setzt sich das
EU-Parlament für ein auf Ressourcenschutz und besseres Recycling ausgerichtetes Produktdesign ein. Klare
Regeln für die Produktion werden gefordert. Auch dies
fehlt im Deutschen Ressourceneffizienzprogramm. Vorgaben beim Produktdesign und Maßnahmen zur Abfallvermeidung fehlen in Deutschland. Ich sehe auch keine
Initiativen der jetzigen Regierung, dies zu ändern.
Zum Schluss noch ein Wort zu der von Union und
FDP vorgeschlagenen Art der Umsetzung des Ressourcenschutzes. In dem schwarz-gelben Antrag wird der
Vorrang freiwilliger Lösungen vor Gesetzen und Verordnungen gefordert. Die Mehrwegquote, freiwillige Rücknahmesysteme wie Lightcycle und andere freiwillige
Vereinbarungen in unserem Bereich sind meistens nicht
erfüllt worden. Ich könnte Ihnen viele solcher freiwilligen Vereinbarungen nennen: im sozialen Bereich, in der
Bildung, der Wirtschaft oder gerade heute, am Weltfrauentag, freiwillige Vereinbarungen speziell in diesem Zusammenhang. Eines ist diesen freiwilligen Vereinbarungen weitestgehend gemeinsam: Sie sind fast immer
gescheitert.
({9})
Erfolgreich waren sie nur in dem Bestreben der Betroffenen, gesetzliche Regelungen zu verhindern.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
zur Erreichung der wichtigen Ziele beim Ressourcenschutz reichen freiwillige Vereinbarungen nicht aus. Wir
brauchen gesetzliche Vorgaben. Wir brauchen mehr als
ein Programm, das nur auf dem Papier steht. Wir brauchen ein Programm, das in der realen Politik umgesetzt
wird. Es darf nicht mehr, wie bisher, nach dem Motto
„Gut reden, anders handeln“ regiert werden. Nicht das
Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bollmann, ich habe nicht verstanden, ob die SPD
unserem Antrag trotzdem zustimmt. Wahrscheinlich
werden Sie ihm wohl zustimmen, weil Sie das Positive
daran erkennen, auch wenn es Ihnen vielleicht nicht
ganz ausreicht. Das wäre ein positives Signal. Ich glaube
nämlich, dass das Kabinett ein wegweisendes Programm
beschlossen hat.
({0})
Ich denke, dass es wirklich etwas bringt, Umwelt und
Wirtschaft endlich zu verzahnen, für einen besseren Verbraucherschutz und für bessere Kennzeichnungen zu
sorgen und durch das Ressourceneffizienzprogramm insgesamt voranzukommen; das ist doch das Entscheidende. Deswegen: Herzlichen Dank für die Initiative!
Wir wollen sie mit unserem Antrag untermauern.
({1})
Wir haben festgestellt, dass die Grünen auf europäischer Ebene unsere Vorschläge gar nicht so schlecht finden, Herr Krischer. Herr Bütikofer ist ja fast in eine Begeisterungsarie ausgebrochen,
({2})
als deutlich wurde, dass erstmals ein EU-Mitgliedsland
entsprechende Regelungen verankert, sodass in diesem
Bereich endlich etwas passiert. Er fand das sehr positiv.
({3})
- Na ja, das klingt bei Ihnen natürlich ein bisschen anders.
Das Ressourceneffizienzprogramm ({4}) der
Bundesregierung
- so schrieb er verankert zum ersten Mal in einem EU-Mitgliedsland solch ein Programm auf Kabinettsebene. Viele
vorgeschlagene Ansätze, wie die Einbeziehung von
Ressourceneffizienz beim Ökodesign, passen zu
entsprechenden Vorschlägen von EU-Kommission
und Europäischem Parlament. Dies sollte helfen,
solche Instrumente auf EU-Ebene zu verankern.
Das ist doch eigentlich eine positive Rückmeldung.
({5})
Bei Ihnen klingt das natürlich ganz anders. Sie verstehen das so, als hätte er geschrieben, dass dieses Programm ein zahnloser Tiger ist.
({6})
Ich denke aber, hier steht das Gegenteil. Ich frage mich:
Wie sahen denn Ihre konkreten Vorschläge in den letzten
Jahren aus? In welchem Bereich haben Sie etwas Vernünftiges auf den Weg gebracht? Ich glaube, Sie finden
unsere Vorschläge eigentlich ganz gut. Sie dürfen das
nur nicht sagen, weil Sie in der Opposition sind.
({7})
Deswegen trauen Sie sich nicht.
({8})
Eigentlich sind Sie aber froh, dass es endlich vorwärtsgeht.
Ich glaube, dass dieses Programm kein zahnloser,
sondern ein mächtiger Tiger ist, den wir geschaffen haben. Ich gehe davon aus, dass die Forschung, die Beratung und die Verzahnung verbessert werden, dass wir
Rohstoffpartnerschaften entwickeln und das Recycling
dadurch tatsächlich verbessern; die Frau Staatssekretärin
hat es angesprochen. Wir sollten diese Fortschritte aber
nicht durch eine Besteuerung abwürgen. Wir sollten
auch keine Verpflichtungen schaffen. Das sind nie die
besten Lösungen, Herr Bollmann. Denn dann wird versucht, die bestehenden Regelungen zu umgehen und an
anderen Stellen etwas herauszuholen. Das ist geistige
Ressourcenverschwendung, bringt uns aber ganz bestimmt nicht weiter.
Es geht darum, eine positive Grundeinstellung zur
Ressourceneffizienz und zum Ressourcengebrauch zu
schaffen. Man darf nicht die ganze Zeit immer nur die
negativen Effekte sehen. Wir dürfen nicht nur Verzicht
predigen, wie es die Grünen tun. Sie fordern ja: Verzicht,
Verzicht, Verzicht! Das mag in Deutschland zum Teil
ganz gut ankommen. Das wird aber im Rest der Welt
nicht gut ankommen. Wir müssen den Leuten zeigen,
dass es nicht darum geht, möglichst wenig zu verbrauchen, sondern dass es darum geht, die Dinge sinnvoll zu
gebrauchen und nichts kaputtzumachen. Man muss aber
nicht unbedingt wenig verbrauchen. Das Entscheidende
ist, dass die Menschen endlich einen positiven Eindruck
bei diesem Thema bekommen. Ich glaube, die Realität
ist schon ein bisschen weiter als Sie. In früheren Zeiten
haben Sie sich bei diesen Themen berechtigterweise gut
eingebracht; das sei Ihnen unbenommen.
({9})
Die Grünen haben da wirklich einiges auf den Weg gebracht. Aber mit diesem Programm verfolgen wir zum
ersten Mal einen konkreten Ansatz, der auch funktioniert.
Wenn man sich über Ressourceneffizienz Gedanken
macht, dann muss man das auch im Hinblick auf die bürokratische Ebene tun. Man muss erst einmal überprüfen: Was passiert wo? Was wird in den Kommunen, in
den Kreisen, auf Länderebene und auf Bundesebene gemacht? So etwas gab es bisher noch nicht.
Wir haben bei den Ländern direkt nachgefragt, Herr
Bollmann. Die einzigen Länder, die nicht geantwortet
haben, waren zufälligerweise Berlin und Brandenburg.
Da gibt es nichts; da wird nichts dergleichen gemacht. In
einem Fall wurde einfach nicht geantwortet. In Brandenburg konnte man nicht einmal Auskunft geben, wer
überhaupt dafür zuständig ist. Wenn das die Art und
Weise Ihres Handelns ist und Sie gleichzeitig Ressourceneffizienz predigen, dann ist das scheinheilig und
führt bestimmt zu keinem Ergebnis.
({10})
Das, was Herr Bollmann zum Thema Kreislaufwirtschaft gesagt hat, ist doch das beste Beispiel dafür, dass
es Ihnen wirklich nicht darum geht, Ressourcen effizienter zu nutzen, sondern es geht Ihnen darum, Besitzstände
zu verteidigen. Wenn es Ihnen nämlich darum gegangen
wäre, ein besseres Recycling zu ermöglichen, wie Sie es
gerade gesagt haben, dann würden Sie sich doch dafür
einsetzen, dass derjenige, der höhere Recyclingquoten
schafft, eine Chance im Wettbewerb hat. Das haben Sie
aber im Bundesrat verhindert. Um für die Kommunen
und die Bundesländer Besitzstände zu wahren, haben Sie
verhindert, dass derjenige, der besser ist, jederzeit alle
Möglichkeiten hat, tätig zu werden. Ihnen geht es nicht
um die Frage, wer es besser macht, sondern Ihnen geht
es darum, bestimmte Interessengruppen zu unterstützen.
Sie und auch die Grünen verzichten damit darauf, ein
besseres ökologisches Ergebnis zu erreichen. Das halte
ich, ehrlich gesagt, für relativ schändlich, und das macht
Ihre Aussagen sehr unglaubwürdig.
({11})
Wir müssen das Recycling stärken. Das machen wir
durch die Wertstofftonne. Im kommenden Jahr recyceln
wir wahrscheinlich 600 000 Tonnen mehr, die wir dann
nicht verbrennen müssen. Wir haben übrigens die Nutzungskaskaden berücksichtigt. Damit ist das Problem,
das Sie infolge der Verbrennung sehen, Herr Bollmann,
überhaupt nicht mehr gegeben. Wir werden die Stoffe so
lange recyceln, wie es möglich ist. Wir werden die Mitarbeiter schulen, damit sie sich besser mit Effizienz auskennen. Wir werden Innovationsgutscheine ausstellen
und Effizienzchecks durchführen. Wir werden also positive Anreize setzen, damit die Leute eine echte Chance
haben, hier vorwärtszukommen. Das ist gut für die Umwelt, und das ist auch gut für Innovationen.
Vor allem der Verein Deutscher Ingenieure ist von
dem Programm sehr begeistert und spricht davon, es
seien sehr viele Anregungen aus der Praxis übernommen
worden. Auch die Schwerpunktsetzung auf den Erhalt
und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sei gut.
Das ist das Entscheidende. Denn wenn wir am Schluss
die Ressourcenverschwendung in Deutschland dadurch
eingrenzen, dass wir sie in andere Länder verlagern, in
denen viel niedrigere Standards gelten, dann ist niemandem geholfen. Dann haben wir dem Wirtschaftsstandort
Deutschland geschadet. Gleichzeitig haben wir der Umwelt einen Bärendienst erwiesen.
Das ist genau das, was wir nicht wollen. Deswegen
setzen wir nicht auf negative, sondern auf positive Impulse. Das ist der Unterschied zwischen dem, was Sie
wollen, und dem, was wir wollen. Wir wollen nämlich
nicht, dass man ein ökologisches Putzmittel erzeugt,
während man gleichzeitig die Tropenwälder abholzt. Wir
wollen nicht, dass man die Bioenergie nutzt, ohne sich
darüber Gedanken zu machen, was mit der Fläche passiert und was gespritzt wird. Dabei erzielt man nur einen
vermeintlich positiven ökologischen Effekt. In Wirklichkeit hat man aber einen negativen Effekt erreicht.
Deswegen müssen wir mehr zu dem Gedanken des
Gebrauchs statt des Verbrauchs kommen. Wir müssen
weg von der Green Economy hin zur Blue Economy.
Wir müssen zu einem anderen Ressourcenbegriff und zu
einer anderen Verwendung der Stoffe kommen - wir
kommen heute Abend noch darauf zu sprechen -, sodass
man sie jederzeit wiederverwerten kann. Es geht also
nicht um Verzicht, sondern um positive Aspekte und um
positive Impulse. Das ist das, was wir hier unterstützen.
Ich glaube, das ist ein großer Schritt nach vorn.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Kostenstruktur des produzierenden Gewerbes entfallen im Durchschnitt 45 Prozent der Kosten auf das Material und nur 18 Prozent der Kosten auf das Personal. Ich
kenne Betriebe in der Industrie, bei denen die Personalkosten noch wesentlich niedriger sind. Es gibt trotzdem
Lohndrückerei, die im Mittelpunkt von Kostensenkungsprogrammen steht, anstatt zu überlegen, wie man weniger Material verbrauchen kann. Das ginge natürlich auch
so. Es gibt immer Alternativen.
Produkte müssten nicht nur effizienter hergestellt
werden, sondern auch langlebiger sein, Kollege Meierhofer.
({0})
Produkte müssten grundsätzlich zerstörungsfrei demontierbar sein, um die Wiederverwendung intakter Teile zu
ermöglichen, ohne sie zu kaputtzumachen. Das ist eine
Frage, wie das Ganze konstruiert ist. Produkte müssten
so gestaltet werden, dass sie nach ihrer Lebensdauer
sinnvoll stofflich verwertbar sind. Viele Wegwerf-, aber
auch Luxusartikel müssen in Zeiten des Klimawandels
und der Ressourcenknappheit wenn schon nicht verboten, dann wenigstens deutlich teurer werden.
({1})
Wenn wir das machen könnten, dann hieße das mehr
Beschäftigung in Produktion, Reparatur und Dienstleistung, etwa in der Vorbereitung zur Wiederverwendung Stichwort Wertstoffwirtschaft. Hier gibt es noch sehr
viele weitere Jobs, die ich jetzt nicht genannt habe.
Auf der anderen Seite würden dann die Rohstoffpreise sowohl am Produkt, aber wahrscheinlich auch insgesamt sinken; denn es würden nicht mehr so viele Rohstoffe wie vorher benötigt. Weniger Material wäre also
notwendig. Damit könnten wir auch Konflikte vermeiden, die weltweit bei der Rohstoffförderung existieren.
Ich brauche Ihnen das nicht näher zu erläutern. Hier gibt
es ganz viele Konflikte: Kinderarbeit, Vertreibung usw.
Der Antrag der Koalition zur Ressourcenschonung und
auch das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm,
ProgRess, gehen erst einmal in die richtige Richtung,
zum Beispiel in Richtung weniger Abfall und dahin, aus
den vorhandenen Rohstoffen mehr zu machen.
({2})
Zentrales Ziel bleibt aber ressourceneffizientes Wachstum. Die Frage, ob sich der Ressourcenverbrauch überhaupt so weit abkoppeln lässt, dass wir bis 2050 auf eine
Minderung des Ressourcenverbrauchs um 60 bis 80 Prozent kommen, wird nicht gestellt. Abkopplung bedeutet
doch, dass man irgendwann ein Auto bauen kann, für das
zum Beispiel 37 Prozent weniger Rohstoffe benötigt
werden. Ist das überhaupt möglich, oder muss ich hier
ganz andere Dinge tun?
({3})
Es stellt sich also schon die Frage nach den Rohstoffen. Hier fehlt uns ein wachstumskritischer Ansatz.
({4})
Ich glaube auch nicht, dass diese Zahlen mittels Effizienz- und Technologiegläubigkeit zu erreichen sind.
Dieser Ansatz fehlt auch im Deutschen Ressourceneffizienzprogramm und im Koalitionsantrag. Sie bauen
mehr auf Rohstoffsicherung als auf Ressourcenschonung. Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm beinhaltet viele Prüfaufträge und Ankündigungen, wie
etwa beim Top-Runner-Programm, auf das wir schon
seit der vorletzten Legislaturperiode warten. Ich sage Ihnen: Machen Sie es endlich!
({5})
Bei Begriffen wie Sicherstellung des diskriminierungsfreien Zugangs der Unternehmen auf dem Weltmarkt, Abbau von Handelshemmnissen oder auch Rohstoffpartnerschaften gehen bei mir die Alarmglocken an.
Das ist sehr gefährlich. Hierunter können wir uns sehr
viel vorstellen. Auch zu der Frage, unter welchen Bedingungen in den Förderländern gearbeitet wird, gibt es
keine Aussagen. Im Zweifelsfall interessiert das niemanden.
Stichwort Kanadische Ölsande. Die Bundesregierung
schafft es nicht einmal hier, für ökologische Importstandards einzutreten.
({6})
Das hätten wir alle von Ihnen erwartet.
({7})
In Rohstoffpartnerschaften wie der mit Kasachstans Diktator Nasarbajew sehen wir ebenfalls keinen Beitrag zu
einer nachhaltigen Weltwirtschaftsordnung.
Unter dem Strich: Es gibt positive Ansätze. Uns gehen sie nicht weit genug. Ich habe unsere Kritik genannt.
Wir werden dem Antrag nicht zustimmen.
({8})
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat ist es so, dass das Thema Ressourceneffizienz eines der zentralen Zukunftsthemen ist, die wir haben;
denn wir müssen immer mehr mit immer weniger Rohstoffen schaffen. Das muss letztendlich das Ziel sein.
({0})
Herr Meierhofer, wenn Sie hier schon Herrn Bütikofer
zitieren, dann zitieren Sie ihn bitte vollständig.
({1})
Sie hören genau an der Stelle auf, an der Herr Bütikofer
sagt: Der Ansatz, den die Bundesregierung für ein solches Programm wählt, ist zwar richtig, aber das Programm, das sie hier vorlegt, kann man nur ablehnen. Das sind 112 Seiten reine Lyrik. 112 Seiten bedrucktes
Papier ohne jede konkrete Maßnahme!
({2})
Die Kollegen haben gerade schon eine ganze Reihe von
Punkten genannt.
Da Sie hier die EU-Ebene ins Spiel bringen, muss
man auch sagen: Die Bundesregierung stand genau beim
Thema Ressourcenschonung auf der Bremse,
({3})
und sie hat Herrn Kommissar Potocnik kurz vor Weihnachten dabei ausgebremst, konkretere Maßnahmen
durchzuführen. Das ist die Realität Ihrer Ressourcenpolitik, und diese Realität findet sich auch in anderen
Bereichen wie bei der Energieeffizienz oder bei kanadischen Teersanden. Wenn Sie zulassen, dass diese importiert werden und das Klima und die Umwelt zerstört werden, dann ist das die Realität Ihrer EU-Politik. Das hat
nichts mit dem zu tun, was Sie hier vortragen.
({4})
Wenn man die 112 Seiten liest, dann fühlt man sich
phasenweise an Wikipedia erinnert.
({5})
Da wird aufs Schönste die Welt erklärt. Das ist wunderbar, alles klar. Dort erfährt man, wie viel Gold in Handys
enthalten ist und wie wichtig es ist, Handys einzusammeln. Man denkt dann: Jetzt kommt der Hammer; jetzt
kommt die Lösung. Es kommt aber nichts. Darin heißt es
sinngemäß nur: Die Erfassung von Althandys muss optimiert werden. - Das ist wunderbar. Aber wie soll es
funktionieren? Fährt Herr Röttgen oder Herr Meierhofer
demnächst mit dem Auto herum und sammelt irgendwo
Handys ein, oder was kommt dabei heraus?
({6})
Zur Elektronikschrottverordnung oder zu konkreten
Maßnahmen ist nichts zu lesen.
({7})
Ein anderes zentrales Thema in Ihrem Programm: Ihr
Handlungsansatz Nummer eins ist die Deutsche Rohstoffagentur DERA. Ich habe in der Fragestunde den
Minister gefragt, wie viele Mitarbeiter diese Handlungsinformationsplattform, eines der zentralen Instrumente,
die Sie angeblich implementieren, hat. Die Antwort
zeigte, dass der Minister es nicht wusste. Ich habe behauptet, es seien fünf. Ich muss mich entschuldigen.
Diese Zahl stimmt nicht. Ich bin nachher korrigiert worden. Man hat mir gesagt, es seien weniger als fünf. Es
sind also null bis vier Mitarbeiter, die Ihre zentrale
Handlungsplattform ausmachen. Es ist lächerlich, was
Sie hier vorlegen.
({8})
Das zieht sich durch das ganze Programm. Sie können
es rauf- und runterzählen: Es sind 112 Seiten bedrucktes
Papier, aber letzten Endes kommt nichts Konkretes heraus.
({9})
Ein weiteres Beispiel ist der auf EU-Ebene geforderte
Top-Runner-Ansatz. Man sucht ihn vergeblich; er fehlt.
Zur öffentlichen Beschaffung, wo Sie konkret handeln
könnten und nicht die private Wirtschaft in die Pflicht
nehmen müssten, wovor Sie immer zurückschrecken,
findet sich überhaupt nichts. Sie beziehen sich nicht einmal auf die EU-Ziele. Das ist nicht in Ordnung.
Ganz schlimm ist aber - da geht die Koalition noch
weiter als die Bundesregierung -, dass Sie die Ziele, die
Helmut Kohl 1994 zu dem Thema implementiert hat,
nämlich die Verdopplung der Ressourcenproduktivität
bis 2020, offensichtlich versenken wollen. Denn anders
ist Ihre Ablehnung unseres Antrags im Umweltausschuss nicht zu verstehen. Sie zerstören das, was über
mehrere Legislaturperioden hinweg zu dem Thema aufgebaut wurde. Sie wollen es einfach nicht mehr wahrhaben. Stattdessen gibt es nur Lyrik, Ankündigungen und
Texte, aber keine konkreten Maßnahmen.
({10})
Bitte haben Sie an der Stelle Verständnis, meine Damen und Herren: Trotz aller schönen Lyrik und aller Gemeinsamkeit, in der wir uns über die Sprache verständigen können, können wir das nicht mitmachen. Das ist
aus unserer Sicht reine Politiksimulation. Wie der Rheinländer so schön sagt: So einen Kokolores machen wir
nicht mit.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Thomas Gebhart für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute einen Antrag zum Thema
Ressourceneffizienz. Ich gebe gerne zu, dass dieses Wort
vielleicht ein wenig technisch klingt. Wahr ist aber: Die
Steigerung der Ressourceneffizienz ist eine der großen
Aufgaben dieser Zeit.
Warum ist das so? Weil die weltweite Nachfrage nach
bestimmten Ressourcen zugenommen hat. Dieser Trend
wird durch eine nach wie vor wachsende Weltbevölkerung verstärkt. Die Herausforderung ist deswegen so
groß, weil mit der Ressourcennutzung zum Teil erhebliche Umweltbelastungen verbunden sind. Die Herausforderung ist für uns, für Deutschland als starke Industrienation, die wir bleiben wollen, deswegen besonders
groß, weil wir in hohem Maße von Rohstoffimporten abhängig sind.
Es ist klar: Die Rohstoffversorgung zu sichern, ist ein
sehr wichtiger Punkt. Dazu gibt es die Rohstoffstrategie.
Ein Punkt, der hier ebenfalls hineingehört, ist mindestens genauso wichtig wie die anderen und wird in Zukunft eher an Bedeutung gewinnen: die Steigerung der
Ressourceneffizienz.
({0})
Wir wollen Wohlstand und Wachstum stärker vom
Ressourceneinsatz entkoppeln. Wir wollen nachhaltiges
Wirtschaften. Deutschland ist übrigens auf diesem Weg.
Die Rohstoffproduktivität hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Viele Unternehmen haben erhebliche
Anstrengungen unternommen. Wir wollen eine der ressourceneffizientesten Volkswirtschaften dieser Welt
sein. Wir wollen diesen Weg weitergehen, weil wir vor
allem darin große Chancen sehen, sowohl ökologische
als auch ökonomische. Der effiziente Umgang mit knappen Ressourcen wird künftig noch mehr über die Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Effizienztechnologien gehören mit Sicherheit zu den Wachstumstechnologien der
nächsten Jahre.
Wir begrüßen daher außerordentlich, dass die Bundesregierung ein Ressourceneffizienzprogramm aufgelegt hat. Es ist ein Meilenstein. Ein solches Programm
gab es bislang noch nie. Die Handlungsfelder und die
Aufgaben werden umfassend beschrieben und dargelegt.
Wir begrüßen insbesondere - das ist auch Gegenstand
unseres Antrags -, dass dieses Programm auf Anreize,
freiwillige Lösungen, Information, Beratung, Forschung
und Entwicklung sowie Weiterbildung und Bildung
setzt. Es geht gerade nicht darum, die Wirtschaft in irgendeiner Weise zu bevormunden, sondern darum, klassische Win-win-Situationen zu erkennen und zu nutzen.
({1})
Ich will kurz drei wichtige Punkte nennen, die wir
aufgreifen. Der erste Punkt sind Forschung und Entwicklung. Wir setzen vor allem auf technologische Innovationen, weil diese ein Schlüssel zu mehr Ressourceneffizienz sind. Aus diesem Grund wollen wir die
Forschungsprogramme noch stärker auf diesen Aspekt
ausrichten. Wir begrüßen, dass die KfW ganz aktuell
hier einen neuen Förderschwerpunkt gesetzt hat.
({2})
Der zweite Punkt ist: Wir wollen darauf hinwirken,
dass die Ressourceneffizienz stärker als bisher bei der
Normung berücksichtigt wird. Dabei ist entscheidend,
dass wir den gesamten Produktlebenszyklus im Auge behalten, also nicht nur den Ressourceneinsatz bei der Herstellung eines Produktes, sondern auch die Nutzungsphase und in gleicher Weise die Entsorgungsphase.
({3})
Der dritte Punkt ist: Wir stärken die einzelbetriebliche
Effizienzberatung. Sie ist vor allem für kleine und mittlere Unternehmen eine Hilfe. Ich habe mir vor kurzem
hier in Berlin das Ressourcenzentrum angesehen, eine
Kooperation des Vereins Deutscher Ingenieure und des
Ministeriums. Es ist beeindruckend, zu sehen, welche
hervorragenden Projekte schon heute realisiert werden.
Mit Blick auf die Zukunft kann ich nur sagen: Das
Potenzial dort ist riesengroß.
Ich will noch etwas zur Opposition, insbesondere zu
den Grünen, sagen. Herr Krischer, zuerst fanden Sie das,
was wir gemacht haben, ganz gut, haben dann aber kritisiert, dass das Programm und unser Antrag nicht konkret
genug seien. Ich will Ihnen dazu nur zwei Punkte nennen.
Der erste Punkt ist: Sie müssen dieses Programm
auch lesen. Es enthält viele konkrete Punkte.
({4})
Sie haben vorhin beispielsweise behauptet, der TopRunner-Ansatz werde nicht erwähnt. Ich empfehle Ihnen, Seite 52 des Programms zu lesen. Genau dort ist der
Top-Runner-Ansatz zu finden.
({5})
Das Programm enthält noch viele andere konkrete
Punkte.
Der zweite Punkt ist: Es handelt sich um ein Programm, das noch umgesetzt und in der Umsetzung an
vielen Stellen weiter konkretisiert werden muss.
({6})
Ich lade die Opposition ausdrücklich ein, sich mit klugen
Vorschlägen in diesen Umsetzungsprozess einzubringen.
Wenn Sie aber vorschlagen, eine zusätzliche Abgabe
einzuführen, die die Wirtschaft sowie die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land zusätzlich belastet, dann
sage ich Ihnen ausdrücklich: Dies entspricht nicht unserer Vorstellung. Da unterscheiden wir uns. Diesen Weg
werden wir nicht mitgehen.
({7})
Kurzum, die Steigerung der Ressourceneffizienz ist
eine große Aufgabe. Wir gehen diese Aufgabe umfassend und systematisch wie nie zuvor an. Damit nutzen
wir auch die gewaltigen Chancen, die in diesem Bereich
liegen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Antrag heute
zu.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
mit dem Titel „Deutsches Ressourceneffizienzprogramm Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8875, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8575 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz ({0}), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Steuerungsfehler bei der Hochschulzulassung
untersuchen und Zulassungsreform besser unterstützen
- Drucksache 17/8884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Swen
Schulz für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Hochschulzulassung, also der Weg, wie Studieninteressierte
und Hochschulen zueinanderfinden, ist in Teilen chaotisch organisiert. Das ist für die Hochschulen schwierig.
Das ist aber vor allem für die Studieninteressierten belastend und abschreckend. Was im Resultat vielleicht das
Schlimmste ist: Im letzten Wintersemester blieben fast
20 000 Studienplätze unbesetzt. Das ist Irrsinn.
({0})
Wir kennen dieses Problem schon länger. Wir haben
deswegen vor Jahren eine gemeinsame Lösung erarbeiSwen Schulz ({1})
tet. Wir haben gesagt, dass ein Serviceverfahren installiert werden soll, um die Probleme zu lösen. Doch dessen Einführung ist wiederholt gescheitert. Ich will jetzt
nicht so tun, als ob wir von der SPD immer schon alles
besser gewusst haben.
({2})
Das ist nicht der Fall. Wir haben das ja gemeinsam beschlossen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition: Man muss im Laufe der Zeit eben
auch einmal dazulernen. Wenn ich richtig gezählt habe,
haben wir uns im Ausschuss in den vergangenen Jahren
siebenmal mit dieser Thematik befasst.
({3})
Zumindest in der letzten Zeit, in den letzten paar Jahren,
war doch immer deutlicher erkennbar, was für Probleme
es gibt, wo die Schwierigkeiten liegen. Wir haben die
Probleme auch benannt.
({4})
Schon Ende 2008, als es erkennbar immer noch Probleme gab, haben wir die Ministerin Schavan darauf hingewiesen, dass das Zulassungsverfahren so nicht geregelt werden kann. Als zum Beispiel im April 2011 zum
wiederholten Mal die Einführung des dialogorientierten
Serviceverfahrens verschoben werden musste, haben wir
hier im Bundestag einen Antrag eingebracht und ein
Konzept für einen Notfallplan und für einen Plan B vorgelegt.
({5})
Aber wie war die Reaktion der Bundesregierung, der
Koalitionsfraktionen? Gleich null. Sie haben die Augen
fest geschlossen und sind wieder auf dieselbe Wand zugerannt - und Sie sind wieder gescheitert.
({6})
Was an dem Ganzen vielleicht am ärgerlichsten ist:
Für dieses Versagen haben Sie einen Sündenbock gesucht und gefunden: die HIS, eine öffentliche Gesellschaft, die für die Software an vielen Hochschulen zuständig ist.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so zu tun, als
ob die HIS allein verantwortlich und man selber völlig
raus aus dem Spiel wäre, das ist stillos, das ist falsch,
und das bringt die Lösungsfindung nicht voran.
({8})
Sie wollen den Sündenbock jetzt durch einen Privatisierungskurs zur Strecke bringen. Aber zur Problemlösung müssen Sie ganz anders vorgehen. Deswegen haben wir hier heute einen Antrag vorgelegt, der ein
entsprechendes Konzept aufzeigt.
Wir wollen das dialogorientierte Serviceverfahren
zum Erfolg bringen. Wir sind bereit, dass der Bund mögliche Mehrkosten dafür übernimmt. Bis zum Start des
dialogorientierten Serviceverfahrens möchten wir, dass
in der Clearingphase ein koordiniertes Vergabeverfahren
durchgeführt wird. Und wir wollen einen Ersatzplan für
das Wintersemester 2013/2014 haben, bei dem ein effizientes Zulassungsverfahren nach dem Typ D plus
durchgeführt wird. Ich will das jetzt nicht zu technisch
machen; aber das basiert auf dem, was wir bereits entwickelt haben. Darüber hinaus muss es natürlich eine Prozessanalyse geben, die auch das politische Programmmanagement mit einbezieht. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, orientieren Sie sich daran,
anstatt Ablenkungsmanöver zu fahren!
({9})
Meine Redezeit ist leider sehr begrenzt. Deswegen
will ich zum Abschluss nur noch eine Bemerkung machen. Wir haben jetzt nur noch diesen einen letzten Versuch. Das muss jetzt mit dem Serviceverfahren wirklich
klappen. Wenn das - aus welchen Gründen auch immer nicht gelingt, dann müssen wir anders und grundsätzlicher diskutieren. Dann müssen auch die rechtlichen Rahmenbedingungen hier im Deutschen Bundestag thematisiert werden.
({10})
Dann muss ein Bundeszulassungsgesetz auf die Tagesordnung, das einheitliche Standards setzt.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Monika Grütters für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Schulz, nach einem erstaunlichen Erkenntniszuwachs der SPD reden wir heute zum wiederholten Mal
über das dialogorientierte Hochschulzulassungsverfahren.
({0})
- Offensichtlich ist der Antrag Ihrem Erkenntnisgewinn
geschuldet. Ich jedenfalls bin überrascht, dass wir heute
hier zum wiederholten Mal und relativ kurzfristig nach
der letzten ausführlichen Beratung im Ausschuss wieder
darüber reden müssen.
({1})
Wir alle wollen, dass die Studierenden einen besseren
Hochschulzugang als beim bisherigen Verfahren haben.
({2})
Die Vorteile des DoSV liegen für jeden - auch für die
SPD, so denke ich - auf der Hand. Wer sich einmal in
der nahegelegenen Mohrenstraße bei Professor Jähnichen
im Fraunhofer-Institut kundig macht, kann das direkt erkennen.
({3})
Wie gesagt, gerne nehme ich den Erkenntnisgewinn
der SPD zum Anlass, hier noch einmal über die, wie Sie
es nennen, Entwicklung und Einführung des DoSV zu
reden und es weiter zu unterstützen. Ich freue mich darüber, dass wir uns zumindest in dieser grundsätzlichen
Frage noch immer einig sind.
({4})
Dennoch habe ich mich über manche Volte in Ihrem
Antrag gewundert. Erstens. In dem Antrag taucht wiederholt die Forderung nach weiteren Bundesmitteln für
die Etablierung des dialogorientierten Serviceverfahrens
auf. Gleich zweimal fordern Sie in Ihrem Antrag Bundesmittel für die Konnektorenanschaffung. Darüber
kann ich mich nur wundern. Ein Allheilmittel sind genau
diese berühmten Bundesmittel nämlich nicht.
Am 2. November hat Staatssekretär Rachel Sie alle in
einer Drucksache darüber unterrichtet - ich zitiere -,
dass alle Länder ihren Hochschulen ausdrücklich die
Übernahme der Kosten für die Beschaffung der Konnektoren zugesichert haben.
({5})
Ich frage mich also, ob Sie an dieser Stelle wider besseres Wissen Zweifel an der Finanzierung des Projekts wecken wollen. Ich glaube, mit derartigen Einlassungen
tragen Sie nicht dazu bei, den Erfolg des Programms zu
unterstützen.
({6})
Außerdem entlasten Sie die zuständigen Länder, nachdem Sie die Finanzierung zugesichert haben, völlig ohne
Not von ihren Pflichten. Das halte ich für falsch.
({7})
Zweitens. Fragwürdig ist, dass Sie plötzlich einen
dringenden Bedarf sehen, Umstände und Ursachen der
Probleme aufzudecken. Wir hatten doch erst am 18. Januar - das ist erst wenige Wochen her - das große Fachgespräch - Sie haben es angesprochen -, in dem auch
Sie die Gelegenheit hatten, die Hintergründe zu erörtern.
Im Ausschuss gab es während des Fachgesprächs übrigens einen Konsens - das fand ich gut -, dass wir auf gegenseitige Schuldzuweisungen eher verzichten wollen.
Wenn Sie vom Sündenbock HIS sprechen, kann ich nur
sagen: In Ihrem Antrag versuchen Sie, den Sündenbock
Annette Schavan auszumachen. Das ist nun wirklich ein
Manöver, das nicht nur ein Stück weit unanständig, sondern auch völlig unsachgemäß ist.
({8})
Konstruktive Lösungen des Problems wären besser gewesen. Das hätte auch Ihrem Antrag gutgetan. Schuldzuweisungen jedenfalls sind keine Lösung. Es drängt sich
der Verdacht auf, dass der Wunsch nach einer Ursachensuche beim DoSV für die SPD eher darin begründet ist
- ein durchsichtiges Manöver -, eine der erfolgreichsten
Ministerinnen ins Visier zu nehmen.
({9})
Pauschal und, wie ich finde, sehr oberflächlich beklagen
Sie wiederholte Managementfehler, ohne ein konkretes
Versäumnis zu benennen.
({10})
Das finde ich stillos, Swen Schulz, falsch, und es bringt
die Sache im Übrigen nicht voran.
({11})
Wahr ist: Wenn eine ihre Aufgaben auch bei diesem
leidigen Thema erledigt hat, dann ist es die Bundesministerin.
({12})
Mit den 15 Millionen Euro aus Bundesmitteln ist jedenfalls eine einwandfrei funktionierende Software entwickelt worden. Der Bund hat also seine Leistung erbracht.
({13})
Eine dritte Überraschung. Sie beschreiben in Ihrem
Antrag zwar, wie das System D oder das System D plus
funktionieren soll, aber ich kann nicht sehen, dass es die
Probleme löst.
Erstens liegt das Hauptproblem in der Zeitschiene,
darin, dass das Ganze immer wieder verschoben wird.
Das System D zu installieren, würde mindestens 26 Monate dauern.
({14})
Das Problem wäre damit nicht nur nicht zeitnah gelöst;
es würde noch länger dauern, als wenn wir jetzt hieran
weiterarbeiten.
Zweitens. Die Risiken und Hindernisse bei einem solchen Paradigmenwechsel - das wäre es ja - verschweigen Sie wohlweislich. Sie sagen nicht, welche Rechenkapazitäten dafür nötig wären. Sie sagen auch nicht, wie
das Zulassungsverfahren kurzfristig an die Stiftung für
Hochschulzulassung angebunden werden soll. Sie sagen
nichts darüber, mit welchen Personalstrukturen ein solches Zentrum arbeiten müsste und wie es zu finanzieren
wäre.
Sie sagen vor allen Dingen nichts über das heikle
Thema Datenmigration. Es geht um massenweise hochsensible Daten. Wie die durch die gesamte Republik geschickt werden sollen - das ist übrigens der Grund dafür,
dass alle Hochschulen dieses System nicht wollen -, verschweigen Sie. Insofern ist das ein, wie ich finde, völlig
aus der Luft gegriffener Vorschlag, der offensichtlich in
erster Linie ein Ziel hat, nämlich ein bisschen Show zu
machen.
({15})
Dass wir alle uns nach wie vor Gedanken über den
Masterplan für die IT-Infrastruktur des Hochschulsystems machen müssen, und zwar über die Zulassungssoftware weit hinaus, haben wir alle am 18. Januar erlebt
und gelernt. Dafür müssen wir uns noch einmal zuständig machen, obwohl die Länder die ersten Akteure sind.
Ich glaube, dass Ihr Antrag eher zu größerer Verunsicherung beiträgt. Sie chaotisieren die ohnehin schwierige Diskussion.
({16})
- Aber das ist ja auch so! Das System D ist das Gegenteil einer Lösung. Es bringt nur noch mehr Chaos.
({17})
Alle Beteiligten haben immer gesagt, dass sie es nicht
wollen.
({18})
Ihr Antrag ist ein Ablenkungsmanöver. Unausgegorene Schnellschüsse wie dieser lösen das Problem, das
wir alle inzwischen erkannt haben, sicher nicht.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Centrum für Hochschulentwicklung sagte dieser Tage
voraus, dass es bis zum Jahr 2025 mindestens 1,1 Millionen zusätzliche Studienanfängerinnen und Studienanfänger geben wird. Die Kultusministerkonferenz hat gerade
zugegeben, sich bei ihren Prognosen deutlich verschätzt
zu haben, und korrigierte ihre Zahl nach oben: bis 2020
jährlich 60 000 bis 80 000 mehr Studienanfängerinnen
und Studienanfänger.
Jetzt werden diese Zahlen endlich einmal offiziell genannt. Überrascht haben sie allerdings nur die Bundesregierung - den Eindruck hat man zumindest -;
({0})
denn die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die
Studierendenvertretungen, die Studentenwerke, auch die
Fraktion Die Linke - sie alle haben schon seit einigen
Jahren nicht mehr an die prognostizierten niedrigen Zahlen der Bundesregierung geglaubt. Und: Wir finden es
gut, dass immer mehr junge Menschen ein Studium aufnehmen wollen.
({1})
- Wenn Sie das auch so toll finden, dann handeln Sie
entsprechend!
Dass die Bundesregierung die Hochschulen nicht
nach dem Bedarf der Studierenden, sondern nach Kassenlage und Wunschprognosen ausstattet, zieht sich wie
ein roter Faden durch die Bildungspolitik von SchwarzGelb. Im Herbst letzten Jahres fehlten genau deswegen
schon 100 000 Studienplätze.
Was diese Politik außerdem bedeutet, kann man erfahren, wenn man eine Hochschule besucht, die keine
Exzellenzuni ist oder die nicht irgendwelche gesponserten Stiftungslehrstühle hat: Tausende von jungen Menschen ohne Studienplatz, zu wenig Lehrkräfte, unterbezahlte Professorinnen und Professoren - das haben wir
gerade durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt bekommen -, zu wenig Wohnheimplätze, BAföG-Anträge,
die sechs Monate und länger nicht bearbeitet werden das ist die Situation an den Hochschulen, und dieser Zustand muss endlich beendet werden.
({2})
Die Meldungen zu den steigenden Studierendenzahlen und zu den prekären Verhältnissen an Hochschulen
überschlagen sich. Und was macht die Bundesregierung? Anstatt selbst mehr Geld in die Hand zu nehmen,
übt sie sich darin, Verantwortung abzugeben, und findet,
die Länder müssten handeln.
Seit einiger Zeit hoch im Kurs als Sündenbock ist
- mein Kollege Schulz hat es schon angesprochen - die
HIS-IT, die IT-Sparte des Hochschul-Informations-Systems. Sie soll ein Internetportal zur koordinierten Vergabe von Studienplätzen entwickeln, damit nicht auch
noch inmitten der ganzen Misere um mangelnde Studienplätze viele Plätze unbesetzt bleiben. Der Start dieses
Portals wurde aus technischen Gründen mehrfach verschoben, zuletzt auf das Wintersemester 2013/2014.
Was schlägt die Bundesregierung jetzt vor? Sie zieht
eine Privatisierung der HIS-IT in Betracht, ganz so, als
hätte es die ganzen negativen Erfahrungen der letzten
Jahre mit Privatisierungen und Deregulierungen nicht
gegeben. Ich freue mich sehr, dass von der Privatisierung der HIS-IT im vorliegenden SPD-Antrag nicht die
Rede ist. Thüringens Bildungsminister Matschie von der
SPD war ja leider Mitbeförderer dieser Idee.
Für die Linke ist klar: Die Hochschulzulassung gehört
in die öffentliche Hand.
({3})
Es kann nicht sein, dass irgendwann private Anbieter
zum Beispiel über die Höhe der Kosten für die Vermittlung eines Studienplatzes entscheiden, die dann vielleicht auch noch von den Bewerberinnen und Bewerbern
oder von den Hochschulen getragen werden müssen.
Natürlich brauchen wir eine Plattform, die es den Studienbewerberinnen und Studienbewerbern ermöglicht,
einen Überblick über Studienangebote zu bekommen,
und mit der die Studienplatzvergabe koordiniert wird.
Diese Plattform kann aber - ganz egal, wie gut sie technisch ausgerüstet ist - nicht die Zehntausenden jährlich
fehlenden Studienplätze ersetzen. Das ist doch das eigentliche Problem.
({4})
Wir brauchen endlich eine Aufstockung des Hochschulpaktes auf mindestens 500 000 Studienplätze und
ein Bundeszulassungsgesetz, das jedem Studienberechtigten das Recht auf ein Studium garantiert. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem NC-Urteil von 1972 in
aller Deutlichkeit gesagt:
({5})
Die Beschränkung des Hochschulzugangs ist eine
Grundrechtseinschränkung, die nur zur Regulierung eines temporären Mangels an Studienplätzen überhaupt
zulässig ist. - Dieser temporäre Mangel hat nun gerade
seinen 40. Geburtstag.
({6})
Die Tausenden Schülerinnen und Schüler, die in den
vergangenen Jahren empört auf die Straße gegangen
sind, brauchen nicht nur eine bessere Software, sie brauchen vor allem einen Studienplatz.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahr
2008 brachten SPD und CDU/CSU das dialogorientierte
Zulassungsverfahren auf den Weg. Alle waren voll der
Hoffnung, endlich ein Instrument gefunden zu haben,
das den Hochschulen ein Höchstmaß an Autonomie zubilligen und gleichzeitig einen effektiven Mitteleinsatz
gewährleisten würde. Der Zuversicht des Jahres 2008
folgten Ärger und Enttäuschung. Im Jahr 2012 kann man
eigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln.
Das Problem ist: Wie konnte das Parlament sich so
lange von einem staatlichen Unternehmen wie der
HIS GmbH an der Nase herumführen lassen?
({0})
Wir alle wünschen uns eine schnelle Lösung der technischen Probleme im Sinne der Hochschulen und der Studienbewerber; darüber haben wir ausführlich diskutiert.
Gerade die Hochschulen sind in diesem Prozess die
Leidtragenden der Entwicklung. Sie müssen den glücklicherweise ansteigenden Zustrom der Studienbewerber
managen. Gerade hier geraten sie aufgrund der knappen
Personal- und Finanzausstattung durch die zuständigen
Länder mehr und mehr an ihre Grenzen. Bislang haben
sie es aufgrund einer enormen Anstrengung geschafft
- und das verdient höchsten Respekt -, die negativen
Folgen für Studierende minimal zu halten. Der Ausschöpfungsgrad - dies muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - ist tatsächlich noch gestiegen. Den Hochschulen muss hier höchster Respekt zuteilwerden.
Aber auch die Studienplatzbewerber brauchen das
dialogorientierte Zulassungsverfahren; darüber herrscht
Einigkeit. Es würde helfen, dass Bewerberverfahren zügig durchgeführt werden können. Damit wäre auch frühzeitiger klar, an welcher Hochschule sie einen Studienplatz erhalten. Bislang haben Nachvermittlungen und die
Studienplatzbörse erstaunlich gut funktioniert. Doch den
Ärger kann das kaum lindern. Glauben Sie mir, mich hat
es geärgert, dass uns die HIS GmbH - das haben wir
sehr ausführlich im Ausschuss diskutiert - in der Vergangenheit nie über die tatsächlichen Probleme informiert hat. Das ist der Punkt.
({1})
Sie hat im Gegenteil immer wieder verlauten lassen,
man sei voll im Zeitplan. Dann, kurz vor Erreichen des
nächsten Meilensteins, kam die Mitteilung, es gebe doch
noch Probleme und ein weiterer Zeitverzug sei unumgänglich. Ich erinnere mich an den April letzten Jahres:
Wenige Tage vor dem geplanten Start wurden wir noch
in dem Glauben gelassen, es könne funktionieren. Das
ist wirklich unverschämt und kann nicht länger hingenommen werden. Daher wurden bereits - ich sage, zu
Recht - personelle Konsequenzen gezogen.
Meine Damen und Herren von der SPD, zu dieser Situation haben Sie kein Wort verloren. Das Problem liegt
jedoch genau darin begründet: Wir konnten nicht zeitig
genug reagieren, weil uns immer wieder etwas anderes
gesagt wurde.
In der Analyse, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD-Fraktion, kann man das, was in Ihrem Antrag steht,
im Großen und Ganzen sicherlich teilen, von dem Aussetzer bezüglich der HIS GmbH einmal abgesehen.
Trotzdem hilft uns dieser Antrag nicht weiter.
Ich sage Ihnen auch, warum er nicht weiterhilft: Wie
Sie richtig darstellen, hindern uns derzeit technische
Dr. Martin Neumann ({2})
Probleme daran, das dialogorientierte Serviceverfahren
zum Funktionieren zu bringen. Die Ursachen hierfür
sind vielschichtig; darüber ist gesprochen worden. Es
liegt vor allen Dingen daran, dass die beauftragten Unternehmen an den Hochschulen nur eine stark veraltete
Software vorgefunden haben, sodass die Schnittstellenproblematik nicht beherrscht werden konnte.
An dieser Stelle muss ich sagen: Diese Probleme
kann die Politik nicht lösen, wenngleich hier ein entsprechender Eindruck vermittelt wird. Es würde auch nicht
weiterhelfen - Kollegin Grütters hat es angesprochen -,
wenn der Bund, der bereits 15 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat, weitere Kosten übernehmen würde, um
Umgehungs- oder Ersatzlösungen zu schaffen. Denn eigentlich obliegt es den Ländern, ihre Verantwortung für
die Hochschulen selbst zu schultern. Wir brauchen die
gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, besonders
die der Länder. Die Länder müssen dafür Sorge tragen,
dass an ihren Hochschulen eine moderne und zeitgemäße Softwareausstattung zur Verfügung steht.
({3})
Ich hatte vorhin von dem Respekt vor den Leistungen
der Hochschulen gesprochen. Die Hochschulen brauchen vor allen Dingen eine schnelle Entlastung im Bereich der Verwaltung, indem ihnen auch personell eine
angemessene Ausstattung zur Verfügung steht, um das
Bewerbermanagement ordentlich bewältigen zu können. Wir freuen uns ja darüber, dass sich viele Studierende an den Hochschulen anmelden.
Bezüglich der weiteren Projektdurchführung erwartet
meine Fraktion, dass wir als Deutscher Bundestag regelmäßig und vor allen Dingen in einem transparenten Verfahren über den Projektfortschritt informiert werden.
({4})
Auf Probleme muss frühzeitig hingewiesen werden. Wo
es nötig ist, muss rechtzeitig gegengesteuert werden.
Wenn wir aus diesem Projekt eines gelernt haben,
dann ist es aus meiner Sicht - das ist die Erfahrung des
heutigen Tages -, dass es nicht günstig war, ein öffentliches Unternehmen mit der Projektdurchführung zu beauftragen. Zum einen kann gerade bei einer solchen
Konstellation die Leistungserbringung nicht ausreichend
von der Kontrolle getrennt werden. Zum anderen stehen
uns als Auftraggeber kaum Sanktionsmöglichkeiten zur
Verfügung. Jedes private Unternehmen hätte man zu
Recht mit Regressforderungen konfrontieren müssen.
Insofern begrüßen wir die Überlegungen des BMBF,
den IT-Geschäftsbereich der HIS GmbH in eine private
Trägerschaft zu überführen. Meine Fraktion steht diesem
Ansinnen ausgesprochen positiv gegenüber. Damit erhoffen wir uns mehr Professionalität und letztendlich
auch eine bessere Steuerungsmöglichkeit für uns.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Studierende, die heute unsere Debatte verfolgen, werden
sich die Haare raufen,
({0})
und das nicht nur wegen des Privat-vor-Staat-Mantras
meines FDP-Vorredners. Die Studienplatzbewerber in
unserem Land erleben jedes Jahr aufs Neue dieses Studienplatzparadoxon: Einerseits gibt es immer mehr und
höhere Zulassungsbeschränkungen, andererseits gibt es
Semester für Semester Zehntausende Studienplätze, die
unbesetzt bleiben. Das muss sich ändern.
({1})
Wenn man an das Nichtstun des Bundesbildungsministeriums und das sehr ernüchternde Fachgespräch im
Bundesbildungsausschuss denkt, dann erkennt man die
Gefahr, dass sich das Ganze nicht so schnell ändert.
Lasse ich die Pleiten-Pech-und-Pannen-Serie der letzten
Monate und Jahre zu diesem Thema Revue passieren,
dann bekomme ich den Eindruck, dass die Erarbeitung
des dialogorientierten Serviceverfahrens leider eine Never-ending Story wird.
Der Startschuss für die Erarbeitung des neuen Studienplatzvergabeverfahrens fiel bereits zu Zeiten der
Großen Koalition. Als Starttermin wurde das Wintersemester 2011/2012 anvisiert, ein sowieso schon zu später Zeitpunkt also, weil dann längst die ersten doppelten
Abiturjahrgänge vor den Hochschultüren standen. Seit
Jahren ist doch bekannt, dass es so viele Studienberechtigte wie nie zuvor gibt; aber es gibt kein funktionierendes Zulassungsverfahren. Über diesen Zustand kann
man einfach nur den Kopf schütteln.
({2})
Angesichts dieses vermurksten Prozesses stellen wir
uns immer wieder die Frage: Wie konnte es eigentlich
passieren, dass bei der Softwareerarbeitung niemand
geprüft hat, ob das neue Softwareverfahren auch wirklich mit bestehenden IT-Lösungen an den Hochschulen
kompatibel ist,
({3})
dass sie untereinander kommunizieren können, dass da
Datenfluss stattfinden kann? Offensichtlich gilt: Viele
Köchinnen und Köche haben hier den Brei verdorben.
Besonders nervt uns an dieser Stelle auch das Wegducken von Bundesbildungsministerin Schavan. Auch
ihr fehlendes Projektmanagement rächt sich bei den Studienbewerberinnen und Studienbewerbern immer mehr.
({4})
Der schwarz-gelbe Vorschlag einer Privatisierung der
HIS-Softwaresparte hilft aus unserer Sicht nicht weiter.
Wir halten das für ein Ablenkungsmanöver. Das Zulassungschaos wird damit nicht beendet, sondern droht
nochmals verlängert zu werden.
({5})
Wenn man sich überlegt, welch ein Prozess bei solch
einer Privatisierung in Gang gesetzt wird, dann erkennt
man: Das hilft doch nicht weiter.
Der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion überzeugt
uns auch noch nicht. Natürlich gibt sich hier überhaupt
niemand damit zufrieden, wenn die Softwareentwickler
sagen, es gebe zum nächsten Wintersemester wohl nur
einen Pilotbetrieb mit einigen wenigen Hochschulen.
Aber der Vorschlag, zum jetzigen Zeitpunkt ein komplett
neues Alternativverfahren zu erarbeiten, widerspricht
doch den Äußerungen der Sachverständigen aus der
Anhörung des Bundestagsbildungsausschusses, wonach
die Entwicklung von Alternativen oder eines Plans B zu
weiteren Verzögerungen führe. Das wäre - auch da sind
wir alle uns einig - das Letzte, was die Studienbewerberinnen und -bewerber jetzt brauchen können.
Wir sollten stattdessen alle Kräfte bündeln, das heißt
mehr personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen, Technik- und Datenschutzprobleme lösen
und den Prozess des dialogorientierten Serviceverfahrens doch noch zu einem Erfolg führen. Ich glaube, wir
sollten uns darauf konzentrieren, dass dieses dialogorientierte Serviceverfahren am Ende funktioniert.
({6})
Die beste Medizin gegen immer höhere Zulassungsbeschränkungen ist es, deutlich mehr Studienplätze zu
schaffen. Die klar nach oben korrigierte KMK-Prognose
zeigt doch: Wir haben es nicht mit einem kurzzeitig vorhandenen Studierendenberg zu tun, sondern zum Glück
mit einem dauerhaften Studierendenhochplateau. Wenn
Ministerin Schavan ihren eigenen Hochschulpakt tatsächlich als atmendes System ansieht und ihn ernst
nimmt, dann muss sie jetzt Gespräche mit den Ländern
aufnehmen, um den Hochschulpakt auszuweiten und
mehr Studienplätze zu schaffen.
Wir brauchen mehr Studienplätze mithilfe des Hochschulpakts, eine funktionierende Hochschulsoftware für
die Studienplatzvergabe und bundeseinheitliche Regeln
zur Hochschulzulassung. Hier können wir, der Bundestag, gemeinsam etwas auf den Weg bringen. Endloses
Zulassungschaos wäre jedenfalls für den Technologieund Wissenschaftsstandort Deutschland blamabel. Dazu
darf es nicht kommen.
({7})
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Das dialogorientierte Serviceverfahren
wurde entwickelt, um die Studienplatzvergabe sowie die
Auswahl von Studierenden im Sinne der Hochschulen
und der Studierenden zu vereinfachen. Mit dem Start des
Systems soll das europaweit modernste Hochschulzulassungsverfahren an den Start gehen.
Wie wir alle wissen, gibt es nun große Probleme bei
der Anbindung zwischen den hochschuleigenen Softwaresystemen und dem DoSV. Zur Behebung dieser
technischen Probleme versucht die HIS nun, die notwendigen Konnektoren zu entwickeln. Ziel ist es, im Wintersemester 2013/2014 das System endlich final einzuführen. Zur Absicherung, dass dieser Termin dann
hoffentlich auch eingehalten werden kann, ist für das
Wintersemester 2012/2013 die Implementierung eines
Pilotprojekts vorgesehen. Es gibt also keinen Grund für
die SPD, in ihrem Antrag die ohnehin gesetzten Fristen
noch einmal einzufordern.
Wir alle - nicht nur Sie von der SPD - waren enttäuscht und auch sehr verärgert darüber - und das sind
wir auch weiterhin -, dass allen Zusagen der Verantwortlichen zum Trotz der Zeitplan zum wiederholten Male
nicht eingehalten werden konnte.
Natürlich fragt man sich, wie solche Verzögerungen
und Fehleinschätzungen zustande kommen können.
Aber zur Lösung des aktuellen Problems trägt die Antwortsuche allein nicht bei. Die Suche nach einem Sündenbock wird die technischen Probleme dieses sehr
komplexen Systems nicht lösen. Vielmehr ist es jetzt
wichtig, dass wir alle gemeinsam an diesem Projekt festhalten. Denn für die Zukunft unserer Hochschulen ist
dieses effiziente System von enormer Bedeutung; allein
mehr Geld reicht hier nicht.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
das dialogorientierte Serviceverfahren an sich schon sehr
gut funktioniert. Die 15 Millionen Euro des Bundes sind
nicht einfach versickert. Es geht nun lediglich darum, die
Schnittstellenproblematik zu lösen.
Insgesamt bietet das neue Verfahren gegenüber der
derzeitigen Situation für alle Beteiligten, also sowohl für
Studienanfänger als auch für die Hochschulen, immense
Vorteile, und die Kultusministerkonferenz - das wurde
schon erwähnt - prognostiziert, dass in den kommenden
Jahren bis 2020 mit einem absoluten Anstieg der Zahl
der Studienanfänger zu rechnen ist. So werden 2013
knapp 490 000 Studienanfänger an den Hochschulen
erwartet. Im Studienjahr 2011 betrug der Zuwachs
deutschlandweit ganze 16 Prozent. In Bayern sind sogar
32 Prozent mehr als im Jahr 2010 zu verzeichnen gewesen.
Selbst wenn man die Effekte durch die doppelten
Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht
berücksichtigt, zeigen die Zahlen, dass wir mit unserer
bisherigen Hochschulpolitik mit dem Ziel, die Anzahl
der Studierenden zu erhöhen, und auch der angestrebten
Neuregelung der Studienplatzvergabe auf dem richtigen
Weg sind.
Die Politik steht vor der Aufgabe, durch einen effizienten Einsatz der Ressourcen dieser steigenden Zahl
von studierwilligen jungen Menschen gerecht zu werden. Das dialogorientierte Serviceverfahren kann zur
Entschärfung der Zulassungssituation in den überfüllten
Studiengängen erheblich beitragen.
Wesentliche Vorteile sollen darin bestehen, dass durch
das DoSV ein hocheffizientes und zentrales Vergabeverfahren organisiert werden kann, ohne dass in die Autonomie der Hochschulen eingegriffen werden muss. Des
Weiteren werden den Studierenden bei der Studienplatzwahl viele Freiheiten eingeräumt.
Genau diese positiven Änderungen für die Studierenden und Hochschulen hatten uns dazu veranlasst, vonseiten des Bundes 15 Millionen Euro als Anschubfinanzierung bereitzustellen, obwohl dies eigentlich in die
Zuständigkeit der Länder gefallen wäre.
({1})
Die Länder haben sich wiederholt zur weiteren Finanzierung bekannt. Das schließt auch die Kosten für die
notwendigen Konnektoren ein. Deshalb sehe ich keinen
Grund für eine Änderung, und ich verstehe auch nicht,
warum die SPD nun erneut Forderungen nach weiteren
Bundesmitteln stellt. Dass es hier überhaupt kein Gerangel um Zuständigkeiten gibt - und schon gar keine Zweifel an der Finanzierung des Projekts insgesamt -, hat
Staatssekretär Rachel schon im November 2011 klargemacht.
Mir drängt sich daher eher ein bisschen der Verdacht
auf, dass mit dieser kurzsichtigen Forderung nur eines
erreicht werden soll: die Entlastung der leeren und maroden Kassen der SPD-geführten Bundesländer.
({2})
- Die laute Reaktion zeigt, dass der Nerv getroffen ist.
Auch die Einführung des „Typs D“ als Notfallplan,
wie von der SPD in ihrem Antrag skizziert, ist aus meiner Sicht nicht durchsetzbar; das wird auch von den
Hochschulen abgelehnt. Auch dieses System würde aufgrund seiner technischen Komplexität nicht vor dem
Wintersemeser 2014/2015 zum Laufen gebracht werden
können,
({3})
und ich möchte mir auch gar nicht ausmalen, wie sehr die
Einführung des „Typs D“ zu weiteren Unsicherheiten bei
den Universitäten führen würde. Vor allem für kleinere
Hochschulen mit einer überschaubaren IT-Abteilung
wäre die Einarbeitung in ein weiteres Zulassungsverfahren mit einem erheblichen finanziellen und zeitlichen
Aufwand verbunden, ganz abgesehen von den Datensicherheitsrisiken, auf die die Kollegin Prof. Rüttgers ({4})
- Grütters - schon hingewiesen hat.
Dem Antrag der SPD kann ich daher nicht zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich heiße insbesondere die vielen
jungen Leute, die heute dieser Debatte folgen, herzlich
willkommen; denn bei dieser Diskussion geht es auch
um ihre Zukunft.
Ich möchte das aufgreifen, was der Kollege Gehring
bereits angesprochen hat. Die Zuständigkeitsdebatte
bringt keine Lösung.
({0})
Herr Kollege Hahn, Sie haben auf die leeren Kassen in
den SPD-geführten Ländern verwiesen. Ich bitte Sie, zur
Kenntnis zu nehmen, was in Schleswig-Holstein und
einigen großkoalitionärgeführten Ländern los ist. Herr
Kollege Neumann, das Problem ist: Man kann nicht über
Steuersenkungen reden
({1})
- doch, die FDP hat das getan - und dann den Ländern
das Geld wegnehmen, damit Sie Ihren Verpflichtungen
nachkommen können.
({2})
Herr Neumann, Ihr Tun passt nicht zur Situation.
Schon seit 2008 reden wir über das dialogorientierte Serviceverfahren, und nun endet alles im Chaos. Wir haben
dieselbe Situation wie damals im Jahre 2008, als wir in
der Großen Koalition damit begonnen haben, etwas in
Bewegung zu setzen. Aber nichts ist geschehen. Immer
noch werden 16 000, 18 000, 20 000 Studienplätze im
Jahr nicht besetzt, und das trotz der steigenden Zahl der
Studierwilligen.
({3})
Da liegt doch der Hase im Pfeffer. Hier muss angesetzt
werden.
({4})
Das Handelsblatt hat es kürzlich sehr treffend ausgedrückt: Das Bewerbungsverfahren ist immer noch ein
Glücksspiel. Das ist der richtige Ausdruck. Man könnte
auch sagen: Ohne Spesen nichts gewesen; denn bisher ist
dem Parlament noch nichts vorgelegt worden. Das
Schwarze-Peter-Spiel, das Sie hier betreiben, ist unangebracht.
({5})
Sie schieben dem HIS, dem Hochschulinformationssystem, die Schuld zu. Herr Staatssekretär Braun, soweit ich
weiß, ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Aufsichtsrat der HIS vertreten,
({6})
und trotzdem haben Sie keine Initiative ergriffen; dabei
stellen Sie sogar den Aufsichtsratsvorsitzenden. Ich
frage Sie: Wo war das Krisenmanagement von Frau
Schavan? Wo war das Krisenmanagement Ihres Ministeriums, Herr Staatssekretär Braun? Diese Fragen sind zu
stellen. Wir müssen uns intensiv um dieses Thema
kümmern.
({7})
Die Süddeutsche Zeitung hat gestern von einem miserablen Krisenmanagement gesprochen. Dem kann ich
mich nur anschließen.
({8})
Sie haben in den zurückliegenden Wochen und Monaten
immer wieder gesagt: Es ist alles in Ordnung, es läuft
alles sehr gut.
({9})
Frau Grütters hat eben am Anfang der Debatte ähnlich
gesprochen.
({10})
- Hören Sie doch einmal zu. Ich habe im Dezember des
vergangenen Jahres eine Frage zum aktuellen Stand hinsichtlich der Einführung des dialogorientierten Serviceverfahrens gestellt. Da hieß es noch: Wir sind noch in
der „laufenden Bestellphase“. Das ist ein wörtliches
Zitat aus einer Antwort des Bundesbildungsministeriums. Wir haben Ende Februar dieses Jahres erneut
danach gefragt. Die Antwort macht deutlich: In der
„Braunschweiger Straße“, im Bildungsministerium, ist
man im Tal der Ahnungslosen, Herr Kollege Staatssekretär Braun.
({11})
Wir haben gefragt: Wie viel unbesetzte Studienplätze
gibt es im Wintersemester 2011/2012? Antwort: „Das
liegt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung noch nicht vor.“ Wo ist denn Ihr Plan B für das
Zulassungsverfahren, damit es wenigstens im nächsten
Semester, das vor der Tür steht, einigermaßen läuft?
({12})
Wir haben weiterhin gefragt: Wie viele Hochschulen
sind technisch angebunden oder können angebunden
werden? Antwort: „Eine Überprüfung beginnt erst am
27. Februar“, also vor 14 Tagen. Man sieht: Das Tal der
Ahnungslosen; so ist es doch! Wir haben auch nach
zusätzlich zur Verfügung gestellten Mitteln gefragt; denn
wenn der Bund für das Krisenmanagement zuständig ist,
dann müssen auch entsprechende Mittel zur Verfügung
gestellt werden, damit die Länder nicht ausgeblutet werden. Hier ist Handlungsbedarf vonseiten des Bundes
gefragt, hier müssen die Maßnahmen zusammengeführt
werden.
Das Krisenmanagement - Kollege Schulz hat es die
Steuerung genannt - muss beim Bundesministerium liegen; denn wir sollten auch an den volkswirtschaftlichen
Schaden denken, der dadurch entsteht, dass jedes Jahr
18 000 bis 20 000 Studienplätze nicht besetzt sind, und
zwar gerade in den Bereichen, in denen wir Fachkräfte
mit Masterabschlüssen brauchen.
({13})
Das ist doch der entscheidende Punkt. Wir haben das
einmal hochgerechnet: In fünf bis sechs Jahren können
dadurch 600 bis 800 Millionen Euro volkswirtschaftlicher Schaden entstanden sein.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. - Wer von der Bildungsrepublik spricht, der muss auch hier entsprechend handeln
und darf nicht schon am elektronischen Hochschulzulassungsverfahren scheitern.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksache 17/8235 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/8867 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Dr. Daniel Volk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Antje Tillmann
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der Titel des Basisgesetzes des
Gesetzentwurfs, den wir heute beraten - Gemeindefinanzreformgesetz -, erweckt den Eindruck einer umfangreichen Reform der der Gemeinde zur Verfügung
stehenden Finanzen. Tatsächlich wird mit diesem Gesetz
weder eine neue Einnahmequelle eröffnet noch eine
Steuer in ihrer Höhe verändert. Es geht um die Verteilung des rund 27,6 Milliarden Euro hohen Gemeindeanteils an dem Einkommensteuer- bzw. Lohnsteueraufkommen auf die einzelnen Gemeinden.
Nach Art. 106 unseres Grundgesetzes sind die Länder
verpflichtet, an ihre Gemeinden einen Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer auf der Grundlage der
Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzuleiten. Diese Regelung in unserer Verfassung hat den
Sinn, einen Zusammenhang zwischen Bürger und Gemeinde herzustellen. Ähnlich wie bei der Gewerbesteuer,
bei der es um das Verhältnis zwischen Gewerbebetrieb
und Gemeinde geht, ist es bei der Einkommensteuer: Der
Einkommensteuerzahler soll ein Verhältnis zu seiner Gemeinde haben. Deshalb die Abhängigkeit von der Einkommensteuerleistung.
Um das Gefälle zwischen Gemeinden mit sehr hohen
Einkommensteuerzahlungen und Gemeinden mit eher
einkommensschwachen Bürgern nicht extrem werden zu
lassen, hat man bei der Einführung des Gemeindereformgesetzes bestimmte Höchstbeträge hinsichtlich der
zu versteuernden Einkommen eingeführt: 30 000 Euro
für Alleinstehende und 60 000 Euro für zusammenveranlagte Ehegatten. Diese Grenzen sind seit 2006 nicht
mehr erhöht worden.
Die Einkommensentwicklung ist positiv. Deshalb ist
eine Anpassung dieser Höchstgrenzen erforderlich, um
der Verfassung Genüge zu tun. Der heute vorliegende
Gesetzentwurf sieht vor, diesen Höchstbetrag auf 35 000
bzw. 70 000 Euro zu erhöhen. Wir haben sehr intensiv,
sowohl im Finanzausschuss als auch in der Unterarbeitsgruppe Kommunales, über die Auswirkungen gesprochen. Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und
des Finanzministeriums haben uns gegenüber dargelegt,
dass es auch bei den Gemeinden, die aufgrund des Gott
sei Dank gestiegenen Einkommensteueraufkommens einen Anteil abgeben müssen, nicht zu Mindereinnahmen
kommen wird. Probleme kann es aber durchaus bei größeren Städten mit einkommensschwachen Bürgerinnen
und Bürgern geben. Auf diese müssen wir weiterhin unser Augenmerk richten.
Mit Bundesgesetzen wie dem Bildungs- und Teilhabepaket und der dauerhaften Übernahme der Kosten der
Grundsicherung haben wir gerade diesen Städten eine
erhebliche Entlastung verschafft. Aber auch bei den weiteren Bundesgesetzen müssen wir unser Augenmerk gerade auf die Städte mit einkommensschwachen Bewohnern richten. Ich bin sicher, dass wir die Auswirkungen
von Bundesgesetzen weiterhin genau beachten werden.
({0})
Das ist der eigentliche Teil des Gesetzentwurfs.
Wir haben den Gesetzentwurf im Laufe der Zeit um
drei weitere Punkte ergänzt.
Zum einen geht es um die Aufhebung des ermäßigten
Umsatzsteuersatzes für Pferde. Das hat mit Gemeinden
nichts zu tun. Es liegt eher an dem zeitlichen Ablauf,
dass diese Änderung des Umsatzsteuergesetzes an diesen Entwurf zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes angehängt wurde. Dies war erforderlich, weil
der EuGH, der Europäische Gerichtshof, uns im vergangenen Jahr darauf hingewiesen hat, dass das deutsche
Mehrwertsteuerrecht hinsichtlich des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Pferde nicht mit der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie vereinbar ist.
Der EuGH ermahnt uns, unter dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz nur noch Tiere zu erfassen, die zur Herstellung von Nahrungs- oder Futtermitteln oder zum Einsatz in der landwirtschaftlichen Erzeugung bestimmt
sind. Künftig müsse bei der Veräußerung von anders genutzten Pferden ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent
gelten.
Wir haben im Berichterstattergespräch sehr intensiv
darüber beraten, wie wir das Urteil des EuGH möglichst
eng umsetzen, um die Forst- und Landwirtschaft nicht zu
belasten. Tatsächlich gibt es aber keine einfachen Kriterien, nach denen man sagen kann, dass ein Pferd in der
Landwirtschaft genutzt wird. Die Zahl der Pferde, die in
Deutschland gegessen werden, ist mit 0,01 Prozent aller
Pferde sehr gering, sodass man eine Ausnahme hier
nicht rechtfertigen könnte.
({1})
Im Berichterstattergespräch haben wir eine sehr aufschlussreiche Debatte über die Essgewohnheiten in
Deutschland geführt. So haben wir zum Beispiel erfahren, dass Esel und Maultiere so gut wie gar nicht, Brieftauben hingegen in manchen Gegenden in Deutschland
häufig gegessen werden.
({2})
- Ich kann nicht beurteilen, ob die Tauben schmecken. Uns wurde jedenfalls dargelegt, dass, glaube ich, in Baden-Württemberg durchaus ein Grund für den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bei Brieftauben gegeben ist, weil
sie dort tatsächlich als Nahrungsmittel dienen. Auch
wenn sich das ganz amüsant anhört, zeigt es einmal
mehr, dass die Liste der Dinge, die unter den ermäßigten
Mehrwertsteuersatz fallen, dringend reformbedürftig ist.
({3})
Natürlich ist darüber diskutiert worden, ob neben
Pferden auch Esel und Maultiere demnächst nicht mehr
unter den ermäßigten Steuersatz fallen. Wir müssen
diese Liste im Umsatzsteuergesetz reformieren. Eine
umfassende Reform konnten wir jetzt aber nicht abwarten, da die Europäische Kommission uns abgemahnt hat
- es gab bereits eine Fristverlängerung -, sodass wir dieses Urteil des EuGH zum 1. Juli 2012 umsetzen müssen.
Eine komplette Renovierung der Anlage zu § 12 des
Umsatzsteuergesetzes ist aber dringend erforderlich.
In einem weiteren Punkt folgen wir Anregungen aus
der Finanzverwaltung. Die Finanzbeamten hatten von
sich aus festgestellt und an uns herangetragen, dass die
Steuerfreiheit der Vorteile von Arbeitnehmern aus der
privaten Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlassener Software nicht mehr den Gegebenheiten entspricht.
Seit 2000 ist nach dem Einkommensteuergesetz die
Überlassung von Personal Computern steuerfrei. Jeder
von uns, der mit Computern umgeht, weiß, dass die alten
Personal Computer größtenteils längst durch moderne
Datenverarbeitungs- und Kommunikationsgeräte abgelöst wurden. Zudem ist die Software, die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird, häufig sehr viel mehr
wert als die Hardware, sodass wir uns entschieden haben, die Steuerfreiheit auf moderne Hard- und Software
auszudehnen und auch die in diesem Zusammenhang erbrachten Dienstleistungen steuerfrei zu stellen.
({4})
Wir wollen damit Rechtssicherheit bei Betriebsprüfungen mit Blick auf die Lohnsteuer schaffen. Es ist ausgesprochen schwierig, die private Nutzung eines vom
Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Computers abzurechnen. Kein Mensch wird verlangen, eine Art Fahrtenbuch für die Computernutzung einzurichten; der private
Anteil ist daher schwer zu schätzen. Darüber hinaus wollen wir fördern, dass Arbeitgeber ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen, von zu Hause aus
zu arbeiten. Wenn sie die entsprechende Technik zur
Verfügung stellen, könnte es für beide Seiten eine Winwin-Situation sein. Gerade im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wollen wir, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Heimarbeitsplätze fördern.
({5})
- Dann brauchen wir mehr Breitband, einverstanden. Ich
glaube, das ist eine Gesamtstrategie; jetzt gerade geht es
um Steuerfreiheit.
Wir können auf die geänderten Bedingungen reagieren, indem wir die Regelungen vereinfachen und sagen:
Alle Computertechniken einschließlich der Software, die
der Arbeitgeber zur Verfügung stellt, werden lohnsteuerfrei gestellt. Dabei muss kein privater Anteil versteuert
werden. Ich will aber nicht verhehlen, dass es auch eine
breite Diskussion über möglichen Missbrauch gegeben
hat. Als Beispiel wurde genannt, dass man versuchen
könnte, dem Betriebsprüfer eine Spielkonsole als Betriebsmittel unterzujubeln. Sollte es zu Missbrauch kommen, werden wir diese Regelung überdenken müssen.
Von daher appelliere ich an all diejenigen, die damit zu
tun haben: Gehen Sie vernünftig damit um, damit wir
diese Vereinfachung zugunsten der Steuerbürger durchsetzen können und Steuervereinfachung an anderer
Stelle folgen kann.
Ein weiterer Punkt in dem Gesetzentwurf befasst sich
mit der Dividendenbesteuerung, mit dem Schachtelprivileg. Hier reagieren wir auf ein BFH-Urteil. Dieser hat im
letzten Jahr geurteilt, dass Dividenden, die von ausländischen Kapitalgesellschaften an inländische Kapitalgesellschaften gezahlt werden und nach einem Doppelbesteuerungsabkommen steuerfrei gestellt sind, bei hybriden
Gesellschaften wie der Kommanditgesellschaft auf Aktien oder der stillen Beteiligung dem persönlich haftenden
Gesellschafter selbst dann steuerfrei zufließen, wenn es
sich um eine natürliche Person handelt. Sie können sich
vorstellen, dass wir zu diesem Thema ein eigenes Fachgespräch durchgeführt haben; das ist nämlich eine
schwierige Materie. Wir haben es von dem anderen Teil
des Gesetzes abgekoppelt, um die Situation der Gemeinden intensiv beraten zu können und zu vermeiden, dass sie
in der allgemeinen Diskussion untergehen.
Nach deutschem Recht ist die Dividende der natürlichen Person und nicht der Kapitalgesellschaft zuzurechnen. Das sogenannte Schachtelprivileg in den Doppelbesteuerungsabkommen würde dazu führen, dass es zu gar
keiner Besteuerung kommt. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Alle Sachverständigen haben in der Anhörung
bestätigt, dass Doppelbesteuerungsabkommen den Sinn
haben, doppelte Besteuerung zu verhindern, und nicht
den Sinn, Nichtbesteuerung zu erzeugen.
Alle Sachverständigen hielten diese Regelung für
nicht sachgerecht. Aber auch die heute von uns vorgeschlagene Lösung, trotz der Doppelbesteuerungssteuerfreiheit in § 50 d des Einkommensteuergesetzes eine Besteuerung vorzusehen, haben die Sachverständigen
massiv kritisiert. Auf unsere Aufforderung, uns eine andere Formulierung vorzuschlagen oder andere Lösungsvorschläge zu machen, hat leider kein einziger Sachverständiger reagiert, sodass wir zum ursprünglichen
Gesetzestext zurückgekehrt sind. Wir werden über § 50 d
des Einkommensteuergesetzes eine Besteuerung der Kapitalerträge sicherstellen, weil wir verhindern wollen,
dass durch Rechtsgestaltungen am Finanzamt vorbei
Steuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe verursacht
werden. Wir glauben, Nichtbesteuerung ist keine SteuerAntje Tillmann
gerechtigkeit. Außerdem können wir nicht auf jahrelange
Verhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen warten.
Wir handeln heute und sofort, damit Bund, Länder
und Kommunen die Steuern, die ihnen zustehen, tatsächlich bekommen. Gleichzeitig haben wir das Bundesfinanzministerium beauftragt, dieses Thema in künftigen
Verhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen zu
problematisieren und nach Möglichkeit darauf hinzuwirken, dass die Dividenden bei natürlichen Personen in
den Doppelbesteuerungsabkommen nicht der Steuerfreiheit unterliegen. Außerdem befasst sich - hoffentlich
noch in diesem Jahr - eine Arbeitsgruppe des Bundesfinanzministeriums mit der Reform der Besteuerung der
Kommanditgesellschaft auf Aktien, der KGaA, bei der
es häufig zu steuerrechtlichen Problemen kommt. Wir
hoffen, dass wir es schaffen, eine einfachere und rechtssichere Regelung zu treffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich
bin froh, dass wir uns in diesem Punkt verhältnismäßig
einig waren. Ich hoffe, heute wird auch am Abstimmungsverhalten abzulesen sein, dass wir uns darin einig
sind, Steuersparmodelle ausschließen zu wollen. Wir
wollen, dass Steuergerechtigkeit herrscht. An dieser
Stelle gab es eine Lücke. Diese Lücke werden wir mit
dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf schließen. Damit stellen wir sicher, dass die Besteuerung in
Deutschland nicht von Tricksereien und rechtlichen Gestaltungen abhängt, sondern dass tatsächlich jeder zur
Besteuerung herangezogen wird. Ich freue mich, dass
wir diesen Gesetzgebungsprozess heute abschließen.
Damit geben wir den Gemeinden Finanzierungssicherheit und stellen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer im
Hinblick auf die Lohnsteuer Rechtssicherheit her. Außerdem werden wir, was hybride Gesellschaften betrifft,
eine Gestaltungslücke schließen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat nun Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Tillmann, ich fürchte, die heutige Debatte wird
nicht besonders strittig.
({0})
Ich streite mich ja gern mit Ihnen; das wissen Sie. Auch
mit Frau Dr. Reinemund streite ich mich gern. Es macht
nämlich Spaß, sich mit Ihnen zu streiten. Aber über die
Punkte, um die es heute geht, brauchen wir uns nicht zu
streiten. Das hat für den Staatssekretär folgenden Vorteil:
Da er den ersten Teil Ihrer Rede, in dem es um den Kern
des Gemeindefinanzreformgesetzes ging, nicht hören
konnte, werde ich die wesentlichen Aspekte wiederholen. Sie sagen mir dann, ob das, was ich vortrage, richtig
ist oder nicht.
({1})
- Nein. Ich glaube, das ist angesichts der Einigkeit, die
wir am Ende feststellen werden, durchaus wichtig. Wenn
die heutige Abstimmung so ausgeht wie die Abstimmung im Finanzausschuss, werden drei Fraktionen zustimmen. Allerdings werden sich zwei Fraktionen, obwohl sie großen Teilen des Gesetzentwurfes zustimmen,
enthalten, weil sie gegen einzelne Teile Bedenken haben.
Am Ende wird große Einigkeit herrschen.
Das Erstaunliche ist: Dieses Vorhaben ist nicht strittig, obwohl es um relativ viel Geld geht. In diesem Jahr
geht es um etwa 28 Milliarden Euro. Das ist der Anteil
der Kommunen am Aufkommen der Lohn- und Einkommensteuer. Im Gesetz ist von 15 Prozent die Rede. Das
entspricht für dieses Jahr, wie gesagt, einem Betrag von
etwa 28 Milliarden Euro. Angesichts dieser Summe ist
es schon erstaunlich, dass dieses Vorhaben nicht streitig
ist.
Der genannte Betrag steht Städten und Gemeinden zu;
so steht es in Art. 106 Abs. 5 des Grundgesetzes. Die
Frage ist nur: Wie verteilt man diese Summe? Wie verteilt man in diesem Jahr und in den Folgejahren 28 Milliarden Euro auf die etwa 12 500 Gemeinden in Deutschland? Die entscheidende Frage, wenn Geld zu verteilen
ist, lautet ja immer: Wie sorgt man dafür, dass es dabei
gerecht zugeht?
Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit
wäre, zu sagen: Wir verteilen das Geld nach der Kopfzahl. Das wäre eine relativ einfache Regelung, die allerdings nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechen würde.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, nach dem tatsächlichen Aufkommen vor Ort zu verteilen. Auch das
wäre möglich. Das Grundgesetz - Frau Tillmann hat es
schon erwähnt - schreibt aber genau vor, dass auf der
Grundlage der Einkommensteuerleistung der Einwohner
zu verteilen ist. Eine Verteilung zu 100 Prozent könnte
man also auch als grundgesetzkonform ansehen.
Die Gesetzgeber von 1969, die das betreffende Bundesgesetz damals formuliert haben, waren sich aber einig, dass eine gewisse Glättung erforderlich ist, um zu
verhindern, dass Gemeinden in Speckgürteln von einkommensstarken Einwohnerinnen und Einwohnern besonders profitieren, während strukturschwache Gebiete
leer ausgehen.
Deswegen hat man Kappungsgrenzen bei der Berechnung des Verteilungsschlüssels eingeführt - Sie haben
das erwähnt -: 30 000 Euro bei Alleinverdienern und
60 000 Euro bei Doppelverdienern. Das heißt, alles, was
an Einkommen darüber erzielt wird, wird bei der Berechnung des Schlüssels nicht mit berücksichtigt. Somit
fließen im Moment etwa 50 Prozent des gesamten Aufkommens der Lohn- und Einkommensteuer nicht in die
Berechnung des Schlüssels ein.
Das ist ein Problem. Deshalb sieht der Gesetzentwurf
vor, die Kappungsgrenzen anzuheben auf 35 000 Euro
bzw. auf 70 000 Euro. Das bedeutet, dass dann 60 Prozent des gesamten Aufkommens in die Berechnung des
Schlüssels einfließen. Das ist deutlich mehr Gerechtigkeit als vorher. Deshalb werden wir diesem Vorhaben
zustimmen. Mit den vorgesehenen Regelungen wird
auch den Vorgaben des Art. 72 des Grundgesetzes Rechnung getragen, der die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse immer noch als grundsätzliches Ziel
beschreibt.
Wenn die Kappungsgrenzen nicht aufgehoben würden, wenn wir an den jetzt geltenden Kappungsgrenzen
festhalten würden, was man machen kann, würde das
auch Folgen haben, wie es das Finanzministerium berechnet hat. Dann würden etwa 100 Millionen Euro aus
dem gesamten Topf umverteilt, und zwar zulasten der
großen und größeren Städte und zugunsten des ländlichen Raums. Das ist nicht gewollt. Deswegen ist die
Verteilung nach dem neuen Schlüssel gerechter als die
Verteilung nach dem jetzigen Schlüssel. Deswegen stimmen wir dem zu.
Sie haben diesem Gesetzentwurf drei Regelungen angehängt, die mit dem eigentlichen Gemeindefinanzreformgesetz nichts zu tun haben. Dem haben übrigens
fast alle Länder und die kommunalen Spitzenverbände
zugestimmt.
Die erste dieser drei Regelungen betrifft das Schachtelprivileg. Dabei geht es darum, ein Steuerschlupfloch,
das durch ein Urteil des Bundesfinanzhofs geöffnet worden ist, wieder zu schließen. Es kann durchaus sein, dass
Steuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe entstehen,
wenn wir das nicht tun. Das heißt, wir sind aufgefordert,
schnell zu handeln, um das Steuersubstrat zu erhalten.
Wenn es darum geht, Steuerschlupflöcher zu schließen,
hat die Koalition uns immer an ihrer Seite. Wir stimmen
diesem Vorhaben zu.
({2})
Die zweite Regelung in diesem Omnibus, den Sie benutzt haben, betrifft die Steuerfreiheit für vom Arbeitgeber an Arbeitnehmer überlassene Software. Dabei setzen
Sie auf die Regelung auf, die Rot-Grün im Jahr 2000 für
die Hardware getroffen hat. Das war damals alles noch
relativ neu. Damals war noch von Personal Computern
die Rede. Manche Firmen haben ihren Arbeitnehmern so
etwas gestellt und mit entsprechender Software ausgestattet. Das war steuerfrei. Mittlerweile geht die Tendenz
dahin, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eigene PC zu Hause haben, also eigene Datenverarbeitungsgeräte. Die Frage ist, ob die in diesem Fall gestellte
Software besteuert werden soll oder nicht besteuert werden soll. Wir halten es ebenso wie Sie für richtig, dies
steuerfrei zu stellen, weil eine Trennung zwischen privater und beruflicher Nutzung völlig unmöglich ist. Das ist
auch ein wichtiger Beitrag zur Steuervereinfachung.
Die dritte und letzte Regelung, die Sie an diesen Gesetzentwurf angehängt haben, betrifft die Aufhebung des
7-prozentigen Umsatzsteuersatzes für Pferde. Dabei
kommen Sie einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Mai 2011 nach; denn dieser Steuersatz verstößt
gegen die Richtlinie über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem. Ein 7-prozentiger Umsatzsteuersatz wäre
nur dann zulässig, wenn die Pferde verspeist würden.
Pferde werden in Deutschland aber meistens zum Reiten
genutzt.
({3})
- Das ist nicht ganz so meine Sache. Wir haben aber gerade von Frau Tillmann gehört, dass nur 0,1 Prozent der
Nahrung dienen. Das ist somit ein zu vernachlässigender
Anteil. Deswegen soll die Besteuerung des Handels mit
Pferden auf 19 Prozent angehoben werden.
Ich finde, das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit
den Eseln gegenüber. Frau Tillmann, anders als Sie es
hier gesagt haben, lauten meine Informationen, dass der
Handel mit Eseln bisher auch schon mit 19 Prozent besteuert wurde. Wenn sich aber zum Beispiel ein Pferdehengst mit einer Eselstute kreuzt und daraus ein Maulesel entsteht, dann unterliegt der Handel mit diesem Tier
einer Umsatzsteuer von 7 Prozent. Genauso ist es bei
umgekehrten Vaterschafts- und Mutterschaftsverhältnissen. Ich glaube, die Esel finden es ganz gut, dass der
Handel mit Pferden jetzt auch mit dem Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent belegt wird. Insofern ist das also
eine Frage der Gerechtigkeit.
({4})
Letzte Anmerkung. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag niedergeschrieben - jetzt komme ich doch noch zu
einem etwas strittigen Punkt -, dass Sie sich mit der
Mehrwertsteuer auseinandersetzen wollen. Es geht um
die Frage, ob sie jeweils 7 Prozent oder 19 Prozent betragen soll. Hier bestünde Reformbedarf. Das ist sicherlich richtig. Dazu haben Sie eine Kommission eingesetzt, die hochkarätig besetzt ist. Sie besteht aus drei
Ministern - Herrn Schäuble, Herrn Rösler und Herrn
Pofalla - und drei Generalsekretären - Herrn Döring,
Herrn Dobrindt und Herrn Gröhe -, die das richten sollen.
Allerdings stellen wir fest, dass sich diese Kommission bis heute immer noch nicht wenigstens konstituiert
hat.
({5})
Die Begründung sind Terminprobleme. Da Sie das in
zweieinhalb Jahren nicht hinbekommen haben, frage ich
mich, wie Sie das in dem einen Jahr noch schaffen wollen. Tun Sie also etwas! Haben Sie Mut! Setzen Sie diese
Kommission ein!
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Bernd Scheelen. Wir hätten
zwar gerne noch ein paar Beispiele gehört, aber die Redezeit war zu Ende.
({0})
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kollegin Frau Dr. Birgit Reinemund für die Fraktion der FDP.
Bitte schön, Frau Kollegin.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes wird von einer
breiten fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen - wir
haben es mehrfach gehört -, sowohl auf Länderebene als
auch hier im Bundestag. Auch der Deutsche Städtetag
und der Deutsche Städte- und Gemeindebund haben ihre
Zustimmung signalisiert.
Einen so großen Konsens erleben wir hier nicht oft,
sodass ich dies ganz zu Beginn meiner Rede hervorheben möchte: Die Politik kann durchaus - abseits von allen medienwirksamen Querelen - gemeinsam Gutes auf
den Weg bringen.
({0})
Ich wünschte mir, dass dies auch bei weiteren gemeinsamen Herausforderungen möglich wäre: bei der Energiewende, bei der Bewältigung der Finanzkrise und aktuell
bei der inhaltlich genauso unstrittigen Abstimmung über
den Fiskalpakt.
Oder ist Ihnen bei der Verankerung der Schuldenbremse in fast allen europäischen Mitgliedstaaten eine
ähnlich positive gemeinsame Haltung und Signalwirkung nichts wert? Wollen Sie wirklich diese historische
Chance auf mehr Stabilität und weniger Schulden parteipolitischem Geschachere opfern, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD?
({1})
Solche Spielchen sind hier einfach fehl am Platz.
({2})
Doch zurück zum Gemeindefinanzreformgesetz. Wir
beraten über die Anpassung des Verteilungsschlüssels
für den Gemeindeanteil an der Lohn- und Einkommensteuer der einzelnen Kommunen. In diesem Gesetzgebungsverfahren ist die Bundesregierung lediglich Moderator zwischen den Ländern und Kommunen - ohne
eigenes finanzielles Interesse. Die Länder haben sich in
Abwägung aller Interessen auf einen fairen Ausgleich
geeinigt. 9 von 13 Flächenländern stimmten dem vorliegenden Vorschlag zu.
Warum war das Ganze notwendig? Den Gemeinden
stehen 15 Prozent des Lohn- und Einkommensteueraufkommens zu. Im Jahr 2012 werden das aufgrund der guten Wirtschaftslage rund 27,6 Milliarden Euro sein. Der
Bund und auch die Länder und Kommunen erwarten
weiterhin Rekordeinnahmen. Die Verteilungsgrundlage
für den kommunalen Einkommensteueranteil wird turnusmäßig auf der Basis einer neuen statistischen Grundlage errechnet. Genau das wird mit dieser Gesetzesänderung umgesetzt.
Ziel ist die faire Verteilung anhand des örtlichen Einkommensteueraufkommens. Dies ist grundgesetzlich
verankert. Auch das haben beide Vorredner schon angemerkt. Zudem sollen die Steuerkraftunterschiede zwischen den Gemeinden gleicher Funktion und Größe verringert und gleichzeitig das Steuergefälle zwischen
großen und kleinen Gemeinden gewahrt bleiben. Das ist
ein kniffliges Unterfangen. Umso notwendiger ist es,
dass hier eine Einigung zwischen allen Akteuren herbeigeführt wurde und wird.
Durch diese Anpassung werden die meisten Kommunen finanziell besser dastehen, manche - das sind eher
die Ausnahmefälle - allerdings auch schlechter, vor allem strukturschwache Großstädte. Dies über den kommunalen Finanzausgleich abzufedern, liegt in der Verantwortung der Länder.
Zusätzlich entlastet der Bund alle Städte und Gemeinden in nie dagewesener Höhe durch die Übernahme der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit,
beginnend ab dem Jahr 2012. Besonders die strukturschwachen Großstädte mit schwierigen Sozialstrukturen,
die durch den neuen Verteilungsschlüssel eher mit Nachteilen zu rechnen haben, profitieren davon überdurchschnittlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie es gängige Praxis ist, haben wir an diese Gesetzesänderung, die heute
in großem Konsens verabschiedet werden wird, einige
kleine steuerliche Änderungen angeflanscht.
({3})
- Richtig, das ist nicht ideal. Es beschleunigt jedoch die
Umsetzung zum Beispiel von Vorgaben der aktuellen
Rechtsprechung, die nicht in einem eigenen Gesetz umgesetzt werden können.
Mit der Aufhebung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Pferde reagieren wir auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Frau Tillmann hat es ausgeführt:
Passen wir die nationalen Vorschriften nicht an das Unionsrecht an, droht ein EU-Vertragsverletzungsverfahren
mit empfindlichen Strafen.
Mit einer weiteren Neuerung passen wir das Steuerrecht an die sich verändernde gesellschaftliche und
geschäftliche Realität an. Arbeitgeber können künftig ihren Angestellten nicht nur PCs, sondern auch andere
elektronische Endgeräte wie Smartphones und Tabletcomputer und vor allem Software steuerfrei zur Nutzung
überlassen. Das ist eine Steuerklarstellung und Steuervereinfachung, die unzählige Gerichtsprozesse, zum
Beispiel um die steuerliche Bewertung von Home Offices, vermeidet. Flexiblen Arbeitsplätzen gehört die Zukunft, gerade vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Heute ist Weltfrauentag. Dem
muss auch das Steuerrecht Rechnung tragen.
Mit der Änderung des Einkommensteuergesetzes zur
Beschränkung des steuerfreien Abzugs von Auslandsdividenden schieben wir der missbräuchlichen Ausnutzung des Schachtelprivilegs einen Riegel vor und schließen ein weiteres Steuerschlupfloch. Das ist ein weiterer
Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit.
Meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen,
danke für die überfraktionell gute Zusammenarbeit an
diesem Gesetzentwurf und an den Zusatzpunkten.
Schön, dass Politik so konstruktiv in der Sache sein
kann.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Reinemund. - Nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin
Frau Dr. Barbara Höll. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Höll.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung
des Gemeindefinanzreformgesetzes ist meiner Meinung
nach nur ein weiterer Beleg für Ihre vermurkste Steuerpolitik.
({0})
Statt der jahrelang bewährten Tradition der Jahressteuergesetze, in welchen notwendige Steuerrechtsänderungen
verschiedener Bereiche gebündelt werden, nehmen Sie
ein Thema und packen einfach noch alles Mögliche
dazu: Änderung des Verteilungsschlüssels bei der Einkommen- und Lohnsteuer, Umsatzsteuerregelung für
Pferde, eine Prise steuerfreie Datenverarbeitungsgeräte
und ein bisschen Schachtelprivileg mit Doppelbesteuerungsabkommen. Wer vermutet das alles in einem Gesetzentwurf zur Gemeindefinanzreform?
Im Fokus des Gesetzentwurfs steht die Änderung des
Verteilungsschlüssels bei der Lohn- und Einkommensteuerstatistik. Die Kommunen erhalten 15 Prozent des
Aufkommens an der Lohnsteuer und der veranlagten
Einkommensteuer. Die Verteilung erfolgt nach einem
vereinbarten Schlüssel auf die einzelnen Gemeinden innerhalb des jeweiligen Landes. Dieser Schlüssel muss
von Zeit zu Zeit angepasst werden. Das geschieht mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf nach der Einkommensteuerstatistik von 2007.
Allerdings bleibt eine Reihe von Fragen offen. Es
klang schon an: Was ist mit den Kommunen mit über
200 000 Einwohnern? Die Bedenken der Landkreise
konnten nicht ausgeräumt werden, und auch vier Bundesländer haben Bedenken angemeldet.
Ein weiterer Punkt ist der ermäßigte Umsatzsteuersatz für Pferde. Die Änderung ist nicht ganz freiwillig;
es geht vielmehr - Frau Tillmann sagte es bereits - um
die Umsetzung eines EuGH-Urteils. Um Strafzahlungen
zu vermeiden, müssen wir eine Gesetzesanpassung vornehmen.
Es gab dazu Überlegungen, bei der Anhebung des
ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auch zwischen
Schlachtpferden und Holzrückepferden zu unterscheiden. Davon haben Sie zum Glück Abstand genommen.
Der Handel mit Pferden wie mit Eseln wird in Zukunft
dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen.
({1})
Allerdings gilt für Maultiere - das heißt, die Mama ist
ein Pferd und der Papa ein Esel - und Maulesel - die
Mama ist ein Esel und der Papa ein Pferd - weiter der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Das ist sehr interessant.
({2})
Damit geht die Flickschusterei weiter. Packen Sie
endlich eine richtige Beurteilung und eine große, umfassende Reform der Mehrwertsteuer an. Dann haben Sie
unsere Unterstützung. Das müssen Sie tun.
({3})
Bevor ich zu der Frage der Datenverarbeitungsgeräte
komme, erinnere ich noch daran, dass wir die von den
Arbeitgebern den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen unentgeltlich oder verbilligt überlassene Software
steuerfrei stellen wollen; gut.
Außerdem erfolgt eine Definitionsänderung. Im Gesetz soll es jetzt nicht mehr „Personalcomputer“, sondern „Datenverarbeitungsgerät“ heißen. Ich unterstelle
Ihnen schon, dass Sie das als Steuervereinfachung betrachten, glaube aber auch, dass damit der Steuerumgehung bzw. der Steuergestaltung das Tor weit geöffnet
wird. Denn was ist ein Datenverarbeitungsgerät? Gehen
Sie in den MediaMarkt oder zu Saturn. Heute ist jeder
moderne Fernseher internetfähig und hat die entsprechenden Anschlüsse. Damit kann er selbstverständlich
so genutzt werden. Selbst die PlayStation 3 ist ganz einfach als Abspielgerät für DVDs nutzbar. Das geht alles.
Dadurch werden Arbeitgeber natürlich verführt,
Lohnbestandteile nicht auszuzahlen und die Abführung
von Sozialversicherungsbeiträgen, zu der sie dann auch
als Arbeitgeber tatsächlich verpflichtet wären, einfach
durch die Überlassung solcher Geräte zu umgehen. Das
ist eine Steuergestaltung, die wir nicht wollen.
({4})
Als letzter Punkt ist die Frage des Schachtelprivilegs
zu nennen. Hier haben Sie mit unserer Unterstützung
richtigerweise die Tatsache aufgegriffen, dass es in der
letzten Zeit dort zu Steuergestaltungen gekommen ist.
Sie versuchen jetzt, durch eine Neuregelung dieses Tor
zu schließen. Das ist richtig. Ob es wirksam ist, werden
wir erst sehen. Allerdings muss ich Ihnen Folgendes sagen, liebe Koalitionäre: Bei einer Umstellung von der
angewendeten Freistellungsmethode auf die Anrechnungsmethode würde dieses Problem gar nicht erst entstehen.
Insgesamt muss ich feststellen: Einige Ansätze in
dem Gesetzentwurf sind gut. Das Ganze bleibt aber eine
Flickschusterei. Deshalb werden wir uns enthalten.
Ich fordere Sie auf, endlich eine seriöse Steuerpolitik
zu machen. Dann haben Sie auch unsere Unterstützung.
Danke.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll. Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Britta
Haßelmann. Bitte schön, Frau Kollegin Haßelmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
diejenigen, die heute hier zu Gast sind, oder für diejenigen, die vielleicht zuhören, verspricht der Titel „Gemeindefinanzreformgesetz“ in der Tat viel mehr, als wir
hier diskutieren. Ich bin von mehreren gefragt worden:
Was diskutiert ihr denn da heute alles? Frau Tillmann, sicherlich vermutet niemand, dass wir hier im Kern hauptsächlich über drei sachfremde Anhänge des Gesetzes
sprechen. Deshalb will ich in meinen wenigen Minuten
nur ganz kurz darauf eingehen.
Beim Gemeindefinanzreformgesetz reden wir in der
Tat über die Verteilung des Anteils der Kommunen an
der Einkommensteuer und der Lohnsteuer. Hier muss
aufgrund der gesetzlichen Vorgaben des Art. 106 Grundgesetz - Sie haben darauf hingewiesen - eine Veränderung erfolgen. Darüber ist selbstverständlich auch zwischen den kommunalen Spitzenverbänden, dem Bundesrat und uns diskutiert worden.
Wir würden diesem Kerngesetz zustimmen, weil wir
wissen, dass wir aufgrund der Frage des Steuerkraftaufkommens nach Art. 106 GG hier natürlich eine Veränderung der Höchstgrenze vornehmen müssen. Das sehen
wir auch so, obwohl uns bekannt ist, dass insbesondere
den strukturschwachen Kommunen mit über 200 000
Einwohnern negative Folgen aus dieser Änderung der
Höchstgrenze erwachsen werden. Wir alle im Deutschen
Bundestag - darauf muss man ganz deutlich hinweisen haben zu dieser Veränderungsschraube aber keine Alternative anzubieten. Deshalb haben wir gesagt: Diesem
Kerngesetz könnten wir an dieser Stelle zustimmen, obwohl wir wissen, dass wir uns dem Thema der strukturellen Unterfinanzierung insbesondere der notleidenden
großen Städte weiter widmen müssen und diese Problematik auch nicht durch die Grundsicherung im Alter behoben ist.
({0})
Der zweite Punkt ist die Ausweitung der Steuerbefreiung der Vorteile des Arbeitnehmers aus der privaten
Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlassener Software. Darauf will ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen.
Der dritte Punkt ist die Frage der Auslandsdividendenbesteuerung und des Schachtelprivilegs. Auch hier
haben wir in der Anhörung, im Berichterstattergespräch
sowie im Finanzausschuss sehr intensiv fachlich diskutiert.
Wir hätten uns gewünscht, dass wir Einzelabstimmungen dieser sehr verschiedenen Gesetze vornehmen.
Dann hätten wir auch deutlich machen können, wie wir
uns zu den einzelnen Fragen positionieren. Das war leider nicht vorgesehen.
Deshalb komme ich jetzt zum Schluss auf den vierten
Bereich zu sprechen. Das ist ein skandalöser Bereich.
Dem sind Sie ausgewichen. Sie müssen hier etwas tun,
weil Sie beim Thema Mehrwertsteuerreform überhaupt
noch nicht in die Gänge gekommen sind. 2010 haben Sie
von Schwarz-Gelb eine Mehrwertsteuerkommission eingerichtet. Nichts ist seitdem geschehen. Diese Kommission hat bis heute noch nicht einmal getagt, meine Damen und Herren. Sie tragen diese Kommission quasi vor
sich her, nach dem Motto: Wir beseitigen die Mehrwertsteuerungleichgewichte und kümmern uns um das Phänomen der reduzierten und der vollen Mehrwertsteuersätze. - Diese Unterscheidung kapiert niemand. Kein
Mensch kann sachlich erklären, warum es hier steuerliche Unterschiede gibt. Pferde und Maultiere wurden bereits als Beispiele genannt. Man kann in diesem Zusammenhang auch die Mehrwertsteuersätze für Sessellifte,
Mineralwasser und stillen Sprudel ansprechen. Es ist eigentlich verrückt, dass hier bei der Mehrwertsteuer unterschieden wird.
Sie wollten liefern. Hier schaue ich insbesondere Sie
an, meine Damen und Herren von der FDP. Ihr Vorsitzender lässt kein Interview aus, um zu sagen: Wir liefern. - Aber Sie liefern nicht.
({1})
Sie mussten im Rahmen Ihres Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes den
ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Pferde aufheben,
weil Sie vom Europäischen Gerichtshof unter Druck gesetzt worden waren. Sie hatten ein Jahr lang nichts getan
und hätten nun mit Strafzahlungen rechnen müssen,
wenn Sie das nicht geregelt hätten. Das alles ist darauf
zurückzuführen, dass Sie in der Koalition keine Idee zur
Reform der Mehrwertsteuer haben und zerstritten sind.
Sie liefern nicht. Dabei könnten wir da, wenn wir endlich zu einer Lösung kämen, Steuereinnahmen generieren und Ungleichgewichte beseitigen.
Wir fordern Sie auf, nicht nur Kommissionen einzurichten, sondern auch zu liefern. Das tun Sie seit 2010
nicht. Seitdem hat die Kommission nicht einmal getagt.
Sie sind jetzt gefragt.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Britta Haßelmann.
Wir sind am Ende dieser Aussprache; ich schließe sie
nun.
Vizepräsident Eduard Oswald
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Neunten Ge-
setzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgeset-
zes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8867, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8235 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind wiederum die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? -
Niemand. Enthaltungen? - Wieder die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzent-
wurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 17/8760 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer Expertenkommission zur
Sicherungsverwahrung
- Drucksache 17/7843 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Burkhard Lischka. Bitte schön, Kollege Burkhard
Lischka.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Neuregelung der Sicherungsverwahrung, über die wir heute
Abend auf Antrag der SPD-Fraktion debattieren, ist
wahrscheinlich das wichtigste rechtspolitische Vorhaben in dieser Legislaturperiode; denn es geht dabei um
den Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichsten Gewalt- und Sexualstraftätern. Das sagt sich so
leicht: gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter. Aber
welche konkreten Fälle sich dahinter verbergen, können
wir Woche für Woche in unseren Gerichten verfolgen.
So wurde vor wenigen Tagen die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen einen 69-jährigen Mann durch
den Bundesgerichtshof bestätigt, der seit seiner Jugend
mehrfach Frauen vergewaltigt und Kinder sexuell missbraucht hatte, bevor er sich zuletzt an einem fünfjährigen
Nachbarskind vergangen hat. In der vergangenen Woche
wurde die Sicherungsverwahrung gegen einen 41-Jährigen angeordnet, der als sogenannter Maskenmann drei
Jungen ermordet und ebenfalls mehrere Kinder sexuell
missbraucht hatte. Ein anderes, ebenfalls in der vergangenen Woche eröffnetes Verfahren beschäftigt sich mit
einem Täter, der als Tod verkleidet nach der Vorlage eines Horrorfilms ein zwölfjähriges Mädchen in ihrem Elternhaus erstochen hat. Das sind die Fälle, um die es
beim Thema Sicherungsverwahrung geht.
Die Menschen verlangen von der Politik, und zwar
vollkommen zu Recht, dass wir sie im Rahmen des
rechtsstaatlich Möglichen vor solchen Tätern schützen,
insbesondere dann, wenn die erhebliche Gefahr von
Wiederholungstaten besteht. Deshalb sage ich deutlich:
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben der Schutz und die Sicherheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger beim Thema Sicherungsverwahrung
oberste Priorität. Das bedeutet, alles gesetzgeberisch
Notwendige zu tun, damit psychisch gestörte Täter, bei
denen die erhebliche Gefahr weiterer schwerster Gewaltund Sexualdelikte besteht, nicht in die Freiheit entlassen
werden.
Konkret heißt das: Wir lehnen Pläne der Bundesjustizministerin ab, wonach künftig solche Täter in die Freiheit entlassen werden sollen, bei denen sich die Gefährlichkeit erst nach der Verurteilung, also im Verlauf der
Strafhaft, herausstellt. Wer wie die Bundesjustizministerin einen Gesetzentwurf vorlegen möchte, der keine Regelung für solche Täter enthält, der nimmt bewusst eine
erhebliche Sicherheitslücke in Kauf. Deshalb fordere ich
Sie auf: Nehmen Sie die große Mehrzahl der Bundesländer ernst und legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der in
verfassungskonformer Weise die Möglichkeit einer
nachträglichen Therapieunterbringung für solche Straftäter vorsieht. Alles andere wäre nur Stückwerk.
({0})
Der Union biete ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich nochmals unsere Unterstützung an, hier eine
gemeinsame Regelung im Sinne unserer Bürgerinnen
und Bürger auf den Weg zu bringen; denn den Anspruch,
möglichst viel Sicherheit für die Menschen in unserem
Land zu schaffen, wollen wir nicht aufgeben. Das sind
wir nicht zuletzt auch den Opfern von Gewalt- und Sexualdelikten schuldig.
Ich empfehle Ihnen auch, im Rahmen einer Neuregelung die Sicherungsverwahrung auf den Personenkreis
zu begrenzen, bei dem eine Sicherungsverwahrung notBurkhard Lischka
wendig ist, nämlich bei den Gewalt- und Sexualstraftätern. Straßenverkehrs- und andere Delikte taugen nicht
für eine Sicherungsverwahrung. So etwas provoziert nur
die Gefahr eines erneuten Scheiterns beim Bundesverfassungsgericht. Das wollen wir nicht, und das sollte
auch nicht unser gemeinsames Ziel sein.
({1})
Schließlich sage ich Ihnen auch: Machen Sie Ihre
Hausaufgaben. Legen Sie dem Deutschen Bundestag
schnell einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung vor. Es ist schon ein Skandal, dass inzwischen fast ein Jahr vergangen ist, seit das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass eine Neuregelung
notwendig ist, und Sie haben es erst gestern geschafft,
einen Gesetzentwurf in das Kabinett einzubringen.
({2})
Die Bundesländer, Herr Ahrendt, haben Sie bereits im
September vergangenen Jahres aufgefordert, das Gesetzgebungsverfahren spätestens bis Juni 2012 abzuschließen, weil es sonst kaum möglich sein wird, dass die
Bundesländer noch innerhalb des Zeitrahmens, den das
Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich bis
Mai 2013, ihre Landesgesetze verabschieden. Die Forderung der Bundesländer ist also, dass der Bund sein Gesetzgebungsverfahren bis Juni 2012 abschließt. Man
muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Das wird Ihnen wohl kaum gelingen, und zwar nur deshalb, weil
sich Schwarz und Gelb in dieser Frage wieder einmal
nicht einig sind.
Mit jedem Tag, der von nun an ins Land geht, wächst
die Gefahr, dass ab Mai 2013 höchst gefährliche Gewaltund Sexualstraftäter nur deshalb in die Freiheit entlassen
werden müssen, weil entsprechende gesetzliche Regelungen fehlen. Deshalb: Nehmen Sie Ihre Verantwortung
wahr. Schließen Sie das Gesetzgebungsverfahren auf
Bundesebene zügig ab. Sonst tragen Sie als schwarzgelbe Bundesregierung die Verantwortung dafür, dass ab
dem kommenden Jahr Schwerverbrecher in diesem Land
herumlaufen. Das wäre wirklich der absolute Tiefpunkt
der Rechtspolitik dieser Bundesregierung, eine absolute
Bankrotterklärung, für die es dann auch keinerlei Entschuldigung mehr geben würde.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Burkhard Lischka. - Für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ansgar Heveling.
Bitte schön, Kollege Heveling.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten in dieser Woche zwei Anträge zum Thema Sicherungsverwahrung: erstens einen Antrag der Fraktion
Die Linke, die eine Expertenkommission einsetzen
möchte,
({0})
und zweitens einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion,
dessen Kernforderungen sind, zum einen eine weitere
Beschränkung der Anlasstaten für die Sicherungsverwahrung und zum anderen eine Regelung der nachträglichen Therapieunterbringung vorzusehen.
Sicherlich wollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, sich mit diesem Antrag auch
ein wenig den Anstrich des Treibers der christlich-liberalen Koalition bei diesem im Detail sicherlich nicht
ganz einfachen Thema geben. Der Verlauf dieser Woche
aber zeigt, liebe SPD-Fraktion und lieber Herr Kollege
Lischka - aus Ihren Worten hatte man den Eindruck,
dass es noch nicht ganz bei Ihnen angekommen ist -:
Wir sind keine Getriebenen. Wir brauchen uns nicht antreiben zu lassen, von Ihnen schon gar nicht.
({1})
Ein entsprechender Gesetzentwurf ist in dieser Woche
durch das Kabinett gegangen und liegt jetzt zur Beratung
vor.
({2})
Mit diesem neuen Gesetz wird dafür Sorge getragen,
dass auch zukünftig der Schutz der Bevölkerung vor
hochgradig rückfallgefährdeten Schwerststraftätern gewährleistet wird. Ziel muss dabei sein, den - zugegebenermaßen - geringen politischen Spielraum, den uns das
Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch belassen haben, bestmöglich auszuschöpfen. Wir sollten also - das betone
auch ich, ebenso wie Sie, Herr Kollege Lischka - die
nächsten Wochen vor allem darauf verwenden, miteinander zu beraten, welche Schritte wir gemeinsam bei diesem Gesetzentwurf gehen können, so wie wir es seinerzeit auch schon beim Therapieunterbringungsgesetz
getan haben.
Lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 stellt eine
Abkehr der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung dar. In diesem Urteil hat das Verfassungsgericht
die bisherigen Regelungen des Strafgesetzbuches zur
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für nicht
mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Damit hat sich
das Bundesverfassungsgericht an der Linie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientiert, der in
seiner jüngsten Rechtsprechung die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung einer Strafe
gleichgestellt hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich dem nun erstmals angeschlossen und uns als Legislative mit seiner
jüngsten Entscheidung eine Reihe von Aufgaben auf den
Weg gegeben: erstens ein Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung in Bund und Ländern zu entwickeln,
zweitens dabei dem Abstandsgebot Rechnung zu tragen
und drittens die Materie spätestens bis zum 31. Mai 2013
gesetzlich zu regeln.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung haben
wir nun eine Grundlage, zügig gemeinsam darüber zu
beraten, wie die Sicherungsverwahrung künftig ausgestaltet sein soll. Selbstverständlich gehören die in dem
SPD-Antrag angesprochenen Punkte in diese Diskussion. Es sind allerdings nur zwei Aspekte von vielen anderen, die wir in den weiteren Beratungen beachten sollten. Selbstverständlich nehme ich für die CDU/CSUFraktion zu den in dem SPD-Antrag angesprochenen
Punkten gerne schon heute Stellung.
Soweit es um den Katalog der Anlasstaten geht, sehen
wir keine Notwendigkeit, hier weitere Einschränkungen
vorzunehmen.
({3})
Zum einen wurden bereits mit der letzten Reform im
Jahr 2010 - richtigerweise - die Anlasstaten beschränkt.
Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner
jüngsten Entscheidung keine weiteren Vorgaben für die
Anlasstaten gemacht, und sie sind verfassungsrechtlich
nicht beanstandet worden. Wir sehen daher keinen
Grund, uns Gedanken über eine weitere Beschränkung
der Anlasstaten zu machen.
({4})
Mit Blick auf die zweite Forderung, in einem neuen
Gesetz zur Sicherungsverwahrung auch die nachträgliche Therapieunterbringung zu regeln, will ich nicht verhehlen, dass sich diese Forderung weitgehend mit den
Überlegungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion deckt.
({5})
Auch ich bin der Auffassung, dass mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf der durch das Bundesverfassungsgericht
eröffnete Spielraum in diesem Punkt noch nicht voll ausgeschöpft wird
({6})
und insofern eine Schutzlücke bleibt.
Wir müssen uns meiner Auffassung nach auch darüber Gedanken machen, wie mit Straftätern umzugehen
ist, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während des
Strafvollzuges herausstellt.
({7})
Eine Regelung zu diesem Punkt ist ohne Zweifel diffizil,
aber sicherlich nicht unmöglich. Hier wird in den nächsten Wochen sehr genau zu erörtern sein - zumal über den
Bundesrat natürlich auch die Länder mit in die Diskussion einbezogen sind -, was zu tun ist. Ich kann an dieser
Stelle nur wiederholen: Wir sollten in den Beratungen
deshalb den gleichen Weg gehen, den wir zuletzt beim
Therapieunterbringungsgesetz gegangen sind. Wir als
CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind dazu auch bereit.
Leider verbleibt mir für den Antrag der Fraktion Die
Linke nun nicht mehr ganz so viel Zeit.
({8})
Offen gestanden, sollte man über ihn ohnehin am besten
schweigen.
({9})
Mich machen jedenfalls einige Formulierungen in dem
Antrag geradezu fassungslos. Das gilt etwa für die Passage, in der die Linke die Freiheit der Person so verabsolutiert, dass sie davon spricht - ich darf das hier einmal
zitieren -:
Das bedeutet aber auch, dass man bestimmte gesellschaftsimmanente Gefahren dieser Freiheit in Kauf
nehmen muss. … Freiheit birgt Risiken. Die Freiheit ungerechtfertigt zu versagen, bedeutet jedoch
eine solche Abkehr von den Grundwerten unserer
Gesellschaft, dass die freiheitsimmanenten Risiken
dieser in jedem Falle vorzuziehen sind.
({10})
Als ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt, was
etwa Eltern eines Kindes, das Opfer eines schwerstkriminellen Rückfalltäters geworden ist, dazu sagen würden, wenn man ihnen mitteilte, dass sie doch nur ein berechtigtes Opfer für die Freiheit der Gesellschaft
gebracht hätten. Ich kann bei diesen verqueren Gedanken, ehrlich gesagt, nur den Kopf schütteln.
({11})
Da spricht unsere Verfassungsordnung - gottlob! eine andere Sprache. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt keinen Anlass dazu, dieser
eigenwilligen Auslegung des Grundgesetzes durch die
Linke auch nur einen Hauch von Berechtigung beizumessen. Auch der Schutz der Bevölkerung ist ein Ziel,
das verfassungsrechtlich nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geboten ist. Wer das missachtet, missachtet den Schutzauftrag unserer Verfassung.
({12})
Wir müssen deshalb eine angemessene und verfassungskonforme Risikoverteilung herstellen. Der Vorschlag der Fraktion Die Linke hilft da jedenfalls kein
bisschen weiter. Die Einsetzung einer so breit angelegten
- in Anführungsstrichen - Expertenkommission, wie
von den Linken vorgeschlagen, würde ohnehin nur einem Ziel dienen: das Themenfeld so zu atomisieren, bis
keine vernünftige Regelung mehr eine Chance hat.
({13})
So etwas lehnen wir ab.
Vielen herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Kollege Heveling. - Nächste Rednerin
für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Halina Wawzyniak. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Heveling hat schon darauf hingewiesen: Wir haben keine konkreten Wünsche in Bezug auf
den Referentenentwurf. Wir fordern die Einsetzung einer
Expertenkommission.
Diese Expertenkommission ist auch angebracht; denn
die Bundesregierung hat für das im Dezember 2010 verabschiedete Gesetz zur Sicherungsverwahrung vom
Bundesverfassungsgericht eine fette Klatsche bekommen. Sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuches und
des Jugendstrafrechts über die Anordnung und Dauer der
Sicherungsverwahrung wurden für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Deshalb ist es aus unserer Sicht
sinnvoll, im Rahmen einer Expertenkommission auch
über den Referentenentwurf - seit gestern gibt es wohl
auch schon einen Gesetzentwurf - zu reden.
Ich frage Sie: Was spricht eigentlich gegen eine
Expertenkommission? Was spricht dagegen, mit Justizpraktikerinnen und Justizpraktikern, Gesellschaftswissenschaftlerinnen und Gesellschaftswissenschaftlern,
Straf-, Polizei- und Verfassungsrechtlerinnen und -rechtlern, psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen, Kriminologen und Vertretern von Opferverbänden das Thema Sicherungsverwahrung zu erörtern?
({0})
Was spricht dagegen, den Handlungsbedarf zum Thema
Sicherungsverwahrung auszuloten? Das muss doch auch
im Interesse der Bundesregierung sein; denn ansonsten
- das garantiere ich Ihnen - droht die nächste Klatsche.
Die Linke hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie
das Institut der Sicherungsverwahrung für höchst bedenklich hält.
In einer menschlichen Gesellschaft gibt es keine vollkommene Sicherheit; darauf hat Herr Heveling hingewiesen. Das weiß jeder und wird in jeder Debatte von jedem Redner wiederholt.
({1})
Die Hintergründe und die Zusammenhänge der Entstehung von Kriminalität sind so vielfältig, dass es einfach nicht möglich ist, eine sichere - ich betone das Wort
„sichere“ - Prognose darüber zu treffen, ob jemand gefährlich ist oder nicht. Damit bleibt Sicherungsverwahrung Strafe, auch wenn man es anders nennt. Die Strafe
wird nach der Strafe, nachdem die Schuld verbüßt ist,
angeordnet. Damit handelt es sich bei der Sicherungsverwahrung um eine vorbeugende Entziehung der Freiheit, um eine präventive Sicherungshaft, und das aufgrund einer unsicheren Prognose. Wir alle wissen, wie es
mit den Prognosen ist - es gibt diverse Studien -: Von
als gefährlich eingestuften Rückfalltätern sind maximal
20 Prozent gefährlich. Wir sagen: Die restlichen 80 Prozent sperren wir sicherheitshalber ein.
Nun liegt der Referentenentwurf vor. Natürlich hätten
wir uns gewünscht, dass das Justizministerium grundsätzlich über das Institut der Sicherungsverwahrung
nachdenkt. Da hat ein wenig der Mut gefehlt. Ansonsten
nehmen wir zur Kenntnis, dass Anstrengungen unternommen worden sind, den Prinzipien des Urteils gerecht
zu werden. Das betrifft den Anspruch, dass die Unterbringung einer individuellen und intensiven Betreuung
bedarf, den Sachverhalt, dass ein Rechtsanspruch auf
Therapie zumindest angedeutet wird und dass eine Entlassung durch die Gerichte ansteht, wenn keine angemessene Betreuung stattfindet. Das finden wir gut.
Was wir schlecht finden, ist die Beibehaltung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung im Anschluss an
die für erledigt erklärte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, der vorhandene breite Kreis der
Anlassstraftaten und die Ausweitung der Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht.
Lassen Sie mich am Ende noch kurz etwas zum Antrag der SPD sagen. Liebe Genossinnen und Genossen,
({2})
da kommen wir nicht zusammen. Sie wollen die Anlassstraftaten auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte beschränken. Das ist richtig. Dann erklären Sie mir aber
einmal, warum Sie im Dezember 2010 noch gesagt haben, dass Sie das in dem Gesetzentwurf wunderbar geregelt finden. Wenn Sie eine nachträgliche Therapieunterbringung machen wollen - da hat Herr Heveling recht -,
dann machen Sie sich zum Vorreiter für die Wiedereinführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Das
ist absurd.
({3})
Sie ignorieren offensichtlich die kompetenzrechtlichen Bedenken, was das Therapieunterbringungsgesetz
angeht - hier geht es um Gefahrenabwehr, und damit ist
es Ländersache -, und die Unbestimmtheit des Begriffs
„psychische Störung“.
Ich komme zum Schluss. Der Einsetzung einer Expertenkommission zuzustimmen, tut nicht weh. Ich finde,
das ist der angemessene Umgang mit dem Thema. Deswegen geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Wawzyniak. - Nächster
Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP
unser Kollege Christian Ahrendt. Bitte schön, Kollege
Ahrendt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der Rechtsstaat stellt uns nicht nur vor Herausforderungen, sondern er ist auch eine Herausforderung, insbesondere dann, wenn es um die Ränder geht,
um die schwierigen Abgrenzungsfragen, die wir uns zu
stellen haben, und um die Fragen, die zu beantworten
sind, wenn wir über ein Thema wie die Sicherungsverwahrung debattieren. Hier geht es um die Frage, ob jemand, der schwere und schwerste Straftaten begangen
hat, die Möglichkeit haben soll, noch einmal in Freiheit
zu kommen. Diese Frage muss man sich stellen. Wenn
man diese Frage falsch beantwortet, dann kommt man
auf eine schiefe Bahn. Wie schief die Bahn in Deutschland war, hat uns als Erstes die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2009 gezeigt,
und es hat uns auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Mai 2011 gezeigt. Die Folgen - deswegen wundert mich auch Ihr Antrag, Herr Lischka sind verheerend. Eine Folge ist nämlich, dass aufgrund
des Rechtes, das bei uns auf einer schiefen Bahn war,
eine nicht unerhebliche Anzahl von Schwerstkriminellen
freigelassen werden musste, dass wir plötzlich vor der
Situation standen, dass die Polizei diese Menschen rund
um die Uhr überwachen muss, weil wir im Bundestag
aus Populismus - das eine oder andere, was ich eben zu
dem Thema gehört habe, ist nichts anderes als Populismus - Gesetze gemacht haben, die nicht auf dem Fundament unserer Verfassung standen. Wenn wir jetzt wieder
anfangen, über nachträgliche Sicherungsverwahrung zu
diskutieren, dann sind wir ein Stück weit genau auf dem
unsicheren Terrain, das zu einer nicht unerheblichen
Zahl von Straftätern geführt hat, die sich derzeit in einer
Übergangsregelung befinden, die aber teilweise auch auf
freien Fuß gesetzt werden mussten. Das ist das eine.
Das andere ist: Um aus diesem unsicheren Gelände
herauszukommen, haben wir im Dezember 2010 mit
Zustimmung der SPD eine Reform der Sicherungsverwahrung beschlossen, mit der die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgeschafft und die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausgeweitet wird. Damit soll klar
im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils gesagt
werden können: Bei dem Täter liegt eine Gefährlichkeit
vor, die das Gericht erkennt. Kommen dann in der Haft
noch weitere Aspekte hinzu, kann überdies eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden, aber eben nur
dann, wenn sie im Urteil vorbehalten ist; denn hierauf
sollen sich alle Beteiligten einstellen können.
Das war das Konzept, mit dem die Justizministerin
und der Bundestag das Recht der Sicherungsverwahrung
auf neue Füße gestellt haben. Wir sollten uns jetzt tunlichst davor hüten, an diesem sicheren Fundament zu
rütteln, das wir gelegt haben und das auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai letzten Jahres nicht weiter kritisiert worden ist.
Nun liegt ein Kabinettsbeschluss zu dem Gesetzentwurf der Justizministerin vor. Mit diesem Entwurf wird
exakt anhand der Linie der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai letzten Jahres gearbeitet; dabei wird das Abstandsgebot eingehalten. Das bedeutet:
Haft ist etwas anderes als Sicherungsverwahrung. Ein
Täter kommt nach der Verbüßung seiner Strafhaft, wenn
er in Sicherungsverwahrung gehört und entsprechend
verurteilt ist, auch in eine andere Einrichtung. Das ist in
diesem Gesetzentwurf in wesentlichen Grundzügen geregelt.
An dieser Stelle muss man auch die Länder in die
Pflicht nehmen. Bereits im Jahr 2005 hat es eine Untersuchung der Europäischen Kommission zu den Haftbedingungen der Sicherungsverwahrten in Deutschland gegeben. Dabei wurde festgestellt, dass das Abstandsgebot
nicht eingehalten wird, dass die Sicherungsverwahrten
falsch behandelt werden und dass man sich das Leben
nicht einfach leicht machen kann, indem man an der Zellentür lediglich das Schild „Haft“ gegen das Schild „Sicherungsverwahrung“ auswechselt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung gesagt: In diesem Fall hat auch der Bund die Gesetzgebungskompetenz, weil die Länder an dieser Stelle
versagt haben. Deswegen muss man jetzt nicht - so wie
Sie in Ihrem Antrag - unbedingt dazu kommen, jeden
Ratschlag der Länder mitzumachen, der wieder in eine
falsche Richtung geht, nämlich eine nachträgliche Sicherungsverwahrung im Bereich der Therapieunterbringung
zuzulassen.
Damit bin ich bei meinem letzten Punkt. Sie stellen in
Ihrem Antrag die Forderung nach einer „nachträglichen
Therapieunterbringung“; das ist Ihre Formulierung. Damit sind wir aber aus dem Bereich des Strafrechts heraus.
({0})
Dann stellt sich die Frage: Sind wir überhaupt zuständig? Denn die Länder haben eigene Gesetze und eine eigene Zuständigkeit für den Umgang mit psychisch Kranken. Damit befinden wir uns schon in der ersten
Fragestellung: Haben wir eine eigene Gesetzgebungskompetenz?
({1})
Die zweite Fragestellung lautet: Wollen wir es uns in
Deutschland wirklich erlauben, mit dem Begriff des
„psychisch Kranken“ zu arbeiten? Das ist ein in seinen
Rändern und in seiner Bestimmtheit sehr schwierig zu
fassender Begriff. Wollen wir es zulassen, dass jemand
auf der Basis des unbestimmten Begriffs „psychisch
Kranker“ nachträglich in eine Therapieunterbringung
geschickt wird, womöglich für eine psychische Erkrankung, die wiederum gar nicht im Zusammenhang mit der
Straftat steht, für die er verurteilt worden ist?
Wer so etwas will - und schon beim ersten Blick auf
Ihren Antrag zeigen sich diese Probleme - und tatsächlich meint, man müsse jetzt wieder etwas schaffen, das
der nachträglichen Sicherungsverwahrung gleichkommt,
der zerstört das Fundament, das die Bundesjustizministerin und dieses Haus im Dezember 2010 gelegt haben,
und schafft damit eine Rechtsunsicherheit. Wir wollen
aber keine Rechtsunsicherheit, sondern Rechtssicherheit.
Deswegen sollten wir Ihren Antrag zwar diskutieren,
aber in keinem Fall positiv begleiten. Ich bin gespannt
auf die Debatte und insbesondere auf den Gesetzentwurf, der dieses Haus bald erreichen wird. Ich glaube,
mit dem, was die Ministerin vorgelegt hat, sind wir auf
dem richtigen Weg.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Christian Ahrendt. - Nächster
Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Jerzy Montag. Bitte schön, Kollege Montag.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem
Antrag der SPD stellt sich mir als Erstes die Frage: Warum haben Sie ihn überhaupt formuliert, und warum
müssen wir heute darüber diskutieren? In diesem Antrag
fordern Sie die Justizministerin auf, im Referentenentwurf ihres Hauses Änderungen vorzunehmen.
Dieser Antrag hat sich erledigt. Es gibt keinen Referentenentwurf mehr. Die Bundesregierung hat gestern
entschieden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
kann von der Bundesregierung überhaupt nicht mehr
verändert werden; er ist beim Bundesrat eingereicht.
In der Sache selber haben Sie, liebe Kollegen von der
SPD, und wir, die Grünen, bei der Generalreform der Sicherungsverwahrung in Änderungsanträgen praktisch
einstimmig die Beschränkung der Sicherungsverwahrung auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte gefordert.
Das werden wir, wenn es zur Neuauflage kommt - das
wird es in einigen Monaten -, wiederum in Änderungsanträgen fordern. Darüber brauchen wir heute überhaupt
nicht zu diskutieren.
Der zweite Punkt ist interessanter: Sie fordern die
Einführung einer nachträglichen Therapieunterbringung.
Dazu kann ich Ihnen Folgendes sagen: Dieses Haus hat
das Recht der Sicherungsverwahrung zum 1. Januar
2011 grundlegend reformiert, und zwar so, dass es keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieunterbringung vorsieht. Wer hat diesem Gesetz zugestimmt? Die CDU/CSU, die FDP und
Sie von der SPD.
({0})
Wir haben aus anderen Gründen nicht zugestimmt, aber
haben dem Grundansatz, keine nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieunterbringung vorzusehen, ebenfalls zugestimmt. Jetzt stellen Sie, gegen Ihre eigene Haltung, die Sie noch vor
kurzer Zeit hatten, den Antrag, man möge wiederum das
einführen, was Sie gar nicht haben wollten. Das ist völlig
unverständlich und in sich widersprüchlich.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
setzen noch eins drauf. Bei der Diskussion dieses Reformvorhabens haben Sie im Rechtsausschuss einen Änderungsantrag gestellt. Dieser Änderungsantrag lautet:
Sie möchten gerne, dass die Wirkung des reformierten
Gesetzes, das keine nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieunterbringung
vorsieht, bis Ende 2013 evaluiert wird, um danach zu
prüfen, ob es vielleicht Notwendigkeiten gibt, irgendetwas zu verändern. Es ist nichts evaluiert; 2013 ist nicht
zu Ende. Warum stellen Sie jetzt solch einen Antrag, Gesetze zu ändern, denen Sie vorher selbst zugestimmt haben? Ihr Verhalten ist völlig unverständlich, es sei denn,
Sie wollen hier, wofür parteipolitisch etwas spricht, einen Keil in die Koalition treiben. Die Frage ist nur, ob
die Sache ein solches Spielchen verträgt.
Ich sage Ihnen: Sie wollen lediglich den Ländern, die
das wollen, nach der Pfeife tanzen
({2})
- ja - und übersehen dabei, dass rechtspolitisch alles dagegen spricht, eine nachträgliche Therapieunterbringung, die nichts anderes als eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ist, wieder ins Gesetz zu bringen.
({3})
Wer psychisch gestörten oder psychisch kranken
Menschen, die gefährlich sind, die Freiheit entziehen
will, der soll das in eigener Zuständigkeit nach Länderrecht als Gefahrenvorsorge machen. Das gehört nicht in
ein Bundesgesetz, nicht in den Bereich des Strafrechts.
Da haben wir schon bessere Vorschläge gehabt und diskutiert als diejenigen, die Sie jetzt hier einbringen.
({4})
Es ist rein populistisch und taktisch bedingt,
({5})
dass Sie Ihre eigene Position verlassen, und das kreiden
wir Ihnen wirklich an.
({6})
Vielen Dank, Kollege Jerzy Montag. - Letzter Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege
Norbert Geis.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Montag, ich glaube schon, dass es gar nicht
schlecht ist, dass wir heute über die Sicherungsverwahrung diskutieren, weil es tatsächlich ein schwieriges,
aber sehr wichtiges Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode ist.
({0})
- Darüber brauchen wir jetzt nicht im Einzelnen zu streiten.
({1})
Es ist richtig, dass das Bundesverfassungsgericht, wie
Ansgar Heveling es gesagt hat, mit seinem Urteil vom
4. Mai 2011 der Linie des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte gefolgt ist. Diese Linie besagt, dass
die Sicherungsverwahrung so, wie wir sie zurzeit in der
Bundesrepublik Deutschland haben, den Menschenrechten nicht entspricht, und zwar deshalb, weil das Abstandsgebot - der Unterschied zwischen Sicherungsverwahrung auf der einen Seite und Strafvollzug auf der
anderen Seite - nicht gewahrt ist.
In der Tat ist das eine wichtige Aufgabe, der sich das
jetzt vorgelegte Gesetz stellen muss. Ich bin mir sicher
- ich habe das Gesetz gelesen -, dass die Regelung der
Therapieunterbringung gelungen ist, und ich hoffe, dass
sie auch in der Praxis entsprechend umgesetzt wird.
Ich will noch einmal auf den Unterschied zwischen
der Strafe auf der einen Seite und der Therapieunterbringung bzw. Sicherungsverwahrung auf der anderen Seite
eingehen.
Die Strafe hat ihren Grund in der Schuld. Die Schuld
wird in einem gerichtlichen Urteil festgestellt, das in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen ist. Die Sicherungsverwahrung hat ihren Grund in der Verpflichtung
des Staates, für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und
Bürger zu sorgen. Das ist der Grund.
({2})
Beides, sowohl die Strafe als auch die Sicherungsverfahrung, berühren Art. 2 Grundgesetz, das Recht auf Freiheit.
Die Strafe hat den Zweck, eine Schuld zu sühnen und
damit die Rechtsordnung wiederherzustellen. Sie hat einen generalpräventiven Zweck. Der Staat macht nämlich
Folgendes deutlich: Ich verteidige meine Rechtsordnung, und wenn es sein muss, mit dem schärfsten Mittel,
das ich habe, nämlich mit dem Strafrecht. Aber sie hat
auch den Zweck, die Öffentlichkeit vor dem Täter zu
schützen - zumindest so lange, wie er im Strafvollzug
ist. Das ist der Sicherheitszweck der Strafe.
Die Sicherungsverwahrung hingegen hat ausschließlich den Zweck, die Öffentlichkeit vor der Gefährlichkeit des Täters zu schützen. Der Täter hat keine Tat begangen. Er sitzt nicht wegen einer begangenen Tat in
Sicherungsverwahrung. Er ist im Grunde genommen ein
freier Mensch, weil er ja seine Strafe verbüßt hat. Es hat
sich allerdings im Laufe des Strafvollzuges herausgestellt, dass der Täter seine Gefährlichkeit nicht verloren
hat. Vielmehr birgt er nach wie vor die Gefahr in sich,
eine schwere Gewalttat oder ein schweres Sexualdelikt
zu begehen. Das ist der Grund, weshalb wir überhaupt
die Sicherungsverwahrung haben.
Die Sicherungsverwahrung wird zunächst einmal
durch das Urteil möglich, in dem der Richter erklärt:
Nach Verbüßung der Strafe ist Sicherungsverwahrung
angeordnet. Es gibt auch noch die vorbehaltene Sicherungsverwahrung. Dann erklärt der Richter nämlich: Ich
behalte mir die Sicherungsverwahrung vor, weil ich mir
nicht sicher bin, ob sie wirklich notwendig ist. - Das ist
der Hintergrund des Vorbehaltes.
Wir sagen - und da bin ich nicht Ihrer Meinung, dass
das reiner Populismus ist -, dass auch folgender Fall
vorzusehen ist: Wenn sich während des Strafvollzuges
herausstellt - ich unterstelle jetzt, dass die Sicherungsverwahrung nicht vorbehalten worden ist und dass kein
Ausspruch der Sicherungsverwahrung durch das Urteil
erfolgt ist -, dass es sich um einen in höchstem Maße gefährlichen Täter handelt, der nach wie vor zu gefährlichen Taten neigt, zu Gewalttaten, zu schweren Körperverletzungen und zu Sexualdelikten, und der außerdem
§ 1 des Therapieunterbringungsgesetzes entspricht - das
heißt, er leidet unter einer schweren psychischen Störung -, dann meinen wir, dass es möglich sein muss, die
Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Das ist
kein Populismus, sondern das entspricht durchaus dem
Anspruch des Bürgers gegenüber dem Staat, für seine Sicherheit zu sorgen.
Deswegen müssen wir uns über den vorgelegten Gesetzentwurf, sehr geehrter Herr Staatssekretär, im Einzelnen unterhalten. Wir können ihm zum großen Teil zustimmen. Aber wir müssen uns Gedanken darüber
machen, ob mit dieser Regelung der nachträglichen Therapieunterbringung dem Interesse der Bürger Rechnung
getragen wird. Das ist eine wichtige Aufgabe, der wir
uns stellen müssen, und ich bin mir sicher, dass wir im
Gesetzgebungsverfahren im Deutschen Bundestag dazu
eine Anhörung durchführen werden. Wir werden uns
nach den Ergebnissen dieser Anhörung zu richten haben.
Wenn uns Fachleute sagen, dass wir eine Notwendigkeit
bezüglich der geplanten bzw. nicht geplanten nachträglichen Sicherungsverwahrung übersehen haben, dann
müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir die Sicherungsverwahrung auch nachträglich aussprechen
können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis.
Wir sind am Ende dieser Aussprache, die ich hiermit
schließe.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8760 und 17/7843 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes
- Drucksache 17/8799 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich
gehe davon aus, dass Sie einverstanden sind. - Das ist
der Fall. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen lie-
gen dem Präsidium vor.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8799 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen
- Drucksache 17/8883 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wider-
spruch. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen
dem Präsidium vor.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8883 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Albert Rupprecht ({2}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger,
Dr. Martin Neumann ({3}), Patrick Meinhardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken
- Drucksache 17/8788 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen
- Drucksache 17/8493 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben.
Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch erhebt
sich nicht. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen
liegen dem Präsidium vor.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8788 und 17/8493 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({6})
zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck
({7}), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans
- Drucksachen 17/7774, 17/8396 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({8})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das gemeinsam so
beschlossen.
1) Anlage 2
2) Anlage 3 3) Anlage 4
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Rainer Stinner. Bitte
schön, Kollege Dr. Rainer Stinner.
({9})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
war gestern Abend auf einer sehr interessanten Veranstaltung der Robert-Bosch-Stiftung. Dort wurde eine
Studie vorgestellt, in der im gesamten westlichen Balkan
eine Befragung von zwei Generationen vorgenommen
wurde, und zwar derjenigen, die im Jahr 1971 geboren
sind, und derjenigen, die im Jahr 1991 geboren sind. Die
Frage war: Gibt es unterschiedliche Einstellungen und
Befindlichkeiten über die Landesgrenzen hinweg und
zwischen den Generationen?
Die Studie hat einige erstaunliche Ergebnisse
erbracht. Zunächst einmal ist festzustellen: Beide Generationen, also Jung und Alt, haben das Gefühl, dass es
sich im früheren Jugoslawien besser leben ließ. Sie
sagen: Der Vorgängergeneration - „unseren Eltern“ ging es besser, als es uns heute geht. Beide Generationen
haben relativ wenig das Gefühl, dass sie auf dem Balkan
in einer Region leben, in der es darauf ankommt,
gemeinsam etwas zu tun. Sie haben wenig Vertrauen in
ihre Systeme und in ihre Zukunft. Die Jüngeren haben
weniger Reisen in den Westen bzw. nach Europa unternommen als ihre Vorgängergeneration: das heißt, die
heutige Jugend kann bzw. konnte weniger reisen als ihre
Vorgängergeneration. Umso wichtiger ist unsere Visadebatte, die wir im letzten Jahr geführt haben. In der jüngeren Generation gibt es eine etwas größere Zustimmung zur EU-Integration als bei denen, die 1971
geboren sind. Das ist die Lage, die wir in den westlichen
Balkanstaaten heute zur Kenntnis nehmen.
Angesichts dieser Befindlichkeiten müsste man
eigentlich sagen: Das Glas ist maximal halb voll oder
halb leer - je nachdem, wie man das sehen möchte -,
aber mehr nicht. Wenn man die Konfliktsituation im
westlichen Balkan aber mit anderen Konfliktsituationen
in dieser Welt vergleicht, muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir in den letzten 10, 15 Jahren wirklich eine
ganze Menge erreicht haben: Zwei Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien sind bzw. werden Mitglieder der
Europäischen Union; mehrere andere Staaten haben den
Kandidatenstatus. Wir haben die Militärpräsenz der
NATO drastisch reduzieren können. Es gibt also einen
Entwicklungspfad. Wenn wir uns andere Konfliktregionen anschauen, Somalia, Sudan oder den Norden von
Afrika, dann wird klar, dass im westlichen Balkan relativ
viel erreicht worden ist.
Unser politisches Commitment von 2003 - das sage
ich in jeder Rede zum Thema Balkan - gilt nach wie vor.
Es lautet: Jawohl, ihr seid Teil Europas; das ist geografisch völlig unbestritten. Wir wollen euch aber auch in
politischer Hinsicht Schritt für Schritt in die Europäische
Union integrieren, und dazu wollen wir beitragen. - Die
Frage lautet jetzt: Was können wir eigentlich tun?
Ich fange mit dem Thema Selbstermächtigung an. Ich
glaube, dass es ungeheuer wichtig ist, die Staaten zu
ermächtigen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Liebe Marieluise Beck, an dieser Stelle spreche ich
den Konflikt an, den wir beide seit vielen Jahren in aller
Freundschaft austragen.
({0})
- Du wolltest vielleicht nichts dazu sagen, aber du
kommst nicht darum herum. - Es geht um die Rolle des
OHR in Bosnien-Herzegowina. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir diese Länder zu lange unter ein Patronat gestellt haben. Wir können mit dem, was die
UNMIK in zehn Jahren im Kosovo erreicht hat, nicht
zufrieden sein. Wir können auch mit dem, was der OHR
in Bosnien-Herzegowina erreicht hat, nicht zufrieden
sein. Da wir diesem Land mit dem Dayton-Abkommen
etwas aufgezwängt haben - ich weiß, dass du gleich mit
dem Dayton-Abkommen argumentieren wirst; wir kennen uns ja gut genug -,
({1})
haben wir Verantwortung für dieses Land. Wenn ich aber
Verantwortung habe, weil ich den OHR stelle, dann
muss ich mich auch an den Erfolgen messen lassen, und
das ist einfach zu wenig. Ich sage: Die Selbstermächtigung ist ganz wichtig.
Zweitens. Wir müssen die EU-Strukturen verbessern.
EULEX ist noch nicht so, wie es sein sollte. Wir können
nicht zufrieden sein. Wir stehen in Bosnien-Herzegowina jetzt vor der Transition vom OHR zum EUHR, zum
europäischen Hohen Repräsentanten. Ich halte das für
dringend geboten. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf eine Schriftliche Frage von Frau Beck nochmals betont, wie wichtig es ist, die Rolle Europas zu
stärken. Ich bin voll dafür.
Drittens. Wir sollten unsere finanziellen Mittel auf die
Dinge fokussieren, die wirtschaftliches Wachstum hervorrufen; denn die wirtschaftliche Situation in der
Region kann insgesamt nur als katastrophal bezeichnet
werden.
Viertens. Wir sollten in Infrastruktur investieren. Gestern Abend haben mir junge Leute aus der Region
gesagt, dass der Zug von Belgrad nach Zagreb im früheren Jugoslawien viereinhalb Stunden brauchte und heute
siebeneinhalb Stunden braucht. Das ist ein Beispiel für
die Lebenssituation in dieser Region. Diesbezüglich
müssen wir zu Verbesserungen kommen.
Fünftens. Wir müssen schrittweise vorgehen. Ich
halte das Regattaprinzip nach wie vor für richtig. Die
Länder sind einzeln zu beurteilen. Unter anderem deshalb lehnen wir den Antrag der Grünen heute ab. In ihm
ist zu viel von Gemeinsamkeit die Rede. Ich glaube, es
ist nicht richtig, alle auf einmal mitzunehmen. Es hat
sich gezeigt, dass unser selektives Vorgehen richtig ist.
Sechstens. Ich glaube, dass die Konditionierung richtig ist. Die Konditionierungspolitik besagt: Wir gehen
den nächsten Schritt mit dem einzelnen Land, wenn es
bereit ist, Bedingungen zu erfüllen. Das hat sich im letzten Jahr zweimal bewährt. Wir haben es bei BosnienHerzegowina gesehen: Bosnien-Herzegowina haben wir
den Visastatus im Gegensatz zu Serbien und anderen
Ländern nicht gewährt. Daraufhin hat Bosnien-Herzegowina daran gearbeitet. Nach sechs, acht Monaten waren
sie so weit, dass wir Bosnien-Herzegowina die Visafreiheit gewähren konnten. In Serbien war es noch dramatischer: Am 9. Dezember hatte Serbien noch keinen Kandidatenstatus. Doch dann ist in Serbien viel passiert. Bis
in die letzte Nacht hinein ist bezüglich der Beziehungen
zu Kosovo verhandelt worden. Daraufhin konnte der
Kandidatenstatus vergeben werden.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich glaube,
dass die Länder dieser Region, die Mitglieder der EU
sind, also Slowenien und in Zukunft Kroatien, eine Vorbildfunktion haben. Slowenien hat diese Vorbildrolle zu
wenig eingenommen, vielleicht weil Slowenien schon
im früheren Jugoslawien als Außenseiter gesehen wurde;
einige verorteten es sozusagen bei den Nordlichtern.
Jedenfalls ist meiner Meinung nach zu wenig wahrnehmbarer Impetus von Slowenien ausgegangen. Die
Kroaten haben fest versprochen, dass sie es anders
machen werden. Sie tragen ja auch besondere Verantwortung für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Das
ist der Weg, den wir gehen müssen. Diesen Weg können
wir unterstützen, und das wollen wir tun.
Wir sagen nach wie vor: Das Tor zu Europa steht für
die Region offen. Den Schritt durch dieses Tor müssen
die Länder selber machen. Sie sind uns willkommen.
({2})
Vielen Dank, Kollege Stinner. - Nächster Redner ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Josip Juratovic. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir interessieren uns viel zu wenig dafür, was
vor der Haustür der EU auf dem Westbalkan passiert.
Das war in den 90er-Jahren so, bevor dort Krieg ausbrach, und es ist leider auch heute so. Deswegen begrüße
ich es, dass die Grünen hier eine europäische Westbalkan-Strategie fordern.
({0})
In vielen Gesprächen mit den Menschen vor Ort wird
immer wieder gesagt, dass sich ohne Druck aus der EU
auf dem Westbalkan so schnell nichts ändern wird.
Allerdings schaffen wir politische Veränderungen in den
Staaten des westlichen Balkans nur dann, wenn eine Beitrittsperspektive besteht. Das Beispiel Kroatien zeigt: Im
Beitrittsprozess wurde das Land moderner, eine Zivilgesellschaft wurde aufgebaut, und das Land bekam eine
klare Perspektive abseits des Nationalismus.
Eine europäische Westbalkan-Strategie muss diese
Perspektive für alle Länder schaffen. Das übergeordnete
Ziel muss sein, Perspektiven für junge Menschen zu
schaffen. Wir erleben derzeit auf dem gesamten Balkan
Resignation bis hin zu politischer Apathie. Die Jugendarbeitslosigkeit in der gesamten Region beträgt über
50 Prozent. Die wirtschaftliche Produktion liegt bei
gerade einmal 50 Prozent des Niveaus von 1989.
Obwohl die politischen Akteure stets um Investitionen
aus dem Ausland buhlen, sind sie nicht prioritär am Aufbau einer Zivilgesellschaft interessiert, die sich auf
demokratische Werte beruft, die wiederum eine Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft sind.
Lassen Sie mich auf Mazedonien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina näher eingehen. Die politische
Debatte in Mazedonien wird aktuell durch die Identitätsfrage bestimmt - es geht darum, ob die Menschen dort
attisch oder slawisch sind - und ist damit fokussiert auf
die Vergangenheit statt auf Gegenwart und Zukunft.
Dies führt zu ökonomischen und sozialen Absurditäten.
Jedes Jahr verlassen zahlreiche exzellent ausgebildete
junge Menschen die Universitäten, nur um danach keine
entsprechenden Jobs zu finden und in Cafés zu arbeiten.
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Mazedonien ist
erschreckend. Schon mit dem Arbeitsvertrag wird eine
Blankokündigung unterschrieben, auch wenn dies nicht
legal ist. Selbst als Putzfrau bekommt man im öffentlichen Dienst nur mit Parteibuch eine Stelle. Auch das ist
nicht legal, aber gängige Praxis. Die Menschen haben
Angst, sich politisch und gesellschaftlich zu betätigen,
weil sie fürchten, selbst ihren schlecht bezahlten Job mit
100 Euro Monatslohn zu verlieren. Es ist politischer Irrsinn, sich vor Ort in einer solchen Situation nur mit dem
Namensstreit von Griechenland und Mazedonien zu
beschäftigen, anstatt die drängenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme anzugehen.
({1})
Ähnliches gilt für das Kosovo. In Serbien und im
Kosovo diskutieren alle politischen Kräfte nur über die
Anerkennung des Kosovo. Die wirklichen Probleme dieser Länder geraten dadurch in den Hintergrund. Die
Kosovo-Frage darf keine Ausrede für die Politiker vor
Ort sein, wenn sie sich zu wenig darum kümmern, wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die jungen Menschen zu schaffen.
In Bosnien und Herzegowina beobachte ich die gleiche Tendenz. Prioritär wird dort über die Frage der Entitäten und Ethnien diskutiert, und man kann sich nicht auf
eine Verfassung einigen. Gleichzeitig haben die Jugendlichen, egal ob in der Republika Srpska oder in der Föderation, null Perspektive. Ökonomische Fragen oder die
Infrastruktur verschwinden hinter den vermeintlichen
nationalistischen Konflikten, die die politische Klasse
bestimmt. Die politische Klasse drückt auch den Jugendlichen das nationalistische Denken auf.
Die Absurdität getrennter Schulen existiert nicht nur
in Bosnien-Herzegowina, sondern auch in Mazedonien.
Die Jugendlichen lernen, in Parallelgesellschaften zu leben, die möglichst wenig miteinander zu tun haben. Ich
bezeichne das, was aktuell an den Schulen passiert, als
eines der größten Verbrechen auf dem Balkan. Den eigenen Kindern wird Misstrauen gegenüber anderen Nationalitäten bis hin zur Verachtung anderer Nationalitäten
beigebracht. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen zum
Thema Nationalismus nicht schweigen, sondern müssen
gegenseitiges Vertrauen in der Region fördern.
({2})
Wir alle wissen, dass keines dieser Länder allein überleben kann. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist
ohne Alternative. Am Freihandelsabkommen CEFTA,
zwar von allen unterzeichnet, arbeitet niemand mehr
ernsthaft. So bekommt die Wirtschaft dieser Länder keine
Chance in der Region. Eine Diskussion nur anhand ethnischer Grenzen und auf Kosten der Minderheiten macht einen CEFTA-Dialog unmöglich.
Im nächsten Jahr wird Kroatien der EU beitreten.
Kroatien ist ein Beispiel dafür, dass eine WestbalkanStrategie Erfolg haben kann. Auch in Kroatien gab es
jahrelang Diskussionen über Identität und Nationalismus. Mit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen wurden
die öffentlichen Diskussionen aber in eine andere Richtung gelenkt. Durch die 35 Kapitel, die verhandelt wurden, haben Medien und Öffentlichkeit neue Maßstäbe
bekommen, um die Politik zu beurteilen, und sie tun dies
nicht mehr anhand nationalistischer Kriterien.
Durch die Beitrittsverhandlungen wurde deutlich,
dass die alten politischen Kräfte, die nur in ihren nationalen Kategorien denken, nicht die Ideen für die Zukunft
haben. Neue politische Akteure bekamen eine Chance.
Ein Kroatien mit einem Präsidenten Josipovic wäre vor
zehn Jahren undenkbar gewesen. Nur durch die gesellschaftlichen Veränderungen infolge der EU-Verhandlungen wurde ein so integrer Präsident wie Josipovic überhaupt möglich. Eine solche Entwicklung sollten wir für
alle Westbalkan-Staaten anstreben.
({3})
- Danke.
Wir dürfen uns nicht mehr damit aufhalten, mit den
nationalistischen politischen Kräften vermeintliche
Kompromisse auszuhandeln, die dann doch wieder nur
anhand der alten nationalistischen Kriterien umgesetzt
werden, sondern wir müssen durch Beitrittsverhandlungen neue politische Kriterien aufstellen und somit den
neuen politischen Kräften eine Chance geben.
({4})
Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben in diesen
Ländern Schwesterparteien. Das muss auch ein Druckmittel sein. Die CDU muss in Mazedonien auf die Regierungspartei, die Mitglied der EVP ist, noch stärker
einwirken. Ich sage selbstkritisch: Wir Sozialdemokraten müssen in der Republika Srpska auf die sogenannte
Sozialdemokratische Partei noch mehr Druck ausüben,
Politik und nicht Nationalismus zu betreiben.
({5})
Wir müssen den Weg, den Kroatien gemeinsam mit
der EU zurückgelegt hat, auf die anderen Staaten übertragen. Dazu müssen wir in den Beitrittsverhandlungen
die Themen Verwaltung und Justiz vorrangig behandeln,
auch schon bevor ein Land offiziell Beitrittskandidat
wird. Nur so bieten wir neuen Kräften eine Plattform für
politische Veränderungen in ihren Ländern. Nur so
schaffen wir einen Lichtblick für die Gesellschaften auf
dem Westbalkan und bewahren die Glaubwürdigkeit unserer europäischen demokratischen Werte. Deshalb stimmen wir dem Antrag der Grünen zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Kollege Josip Juratovic. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Kiesewetter.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh,
dass wir uns dieses Themas mit Ernsthaftigkeit annehmen und dass es mehr Gemeinsamkeiten als Gräben
gibt. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
grünen Partei: Wir können Ihrem Antrag aus zwei Gründen nicht zustimmen. Ich möchte sie im Folgenden ausführen.
Es ist sehr gut, dass wir versuchen, das Konfliktpotenzial in der Region zu neutralisieren, und dass wir
gemeinsam an Strukturen arbeiten, die dauerhaft den
westlichen Balkan in die Europäische Union integrieren.
Wir finden aber, dass Sie bei der inhaltlichen Ausgestaltung Ihres Antrags deutlich hinter diesem Anspruch zurückbleiben.
Zunächst beschwören Sie Thessaloniki. Seit dem Jahr
2003 ist es fast schon Tradition bei uns im Bundestag,
das Thema der EU-Beitrittsperspektive des westlichen
Balkans anzusprechen. Dadurch reden wir sie aber nicht
herbei. Wir müssen das praktisch ausgestalten. Das Ziel
einer EU-Mitgliedschaft für die gesamte Region wurde
ein ums andere Mal bestätigt. Das ist unstrittig und muss
deshalb nicht ein weiteres Mal beantragt werden. Auch
bei der Diskussion des EU-Erweiterungspakts 2011 ging
es darum, dass wir die regionale Zusammenarbeit und
die Aussöhnung auf dem Balkan vertiefen müssen.
Wir als Unionsfraktion sehen hier nicht die Gefahr einer isolierten Betrachtung einzelner Staaten, wie Sie das
in Ihrem Antrag anführen. Wir glauben, dass die EU
nicht nur über einen Gesamtansatz verfügt, sondern dass
wir das auch praktisch ausgestalten. Es geht schlichtweg
darum, wie wir die Westbalkan-Strategie in der Praxis
erlebbar machen. - Ich füge hinzu: Wir in der Union haben seit Anfang 2010 eine Westbalkan-Arbeitsgruppe.
Die jeweiligen Berichterstatter unternehmen regelmäßig
Reisen. Wir machen uns unser eigenes Bild vor Ort. Dies
bringen wir in die Debatten des Bundestages, insbesondere aber auch in die Parlamentariergruppen ein. Ich
glaube, damit leisten wir dem Parlament einen hervorragenden Dienst und tragen zu einem fairen Informationsaustausch bei.
Uns geht es auch darum, eine Aufweichung der Kopenhagener Kriterien zu verhindern;
({0})
denn diese definieren die wesentlichen Vorgaben für die
beitrittswilligen Staaten. Deshalb müssen wir an diesen
Kriterien festhalten. Warum? Es geht darum, dass wir
die Staaten des westlichen Balkans auch an den europäischen Wertekanon heranführen wollen. Dazu werde ich
gleich ein paar Punkte ansprechen.
Entscheidend ist für uns, dass wir keine Paketlösung
anstreben. Das könnten Sie nachher vielleicht einmal erklären; denn es kommt uns so vor, als ob Sie das indirekt
fordern. Vielmehr wollen wir das Ganze von den tatsächlichen Leistungen einzelner Staaten und deren Fähigkeiten abhängig machen.
Ihr Antrag kommt uns so vor, als ob Sie eine Quadratur des Kreises fordern, indem Sie uns einerseits eine
Politik möglichst naher Beitritte nahelegen und auf der
anderen Seite die strikte Einhaltung der Kriterien fordern. Das ist sicherlich kein Automatismus, bedarf aber
der Erklärung. Die Politik der EU-Erweiterung auf dem
Westbalkan müssen wir auch im Interesse der Menschen,
die jahrelang Krieg erlebt haben, vollziehen. Zugleich
- das ist uns als Union wichtig - geht es darum, die innenpolitische Akzeptanz für die Erweiterung innerhalb
der Europäischen Union zu erreichen. Das sehen wir gerade im Lichte der Euro-Diskussion. Wir dürfen nicht
zulassen, dass auf der Bank des Euro in doppeltem Sinne
die EU-Beitrittsperspektive des Balkans scheitert. Deshalb wollen wir kein Abrücken von der leistungsbezogenen Aufnahme in die EU. Dass das machbar ist, zeigt die
Aufnahme Kroatiens im nächsten Jahr.
Als Union sehen wir folgende Erfolgsfaktoren. Dies
sind Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, regionale Zusammenarbeit, eine Visaliberalisierung, an der wir gemeinsam gearbeitet haben, insbesondere für Bosnien
und Albanien, sowie Wirtschaftsthemen. Es gibt aber
noch ungelöste Fragen.
Was wir in der vergangenen Woche bei der Abstimmung zwischen Serbien und dem Kosovo erlebt haben,
mag ermutigend sein. Dennoch warne ich davor, dies als
Status quo hinzunehmen. Nicht dass wir mit dem Kosovo und dem kleinen Stern ein weiteres FYROM in der
Europäischen Union haben. Vielmehr müssen wir im
Rahmen des serbischen Beitrittsprozesses eindeutig fordern, dass am Ende dieses Prozesses auch der Austausch
von Botschaftern steht.
({1})
Des Weiteren - ich glaube, wir Außen- und Europapolitiker sind uns darin einig - geht es darum, wie wir
dem Kosovo und seiner sehr jungen Bevölkerung helfen.
Deshalb sollten wir über weitere Visaliberalisierungen
und über Liberalisierungen in den Bereichen Bildung
und Wirtschaft nachdenken. Ich glaube, dass es aller
Mühe wert ist, auf unsere Innenpolitiker einzuwirken
und den interparlamentarischen Diskussionsprozess fortzusetzen.
Von Serbien fordern wir die Aufklärung des Brandanschlags auf die deutsche Botschaft vom Februar 2008.
Offensichtlich sind die handelnden Personen bekannt.
Als Bundesrepublik Deutschland erwarten wir die Aufklärung; denn der Kandidatenstatus muss mehr sein als
nur ein politischer Vorschuss. Er muss auch durch tätige
Leistungen unterstrichen werden. Gleiches gilt für gutnachbarschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn Serbiens.
Außerdem haben Sie den Minderheitenschutz angesprochen. Wir unterstützen das ausdrücklich. Allerdings
hätte ich mir gewünscht, dass Sie auch die Trennung in
Schulen insbesondere in Bosnien-Herzegowina angesprochen hätten. Es erfüllt uns alle mit Sorge, dass hier
nach Ethnien getrennt gemeinsam Schulen genutzt werden, deren Pausenhöfe teilweise sogar mit Drähten voneinander getrennt sind.
Zum Abschluss möchte ich noch einen Blick über die
EU hinaus wagen. Wir stützen uns als Europäische
Union im Zusammenhang mit dem Balkan auch deutlich
auf die NATO. Ich möchte hier einen konkreten Vorschlag unterbreiten: Ich glaube, es würde Bosnien-Herzegowina sehr helfen, wenn wir gemeinsam daran arbeiten würden, dass der sogenannte Beitrittsaktionsplan, der
Membership Action Plan, für Bosnien-Herzegowina mit
Blick auf eine spätere NATO-Mitgliedschaft in Angriff
genommen wird. Das kostet nichts, aber führt zu einer
stärkeren Anstrengung innerhalb Bosnien-Herzegowinas
und festigt die gesamtstaatliche Klammer.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
heute der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses folgen. Wir unterstützen aber immer konkrete
Projekte. Zwei konkrete Projekte - den Membership Action Plan und den Ausgleich zwischen Kosovo und Serbien - habe ich angesprochen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter.
Die Kollegin Sevim Dağdelen gibt ihre Rede zu Pro-
tokoll.1) Deswegen steht schon Frau Kollegin Marieluise
1) Anlage 5
Vizepräsident Eduard Oswald
Beck am Rednerpult. Ihr gebe ich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin
Marieluise Beck.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Stinner, ich glaube, wir müssen
dafür sorgen, dass die FDP-Fraktion nach den Grünen
spricht - wegen größerer Kleinheit -, damit Sie mir endlich antworten können und nicht immer vorwegnehmen,
was ich sagen werde.
({0})
Das wird vielleicht so kommen. Warten wir einmal ab.
In diesen Tagen vor 20 Jahren sind in Sarajevo Hunderttausende auf die Straße gegangen, weil ein Krieg in
der Luft lag, den sie auf keinen Fall wollten. Sie ahnten,
dass ein Inferno auf sie zukommen würde. Weil es ihnen
nicht gelungen ist, den Militärs und den Paramilitärs in
den Arm zu fallen, ist es dann auch tatsächlich so gekommen. Drei Jahre Krieg, Belagerung, Vertreibung und
Tod - und eine Weltgemeinschaft, die hilflos und unentschlossen zugeschaut hat. Nicht umsonst fällt das Wort
Srebrenica, das erstaunlich schnell in Vergessenheit geraten ist, angesichts der Ratlosigkeit in Bezug auf die
dramatischen Ereignisse in Syrien jetzt immer wieder.
Wir haben uns damals versprochen: Nie wieder! - Wir
sind jetzt nicht in der Situation eines drohenden Waffengangs, aber Europa hat die Verpflichtung und die Aufgabe, den Staaten des zerfallenen Jugoslawiens den Weg
in die Europäische Union zu ebnen, und zwar auch aus
eigenem Interesse; denn wer die langen historischen Linien kennt - im Jahre 2014 jährt sich das Attentat von
Sarajevo zum hundertsten Mal -, der weiß, dass sich Unruhe auf dem Balkan immer auf das restliche Europa
ausgewirkt hat.
Es ist viel geschafft worden: Slowenien ist ein geachtetes Mitglied der EU, die Republik Kroatien wird ihr
beitreten, Montenegro und Serbien haben einen Kandidatenstatus. Aber es bleiben die sogenannten unvollendeten Staaten; sie müssen uns wirklich besorgen. Dazu
gehört Mazedonien, dessen innere Verfassung aufgrund
der albanischen Minderheit ausgesprochen fragil ist. Das
Land hat schon jetzt angekündigt, dass es, sollte es zu
Grenzverschiebungen kommen, seinerseits auf Grenzverschiebungen setzen wird. Wir müssen uns also darüber klar sein, dass Grenzverschiebungen - ich spreche
über Nordkosovo - dramatische Konsequenzen in anderen Regionen auf dem Balkan nach sich ziehen würden
und den Balkan wieder in Flammen setzen könnten.
({1})
Bosnien und Herzegowina, über das wir hier immer
wieder sprechen, ist durch eine vollkommen unzulängliche Verfassung schwer belastet. Kollege Juratovic, Sie
sprechen es zu Recht an: Es ist auch durch politische Eliten belastet, die auf Grundlage des Nationalismus ihre
Süppchen kochen und auf ihre Weise davon profitieren.
Die Auseinandersetzung um das OHR betrifft die
Frage, ob die Attraktivität der Europäischen Union - darauf setzt die Strategie des Auswärtigen Amtes - wirklich so groß ist - Sie selber haben gesagt, dass sie bei
vielen Bevölkerungsgruppen anscheinend nicht so groß
ist -, dass die EU-Instrumentarien reichen werden, und
ob sie stark genug sein werden, um den destruktiven
Kräften, die es gerade innerhalb von Bosnien, vor allen
Dingen in der Republik Srpska, gibt, Einhalt gebieten zu
können.
Das ist eine offene Wette, Herr Kollege Stinner. Ich
hoffe, Sie haben mit Ihrem Vertrauen in die EU-Instrumentarien recht. Es gibt neue Kräfte, nämlich die antinationalistische Initiative K 143, zu der sich 143 Kommunen in Bosnien zusammengeschlossen haben.
Wir betonen in unserem Antrag noch einmal, Herr
Kollege Kiesewetter: Immer und immer wieder muss
glaubhaft versichert werden, dass wir alle diese Länder
in der EU sehen wollen und dass wir alles dafür tun werden, dass der Letzte nicht irgendwann in 20 Jahren
kommt, sondern dass tatsächlich alle möglichst zeitnah
kommen. Das liegt auch in unserem eigenen Interesse.
Schwarze Löcher im Westbalkan können wir nicht gebrauchen.
Schönen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollege Marieluise Beck. - Letzter
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Thomas Silberhorn. Bitte
schön, Kollege Thomas Silberhorn.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt
haben, beschreibt im Wesentlichen die Haltung, die auch
die Bundesregierung zur Heranführung der Staaten des
westlichen Balkans an die Europäische Union vertritt.
({0})
Ich begrüße ausdrücklich, dass auch Ihre Fraktion diesen
Ansatz der Bundesregierung im Grundsatz teilt und mitträgt.
Der Europäische Rat hat bei seinem Gipfeltreffen in
der letzten Woche, am 1. und 2. März, Serbien den Kandidatenstatus verliehen. Montenegro hat bereits am
8. und 9. Dezember letzten Jahres den Beginn der Beitrittsverhandlungen in Aussicht genommen. Kroatien
wird voraussichtlich im Juli 2013 als 28. Mitglied der
Europäischen Union beitreten.
Das zeigt, dass die europäische Perspektive, die die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union dem westlichen
Balkan in der Erklärung von Thessaloniki 2003 eröffnet
haben, schrittweise in die Realität umgesetzt wird. Es
gibt eine klare europäische Perspektive, zu der wir uns
nach wie vor bekennen.
Mit Verlaub, wir brauchen auch keine neue Strategie,
wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern. Entscheidend ist,
dass die Erklärung von Thessaloniki jetzt Zug um Zug
mit Leben erfüllt wird und dass wir konkrete Ergebnisse
vorzeigen können.
In den letzten Wochen und Monaten sind im Hinblick
auf die Länder des westlichen Balkans wichtige Fortschritte erzielt worden. Ich denke, es ist auch wichtig, zu
betonen, dass die Bundesregierung dabei eine mitentscheidende Rolle gespielt hat.
Die Bundeskanzlerin war am 23. August 2011 in Serbien, und Bundesaußenminister Westerwelle war am
23. Februar dieses Jahres dort, also kurz vor den entscheidenden Beratungen über die Verleihung des Kandidatenstatus. Ohne diesen persönlichen Einsatz der Bundeskanzlerin und des Bundesaußenministers wären die
Verhandlungen angesichts der diffizilen Lage mit Sicherheit erheblich schwieriger verlaufen.
Wenn wir uns am Beispiel Serbiens die Dimensionen
dieses Beschlusses der letzten Woche vor Augen führen
wollen, dann muss man nur wenig mehr als zehn Jahre
zurückblicken, als Serbien mit seinen Nachbarvölkern
im Krieg stand und sich Luftangriffen der NATO ausgesetzt sah. Heute stellt das Land keine militärische Bedrohung für seine Nachbarn mehr dar und klopft an die Tür
der Europäischen Union. Das ist eine positive Entwicklung, die es zu würdigen gilt.
Maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung und die
Versöhnungsprozesse im westlichen Balkan hat zweifellos die Perspektive dieser Länder auf eine Mitgliedschaft
in der Europäischen Union. Das ist hier mehrfach angeklungen. Deswegen ist es wichtig, dass nach dem militärischen Eingreifen und der Beendigung der Kampfhandlungen für die gesamte Region eine dauerhafte politische
Perspektive in der Europäischen Union eröffnet worden
ist. Es geht darum, konstruktiv an dieser Stabilisierung
mitzuwirken. Es geht aber auch darum, dass die betroffenen Staaten die notwendigen, oft schmerzhaften innenpolitischen Maßnahmen dazu ergreifen.
Es ist sicherlich wichtig, dass diese Staaten - ich
denke insbesondere an Kroatien, aber auch an Serbien;
von Herrn Stinner ist zu Recht Slowenien angesprochen
worden - auch ihre regionale Verantwortung wahrnehmen. Wir setzen darauf, dass die Entwicklung in Slowenien, in Kroatien und jetzt zunehmend auch in Serbien
eine positive Auswirkung auf Bosnien-Herzegowina, auf
Montenegro, auf den gesamten westlichen Balkan hat.
({1})
Ich glaube, dass wir diesen Ländern auch diese regionale
Verantwortung abverlangen müssen.
Die Ausrichtung der Westbalkan-Staaten auf die Europäische Union zeigt, dass die EU jenseits der Staatsschuldenkrise ihrer Rolle als Stabilitätsanker in der Region unvermindert gerecht wird.
Bei aller Freude darüber und ungeachtet der Gültigkeit der Erklärung von Thessaloniki dürfen wir aber
nicht die Augen davor verschließen, dass eine Reihe großer Herausforderungen weiterhin damit verbunden ist.
Das gilt in erster Linie für die Staaten des westlichen
Balkans im Hinblick auf die Erfüllung der Beitrittskriterien. Es gilt aber auch für die Europäische Union.
Die Staaten des westlichen Balkans stehen nach wie
vor vor der schwierigen Aufgabe, Versöhnung und Annäherung zu erreichen. Aber sie müssen eben auch die
notwendigen innenpolitischen Reformen unternehmen.
Das wird auch enorme Zeit in Anspruch nehmen. Ich
weise nur auf die acht Jahre hin, die allein Kroatien gebraucht hat, um jetzt den Beitritt vollziehen zu können.
Das ist eine realistische Perspektive. Dies bedeutet, dass
wir den Ländern des westlichen Balkans auch in aller
Klarheit vor Augen führen müssen, welche Anstrengungen mit einem Beitritt zur Europäischen Union verbunden sind.
({2})
Wir haben mit der Erweiterungsrunde 2004 einschlägige Erfahrungen gemacht, die uns sagen: Wir dürfen
nicht noch einmal einen Big Bang machen, sondern
müssen jedes Land nach seinen eigenen Fortschritten bewerten. Wir wollen keine Rabatte gewähren. Vielmehr
muss jedes Land die Kriterien für sich erfüllen.
Wir sagen aber auch ganz klar Ja zur europäischen
Perspektive des westlichen Balkans. Wir sind zuversichtlich, dass die junge Generation in diesen Staaten europäisch ausgebildet und europäisch orientiert ist. Gerade ihnen müssen wir eine realisierbare, von ihnen noch
erlebbare Perspektive auf eine Mitwirkung in der Europäischen Union eröffnen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Thomas Silberhorn. - Ich
schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie darauf
hinweisen, dass wir jetzt noch eine Reihe von Abstimmungen gemeinsam vor uns haben.
Wir kommen aber zunächst zur Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine
Strategie zur europäischen Integration der Länder des
westlichen Balkans“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8396, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7774 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen
Vizepräsident Eduard Oswald
und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Vereinfachung des Austauschs von
Informationen und Erkenntnissen zwischen
den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 17/5096 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/8870 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({1})
Frank Hofmann ({2})
Ulla Jelpke
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Offene Grenzen in einem vereinten Europa: das ist
eine Errungenschaft, für die zu arbeiten es sich wirklich
lohnt. Europa ist - vor allem in den letzten 20 Jahren in der Europäischen Union stark zusammengewachsen.
Ich denke besonders an die Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum, an die gemeinsame Währung und an die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Gerade wir
Deutsche wissen offene Grenzen zu schätzen.
Allerdings bergen offene Grenzen Risiken; denn auch
für Straftäter sind die Grenzen offen, und das nutzen sie
aus. Vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität
wird zunehmend über Grenzen hinweg operiert. Dabei
handelt es sich beispielsweise um Menschenhandel,
Straftaten an Kindern oder Geldwäsche. Strafverfolgungsbehörden müssen daher auch ohne Grenzkontrollen in die Lage versetzt werden, diese Straftaten wirkungsvoll zu verfolgen bzw. abwehren zu können.
Die Europäische Kommission setzt schon länger auf
die verstärkte Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden ihrer Mitgliedsländer. Zu nennen wären hier
beispielsweise das Schengen-Informationssystem, Eurodac - eine Datei zum Abgleich von Fingerabdrücken,
um Asylmissbrauch zu verhindern -, Europol - die europäische Polizeibehörde mit Sitz in Den Haag -, Eurojust
- die Einheit für justizielle Zusammenarbeit in der EU oder die grenzpolizeilichen Kontaktstellen, in denen
Beamte der jeweiligen Nachbarstaaten eng zusammenarbeiten.
Ein weiterer Schritt zur verstärkten Zusammenarbeit
der Strafverfolgungsbehörden ist die Schwedische Initiative. Der Rahmenbeschluss des Rates aus dem Jahr
2006 geht zurück auf eine Initiative der schwedischen
Ratspräsidentschaft und ist deshalb als „Schwedische
Initiative“ bekannt geworden. Dieser Rahmenbeschluss,
den wir heute in deutsches Recht umsetzen, besagt letztlich, dass Informationen, die Behörden zu Strafverfolgungszwecken benötigen, leichter von einem Mitgliedsland zu einem anderen weitergegeben werden sollen,
und zwar unter genau denselben Voraussetzungen wie
im innerstaatlichen Austausch.
Natürlich sind die Polizeibehörden seit dem Wegfall
der Grenzkontrollen gezwungen, viel stärker über die
nationalstaatlichen Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Aber diese Zusammenarbeit soll verbessert, erleichtert und standardisiert werden. Verschiedene Analysen
haben gezeigt, dass das Schengener Übereinkommen,
Europol und die Einführung des Raums der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts durch den Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 zwar die Qualität des Informationsaustauschs verbessert haben, dass aber das Ausmaß
des Informationsaustauschs nach wie vor hinter dem
zurückbleibt, was für eine angemessene Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung erforderlich wäre.
Deshalb kann ich diejenigen unter Ihnen nicht verstehen, die beharrlich behaupten, dass dieses Gesetz nicht
nötig ist. Das ist schlichtweg falsch.
Dort, wo personenbezogene Daten gesammelt, gespeichert und ausgetauscht werden, müssen wir uns
natürlich auch auf die datenschutzrechtlichen Aspekte
konzentrieren. In der parlamentarischen Beratung
haben wir uns intensiv mit Fragen des Datenschutzes
auseinandergesetzt. Wir haben dabei noch einmal ausdrücklich betont, dass der Informationsaustausch nur
unter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Datenschutzes erfolgen darf.
Bei allen skeptischen Einlassungen zum Datenschutz
möchte ich auf eines hinweisen: Hier geht es um den
Austausch innerhalb der Europäischen Union. Die
Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Die
Mitgliedsländer der EU folgen demokratischen Grundsätzen, sie achten und schützen die Grundrechte. Ihre
Ermittlungsbehörden arbeiten nach rechtsstaatlichen
Prinzipien, und Kontrolle dieses Wertekanons wird
durch die Europäische Union garantiert. Deshalb hielte
ich es für hochproblematisch, wenn jetzt einzelne Staaten der Europäischen Union stigmatisiert würden in Bezug auf ein angeblich mangelndes Datenschutzniveau,
nach dem Motto: Denen können wir unsere Daten nicht
geben; denn sie schützen sie nicht genauso wie wir. Dass
wir Deutsche das höchste Datenschutzniveau in der EU
haben, wird dabei gerne unterschlagen. Das kann doch
aber nicht heißen, dass wir den anderen Ländern unsere
Daten vorenthalten. Ich werbe dafür, den verstärkten
und standardisierten Datenaustausch als Chance für
den Kampf gegen organisierte Kriminalität anzusehen
und nicht in erster Linie als Risiko für Daten- und Persönlichkeitsschutz.
Ermittler sammeln und interpretieren Daten, sie
versuchen Zusammenhänge zu erkennen. Eine Flut von
Daten hilft auch unseren Polizeibeamten nicht, sondern
sie sind immer dankbar dafür, wenn sie genau den kleiArmin Schuster ({0})
nen Ausschnitt an Datenmaterial bekommen, der für
ihre Ermittlungen wichtig ist. Deshalb haben wir die
Schwedische Initiative so umgesetzt, dass personenbezogene Daten nur dann weitergegeben werden, wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind. So muss die anfragende
Behörde beispielsweise ganz klar darstellen, wie der
Zweck der Anfrage und die Person, über die Auskunft
erbeten wird, zusammenhängen.
All jenen, die darauf drängen, zunächst einmal auf
EU-Ebene den Datenschutz zu vereinheitlichen, möchte
ich etwas mehr Realismus verordnen. Die Bundesrepublik ist bereits Vorreiter für ein hohes Datenschutzniveau in Europa, und das wird sie auch weiterhin sein.
Zudem besteht auf EU-Ebene das Grundrecht auf Schutz
der personenbezogenen Daten. Die Mitgliedstaaten sind
an das Unionsgrundrecht auf Datenschutz gebunden,
soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts
handeln. Das ist hier der Fall. Wir haben zudem in das
vorliegende Gesetz ausreichende Optionen für Strafvollzugs- und Polizeibehörden eingebaut, um die Datenvermittlung an Staaten mit erheblich geringerem Datenschutzstandard zu begrenzen oder sogar auszuschließen.
Ich bin sehr froh darüber, dass wir den Rahmenbeschluss endlich umsetzen, nachdem die Frist ja schon
lange verstrichen ist. Die christlich-liberale Koalition
hat insbesondere nach der öffentlichen Anhörung von
Sachverständigen im Innenausschuss im September
2011 einige wesentliche Änderungen des Entwurfs
vorangebracht. Dazu gehört insbesondere die schon erwähnte Verknüpfung zwischen Zweck des Ersuchens und
der Person, um die es geht, sowie die Eingrenzung der
Spontanübermittlung und die Einbeziehung der Steuerfahndung. Wir verbessern damit die europäische Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung. Dies ist ein wesentlicher Beitrag für ein freiheitliches und sicheres Europa.
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf soll die Arbeit
der Polizei einfacher machen. Es geht darum, die Übermittlung von Daten innerhalb der EU nicht anders zu
behandeln als die zwischen Behörden in Deutschland.
Das ist ein gutes Ziel. Es ist zu begrüßen, wenn die Strafverfolgungsbehörden in der EU in Zukunft enger, unbürokratischer und damit effizienter zusammenarbeiten
können. Leider aber hat die Regierungskoalition dabei
den Datenschutz völlig außer Acht gelassen.
Wenn die vorliegende Gesetzesänderung in Kraft
tritt, werden unsere bestehenden Regeln durch die Hintertür ausgehebelt und ad absurdum geführt. Während
wir im Inland die höchsten Kriterien an den Schutz sensibler Informationen unserer Staatsbürger legen, werden wir diese in Zukunft freimütig in der Welt verteilen ohne zu wissen, was damit passiert.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wissen es doch selbst: Die Datenschutzstandards sind in der
Europäischen Union alles andere als einheitlich. Viele
liegen deutlich unter deutschem Niveau. Die Grundvoraussetzung aber für den Austausch von Informationen
ist, dass im Empfängerstaat zumindest ein Grundstandard für den Umgang mit ihnen vorhanden sein muss.
Doch dafür haben Sie überhaupt keine Regelungen
getroffen. Liest man nur Ihren Änderungsantrag, könnte
man meinen, der Datenschutz spiele in Ihrem politischen
Wertekanon keine Rolle. Wie kommt es, dass gerade bei
der FDP der Graben zwischen den Grundüberzeugungen und dem praktischen Handeln so groß ist?
Ihr Entschließungsantrag liefert eine Erklärung dafür. Er liest sich wie eine Generalabrechnung mit ihrem
eigenen Gesetz. Der Informationsaustausch könne nur
unter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Datenschutzes erfolgen, heißt es da. Die Bundesregierung
wird aufgefordert, sich für die Belange des Datenschutzes einzusetzen. Die Koalition fordert sich selbst auf, auf
EU-Ebene für ein einheitliches und hohes Datenschutzniveau zu sorgen.
Sie hat völlig recht damit. Schon seit Jahren gibt es
hier einen großen Bedarf. Ein gemeinsames Verständnis
vom Umgang mit Informationen ist Grundvoraussetzung
für eine gemeinsame Nutzung. Auch deshalb kann ich
Ihren Änderungsantrag nicht verstehen. Sie zäumen das
Pferd von hinten auf. Sie schaffen die Fakten vor den Regeln. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es zu einer
Einigung kommt, wenn die Daten längst in ganz Europa
im Umlauf sind? Ihr Entschließungsantrag liest sich wie
ein Wunschzettel - einer, der niemals in Erfüllung gehen
wird.
Der Änderungsantrag soll einen Rahmenbeschluss
des Europäischen Rates aus dem Jahr 2006 in deutsches
Recht umsetzen - eine Entscheidung aus längst vergangener Zeit. Würde sie heute gefällt werden, wäre längst
das Europäische Parlament zuständig. Heute unterliegt
diese Materie bekanntlich dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren.
Sechs Jahre hat es gedauert, bis wir damit befasst
wurden. Gleichzeitig wird auf europäische Ebene über
den gemeinsamen Datenschutzstandard diskutiert. Beides hätte man miteinander verbinden können und müssen.
Gegen die Auslieferung der Daten werden sich die
deutschen Behörden kaum wehren können. Das haben
wir in der Anhörung bereits erörtert. Zudem gibt es
keine Regel, die verbietet, dass Empfängerländer die Informationen an Drittstaaten weitergeben. Ist das etwa
nicht dringend notwendig?
Sie wollen stattdessen im Schweinsgalopp einen Informationsaustausch amtlich machen. Viele Fragen
bleiben unbeantwortet. Was zum Beispiel passiert, wenn
die weitergegebenen Daten an Aktualität verlieren wenn aus einem Beschuldigten ein Unschuldiger wird?
Werden die Informationen nicht aktualisiert, wird er in
anderen Ländern einer Straftat beschuldigt werden, für
die in Deutschland möglicherweise sogar längst ein anderer rechtskräftig verurteilt ist.
Der Schlamassel hat begonnen mit dem Rahmenbeschluss, der den Datenschutz völlig außer Acht lässt. Bei
der Umsetzung des Rahmenbeschlusses werden die
Möglichkeiten, den Datenschutz mit einzubinden, nicht
ausgeschöpft. Die Vorschläge aus der Anhörung werden
nur unzureichend umgesetzt, und danach wird in einem
Zu Protokoll gegebene Reden
Frank Hofmann ({0})
Entschließungsantrag dargelegt, dass man ein hohes
und einheitliches Datenschutzniveau wünscht. So entstehen keine guten Gesetze, denen man getrost zustimmen
kann.
Es ist klar: Wir lehnen Ihren Entschließungsantrag,
Ihren Änderungsantrag und den Gesetzentwurf ab.
Gelegentlich hört man ja in diesem Hohen Hause das
Gerücht, Anhörungen seien reine Showveranstaltungen.
Dass dem nicht so ist, zeigt dieser Gesetzentwurf, der
aufgrund der Sachverständigenanhörung Änderungen
erfahren hat, die dem Datenschutz Rechnung tragen.
Den Sachverständigen, die ihre Argumente vorgetragen
haben, sei an dieser Stelle nochmals für ihren Sachverstand und ihre Anregungen gedankt.
Mit dem Gesetz, das wir heute hier beschließen wollen, wird der Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates in
nationales Recht umgesetzt. Es ist Zufall, dass wir nun
gerade seit etwas mehr als einem Monat die Vorschläge
der Kommission auf dem Tisch liegen haben, wie der
Datenschutz in der EU harmonisiert werden kann. In der
schon erwähnten Anhörung wurde von allen Sachverständigen das Auseinanderfallen von EU-rechtlichen
Verpflichtungen zum Datenaustausch auf der einen und
Datenschutz auf der anderen Seite beklagt. Während in
der EU immer neue Verpflichtungen zum Austausch
auch höchst sensibler Daten geschaffen, umgesetzt und
auch durchgesetzt würden, fehle es an einem einheitlich
hohen Datenschutzniveau. In der Entschließung der Koalitionsfraktionen im Innenausschuss haben wir diesen
Punkt daher nochmals explizit aufgegriffen.
Dort heißt es: „Dabei kann dieser Informationsaustausch nur unter strikter Wahrung der Grundprinzipien
des Datenschutzes erfolgen. Diese Grundprinzipien sind
ein gleichberechtigter Bestandteil eines Europas der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.“ In diesem Zusammenhang wird die Bundesregierung aufgefordert,
sich auch weiterhin auf EU-Ebene für die Belange des
Datenschutzes einzusetzen. Ein möglichst einheitliches
und hohes Datenschutzniveau in Europa soll Ziel dieser
Bemühungen sein. Von besonderer Bedeutung sind hier
die derzeit laufenden Bemühungen der Kommission für
eine Novellierung des Datenschutzes in der Europäischen Union auch im Bereich Justiz und Inneres.
Aber auch schon im vorliegenden Gesetzgebungsverfahren konnten wir mit den Änderungsanträgen der
Koalitionsfraktionen den Datenschutz stärken. Datenübermittlung innerhalb der EU zur Verfolgung grenzüberschreitender Kriminalität und die Achtung des Datenschutzes sind immer zwei Seiten derselben Medaille.
Deshalb haben wir die Datenübermittlung auf Fälle begrenzt, in denen ein Zusammenhang besteht zwischen
dem Zweck des Übermittlungsersuchens und der Person, auf die sich das Ersuchen bezieht. Diese Kopplung
schützt vor der Übermittlung von Daten Unbeteiligter
oder nur zufällig mitbetroffener Personen.
Weiterhin werden Spontanübermittlungen auf Fälle
begrenzt, in denen die Erwartung besteht, dass die Datenübermittlung zur Verhütung der Straftat beiträgt. Dabei haben wir mit der gesetzlichen Vorgabe, dass „konkrete Anhaltspunkte“ vorliegen müssen, die diese
Erwartung stützen, unmissverständlich klargemacht,
dass nur tatsachenbasierte Annahmen ausreichend sind.
Diese höheren Anforderungen sind aus unserer Sicht geboten, weil gerade bei Spontanübermittlungen besonders strikte Hürden eingezogen werden müssen.
In der zusammenwachsenden EU ist die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz notwendig und quasi die
Kehrseite eines Europas ohne Grenzbäume. Es ist aber
dann auch unverzichtbar, in der EU ein hohes Niveau an
Datenschutz und rechtsstaatlichen Sicherungen zu wahren. Das Zusammenwachsen Europas ist längst viel
mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Europa ist
auch der von gemeinsamen Werten und dem gemeinsamen Bekenntnis zur Grundrechtecharta getragene Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Darin liegen
Herausforderungen, aber auch viele Chancen für die europäischen Bürgerinnen und Bürger, die sich hier wie
überall sonst in der EU sicher sein können, dass der
Rechtsstaat zu ihrem Wohle arbeitet. Dazu gehört die
richtige Balance von Freiheit und Sicherheit - überall in
Europa.
Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Austausch von Daten der Polizei und Strafverfolgungsbehörden muss eingebettet sein in ein europaweit ebenso
verlässliches Datenschutzrecht. Es ist deshalb gut, dass
gerade jetzt von der EU-Kommission Vorschläge unterbreitet wurden, die dazu beitragen werden, den Datenschutz in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dass in
den Entwürfen der Kommission noch nicht alles hervorragend ist und dass gerade der vorgestellte Entwurf
der Richtlinie für den Datenschutz im polizeilichen und
justiziellen Bereich noch deutlich Raum für Verbesserung lässt, ist klar - wir stehen ja erst am Anfang der europäischen Diskussion. Klar ist das Ziel: ein hohes
Niveau beim Datenschutz und zwar überall in Europa.
Wir setzen heute den Rahmenbeschluss zur Datenübermittlung um - und wir gehen damit ein Stück in Vorleistung, weil eben das gleichmäßig hohe Datenschutzniveau in der EU noch nicht erreicht ist. Aber Sie
können sicher sein, dass uns das umso mehr Ansporn ist,
aus den Vorschlägen der Kommission für den neuen Datenschutzrechtsrahmen der EU zügig etwas zu machen,
das unserem Anspruch an den Grundrechtsschutz genügt.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt darauf
ab, den Datenaustausch der Sicherheitsbehörden in der
EU weiter zu erleichtern - gleichzeitig wird der Datenschutz weiter ausgehöhlt. Die Linke lehnt dieses Projekt
ab.
Wie so oft bei grundrechtsrelevanten Fragen beruft
sich die Bundesregierung auf einen EU-Rahmenbeschluss. Die Methode ist immer die gleiche: Die Bundesregierung drängt auf der Ebene des EU-Rates, wo es
keine demokratisch-parlamentarische Kontrolle gibt,
auf Beschlüsse, um sie dann dem Bundestag vorzulegen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Parlament kann sie dann nur noch abnicken, wenn
es nicht den Konflikt mit der EU riskieren will. Das ist
Grundrechteabbau auf supranationalem Niveau, zu dem
wir keine Zustimmung erteilen.
Die geforderten Änderungen im BKA-Gesetz, dem
Bundespolizeigesetz und einer Reihe weiterer Gesetze
zielen darauf, aus der EU einen großen Datenraum zu
machen. Wenn eine ausländische Polizei bei einer deutschen Polizeistelle nach Daten fragt, sollen die gleichen
Regeln gelten wie bei Anfragen einer Polizeistelle aus
einem deutschen Bundesland. In der Gesetzesbegründung der Bundesregierung heißt es, dieser Rahmenbeschluss sei „der erste vom Rat verabschiedete Rechtsakt zur Umsetzung des sogenannten Grundsatzes der
Verfügbarkeit. Was nicht da steht, ist, dass dieser
Grundsatz hochproblematisch ist, weil er im Kern besagt: Sämtliche Daten, die einmal erhoben worden sind,
sollen zu jedem Zeitpunkt von jeder Stelle in Europa
abgefragt werden können. Mit Datenschutz hat das
nichts zu tun.
Natürlich sind viele Beispiele denkbar, in denen etwa
die französische Polizei bei den deutschen Kollegen Daten anfordert und diese auch kriegen soll, gerade im Bereich der Strafverfolgung. Aber das ist auch jetzt schon
möglich, dazu gibt es schon längst die notwendigen
Rechtsgrundlagen. Die Mitgliedstaaten sind bereits zu
gegenseitiger Hilfe verpflichtet. Aber: Bislang konnten
sie im nationalen Recht festlegen, wie diese Hilfe konkret geleistet wird. Das soll jetzt aufgegeben werden, in
Zukunft wird das „harmonisiert“. Damit wird aber auch
die Möglichkeit, Hilfeersuchen zu prüfen, um sie unter
Umständen auch abzulehnen, bis auf wenige Ausnahmen ausgeschlossen. Bisher musste man begründen,
warum Daten ausgetauscht wurden, in Zukunft muss
man begründen, wenn ein Austausch einmal nicht
durchgeführt wird. Der Austausch wird also zur Regel,
eine Prüfung ist praktisch nicht vorgesehen und in der
vorgeschriebenen Eile des Datenaustausches - acht
Stunden in sogenannten Eilfällen, wobei der Begriff Eilfall nicht definiert wird - auch gar nicht möglich. Wir
müssen jetzt die Daten liefern, wenn wir nicht konkrete
Zweifel daran anmelden können, dass die Partnerbehörden hier unverhältnismäßig vorgehen oder rechtswidrig
handeln. Die voraussehbare Folge ist, dass noch mehr
personenbezogene Daten frei durch europäische Polizeidatenbanken flottieren. Und die sind keineswegs alle
gleich sicher, sodass in Zukunft noch öfter sensible persönliche Daten von Unbefugten eingesehen werden können.
Dabei geht es ja keineswegs nur um Straftäter. Die
Datenübertragung als Regelsatz umfasst auch den Bereich der Verhütung von Straftaten. Das ist ein weites
Feld, da ist vieles Interpretationssache und Spekulation,
und deshalb wäre gerade hier eine Einzelfallprüfung datenschutzrechtliche Pflicht. Aber das wird preisgegeben.
Wir werden es erleben, dass in Zukunft noch mehr und
noch schneller die Daten beispielsweise von Aktivisten
gegen Wirtschaftsgipfel über die Grenzen ausgetauscht
werden - mit der Begründung, die Demonstranten könnten ja Straftaten begehen.
Erinnern möchte ich auch daran, dass es in mindestens drei Ländern der Europäischen Union in der allerjüngsten Vergangenheit Foltergefängnisse gegeben hat:
In Rumänien, Polen und Litauen hat die CIA vermeintliche Terrorverdächtige heimlich festgehalten und misshandelt, ganz offenbar mit Zustimmung der jeweiligen
Regierungen und mit Nutzung polizeilicher Daten über
die Festgenommenen. Solange so etwas in Europa möglich ist, dürfen die Datenbanken der Polizei nicht als frei
austauschbare Ware gehandelt werden. Ich möchte außerdem daran erinnern, dass es in Europa noch längst
keinen gemeinsamen Datenschutzstandard gibt. Da sollten sich solche Rahmenbeschlüsse von selbst verbieten.
Der Datenschutz, aber auch Grund- und Menschenrechtsstandards sprechen gegen die Umsetzung dieses
Rahmenbeschlusses.
In meiner letzten Rede zum Gesetzentwurf über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatte ich
Sie darum gebeten, dass wir uns gemeinsam und unter
Hinzuziehung externen Sachverstands mit dem komplexen Gesetzentwurf kritisch auseinandersetzen.
Rahmenbeschluss und Gesetzentwurf bezwecken den
möglichst ungehinderten und schnellen Datenaustausch
zwischen den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden der
EU-Mitgliedstaaten. Der Datenaustausch ist grundsätzlich nicht auf bestimmte Gefahrensituationen oder
bestimmte Verdachtstaten beschränkt. Der Kreis der Behörden, die untereinander - offenbar kreuz und quer Daten austauschen sollen, ist sehr groß. Die Übermittlung von Daten von Stuttgart nach Györ oder Barcelona
soll praktisch so behandelt werden wie die Übermittlung
von Daten von Stuttgart nach Wiesbaden. Die dem
Rahmenbeschluss und dem Gesetzentwurf zugrunde liegende Fiktion und Funktion ist, dass die Datenschutzstandards in den EU-Staaten zukünftig in etwa vergleichbar sind.
Dass diese Fiktion mit der Realität jedoch rein gar
nichts zu tun hat, war das erste wesentliche und klare
Ergebnis der öffentlichen Sachverständigenanhörung
des Innenausschusses im September 2011. Alle sieben
der geladenen Sachverständigen haben bestätigt, dass
das Datenschutzniveau im Bereich des Polizei- und
Strafrechts sehr unterschiedlich ist, erst recht in außereuropäischen Staaten.
Zweites klares und wesentliches Ergebnis der Sachverständigenanhörung, das sämtliche Sachverständige
außer dem BKA-Vizepräsidenten Stock gestützt haben,
war, dass der vorliegende Gesetzentwurf vor diesem
Hintergrund als verfassungsrechtlich zumindest problematisch, wenn nicht gar verfassungswidrig anzusehen
ist; denn das Bundesverfassungsgericht verlangt für einen solchen - praktisch ungehinderten - zwischenstaatlichen Datenaustausch ein wenigstens in etwa vergleichbares Datenschutzniveau in dem Staat, mit dem die
Daten ausgetauscht werden sollen. Ist dies nicht sicherZu Protokoll gegebene Reden
gestellt, verstößt der Datenaustausch zwischen Polizeiund Verfassungsschutzbehörden gegen das Grundgesetz.
Drittens haben die Sachverständigen, mit Ausnahme
von Herrn Stock, es so eingeschätzt, dass die Beamten in
den verschiedensten Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, die auf der Grundlage des Gesetzentwurfs über
den Austausch von Daten mit anderen Staaten in der EU
zu entscheiden haben, in der Praxis gar nicht wissen
können, was für ein Datenschutzniveau im Empfängerstaat herrscht; denn es gibt schlicht keine Zusammenstellung von verlässlichen vergleichenden Informationen über das Datenschutzniveau im Bereich des Polizeiund Strafrechts in allen 27 EU-Mitgliedstaaten. Allein
Herr Stock konnte berichten, die Rechtstatsachensammelstelle des BKA verfüge über diese Informationen. Da
es sich bei dieser Informationssammlung aber offenbar
um eine handelt, die aus unerfindlichen Gründen geheim
gehalten wird, wird sich das für den Datenschutz in der
behördlichen Praxis wohl nicht niederschlagen. Auch
von den anwesenden Spezialisten, einschließlich der
Datenschutzbeauftragten, schien keiner von einer solchen Informationssammlung je gehört zu haben.
So viel zu den schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Problemen des Rahmenbeschlusses und des Umsetzungsgesetzes. Einig waren sich die Sachverständigen
während der Anhörung auch weitgehend darüber, dass
der Gesetzentwurf - anders als es das Bundesverfassungsgericht in solchen Fällen von uns fordert - die
Umsetzungsspielräume des Rahmenbeschlusses nicht
für eine grundrechtskonforme und grundrechtsfreundliche Umsetzung nützt. Zu diesem Problem habe ich Ihnen
in meiner ersten Rede im März 2011 schon einige konkrete Punkte genannt und möchte mich hier an dieser
Stelle nicht noch einmal wiederholen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe
mich gefreut, dass Sie dem Antrag auf Durchführung einer Sachverständigenanhörung zugestimmt haben. Nur,
lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen: Eine Anhörung durchzuführen alleine bringt noch keine Verbesserung eines vorliegenden Gesetzentwurfs. Hierzu muss
man in einem zweiten Schritt auch die Ergebnisse der
Anhörung bei den weiteren Beratungen und der Formulierung von Änderungsvorschlägen berücksichtigen.
Das ist von Ihrer Seite leider nur unzureichend geschehen.
Die Anhörung war für uns alle erhellend, und Ihre
Fragen an die Sachverständigen waren äußerst kritisch.
Da wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob man
den alten Rahmenbeschluss angesichts der verfassungsrechtlichen Bedenken überhaupt umsetzen dürfe bzw. ob
und wann man das aus europarechtlichen Gründen tun
müsse. Da wurden etwas krude Lösungsansätze wie die
Aufstellung einer Liste von „Datenschutz-Schurkenstaaten“ diskutiert - und wieder verworfen. Von mehreren
Seiten kam der Vorschlag, den Rahmenbeschluss zum
Informationsaustausch doch wenigstens gleichzeitig mit
dem ebenfalls noch nicht umgesetzten Rahmenbeschluss
zum Datenschutz umzusetzen. Es sei nicht legitim und
grundrechtspolitisch untragbar, den Informationsaustausch auf der einen Seite zu regeln und zu fördern, den
Datenschutz auf der anderen Seite dagegen außen vor zu
lassen.
Letzterer ist ein sehr wichtiger und richtiger Gedanke, der seine Gültigkeit nicht verlieren wird. Leider
bleibt der Änderungsantrag der Koalition zum Gesetzentwurf, über den wir nun mit abzustimmen haben, weit
hinter dieser Erkenntnis zurück. Da wurden an zwei
Stellen - beim Personenbezug der Informationen und bei
Spontanübermittlungen - ganz kleine Verbesserungen
für den Datenschutz erreicht, die teilweise schon aus europarechtlichen Gründen zwingend notwendig waren.
Die verfassungsrechtliche und datenschutzrechtliche
Grundproblematik des Gesetzentwurfs - Datenaustauch
ohne Datenschutz - blieb dagegen unverändert. Kein
Aufschub der Umsetzung des Rahmenbeschlusses, keine
zeitgleiche Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum
Datenschutz, keine Konkretisierung der Übermittlungsverbote aus Datenschutzgründen, keine Streichung der
überschießenden Umsetzung im Hinblick auf den Datenaustausch mit Nicht-EU-Staaten. Stattdessen wurde die
Problematik noch verschärft, indem die Steuerfahndung
in den Datenaustausch einbezogen wurde.
Es ist - und das sage ich ohne Häme - höchst bedauerlich, dass die FDP hier wieder einmal nur einen ganz
kleinen Bruchteil ihrer Forderungen durchsetzen konnte.
Und es ist höchst ärgerlich, dass dieser Gesetzentwurf
zulasten des Datenschutzes verabschiedet wird, obwohl
weder eine europarechtliche noch eine sicherheitspolitische Notwendigkeit dazu besteht. Der Informationsaustausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
auf der Grundlage dieses Rahmenbeschlusses funktioniert selbst in den Staaten nicht, die ihn umgesetzt haben das belegen ein Bericht der Europäischen Kommission
ebenso wie Berichte von Praktikern. Dies zur sicherheitspolitischen Notwendigkeit.
Zur europarechtlichen Umsetzungspflicht möchte ich
zweierlei sagen: Ein Vertragsverletzungsverfahren
wegen Nichtumsetzung eines Rahmenbeschlusses gibt es
nicht, und das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, notfalls die Umsetzung zu unterlassen, wenn
ansonsten der Grundrechtsschutz bedroht ist.
Die Umsetzung des alten Rahmenbeschlusses zum jetzigen Zeitpunkt ist völlig absurd und überflüssig: Das
gesamte Informationsmanagement im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird derzeit ebenso
reformiert wie der Datenschutzrahmen der EU. So liegt
beispielsweise der offenbar von der Bundesregierung
pauschal abgelehnte Entwurf einer Richtlinie zur Schaffung von Standards des Datenschutzes bei Polizei- und
Strafverfolgungsbehörden vor, der im Ansatz die einzig
richtige Fortführung der Frage verbesserten Datenschutzes angesichts des verstärkten Datenaustausches
sein dürfte, auch wenn wir hier derzeit dringenden Verbesserungsbedarf im Hinblick auf den insgesamt zu erreichenden Schutzstandard sehen. Wieso setzen wir ein
Relikt aus Maastrichter Zeiten um und schaffen damit
einen verfassungsrechtlich unhaltbaren Freibrief zum
Datenaustausch, wenn das noch nicht einmal sicherheitspolitischen Nutzen bringt? Und was soll Ihr windiges und vages Bekenntnis zum Datenschutz in Europa im
Zu Protokoll gegebene Reden
beigefügten Entschließungsantrag, wenn Sie tatsächlich
einen Datenaustausch ohne Datenschutz mit EU-Staaten
in einer Weise fördern und legalisieren, die das Europarecht gar nicht verlangt?
Noch einmal möchte ich ganz ausdrücklich ein klares
Ja zu Europa formulieren, und zwar zu einem Europa, in
dem sich Freiheit, Sicherheit und Recht, in dem sich
Datenaustausch und Datenschutz die Waage halten. Um
das zu erreichen, braucht es mehr als Lippenkenntnisse.
Dafür brauchen wir einen starken politischen Einsatz
für hohe EU-Datenschutzstandards und die Wahrung
höchster Grundrechtsstandards im Umgang mit Daten
und Informationen, die unsere Bürgerinnen und Bürger
betreffen. Vor allem die Bundesregierung ist gefragt,
wenn mit der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie, PNRAbkommen und PNR-Datenrichtlinien oder dem SWIFTAbkommen die Vorgaben nicht nur unseres Grundgesetzes, sondern auch des europäischen Grundrechtsschutzes unterlaufen werden. Den Respekt vor den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts müssen wir als Politiker
ebenso nach Europa tragen wie unsere Kritik an der
widersprüchlichen Politik von Kommission und Rat, die
einerseits den Sicherheitsstaat ungehemmt weiter aufbauen und gleichzeitig beanspruchen, als glaubwürdige
Vertreter einer Datenschutzreform für die Bürgerinnen
und Bürger anerkannt zu werden. Einen Ausverkauf von
Datenschutzstandards über die europäische Hintertür
wird es mit uns Grünen nicht geben.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8870, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5096 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Februar 2007 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
des Staates Kuwait über die Zusammenarbeit
im Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7601 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Februar 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
des Staates Katar über die Zusammenarbeit
im Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7602 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
10. März 2009 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kroatien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten und der schweren Kriminalität
- Drucksache 17/7603 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
des Königreichs Saudi-Arabien über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7604 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. April
2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die Zusammenarbeit im
Sicherheitsbereich
- Drucksache 17/7605 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. August 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerkabinett der Ukraine über die Zusammenarbeit im
Bereich der Bekämpfung der Organisierten
Kriminalität, des Terrorismus und anderer
Straftaten von erheblicher Bedeutung
- Drucksache 17/7606 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/8820 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Gisela Piltz
Wolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Terroristische und kriminelle Netzwerke agieren zunehmend international, über Landesgrenzen hinweg ein Aspekt der Globalisierung, der vor 20 Jahren vielleicht so noch nicht absehbar gewesen ist. Dieser internationale, grenzüberschreitende Bezug zeigt sich auch
in Deutschland deutlich.
Deutschland ist Rückzugs- und Planungsraum für
islamistische Terroristen. Das wissen wir spätestens seit
den Anschlägen vom 11. September 2001. Deshalb
setzen unsere Sicherheitsbehörden alles daran, den Aktionsradius von Terrorverdächtigen und islamistischen
Gefährdern so gering wie möglich zu halten und den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Deutschland
ist aber nicht nur Rückzugs- und Planungsraum, sondern islamistische Terrororganisationen rücken unser
Land auch immer wieder in den Fokus ihrer Anschlagsdrohungen. Deutschland ist mittlerweile auch zum Zielland geworden. Welche Rolle dabei internationale Netzwerke spielen, zeigen etwa Drohvideos in deutscher
Sprache aus dem Ausland, verdeutlichen Reisebewegungen von Terrorverdächtigen aus Deutschland oder unterstreichen die Finanzierungswege des internationalen
Terrorismus.
Solche grenzüberschreitenden Netzwerke sind auch
in der Organisierten Kriminalität von großer Bedeutung. OK-Gruppierungen haben laut aktuellem BKA-Lagebild im Jahr 2010 mehr als 1,6 Milliarden Euro Schaden verursacht. Die Gewinne dieser Gruppierungen
lagen dabei bei 900 Millionen Euro, die oft sofort ins
Ausland transferiert werden. Dabei wies ein Großteil,
nämlich 511 OK-Ermittlungsverfahren, internationale
Bezüge auf; das sind fast 85 Prozent der Ermittlungsverfahren im Bereich Organisierter Kriminalität. Diese internationalen Bezüge erstreckten sich auf 130 Staaten.
Das verdeutlicht noch einmal die internationale Dimension, mit der wir es zu tun haben. Genau an dieser Entwicklung muss sich auch unsere Sicherheitspolitik
orientieren.
Wenn wir diese Entwicklung ernst nehmen, müssen
wir erkennen, dass ein einzelner Staat allein oft nicht
mehr viel ausrichten kann. Vielmehr müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern wirksame Lösungen finden wie es auch in der Vergangenheit schon geschehen ist.
Wir müssen unsere Kooperation - davon bin ich überzeugt - ausbauen, um auch in Zukunft gegen den internationalen Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität effektiv vorgehen zu können. Deutschland hat
dazu in der Vergangenheit mit zahlreichen Staaten Abkommen geschlossen, die die Kooperation in Sicherheitsfragen verbessern und dazu beitragen, dass die
Menschen sicherer leben können. Solche internationalen Kooperationen gehen wir mit den vorliegenden
Abkommen auch mit Kuwait, Katar, Kroatien, SaudiArabien, dem Kosovo und der Ukraine ein.
Mit den Abkommen - die weitgehend inhaltsgleich
sind - schaffen wir die Rechtsgrundlage für die Kooperation in allen wesentlichen Bereichen. Unter anderem
geht es um Terrorismus und Terrorismusfinanzierung,
Waffenschieberei, Drogenhandel, Geldwäsche, Falschgeld, Menschenhandel und Zuhälterei, Steuer- und
Zolldelikte, Urkundenfälschung - allesamt Straftaten
von erheblicher Bedeutung. Dabei bezieht sich die Zusammenarbeit nicht nur auf den Austausch von Informationen über Straftaten und Netzwerkstrukturen, sondern
auch auf operative Zusammenarbeit, die Entsendung
von Verbindungsbeamten, den Austausch von Erfahrungen und Forschungsergebnissen sowie Unterstützung
bei der Aus- und Fortbildung von Sicherheitspersonal.
Mit anderen Worten: Wir geben unseren Sicherheitsbehörden die notwendigen Instrumente an die Hand,
damit sie ihre Arbeit erfolgreich erledigen können.
Wichtig ist dabei ein weiterer Punkt: Die Zusammenarbeit richtet sich nach innerstaatlichem Recht. Das
heißt: Wenn wir Beamte entsenden oder Daten weitergeben, dann auf Grundlage unserer Gesetze und Vorschriften. Das ist deshalb wichtig, weil in der Sicherheitszusammenarbeit auch die Kooperation mit Ländern geboten ist, die ein anderes Rechtssystem haben. In diesem
Zusammenhang unterstreichen wir als Koalition noch
einmal mit unserem Entschließungsantrag, dass die
Abkommen klare Datenschutzklauseln sowie Bestimmungen zur Wahrung der Menschenrechte enthalten, die
Grundlage für jede Entscheidung zur operativen Zusammenarbeit oder Datenweitergabe sind.
Da weder Organisierte Kriminalität noch Terrorismus an Grenzen haltmachen, muss die Sicherheitszusammenarbeit auch mit Drittstaaten gestärkt und fortentwickelt werden. Dies gilt gerade für Regionen von
herausgehobener Bedeutung wie den arabischen Raum,
den Balkan und Osteuropa. Dafür sind die vorliegenden
Abkommen eine wichtige Grundlage. Sie werden einen
maßgeblichen Beitrag zu mehr Sicherheit in allen Vertragstaaten leisten. Deshalb stimmt die Union den vorliegenden Gesetzen zur Ratifizierung der Abkommen zu.
Es besteht kein Zweifel: Der Kampf gegen internationalen Terrorismus und Organisierte Kriminalität kann
sich nicht nur auf die Europäische Union beschränken.
Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten außerhalb der
EU ist notwendig und wesentlicher Bestandteil der deutschen Sicherheitspolitik.
Die hier vorliegenden Gesetzentwürfe betreffen Abkommen über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich, welche von der Bundesrepublik Deutschland mit
den Regierungen des Staates Kuwait, des Staates Katar,
der Republik Kroatien, des Königreichs Saudi-Arabien,
der Republik Kosovo und dem Ministerkabinett der
Ukraine abgeschlossen wurden. Mit den Abkommen soll
die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Organisierten Kriminalität und des Terrorismus verbessert werden. Dabei geht es auch um den
Austausch von Informationen und personenbezogenen
Daten. Das Abkommen mit Saudi-Arabien sieht darüber
hinaus eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Sicherheitstrainings vor. Auch wenn sich das auf den ersten
Blick ganz vernünftig anhört, sollte man sich die einzelnen Kooperationspartner doch etwas genauer anschauen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich möchte in diesem Zusammenhang gar keinen
Hehl daraus machen, dass vier der zur Diskussion stehenden Abkommen unter Beteiligung der SPD im Rahmen der Großen Koalition geschlossen wurden, aber
- und das sage ich Ihnen hier ganz deutlich - schon damals mit gravierenden Vorbehalten im Hinblick auf die
Abkommen mit Saudi-Arabien, Katar und Kuwait! Und
heute? Heute ist die politische Situation in diesen Ländern - auch durch die Auswirkungen des arabischen
Frühlings - eine andere. Gerade im Lichte dieser Veränderungen sind auch die Gesetzentwürfe der Bundesregierung zu den hier vorliegenden Sicherheitsabkommen
zu sehen.
Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass der Antifolterausschuss der Vereinten Nationen im November
2011 Deutschland wegen der geheimdienstlichen Zusammenarbeit mit Drittstaaten gerügt hat. So hat der
Ausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen
ernsthafte Bedenken geäußert, da sich die Bundesrepublik nicht von der Verwendung von Informationen, welche durch ausländische Geheimdienste unter Folter erlangt wurden, distanziert hat. Zwar ist der UNAntifolterausschuss, dessen einzige „Waffen“ Bemerkungen und Empfehlungen sind, ein zahnloser Tiger; ein
politisches Signal sendet er aber allemal. In diesem
Sinne möchte ich nun im Folgenden auf die einzelnen
Abkommen eingehen.
Gerade die Zusammenarbeit mit dem Königreich
Saudi-Arabien steht ja bereits seit längerem in der öffentlichen Kritik. Auch im Innenausschuss des Deutschen Bundestages haben wir etwa die Ausbildungstätigkeit der Bundespolizei in Saudi-Arabien diskutiert
und als SPD-Bundestagsfraktion deren sofortige Beendigung gefordert. Es ist unverantwortlich, dass deutsche
Polizeikräfte unter dem Deckmantel der Sicherheitszusammenarbeit ihren saudi-arabischen Kolleginnen und
Kollegen polizeiliche Fähigkeiten vermitteln, die etwa
der Niederschlagung der Oppositionsbewegungen dienen können. Dass saudi-arabische Sicherheitskräfte immer wieder gewaltsam gegen Demonstrationen, vor allem der schiitischen Minderheit, vorgegangen sind, und
dabei - wie etwa im März 2011 - auch gerne mal den
Nachbarstaat Bahrain unterstützen, ist hinlänglich bekannt. Berichte über willkürliche Festnahmen, Inhaftierungen ohne Anklage sowie Folter und Misshandlungen
in saudi-arabischen Gefängnissen machen das Bild
komplett. Zudem ist Saudi-Arabien einer der wenigen
Staaten, die gegen die Resolution der UN-Generalversammlung für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium
gestimmt haben. Allein die Vorstellung, dass saudi-arabische Ermittler mithilfe deutscher Informationen zu
Verdächtigen geführt werden, diesen unter Folter ein
Geständnis abpressen, das dann zu einem Todesurteil
führt, ist nicht hinnehmbar. Aufgrund dieser politischen
Entwicklungen und der menschenrechtlichen Situation
im Land haben wir große Bedenken gegen das Sicherheitsabkommen zwischen der Bundesrepublik und dem
Königreich Saudi-Arabien.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Hinblick auf die
Staaten Katar und Kuwait. Auch in diesen beiden Ländern steht die Todesstrafe auf der Tagesordnung. Die
beiden Regierungen scheinen dies auch in keinster
Weise ändern zu wollen; denn auch sie reihen sich in die
unrühmliche Liste der wenigen Staaten ein, die gegen
das UN-Hinrichtungsmoratorium votiert haben. Darüber hinaus sind in diesen Ländern Haft ohne Anklage
oder Gerichtsverfahren ebenso üblich wie die Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Einer Kooperation im Sicherheitsbereich mit den Staaten Kuwait und Katar kann man daher nur mit großen
Bedenken begegnen.
Auch in der Ukraine hat sich die politische Situation
nach der Abwahl der früheren Regierungschefin Julija
Timoschenko im Jahr 2010 verschlechtert. Unter der
neuen Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch
wird Menschenrechtsfragen kein hoher Stellenwert zugemessen. So wurde der ehemalige Innenminister Jurij
Luzenko ohne Anklage inhaftiert, und auch die spätere
Verurteilung von Julija Timoschenko erfolgte unter mehr
als fadenscheinigen Gründen. Diese politische Justiz ist
mit demokratischen Vorstellungen nicht vereinbar. Dies
sieht wohl auch die EU so und hält aus Protest gegen
diese politisch motivierten Verfahren ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zurück. Das Sicherheitsabkommen zwischen Deutschland und der Ukraine muss
daher aufgrund der politischen Entwicklungen kritisch
gesehen werden.
Im Unterschied zu den oben genannten Verträgen
kann ich die Abkommen zwischen Deutschland und der
Republik Kosovo beziehungsweise Kroatien nur befürworten. Die Republik Kroatien hat ihre Hausaufgaben
gemacht und soll nun zum 1. Juli 2013 der 28. Mitgliedstaat der EU werden. Hier ist es wichtig, bereits vorab
Fachwissen und Erfahrungen auszutauschen und die
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten
und schweren Kriminalität zu intensivieren. Im Hinblick
auf die Republik Kosovo ist es nach wie vor notwendig,
die lokalen Sicherheitskräfte zu unterstützen. So ist es
auch im Interesse Deutschlands, die bestehende rechtsstaatliche Verwaltung weiter aufzubauen. Eine Kooperation mit diesen beiden Staaten ist erforderlich und aufgrund der rechtsstaatlichen Bestrebungen vertretbar;
den entsprechenden Gesetzentwürfen der Bundesregierung kann ich nur zustimmen.
Ich habe deutlich gemacht, dass wir bilaterale Abkommen zur Bekämpfung von grenzüberschreitender
Organisierter Kriminalität und Terrorismus auch mit
Staaten außerhalb der EU brauchen. Sie sind ohne
Zweifel ein wichtiger Baustein der deutschen Sicherheitspolitik. Dennoch sollte man sich seine Kooperationspartner etwas genauer ansehen und auch aktuelle
politische Veränderungen in diesen Staaten berücksichtigen. Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten in sensiblen Bereichen wie Informations- und Datenaustausch
darf es nicht um jeden Preis geben - auch nicht im Interesse der Sicherheit.
Meine Rede zum vorigen Tagesordnungspunkt der
heutigen Plenardebatte habe ich damit geschlossen,
dass unser Ziel ist, Datenübermittlungen von Polizei
Zu Protokoll gegebene Reden
und Justiz innerhalb Europas mit einem europäischen
Datenschutzrechtsrahmen zu flankieren, der unseren
Ansprüchen an den Schutz der Grundrechte genügt.
Von einem weltweiten Rahmen dieser Art sind wir
weit entfernt. Selbst mit unseren engen Partnern, den
Vereinigten Staaten, ist es nicht immer einfach, einen gemeinsamen Nenner im Bereich des Datenschutzes zu finden. Umso mehr gilt dies dann natürlich für Staaten, die
unseren Wert- und Rechtsvorstellungen ferner stehen.
Zugleich müssen wir aber feststellen, dass in unserer
globalisierten Welt schwere Kriminalität und Terrorismus die Zusammenarbeit mit anderen Staaten immer
wichtiger werden lassen. Daran ändert sich auch nichts,
wenn man zugleich feststellt, dass für einen liberalen Innenpolitiker derartige Abkommen nicht unbedingt geeignet sind, Glücksgefühle auszulösen.
Denn es ist selbstverständlich wichtig, auch auf dem
Gebiet der Inneren Sicherheit mit Partnern in anderen
Staaten zusammenzuarbeiten. Nicht nur macht Kriminalität nicht an Grenzen halt, sondern es ist auch unser Anliegen, durch diese Zusammenarbeit rechtsstaatliche
Grundlagen zu schaffen, die für beide Vertragspartner
bindend sind. Ein gemeinsamer Mindeststandard und
die gegenseitige Zusicherung, sich daran zu halten - sei
es bei der Übermittlung von Daten, sei es bei der Unterstützung der Polizeiausbildung oder sei es bei der Vermittlung von Know-how -, dient dazu, alle Maßnahmen
mit dem Ziel, gemeinsam schwere Kriminalität und Terrorismus zu bekämpfen, auf ein ordentliches rechtsstaatliches Fundament zu stellen. Dass weltweit betrachtet
der kleinste gemeinsame Nenner nicht das deutsche Datenschutzrecht ist, erschließt sich dabei wohl von selbst auch wenn es natürlich, quasi in einer idealen Welt,
schön wäre, wenn der weltweite Standard dem entspräche.
„Zweck von bilateralen Abkommen ist es, den Sicherheitsbehörden bei der Zusammenarbeit Konturen zu verleihen, wie zum Beispiel Deliktfelder und den Rahmen
der Zusammenarbeit festzulegen. Es wird quasi der Boden bereitet für eine gute bilaterale Zusammenarbeit.“
Das sagte der Kollege Frank Hofmann für die SPD in
der letzten Legislaturperiode zum Sicherheitsabkommen
mit Vietnam.
Er sagte weiterhin: „Die datenschutzrechtlichen Regelungen dieser Abkommen sind alle … nach einem mit
dem Bundesdatenschutzbeauftragten abgestimmten Muster eingefügt. Für die Polizei werden keine neuen Befugnisse geschaffen. Grundlage bleibt das innerstaatliche
Recht, insbesondere die §§ 14 und 15 des BKA-Gesetzes.
Nach Abs. 7 des § 14 wird das BKA veranlasst, darauf
hinzuweisen, dass die personenbezogenen Daten nur zu
dem Zwecke genutzt werden dürfen, zu dem sie übermittelt worden sind. Ferner ist der beim Bundeskriminalamt
vorgesehene Löschungszeitpunkt mitzuteilen. Die Übermittlung personenbezogener Daten unterbleibt, wenn
Grund zu der Annahme besteht, dass mit der Übermittlung gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes verstoßen wird. Die Übermittlung unterbleibt außerdem, wenn
durch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden, insbesondere wenn im Empfängerland ein angemessener Datenschutzstandard nicht gewährleistet ist.“
Interessanterweise hat die SPD jetzt aber bei den
heute zur Debatte stehenden Sicherheitsabkommen behauptet, quasi datenschutzrechtliche „Bauchschmerzen“ zu haben. Das muss man nicht verstehen, nach diesen Zitaten erst recht nicht.
Zu dem eben erwähnten Sicherheitsabkommen mit
Vietnam habe ich damals für meine Fraktion gesagt:
„Aus unserer Sicht ist die internationale Zusammenarbeit, gerade im Bereich der Inneren Sicherheit, angesichts der grenzüberschreitenden Kriminalität und des
internationalen Terrorismus unabdingbar. Wir sind davon überzeugt, dass die Probleme in einer globalisierten
Welt nicht durch nationale Alleingänge gelöst werden
können. Aus diesem Grund sind vertrauensvolle Beziehungen mit internationalen Partnern von herausragender Bedeutung. Gleichwohl können wir bilateralen Abkommen dann nicht zustimmen, wenn Regelungen
enthalten sind, die wir auch auf nationaler Ebene seit jeher ablehnen.“
Nun könnten Sie natürlich fragen, warum wir die
heute zur Beratung stehenden Abkommen nicht ablehnen. Die Antwort lautet: Wir haben gemeinsam mit dem
Koalitionspartner im Innenausschuss eine Entschließung verabschiedet, die einfordert, welche Rahmenbedingungen zu beachten sind.
Der Bundesregierung haben wir mit der Entschließung aufgegeben, dafür Sorge zu tragen, dass erstens
Daten nicht übermittelt werden, wenn Menschenrechtsverletzungen für die betroffenen Personen drohen, dass
zweitens Bedingungen für die Nutzung etwa übermittelter Daten zu setzen sind, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, dass drittens stets strikt innerstaatliches ({0}) Recht beachtet wird, wenn Daten
übermittelt werden sollen, und dass viertens Menschenrechte und rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze Bestandteil jedweder Schulungs- und Ausbildungstätigkeit
sind.
Damit haben wir flankierend zur Ratifizierung der
Abkommen noch einmal verdeutlicht, dass die notwendige internationale Zusammenarbeit nicht zu einem
Schleifen rechtsstaatlicher Standards in Deutschland
führen darf. Wir werden möglicherweise nicht alle Staaten auf der Welt davon überzeugen können, das deutsche
Datenschutzrecht in ihrem nationalen Recht zu implementieren. Aber wir werden jedenfalls dafür Sorge tragen, dass strikte Anforderungen beachtet werden, wenn
Daten von unseren Sicherheitsbehörden an andere Länder übermittelt werden.
Das ist unser Beitrag zum Datenschutz und zu den
Menschenrechten in diesem Zusammenhang in dieser
Legislaturperiode. Ich kann mich nicht daran erinnern,
dass es das in den vorigen Legislaturperioden gegeben
hätte. Das zeigt: Wir nehmen unsere Aufgabe als Parlamentarier bei der Ratifizierung solcher Abkommen
ernst.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung beantragt die Zustimmung zu
einer Reihe von Verträgen mit anderen Staaten über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Diese beinhaltet umfassenden Datenaustausch. Die Linke wird diesen
Verträgen nicht zustimmen. In Ländern wie Kuwait, Katar und Saudi-Arabien werden die Menschenrechte aufs
Schwerste missachtet, wie aus Berichten von Amnesty
International und Human Rights Watch hervorgeht.
In Saudi-Arabien sind Menschenrechtsverletzungen
an der Tagesordnung. Gerichte verhängen dort grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen, die
auch ausgeführt werden, vor allem Auspeitschungen.
Zur Rettung des feudalen Regimes im Nachbarland Bahrain vor einer demokratischen Protestbewegung war im
Frühjahr 2011 die saudi-arabische Armee in Bahrein
einmarschiert. In Kuwait werden Kritiker des Präsidenten schikaniert und verfolgt. Frauenrechte werden in allen diesen Ländern extrem missachtet. Migranten und
Staatenlosen werden grundlegende politische und soziale Rechte wie etwa der Zugang zu Gesundheitswesen
und Bildung verweigert. Menschenrechtler und Regierungskritiker werden eingeschüchtert, bedroht, eingesperrt und mit politisch motivierten Prozessen überzogen. Mit solchen Staaten auf dem Sicherheitssektor zu
kooperieren, ohne sich zum Komplizen von Folterern zu
machen, ist eine Gratwanderung, welche die Bundesregierung nicht meistert.
Die Problematik fängt schon bei der Beschreibung
der Delikte an, deretwegen die deutschen Sicherheitsbehörden mit jenen der anderen Staaten kooperieren sollen. Sie ist nicht abgeschlossen, im Prinzip kann es also
um alles gehen, was in einem der Staaten verboten ist.
Ganz oben steht der Terrorismus. Wer ist nicht gegen
Terrorismus? Der Teufel steckt aber im Detail: Es gibt
keine Definition dieses Begriffs. Wir können davon ausgehen, dass diese Regime jede Freiheitsbewegung für
„terroristisch“ erklären. Zudem ist bekannt, dass in etlichen dieser Staaten Verhaltensweisen, die hierzulande
vollkommen legal sind, für kriminell erachtet werden.
So werden in Katar beispielsweise Personen wegen
Vergehen im Zusammenhang mit „unerlaubten sexuellen
Beziehungen“ oder Alkoholkonsum zu 30 bis 100 Peitschenhieben verurteilt. Dort ist eben kriminell, wer als
Schwuler oder Lesbe gleiche Rechte fordert oder einfach
nur in der Öffentlichkeit ein Bier trinken will. In der Aufzählung der Delikte fehlt natürlich auch nicht der Punkt
der „unerlaubten Einschleusung von Ausländern“. Das
ist ebenfalls ein weites Feld: Damit kann man berufsmäßige, skrupellose Schleuser treffen, die das Schicksal
von Flüchtlingen ausbeuten und nur allzu oft deren Leben gefährden, damit kann man aber auch das humanitäre Engagement von Helfern kriminalisieren, die
Flüchtlinge retten. Dazu braucht man gar nicht die diktatorischen Regime im Nahen Osten zu betrachten, auch
Italien bringt so etwas fertig. Die pauschale Kriminalisierung der „Einschleusung“ ist absolut unangebracht.
Das sage ich auch im Blick auf die Verträge mit der
Ukraine und Kroatien, beides Anrainerstaaten der EU.
Deswegen lehnt es die Linke auch ab, vertraglich
festzulegen, dass den ausländischen Vertragspartnern
„alle interessierenden Informationen“ zu den jeweiligen
Delikten übermittelt werden sollen. Die Sicherungsklauseln in den Vertragstexten sind völlig unzureichend. So
„kann“ die Bundesrepublik die Kooperation verweigern, wenn ein bestimmtes Delikt in Deutschland gar
nicht strafbar ist oder wenn Grund zur Annahme besteht, dass der Partnerstaat mit den Informationen aus
Deutschland missbräuchlich umgeht. Aber: Die richtige
Reihenfolge wird hier umgedreht. Notwendig wäre eine
Einzelfallprüfung. Nur dann, wenn man sicherstellen
kann, dass eine Datenübermittlung angebracht und notwendig ist, sollte sie stattfinden. Doch stattdessen wird
hier der Datenaustausch zur Regel und die Austauschverweigerung zur Ausnahme. Die Beamten, die im Innenministerium oder im BKA Anfragen prüfen, sind immer auf der sicheren Seite, wenn sie Informationen
rausrücken, aber rechtfertigungspflichtig, wenn sie das
nicht tun. Und das ist falsch; denn das bedeutet, Menschenrechte und Datenschutz auf den Kopf zu stellen,
und deswegen lehnt die Linke diese Abkommen ab.
Die Zusammenarbeit im Sicherheitssektor, über die
wir heute sprechen, gibt es längst, auch wenn die vorliegenden Verträge noch nicht ratifiziert waren. Die Abkommen, die wir heute ratifizieren sollen, sind teilweise
ein halbes Jahrzehnt alt, die Mehrheit hat noch der Bundesinnenminister Schäuble paraphiert. Muntere Kooperation ohne geordnete Rechtsgrundlage - da fragt man
sich schon, was für ein Verständnis von ordnungsgemäßem Vorgehen das sein soll. Und es zeigt, wie wenig
Wert diese Regierung - und auch die Große Koalition
zuvor - in manchen Fragen auf die korrekte Beteiligung
des Deutschen Bundestages legt.
Wir haben hier sogar schon heftig darüber gestritten,
im Plenum und im Innenausschuss, wie diese Zusammenarbeit aussieht. Bestes - oder wohl doch eher:
schlimmstes - Beispiel ist Saudi-Arabien. Da läuft seit
Jahren ein Ausbildungseinsatz der Bundespolizei, parlamentarisch kaum zu greifen, festgelegt in einem Vertrag
zwischen einem Rüstungskonzern und einem Regime,
das Freiheit und Menschenrechte nicht gerade hoch
schätzt. Das hat man alles ohne das heute vorliegende
Abkommen gemacht, und es kann nun keiner behaupten,
dass mit dem Abkommen nun alles besser würde; denn
das gibt der Text nicht her. Und wenn es im Interesse der
Bundesregierung gewesen wäre, den Ex-Bundespolizisten Hansen - auch bekannt unter seinem Kampfnamen
Udo von Arabien - und sein fragwürdiges Ausbildungsprojekt für saudische Polizeitruppen im Sold von EADS
durch ein Abkommen zu stoppen, dann hätte man dieses
Abkommen schon längst ratifizieren können.
Im Grunde sind solche Verträge ja der richtige Gedanke - die Zusammenarbeit auf einem so sensiblen
Sektor wie dem der Sicherheit bedarf der klaren rechtlichen Regelungen. Und, ja, wir sind beispielsweise bei
der Bekämpfung des Terrorismus auf internationale Zusammenarbeit angewiesen, und diese Zusammenarbeit
muss eine feste Basis haben. Aber genau das leisten
Zu Protokoll gegebene Reden
diese Abkommen eben gerade nicht. Sie sind gekennzeichnet von zu unklaren menschenrechtlichen und
rechtsstaatlichen Bindungen, zu diffusen Anwendungsbereichen und zu laxen Kontrollen und Standards.
Schon die Fundamentaldaten stimmen nicht: Menschenrechtliche Standards werden eher blumig und am
Rande erwähnt - und sie sind keineswegs immer gewahrt, wenn Kuwait oder Saudi-Arabien nach ihrem innerstaatlichen Recht verfahren. Die feste Bindung an
Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit muss man mit
der Lupe suchen, und auch dann wird man nur teilweise
fündig. Und das darf uns bei einigen der Staaten, um die
es hier geht, nicht ausreichen.
Man kann nicht annehmen, dass Katar und Kuwait,
Saudi-Arabien, aber auch die Ukraine immer Standards
anlegen, wie wir es tun - im Gegenteil, man hat genug
Belege, dass in allzu vielen Fällen eben nicht die rechtsstaatlichen Standards gelten, die wir einfordern.
Das gilt auch für die Fragen des Rechtsweges und der
Datenweitergabe. Der Austausch von Informationen ist
wichtig, das steht ja gar nicht infrage. Aber es kann
nicht sein, dass der individuelle Rechtsschutz quasi
nicht durchsetzbar ist, dass also die Kautelen und Bedingungen für die Datenweitergabe für die Betroffenen
überhaupt nicht durchsetzbar sind. Das ist deswegen
von so großer Bedeutung, weil das Abkommen sich ja
nicht nur auf die Strafverfolgung bezieht, sondern vor
allem auf die Gefahrenabwehr. Hier ist das Treiben von
Schindluder mit Daten und Erkenntnissen vorprogrammiert.
Eine weitere Problematik steckt in den Katalogen der
Straftaten, zu deren Bekämpfung kooperiert werden soll;
denn es handelt sich ja eben nicht nur um Terrorismus
und um schwerste Straftaten oder Organisierte Kriminalität, sondern um fast die komplette Bandbreite der Kriminalität. Bisweilen müssen die Taten von erheblicher
Bedeutung sein, bisweilen muss es sich um schwere Kriminalität handeln, bisweilen werden „insbesondere“
schwere Verbrechen bekämpft, aber damit eben auch
weit weniger schwerwiegende Delikte. Eine klare Linie
ist hier nicht zu erkennen, und aus unserer Sicht ist der
Rahmen hier viel zu weit gesteckt und zu undeutlich gekennzeichnet. Auch hier ist ausgerechnet das Abkommen
mit Saudi-Arabien am weitestgehenden: Danach bezieht
sich die Kooperation sogar auf Taten, die in einem Drittland vorbereitet oder begangen werden.
Schließlich wird die Zusammenarbeit in der Ausbildung vereinbart. Das klingt vielversprechend, da mag
man sich auch Hoffnungen machen, so rechtsstaatliche
Standards zu verbessern. Nur, die Realität ist eine
wesentlich traurigere, wie in Saudi-Arabien schon zu
besichtigen ist. Da werden reichlich Fähigkeiten vermittelt, die auch zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung dienen können.
Zu niedrige Standards, unklare Reichweite, zu wenig
Rechtsschutz und all das bei rechtsstaatlich unzuverlässigen Partnern: diese Abkommen müssen wir ablehnen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen mit der Regierung des Staates Kuwait.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/7601 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
- Das sind die Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des
Staates Katar auf Drucksache 17/7602 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
- Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Republik Kroatien auf Drucksache 17/7603 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das ist die
Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien auf Drucksache 17/7604 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
- Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten. Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Republik Kosovo auf Drucksache 17/7605 anzunehmen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/8820, den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit dem
Ministerkabinett der Ukraine auf Drucksache 17/7606
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
- Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Biobanken als Instrument von Wissenschaft
und Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetz
prüfen und Missbrauch genetischer Daten
und Proben wirksam verhindern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({1}), Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz von Patientinnen und Patienten bei
der genetischen Forschung in einem Biobanken-Gesetz sicherstellen
- Drucksachen 17/3868, 17/3790, 17/8873 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Feist
Dr. Martin Neumann ({2})
Krista Sager
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Humanbiobanken für die Forschung“ vom Juni 2010 hat
eine Diskussion über die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für Humanbiobanken angestoßen. Humanbiobanken enthalten von Menschen stammende erbsubstanzhaltige Materialien mit den dazugehörigen
Daten, welche wiederum mit personenbezogenen Angaben und gesundheitsbezogenen Informationen verknüpft
sind. Diese Datenbestände werden für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung gesammelt oder aufbewahrt.
Dabei handelt es sich beispielsweise um DNA-, Blutoder Gewebeproben, die zusammen mit Hintergrundinformationen der Spender verwaltet werden.
Humanbiobanken erlangen wachsende Bedeutung für
die biomedizinische Forschung. Sie eröffnen wichtige
Möglichkeiten für die Aufklärung der Ursachen von
Krankheiten und die Entwicklung von Therapien. Im
Hinblick auf die damit verbundenen ethischen und rechtlichen Herausforderungen ist der Deutsche Ethikrat zu
dem Schluss gekommen, dass rechtlicher Reglungsbedarf bestehe.
Den Umgang mit genetischen Proben und Daten zu
den wesentlichen anderen Zwecken außerhalb der Forschung, Arbeitgeber, Versicherungen etc., regelt seit Februar 2010 das Gendiagnostikgesetz. Dort war auf einen ausdrücklichen Forschungsteil jedoch bewusst
verzichtet worden. Dies wurde im Wesentlichen damit
begründet, dass der rechtliche Rahmen, bestehend aus
Landes- und Bundesdatenschutzgesetzen, standesrechtlichen Bestimmungen und Ethikkommissionen sowie internationalen Empfehlungen etwa der OECD für den
Forschungsbereich ausreichend sei.
Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme
festgestellt, dass der Bereich neue Dynamik gewonnen
hat. Die Nutzung nimmt immer neue Formen an, es werden immer mehr Daten mit größerem Informationsgehalt gespeichert, eine Anonymisierung ist teilweise nicht
mehr möglich oder gewollt. Dazu kommen Trends zur
Vernetzung, Internationalisierung, Privatisierung und
Kommerzialisierung. Daher müssten neue gesetzliche
Regelungen gefunden werden. Ziel der Empfehlungen ist
es, für den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Spender
einen adäquaten Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen
und für die Forschung mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Der Deutsche Ethikrat hat daher ein Fünf-SäulenModell vorgeschlagen:
Erstens die Etablierung eines Biobankgeheimnisses,
zweitens die Festlegung der zulässigen Nutzung, drittens
die Einbeziehung von Ethikkommissionen, viertens die
Qualitätssicherung beim Datenschutz und fünftens die
Transparenz der Ziele und Verfahrensweisen einer Biobank.
Ich habe bereits in der ersten Beratung der vorliegenden Anträge dem Ethikrat ausdrücklich für seine Stellungnahme gedankt und möchte dies noch einmal betonen. Neben der fachlichen Expertise hat die Stellungnahme zu
einer kritischen Reflexion der bestehenden Praxis unter
Fachleuten und in der Politik geführt.
Diese Reflexion und die öffentliche Auseinandersetzung war nötig. Alle Beteiligten - sowohl Biomaterialspender als auch Forschungseinrichtungen - brauchen
Verlässlichkeit und Sicherheit. Voraussetzung für die
Nutzung von Humanbiobanken sind daher Rahmenbe19666
dingungen, die es ermöglichen, das wissenschaftliche
Potenzial von Humanbiobanken auch im Rahmen vernetzter und internationaler Zusammenarbeit zu nutzen.
Dabei müssen gleichzeitig die Rechte des allgemeinen
Persönlichkeitsschutzes und die informationelle Selbstbestimmung der Spender gewährleistet werden.
Bei allen Diskussionen, die wir seitdem geführt haben, hatten alle Beteiligten stets das Ziel, einerseits den
Forschungsstandort Deutschland auf dem humanbiologischen Sektor wettbewerbsfähig zu gestalten und gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte der Spender hinreichend
zu schützen.
In allen Diskussionen und persönlichen Gesprächen
wurde ein Punkt von Praktikern immer wieder betont:
Biomaterialien und Daten werden schon seit Jahrzehnten für Forschungszwecke gesammelt, ohne dass in
Deutschland ein einziger Fall ernsthaften Missbrauchs
bekannt geworden wäre. Das Vertrauen der Menschen
ist hoch. Die Mehrzahl der Angesprochenen stellt ihre
Daten zur Verfügung, eine Vielzahl sogar mehrmals.
Diesen wichtigen Punkt kann ich nur bestätigen.
Die Universität Leipzig hat in meinem Wahlkreis ein
Forschungsprojekt im Kampf gegen Volkskrankheiten
begonnen, mithilfe einer Biobank. Beim Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, LIFE,
werden mehr als 100 Ärzte und Wissenschaftler der Universität sowie der Universitätsmedizin bis 2013 rund
25 000 Leipziger klinisch und bioanalytisch untersuchen. Die knapp 40 Millionen Euro teure Bevölkerungsund Patientenstudie soll die Zusammenhänge zwischen
genetischer Anlage, Stoffwechsel und individueller Lebensführung in großem Umfang erforschen. Ziel ist es,
Erkenntnisse über Ursachen und die unterschiedliche
Ausprägung der wichtigsten Zivilisationserkrankungen
zu gewinnen und neue Ansätze für eine frühzeitige Prävention und Therapie zu finden.
Die Resonanz ist groß. 1 200 Teilnehmer haben seit
dem Start im Februar 2011 umfangreiche Befragungen
und Untersuchungen absolviert. Bis Ende 2014 sollen es
26 000 Teilnehmer werden, und die Verantwortlichen
sind optimistisch, das zu erreichen. Das Vertrauen der
Menschen in Humanbiobanken ist also groß.
Im Gegensatz dazu besteht unter den Experten keine
Einigkeit darüber, ob eine gesetzliche Regelung von Humanbiobanken nötig ist. Weder die geladenen Experten
während der Anhörung im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung noch die Fachleute, die auf Einladung des Deutschen Ethikrates und
der TMF, Technologie- und Methodenplattform für die
vernetzte medizinische Forschung e.V., über den gesetzlichen Regelungsbedarf diskutiert haben, konnten sich
darüber einig werden. Vielmehr argumentieren die
Praktiker, dass die bestehenden Rahmenbedingungen
bereits ausreichend und international vorbildlich sind.
Der Probandenschutz wird über verschiedene Regelungen im Arzneimittelgesetz, dem Datenschutzgesetz und
verschiedene Leitlinien geregelt.
Grundsätzlich gelten für alle Spender die grundgesetzlich garantierten Grundrechte, ihre Rechte auf
Würde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie
auf Persönlichkeit und informationelle Selbstbestimmung. Demgegenüber besteht aber auch ein berechtigtes Interesse der Forscher und Forschungseinrichtungen an den Materialen und den daraus zu gewinnenden
Ergebnissen, kurzum an der Freiheit der Forschung und
Berufsausübung. Diese verfassungsrechtliche Forschungsfreiheit gibt jedem Forscher das Recht auf Abwehr jeder
staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung
und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, vorbehaltlich der Verfassungstreuepflicht. Diese ist vorbehaltlos gewährleistet und kann nur durch andere geschützte
Rechtsgüter mit Verfassungsrang beschränkt werden.
Die grundsätzlichen datenschutzrechtlichen Bestimmungen finden sich im Bundesdatenschutzgesetz wieder.
Hier werden die Erhebung, Nutzung und Verarbeitung
geregelt. Hier einige Beispiele, die nicht abschließend
sind:
Bei Entnahme durch einen Arzt zu medizinischen
Heilzwecken fallen alle Informationen unter das ArztPatienten-Verhältnis und damit unter das Standesrecht
für Ärzte und die ärztliche Schweigepflicht, eine Weiternutzung durch eine Biobank ist nur nach einer ausdrücklichen Willenserklärung durch den Patienten möglich,
jede Entnahme rein zu Forschungszwecken ohne medizinischen Heilzweck unterliegt zwingend einer Einwilligung, da sie sonst eine Körperverletzung darstellt, es muss
jeweils eine datenschutzrechtliche und persönlichkeitsrechtliche Aufklärung erfolgen ({0}).
§ 40 BDSG schreibt für die wissenschaftliche Forschung vor, dass diese Daten nur für diesen Zweck verwendet werden dürfen und anonymisiert werden müssen.
Bei der Verwendung zu Forschungszwecken muss sich
der Arzt von einer Ethikkommission beraten lassen. Biobanken unterliegen der grundsätzlichen Aufsicht eines
eigens zu bestellenden Beauftragten für Datenschutz.
Jedes Unternehmen muss die beteiligten Personen auf
das Datengeheimnis verpflichten.
Die Betreiber von Humanbiobanken werden darüber
hinaus ein glaubhaft hohes Eigeninteresse daran haben,
gesetzliche Standards und darüber hinaus allgemein akzeptierte wissenschaftliche Standards und Empfehlungen einzuhalten, da sie maßgeblich an dem Vertrauen
der Patienten interessiert sind. Der Erfolg der Biobanken wird durch das Vertrauen der Probanden bestimmt,
da diese als aktive Partner im Forschungsprozess benötigt werden.
Von vielen Experten wurden die Empfehlungen des
Ethikrates zur Festlegung der zulässigen Nutzung, zur
Einbeziehung von Ethikkommissionen, zur Qualitätssicherung und Transparenz nicht nur begrüßt, sondern als
zum Teil bereits gängige Praxis beschrieben. So erklärte
Professor Dr. Wichmann vom Helmholtz-Zentrum München, dass die Empfehlungen des Ethikrates in vielen
Punkten den „goldenen Standard“ für Biobanken darstellen. Es sei aber bereits jetzt für große bestehende und
geplante Biobanken möglich, diese Forderungen auch
ohne gesetzliche Regelung zu erfüllen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Herr Professor Wichmann und Expertengremien wie
die beiden lebenswissenschaftlichen Senatskommissionen der Deutschen Forschungsgemeinschaften schlagen
daher vor, dass derzeit auf eine allgemeine und umfassende gesetzliche Regelung in Form eines ForschungsBiobankgesetzes verzichtet werden sollte, da dies zu
einem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand führen
würde. Der Verwaltungsmehraufwand würde insbesondere kleine und projektbezogene Datensammlungen an
Universitäten überfordern. Für das Biobankgeheimnis
bestehen im Ausland keine vergleichbaren Schutzvorschriften, sodass hieraus negative Auswirkungen in Bezug auf die zunehmende Zahl internationaler Kooperationen resultieren könnten.
Stattdessen sollten auf der bestehenden Rechtsgrundlage für große Biobanken die Einhaltung der in der
Empfehlung des Deutschen Ethikrates enthaltenen Prinzipien gefordert werden. Dies könnte wirkungsvoll dadurch geschehen, dass deren Einhaltung zur Voraussetzung für die öffentliche Förderung von Biobanken
gemacht wird und ferner die Datenschutzbeauftragten
und Ethikkommissionen die Einhaltung der Vorgaben
fordern und überprüfen.
Ein weiteres Argument gegen eine gesetzliche Regelung ist die Tatsache der Verteilung der Gesetzgebungskompetenz. Besonders interessant ist in diesem Fall die
Einschätzung von Professor Dr. Jochen Taupitz, Mitglied des Deutschen Ethikrates und Geschäftsführender
Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und
Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und
Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim,
dass der Bund überhaupt keine Kompetenz für ein Biobankgesetz hat und es damit zwangsläufig zu einer weiteren Rechtszersplitterung durch verschiedene Ländergesetze kommen muss. Diese wäre meiner Meinung nach
nicht im Interesse oder der Forschung.
Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung aller Argumente bin ich daher zu dem Schluss gekommen, dass
eine gesetzliche Regelung von Humanbiobanken zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erforderlich ist
und die vorliegenden Anträge daher abzulehnen sind.
Die öffentliche Anhörung und das Expertengespräch
haben das heterogene Meinungsbild der Experten bezüglich einer gesetzlichen Regelung aufgezeigt. Aus
meiner Sicht sind die Argumente gegen eine gesetzliche
Regelung überzeugender. Die Experten haben das hohe
Datenschutzniveau in der Praxis auf Basis der geltenden
Datenschutzgesetze von Bund und Ländern dargestellt.
Es gibt bisher keine - ich wiederhole das immer wieder,
weil es so wichtig ist - Hinweise auf Fälle missbräuchlicher Verwendung von Proben und Daten in Biobanken.
Insgesamt können die Empfehlungen des Ethikrates auf
der Grundlage der bestehenden allgemeinen und speziellen gesetzlichen Regelungen umgesetzt werden.
Es gibt ein hohes Interesse, das in Biobanken liegende wissenschaftliche Potenzial ausschöpfen zu können, um die medizinische Forschung voranzubringen.
Hierzu gehört es eben auch, dass die Verwendung der
Proben und Daten nicht auf spezifische Forschungsvorhaben beschränkt bleibt und die Weitergabe im Wissenschaftsbereich möglich ist.
In diesem Zusammenhang ist besonders die von den
Grünen angestrebte unverzügliche Löschung der in Biobanken enthaltenen Daten kritisch zu betrachten. Diese
steht, wie schon der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme bemerkte, oftmals in direktem Widerspruch
zur Forschungspraxis, da die zugrunde liegenden Daten
mitunter auch nach dem Erreichen des angestrebten
Forschungsziels als wichtige Informationsquelle, gerade auch für die Evaluierung und Weiterführung von im
Forschungsprozess aufgetauchten Fragestellungen, von
hoher Relevanz bleiben können.
In diesem Rahmen gilt es auch zu bedenken, dass eine
zu enge Eingrenzung der Verwendung im Zuge der informierten Einwilligung der Probanden die Forschungsarbeit erheblich beeinträchtigt. Was nutzen dem Forscher
Daten, die er nicht verwenden kann, weil sie einem zu
spezifischen Zweck zugeordnet sind? Daher ist eine qualifizierte und einsichtige Information der Spender und
ein hoher Grad an Transparenz nötig, um die Interessen
sowohl der Spender als auch der Forscher zu wahren.
Professor Dr. Dabrock von der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg hat in seiner Stellungnahme Folgendes zum Antrag der Grünen formuliert:
„Der Antrag scheint die eigentlichen Besonderheiten
und Ziele von Biobanken gar nicht zu berücksichtigen.“
Die erhobenen Forderungen „nach strikter Zweckbindung, Anonymisierung und vor allem nach Vernichtung
der Proben und Löschung der Daten nach Erreichung
des Forschungszieles steht dem Aufbau und der Nachhaltigkeit der Forschungsinfrastruktur von Biobanken
diametral entgegen. Wie […] dargelegt sind offene oder
erweiterbare Zweckbestimmungen, Datensammelleidenschaft, Pseudonymisierung und Verzicht auf Vernichtung
der Proben und Löschung der Daten Grundprinzipien
groß angelegter Biobankeninfrastrukturen. Schon die
Rede, all dies nur als Ausnahme zuzulassen, verkennt absichtlich oder unabsichtlich den Sinn dieser Forschungsrichtungen. Wer Biobanken wirklich für sinnvoll und notwendig erachtet, muss mit ihren Leitideen konstruktiv
umgehen und darf sie nicht einfach umdefinieren.“
„Man kann den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
vertreten, man sollte dann aber nicht gleichzeitig behaupten, man halte diese Forschung für sinnvoll und notwendig. Eine Konsequenz dieser Haltung wäre wohl,
dass sich Deutschland nach Umsetzung dieser Forderungen aus dem „Emerging Field“ Biobanken verabschieden müsste“, lautet das Fazit von Professor Dabrock.
Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen. Ich
lehne den Antrag daher ab!
Der Antrag der SPD hat eine „behutsame und ergebnisoffene Debatte“ gefordert. Diese wurde meines Erachtens geführt. Allerdings zeigt die heterogene Meinung der Experten über eine Notwendigkeit gesetzlicher
Regelungen deutlich die Gefahr, dass die Politik mit einem Gesetz möglicherweise ein funktionierendes System
der Selbstregulierung negativ beeinflussen und damit
die Forschung beeinträchtigen könnte. Dies betrifft zum
Zu Protokoll gegebene Reden
einen den höheren Verwaltungsaufwand und zum anderen die Erschwerung internationaler Kooperationen
deutscher Biobankenforschung.
Erste Schritte, um die seitens des Deutschen Ethikrates geforderte Qualität und Transparenz von Biobanken
in Deutschland sicherzustellen, hat die Bundesregierung, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits unternommen. Hier ist zum Beispiel die
Förderung des nationalen Biobankenregisters zu nennen. Es soll Kerninformationen über alle für die medizinische Forschung relevanten Biobanken in Deutschland
enthalten und dadurch einen effektiven und strukturierten Zugang zu dieser Ressource gewährleisten. Darüber
hinaus wurde die Nationale Biobankenmaterial Initiative gestartet, die zum Aufbau übergeordneter Strukturen
an Standorten mit bereits vorhandenen Biomaterialbanken führen wird.
Der Antrag der SPD ist daher ebenfalls abzulehnen.
Vor ein paar Monaten haben in mehreren Regionen
Deutschlands Bürgerinnen und Bürger Post von einem
Netzwerk deutscher Forschungseinrichtungen bekommen, unter anderem der Helmholtz-Gemeinschaft. In
dem Schreiben wurden sie gebeten, an der sogenannten
Nationalen Kohorte teilzunehmen. In dieser Kohortenstudie sollen circa 200 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer medizinisch untersucht und nach Lebensgewohnheiten wie körperliche Aktivität, Rauchen,
Ernährung und Beruf befragt werden. Darüber hinaus
werden allen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern
Blutproben entnommen und für spätere Forschungsprojekte in einer zentralen Bioprobenbank gelagert. Die
beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
erhoffen sich durch diese Informationen neue Erkenntnisse über die Entstehung von Krankheiten. Später sollen aus den gewonnenen Daten und Proben Strategien
für eine bessere Vorbeugung und Behandlung der wichtigsten Volkskrankheiten abgeleitet werden, ein nachvollziehbares und gutes Ziel, das hoffentlich erreicht
werden wird. Diese Nationale Kohorte wird damit die
größte Kohorte Deutschlands sein und soll mindestens
über einen Zeitraum von 20 Jahren laufen.
Da bei dieser Kohorte Blutproben genommen und
verwahrt werden und diese bestimmten Personen anonymisiert zugeordnet werden können, handelt es sich hierbei um eine sogenannte Humanbiobank - allgemein
auch als Biobank bezeichnet. Unter Biobanken werden
Sammlungen von Proben menschlicher Körpersubstanzen wie Gewebe, Blut oder DNA verstanden, die mit
personenbezogenen Daten und sonstigen Informationen
verknüpft sind und medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken dienen. Der Großteil der existierenden
Biobanken wird derzeit zu Forschungszwecken genutzt.
Würden Sie an der Nationalen Kohorte teilnehmen,
wenn Ihnen nicht klar wäre, was mit diesen sehr persönlichen Informationen bzw. den Blutproben genau passiert? Würden Sie teilnehmen, wenn Sie nicht genau
wüssten, ob zum Beispiel Straf-verfolgungsbehörden Zugriff auf diese Informationen haben oder was mit den
Proben nach Ende des Projekts passiert? Genau das
sind die Themen, mit denen sich die beiden uns hier vorliegenden Anträge beschäftigen.
Im Mai letzten Jahres hat im Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Grundlage dieser Anträge eine öffentliche Anhörung stattgefunden. Vorangegangen waren Stellungnahmen des
Nationalen Ethikrates, des Deutschen Ethikrates und
des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag. Während der Anhörung wurde neben
der Bedeutung von Biobanken für die Wissenschaft auch
darüber diskutiert, ob für diese eine rechtliche Regelung
in Deutschland notwendig sei und, wenn ja, welche
Aspekte dabei reguliert werden sollten.
Am Ende wurde noch einmal deutlich, welche Bedeutung Biobanken für die Wissenschaft und Medizin zur
Bekämpfung von komplexen Erkrankungen haben. Es
wurde auch darauf hingewiesen, dass die erfolgreiche
Biobankenforschung eine große freiwillige Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger benötigt. Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass etwa die Hälfte der Befragten
Biobanken keine Proben und persönlichen Daten zur
Verfügung stellen wollen. Das mag am Mangel an Informationen oder der grundsätzlichen Skepsis der Deutschen gegenüber der Weitergabe von persönlichen
Daten liegen. Fakt bleibt aber, wie es der Sachverständige Professor Peter Dabrock für die Anhörung formuliert hat: Ohne freiwillige Probanden keine Biobankforschung!
Aufgabe von Wissenschaft und Politik muss es also
sein, die Informationslage zu verbessern und die allgemeine Skepsis zu verringern, aber auch Defizite oder
Unsicherheiten zu beheben. Dafür sind Transparenz und
Glaubhaftigkeit enorm wichtig. Kontraproduktiv wirken
hingegen die durch die Experten dargestellten Regelungslücken bzw. Unklarheiten zum Beispiel beim Zugang der Daten für Dritte. Professor Dabrock verwies in
seiner Stellungnahme darauf, dass die klassischen Prinzipien des Datenschutzes - die Datensparsamkeit, die
Zweckbindung und die informierte Einwilligung - aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Biobanken
kaum umgesetzt werden können. Daraus zieht er den
Schluss, dass gerade dann, wenn man Vertrauen in
Biobanken aufbauen will, neue rechtliche Regelungen
nicht auszuschließen sind. Genau diese Prüfung hat die
SPD-Bundestagsfraktion ebenfalls im hier vorliegenden
Antrag gefordert.
Im Ausschuss meinten die Vertreter der Bundesregierung, dass die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates
nach einer spezifischen gesetzlichen Regelung von Biobanken bzw. zur Biobankforschung bereits heute auf
Grundlage der bestehenden gesetzlichen Regelungen
umgesetzt werden könnten. Wenn dem denn so ist, dann
frage ich Sie: Welche Empfehlungen hat denn die Bundesregierung seit der Veröffentlichung der Stellungnahme im Jahre 2010 beim Thema Biobanken umgesetzt
oder wenigstens auf den Weg gebracht? Gar keine. Insofern verstehe ich nicht, warum CDU/CSU und FDP
nicht auf die vielen Expertinnen und Experten hören und
Zu Protokoll gegebene Reden
endlich im Sinne der Wissenschaft und der Forschung
tätig werden.
In unserem Antrag haben wir weitere Forderungen im
Bereich der Biobanken gestellt. So verlangen wir zum
Beispiel ein umfassendes Förderkonzept für den Ausund Aufbau von Biobanken sowie eine regelmäßige
Unterrichtung des Bundestages zur Forschungsinfrastruktur im Bereich Biobanken. Was genau, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, ist denn
gegen diese Forderungen einzuwenden? Was hält Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, davon ab, mindestens diese Minimalforderungen
umzusetzen?
Für uns als SPD-Bundestagfraktion sind Biobanken
ein wichtiges Instrument für die Wissenschaft und Forschung. Es besteht aber die Gefahr, dass die aktuellen
datenschutzrechtlich aufgeworfenen Fragen sowie die
ungeregelte Einbindung von Ethikkommissionen und
Verfahrensregelungen die notwendige Akzeptanz und
Teilnahme durch die Bürgerinnen und Bürger gefährdet.
Es wäre schade, wenn Projekte wie die Nationale Kohorte nicht die nötige Resonanz erhalten würden, nur
weil die aktuelle Bundesregierung nicht bereit ist, die
bereits auf dem Tisch liegenden Lösungen mindestens zu
prüfen, geschweige denn umzusetzen. Es wäre jetzt endlich an der Zeit dafür!
Die Forschung an genetischen Daten und Biomaterialien hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt
und ist für die Wissenschaft zu einer wichtigen Ressource geworden. Es handelt sich nicht mehr um
einzelne kleine Probensammlungen in irgendwelchen Instituten, die von Wissenschaftlern zu begrenzten Forschungszwecken verwendet werden, sondern die Sammlungen werden immer größer, und sie werden auch
elektronisch vernetzt. Prinzipien wie Datensparsamkeit
oder Dezentralität von Datenspeicherung können im Bereich von Biobanken für die Forschung gar nicht aufrechterhalten werden, weil es darauf ankommt, möglichst viele Daten zu sammeln und zu vernetzen, um neue
Erkenntnisse für den medizinischen Fortschritt zu gewinnen. Eine Anonymisierung der Daten und Proben ist
in diesem Zusammenhang auch nicht immer möglich
und auch nicht gewünscht!
Humanbiobanken sind zu einem unverzichtbaren
Instrument der krankheits- und patientenorientierten
Forschung geworden. Völlig zu Recht hat sich der Deutsche Ethikrat dieses Themas 2010 noch einmal vertiefend angenommen.
Ich habe großes Verständnis dafür, dass es ein gesteigertes Interesse gibt, das in den Biobanken liegende wissenschaftliche Potenzial auszuschöpfen, um die medizinische Forschung voranzubringen. Ich bin mir dessen
bewusst, dass die Verwendung der Proben und Daten
nicht auf spezifische Forschungsvorhaben beschränkt
bleiben kann und die Weitergabe von Proben und Daten
im Wissenschaftsbereich möglich sein muss.
Daher muss das besondere Augenmerk bei der Bewertung der in Biobanken gespeicherten Informationen
auf dem Spenderschutz liegen. Ich bin mir sicher, dass
die Forschung ein vitales Eigeninteresse daran hat, ein
hohes Maß an Probandenschutz zu gewährleisten. Nur
so kann sie die Kontinuität ihrer Arbeit gewährleisten.
Die in den Anträgen von SPD und Grünen vertretene
Auffassung, dass hier zusätzliche gesetzliche Regelungen erforderlich sind, kann ich nach all dem, was ich in
der Anhörung erfahren habe, nicht teilen.
Die Sachverständigenanhörung im Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 25. Mai vergangenen Jahres zum
Thema Humanbiobanken hat mich in meiner Auffassung
bestärkt, derzeit keine gesetzgeberischen Initiativen für
die genetische Forschung und für die Forschung mit
Humanbiobanken zu starten. Seitens der Experten aus
der Biobankforschung wurde überzeugend das hohe Datenschutzniveau in der Praxis auf der Basis der
geltenden Datenschutzgesetze von Bund und Ländern
dargestellt. Auch liegen keine Hinweise auf Fälle einer
missbräuchlichen Verwendung von Proben und Daten in
Biobanken vor.
Ich bin daher der Auffassung, dass die Empfehlungen
des Deutschen Ethikrates auf der Grundlage der bestehenden allgemeinen und speziellen gesetzlichen Regelungen gut umgesetzt werden. Im Übrigen wurde meine
Auffassung auch durch das vom Deutschen Ethikrat
zusammen mit der TMF - Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V.
durchgeführte Expertengespräch mit ganz überwiegender Mehrheit gestützt. Ich glaube schon, dass weitere
spezielle gesetzliche Anforderungen Hemmnisse für die
internationale Kooperationsfähigkeit deutscher Biobankforschung darstellen können.
Mit Bezug auf die Vertraulichkeit von Daten gegenüber Dritten müssen wir natürlich genau hinschauen,
welches Instrumentarium uns heute bereits zur Verfügung steht. Einigkeit besteht offensichtlich darüber, dass
in den zentralen Bereichen Arbeitsleben und Versicherungen das 2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz
bereits den Schutz vor dem Zugriff durch private Dritte
hinreichend gewährleistet.
Ich kann Ihnen daher empfehlen, der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung zu folgen und
damit die beiden Anträge abzulehnen.
Die Sensibilität der persönlichen Daten, die in Biobanken gesammelt werden, erfordert einen besonderen
Schutz durch eine verbindliche gesetzliche Regelung.
Das war der Tenor der Anhörung zu Biobanken, die wir
im Ausschuss für Forschung und Technikfolgenabschätzung im Mai letzten Jahres durchgeführt haben.
In Biobanken werden Gewebe-, Zell- und Blutproben
gesammelt, die dann zur krankheits- wie patientenorientierten klinischen Forschung zur Verfügung stehen. Im
Verlauf von Forschungsprojekten werden diese Proben
mit persönlichen Daten zur Krankheitsgeschichte oder
Lebensweise der Probanden verknüpft. Ein prominentes
Beispiel für eine vielschichtige Datensammlung in
Deutschland ist die Nationale Kohorte, ein auf 20 Jahre
angelegtes Forschungsprojekt eines großen Netzwerks
aus Forschungseinrichtungen und Universitäten. Im
Rahmen des Projekts wird eine Datenbank angelegt, die
für immerhin 200 000 Menschen detaillierte Angaben
über gesundheitlichen Zustand, körperliche Aktivität,
Rauchen, Ernährung und Beruf sammelt und Blutproben
aufnimmt.
Während für die Nationale Kohorte, die als Prestigeobjekt der deutschen Forschung gilt, eigens ein
Datenschutz- und Qualitätskonzept entwickelt worden
ist, unterliegen bisher die an Uniklinika oder in gendiagnostischen Labors vorhandenen Probensammlungen keiner Qualitätskontrolle und keiner Regelung des
Zugriffs auf die Daten. Das Vertrauen von Spenderinnen
und Spendern, die der Forschung ihre persönlichsten
Daten zur Verfügung stellen, kann dadurch leicht aufgebrochen werden.
Lediglich zwei der sechs Sachverständigen erklärten
die momentane Praxis für zufriedenstellend. Darunter
war ein Vertreter des Pharmaunternehmens Bayer
Health Care, dessen Beruf es ist, eine solche Position zu
vertreten, und von dem nichts anderes zu erwarten war.
Der stets wiederkehrende Verweis auf den hervorragenden allgemeinen Datenschutz in Deutschland, der von
Gegnern einer Extraregelung für Biobanken angeführt
wird, macht an den Landesgrenzen halt. Dabei ist es
bekannt, dass der wissenschaftliche Austausch der in
Biobanken eingelagerten Zell- und Gewebeproben
bereits weit über Europa hinaus erfolgt.
Die Mehrheit der Sachverständigen benannte wichtige Regelungslücken, die geschlossen werden müssen,
und unterstützte den Vorschlag des Deutschen Ethikrates für ein Biobankengesetz. Vor diesem Hintergrund
ist es nicht nur enttäuschend, sondern aus meiner Sicht
auch unverantwortlich, dass die Koalitionsfraktionen
keine Konsequenzen aus der Anhörung ziehen. Sie
haben die beiden Anträge der Oppositionsfraktionen
weggestimmt ohne eine einzige Aussage dazu, ob sie die
offenen Fragen bei dem Thema weiterverfolgen wollen
bzw. eine eigene Initiative planen.
Aus der Anhörung und den Stellungnahmen vom
Ethikrat und dem Büro für Technikfolgenabschätzung
wissen wir, dass in Deutschland bis dato in der Regel
hohe Sicherheitsstandards mit Blick auf Persönlichkeitsrechte in Biobanken vorherrschen. Allerdings haben die
ebenfalls existierenden Ausnahmen das Unabhängige
Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein,
ULD, bereits 2007 dazu veranlasst, in einem vom BMBF
geförderten Gutachten für eine gesetzliche Regelung zu
plädieren. Thilo Weichert vom ULD hat bei der Anhörung bestätigt, dass die Sorge nach wie vor berechtigt
ist und teilweise große Defizite hinsichtlich der Pseudonymisierung von Gewebeproben und Datensätzen in der
Praxis bestehen.
Gesetzliche und damit verbindliche Regelungen für
Humanbiobanken sind auch vor dem ethisch besonders
heiklen Problem der nichteinwilligungsfähigen Probanden notwendig. Nach heutiger Praxis vieler Biobanken
willigen Spender und Spenderinnen darin ein, zu welchen Zwecken oder für welchen Zeitraum ihre Daten
verwendet werden dürfen. Doch auch Menschen, die
aufgrund von Krankheit, Behinderung oder jungem
Alter nicht über die Risiken der Abgabe von Proben aufgeklärt werden können, müssen die Chance haben, in
Forschungs- und Therapieprojekte aufgenommen zu
werden. Spätestens für diese Fälle muss der Staat seiner
Fürsorgepflicht nachkommen und den Probandenschutz
für alle verbindlich regeln.
Ich sehe nach wie vor viele triftige Gründe für ein
Biobankengesetz und fordere die Koalitionsfraktionen
dazu auf, hier nicht untätig zu bleiben. Und ich bleibe
dabei, dass wir eine nachholende gesetzliche Regelung
genetischer Untersuchungen zu Forschungszwecken
brauchen. Denn der Bereich der Forschung ist bei der
Schaffung des Gendiagnostikgesetzes ausgespart worden.
In den zurückliegenden Beratungen, insbesondere in
der Anhörung des Forschungs- und Bildungsausschusses, haben wir uns ausführlich mit der Sammlung von
Bioproben in Humanbiobanken, mit Biobankforschung
und den damit verbundenen Herausforderungen beschäftigt. Biobanken gewinnen rasant an Bedeutung für
die Lebenswissenschaften. Auch international sind sie
ein wichtiges Thema. Umso dringlicher ist daher die
Verständigung auf hohe ethische und qualitative Standards und transparente Regelungen zum Umgang mit
dem in Humanbiobanken gesammelten Biomaterial.
Biobankforschung kann ohne Vertrauen nicht funktionieren. Verlorenes Vertrauen wegen unsachgemäßen
Umgangs mit hochsensiblen Daten oder sogar deren
Missbrauch ist hingegen schwer wiederherzustellen und
mit Sicherheit mit negativen Folgen für Spendenbereitschaft und Akzeptanz solcher Forschung verbunden.
Spenderinnen und Spender, die Biomaterialien für Forschungszwecke freiwillig zur Verfügung stellen oder
stellen wollen, müssen sich in jedem Fall darauf verlassen können, dass hohe Standards zum Schutz ihrer persönlichen, medizinischen und genetischen Daten verbindlich eingehalten werden.
Eine gute Basis für Vertrauen wären übergreifende,
institutionelle Sicherungsmaßnahmen. Wir Grünen plädieren daher für einen Regelungsrahmen, der die Forschung mit diesen Proben und Daten ermöglicht, ihre
Ziele und Vorgehensweise gegenüber betroffenen Personen transparent macht und den Schutz von Daten und
Persönlichkeitsrechten in solchen Forschungsprojekten
sicherstellt.
Bislang gibt es keine spezifischen gesetzlichen Regelungen über Biobankforschung oder Biobanken, die den
Herausforderungen Rechnung tragen, die sich hier stellen. Der Ethikrat hat 2010 vor diesem Hintergrund ein
„Fünf-Säulen-Konzept“ vorgeschlagen. Dieses enthält
als eine wesentliche Komponente die Verankerung eines
Zu Protokoll gegebene Reden
Biobankengeheimnisses, das Spenderinnen und Spender
vor dem Zugriff Dritter auf Biobanken schützen soll.
Wir meinen: Es ist an der Zeit, bestehende Regelungslücken zu schließen; denn Standards für den Umgang
mit Bioproben können nicht allein über die Festlegung
von Regelungen in Zuweisungsbescheiden geschehen.
Schließlich würde das nur staatlich finanzierte Biobanken betreffen. Kommerzielle Biobanken werden damit
nicht erfasst. Es ist aber nicht einzusehen, warum unterschiedliche Maßstäbe für privatwirtschaftliche und öffentlich finanzierte Biobanken gelten sollen.
Der Antrag, in dem wir uns für ein Biobankengesetz
stark machen, liegt Ihnen vor. In der Anhörung wurde
von einigen Experten auch von Regelungslücken beim
Umgang mit Bioproben von nicht einwilligungsfähigen
Menschen berichtet. Es wurde problematisiert, dass
viele der großen Arzneimittelunternehmen parallel zur
Durchführung von klinischen Studien entsprechende
Proben für hauseigene Biobanken und für vom Zweck
her nicht genau definierte medizinische Forschung nutzen. Weder das Gendiagnostikgesetz noch das Arzneimittelgesetz sind in diesen Fällen einschlägig. Auch
hierfür brauchen wir aus rechtlichen und ethischen
Gründen eindeutige Regelungen.
Abschließend ein paar Worte zur europäischen Biobankforschung: Andere Länder stehen dabei vor ähnlichen Fragen und Herausforderungen, wie wir sie hierzulande diskutieren. In der Anhörung wurde gesagt,
dass eine entsprechende nationale Regelung eine Blaupause für eine europäische Regelung abgeben könnte.
Wir haben auch gehört, dass die internationale Vernetzung im Bereich der Biobankforschung zunimmt. Ich bin
überzeugt, dass Fragen hoher qualitativer und ethischer
Standards an Bedeutung gewinnen, je mehr Nationen in
internationale Forschungskooperationen involviert sind,
je intensiver solche Kooperationen werden und je mehr
sich die internationale Biobankforschung entwickelt.
Schließlich stellen uneinheitliche Verfahrensweisen
auch Hindernisse für Forschungskooperationen und den
Austausch von Ergebnissen dar. In diesem Zusammenhang könnte ein nationales Biobankengesetz eine wichtige Pilotfunktion haben.
Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache
17/8873. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3868. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind alle drei
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3790. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Diplomatische Beziehungen zu Palästina aufwerten
- Drucksache 17/8375 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der hier heute zu beratende Antrag der Linken ist
nicht mehr aktuell, weil der Bundesaußenminister bei
seinem Besuch im palästinensischen Ramallah am 1. Februar 2012 bekannt gab, dass die Generaldirektion Palästinas in Berlin rückwirkend zum 1. Januar 2012 als
diplomatische Mission geführt wird. Sie untersteht dem
Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde
sowie dessen Außenministerium und übernimmt, ohne
den Status einer Botschaft in Deutschland zu haben, in
weiten Teilen die Funktionen und Aufgaben einer offiziellen Gesandtschaft.
Diese Aufwertung hat aber in der Praxis einen eher
symbolischen Charakter so wie es auch in Frankreich
und Großbritannien der Fall ist, da die Entsendung eines Botschafters nur völkerrechtlich anerkannten Staaten vorbehalten ist. Deutschland erkennt die palästinensischen Autonomiegebiete noch nicht als eigenständigen
Staat an, da dies - auch gerade durch den Antrag auf
Mitgliedschaft Palästinas bei der UNO vom September
2011 - der Zwei-Staaten-Lösung und damit einer möglichen Beendigung des Konflikts zwischen Israel und den
palästinensischen Gebieten entgegenwirken würde. Die
Gründung eines Staates Palästina kann nur ein Resultat
direkter Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern sein, welches die gegenseitige Anerkennung
beider Staaten beinhaltet. Die internationale Gemeinschaft kann hier nur als Vermittler agieren.
Die am 27. April 2012 in Kairo unterzeichnete Vereinbarung zwischen der im Westjordanland regierenden
Fatah und der im Gazastreifen dominierenden Hamas
stellt einen begrüßenswerten Schritt in Richtung auf Versöhnung innerhalb der Führung der palästinensischen
Gebiete dar, die seit der gewaltsamen Machtübernahme
der Hamas 2007 im Gazastreifen eine tiefe Spaltung erfahren hat. Basis der Vereinbarung sind der seit 10. September 2009 vorliegende ägyptische Versöhnungsvorschlag, ein Protokoll der Verständigung zwischen Fatah
und Hamas und die Vorschläge von Präsident Abbas zu
einer Einheitsregierung. Aufgabe der Regierung soll die
Vorbereitung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen innerhalb eines Jahres sein, der Wiederaufbau
sowie die Zusammenführung der verschiedenen Behörden und Ministerien. Jedoch kommt es immer wieder zu
Spannungen zwischen den beiden Verhandlungspartnern. Als Beispiel sei hier der schon erwähnte Antrag
bei der UNO auf Anerkennung und Mitgliedschaft Palästinas in den Vereinten Nationen aufgeführt. Die islamistische Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, unterstrich ihren Widerstand gegen das Vorgehen des
Palästinenserpräsidenten Abbas. Die Palästinenser sollten nicht vor den Vereinten Nationen um einen Staat betteln, sondern ihr Land befreien, sagte Hamas-Führer
Ismail Hanija. Auch sind viele im Versöhnungsplan vorgesehene Punkte bisher noch nicht umgesetzt worden,
zum Beispiel die Vorbereitung von Parlaments- oder
Präsidentschaftswahlen. Ein Hauptstreitpunkt liegt in
dem Bekenntnis der Fatah zum Friedensprozess mit Israel, den die Vertreter der Hamas grundsätzlich ablehnen.
Die palästinensische Führung steht aber auf der anderen Seite vor einem Dilemma, dass durch den israelischen Siedlungsbau zunehmend Tatsachen vor Ort geschaffen werden, die sich auf eine Situation hinbewegen,
die die Schaffung eines zusammenhängenden, lebensfähigen palästinensischen Staates zunehmend unmöglich
erscheinen lassen. Im Interesse der palästinensischen
Seite müsste an einer raschen Verhandlungslösung gearbeitet werden. Gleichzeitig leidet das Ansehen der palästinensischen Führung bei der Bevölkerung angesichts fehlender greifbarer Ergebnisse im Friedensprozess unter - aus Sicht der Bevölkerung zu weitgehenden Zugeständnissen an Israel. Der nach dem Ende des
Siedlungsmoratoriums rasch und umfangreich wieder
aufgenommene Siedlungsbau hat die Aussichten auf
Fortsetzung der Gespräche verschlechtert - das Verhältnis zwischen der palästinensischen Führung und ihren
israelischen Pendants ist von tiefem gegenseitigen Misstrauen geprägt. Die internationale Gemeinschaft hat
den Siedlungsbau der Israelis nachhaltig kritisiert, und
auch bei den Treffen zwischen der Bundesregierung und
dem Staat Israel ist von deutscher Seite unmissverständlich ein Siedlungsstopp verlangt worden.
Die palästinensische Führung hat bislang aus inhaltlichen Gründen ein Junktim zwischen Siedlungsbaustopp und Verhandlungen hergestellt: Die Einstellung
des Siedlungsbaus ist eine Forderung an Israel aus früheren Abkommen, unter anderem der sogenannten
Roadmap des Nahostquartetts. Israel seinerseits fordert
die Anerkennung des Staates Israels durch die palästinensische Führung, um damit die Sicherheit des Landes
gewährleisten zu können.
Seit dem letzten Besuch des Bundesaußenministers im
palästinensischen Ramallah konnte bei den Versöhnungsgesprächen zwischen der Fatah und der Hamas in
Katars Hauptstadt Doha ein gewisser Durchbruch auf
dem Weg zu einer palästinensischen Einheit verzeichnet
werden. In der sogenannten Doha-Deklaration haben
sich die beiden Parteien auf eine Einheitsregierung unter Führung von Mahmud Abbas geeinigt, die die anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nun
vorbereiten soll. Ob der Versöhnungsprozess weiter vorankommt, hängt aber auch von der Basis der beiden
Parteien ab. Verabredete Schritte, wie die beidseitige
Freilassung inhaftierter politischer Gefangener, wurden
bisher nicht umgesetzt.
Die Liste der Vorschläge zur Lösung des Konflikts
zwischen Israel und den Palästinensern ist lang. Im Hinblick auf eine mögliche Lösung des Nahostkonflikts erscheinen aber nur zwei Abkommen bzw. Initiativen als
die praktikabelsten: zum einen die Roadmap des Nahostquartetts, mit ihrer Zwei-Staaten-Lösung und zum anderen die im März 2002 durch den saudischen Kronprinzen Abdullah eingebrachte arabische Friedensinitiative,
die von einer Anerkennung Israels durch die arabischen
Staaten ausgeht, wenn es sich aus allen besetzten Gebieten zurückzieht. Selbst Israel und die Palästinenser sehen bis heute darin eine Verhandlungsgrundlage. Seine
grob skizzierten Gedanken, wie aus der damaligen - und
auch gegenwärtigen - Spirale von Gewalt und Gegengewalt herauszufinden wäre, basieren auf der Grundidee,
dass Israel für die Herausgabe von besetzten Gebieten
Frieden bekommt. Das war damals nicht neu. Neu war
jedoch, dass bei einem Frieden die gesamte arabische
Welt Israel und damit die Existenz des jüdischen Staates
anerkennt. An diese Punkte gilt es weiter anzuknüpfen.
Aufgrund des Streites um die UNESCO-Mitgliedschaft Palästinas war das aktuelle Engagement der Bundesregierung, die zusammen mit dem Nahostquartett
erstmals seit mehr als 15 Monaten wieder gemeinsame
Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern in Jordanien initiieren konnte, ein wichtiges Signal, um den
Friedensprozess wieder zu beleben und die Verhandlungspartner wieder an einen Tisch zu bekommen. Dass
auch diese Gespräche scheiterten, lag zum einen an der
Weigerung Israels, den von den Palästinensern geforderten Baustopp jüdischer Siedlungen im besetzten
Westjordanland zu verlängern und zum anderen an der
Vorbedingung der Palästinenser, dass sie nicht verhandeln könnten, solange Israel Siedlungen auf Gebieten
errichtet, auf denen sie ihren eigenen Staat gründen wollen.
Deklarationen wie sie jedoch in dem Antrag der Linken vorhanden sind, helfen in der Sache wenig weiter
und bilden keinen Beitrag zu einer Förderung des Friedensprozesses. Nur durch stete Bemühungen, die Palästinenser und Israelis zu gemeinsamen Gesprächen zu
bewegen - wie es sich die Bundesregierung zur Aufgabe
gemacht hat -, können zu der von allen Seiten gewünschten Zwei-Staaten-Lösung führen. Einseitige Erklärungen und unrealistische Forderungen helfen nicht
weiter. Daher werden wir den Antrag der Linken ablehnen.
Auf Antrag der Fraktion Die Linke beschäftigen wir
uns heute mit den diplomatischen Beziehungen zu den
palästinensischen Gebieten. Wir lehnen diesen Antrag
aus folgenden Gründen ab:
Zum einen hat Deutschland bereits zum 1. Januar
dieses Jahres den Status der palästinensischen Delegation in Deutschland zu einer diplomatischen Mission mit
einem Botschafter aufgewertet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese Aufwertung der palästinensischen Delegation
kündigte Außenminister Westerwelle rückwirkend bei
seinem Treffen mit dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Machmud Abbas, am 1. Februar in Ramallah an. Sie ist Teil des Bemühens der
Bundesregierung, sich auch in Zeiten der Krise in
Europa klar zum Aufbau eines palästinensischen Staates
mit lebensfähigen, effizienten Strukturen zu bekennen.
Die Aufwertung der palästinensischen Delegation ist
einerseits eine wichtige Anerkennung der in dieser Hinsicht bereits erfolgten Fortschritte, andererseits aber
auch eine Aufforderung an die palästinensischen Vertreter, sich engagiert und aktiv in die politischen Prozesse
einzubringen.
Zum anderen lehnen wir eine von der Fraktion Die
Linke geforderte Aufwertung der deutschen Vertretung
in Ramallah zum jetzigen Zeitpunkt ab. Denn eine derartige Aufwertung setzt eine Staatlichkeit Palästinas voraus, die aber unserer Meinung nach derzeit noch nicht
gegeben ist.
Lassen Sie mich an dieser Stelle betonen: Wir sind
und bleiben Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung, mit
einem souveränen palästinensischen Staat Seite an Seite
mit einem demokratischen Staat Israel. Denn ein eigenständiger palästinensischer Staat ist auch im Interesse
Israels. Ohne einen solchen eigenständigen palästinensischen Staat können die Sicherheit Israels und der Frieden in der Region nicht gesichert werden.
Wir sind der Meinung, dass vor dem Hintergrund der
Umwälzungen in der arabischen Welt und des seit längerem stagnierenden palästinensisch-israelischen Friedensprozesses die Zeit jetzt reif für Fortschritte in Bezug
auf einen eigenständigen palästinensischen Staat ist.
Um signifikante Fortschritte in dieser Hinsicht zu
erreichen, ist es nötig, die laufenden direkten Gespräche
zwischen Israel und den Palästinensern unter Vermittlung des Nahost-Quartetts und Jordaniens voranzutreiben. Direkte Verhandlungen auf der Grundlage des
Fahrplans des Nahost-Quartetts sind der beste Weg zu
einer umfassenden und gerechten Zwei-Staaten-Lösung.
Deutschland steht bereit, um die palästinensische
Behörde bei dem Aufbau dieser staatlichen Strukturen zu
unterstützen, so zum Beispiel durch die Gründung des
deutsch-palästinensischen Lenkungsausschusses im
Jahr 2010 zur Unterstützung des palästinensischen
Regierungsprogramms zum Aufbau staatlicher Strukturen oder durch finanzielle Unterstützung des Staatsaufbaus.
So trägt Deutschland als einer der größten bilateralen Geber zum Aufbau von Infrastruktur, zur Verbesserung der Bildung, zu Beschäftigungsprogrammen und
zum Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft in den palästinensischen Gebieten bei. In der bilateralen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit liegt der Fokus auf
nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und Regierungsführung. Hierfür hat Deutschland allein letztes Jahr
mehr als 40 Millionen Euro veranschlagt. Ferner unterstützt Deutschland das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, UNRWA, jährlich mit mehr als
10 Millionen Euro. Auch ist Deutschland einer der
bedeutendsten Geber für die palästinensischen Gebiete
im Rahmen der Entwicklungshilfe der EU.
Darüber hinaus steht Deutschland jederzeit auf dem
diplomatischen Parkett parat, um den Parteien bei
ernsthaften Verhandlungen unter die Arme zu greifen
und diese im Rahmen der internationalen Vermittlungsbemühungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die derzeitigen Anstrengungen des Nahost-Quartetts sollen die Parteien bis Ende 2012 schrittweise zu
einem Abkommen verpflichten, das alle offenen Fragen,
einschließlich der Endstatusthemen „Sicherheit“ und
„Grenzen“, abschließend regelt. Diesen Bemühungen
gilt im Sinne einer dauerhaften Lösung des israelischpalästinensischen Konflikts unsere uneingeschränkte
Unterstützung.
Die Ereignisse der letzten Monate haben den Kernkonflikt des Nahen Ostens zwischen Israel und Palästina
fast in den Hintergrund treten lassen. Die israelischen
Überlegungen zu einem präventiven Luftschlag gegen
iranische Atomanlagen, die blutige Gewalt in Syrien
und die Umbrüche in vielen anderen Ländern bestimmten die aktuellen Meldungen in unseren Medien mehr als
der völlig ins Stocken geratene Nahostfriedensprozess,
der diesen Namen leider schon längst nicht mehr verdient.
Die einzige positive Meldung war die über die Einigung zwischen Hamas und Fatah über die Bildung einer
palästinensischen Einheitsregierung. Doch auch diese
Meldung bietet Licht und Schatten: zum einen, weil die
israelische Regierung sich von Beginn an kategorisch
gegen eine solche Einheitsregierung unter Beteiligung
der Hamas stellte, zum anderen, weil seit der grundsätzlichen Einigung Ende April 2011 - also vor fast einem
Jahr - bis heute keine Regierung gebildet wurde. Immerhin konnte aber vereinbart werden, dass Mahmud Abbas
bis zu den geplanten Neuwahlen als Präsident und
Ministerpräsident in Personalunion fungieren soll.
Die Bildung einer Einheitsregierung bedarf noch
weiterer Schritte zu ihrer Umsetzung. Doch auch hier
gilt: Egal wie lange es dauert, es gibt keine Alternative
zu einer Lösung. Die demokratische Legitimation der
palästinensischen Führung bröckelt mit jedem Tag.
Neue Wahlen sind nötig, um weitere Reformen umzusetzen. Nur neue Wahlen könnten auch die nötige Legitimation herstellen, die eine palästinensische Regierung
braucht, um wieder in ernsthafte Gespräche mit Israel
einzutreten. Wir sollten in allen Gesprächen mit Partnern in der Region darauf dringen, dass genau dies
geschieht: demokratische Wahlen in Gaza und im
Westjordanland, eine gemeinsame Regierung für alle
palästinensischen Gebiete und so bald wie möglich neue
Verhandlungen mit Israel.
Ich denke, es ist uns allen klar, dass die Wiederbelebung des Friedensprozesses nur gelingen kann, wenn
alle Teile der Regierung und der sie stützenden Parteien
der Gewalt abschwören und das Existenzrecht Israels
anerkennen. Gleichzeitig kann Israel kein Vetorecht haZu Protokoll gegebene Reden
ben, wenn möglicherweise nach solchen demokratischen
Wahlen auch Vertreter der Hamas an einer palästinensischen Regierung beteiligt sein sollten.
Nun diskutieren wir heute einen Antrag der Linken,
der die Aufwertung der diplomatischen Beziehungen zu
Palästina fordert. Dies fordern wir in der SPD-Fraktion
bereits ebenfalls seit langem. Nun ist es ja so, dass die
Bundesregierung die palästinensische Generaldelegation mit Wirkung vom 1. Januar zu einer palästinensische diplomatische Mission aufgewertet hat. Damit ist
eine zentrale Forderung des Antrages bereits erfüllt. Die
Aufwertung des Vertretungsbüros der Bundesrepublik
Deutschland Ramallah zu einer diplomatischen Mission
harrt dagegen noch der Umsetzung durch die Bundesregierung, und wir warten darauf.
Doch bedeuten Neutitulierungen von diplomatischen
Missionen für sich genommen noch nicht die Überwindung des Nahostkonfliktes. Insofern schließe ich mich
zwar mit den besten Wünschen - aber auch einer gewissen Skepsis - dem letzten Satz Ihres Antrages an, der da
lautet: „Der Prozess der internationalen Anerkennung
Palästinas dient dem Frieden mit den Nachbarn Israels
und damit dem Frieden im Nahen Osten.“
Vor dem Frieden in der Region steht ein erfolgreicher
innerpalästinensischer Aussöhnungsprozess, insbesondere eine erfolgreiche Regierungsbildung durch Fatah
und Hamas, eine Rückkehr zu den Prinzipien der Roadmap for Peace des Nahostquartetts, deren Anerkennung
durch Israel und Palästina und vor allem eine Gewaltverzichtserklärung - insbesondere durch die Hamas.
Darüber hinaus ist die Festlegung einer völkerrechtlich
verbindlich vereinbarten Grenze zwischen Israel und
den palästinensischen Gebieten für eine tragende Friedenslösung ganz wesentlich. Diese Akzeptanz dafür,
dass diese Friedensbedingungen erfüllt werden, sind
derzeit weder auf israelischer noch auf palästinensischer Seite ausreichend vorhanden. Insofern müssen wir
alle bei den Partnern vor Ort weiter beharrlich für die
Umsetzung der Roadmap werben; denn am Ende wird
ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten nur durch die
Konfliktparteien vor Ort erreichbar sein.
Zum Schluss frage ich, weshalb wir in der Vergangenheit nicht mehr solche vernünftigen Anträge wie diesen
von der der Linksfraktion gesehen haben? Wir können
Sie daher nur animieren, in Zukunft öfter von ideologischen Prämissen der Vergangenheit abzusehen und
außenpolitisch-pragmatische Anträge wie diesen zu
formulieren und vorzulegen.
Gerade kürzlich bei seiner letzten Reise in den Nahen
Osten hat der Bundesaußenminister die Beziehungen zu
den Palästinensern aufgewertet. Er hat die bis im letzten
Jahr unter Generaldirektion firmierende Vertretung der
Palästinenser in Berlin rückwirkend zum 1. Januar als
diplomatische Mission anerkannt. Damit hat er einen
wichtigen Schritt in der diplomatischen Aufwertung der
Palästinenser vorgenommen und ein klares politisches
Zeichen gesetzt. Dadurch hat er auch Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sowie Ministerpräsident Salam
Fajjad gestärkt. So gibt Deutschland den gemäßigten
palästinensischen Kräften Rückendeckung mit dem Ziel,
möglichst bald wieder direkte Friedensverhandlungen
zwischen Israel und Palästina zu erreichen und zu einem
Erfolg zu bringen.
Die Bundesregierung hält an ihrer hinreichend bekannten Haltung fest, eine Zwei-Staaten-Lösung erreichen zu wollen. Auf diesem Weg hat Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle für die Bundesregierung und
die Bundesrepublik Deutschland das nötige Signal gesetzt. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist überholt.
Daher wäre es folgerichtig, wenn die Kolleginnen und
Kollegen sich dazu entschließen könnten, den Antrag zurückzuziehen. Andernfalls werden wir ihn im weiteren
Verfahren ablehnen.
Die Kriegsrhetorik, die wir zurzeit von israelischer
Seite bezüglich eines möglichen militärischen Angriffs
auf den Iran erleben, zeigt, wie explosiv die Situation im
Mittleren und Nahen Osten ist. Die Fraktion Die Linke
lehnt jegliche militärische Intervention gegen Iran oder
Syrien ab und fordert die Bundesregierung auf, dies auch
ganz deutlich und unmissverständlich zu formulieren.
Die Kriegsdrohungen ermöglichen der israelischen Regierung, sowohl von eigenen innenpolitischen Problemen als auch von der menschenverachtenden Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung abzulenken.
Die Linke setzt sich seit Jahren für eine Zweistaatenlösung ein, die aber immer unrealistischer wird, je mehr
Fakten die israelische Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten durch Landraub schafft. Deshalb
fordern wir die Bundesregierung auf, nicht länger zuzusehen, wenn die israelische Militärbehörde ihre Besatzungspolitik jeden Tag ausweitet, palästinensische Häuser und lebenswichtige Infrastruktur abreißen und
gleichzeitig neue israelische Siedlungen bauen lässt und
damit einer systematischen Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern Vorschub leistet.
Dazu gehört auch zum Beispiel die geplante Zerstörung von Solaranlagen in den Bergen von Hebron durch
die israelische Militärbehörde. Zudem soll das international bekannte Friedensprojekt „Tent of Nations“ der
evangelischen Palästinenserfamilie Nassar enteignet
werden. Gerade dieses Projekt zieht mit seinem Motto
„Wir weigern uns, Feinde zu sein“ jährlich viele Freiwillige aus aller Welt an und leistet einen wichtigen Beitrag zur Versöhnung. Seine Zerstörung müssen Sie verhindern, Herr Westerwelle! Solch ein Vorgehen der
israelischen Militärbehörde ist entwicklungsfeindlich,
zerstört gezielt Zukunftsperspektiven und produziert
weiteren Hass. Und diese Politik führt noch weiter weg
von einem kaum noch existierenden Friedensprozess im
Nahen Osten.
Genau deshalb fordern wir die Bundesregierung auf,
konkrete außenpolitische Schritte für einen ernstzunehmenden Friedensprozess zu unternehmen: Statt regelmäßig vor „einseitigen Schritten“ seitens der palästinensischen Autonomiebehörde zu warnen, ist eine
Aufwertung der diplomatischen Vertretung Palästinas
Zu Protokoll gegebene Reden
ein überfälliges Signal für das angestrebte Ziel der zwischen den Konfliktparteien auszuhandelnden Zwei-Staaten-Lösung. Eine Aufwertung der diplomatischen Vertretungen entspricht geltendem Völkerrecht und ist
durch internationale Verträge gedeckt.
Seit dem Jahr 2007 wurde vom Nahostquartett - USA,
EU, Russland, UNO - der Aufbau von Staatlichkeit als
zentrale Voraussetzung für eine Anerkennung des Staates Palästina gefordert, und dieser stand im Zentrum internationaler Unterstützung für die Palästinenser. Auch
die Europäische Union hat die Fortschritte der Palästinenser auf dem Weg, einen eigenen Staat aufzubauen,
gewürdigt. Im Juni 2011 unterstützte die Verantwortliche für die EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, vor dem
Europaparlament den Aufbau eines palästinensischen
Staates und betonte, dass die Grundlagen, unter anderem eine funktionierende Regierung, ausreichten.
Aufgrund dieser Fortschritte beim Aufbau der palästinensischen Staatlichkeit haben zahlreiche EU-Mitgliedstaaten ({0}) die diplomatischen Beziehungen mit der palästinensischen Autonomiebehörde aufgewertet, die bisherigen Vertretungen in den Rang von diplomatischen
Missionen erhoben und als Missionsleiter Botschafter
gesandt und anerkannt. Darüber hinaus wurden in einem
weiteren Antrag die europäischen Mitglieder des UNSicherheitsrates aufgefordert, einer Vollmitgliedschaft
Palästinas in den Vereinten Nationen zuzustimmen.
Wir fordern die Bundesregierung also dazu auf, sich
den Bemühungen vieler EU-Staaten und der UNO endlich anzuschließen und unverzüglich mit der palästinensischen Autonomiebehörde Verhandlungen über die gegenseitige Aufwertung des Status der Generaldelegation
Palästinas in Deutschland und der deutschen Generaldelegation in Ramallah aufzunehmen, die bisherigen
diplomatischen Vertretungen beider Länder in den Stand
regulärer diplomatischer Missionen aufzuwerten und
der jetzigen Generaldelegation Palästinas in Deutschland den Rang einer „Mission Palästinas“ zu verleihen,
sich dafür einzusetzen, dass der Generaldelegierte
Palästinas künftig den Rang eines „Botschafters, Leiters
der Mission Palästinas“ erhält, die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ramallah in eine „Diplomatische Mission“ sowie deren Leiter in den Rang eines
„Botschafters, Leiter der Mission“ aufzuwerten.
Dieser Schritt wäre genau jetzt ein wichtiges, hoffnungsvolles Zeichen für einen gerechten Frieden im
Nahen Osten.
Der Stand des israelisch-palästinensischen Konfliktes ist dramatisch. Nach dem Abbruch der israelischpalästinensischen Gespräche vom Januar dieses Jahres
finden keine Verhandlungen mehr statt. Gleichzeitig
dauert die israelische Besatzung fort, und die Besiedlung der palästinensischen Gebiete wird fortgesetzt.
Außerdem haben die gerade in Washington stattgefundenen Gespräche des israelischen Ministerpräsidenten
und vor allem seine Rede vor den Delegierten des
AIPAC-Kongresses gezeigt, dass es diesem erfolgreich
gelungen ist, den israelisch-palästinensischen Konflikt
mit dem Verweis auf das in der Tat große Problem eines
möglichen iranischen Atomwaffenprogramms völlig von
der politischen Tagesordnung zu entfernen.
Wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit in der
schwierigen Situation, dass eine Zwei-Staaten-Regelung
inzwischen international als die einzige mögliche
Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes
anerkannt ist, aber gleichzeitig die Chancen ihrer Realisierung im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr verbaut werden. Es gibt im israelisch-palästinensischen
Konflikt eben keine Stagnation, sondern die asymmetrische Situation wird durch die stärkere der beiden Konfliktparteien bestimmt. Der Stärkere ist Israel - Israel
mit einer Regierung, die den Siedlungsbau forciert und
damit für alle sichtbar signalisiert, dass es nicht bereit
ist, die Besatzung zu beenden, Israel mit einer Gesellschaft, in der viele eine Regelung des Konfliktes nicht
mehr für möglich halten und die mit innenpolitischen
Konflikten befasst ist, und Israel mit einer innenpolitischen Machtkonstellation, bei der jene Gruppen und
Organisationen, die die Besatzung und die damit verbundenen Folgen kontinuierlich und mutig thematisieren und kritisieren, parlamentarisch und außerparlamentarisch immer stärker unter Druck gesetzt werden.
In dieser Situation ist es richtig, nach allen möglichen Wegen zu suchen, um die Zwei-Staaten-Regelung
im politischen Diskurs zu halten und zu unterstützen.
Denn welches sind die Alternativen? Eine Ein-StaatenKonzeption, in der Juden und Palästinenser gleichberechtigt sind, ist vor dem Hintergrund der Konfliktgeschichte eine Illusion. Und ein Weiter-so wie bisher
darf es nicht geben; denn dadurch würden die Voraussetzungen für eine Zwei-Staaten-Regelung immer weiter
verschlechtert.
Bei dieser Suche nach Wegen zur Unterstützung des
Konzeptes der Zwei-Staaten-Regelung hat auch symbolische Politik eine Rolle und Funktion, wie etwa jüngst
der Gang der palästinensischen Seite zur UNO, um dort
die Mitgliedschaft zu beantragen und damit die Anerkennung eines palästinensischen Staates zu fordern,
gezeigt hat. Allerdings sollte sie auch in sich stimmig
und folgerichtig sein - und das sind die in dem Antrag
der Linken erhobenen Forderungen nicht. Sie sind es
nicht, denn sie sind zum einen bereits realisiert.
Bei seinem letzten Besuch in Ramallah hat Außenminister Westerwelle dem palästinensischen Präsidenten
Abbas mitgeteilt, dass die Bundesregierung mit Wirkung
vom 1. Januar 2012 den Status der Generaldelegation
Palästinas zur diplomatischen Mission aufgewertet hat,
die nun von einem Botschafter geführt wird. Damit folgt
sie dem Schritt, den zahlreiche andere EU-Staaten,
darunter auch Frankreich, Großbritannien und Italien,
bereits vollzogen haben. Somit ist der eine Teil der Forderungen des Antrages, den wir auch in der Vergangenheit unterstützt haben, bereits erfüllt.
Der andere Teil der Forderungen wendet sich an die
falsche Adresse. Die Bundesregierung kann weder den
Zu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
Status der deutschen Vertretung in den palästinensischen Gebieten noch den Status des Vertreters bestimmen. Das kann nur die Palästinensische Autonomiebehörde entscheiden, und sie müsste das im Lichte der
Regelungen der Prinzipienerklärung von Oslo aus dem
Jahr 1993, auf deren Grundlage sie arbeitet, tun.
Also noch einmal: Es muss alles getan werden, um die
Zwei-Staaten-Regelung im politischen Diskurs zu halten
und weiter nachdrücklich einzufordern. Aber die Forderungen müssen stimmig und umsetzbar sein, was beim
Antrag der Linken nicht der Fall ist. Ansonsten sind sie
schlicht unseriös und daher abzulehnen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8375 an den Auswärtigen Ausschuss
vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kooperation ermöglichen - Gemeinsam Verantwortung für die großen Herausforderungen in Bildung und Wissenschaft übernehmen
- Drucksache 17/8902 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor.
In regelmäßigen Abständen lesen wir, dass beispielsweise ein 14-jähriger Schüler Schwierigkeiten beim
Schulwechsel von einem zum anderen Bundesland hat:
In Bremen, wo er herkommt, war man in Mathematik
noch nicht so weit im Schulstoff vorangeschritten, wie es
nun in seinem neuen Zuhause, in Bayern, der Fall ist.
Auch bei der ersten Fremdsprache oder in Deutsch werden signifikante Unterschiede deutlich. Die Standards
sind nicht vergleichbar und damit letztendlich auch später nicht die Abschlüsse. Warum ist das so?
Weil wir mittlerweile 96 verschiedene Schulformen in
Deutschland haben, weil bei jeder Wahl auf Landesebene Bildung zu den Hauptthemen zählt. Nach einer
gewonnenen Wahl wird das Schulsystem daraufhin allzu
oft umgekrempelt. Hinzu kommt, dass nicht alle Länder
finanziell in der Lage sind, ausreichend in Bildung zu
investieren und junge Menschen deshalb weniger von
Bildung profitieren. Wozu führt das alles? Zu uneinheitlichen Anforderungen, zu Verunsicherung und im
schlimmsten Falle zu eingeschränkter Mobilität von Familien.
Das alles zeigt, wie wichtig es ist, dass wir über das
Thema Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der
Bildung sprechen, aber wir müssen eine solche Zusammenarbeit differenziert betrachten und genauso differenziert auch darüber sprechen. Wir dürfen uns auch
nicht dem Drängen hingeben, nur ein Problem anzugehen, ohne eine dauerhaft zufriedenstellende Lösung zu
finden. Wir haben erst vor sechs Jahren im Zusammenhang mit der Föderalismusreform II eine umfangreiche
Grundgesetzänderung vorgenommen. Die Kompetenzen
für den Bildungsbereich wurden richtigerweise aufgrund der regionalen Unterschiede vollumfänglich den
Bundesländern zugeschrieben. Ein neuer Anlauf zur
Gestaltung des Kompetenzgefüges sollte jedoch mit dem
Ziel verbunden sein, nicht erneut Unruhe zu schaffen.
Vielmehr geht es darum, den derzeitigen Flickenteppich
der Bildungslandschaft durch einen hochwertigen
Teppich zu ersetzen - zwar einheitlich, aber doch so,
dass er jedem Bundesland gefällt.
Wenn wir über Kooperation von Bund und Ländern in
der Bildung debattieren, sind damit zwei Bereiche gemeint: zum einen die Kooperation im Hochschul- und
Wissenschaftsbereich, zum anderen jene im Schulbereich.
Für den Hochschulbereich erscheint eine Änderung
des Grundgesetzartikels 91 b mittlerweile ein gangbarer
Weg, da hier ein breiter Konsens besteht. So könnte der
Artikel in der Art geändert werden, dass der Bund die
Möglichkeit hat, nicht nur Projekte, sondern auch Einrichtungen zu fördern. Darüber hinaus regen wir als
Union eine Vereinbarung an, die es dem Bund ermöglicht, sich stärker zu engagieren, und dies auch finanziell. Doch jegliche Finanzierungszusage muss an eindeutige, transparente Konditionen geknüpft sein. Der
Bund muss die Möglichkeit haben, die Verwendung seiner Finanzmittel zu überprüfen. Gleichfalls bietet dies
die Chance, gezielt zu fördern. Zuschüsse nach dem
Gießkannenprinzip sind auch hier nicht förderlich. Die
Konditionen einer Förderung müssen so ausgestaltet
werden, dass für die Länder kein Anreiz besteht, sich aus
ihrer Verantwortlichkeit zurückzuziehen. In diesem Zusammenhang sollte über weitere Maßnahmen nachgedacht werden, die Privatwirtschaft stärker in die Finanzierung des Hochschulsystems einzubinden. Einige
Initiativen wurden hier bereits initiiert. Von einer Förderkultur wie in den angelsächsischen Staaten sind wir
jedoch weit entfernt.
Nicht nur für die Hochschulen und die Wissenschaft,
sondern auch für die allgemeine Bildung an Schulen besteht Handlungsbedarf, sogar ein weitaus dringenderer.
Zuletzt wurden verschiedenste Ansätze öffentlich diskutiert. Auffällig ist, dass die Opposition vor allem darauf
drängt, den Ländern unkonditioniert mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Doch das ist der falsche Weg. Mehr
Geld allein löst keine Probleme. Die Einführung eines
Bildungszentralismus kann ebenfalls nicht unser Ziel
sein. Wichtig erscheint mir, die Kooperation zwischen
Bund, Ländern und Wissenschaft zu stärken. Ein Bildungsrat oder eine Bildungskommission könnten zur
besseren Verständigung beitragen: Probleme können
vorgetragen, wissenschaftliche Erkenntnisse eingebracht und gemeinsam nach Lösungen gesucht werden.
Marcus Weinberg ({0})
Und bitte, ich möchte das noch einmal hervorheben:
Sich der Illusion hinzugeben, mit einer Aufhebung des
Kooperationsverbots und einer starken finanziellen Beteiligung des Bundes wäre eine abschließende Lösung
gefunden, ist leichtgläubig.
Ein weiteres großes Problem besteht im Schulbereich.
Auch hier wird seitens der Länder über finanzielle
Probleme geklagt. Diese führen zu unterschiedlichen
Bildungsergebnissen von Bundesland zu Bundesland.
Darüber hinaus fällt es einzelnen Ländern schwer, die
Qualität der Bildung sicherzustellen und für eine angemessene Ausstattung zu sorgen. Es muss unser Ziel sein,
einheitliche Standards zusammen mit den Ländern und
den Experten zu definieren, die dann vor allem auch
durchgesetzt werden können. Damit würde gewährleistet
werden, dass die Bildungsabschlüsse tatsächlich gleichwertig wären und ein Umzug innerhalb der Bundesrepublik ohne Probleme hinsichtlich des Schulunterrichts
möglich wäre.
Die Länder müssen hier die Bereitschaft zeigen, zu
kooperieren; denn auch wenn die Länder gerne auf die
Finanzmittel des Bundes zurückgreifen möchten, beharren sie auf ihrer uneingeschränkten Gestaltungsmacht,
eine Sichtweise, die wohl nur in einem politischen System für längere Zeit sanktionsfrei durchsetzbar ist.
Als Möglichkeit erscheint hier, analog zum Wissenschaftsrat einen „Bildungsrat“ einzurichten, der hinsichtlich der Lehrerausbildung, der Lernzielkataloge
und der Abschlussprüfungen gemeinsame Standards formuliert. Diese Idee wird unter anderem auch von Bundesministerin Schavan befürwortet, die in der „Süddeutschen Zeitung“ äußerte: „Ich präferiere einen solchen
unabhängigen Bildungsrat, um die offenen Fragen zu beantworten.“ Darüber hinaus müssten dann die Länder
bereit sein, diese zu übernehmen und eine unabhängige
Evaluierung zu ermöglichen.
Zudem dürfen die Gelder, wie auch im Hochschulbereich, nicht ohne Zweckbestimmung verwendet werden.
Klare Zielvereinbarungen sind hier dringend notwendig.
Dies würde ebenfalls zur Transparenz beitragen.
Gleichzeitig entsteht hier die Möglichkeit, den Wettbewerbsföderalismus mit Leben zu füllen. Bildungssysteme, die funktionieren, werden Nachahmer finden. Dabei verbleibt die Zuständigkeit für die strukturelle Gliederung bei den Ländern. Es ist also keineswegs so, dass
der Bund in die Länder hineinregieren will. Verständnis
für das Bedürfnis, über die Mittelverwendung zu entscheiden, sollten dabei alle Beteiligten aufbringen.
Mit diesen Vorschlägen begeben wir uns jedoch auf
den richtigen Weg, einerseits die finanzielle Not zu lindern und andererseits zur konzentrierten Verbesserung
des Systems beizutragen.
Zur 100. bildungs- und forschungspolitischen Debatte in dieser Legislatur hätte ich mir einen niveauvolleren Antrag der Grünen gewünscht, als den der ganz
offensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt wurde.
Solche Papiere sollten die Grünen in ihren Mitgliederversammlungen im kleinen Kreis besprechen, aber nicht
im Deutschen Bundestag. Auf vier Seiten sammeln die
Grünen Einzelbeispiele, bei denen sie meinen, dass die
Kooperationskultur zwischen Bund und Ländern in
unserer Bildungsrepublik noch nicht ausgeprägt genug
ist. Die Antragsteller blicken undifferenziert in die Vergangenheit und verklären rot-grüne Misswirtschaft in
den Jahren der Regierung Schröder. Immerhin haben sie
sich anscheinend vom wissenschaftlichen Dienst die gegenwärtige Verfassungslage erklären lassen, ziehen daraus aber die falschen Konsequenzen.
Die Opposition muss endlich einmal verstehen, dass
Kooperationskultur auch die Übernahme von Verantwortung bedeutet und nicht nur Kofinanzierung oder
gar alleinige Finanzierung durch den Bund. Reduzieren
Sie Kooperationskultur nicht immer nur auf Finanzströme. Es geht vielmehr um Gestaltungswillen und
Mitverantwortung.
Zuletzt haben wir im März 2010, im Dezember 2010,
im Juni 2011 sowie zu Beginn dieses Jahres Plenardebatten zum kooperativen Bildungsföderalismus geführt.
Im Gegensatz zu den wiederholt wenig durchdachten
Schnellschüssen der Opposition - siehe Antrag der SPD
zur Schaffung eines Art. 104 c Grundgesetz oder den
heutigen Antrag der Grünen - hat die Union einer ausführlichen innerparteilichen Debatte Vorzug vor populistischen Schaufensteranträgen gegeben. Nach dem
Abschluss dieser Debatte haben wir auf unserem Leipziger Parteitag einen Beschluss für eine begrenzte Grundgesetzänderung im Wissenschaftsbereich gefasst.
Daraufhin hat unsere Ministerin dann Anfang
Februar einen klaren Fahrplan für eine weitere Ausgestaltung der Kooperationskultur und die damit verbundene Grundgesetzänderung vorgelegt. Diesem Fahrplan
liegt die Absicht zugrunde, frühzeitig Planungssicherheit für unsere Hochschulen nach dem Auslaufen der
Pakte zu schaffen. Für die Wissenschaftspolitik soll eine
leichte Änderung des Art. 91 b Grundgesetz noch in dieser Wahlperiode sicherstellen, dass der Bund sich künftig nicht mehr nur zeitlich begrenzt an der Finanzierung
von Projekten beteiligen darf, sondern auch Einrichtungen dauerhaft mitfinanzieren kann.
Anders als im Wissenschaftsbereich gibt es zwischen
den beteiligten Akteuren im Bereich der Schulen keinen
Konsens zwischen A- und B-Seite. Bei uns Bundespolitikern verstärkt sich der Eindruck, dass aufseiten der
SPD-geführten Länder nur über einen Finanztransfer
vom Bund hin zu den Ländern nachgedacht wird, nicht
aber über eine damit einhergehende Neuordnung der
Verantwortlichkeiten. In der Schulpolitik soll deshalb
eine Kommission unter der Mitwirkung von Kommunen,
Ländern und Bund eingerichtet werden, um so rasch wie
möglich einen Konsens zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften zu erzielen.
Mit diesem Vorgehen reagieren wir auf die Realitäten
in unserer Bildungsrepublik, die da lauten: Einigkeit im
Wissenschaftsbereich, Uneinigkeit in der Schulpolitik.
Aufgrund dieser Fakten wäre eine Entkopplung der beiden Politikfelder der richtige Weg. Es wäre unverantwortlich, die Hochschulen aufgrund der Uneinigkeiten
Zu Protokoll gegebene Reden
in der Schulpolitik über ihre finanzielle Zukunft im
Unklaren zu lassen.
Die von Ministerin Schavan vorgeschlagenen Reformen bestätigen einmal mehr: Die Meinungsführerschaft
in Fragen des Bildungsföderalismus liegen bei Union
und FDP. Da kann die Opposition noch so oft den Kollegen Steinmeier in die Debatte rufen, neue Worte wie
„Reformkonvent“ erfinden oder Begriffe wie „Kooperationskultur“ von uns kopieren. Auch Sie werden eines
Tages sehen, dass wir einen Wissenschaftsrat haben und
einen Bildungsrat haben werden, wobei hoffentlich
beide bei unserem Bundespräsidenten angesiedelt sind
und somit ein Stück aus der parteipolitischen Profilierung ausgeklammert werden. Im Übrigen darf ich die
Kollegen der Grünen darauf verweisen, dass die CDU
den Bildungsrat bereits auf ihrem Parteitag in Leipzig
beschlossen hat. Solche Gremien schafft man aber nicht
über Nacht. Es ist ein langer Weg, weil wir uns hier im
verfassungsrechtlichen Kernbereich der Bundesländer
befinden. Da hilft kein Alleingang des Bundestages,
nein, es bedarf kluger Verhandlungen mit dem Bundesrat. Mit derartigen Anträgen verprellen Sie die Bundesländer und gewinnen sie nicht für eine im Kern richtige
Idee.
Mir ist wichtig, zu betonen, dass mehr Engagement
des Bundes keinesfalls dazu führen darf, dass sich die
Länder aus der Hochschulfinanzierung zurückziehen.
Vielmehr wollen wir noch mehr Kooperation zwischen
Bund und Ländern und auch zwischen universitärer und
außeruniversitärer Forschung. Deshalb haben wir den
Wissenschaftsrat beauftragt, sich grundsätzliche Gedanken über die Zukunft unseres Wissenschaftssystems
allgemein und über die damit einhergehende Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern im Besonderen
zu machen.
Ihr Antrag geht über eine Analyse nicht hinaus.
Machen Sie doch einmal konstruktive Vorschläge, wo
der Bund unterstützen oder koordinieren kann.
Ich erkenne an und freue mich, dass nunmehr immerhin ein Oppositionsantrag vorliegt, der klar zwischen
der Ausgestaltung der Kooperation im Bereich der Wissenschaft und im Bereich der Bildung unterscheidet.
Inhaltlich kann ich hier aber auf meine Rede aus der
letzten Debatte verweisen. Leider bringt Ihr Antrag keinen einzigen neuen Impuls. Auch freue ich mich, dass
Sie nun auch die Kommunen als Bildungspartner neben
Bund und Ländern erkennen - ein Fakt, den die christlich-liberale Koalition bereits seit 2010 umfänglich ausgestaltet.
Ihr Rundumschlag bezüglich Schulabbrechern und
Fachkräftebedarf bis hin zu PISA, Ganztagsschulen,
Kieler Ifm-GEOMAR-Institut und das Bildungs- und
Teilhabepaket, was alles unsystematisch wie Gedankensplitter aneinandergereiht wurde, zeugt von der Konzeptlosigkeit dieses Antrags. Folgerichtig lehnen wir ihn
ab. Sie sollten sich zukünftig eine andere Art der Öffentlichkeitsarbeit überlegen. Es wird nämlich zunehmend
ermüdend, wenn die Opposition die immer gleichen,
wenig inspirierenden Texte in neuen Anträgen hervorbringt.
Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag
ist ein weiterer guter und wichtiger Beitrag in der
Debatte über den Bildungsföderalismus. Zum einen
greift er den vor kurzem eingebrachten SPD-Vorschlag
für einen neuen Art. 104 c Grundgesetz auf, zum anderen macht er einen weiteren Vorschlag für eine Änderung des Art. 91 b Grundgesetz. Mit diesem Antrag liegt
eine weitere Initiative für die Diskussion um eine Verfassungsänderung in Bildung und Wissenschaft vor.
Aus unserer Sicht ist eines ganz besonders wichtig:
Wir alle müssen aufeinander zugehen und offen diskutieren, welche Lösung im Interesse von Bildung und Wissenschaft die beste ist. Zu diesem Zweck haben wir im
Konsens aller Fraktionen eine Sachverständigenanhörung zu diesem Thema angesetzt.
Umso bedauerlicher ist, dass die Regierungskoalition
offenkundig bereits ihren Blick verengt hat und einzig
und allein auf die Erweiterung der bestehenden Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereich
der Wissenschaft abhebt. Während SPD, Grüne und
auch Linke den Bereich Bildung mit in ihre Überlegungen einbeziehen, diese Perspektive auch von verschiedenen und unterschiedlich regierten Ländern wie Schleswig-Holstein und Hamburg geteilt wird, versteift sich
die Koalition auf Vorschlag von Bundesministerin
Schavan auf die Förderung von Einrichtungen der Wissenschaft mit überregionaler Bedeutung. Nach der
Methode „Friss Vogel oder stirb“ wird eine Teilmaßnahme, für die es zweifelsohne viel Zustimmung auch in
unserer Fraktion gibt, isoliert als einzig wahre und
machbare Lösung präsentiert. Doch dabei wird vollkommen außer Acht gelassen, dass die Fixierung auf eine
solche Teillösung möglicherweise die Gesamtbalance
zerstören und alles zum Scheitern bringen kann.
Das Motto „Lasst uns den kleinsten gemeinsamen
Nenner vereinbaren, alles Weitere sehen wir dann“ sieht
nur auf den ersten Blick wie ein vernünftiges, realpolitisches Vorgehen aus. In Wahrheit wäre es der Kotau vor
dem Starrsinn einiger Länder, insbesondere vor Bayern
und dort vor der CSU. Wer sich nur um die Wissenschaft
kümmert, hilft dort, wo Hilfe bereits geleistet wird. Denn
für diesen Bereich hatte die SPD-Fraktion bereits Möglichkeiten der Kooperation durchgesetzt. Auf dieser
Basis werden etwa die Exzellenzinitiative und der Hochschulpakt realisiert.
Der jetzt in Rede stehende Änderungsvorschlag der
schwarz-gelben Koalition würde zwar darüber hinaus
die institutionelle Förderung von Einrichtungen der
Wissenschaft mit überregionaler Bedeutung ermöglichen. Gegen diese zusätzliche Handlungsoption ist soweit nichts einzuwenden. Aber es geht doch wohl nicht
an, dass im Endeffekt einige wenige Einrichtungen vom
Bund finanziert und Forscherstellen geschaffen werden,
während nicht einmal darüber nachgedacht wird, wie
gemeinsam von Bund und Ländern nur eine einzige
zusätzliche Ganztagsschule eingerichtet oder mehr
Pädagogen zur Förderung von Schülern eingestellt werden können. Auch die Bildung an den Hochschulen, die
Lehre, würde außen vor gelassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
Mehr Kooperation ist für Wissenschaft und Hochschule sinnvoll. Für die Bildung, für die Lehre an den
Hochschulen und insbesondere für die Schulen ist sie
jedoch vordringlich nötig: Wir müssen endlich überhaupt damit anfangen! Ich kenne kein Bundesland, das
das Ganztagsschulprogramm der Regierung Schröder
heute noch für schlecht hält. Die einzige - und berechtigte - Kritik ist, dass es auf bauliche Investitionen
beschränkt war. Doch anders ging es damals nicht.
Darum muss ein ganz neuer Kooperationsartikel ins
Grundgesetz, der die Bildung in ihrer gesamten Breite
im Blick behält. Die von der Koalition geforderte Teillösung aber würde eine solche Verbesserung für die Bildung auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben.
Darum: Dank an die Grünen für diesen hilfreichen
Beitrag zur Debatte.
An die Regierungsfraktionen richten wir den Appell,
sich vom Koalitionsausschuss zu emanzipieren und den
Blickwinkel offen zu halten auch für die Bildung.
Um es gleich vorweg zu sagen: Der von Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachte Antrag unter der Überschrift
„Kooperation ermöglichen - Gemeinsam Verantwortung für die großen Herausforderungen in Bildung und
Wissenschaft übernehmen“ ist ein sehr gründlicher, ein
weiterführender und damit hilfreicher Antrag. Er ist damit auch zugleich das Gegenteil zu den mehr als windigen, kleinmütigen Beschlüssen, die kürzlich vom Koalitionsausschuss der CDU/CSU und FDP gefasst worden
sind.
Diese Beschlüsse des CDU/CSU-FDP-Koalitionsausschusses sind dann ja auch in der interessierten Öffentlichkeit, ganz entgegen den Fanfarenrufen, die aus
einschlägigen Quellen diesen Vorstoß als vermeintlich
großen Durchbruch kennzeichnen wollten, harsch kritisiert worden. Es leuchtet den Menschen in Deutschland
eben nicht ein, weshalb Bund und Länder gemeinsam
Geld bereitstellen dürfen, wenn es um Eliteunis geht,
während dieses bei den Schulen per Grundgesetz strikt
untersagt werden soll. Es leuchtet den Menschen nicht
ein, weshalb Deutschland Schulen im Ausland durch
bundespolitische Entscheidungen und Mittel fördern
darf, während dies im eigenen Land strikt verboten ist.
Es leuchtet den Menschen schlechterdings auch nicht
ein, weshalb es an den Hochschulen zum Glück eine
wachsende Zahl von Studierenden gibt, der Bund die
große Masse der Studierenden und der Hochschulen
aber nicht in nachhaltiger Weise und dauerhaft unterstützen darf.
Und wenn der konservativ-liberalen Seite die elementaren Einsichten und Wünsche der vielen Betroffenen in
den Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland nicht wichtig sind, gibt es ja auch
ausreichend Expertise von Wissenschaftlern und hochrangigen Experten, wie dem von der Bundesregierung
selbst eingesetzten EFI-Gutachter-Kreis, der Expertenkommission zu Forschung, Innovation und technischer
Leistungsfähigkeit Deutschlands, oder wie dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die alle
zusammen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass
exzellente Wissenschaft und Forschung eben auch das
Fundament exzellenter Bildung in der Breite - von den
vorschulischen bis zu den schulischen und den hochschulischen Einrichtungen - brauchen und hierfür keine
Kooperationsverbote existieren dürfen.
Dass diese Zusammenhänge seinerzeit in der Föderalismuskommission von 2006, die an dieser Stelle keinesfalls sachkundig und ruhmreich gearbeitet hat, nicht gesehen wurden, muss ja nicht heißen, dass einmal
gemachte Fehler auf Dauer weitergeführt werden. Nicht
umsonst hat deshalb auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier kürzlich in mutiger Klarheit davon gesprochen, welchen „Unsinn“ damals das
deutsche Parlament aus der Zwangsgemeinschaft einer
großen Koalition heraus und der ungenügenden Bewertung des Kooperationsschwerpunktes Bildung beschließen musste. Wir alle wissen, dass der unselige Roland
Koch seinerzeit als Reflex gegen das Ganztagsschulprogramm von Gerhard Schröder und Edelgard Bulmahn
das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in Bildungsfragen brutalstmöglich durchsetzen musste, wozu
ihm Stoiber als Sekundant dann die Hand gereicht hat.
Das war keinesfalls eine kluge, vorausschauende und
sachdienliche Politik. Auch die jetzige Bildungsministerin, Frau Schavan, stand hier einmal mehr auf der falschen Seite und musste sich erst langsam zu einer aufgeklärteren, kooperationsfähigeren Position hinarbeiten.
Wie widersinnig die damalige Regelung war, sollte
sich dann ja auch schnell in der Praxis erweisen. Nicht
nur, dass die Bildungspolitiker der SPD noch in der Föderalismusreform 2006 durch penetrante Intervention in
letzter Minute erreichen konnten, dass die Förderung
von Vorhaben der Wissenschaft ermöglicht wurde, wovon jetzt alle nachträglich noch immer zehren bis in die
Hochschulsonderprogramme I und II und den Pakt für
Lehre etc. hinein. Auch an anderen Stellen sollte die
Praxis ein schlecht gemachtes Grundgesetz an dieser
Stelle schnell widerlegen. Im Antrag der Grünen ist in
wirklich sehr sachkundiger, minutiöser Weise nachgezeichnet, wie diese Reformen des Grundgesetzes sich in
der Praxis sehr schnell als eine Fehlentscheidung herausgestellt haben, die mit gutem Willen doch jetzt nicht
noch auf Dauer verlängert werden sollte. Oder war es
ein Ruhmesblatt der Verfassungsgesetzgebung, im laufenden Konjunkturprogramm II noch schnell das Grundgesetz im Art. 104 anpassen zu müssen, um nicht jeweils
am einzelnen Projekt nachweisen zu müssen, ob es denn
nun an einer Schule vorrangig um energetische Sanierung oder Verbesserung der schulischen Lernbedingungen geht? Und wem kann man in Wirklichkeit erklären,
dass der Bund mit den Ländern zusammen die Bildung
dann fördern darf, wenn die Deutsche Bank zusammenbrechen sollte oder ein Tsunami in der Nordsee ausbricht, sprich, wenn es eine außergewöhnliche Notsituation oder Naturkatastrophe geben sollte, aber der Bund
eben dieses unter normalen Umständen nicht tun darf,
obwohl Bildung doch als die Zentralaufgabe für die Zukunft, als die große Verpflichtung der hoffentlich ernstgemeinten Bildungsrepublik Deutschland anzusehen ist?
Auch die Verrenkungen beim Bildungs- und TeilhabepaZu Protokoll gegebene Reden
ket stehen für diese Auswirkungen eines schlecht gemachten Grundgesetzes. Und dass Initiativen wie der
Qualitätspakt Lehre oder die Exzellenzinitiative Lehrerbildung, die von der Bundesregierung aktuell ins Gespräch gebracht worden sind, sich letztlich nur über
eine Grauzone vor dem Fallbeil der Grundgesetzeinschränkungen retten können, kann doch auch nicht die
Antwort auf die Zukunft sein. Gleichzeitig wissen wir
alle, dass die Verbesserung von Bildung, egal in welchem deutschen Landesteil, nicht nur das Menschenrecht auf Bildung einlösen hilft, sondern auch das Fundament für ökonomische und soziale Wohlfahrt in
Deutschland darstellt. Dieses Fundament kann aber
nicht abhängig gemacht werden von der deutlicher werdenden Finanzschwäche der Länder einerseits, der zunehmenden Disparität in der Finanzierung der Länder
andererseits und einer Konzentration des Bundes auf
ausschließlich die Spitze und eben nicht das Fundament
des Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystems in
Deutschland.
Gegen alle bildungspolitische Vernunft will die
schwarz-gelbe Koalition am Kooperationsverbot im Bildungsbereich festhalten. Anders als der Vorschlag der
SPD - und jetzt auch von Bündnis 90/Die Grünen -, einen neuen Bildungsartikel im Grundgesetz einzufügen,
will die Koalition im Grundgesetz nur im Hochschulbereich eine institutionelle und zugleich höchst selektive
Bundesförderung zulassen, und zwar nicht für alle
Hochschulen, sondern nur für solche mit überregionaler
Bedeutung.
Das hat aber mit einer Aufhebung des Kooperationsverbotes nichts zu tun. Am Ende bedeutet es vor allen
Dingen, dass insbesondere die Schulen trotz deren offenkundigen Bau- und Personalbedarfs vor Ort weiter abgehängt werden.
Mit dem Schulbereich bleibt damit nach dem Willen
der Koalition weiterhin das für erfolgreiche Bildungsbiografien entscheidende und mit Abstand die meisten
Menschen direkt betreffende Bildungsfeld außen vor.
Ohne moderne Schulen sind ein leistungsfähiges und
nachhaltiges Bildungssystem ebenso wenig denkbar wie
weitere Fortschritte bei der Chancengleichheit für alle
Kinder und Jugendlichen.
Angesichts der steigenden Anforderungen an eine
wirksame individuelle Förderung, dem weiteren Ganztagsschulausbau oder auch der inklusiven Bildung ist
dies politisch höchst fahrlässig. Hinzu kommt ein erheblicher baulicher Modernisierungsstau an den Schulen
sowie die in den Regionen sehr unterschiedlichen Auswirkungen etwa des demografischen Wandels. Nach dem
Willen der Koalition sollen dem Bund hier weiterhin die
Hände gebunden bleiben. Der Vorschlag der SPD für einen neuen Art. 104 c wird den Anforderungen gerecht,
indem er das Kooperationsverbot für alle Bereiche aufhebt.
Offenbar ist die Begrenzung auf wenige Spitzenhochschulen dem Widerstand der B-Länder geschuldet. Die
Schulen sollen offenbar von der Union nach der Verfassungsreform 2006 ein zweites Mal für den parteiinternen
Kompromiss geopfert werden. Den Schaden werden die
Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern und die Lehrkräfte
an den Schulen in Deutschland haben.
Dabei hatte es schon hoffnungsvolle Zeichen nicht
nur bei der FDP, sondern auch bei der CDU gegeben;
denn nimmt man den letzten Parteitagsbeschluss der
CDU zu ihrem bildungspolitischen Zukunftsprogramm,
so ist dort ja nicht umsonst eine bessere Kooperation
von Bund und Ländern explizit im Schulkapitel mit angesprochen worden. Es bleibt rätselhaft, aus welchen
Gründen die CDU von diesen Einsichten und neuen Perspektiven abgerückt ist. Oder sollte hier der bayerische
CSU-Minister Spaenle das Wort für die CDU gleich mit
geführt haben, wenn er kürzlich im Bundestag trotzig
und uneinsichtig erklärte, das Kooperationsverbot sei
eben kein Fehler gewesen, sondern ausdrücklich darauf
bestand, dass dies eine wegweisende, gute Entscheidung
gewesen sei? Und wie stellen sich eigentlich CDU und
FDP zu der Initiative der CDU/FDP-Landesregierung
von Schleswig-Holstein, die erst kürzlich einen weitreichenden Antrag in den Bundestag eingebracht hat, der
sicherlich als höchst konstruktiver Vorschlag zur Aufhebung des unseligen Kooperationsverbotes anzusehen
ist?
Gute Einsichten sind also an vielen Stellen gewachsen. Wir als Sozialdemokraten gehen davon aus, dass
diese Einsichten auch noch weiter wachsen können und
werden. Es besteht jedenfalls kein Grund, sich angesichts eines fundamentalen Fehlers, wie er seinerzeit in
der Föderalismusreform 2006 beschlossen worden ist,
jetzt vorschnell auf den kleinsten Nenner einzulassen, um
mit einer Als-ob-Reform wieder „halbe Sachen“ zu machen, wie man an der Küste sagen würde. Im Gegenteil:
Alle Kräfte sind jetzt aufgefordert, ohne dogmatische
Vorfestlegung in einen offenen Diskurs einzutreten, was
in der modernen Bildungs- und Wissenschaftsgesellschaft der Zukunft notwendig und möglich ist und welche
Hilfestellung die Verfassung hierzu liefern sollte; denn
eine Verfassung, zumal wenn es eine gute Verfassung ist,
ermöglicht politische Gestaltung und schränkt sie nicht
ein. Sie schafft einen echten Zukunftsrahmen und verlängert nicht Fehler der Vergangenheit. Sie bindet die positiven Energien von Bund und Ländern zusammen und
untersagt nicht Kooperation und wechselseitige Unterstützung. Sie respektiert besondere Verantwortlichkeiten,
aber lässt die verantwortlichen Instanzen nicht in ihren
Aktionsmöglichkeiten allein.
Bei den gemeinsamen Beratungen, die jetzt anstehen,
kann es deshalb auch nicht um ein Diktat des kleinsten
gemeinsamen Nenners gehen. Es geht auch nicht an,
dass die Regierung von der Opposition erwartet, dass
diese einseitig-politischen Konzepte des Regierungslagers, die sich vor allen Dingen auf Eliteförderung und
die Unterstützung weniger Spitzeninstitute setzen, den
Verfassungsweg bahnen und die Regierung gleichzeitig
vollkommen undemokratisch den Weg versperrt für
mögliche andere Konzepte, wie sie alternativ dazu auch
vertreten werden können und dürfen, nämlich Bildung
insgesamt in Deutschland zu stärken. Deshalb ist eine
Verfassungsreform auch kein Schachspiel, bei dem es
am Ende darum geht, welche Seite die jeweils andere
Seite matt setzt; denn dieses kann bestenfalls zu einem
Zu Protokoll gegebene Reden
Patt führen. Ein Reformkonvent für Bildung und Wissenschaft, wie er von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen wird, ist sicherlich nicht die schlechteste Idee. Als
Bildungspolitiker können wir zusammen mit unseren
Kollegen aus anderen Fachausschüssen über eine sehr
intensive Anhörung im Bildungsausschuss, wie sie für
den 19. März vorbereitet ist, hierzu schon einen Baustein setzen. Nur, das muss auch der Regierung klar
sein: Verfassungen werden auch deshalb nur mit Zweidrittelmehrheit geändert, damit es einseitige Diktate
nicht geben kann.
Derzeit liegen dem Bundesrat zwei Anträge vor.
Beide Initiativen verfolgen das Ziel, die sehr engen
Grenzen in der Zusammenarbeit von Bund und Ländern
im Bildungsbereich zu weiten und die Förderung unseres Bildungssystems außerhalb des starren Korsetts,
welches uns seit dem Jahr 2006 einschnürt, zu ermöglichen.
Die Länder Schleswig-Holstein und Hamburg haben
dabei sehr unterschiedliche Wege gewählt, um das engmaschige Geflecht der verfassungsrechtlichen Vorgaben
aufzudröseln. Während die SPD-geführte Hamburger
Regierung einen wenig erfolgversprechenden, dafür
aber Aufmerksamkeit heischenden unterkomplexen
Ansatz des „Alles-wird-möglich-und-der-Bund-zahlt“
verfolgt, hat die christlich-liberale Regierung in Kiel
einen etwas differenzierteren, möglicherweise auch
intellektuell anspruchsvolleren Antrag eingebracht.
Dieser wird sehr wahrscheinlich die Grundlage dafür
bilden, um den so dringend benötigten Kompromiss der
bislang unvereinbaren Haltungen zu schmieden.
Während nun A- und B-Länder im Bundesrat um
besagten Kompromiss ringen, gibt sich der grüne Oberlehrer Kretschmann als in „Wolle gefärbter Föderalist“
wenig engagiert. Eine eigene Positionierung BadenWürttembergs ist jedenfalls ausgeblieben. Und so
obliegt es den Grünen im Bundestag, dieses landesseitige Versagen mit einem - zugegeben wenig einfallsreichen - Papierchen vergessen zu machen. Während die
Darstellung des Status quo und die Ausführungen zur
Genese des sogenannten Kooperationsverbotes durchaus als gelungen bezeichnet werden können, erscheinen
dem geneigten Leser die in puddingweicher Handschrift
formulierten Forderungen als überaus peinlich. Denn
dort, wo es tatsächlich einmal etwas konkreter wird,
kann man sich nicht des Gefühls entziehen: „Das habe
ich doch schon einmal außerhalb der grünen Gedankenwerkstatt gelesen - Copy and Paste sei Dank!“
Die FDP-Bundestagsfraktion hat der Einführung des
Kooperationsverbotes seinerzeit wohlweislich ihre
Zustimmung verweigert. Gesamtstaatliche Herausforderungen mit überregionaler Wirkung erfordern gesamtstaatliches Handeln. Das gilt besonders für den Wissenschaftsbereich, in dem es nicht nur auf eine
überregionale Sichtbarkeit, sondern auf internationale
Sichtbarkeit und Exzellenz ankommt. Das ist eine Aufgabe, bei der man den Bund nicht ausklammern darf.
Wir benötigen einen Handlungsrahmen, der Möglichkeiten schafft und nicht zerstört. Wir müssen Zusammenarbeit und einfache Lösungen befördern und die rechtlich
erzwungenen Umgehungsstraßen obsolet werden lassen.
Es geht um den effektiven Mitteleinsatz und die Maximierung von Potenzial im Wissenschaftsbereich, nicht
der Transaktionskosten. Deswegen können wir die
gegenwärtige Verfassungslage nicht einfach hinnehmen.
Wir müssen die Veränderung suchen und neue Wege
beschreiten. Beim Status quo kann es jedenfalls nicht
bleiben.
Aktuell erlaubt das Verfassungsrecht dem Bund nur
ein eingeschränktes Engagement im Hochschulbereich.
Und das ist die Förderung von gemeinschaftlichen Projekten im Rahmen des Art. 91 b Grundgesetz. Davon
wird rege Gebrauch gemacht: Exzellenzinitiative, Hochschulpakt und Qualitätspakt Lehre. Gleichzeitig generiert der Projektcharakter, die zeitliche Beschränkung
der Vorhaben, neue Problemlagen. Wissenschaft und
Forschung brauchen Nachhaltigkeit und lassen sich nur
schwerlich in Fünf-Jahres-Zyklen pressen. Das derzeitige Verbot einer institutionellen Förderung von Wissenschaftseinrichtungen, insbesondere Hochschulen, durch
den Bund ist problembehaftet. Das müssen wir ändern.
Es ergibt keinen Sinn, dass Bund und Länder einerseits
Hochschulforschung und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen finanzieren dürfen, andererseits aber eine
gemeinschaftliche Finanzierung zum Beispiel von Hochschulen nicht erlaubt ist. Diese Schieflage gilt es zu
begradigen. Mit dieser Begradigung erreichen wir, dass
die einzelnen Länder in den Genuss einer institutionellen Förderung ihrer Hochschulen durch den Bund kommen können. Dass dieses Verfahren wissenschaftsgeleitet sein muss, sei an dieser Stelle nochmal betont.
Der Koalitionsausschuss hat am Sonntag einen sehr
sinnvollen und zielführenden Vorschlag beschlossen. In
Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz soll eine kleine
Ergänzung mit großer Wirkung erfolgen: „Einrichtungen und“ würde eingefügt. Mit dieser Ergänzung würde
die soeben geschilderte Problematik bereinigt und die
verfassungsrechtlich saubere Grundlage für ein langfristig angelegtes Engagement des Bundes geschaffen.
Ein solches ist aufgrund der weitreichenden Wirkung der
Hochschulen gerechtfertigt und erforderlich - außerdem
wird es von einer großen Vielzahl an Akteuren ausdrücklich gewünscht. Diesem berechtigten Anliegen sollten
wir nachkommen.
Mit der nun in Rede stehenden Veränderung kehren
wir nicht zur Zeit vor der Föderalismusreform 2006
zurück. Nein, wir werden mehr Möglichkeiten zur
Kooperation haben als vor der Reform. Wir geben dem
Wissenschaftsbereich einen echten Schub nach vorn und
bekommen die Gelegenheit, die Fachhochschulen und
Universitäten erheblich zu stärken. Davon wird nicht
nur die Forschung, sondern vor allem auch die Lehre
etwas haben. Das heißt, von der Veränderung werden
gerade auch die Studenten profitieren. Natürlich brauchen wir Spitzenforschung - aber eben auch Spitzenlehre: Beides unterstützen wir nachhaltiger, wenn wir
dauerhaft Einrichtungen und nicht bloß befristet angelegte Projekte fördern können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich setze mich seit Beginn meiner Zeit im Bundestag
für ein besseres Zusammenwirken von Bund und Ländern im Bildungsbereich ein. Das Kooperationsverbot
steht zielgerichteten, pragmatischen Lösungen im Wege
und lässt den Bund in einem zentralen Zukunftsfeld
außen vor. Ja, sperrt ihn aus. Deshalb habe ich mich
frühzeitig für eine Aufhebung des Kooperationsverbotes
stark gemacht. Mit dem Beschluss des Koalitionsausschusses vom Sonntag machen wir einen ersten wichtigen und richtigen Schritt hin zu einer echten Bildungspartnerschaft der staatlichen Ebenen in unserem Land.
Ich bin überzeugt, dass wir mit dem auf dem Tisch liegenden Vorschlag unsere Bildungslandschaft entscheidend voranbringen. Nun gilt es, diese wichtige Änderung nicht aus Parteitaktik zu torpedieren. Vielmehr
müssen wir gemeinsam im Gespräch von Bund und Ländern eine möglichst breite Mehrheit hier im Deutschen
Bundestag und im Bundesrat organisieren.
Es freut mich sehr, dass wir mit der nun zur Diskussion stehenden Kompromissformulierung für den
Wissenschaftsbereich einen Vorschlag beraten, den
unser bayerischer Wissenschaftsminister Dr. Wolfgang
Heubisch bereits im Mai 2011 unterbreitet hat. Manchmal dauert es etwas, bis sich gute Vorschläge durchsetzen. Doch das Bohren dicker Bretter lohnt.
Über das Für und Wider des Kooperationsverbotes
haben wir uns in diesem Hause schon zu zahlreichen
Gelegenheiten ausgetauscht, sei es im Ausschuss oder
hier im Plenum. Die Argumente sind bekannt, und nun
kommt es darauf an, das als richtig Erkannte umzusetzen. Für die Ergänzung des Art. 91 b sehe ich eine breite
Mehrheit. Die grüne Bundestagsfraktion versucht mit
dem vorliegenden Antrag zu signalisieren, dass sie nicht
allein und außen vor bleiben will. Fast noch wichtiger
wäre es jedoch, wenn sich die Grünen der Unterstützung
ihrer in föderaler Wolle gewandeten „Gallionsfigur“
versichern würden.
Eigentlich weiß man gar nicht mehr, was man noch
sagen soll. Alle Oppositionsfraktionen haben seit 2010
wenigstens je zwei Anträge zur Zusammenarbeit von
Bund und Ländern auf dem Gebiet der Bildung in den
Bundestag eingebracht, drei Bundesländer haben sich
dezidiert für mehr Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern in der Bildung ausgesprochen - es werden weitere folgen -, und nun hat sich der Koalitionsausschuss
tatsächlich bewegt: Die Regierung soll noch in diesem
Jahr einen Gesetzentwurf für eine Grundgesetzänderung vorlegen, nach der der Bund mit den Ländern in
Bildungsfragen wieder gemeinsame Sache machen
kann.
Doch halt: „In der Bildung“ ist nicht ganz richtig, lediglich um die Zusammenarbeit bei Vorhaben an den
Hochschulen soll es gehen. Doch auch hier steckt der
Fehler im Detail: Frau Schavan geht es hierbei leider
nicht um die flächendeckende institutionelle Förderung
der Hochschulen, sondern wieder einmal nur um ausgewählte exzellente Standorte oder Institute. Nicht dass
eine Förderung der Hochschulen falsch wäre und nicht
dass sie über diesen Weg besser finanziert werden könnten: Aber der gesamte Bereich der schulischen Bildung
bleibt wieder außen vor. Dabei fordern inzwischen
75 Prozent der Bevölkerung, dass die Zuständigkeit für
Bildung insgesamt künftig beim Bund liegen soll. Wer
darum den Bildungsföderalismus erhalten will, der muss
sich bewegen.
Die Koalition kann sich offensichtlich nicht auf eine
Grundgesetzänderung in Sachen Schulbildung einigen.
Dabei ist seit langem klar, dass Länder und Kommunen
die anstehenden Probleme gar nicht mehr ohne Bundesbeteiligung lösen können. Nehmen wir nur den Schulbau. Jede, aber auch jede Kommune greift auf alle möglichen Finanzierungsprogramme aus dem Bund und der
EU zu, die es ermöglichen, Geld für die nötigen Schulsanierungen zu bekommen. Ohne die Verfassungsschranken könnte der Bund direkt in den Schulbau investieren.
Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung für Kinder aus armen Familien ist zwar das falsche
Instrument, um für bessere Bildung und Teilhabe für
Kinder zu sorgen, aber selbstverständlich nehmen die
Länder das Geld gern in Anspruch.
Immer lauter wird die Kritik am Auseinanderdriften
der Qualität schulischer Bildung zwischen den Ländern
trotz der vollmundig vereinbarten gemeinsamen Bildungsstandards in den Kernfächern. Sie führen aber offensichtlich noch nicht dazu, dass die Bildungsabschlüsse ohne Wenn und Aber gegenseitig anerkannt
werden. Lehrerinnen und Lehrer werden längst in den
Ländern unterschiedlich bezahlt, obwohl sie die gleiche
Arbeit leisten. Die Studienabschlüsse für Lehrerinnen
und Lehrer werden zwischen den Bundesländern nicht
ohne Weiteres anerkannt.
Neben dem Geld und bürokratischen Hürden gibt es
eben auch derart unterschiedliche Bildungsstrukturen,
dass der Umzug von Familien in ein anderes Bundesland zum Wagnis für den Schulerfolg der Kinder wird.
Die Liste der Unzulänglichkeiten beim derzeit praktizierten Wettbewerbsföderalismus ließe sich noch weiter
fortsetzen. „Kleinstaaterei“ nennt der Volksmund das.
Nicht, dass es innerhalb des föderalen Systems keine Lösung für diese Probleme geben könnte: Aber die derzeit
Agierenden sind offensichtlich unfähig, und unwillig,
welche zu finden. Sie achten eitel darauf, dass ihnen
keine Entscheidungskompetenz abhanden kommt, und
riskieren dabei das weitere Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik zwischen Nord
und Süd, zwischen Ost und West. Mit einem „Bund“ hat
das schon nichts mehr zu tun, eher mit einem „bunten
Strauß von Blüten“, die sich in der Vase nicht vertragen.
In Sachsen-Anhalt gab es - Zu- und Fortzüge zusammengerechnet - im Jahre 2010 etwa 80 000 Menschen,
die das Bundesland gewechselt haben. Aus der Bundesstatistik kann man entnehmen, dass im Jahr 2008 bundesweit mehr als 1 Million Menschen über die Grenze
des eigenen Bundeslandes umgezogen sind. Wenn nur
jeder zehnte Mensch davon ein Kind im schulpflichtigen
Alter war, dann sind mehr als 100 000 Kinder in einem
Jahr von einem Schulwechsel betroffen gewesen. Wenn
die Wanderungsbewegung so bleibt, wechseln im Laufe
Zu Protokoll gegebene Reden
eines Bildungsweges von zehn Jahren mindestens 1 Million Schülerinnen und Schüler in ein anderes Bundesland. Wer das ignoriert, handelt verantwortungslos.
Es ist schon ein Kreuz mit den Bildungspolitikerinnen
und -politikern aller Parteien und aller Bundesländer,
dass sie sich nicht auf Lösungen verständigen können,
die die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in der
Bildung sicherstellen, ohne die Bildungshoheit der Länder zu gefährden.
Warum kann man nicht wie vor 48 Jahren beschließen, dass die Bildungsabschlüsse aus anderen Bundesländern anerkannt werden? Punkt. Warum kann man
nicht sichern, dass bei einem Umzug nicht noch einmal
teure Schulbücher gekauft werden müssen? - Eine
grundgesetzlich garantierte Lernmittelfreiheit könnte da
helfen. - Warum kann man in Fragen der Schülerbeförderung nicht für alle Kinder gleichwertige Bedingungen
schaffen, wie es für einen stark benachteiligten Kreis
von Kindern durch das Bildungs- und Teilhabepaket
jetzt geschieht? Warum kann man nicht soziale Mindeststandards - etwa Schülerbeförderung, Lernmittel und
Schulessen - setzen, die Geleichwertigkeit garantieren,
von denen die Länder wie beim Kinder- und Jugendhilferecht nur nach oben abweichen können?
Wenn man mittels Bildungsföderalismus eine Vielfalt
in der Bildungslandschaft zulässt: Warum kann man
dann nicht die eingrenzenden Regelungen und bürokratischen Anerkennungsvoraussetzungen einfach fallen
lassen und Vielfalt auch anerkennen? Gäbe es eine Gemeinschaftsschule in allen Bundesländern, gäbe es sicher nicht weniger Vielfalt. Aber dann wäre ein Schulwechsel ein viel geringeres Problem. Denn wären diese
Schulen inklusive Schulen, wäre auch genügend Möglichkeit zur individuellen Förderung vorhanden, um
eventuelle Unterschiede in den Bildungsinhalten auszugleichen. Aber das braucht ja noch eine ganze Weile.
So wie die Sache jetzt läuft, müssen junge Menschen
und ihre Familien ausbaden, was die Kultusbürokratien
und die Länder nicht regeln wollen. Darum ist der Stadt
Hamburg sowie den Ländern Sachsen-Anhalt und
Schleswig-Holstein zu danken, dass sie die Debatte im
Bundesrat angestoßen haben. Frau Kraft aus Nordrhein-Westfalen hat auch ihre Bereitschaft signalisiert.
Wir hoffen, es kommen noch mehr Landesregierungen
und Länderparlamente zu dieser Einsicht, und wir hoffen, es kommt dann auch zu einer Einigung über Ländergrenzen hinweg, die dem Bildungschaos endlich ein
Ende bereitet.
Als bildungs- und hochschulpolitischer Sprecher der
grünen Bundestagsfraktion freue ich mich, dass unser
Antrag zur Modernisierung des Bildungsföderalismus
hier und heute diskutiert wird. Damit bringen wir eine
weitere Vorlage für die Anhörung des Bildungsausschusses am 19. März zur Abschaffung des Kooperationsverbots in den Bundestag ein.
Unsere konkreten Vorschläge, wie das verfassungsrechtliche Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich und die Kooperationshürden in
der Wissenschaft endlich überwunden werden können,
kommen dabei genau zur richtigen Zeit. Denn in den
letzten Monaten ist endlich Bewegung in die Debatte
über neue Kooperationswege gekommen. CDU, CSU
und SPD haben in der Föderalismusreform 2006 den
Bund aus der Mitverantwortung und Mitfinanzierung
des Schul- und Bildungsbereichs herausgedrängt. Während die SPD diesen Fehler nun dankenswerterweise
einsieht und zu korrigieren versucht, muss die Einsicht
bei der Unionsfraktion noch reifen.
Dabei gibt es zahlreiche wissenschaftliche Belege,
dass zum Beispiel das Ganztagsschulprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ Kindern und Jugendlichen - gerade aus bildungsfernen Familien - vielfältig
unterstützt: Schulfreude, Motivation und Lernleistungen
steigen in guten Ganztagsschulen. Seit der Verfassungsänderung 2006 sind solche wichtigen Initiativen für
Chancengleichheit nicht mehr möglich. Stattdessen wird
der Bund zu absurden Umwegen gezwungen. Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund
auferlegt, die Teilhabe von Kindern aus Hartz-IV-Familien zu unterstützen.
Was dabei herauskam, ist mit „Bürokratiemonster“
leider weitaus besser beschrieben als mit „Bildungsund Teilhabepaket“. Weil die Bundesmittel den Schulen
nicht direkt zufließen dürfen, müssen die Eltern zum
Jobcenter und dort immer wieder die Leistungen beantragen. Die Schulen wiederum bekommen nicht etwa
Mittel, um verstärkt individuelle Förderung anbieten zu
können. Im Gegenteil: Lehrerinnen und Lehrer müssen
stattdessen Bescheinigungen über die Notwendigkeit der
Förderung ausstellen. Weil zwischen Bund und Ländern
nichts geht, fließen öffentliche Bundesmittel an private
Träger - anstatt das öffentliche Schulwesen der Länder
zu stärken. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir
im Bereich der leistungsschwächeren Schülerinnen und
Schüler im PISA-Vergleich nur kleine Fortschritte
machen.
Die entscheidenden Fragen in unserer Debatte müssen doch sein: Wie erhöhen wir die Bildungs- und
Teilhabechancen aller Kinder und Jugendlichen? Wie
lösen wir gemeinsam die großen bildungs- und wissenschaftspolitischen Herausforderungen und bauen eine
echte Bildungsrepublik? Welche verfassungsrechtlichen
Grundlagen brauchen wir, um die notwendige strategische und gesamtstaatliche Kooperation bei den großen
Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftsfragen zu ermöglichen? Wie muss unser Grundgesetz ausgestaltet
sein, damit es weder umgangen wird noch Bildungsblockaden bewirkt?
Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat müssen
endlich die Konsequenzen daraus ziehen, dass sich das
Kooperationsverbot nicht bewährt, sondern geschadet
und dazu geführt hat, dass das Grundgesetz umgangen
wurde und wird. Als Antwort auf diese Fragen fordern
wir mit unserem Antrag die Aufhebung des Kooperationsverbots bei Bildung und Wissenschaft. In beiden
Bereichen sind dringend neue Kooperationswege und
eine Vertrauenskultur zwischen Bund und Ländern erZu Protokoll gegebene Reden
forderlich. Die immensen sozialen, ökonomischen und
sozialen Herausforderungen machen doch überdeutlich,
dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und
Wirtschaft von der Leistungsfähigkeit und Qualität unseres Bildungs- und Wissenschaftssystems abhängt.
Denken Sie nur an Fachkräfte- und Akademikermangel,
an Schulabbruch- und Analphabetismusquoten, an Integrations- und Inklusionsdefizite.
Wir brauchen eine Debatte über die Wege, wie wir
Zusammenarbeit ermöglichen wollen. Das geht einerseits über eine Änderung des Art. 91 b Abs. 2 Grundgesetz, dergestalt, dass Bund und Länder zur „Sicherstellung der Leistungsfähigkeit und der Weiterentwicklung
des Bildungswesens und zur Förderung der Wissenschaft auf der Basis von Vereinbarungen zusammenarbeiten“ können.
Daneben, alternativ oder besser additiv, ist ein neuer
Art. 104 c sinnvoll, der Finanzhilfen ermöglicht und
zwar dergestalt, dass der Bund den Ländern „auf der
Basis von Vereinbarungen befristete oder dauerhafte
Finanzhilfen zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeit
und der Weiterentwicklung des Bildungswesens sowie
der Wissenschaft gewähren“ kann. Diese Grundgesetzänderungen sind aus unserer Sicht so auszugestalten,
dass die auf deren Grundlage jeweils zwischen Bund
und Ländern zu treffenden Vereinbarungen der Zustimmung einer Dreiviertelmehrheit der Länder bedürfen.
Denn wir wollen nicht zurück zum Zustand, dass ein
Land alle anderen ausbremsen kann.
Es gibt diesbezüglich Stimmen, die warnen, dass es
der Bildung und Wissenschaft nicht nützen werde, wenn
die Verfassung wieder Vereinbarungen von Bund und
Ländern ermögliche, weil dann wieder ausufernde Verhandlungsrunden der Exekutive anstehen. Dem halte ich
entgegen, dass wir alle aus diesen Jahren des Verbotes
gelernt haben sollten. Der Reform- und Finanzierungsdruck haben zugenommen. Wir haben Jahre verloren, in
denen andere Bildungssysteme sich weiterentwickelt
haben. Außerdem setzen wir Grüne ja gerade auf das
Mehrheitsprinzip bei den Vereinbarungen, sowohl auf
Bundes- wie auf Länderseite. Vetospieler, die allen anderen ihren Willen aufzwingen, wollen wir nicht. Deswegen kein Einstimmigkeitsprinzip auf Länderseite.
Und zu denen, die meinen, dass eine Umwidmung von
Umsatzsteuerpunkten nach Art. 106 Grundgesetz die
Lösung bringen werde: Zeigen Sie mir den Landeshaushalt, der auch nur für die nächsten fünf Jahre gewährleisten kann, dass Umsatzsteuerpunkte, die der Bildung
zugutekommen sollen, nicht letztlich in Schlaglöchern,
Haushaltslöchern oder in Lehrerpensionen landen.
Der Vorschlag des schwarz-gelben Koalitionsausschusses ist dagegen kleinmütig und reicht nicht aus.
Bundesbildungsministerin Schavan springt mit ihrem
Vorschlag, nur klitzekleinen Ergänzung des Art. 91 b lediglich um „Einrichtungen“ der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen vorzunehmen, viel zu kurz. Die
Herausforderungen der Zukunft liegen nicht nur im
Bereich der Wissenschaft, sondern gerade auch in der
Bildung. Anstatt die Bund-Länder-Zusammenarbeit auf
die Wissenschaft zu begrenzen, muss jetzt die historische
Chance auf eine neue Kooperationskultur auch im
Schul- und Bildungsbereich genutzt werden. Eine echte
„Bildungsrepublik“ braucht eine breite und gute Basis
vor allem in den Schulen, damit die Wissenschaft überhaupt leistungsfähig sein kann.
Wir unterstreichen daher unsere jahrelange Forderung: Das Grundgesetz muss so geändert werden, dass
gemeinsames Handeln von Bund und Ländern auch in
der Bildung ermöglicht wird. Es ist eine geradezu
bizarre Situation, dass wir Schulen in Jakarta und
Washington ({0})finanzieren dürfen, nicht aber in Bremen oder Bochum. Eine Basta- oder Verweigerungshaltung der Koalition wäre politisch unvernünftig. Wer eine
breite Zustimmung im Parlament und Bundesrat erreichen muss, sollte jetzt einen Prozess für eine breit getragene Verhandlungslösung in Gang setzen. Ministerin
Schavan muss jetzt auf die Opposition und auf die
Länder zugehen und ein transparentes Verfahren organisieren, um kluge und konsensfähige Lösungen zu erarbeiten, die im Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit finden können.
Wir schlagen dafür vor, einen Reformkonvent einzuberufen, der den Bildungs- und Wissenschaftsbereich
gleichermaßen in den Blick nimmt. Es ist an der Zeit,
einen großen Wurf für mehr Kooperation zu wagen, anstatt auf dem kleinsten gemeinsamen Koalitionsnenner
zu verharren. Für uns ist klar: Ein Ergebnis, dass der
Bund Milliarden in die Nachfolgefinanzierung von
Eliteunis schiebt, aber weiter keinen Cent in Schulen in
sozialen Brennpunkten investieren darf, überzeugt nicht.
Auch die Förderung der Wissenschaft braucht mehr: Sie
muss auch Studienplatzaufbau, Infrastruktur- und Hochschulbau sowie Hochschulgrundfinanzierungsprobleme
angehen, nicht allein internationale Leuchttürme herausputzen. Eine gesamtstaatliche Anstrengung für eine
bessere individuelle Förderung aller Kinder und
Jugendlichen heute bringt uns die Bildungsgerechtigkeit
und die Innovationskraft von morgen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8902 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sie sind damit einverstanden? - Niemand widerspricht.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Ilja Seifert,
Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Fristen
für die Feststellung der Behinderung und die
Erteilung des Ausweises
- Drucksache 17/6586 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/8445 Vizepräsident Eduard Oswald
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Molitor
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor.
Im Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke wird gefordert, die aktuell geltenden Fristen für die Feststellung
der Schwerbehinderteneigenschaft von Menschen mit
einer oder mehrfachen Behinderungen, die erwerbstätig
sind, auf alle Feststellungen der Schwerbehinderteneigenschaft auszudehnen.
In der Tat erreichen uns immer wieder Beschwerden
über zu lange Bearbeitungszeiten. Auch ich kenne
Beispiele, wo die Entscheidung erst nach 14 oder 15 Wochen den Antragsteller erreicht hat. Das ist für die
Betroffenen kaum akzeptabel; denn der Schwerbehindertenausweis ist als Nachweis notwendig, um Nachteilsausgleichsregelungen in Anspruch nehmen zu können. So ist zum Beispiel auch die Inanspruchnahme des
besonderen Kündigungsschutzes von der Vorlage der
Schwerbehindertenbestätigung kausal abhängig.
Die Initiatoren des Gesetzentwurfes wollen nunmehr
eine Frist von fünf Wochen für die Ausstellung des
Dokuments festschreiben. Dem Bund wird dabei aufgetragen, die entsprechenden Ressourcen zu schaffen, und
zwar mit der Begründung, die Gesamtverantwortung für
die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu
haben.
Aktuell sind die Fristen für die Entscheidung über
Anträge erwerbstätiger Personen in § 14 SGB IX beschrieben. Danach ist die Behinderung innerhalb von
drei Wochen nach Antragseingang festzustellen, wenn
die Situation klar ist und ein Gutachten für die Feststellung nicht erforderlich ist.
Ist aber ein Gutachten eines Sachverständigen notwendig, hat das Versorgungsamt unverzüglich einen geeigneten Sachverständigen zu beauftragen. Dieser hat
innerhalb von zwei Wochen nach der Beauftragung
durch das Versorgungsamt das Gutachten zu erstellen.
Das Versorgungsamt entscheidet dann innerhalb von
zwei Wochen nach Vorlage des Gutachtens. Diese geltende Regelung ist ein Ergebnis des Vermittlungsverfahrens zum Gesetz zur Förderung der Ausbildung und
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen aus dem
Jahr 2004. Die Bundesregierung hat damals eigentlich
die Fristen so vorgeschlagen, wie es jetzt die Fraktion
Die Linke fordert. Aber der Bundesrat hat sich gegen
diese Frist ausgesprochen, und das vor allem aus haushaltswirtschaftlichen Erwägungen. Das Argument war
damals, dass die tatsächlichen Fristen weit über den geforderten liegen und eine Veränderung nur mit erheblichen Personalaufstockungen möglich sei. Wie gesagt, im
Vermittlungsverfahren wurde dann also eine Einigung
auf Fristen allein für erwerbstätige schwerbehinderte
Menschen erzielt. So ist sichergestellt, dass schwerbehinderte Menschen in einem Arbeitsverhältnis alle erforderlichen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
erhalten können. Das ist nicht nur eine Klarstellung der
Rechtsposition des Arbeitnehmers, sondern ist auch mit
sicheren Vorgaben für den Arbeitgeber verbunden, der
damit seine Beschäftigungspflicht kennt, klare Erkenntnisse zur Ausgleichsabgabe bzw. bei der Anrechnung auf
die Zahl der Pflichtarbeitsplätze hat und den Zusatzurlaub sowie den besonderen Kündigungsschutz kennt.
Aber immer wieder war diese Regelung Gegenstand
von Anfragen und politischen Diskussionen. In diesem
Zusammenhang fanden auch Abfragen bei den Ländern
über die Bearbeitungsdauer statt. In der Summe werden
rund 10 Wochen Bearbeitungszeit angegeben. Lediglich
in Berlin mit 22 Wochen, in Sachsen mit 24 Wochen und
in Thüringen mit 26 Wochen sind die Fristen unakzeptabel länger.
Hier liegt also nicht die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung vor, sondern hier sind Vollzugsprobleme in
den Ländern zu hinterfragen. Wir können dem vorliegenden Gesetzesvorschlag aus diesen ordnungspolitischen Gründen nicht zustimmen.
Unabhängig davon ist es der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein großes Anliegen, in Zeiten guter wirtschaftlicher Entwicklung insbesondere auch Menschen mit
einer Behinderung die Chancen auf dem Arbeitsmarkt
zu ihren Gunsten angedeihen zu lassen. Dafür sind vielfältige Förderinstrumente vorgesehen, die vor Ort entsprechend der individuellen Situation der betroffenen
Menschen zum Einsatz kommen sollten. Dafür brauchen
wir das Verständnis und die Einstellungsbereitschaft der
Unternehmen. Dafür brauchen wir aber auch eine
schnell und unbürokratisch arbeitende Verwaltung in
den jeweiligen Institutionen. Und deshalb werden wir
vor Ort weiterhin diese Entwicklung kritisch und konstruktiv begleiten.
Der ernst gemeinte Einsatz für die Belange von
Behinderten ist sehr ehrenwert und zu begrüßen. Die
gesellschaftliche Teilhabe von Behinderten in unserer
Gesellschaft ist sehr weit fortgeschritten. Die christlichliberale Koalition will die Inklusion. Wir wollen, dass
auch der Behinderte in seiner Individualität von der
Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in
vollem Umfang an ihr teilzuhaben und teilzunehmen.
In diesem Bemühen sind wir schon weit gekommen,
aber noch lange nicht am Ende. In meinem Wahlkreis
kämpfen wir im Moment für die barrierefreie Sanierung
des Bahnhofes in Donauwörth. Dies ist auch mit erheblichen Kosten verbunden. Die DB AG und unser Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer sind bereit, für
diese Sanierungsprogramme viel Geld in die Hand zu
nehmen. Dies zeigt, dass wir nicht nur die Inklusion fordern, sondern auch bereit sind, dafür die nötigen Gelder
zu geben.
Es gibt noch viele Punkte und Bereiche, wo es Veränderungsbedarf gibt. Aber wir verbessern aktiv die Situation der Behinderten in unserer Gesellschaft. Im Zentrum steht das Ziel, die gleichberechtigten Chancen der
Behinderten zur gesellschaftlichen Teilhabe in allen
Zu Protokoll gegebene Reden
Lebensphasen zu realisieren, bei Reisen, auf der Arbeit,
in der Schule, bei Arzt- und Krankenhausbesuchen etc.
Bei diesem Ansatz begrüßen wir jede hilfreiche
Unterstützung. Der Antrag der Linken ist jedoch kontraproduktiv. Ihre Forderung nach einer endgültigen Bearbeitung der Behindertenanträge in höchstens fünf
Wochen widerspricht jeder gründlichen und medizinisch
begründeten Bearbeitung. Sicherlich gibt es eindeutige
Fälle, in denen die Behinderung und auch der Grad der
Behinderung sehr schnell festgestellt werden können.
Aber das ist nicht immer der Fall. Wir müssen den Sachbearbeitern die Möglichkeit geben, die notwendigen
Gutachten bei den Ärzten anzufordern und dann auch
medizinisch auszuwerten. Im Zweifelsfall muss sich der
Sachbearbeiter auch persönlich mit den Antragstellern
unterhalten und sich vor Ort ein Bild machen. Diesen
sensiblen Vorgang unnötig unter einen Zeitdruck zu stellen, ist sicherlich nicht im Sinne der Betroffenen, ist
sicherlich nicht im Sinne der Behinderten.
Nachprüfenswert ist in diesem Zusammenhang,
warum die Bearbeitung der Behindertenanträge in den
neuen Bundesländern erheblich länger dauert als in den
alten Bundesländern. Hier sollte nachgeforscht und eine
einheitliche Verfahrensweise mit ähnlichen Bearbeitungszeiten in ganz Deutschland herbeigeführt werden.
Aber auch da hat der Bund kein Weisungsrecht. Für
Vollzugsprobleme der Kommunen sind die Länder die
entsprechenden Ansprechpartner. Das sollten auch die
Kolleginnen und Kollegen der Linken wissen. Es handelt
sich also mal wieder um einen Scheinantrag.
Zur Weiterentwicklung des inklusiven Ansatzes haben
wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, die im
Rahmen des SGB IX Veränderungsvorschläge erarbeitet, die den Behinderten die gesellschaftliche Teilhabe
erleichtern. Ich fordere Sie deshalb auf: Werfen Sie Ihren Antrag in die Tonne und arbeiten Sie konstruktiv an
dem inklusiven Ansatz mit.
Der Gesetzentwurf der Linksfraktion, über den wir
heute zu befinden haben, hat das Ziel, die Bearbeitungszeit für die Feststellung des Grades der Behinderung
und die Erstellung des Ausweises zu verringern. Das
Ziel begrüßen wir ausdrücklich; denn Menschen mit
Behinderung warten mitunter Monate auf die Ausstellung des Ausweises, der ihnen die Nachteilsausgleiche
erst gewährt.
Bisher wird nur für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft erwerbstätiger Personen eine
Frist im Sozialgesetzbuch IX gesetzt. Diese bestimmt
aber noch nicht, bis wann der Ausweis tatsächlich ausgestellt werden muss. Daher schlagen die Autoren des
Gesetzentwurfs vor, diese Frist auf alle Vorgänge zur
Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft auszuweiten und zudem eine Frist von fünf Wochen zur Ausstellung des Ausweises einzuführen.
Ob die Einführung einer starren Frist jedoch geeignet ist und auch tatsächlich zu einer Verbesserung der
Situation der Betroffenen führt, sehe ich durchaus kritisch. Was wir brauchen, ist eine umfassende Revision
der Instrumente des Sozialgesetzbuches IX und eine Wirkungsforschung, die den Namen auch verdient. Letztlich
hat die Regierung in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention auch angekündigt, das SGB IX einer solchen Überprüfung zu unterziehen. Warum man damit aber bis zur kommenden Legislaturperiode warten will, bleibt das Geheimnis der
Bundesregierung. Ich kann Ihnen nur raten, keine weitere Zeit zu verlieren, sondern endlich zu handeln!
Es ist nicht nur wie auch im Aktionsplan angekündigt
wichtig, die Versorgungsmedizinverordnung anzupassen, die Begutachtung zu vereinheitlichen und den
Schwerbehindertenausweis auf Bankkartenformat anzupassen. Es muss eben auch die Wirkung des gesamten
Systems unter die Lupe der UN-Behindertenrechtskonvention gelegt werden. Es gibt weitere bekannte Missstände in der Versorgungsverwaltung, wie bundesweit
unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe, geringe Honorare für Entscheidungen nach Aktenlage und für die
Betroffenen intransparente Verfahren. Man sollte daher
das Anliegen des Gesetzentwurfs aufnehmen und prüfen.
Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Ursachen für die lange Bearbeitungsdauer, die sehr unterschiedlich sein können. Die Regierung ist hier gefordert,
einen Prüfauftrag in den Nationalen Aktionsplan zur
Umsetzung der UN-BRK aufzunehmen und eine umgehende Umsetzung bzw. eine Beschleunigung der bereits
enthaltenen Vorhaben in die Wege zu leiten.
Menschen mit Behinderungen wollen ein selbstbestimmtes und freies Leben führen. Dies zu ermöglichen,
ist eine politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Der Schwerbehindertenausweis, der sich in Deutschland auf eine lange Tradition stützt, ist ein wichtiges Instrument, um Menschen mit Schwerbehinderung die
Teilhabe zu erleichtern. In ihm wird der Grad der Behinderung festgehalten. Er ist Voraussetzung für die Gewährung von Nachteilsausgleichen und Rechten wie
zum Beispiel dem Kündigungsschutz. Der Ausweis muss
beantragt und eine Schwerbehinderung muss festgestellt
werden. Zuständig für dieses Verfahren sind die Länder.
Leider zieht sich die Bearbeitungsdauer in einigen Regionen in die Länge.
Der Schwerbehindertenausweis wird beim zuständigen Versorgungsamt beziehungsweise Landesamt beantragt. Hier müssen in einigen Regionen Deutschlands
Verbesserungen erreicht werden. Bei der Bearbeitungsdauer zeigt sich ein deutliches Ost-West-Gefälle. Während in Thüringen die Bearbeitung 26 Wochen dauert
und in Sachsen 24 Wochen, erhalten im bundesweiten
Durchschnitt Menschen mit Behinderung nach 10 bis
12 Wochen ihren Ausweis.
Die kritisierte Bearbeitungsdauer betrifft also weder
alle Bundesländer noch alle Menschen, die einen Antrag
auf einen Schwerbehindertenausweis stellen. Nach geltendem Recht ist über Anträge erwerbstätiger Personen
innerhalb von drei Wochen zu entscheiden. Nur wenn ein
Zu Protokoll gegebene Reden
Gutachten für die Feststellung der Schwerbehinderung
notwendig ist, verlängert sich die Frist.
Die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen ist für Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen gedacht. Diese müssen eingehend
geprüft werden. Dafür werden ärztliche Gutachten und
weitere Dokumente benötigt. Eine gewissenhafte Prüfung ist notwendig und im Sinne unseres Solidaritätsprinzips. Die Probleme der langen Bearbeitungsdauer
gilt es also vor Ort in den Ländern zu beheben. Darüber
hinaus besteht die Möglichkeit, die „Schwerbehinderung“ rückwirkend feststellen zu lassen. So entsteht zum
Beispiel auch ein rückwirkender Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Arbeitnehmer.
Die Fraktion Die Linke fordert nun die Bundesregierung auf, eine Fünfwochenfrist im SGB IX einzuführen.
Verantwortlich für die Ausweiserstellung sind aber einzig und allein die Bundesländer und die Kommunen. Es
bestehen keine Aufsichts- oder Weisungsrechte seitens
des Bundes. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist
schlicht falsch adressiert.
Für die FDP-Bundestagsfraktion besteht kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Wir sehen auch keine
Möglichkeit zur gesetzlichen Einführung einer Fünfwochenfrist durch den Bund. Es ist Aufgabe der Länder, auf
die Beschleunigung des Ausstellungsverfahrens hinzuwirken. Der Antrag der Linken verfolgt lediglich das
Ziel, den Ländern klare Verantwortlichkeiten abzunehmen.
An den dafür anfallenden Kosten will die Fraktion
Die Linke den Bund in unbekannter Höhe beteiligen und
beruft sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention.
Ein Menschenrechtsdokument sollte nicht dazu missbraucht werden, mit falsch adressierten und dazu nicht
umsetzbaren Forderungen Wählerstimmen zu erhaschen. Hinzu kommt, dass die Einführung einer allgemeinen Frist im Gesetzgebungsverfahren bereits 2004
am Bundesrat mit dem Hinweis auf dadurch entstehende
zusätzliche Personalkosten gescheitert ist. Diese politischen und organisatorischen Wahrheiten lässt die Linke
einfach unter den Tisch fallen.
Wir Liberale treten dafür ein, dass Menschen mit Behinderung schnell und unbürokratisch Hilfe erhalten.
Wir sind mit dem Nationalen Aktionsplan, NAP, ein großes Stück vorangekommen. Der NAP ist mit seinen insgesamt 213 Projekten ein Motor für Veränderungen, der
einen inklusiven Prozess anstößt. Im internationalen
Vergleich nimmt Deutschland mit der Umsetzung der
UN-Konvention und dem Nationalen Aktionsplan eine
Vorreiterrolle ein. Selbstverständlich werden wir auch
weiterhin mit großem Einsatz an der Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention arbeiten, um Inklusion
und eine umfassende Teilhabe zu verwirklichen. Dabei
befassen wir uns im Deutschen Bundestag mit Fragen,
die in unserem Verantwortungsbereich liegen.
Für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention braucht es jedoch die Mitwirkung aller. Eine inklusive Gesellschaft lebt von der Vielfalt der Menschen.
Viele Menschen mit Behinderung wollen nicht, dass allein ihre Behinderung wahrgenommen wird. Menschen
mit Behinderung sind in erster Linie Menschen.
Der Bundestag entscheidet heute über eine Frage, die
jedes Jahr Hunderttausende Menschen betrifft. Wir haben in Deutschland fast 10 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Das ist im
Durchschnitt jeder neunte Einwohner bzw. jede neunte
Einwohnerin. Wenn diese ihren Schwerbehindertenausweis beantragen oder den Grad ihrer Behinderung neu
feststellen lassen wollen, müssen sie auf einen neuen
Ausweis oft sehr lange warten. Vor Jahren machten mich
betroffene Bürgerinnen und Bürger auf dieses Problem
aufmerksam.
Vielfach gibt es für die Ausstellung von Ausweisen
und Dokumenten klare Bearbeitungsfristen, nicht aber
für die Ausstellung von Schwerbehindertenausweisen.
Deshalb machte ich dieses Problem zum Gegenstand einer Anfrage an die Bundesregierung. Diese veranlasste
daraufhin eine Umfrage bei den Ländern. Das Ergebnis
war schockierend: In Sachsen warteten 2009 Menschen
mit Behinderung durchschnittlich 24 Wochen, bis sie ihren Ausweis ausgestellt bekamen. Damit bildete Sachsen
gemeinsam mit Thüringen den traurigen Spitzenreiter
bei den Wartezeiten. Doch auch in anderen Bundesländern müssen die Betroffenen sehr lange Wartezeiten in
Kauf nehmen. Bundesweit waren es nach den Ergebnissen der damaligen Länderumfrage im Schnitt knapp
14 Wochen. Und wie gesagt, es handelt sich hierbei um
Durchschnittswerte. Mir wurden noch extremere Fälle
überliefert, etwa der einer 80-jährigen Bürgerin aus
Zwickau, die ein Jahr auf ihren Schwerbehindertenausweis warten musste. Mir ist sogar ein Fall bekannt, bei
dem ein Antragsteller bereits verstarb, bevor der Ausweis nach etlichen Monaten ausgestellt wurde. Auch
viele Berufstätige, die Anträge auf Neufeststellungen der
Behinderung bzw. des Behinderungsgrades stellen, haben mit dem Problem zu kämpfen.
Solche Zustände dürfen nicht hingenommen werden.
Menschen benötigen diesen Ausweis dringend, um alltägliche Hindernisse wenigstens etwas abzumildern. Die
Bundesregierung nimmt die Haltung ein, sie sei für die
Lösung des Problems nicht verantwortlich, und verweist
auf die Zuständigkeit der Länder. Diese wiederum sehen
sich selbst nicht verantwortlich, und so wird bis heute
das Problem zwischen Bund, Land und Kommunen hinund hergeschoben - zulasten der Betroffenen.
Deshalb ist eine gesetzliche Regelung unabdingbar.
Der heute von der Linken eingebrachte Gesetzentwurf
schlägt vor, bundeseinheitlich eine Bearbeitungsfrist von
fünften Wochen festzuschreiben. Die Betroffenen hätten
damit einen Rechtsanspruch, den sie geltend machen
könnten. Wir wollen im Neunten Sozialgesetzbuch eine
Frist von fünf Wochen festschreiben, innerhalb derer der
Antragsteller nach Eingang des Antrags über die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. des
Grades der Behinderung schriftlich informiert wird und
den Schwerbehindertenausweis erhält. Ähnlich ist es
derzeit schon bei der Feststellung der PflegebedürftigZu Protokoll gegebene Reden
keit im Elften Sozialgesetzbuch geregelt. Dieses sieht
eine Fünfwochenfrist vor, innerhalb derer der Antragsteller eine schriftliche Mitteilung der Pflegekasse erhalten muss. Mit dieser gesetzlichen Änderung entstände
politischer Handlungsdruck für die verschiedenen Ebenen von Bund, Land und Kommune, obwohl sie das Problem auch sehen.
Es ist traurig, dass Union und FDP in den Ausschüssen gegen unseren Gesetzentwurf gestimmt haben, und
dies wahrscheinlich auch heute tun werden. Kein Verständnis habe ich auch für die angekündigte Stimmenthaltung der SPD. Hat diese dazu keine Meinung?
Für mich und die Linke ist klar: Es geht hier auch um
die Frage gesellschaftlicher Teilhabe. Die 2009 in Kraft
getretene UN-Behindertenrechtskonvention zielt in ihren
Grundsätzen darauf ab, Menschen mit Behinderungen
nicht zu diskriminieren und ihnen eine volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Die
schnelle und zügige Ausstellung von Schwerbehindertenausweisen ist ein ganz konkreter Punkt, an dem diese
Forderung umgesetzt werden kann. Der Bundestag kann
nun zeigen, ob er nur allgemeine Erklärungen verabschieden oder wirklich etwas ändern will.
Wer aufgrund einer Beeinträchtigung Unterstützung
braucht, um beispielsweise bei der Bahnfahrt in den Zug
zu gelangen, kann nicht zu jeder Zeit mit der Bahn fahren. Früh morgens an einem kleinen Bahnhof stehen die
Chancen schlecht, dass Mitarbeiter der Bahn vor Ort
sind. Menschen mit Behinderungen müssen, weil sie immer wieder auf Barrieren stoßen, häufig einen hohen
Organisationsaufwand betreiben und haben auch erhöhte finanzielle Aufwendungen. Aus diesem Grund gibt
es in verschiedenen Bereichen Nachteilsausgleiche für
Menschen mit Behinderungen. Im Zusammenhang mit
der Bahn ist das beispielsweise das Recht auf die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr. Beim Nachteilsausgleich handelt es sich weder um ungerechte Vergünstigungen noch um Subventionen oder gar Privilegien.
Der Staat federt damit lediglich die erhöhten Aufwendungen von Menschen mit Behinderungen teilweise ab.
Damit Menschen mit Behinderung diese Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen können, müssen sie ihre
Behinderung mit einem Schwerbehindertenausweis nachweisen. Um diesen Ausweis zu bekommen, können sie auf
Grundlage von § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch,
SGB IX, einen Antrag auf Feststellung des Grads der Behinderung und Ausstellung eines Schwerbehindertenbzw. Behindertenausweises stellen. Die in § 14 SGB IX
festgelegten Fristen müssen allerdings nur eingehalten
werden, wenn eine erwerbstätige Person einen Antrag
stellt. Menschen mit Behinderungen, die nicht erwerbstätig sind, müssen unter Umständen lange auf die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises warten. Es
gibt Fälle, in denen die Bearbeitung ein halbes Jahr dauert. Das ist nicht überall der Fall, eine zeitnahe Bearbeitung ist im Prinzip also möglich.
Die Linksfraktion möchte mit ihrem Gesetzentwurf
eine Frist von fünf Wochen zur Ausstellung des Ausweises festschreiben. Diesem Anliegen stimmen wir als
Grünen-Fraktion gerne zu. Die Beschlussempfehlung
des Ausschusses lehnen wir dementsprechend ab.
Wir kommen damit gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8445, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/6586 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Das sind die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Hans-Christian Ströbele, Wolfgang
Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste
- Drucksache 17/8797 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({1})
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor.
Einzelne Abgeordnete der Fraktion Die Linke werden
von Verfassungsschutzbehörden unter verfassungsschutzrechtlichen Gesichtspunkten offen beobachtet.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nimmt
dies zum Anlass, ein totales Zerrbild zu zeichnen und die
für jede Demokratie wichtige Aufgabe des Schutzes der
eigenen Verfassung zu diskreditieren und in Kernbereichen infrage zu stellen.
Die Verfassungsschutzbehörden sprechen zu Recht
von offener Beobachtung. Das heißt, es geht nicht um
die deutschen Geheimdienste allgemein. Das heißt, es
geht nicht um Überwachung, also persönliche Überwachung von Abgeordneten. Dass heißt, es geht auch nicht
um das Immunitätsrecht.
Ich wiederhole: Der Antrag zeichnet bewusst ein
politisches Zerrbild. Warum ausgerechnet die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen den öffentlichen Versuch unternimmt, sich schützend vor mehrfach durch Verfassungsschutzbehörden und Gerichte festgestellte kommunistische, marxistische und antidemokratische Bestrebungen
von Teilen der SED-Nachfolgepartei Die Linke zu stellen, ist für mich in keiner Weise nachvollziehbar.
Gemäß § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ist
es Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes
und der Länder, Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und
Unterlagen, über Bestrebungen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, den Bestand oder
die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet
sind, zu sammeln und auszuwerten. Dieser gesetzliche
Auftrag gilt selbstverständlich auch mit Blick auf die
Linkspartei und ihre Führungsspitze. Diese Aufgabe ist
Ausfluss des Grundsatzes der wehrhaften Demokratie,
ein tragendes Prinzip unseres Grundgesetzes. Und dieser Grundsatz richtet sich gleichermaßen gegen rechtsund linksextremistische Verfassungsfeinde.
Die in die Partei PDS und danach in die Partei Die
Linke umbenannte SED wird seit langem vom Verfassungsschutz beobachtet, auch schon unter der rot-grünen Bundesregierung. Es ist auch bekannt, dass zu den
Beobachteten auch Abgeordnete dieser Partei gehören.
Zudem ist es juristisch eindeutig geklärt, dass eine
solche offene Beobachtung auch von Abgeordneten
rechtens ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat folgerichtig festgestellt, dass es keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz gibt, dass Maßnahmen gegen Abgeordnete nur mit Zustimmung des Parlaments
zulässig seien. Soweit Abgeordnete von der Tätigkeit des
Bundesamtes für Verfassungsschutz betroffen seien,
bedarf diese Konkretisierung keines Gesetzes, das ein
Tätigwerden gerade gegenüber Abgeordneten erlaube.
Mit dem Immunitätsrecht hat es zudem gar nichts zu tun.
Das Immunitätsrecht erstreckt sich auch nach dem Wortlaut des Grundgesetzes auf zwei Fallgruppen: Genehmigungspflichtig durch den Deutschen Bundestag sind erstens die Verfolgung einer mit Strafe bedrohten Handlung
und zweitens alle anderen Beschränkungen der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten.
Aber nochmals zum eigentlichen Thema des Tätigwerdens des Verfassungsschutzes gegenüber Vertretern
der Partei Die Linke. So hat zum Beispiel das OVG
Münster in einer Entscheidung ausführlich und überzeugend dargelegt, dass - Zitat - „die Parteien PDS, Linkspartei.PDS und heute Die Linke Bestrebungen verfolgten und weiterhin verfolgen, die darauf gerichtet sind,
die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, das
Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, die Ablösbarkeit der Regierung und
ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung
sowie das Recht des Volkes, die Volksvertretung in allgemeiner und gleicher Wahl zu wählen, zu beseitigen oder
außer Geltung zu setzen“.
Weiterhin gibt es auch nach Auffassung des Gerichts
Hinweise, dass einflussreiche Parteiorganisationen wie
die kommunistische Plattform, das marxistische Forum
und die Linksjugend, Solid, weiterhin die - verfassungswidrige - Diktatur des Proletariats im klassisch marxistisch-leninistischen Sinne anstreben.
Es liegen nach wie vor zahlreiche Anhaltspunkte für
linksextremistische Bestrebungen in der Partei Die
Linke vor, insbesondere die umfassende Akzeptanz von
offen extremistischen Zusammenschlüssen in ihren Reihen. Da ist es die legitime Aufgabe des Verfassungsschutzes, sich darüber die notwendigen Erkenntnisse zu
verschaffen.
Noch jüngst fabulierte die Vorsitzende der Linkspartei über die Wege zum Kommunismus und veröffentlichte
ihre Vorstellungen darüber ausgerechnet in der Zeitung
„Junge Welt“. Diese Zeitung versteht sich als marxistische Tageszeitung, die der Klassenkampfidee und - so
der Verfassungsschutzbericht 2010 des Bundes - der
Symbolik von Hammer und Sichel nicht abgeschworen
hat. Sie propagiert die Errichtung einer sozialistischen
Gesellschaft, wobei die politische und moralische
Rechtfertigung der DDR und die Diffamierung der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielen.
Nach alledem besteht weder rechtlich noch tatsächlich ein Anlass, den Immunitätsausschuss des Bundestages mit der Möglichkeit des Verfassungsschutzes zur
offenen Beobachtung und Informationssammlung zu befassen. Der Antrag geht rechtlich wie auch politisch total ins Leere.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum Thema
Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des
Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste
ist überflüssig und von wenig Kenntnissen in Bezug auf
unsere Rechtsordnung geprägt.
Art. 38 des Grundgesetzes garantiert das freie Mandat des Abgeordneten, stellt ihn aber nicht über das Gesetz. Jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist
an Recht und Gesetz ebenso gebunden wie jeder andere
Bürger in unserem Land auch. Gott sei Dank, möchte
man sagen. Wenn ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages Rechtsverstöße oder gar Verbrechen begeht, so
ist er natürlich und zu Recht nicht vor Vorermittlungen
der Polizei geschützt. Anders könnte ein Rechtsverstoß
auch gar nicht entdeckt werden.
Erst wenn die Staatsanwaltschaft tätig wird und zum
Beispiel Hausdurchsuchungen anordnet, muss zuvor die
Immunität eines Abgeordneten durch den Deutschen
Bundestag und den dafür zuständigen Immunitätsausschuss aufgehoben werden. Ein Verfahren zur Aufhebung der Immunität kann aber nicht auf „blauen Dunst“
hin erfolgen, sondern muss gut begründet sein. Würde
man den Weg der vorherigen Informationsbeschaffung
„abschneiden“, würde es zu einem Verfahren zur Aufhebung der Immunität gar nicht erst kommen. Man würde
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages quasi
über das Gesetz stellen, sie wären vor Strafverfolgung
nahezu sicher.
Was für die Abgeordneten in Bezug auf einfachgesetzliche Regelungen wie das Strafgesetzbuch gilt, muss erst
recht für das Grundgesetz gelten. Das Grundgesetz bildet das Herz unserer Rechtsordnung. Es bildet den
Kernbestand unserer verfassungsrechtlichen Ordnung;
dies begründet sogar ein erhöhtes Schutzbedürfnis. Gemäß § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes hat das
Bundesamt für Verfassungsschutz, gemeinsam mit den
Landesbehörden für Verfassungsschutz „Auskünfte,
Zu Protokoll gegebene Reden
Nachrichten und sonstige Unterlagen“ zu sammeln und
auszuwerten, unter anderem über Bestrebungen, die sich
gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung
richten. Das gilt natürlich auch dann, wenn diese Bestrebungen von Abgeordneten des Deutschen Bundestages ausgehen würden.
Man stelle sich vor, Abgeordnete aus dem Bundestag
oder aus den Landtagen würden davon ausgenommen.
Dann wäre der Staat nahezu wehrlos gegenüber Verfassungsfeinden, die aus dem Parlament heraus agierten.
Notwendige Ermittlungen, wie die Sichtung öffentlich
zugänglicher Quellen, die die Grundlage dafür bilden,
überhaupt einen Anfangsverdacht zu begründen, könnten nicht mehr stattfinden. Das ist juristisch nicht nur
absurd, auch aus unserer Geschichte heraus sollten wir
wirklich schlauer sein.
Betrachten wir zum Beispiel das Verbot der Sozialistischen Reichspartei, SRP, 1952; diese zutiefst verfassungsfeindliche Partei hat auch aus den Parlamenten
heraus gegen die Verfassung und die demokratische
Grundordnung agiert; einige ihrer wichtigsten Funktionäre waren Mitglieder des Bundestages und des Landtages von Niedersachsen.
Da der Bundestag und die Landtage in Fragen der
Immunität weitgehend auf gleicher Höhe sind, fragt man
sich, wem eine solche Regelung nützen würde, wenn unsere Nachrichtendienste öffentlich zugängliche Quellen
im Hinblick auf verfassungsfeindliche Tendenzen nicht
mehr sichten, auswerten und sammeln dürften, ohne
dass zuvor die Immunität des Abgeordneten aufgehoben
wird. Es würde Leuten wie Holger Apfel und Udo
Pastörs nutzen, die hohe Funktionäre der NPD und zugleich Abgeordnete in Landtagen sind. Ich kann mir
kaum vorstellen, dass es das ist, was die Grünen wollen.
Im Übrigen wäre eine bloße Änderung im Bereich der
Verfahrensregeln und gegebenenfalls der Geschäftsordnung des Bundestages, wie im Antrag gefordert, angesichts der gesetzlichen Legitimation der Tätigkeit der
Nachrichtendienste und der Ermittlungsbehörde auch
unwirksam.
Wenn man den Antrag liest, dann stellt man sich
schon die Frage, in welchem Interesse Bündnis 90/Die
Grünen hier eigentlich handeln. Einzig Abgeordnete der
Fraktion Die Linke sind in den vergangenen Jahren von
nachrichtendienstlicher Beobachtung betroffen. Hierzu
hat das Bundesinnenministerium erst kürzlich auf Anfrage des Parlamentarischen Kontrollgremiums einen
Bericht geliefert und öffentlich erklärt, dass bei der Beobachtung von Abgeordneten der Linken durch das Bundesamt für Verfassungsschutz nur öffentlich zugängliche
Quellen verwendet worden sind. Und dass die Beobachtung der Linken rechtmäßig und geboten ist, das wird in
dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts NordrheinWestfalen aus dem Jahr 2009 überdeutlich. In der Urteilsbegründung stellt das Gericht fest - ich zitiere -:
„Diese Beobachtung bezweckt, die bestehenden tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Partei Die Linke weiter
aufzuklären und mit den gewonnenen Informationen die
Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen
und diesen in angemessener Weise zu begegnen.“ Ich teile
diese Urteilsbegründung des Oberverwaltungsgerichts
ausdrücklich. Die Beobachtung von verfassungsfeindlichen Tendenzen, von wem auch immer sie ausgehen, auch
von Abgeordneten, ist ein wichtiger Bestandteil unserer
wehrhaften Demokratie.
Über das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde in
letzter Zeit sehr viel geredet. Gerade hat der Untersuchungsausschuss „Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund“ seine Arbeit aufgenommen. Er wird
sich mit der Arbeits- und Vorgehensweise des Verfassungsschutzes beschäftigen.
Ich bin froh, dass der Bundestag auch diese Möglichkeit wahrnimmt, um seine Kontrollfunktion gegenüber
den Nachrichtendiensten des Bundes auszuüben.
Denn das Bundesamt für Verfassungsschutz ist ein
vom Gesetzgeber legitimiertes Organ, das der Kontrolle
durch das Parlament unterliegt. Und eine der wichtigsten Aufgaben der Legislativen ist es, die Exekutive zu
kontrollieren und nicht umgekehrt.
Spätestens seit Ende Januar wissen wir, dass 27 der
76 Abgeordneten der Fraktion Die Linke unter Beobachtung stehen. Dass Teile bzw. Flügel der Partei Die Linke
beobachtet werden, da die vertretenen Positionen teilweise als linksextremistisch eingestuft werden, wussten
wir bereits. Wenn man sich aber anschaut, welche
Namen sich auf der Liste der beobachteten Abgeordneten wiederfinden, gibt dies schon zu denken.
Bedenklich ist es zum Beispiel, wenn ein vom Parlament gewähltes Mitglied des Vertrauensgremiums, das
die Wirtschaftspläne des Bundesnachrichtendienstes,
des Verfassungsschutzes und des militärischen Abschirmdienstes genehmigt, beobachtet wird.
Wenn ein Mitglied, das vom Deutschen Bundestag mit
der Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes
betraut wurde, selbst vom Verfassungsschutz beobachtet
wird, wird die parlamentarische Kontrolle ad absurdum
geführt.
Vor diesem Hintergrund haben die Grünen nun einen
Antrag eingebracht, der die Erarbeitung von Verfahrensregelungen bei Informationssammlungs-, Beobachtungs- und Überwachungsmaßnahmen des Bundesamtes
für Verfassungsschutz gegenüber Bundestagsabgeordneten fordert.
Als Erstes möchte ich hierzu sagen, dass ich es sehr
begrüßen würde, wenn wir die zu diesem Thema geführten Debatten insgesamt versachlichen könnten. Den
krampfhaften Versuch insbesondere der Linkspartei, aus
diesen Vorgängen eigenen politischen Nutzen zu ziehen,
halte ich für unangemessen. Wir sollten stattdessen als
Parlamentarier konstruktiv zusammenarbeiten. Denn
wir sind uns in diesem Hause doch darüber einig, dass
unser wichtigstes Gut die Freiheit des Mandats ist. Dieses gilt es zu schützen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dabei macht es einen Unterschied, ob nur eine Beobachtung anhand öffentlich zugänglicher Quellen oder
eine Überwachung mit geheimdienstlichen Mitteln stattfindet. Es macht meiner Meinung nach auch einen
Unterschied, ob der betroffene Abgeordnete darüber
informiert ist oder nicht.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz muss seiner
Aufgabe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung
zu schützen, nachkommen können, allerdings muss es
sich dabei an klare gesetzliche Grenzen halten und die
Verhältnismäßigkeit wahren.
Ich denke deshalb, dass wir uns in der Tat noch einmal
das Verhältnis zwischen dem freien Mandat und der Beobachtung von Abgeordneten in der Praxis anschauen
sollten, um sicherzustellen, dass eine Überwachung mit
geheimdienstlichen Mitteln durch das Bundesamt für
Verfassungsschutz auch in Zukunft nicht stattfindet und
die vom Parlament gesetzten Grenzen tatsächlich eingehalten werden.
Die Behauptung der Grünen, mit der Freiheit des Abgeordnetenmandats vertrage sich im Grundsatz eine geheimdienstliche Beobachtung nicht, weise ich zurück.
Genausogut könnte man die grundgesetzlich garantierte
Freiheit der Person dann zum Anlass nehmen, geheimdienstliche Beobachtungen sämtlicher Personen für ungerechtfertigt zu erklären. Eine solche Logik würde auf
eine generelle Abschaffung von Geheimdiensten hinauslaufen. Wer das politisch will, soll das dann auch so fordern. Aber so zu tun wie die Grünen, als gäbe es da ein
juristisches Verbot, ist Unfug.
Vielmehr gibt es zu dieser Frage seit 2010 ein Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts. Damals wurde die Beobachtung von Linken-Parlamentariern erlaubt. Die
Freiheit eines Abgeordneten wird keineswegs - ebensowenig wie die jeden anderen Bürgers - automatisch
durch „Beobachtung“ unzulässig eingeschränkt. Da
muss das Wie und Warum schon näher betrachtet werden.
Eine konkrete Prüfung der aktuell diskutierten Frage
findet gerade statt. Die Beobachtung von Abgeordneten
durch den Verfassungsschutz ist kein Urteil über ihre
Verfassungswidrigkeit. Sie ist lediglich ein Instrument,
um darüber Erkenntnisse zu erlangen. Solange Bundestagsabgeordnete - wie etwa die Linken-Chefin Gesine
Lötzsch - offenbar verfassungsfeindliche Ziele propagieren, muss das Bundesamt für Verfassungsschutz leider auch hier seiner Pflicht Genüge tun und entsprechende Bestrebungen im Blick behalten.
Gesine Lötzsch hat in ihrem Kreisverband mehrfach
Veranstaltungen mit früheren Staatssicherheitsmitarbeitern durchgeführt. Das hat ihr sogar aus Reihen der
Grünen den Vorwurf eingetragen, die Vergangenheit unter den Tisch kehren zu wollen und sich als „heilige
Johanna der Alt-Tschekisten“ zu präsentieren. Und vor
einem Jahr hat Frau Lötzsch sogar öffentlich über
„Wege zum Kommunismus“ schwadroniert - und das
ausgerechnet in der Alt-Stasi-Postille „junge welt“, die
sich im vergangenen Sommer auf der Titelseite für den
Bau der Berliner Mauer bedankt hat. Weshalb die Grünen ihr nun zur Seite springen zu müssen glauben, ist
mir schleierhaft.
Auch die Wahl in ein Parlament ändert nicht automatisch die Gesinnung des Gewählten - glücklicherweise!
Schließlich wollen die Wähler, dass ihr Volksvertreter
seine Botschaften vor der Wahl auch danach im Parlament nicht vergisst. Dann allerdings ist es aber auch
nicht zulässig, die demokratische Wahl quasi zum Persilschein zu machen. Es scheint mir nicht angemessen,
hier auf parlamentarische Privilegien zu pochen. Ich bin
sicher: Hätten wir hier im Bundestag eine NPD-Fraktion wie im sächsischen Landtag, hätten die Grünen diesen Antrag kaum gestellt.
Egal ob Holger Apfel oder Gesine Lötzsch: Der Verfassungsschutz muss solche Umtriebe im Auge behalten.
Genau dafür ist er gegründet worden. Dass den Betroffenen das nicht gefällt, ist klar.
Man mag über die eine oder andere Beobachtungsmaßnahme taktisch unterschiedlicher Auffassung sein.
Doch der Verfassungsschutz ist Teil des Konzepts der
wehrhaften Demokratie. Dieses Konzept hat Extremisten
verständlicherweise immer gestört. Wir Liberalen dagegen bekennen uns dazu mit Nachdruck.
Ich würde es begrüßen, wenn Demokraten jeglicher
Couleur gemeinsam gegen Extremisten jeglicher Couleur zusammenstünden und die gleichen Maßstäbe auf
alle Gegner unserer Verfassung, egal ob innerhalb oder
außerhalb eines Parlaments, anwendeten. Unsere Demokratie muss und wird eine wehrhafte bleiben. Dazu
steht die FDP.
Für ihn sei es „kein Stein des Anstoßes“, wenn linke
Abgeordnete durch den Verfassungsschutz beobachtet
würden. So beschied der künftige Bundespräsident
Joachim Gauck den Fragesteller während seiner Vorstellung in der Fraktion. „Kein Stein des Anstoßes“?
Das sagt derjenige, dem Freiheit angeblich über alles
geht! Wie ist es dann mit der Freiheit des Mandats? Immerhin im Grundgesetz, Art. 38, gesetzlich verankert.
Im Januar wurde bekannt, dass nicht nur einige Mitglieder der Linken durch den Inlandsgeheimdienst überwacht werden, sondern mindestens 27 Mitglieder der
Linksfraktion des Bundestages vom Bundesamt und weitere über die Landesämter. Ein ungeheuerlicher Vorgang!
Mit Blick auf inzwischen vorliegende Akten bzw. Bescheide erfolgt die Beobachtung offenkundig auch nicht
ausschließlich auf der Grundlage offen zugänglicher
Unterlagen, Reden, Artikel etc., sondern auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Damit wird die politische
Arbeit der Abgeordneten erheblich eingeschränkt. Eine
freie und unabhängige Mandatsausübung ist nicht mehr
gewährleistet.
Das Wissen um eine Beobachtung könnte Bürgerinnen und Bürger daran hindern, Kontakt zum AbgeordneZu Protokoll gegebene Reden
ten aufzunehmen, bzw. sie dazu veranlassen, den Kontakt so zu gestalten, dass er möglichst unbeobachtet
stattfindet. Der ungehinderte Austausch des Abgeordneten mit Wählerinnen und Wählern ist aber eine wesentliche Voraussetzung für den politischen Willensbildungsprozess, für den Abgeordnete nun einmal zuständig sind.
Was vertrauen Bürger noch „ihrem“ oder „ihrer“ Abgeordneten an, wenn sie nicht sicher sein können, dass
nicht noch Dritte mitlesen oder -hören?
Besonders absurd erscheint die Beobachtung eines
Bundestagsabgeordneten aber vor allem dann, wenn
man bedenkt, dass die Kontrolle des Verfassungsschutzes gerade dem Bundestag und seinen Abgeordneten obliegt. Da verkehren sich die Verhältnisse, und das ist
nicht zu akzeptieren.
Bereits 2006 hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
einen Antrag vorgelegt, der eine „konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages zu Beobachtungen
von Abgeordneten durch Geheimdienste“ vorsieht. Der
1. Ausschuss sollte mit der Vorbereitung entsprechender
Regelungen befasst werden. Ich kann mich allerdings
nicht an herausragende Vorschläge der Fraktion im
Ausschuss erinnern.
Nun liegt erneut ein solcher Antrag vor. Für die Linke
geht es nicht um die Frage, welches Gremium gegebenenfalls eine Beobachtung von Abgeordneten genehmigt. Die Linke ist für die Abschaffung von Geheimdiensten. Sie ist grundsätzlich gegen die Überwachung
von Abgeordneten, mit welchen Mitteln auch immer.
Diese ist mit der parlamentarischen Demokratie unvereinbar. Weder dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung noch dem Parlamentarischen
Kontrollgremium sollte die Macht gegeben werden, mit
Mehrheitsentscheidung eine Beobachtung von Abgeordneten zu legitimieren.
Die Beobachtung und Überwachung von Oppositionspolitikerinnen und -politikern kennen wir sonst vor
allem aus autoritären Staaten, wo wir dies bisher immer
scharf kritisiert haben. Diese Geheimdiensttätigkeit ist
eine Gefahr für das freie Mandat und die parlamentarische Demokratie als Ganze. Wir fordern deshalb ein
Verfahren, das Abgeordnete vor nicht gerechtfertigten
Übergriffen des Verfassungsschutzes schützt. Als genehmigendes Gremium kommen hier das Parlamentspräsidium oder die Obleute des Immunitätsausschusses
infrage.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind
nach Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes an Aufträge und
Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen
unterworfen. Mit diesem freien Mandat verträgt es sich
nicht, dass Behörden heimlich Informationen über
Abgeordnete sammeln und diese planmäßig überwachen. Derartige Maßnahmen stellen eine Kontrolle
der Exekutive gegenüber der Legislative dar. Die Verfassung kennt nur den umgekehrten Fall.
So schützt das Immunitätsrecht das freie Mandat der
Abgeordneten vor jeder Beschränkung. Jede strafrechtliche Ermittlungs- und Verfolgungsmaßnahme, aber
auch jede andere Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten muss daher vom Deutschen
Bundestag vorab genehmigt werden. Der Geist des
Grundgesetzes in den Art. 38, 46 und 47 sagt uns doch,
dass das Parlament zumindest informiert werden
müsste, wenn Mitglieder des Bundestages überwacht
werden.
Es kann gute Gründe geben, warum ein Abgeordneter
von Geheimdiensten beobachtet oder überwacht werden
sollte, sei es wegen des Verdachts der Arbeit für einen
ausländischen Geheimdienst oder aber auch wegen
eines tatsächlichen Eintretens für die Beseitigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Verkürzte Kapitalismuskritik oder plumper Antiimperialismus aus dem Hause Dağdelen und Co. gehören zwar zu
den unreflektierten Ausprägungen linker und zum Teil
auch rechtsextremer Kultur, doch eine Gefahr für die
freiheitlich-demokratische Grundordnung kann ich da
nicht erkennen. Schon gar nicht rechtfertigt es die Überwachung eines großen Teils einer Fraktion. Die Überwachung und Beobachtung von Abgeordneten muss ein
Einzelfall bleiben und geht nicht ohne parlamentarische
Kontrolle. Da es hier offenbar einen Wildwuchs der
Informationssammlungs-, Beobachtungs- oder Überwachungswut deutscher Geheimdienste gibt, besteht
dringender Handlungsbedarf.
Deshalb fordern wir mit unserem Antrag den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf, die notwendigen Veränderungen zur Ausgestaltung des Immunitätsrechts von Abgeordneten zu
erarbeiten. Schon der böse Schein, dass die Regierung
hier die Geheimdienste missbraucht, um den politischen
Gegner öffentlich in eine vermeintliche Ecke zu stellen,
schadet der Demokratie. In was für einem Land leben
wir eigentlich, in dem durch das Aushorchen und Ausspionieren von Oppositionellen die Regierung womöglich an strategische Planungen einer Partei gelangt?
Das klingt für mich mehr nach Watergate.
Zudem verkehren wir hier grundsätzliche Prinzipien
der Demokratie; denn das Parlament muss die Geheimdienste überwachen, nicht umgekehrt! Dem Verfassungsschutz gelingt selbst die Quadratur des Kreises,
indem er Steffen Bockhahn beobachtet, der im Vertrauensgremium für den Verfassungsschutz sitzt. Sagen Sie
einmal: Geht’s noch?
Hier werden wichtige Ressourcen blockiert, die im
Kampf gegen Neonazis benötigt werden. Und das Traurige ist: Manche Menschen könnten vielleicht noch am
Leben sein, würde der Verfassungsschutz nicht seine
Kräfte mit der Linkspartei vergeuden. Mit diesem
Antrag wollen wir die Bundesrepublik demokratisch
wieder zurechtrücken, dort, wo sie vom Recht abgerutscht ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8797 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einVizepräsident Eduard Oswald
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Halina Wawzyniak, Jan Korte, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermöglichung der privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare
- Drucksache 17/8377 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind uns hier bekannt; sie liegen
dem Präsidium also vor.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare versucht
es die Linke einmal mehr mit Staatsdirigismus. Dabei
hat sie doch über 40 Jahre eigentlich eindrücklich gezeigt, dass das nicht funktioniert. Leider sind Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wohl unverbesserlich.
Ich will es trotzdem noch einmal versuchen, auch der
Linken das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft näher
zu bringen. Zunächst zur sozialen Marktwirtschaft und
zum Urheberrecht. Die soziale Marktwirtschaft beruht
auf dem freien Markt, der zugunsten sozialer Aspekte
eingeschränkt wird. Entsprechend gelten auch im Urheberrecht grundsätzlich die Vertragsfreiheit und die Privatautonomie der Urheber. Die sogenannten Schranken
des Urheberrechts berücksichtigen die Interessen der
Allgemeinheit. Es gilt also ein sorgfältiges Regel-Ausnahme-Verhältnis, das die berechtigten Interessen von
Urhebern und Nutzern in einen Ausgleich bringt.
Die Linke ignoriert mit ihrem Gesetzentwurf die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit der Urheber, ihre
Werke zu ihren Bedingungen auf dem Markt anzubieten,
und schreibt ihnen auch gleich ihr Geschäftsmodell vor.
Damit beweist die Linke vor allem eines: dass sie das
Prinzip der sozialen Marktwirtschaft leider immer noch
nicht verstanden hat.
Zum Inhalt des Gesetzentwurfs. In dem ersten Satz
der Problembeschreibung behauptet die Linke, es sei
rechtlich nicht geklärt, ob digitale Werke weiterverkauft
werden können. Ich sage Ihnen: Das ist es doch! Wer einem anderen etwas verkaufen möchte, der muss auch berechtigt dazu sein. Und wenn er das Recht dazu nicht
positiv besitzt, dann darf er das auch nicht. Sie stellen ja
sogar selbst fest, dass die Weiterveräußerung im Regelfall durch die AGB sogar ausdrücklich ausgeschlossen
ist. Es geht hier also nicht um eine Klärung, sondern um
eine Änderung.
Rechtliche Begründung: Lizenz. Das geltende Recht
sieht vor, dass der Rechteinhaber an einem digitalen
Werkstück, also beispielsweise einer Musikdatei oder einem Softwareprogramm, einem Nutzer Rechte einräumen kann. Anders als bei einem materiellen Werkträger
wie einer CD oder einem Buch, können Dateien ohne
Weiteres vervielfältigt werden. Deswegen räumt der
Rechteinhaber dem Nutzer in der Regel vertraglich ein
einfaches Nutzungsrecht ein. Es handelt sich daher auch
nicht um einen Kaufvertrag, wie bei körperlichen Werkträgern, sondern um einen Lizenzvertrag. Der Rechteinhaber gibt dem Nutzer damit eben nicht die Erlaubnis,
die Datei weiterzuveräußern oder gar über den privaten
Gebrauch hinaus zu vervielfältigen.
Wirtschaftliche Begründung: Amortisierung. Die
Lizenzierung eines immateriellen Werkstückes, also einer Musikdatei, entspricht auch den wirtschaftlichen
Gegebenheiten; denn der Rechteinhaber tätigt Investitionen, die er amortisieren muss, um wiederum neue
Werke schaffen zu können. Er ist darauf angewiesen,
seine Werke verkaufen zu können, und er kalkuliert den
Preis dafür auf der Grundlage der angenommenen Verkaufszahlen. Ein Weiterveräußerungsrecht würde eine
angemessene Preiskalkulation erschweren und so möglicherweise zu deutlich höheren Preisen führen. Die
Preisbildung würde damit willkürlich und intransparent.
Dies aber ist weder im Sinn der Kreativen noch der Nutzer.
§ 34 Abs. 1 UrhG. Deswegen kann nach geltendem
Recht gemäß § 34 Abs. 1 UrhG ein Nutzungsrecht auch
nur mit Zustimmung des Urhebers übertragen werden.
Und nach ganz herrschender Meinung kann die Übertragbarkeit des Nutzungsrechts natürlich auch ausgeschlossen werden. Dies hat nicht nur schuldrechtliche
Wirkung zwischen den vertragschließenden Parteien,
sondern auch eine dingliche. Es liegt entsprechend
§ 399 BGB eine absolute, gegenüber jedermann wirkende Verfügungsbeschränkung vor. Ein gutgläubiger
Erwerb ist damit auch ausgeschlossen. Grundsätzlich
kann vertraglich sogar bestimmt werden, dass die Übertragung nur an bestimmte Empfänger zulässig ist.
§ 34 Abs. 2 UrhG gemäß § 34 Abs. 2 UrhG darf der
Urheber die Zustimmung zu einer Übertragung wider
Treu und Glauben aber auch nicht verweigern. Dementsprechend ist eine Übertragung von Nutzungslizenzen
grundsätzlich auch heute schon zulässig. Das setzt aber
voraus, dass der Lizenzgeber gefragt wird - und in der
Regel muss die Übertragung natürlich auch noch einmal
vergütet werden.
Urheberpersönlichkeitsrecht. Dieser Absatz macht
deutlich, worum es hier eigentlich geht: Der Rechteinhaber muss gefragt werden. Er muss die Hoheit über
sein Recht behalten können. Gemäß § 12 hat nämlich
der Urheber das ausschließliche Recht, zu bestimmen,
ob und wie sein Werk zu veröffentlichen ist ({0}). Ansonsten kann sein Werk beliebig
weiterverbreitet werden.
Missachtung des Urheberpersönlichkeitsrecht. Letztendlich ist die Rechtslage also, anders als von der Linken behauptet, vollkommen klar. Ein pauschales Weiterverkaufsrecht für immaterielle Werke ist nicht mit dem
Urheberpersönlichkeitsrecht vereinbar. Demgegenüber
missachtet der Gesetzentwurf der Linken das Urheberpersönlichkeitsrecht und nimmt dem Lizenzgeber die
Möglichkeit, zu bestimmen, ob und wie sein Werk genutzt wird. Allein dies ist schon ein Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Verwertungsrecht. Der Gesetzentwurf missachtet
aber auch das ausschließliche Verwertungsrecht des Urhebers nach § 15 UrhG. Vor allem das Vervielfältigungsrecht nach § 16 UrhG ist die wirtschaftliche Grundlage
des kommerziellen kreativen Schaffens. Dieses Verwertungsrecht wird durch ein Weiterveräußerungsrecht zumindest eingeschränkt, wenn nicht sogar entwertet. Im
Gegensatz zur Weiterveräußerung körperlicher Werke
ist die Weiterveräußerung ohne Vervielfältigung technisch gar nicht möglich. Der vorgeschlagene § 17 a
Abs. 1 Satz 2 UrhG geht damit an den technischen Realitäten vorbei. Jede digitale Weiterveräußerung ist ein
Kopiervorgang - auch wenn das ursprüngliche Werkstück gelöscht wird.
Missbrauch. Technisch setzt das gesetzlich unabdingbare Recht zur Weiterveräußerung auch voraus, dass
jedes immaterielle Werk auch vervielfältigt werden können muss. Ansonsten ist die Weiterveräußerung technisch ja gar nicht möglich. Damit würde ein Digitales
Rechtemanagement, DRM, gesetzlich verboten und den
Rechteinhabern eine der letzten verbliebenen Möglichkeiten genommen, ihre Werke gegen illegale Vervielfältigungen im Internet zu schützen.
Vorgegebenes Geschäftsmodell. Der Gesetzentwurf
hebelt aber nicht nur das Digitale Rechtemanagement
aus, sondern legt den Rechteinhaber faktisch auch darauf fest, wie er sein Werk verwerten darf. „Das Recht
zur Weiterveräußerung kann nicht vertraglich abbedungen werden“. Mit diesem Passus wird dem Urheber sein
Geschäftsmodell vorgeschrieben. Er verliert dadurch
die Gestaltungsmöglichkeit bei der Verwertung seines
Werkes. Das hat nichts mehr mit Marktwirtschaft zu tun hier handelt es sich um Staatsdirigismus.
Das hat die CDU schon seit 63 Jahren abgelehnt und
wird dies auch heute tun.
Die Fraktion Die Linke hat heute einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem die Weiterveräußerung digitaler Werkexemplare im Urheberrechtsgesetz ermöglicht
werden soll.
Um was geht es dabei? Der Vertrieb von Werken der
Literatur, Musik etc. hat sich in den letzten Jahren stark
gewandelt. Er hat sich vor allem „verlagert“. Immer
seltener gehen Bücher und CDs „über den Ladentisch“.
Die Bedürfnisse vieler Verbraucherinnen und Verbraucher gehen heute dahin, einzelne Musikstücke oder
ganze Musikalben, literarische Werke in Form von
E-Books, aber auch Computerspiele und Software über
die Portale verschiedener Onlineanbieter legal herunterzuladen.
Die Frage, ob Werke, die nicht in körperlicher Form,
sondern als Download vertrieben werden, in gleicher
Weise weiterveräußert werden können wie beispielsweise gebrauchte Bücher, Musik-CDs etc. wird lebhaft
diskutiert. Die Problematik ist unter dem Stichwort
„Handel mit gebrauchter Software“ zudem bereits im
Rahmen der Beratungen zum Zweiten Korb Urheberrecht thematisiert worden.
Zum Hintergrund: Nach geltendem Urheberrecht ist
der Weiterverkauf unkörperlicher Werkexemplare ausgeschlossen, es sei denn, der Rechteinhaber hat entsprechende Nutzungsrechte eingeräumt. Der für körperliche
Werkstücke geltende sogenannte Erschöpfungsgrundsatz findet keine Anwendung. Dieser besagt, dass ein mit
Zustimmung des Urhebers in Verkehr gebrachtes körperliches Werkexemplar frei handelbar ist. Dass für immaterielle Werke etwas anderes gelten soll, ergibt sich schon
aus Erwägungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG zur
„Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“, wo es heißt, dass sich die Frage der
Erschöpfung bei Onlinediensten nicht stellt. Folglich
finden sich in den Vertragsbedingungen kommerzieller
Downloadportale wie zum Beispiel iTunes.de, libri.de
etc. regelmäßig Klauseln, die den Weiterverkauf unkörperlicher Werkstücke ausschließen.
Dass der Frage eine hohe wirtschaftliche Bedeutung
zukommt, kann man am Softwarebereich erkennen. Hier
erwerben die Unternehmen - mengenmäßig gestaffelte Volumenlizenzen, in der Regel in größerem Umfang, als
Arbeitsplätze auszustatten sind. Das wirtschaftliche Interesse am Weiterverkauf der nicht benötigten, überschüssigen Lizenzen ist dementsprechend groß.
Das zeigt, dass es sich hier um kein neues Problem
handelt. Auch in der Rechtswissenschaft wird die Diskussion an diesem Punkt kontrovers geführt. Es gibt nahezu ebenso viele Stimmen, die eine analoge Anwendung
des Erschöpfungsgrundsatzes ablehnen, wie solche, die
die Schaffung einer entsprechenden Regelung befürworten. Auch die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat in ihrem Dritten Zwischenbericht
mehrheitlich empfohlen, die Möglichkeit zum Weiterverkauf von legal erworbenen, immateriellen Werkstücken
({0}) zu schaffen. Die Rechtsprechung lehnt
aber weit überwiegend eine analoge Anwendung des Erschöpfungsgrundsatzes auf unkörperliche Werke ab.
Auch wenn die Interessenlage der Verbraucherinnen
und Verbraucher für eine Gleichbehandlung körperlicher und unkörperlicher Werke spricht, sollte man die
denkbaren negativen Auswirkungen der vorgeschlagenen Änderung auf die kommerziellen Downloaddienste
für den Vertrieb von E-Books und Musik etc., die in beträchtlichem Umfang Investitionen in die Entwicklung
und den Ausbau ihrer Plattformen tätigen, nicht aus den
Augen verlieren.
Eine Differenzierung zwischen Buch und E-Book erscheint daher plausibel. Im Gegensatz zum körperlichen
Werk kann das immaterielle beliebig und ohne Qualitätseinbußen vervielfältigt werden. Der Weiterverkauf
der Datei, zum Beispiel die „Punkt-zu-Punkt“-Übermittlung der Datei per E-Mail, ist eine Vervielfältigungshandlung, die das „Original“ unberührt lässt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch wenn der Entwurf der Fraktion Die Linke vorsieht,
dass die Weiterveräußerung nur zulässig ist, wenn der
Verkäufer keine weitere Vervielfältigung des veräußerten Exemplars zurückbehält, stellt sich doch die Frage,
wie dies kontrolliert werden soll. Die Missbrauchsgefahr ist offenkundig. Hier bliebe dem Rechteinhaber nur
die Möglichkeit, die Anzahl der zulässigen Vervielfältigungen bei per Download erworbenen Dateien durch
technische Schutzmaßnahmen zu begrenzen oder gänzlich zu unterbinden. Im Ergebnis würde damit auch die
Möglichkeit beschränkt, für den eigenen persönlichen
Gebrauch Privatkopien herzustellen.
Daher stehen wir dem Vorschlag eher kritisch gegenüber. Ob angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass
der Vertrieb physischer Werkexemplare am Markt zunehmend durch den Vertrieb unkörperlicher Werkstücke
ersetzt wird, mittelfristig über Veränderungen nachgedacht werden muss, werden wir in den weiteren Ausschussberatungen klären müssen.
Die Linken fordern, dass digital erworbene unkörperliche Werkexemplare privat weiterveräußert werden
dürfen. Zur Begründung ziehen sie einen Aspekt des
Urheberrechts aus der analogen Welt heran: den Erschöpfungsgrundsatz. Dieser besagt, dass sich das
Recht des Urhebers, die Weiterverbreitung eines von
ihm in Verkehr gebrachten körperlichen Werkes zu kontrollieren, dann erschöpft, wenn er das Werk in Verkehr
gebracht hat. Dies soll nach Vorstellung der Linken nun
auch für die digitale Welt gelten. Allerdings übersehen
sie dabei ein wesentliches praktisches Problem: Die
Linke erklärt nicht, wie sie vermeiden will, dass es dadurch zu einer unkontrollierten und unbezahlten Vervielfältigung von digitalen Werken kommt. In dem Antrag
auf Drucksache 17/8377 heißt es dazu lediglich, dass
eine Weiterveräußerung nur zulässig sei, wenn der Veräußernde „keine weitere Vervielfältigung des veräußerten Werkexemplars zurückbehält“.
Hier scheint mir aber das größte Problem zu liegen:
Wie soll das in der Praxis kontrolliert werden? Die
Rechteinhaber haben keinerlei Handhabe zu überprüfen, ob der Weiterveräußernde nicht doch eine Kopie des
Werkes auf seinem Computer behält. Der Weiterveräußernde hätte in diesem Fall einen doppelten Vorteil: Er
wäre immer noch im Besitz des digitalen Werkes und
hätte sogar noch einen Teil der Kosten, die ihm beim
Erwerb des Werkes entstanden sind, wieder hereinbekommen. In der analogen Welt stellt sich diese Frage
nicht. Hier wird spätestens der Käufer, der ein Werk
oder einen Gegenstand gebraucht kauft, auch darauf
achten, dass er diesen Gegenstand auch tatsächlich erhält. Folglich ist in der analogen Welt denknotwendig
ausgeschlossen, dass ein weiterverkaufter Gegenstand
gleichzeitig im Besitz des Verkäufers und des Käufers
ist.
Wir müssen uns an dieser Stelle auch die Frage stellen, ob analoge und digitale Welt hier eins zu eins zu
vergleichen sind. Die Linke führt in ihrem Antrag den
Verbraucher an, der dadurch verunsichert ist, dass er
eine analog erworbene CD weiterverkaufen kann, ein
digital erworbenes Musikalbum aber nicht. Der Wiederverkaufswert von Musik-CDs liegt durchschnittlich irgendwo zwischen 50 Cent und zwei Euro. Ein besonderer wirtschaftlicher Anreiz ist dadurch nicht gegeben. In
der Regel verkaufen die Menschen ihre CDs auch nicht
deswegen, weil sie Geld benötigen, sondern weil sie
Platz für andere Gegenstände gewinnen wollen. Körperlose Dateien nehmen jedoch keinen Platz weg, sodass
sich schon die Frage stellt, ob beim Verbraucher überhaupt der Bedarf für eine Weiterverkaufsmöglichkeit besteht.
Durch den Erschöpfungsgrundsatz soll in der analogen Welt erreicht werden, dass der Rechteinhaber an ein
und demselben Werk nicht mehrfach verdient. Dies lässt
sich auf digitale Dateien jedoch nicht eins zu eins übertragen. Hier ist die Datei ja nicht als das Werk als solches zu verstehen. Vielmehr ist die Datei das Trägermaterial, das zur Vermittlung des Werkes benötigt wird.
Würde man dies anders einordnen, hätte der Urheber
nur einmal die Möglichkeit, durch den Verkauf seines
Werkes die angemessene Vergütung zu erzielen.
Zudem stehen dem Antrag der Linken auch juristische
Aspekte entgegen.
Die Linke begründet ihren Antrag damit, dass in der
Praxis Rechteinhaber den Käufern oftmals vertraglich
das Recht absprechen, digital erworbene Werke weiterzuveräußern. Dies entspricht aber dem Grundsatz der
Privatautonomie. Die Verbraucher haben ja das Recht
und die Möglichkeit, Verträge nicht abzuschließen, deren Konditionen sie nicht tragen wollen. Gerade über
solche Mechanismen entwickelt sich ein Markt. Es kann
ja auch ein Geschäftsmodell sein, dass ein Rechteinhaber seinen Kunden die Möglichkeit anbietet, digital
erworbene Werke weiterveräußern zu können. Dies bedingt aber keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
Die Linke erwähnt in ihrem Antrag selber Erwägungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG. Darin heißt
es:
Die Frage der Erschöpfung stellt sich weder bei
Dienstleistungen allgemein noch bei Online-Diensten im Besonderen. Dies gilt auch für materielle
Vervielfältigungsstücke eines Werkes oder eines
sonstigen Schutzgegenstandes, die durch den Nutzer eines solchen Dienstes mit Zustimmung des
Rechtsinhabers hergestellt worden sind.
Die Linke folgert daraus, dass der Erschöpfungsgrundsatz auf urheberrechtlich geschützte Werke gar
nicht anwendbar sei, unabhängig von der Frage, ob sie
körperlich oder unkörperlich vertrieben werden. Dieser
Schluss ist jedoch verfehlt. Die Nichtanwendbarkeit des
Erschöpfungsgrundsatzes auch auf materielle Vervielfältigungsstücke wird in Erwägungsgrund 29 ausdrücklich an die Zustimmung des Rechteinhabers geknüpft.
Insofern ist hier keine unbegründete Abweichung zu erkennen.
Vor diesem Hintergrund lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag ab.
Zu Protokoll gegebene Reden
Haben Sie schon mal ein E-Book gekauft, eine MP3Datei heruntergeladen oder einen Film aus dem Netz
gesaugt? Legal, meine ich? Bestimmt, Sie haben ja alle
Ihre Smartphones in der Tasche stecken oder Ihre Tablet-PC vor sich liegen. Dann gehören diese Dateien
jetzt Ihnen, und Sie können damit machen, was Sie wollen - jedenfalls, so lange Sie nicht gegen das Urheberrecht verstoßen. Richtig? Können Sie Ihr Eigentum auch
weiterverkaufen? Nicht ohne Weiteres. Denn während es
gedruckte Bücher in Antiquariaten und gebrauchte CDs
auf dem Flohmarkt zu kaufen gibt, werden Sie nirgends
einen legalen Secondhandmarkt für Dateien finden. Die
Anbieter, die Filme, Musik oder Bücher zum Download
anbieten, schreiben ins Kleingedruckte hinein, dass ein
Weiterverkauf solcher Waren verboten ist. Sie betrachten die Verträge, die sie mit den Nutzerinnen und
Nutzern schließen, nicht als Kaufverträge, sondern als
Lizenzverträge. Mithilfe des Urheberrechts wird der
Verbraucherschutz ausgehebelt. Der Kunde erwirbt kein
Eigentum, sondern ein sogenanntes Nutzungsrecht.
Das ist erstaunlich, denn um Bücher zu lesen, Musik
zu hören oder Filme anzuschauen, braucht man ein solches Nutzungsrecht überhaupt nicht. Im Urheberrecht
steht ausdrücklich: Der reine Werkgenuss ist frei. Man
muss den Urheber nicht um Erlaubnis fragen. Heute
werden Bücher, Musik oder Filme eben oft nicht mehr
als materielle, sondern als immaterielle Güter verkauft.
Nüchtern betrachtet, hat sich damit lediglich die Vertriebsform geändert. Statt in einen Laden zu gehen,
klickt man auf eine Schaltfläche im Internet.
Was man aber gekauft hat, sollte man auch weiterverkaufen dürfen. Wenn mein Musikgeschmack sich ändert,
kann ich meine alten CDs verkaufen. Die Bibliothek
meines Großvaters kann ich ins Antiquariat bringen,
wenn ich möchte. Soll es im Bereich des Digitalen
grundsätzlich keinen Gebrauchthandel geben? Ist
Secondhandhandel im Internet verboten?
Das steht nirgends. Aber es ist dringend eine gesetzliche Klarstellung nötig, dass der private Weiterverkauf
von Mediendateien auch tatsächlich legal ist. Das leistet
der Gesetzentwurf, den wir heute hier behandeln. Soweit
ich weiß, legen einige von Ihnen großen Wert darauf,
dass es in diesem Land einen freien Verkehrsfluss von
Waren gibt. Dann muss es auch einen freien Secondhandhandel geben.
Uns ist im Vorfeld dieser Debatte entgegengehalten
worden, wir wollten die Rechte der Urheber einschränken. Das stimmt nicht, im Gegenteil: Das Recht des
Urhebers, über sein Werk zu verfügen, wird von diesem
Gesetzentwurf überhaupt nicht berührt. Nach wie vor
entscheidet der Urheber allein, ob er sein Werk drucken
lässt, es auf CD veröffentlicht oder ins Internet stellt.
Uns ist außerdem vorgehalten worden, wir wollten, dass
alle ihre Privatkopien im Internet verscherbeln dürfen.
Auch das ist nicht richtig: Privatkopien dürfen sowieso
nicht weiterverkauft werden. Außerdem steht in unserem
Gesetzentwurf ausdrücklich, dass die betreffende Datei,
wenn sie verkauft wird, vom eigenen Rechner gelöscht
werden muss und nicht öffentlich zugänglich gemacht
werden darf.
Was wir fordern, gibt es in den USA längst: Auf der
Plattform ReDigi können Nutzer ihre Musik gebraucht
weiterverkaufen. Eine einstweilige Verfügung dagegen
ist erfolglos geblieben. Wir wollen erreichen, dass man
auch in Deutschland über sein persönliches Eigentum
frei verfügen kann. Das hätten Sie vielleicht von der Linken gar nicht erwartet. Nun, wir wollten Sie überraschen. Überraschen Sie nun auch uns und stimmen Sie
unserem Gesetzentwurf zu.
Der Gesetzentwurf greift ein wichtiges Einzelproblem
in der Diskussion um die dringend notwendige Modernisierung des Urheberrechts auf und versucht sich an
einer griffigen Lösung. Das ist mehr als anerkennenswert, und alle Bestrebungen in diese Richtung verdienen
unsere ausdrückliche Unterstützung. Die Modernisierung des Urheberrechts ist überfällig, weil neben den
weiter fortschreitenden technischen Wandel auch eine
weitgehend veränderte Nutzung von IT-Technologie getreten ist.
Insbesondere das Internet und die damit verbundenen
Nutzungsmöglichkeiten haben geradezu revolutionäre
Veränderungen herbeigeführt, die inzwischen fast alle
Bevölkerungsschichten erreichen. Private wie kommerzielle Modelle des Austausches von Inhalten und Informationen, Werken und Gegenständen werden von diesem Wandel erfasst.
Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Veränderungen
vor dem Hintergrund der bestehenden Rechts- und
Grundrechtsordnung zu bewerten, Anpassungsbedarfe
zu ermitteln und die oft gegenläufigen und komplexen
Ziele der durch die Veränderungen berührten Gesetze
und Rechtsbereiche auf ihre Bestandsfähigkeit und
notwendige Modifikationen hin zu untersuchen.
Oft zeigt sich im Wandel auch mit besonderer Deutlichkeit, was als bleibender Kern einer Gesetzgebung
gelten kann. Wir Grüne meinen, dass mit dem Urheberrecht insbesondere der gesellschaftliche Ausgleich zwischen den vielfältigen und unterschiedlichen Interessen
der gesellschaftlichen Akteure in diesem Feld angestrebt
werden muss. Die Idee des Ausgleichs zwischen den
förderungswürdigen individuellen Interessen von Urheberinnen und Urhebern auf der einen Seite und den
wichtigen Interessen der Allgemeinheit an der möglichst
breiten Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Inhalten, Kultur und Wissen steht im Mittelpunkt und hat in vielfältigen differenzierten Regelungen gesetzliche Ausprägung
erfahren.
Wir sind der Auffassung, dass leider in den vergangenen Jahren Gesetzesinitiativen auf den unterschiedlichsten Ebenen auch in Europa und international zu einseitig allein in eine Richtung gelaufen sind, nämlich in die
der Verstärkung von Möglichkeiten der Rechteverfolgung durch die Rechteinhaber.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Hinblick auf die Digitalisierung wird weitgehend
einer zunehmend unüberschaubaren Rechtsprechung
das Feld überlassen und mit Blick auf die Nutzerinnen
und Nutzer leider ganz überwiegend auf Kriminalisierung und Verfolgung gesetzt. Das hat zu einer Polarisierung der Gesellschaft in Fragen des Urheberrechts geführt, die die Akzeptanz der gesetzlichen Regelungen
schwächt und auch vonseiten der Wirtschaft nicht
gewollt sein kann, weil die Akzeptanz ihrer Geschäftsmodelle leidet und alle Beteiligten Rechtssicherheit verlieren.
Vor diesem Hintergrund verdient der Antrag der Linken nähere Erörterung, weil er ein dringend zur Reform
anstehendes, aus der Digitalisierung und zunehmenden
Onlineverfügbarkeit von geschützten Werken und Inhalten entstehendes Teilproblem anspricht.
Es ist beklagenswert, dass die Bundesregierung entgegen ihrer Ankündigung nicht selbst die notwendigen
Initiativen ergreift. Die von ihr vollmundig angekündigte Reform in Gestalt eines „dritten Korbes des Urheberrechts“ steckt in den vielfältigen Fallstricken dieses
von mächtigen Verbands- und Lobbyinteressen geprägten Regelungsumfeldes fest.
Das deutlichste Zeichen, dass die Bundesregierung
dabei den Kompass für eine sachgerechte Herangehensweise und Lösung verloren hat, zeigt das jüngst im
Koalitionsausschuss verabschiedete Leistungsschutzrecht. Denn keiner der bislang von der Bundesregierung
ohnehin nur äußerst sparsam ins Spiel gebrachten Vorschläge ist ausreichend konkret, geschweige denn
schlüssig. Geboten wird die Katze im Sack inklusive
Risiken und Nebenwirkungen.
Als einseitiges Geschenk an die tradierte Medienindustrie bleibt dieser vage Vorschlag in seiner Rechtfertigung fragwürdig und fachlich neblig. Ob es deshalb jemals zu einem mit den Grundsätzen des Urheberrechts
zu vereinbarenden Entwurf kommen wird, ist ungewiss.
Beim Erwerb von unkörperlichen Werkexemplaren
- das hat die eingehende Studie der Verbraucherzentrale
Bundesverband vom April vergangenen Jahres gezeigt besteht eine einseitig zulasten der Nutzer gehende
Situation. Sei es beim Download von Musikdateien, von
E-Books oder anderen digital erfassten Inhalten, in
aller Regel erhalten die Erwerber kein dem analogen
Erwerbsgeschäft vergleichbares Verfügungsrecht.
Stattdessen werden diese im Wege der lizenzvertraglichen Bedingung auf das Urheberrecht verwiesen, das
keine Weiterveräußerung des erworbenen Exemplars zulässt. Das bedeutet konkret:
Die auf einer CD gekaufte Mozartarie kann ich gebraucht weiterveräußern, die online gekaufte, inhaltlich
völlig identische Mozartarie jedoch nicht. Das führt also
zu der grotesken Situation, dass ein und derselbe Erwerbsvorgang via eines körperlichen Werkstückes wie
etwa einer CD den Wiederverkauf eröffnet hätte, nicht
aber der Download, ein Widerspruch, für den die sachliche Begründung fehlt.
Geschützt werden damit einseitig allein diejenigen
großen Onlineanbieter wie zum Beispiel iTunes, aber
auch viele bundesdeutsche Anbieter, die online vertreiben und sich eine entsprechende Privilegierung aufgrund der bestehenden Regelungsdiskrepanz ausbedingen, während innovative Geschäftsmodelle behindert
werden. Dass damit eine zeitgerechte Regelung des
Onlinehandels vorliege, mag wohl niemand ernsthaft
behaupten.
Die gesamte Problematik beschäftigt bereits seit Jahren die Gerichte und mittlerweile auch im Fall usedSoft
den Europäischen Gerichtshof. Ob etwa der Erschöpfungsgrundsatz bei immateriellen Gütern greift oder
nicht, ist umstritten. Das Urteil des EuGH zu usedSoft
wird entsprechend dringend erwartet. Gefragt ist deshalb völlig zu Recht der Gesetzgeber.
Der vorgelegte Entwurf entscheidet sich in dieser
Frage für eine pragmatische Minimallösung. Unabhängig von der Frage, ob dieser Lösungsansatz tatsächlich
den komplexen Anforderungen des Urheberrechts standhalten könnte, wirft er praktische Fragen auf.
Wenn lediglich die Bereitstellung in einem individualisierten Webspace oder die Einzelversendung per
E-Mail sicherstellen kann, dass der Erwerber bei der
Weiterveräußerung vor den Nachstellungen des Rechteinhabers im Hinblick auf Verwertungsrechte sicher ist,
so stellt sich die Frage der Akzeptanz und Praktikabilität angesichts einer sich völlig anders darstellenden
Realität. Ob auf diese Weise der nach bestehendem
Recht offenkundig urheberrechtswidrige Markt des
Handels mit Werkstücken wieder eingefangen werden
kann, ist zweifelhaft.
Ebenfalls nicht besonders praktikabel erscheint die
wohl kaum näher nachprüfbare Vorgabe, wonach der
Erwerber bei der Weiterveräußerung kein Exemplar zurückbehalten darf. Weil man ersichtlich ein entsprechend dem Verfahren beim körperlichen Werkexemplar
nachmodelliertes Rechtsmodell verfolgt, werden Vorgaben gemacht, die in ihrer Anlehnung an analoge Zeiten
schief konstruiert wirken.
Es stellt sich deshalb, bei aller Anerkennung für den
Versuch einer pragmatischen Lösung, doch die Frage,
ob es nicht einer grundlegenderen Herangehensweise
des Gesetzgebers bedarf, um einen entsprechenden Ausgleich zwischen Urhebern, Verwertungsindustrie und
Nutzern herbeizuführen. Dabei wären die Eigenheiten
und Spezifika des netzgestützten Handels mit digitalisierten Werkstücken in ihrem Widerspruch zur überkommenen Urheberrechtsordnung umfassender zu benennen
und so zu regeln, dass anbieter- wie nutzergerechte, speziell zugeschnittene Lösungen geschaffen werden. Hier
sollte es, wie auch in der Debatte um Pauschalvergütungen, keine Denkverbote geben. Diese können von sicherlich vielen und auf unterschiedlichen Ebenen zu schaffende Lösungsansätze bieten, mit denen der Idee des
gerechten Interessenausgleichs im Urheberrecht endlich
Rechnung getragen wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothea
Steiner, Oliver Krischer, Tabea Rößner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sammlung und Recycling von Elektronikschrott verbessern
- Drucksache 17/8899 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt.
Vieles an dem Antrag zur Wiedergewinnung wertvoller Wertstoffe aus Elektro- und Elektronikschrott ist allgemeine Ansicht hier im Deutschen Bundestag und bei
vielen Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern.
Und völlig zu Recht begrüßt der Antrag der Grünen die
vielfältigen Initiativen der schwarz-gelben Koalition
und ihres Bundesumweltministers in der Frage des
Schutzes natürlicher und in der Tat immer wertvoller
werdender Ressourcen. Diese Aufgabe wird von der
Bundesregierung seit jeher als Querschnittsaufgabe
wahrgenommen und von kommunaler Ebene bis hin zu
EU-Ebene und globaler Ebene als eine der obersten
Prioritäten angepackt.
Die ganz überwiegende Zahl der im Antrag genannten Punkte können wir als „Fleißarbeit“ loben. Hier ist
viel aus den Papieren der Bundesregierung und der EU
und von anderen Quellen abgeschrieben bzw. zusammengetragen worden. Von WEEE über ÖkodesignRichtlinie, Recyclingziele und Sammelquoten und der
allfälligen Ressourceneffizienz sind nahezu alle notwendigen Stichworte aufgeschrieben. Mir fielen zwar noch
ein paar mehr ein, aber es ist schon eine gute Sammlung
der einschlägigen Schlagwörter, die genannt werden
müssen.
Nun ist es leider oft ein kurzer Weg von guten Absichten zu schlechter Umsetzung. Und prompt haben die
Grünen wieder einen Beweis für diese These angetreten:
Denn kaum haben die Grünen mal wieder eine Idee, von
der sie behaupten, dass sie der Umwelt nutze, da überfällt die Grünen der politpsychologisch zwanghafte
Druck, sofort irgendeine Zwangsmaßnahme vorzuschlagen; denn ohne Zwangsmaßnahmen, so das offensichtliche Denkmodell der Grünen, geht nichts. Freie Bürger,
freie Menschen, gar mit freiem Willen, das scheint den
Grünen ein Graus zu sein. Oder sie können sich gar
nicht vorstellen, dass es unideologische Menschen gibt,
die verantwortungsvoll mit natürlichen Ressourcen
umgehen.
Sprechen wir vom Highlight des grünen Antrags, vom
- Überraschung, Überraschung - Zwangspfand. Das
werden Sie ja nun gar nicht mehr los, dieses Zwangspfand. Es hat psychologisch und politisch tiefe Spuren
bei den Grünen hinterlassen. Man könnte von einer vergifteten Trittin‘schen Schenkung sprechen.
Historisch wissen wir, dass die andere Schenkung
eine Fälschung war. Politisch wissen wir, dass der
Trittin‘sche Zwangsansatz zum Zwangspfand bei Dosen
eine ganze mittelständische Branche an den Rand gedrückt hat, nämlich die Glas-Mehrweg-Branche. Auch
der rote Nachfolger des grünen Täters hat den
Trittin‘schen Schaden nicht reparieren können, und
heute tun wir uns schwer, die Struktur für Mehrweg zu
stärken.
Warum gehört dieser Exkurs genau hierher? Ganz
einfach: weil die Grünen nach dem Dosenpfand nun ein
Handypfand einführen wollen - zwanghaft, natürlich.
Und das, obwohl uns das Dosenpfand bitter gelehrt hat,
dass der Schaden zwanghafter Handlungen erheblich
größer sein kann als der ökoideologisch versprochene
Nutzen. Zwar ist es wichtig, wertvolle Rohstoffe aus den
zirkulierenden Mobiltelefonen nicht sprichwörtlich „im
Müll“, das heißt, in der grauen Tonne für Abfall zur
Beseitigung, landen zu lassen. Und auch ich werfe, wie
Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, ein
Handy ebenso wenig in den Müll wie einen PC, eine
Spielkonsole oder andere technische Geräte. Um das
einmal auch für Ökoideologen klar und einfach auszudrücken: So etwas tut man nicht; denn wir sind ja nicht
blöd.
Das ist also gar nicht der Fall. Es stimmt: Seit Jahren
beklagen wir hier, die Wirtschaft und die Umweltverbände, dass zig Millionen ungenutzte, alte Mobiltelefone
in den oft zitierten Schubladen herumliegen. Allerdings
ist es so, dass diese Mobiltelefone von den Käufern mit
teils sehr hohen Summen bezahlt wurden, also deren
Eigentum sind. Und so ist es auch heute: Wer ein Handy
kauft, der zahlt für dieses kleine Teil einen meist hohen
Preis. Das macht das Teil wertvoll, und wertvolle
Sachen wirft kaum einer weg. Aber selbst kleine, preiswerte Mobiltelefone werden nicht einfach ex und hopp
weggeworfen. Große wie kleine Altteile werden, wie die
Branche und jeder privat weiß, zumeist gut aufbewahrt.
Oft, wie nicht nur in meinem Fall, werden die zumeist
ja noch sehr nutzbaren Altgeräte übrigens direkt dem
Kreislauf wieder zugeführt. Wie das geht, ganz ohne
Zwang, das kann ich den „Zwanghaften“ von der
Grünen-Fraktion erläutern: Ein altes Handy, Kabel und
anderes Altgerät habe ich auf dessen Nachfrage einem
Freund schlicht überlassen - ohne Überlassungspflicht,
stellen Sie sich vor, aus rein freiem Willen. Er nannte das
Direktrecycling, und wir beide fanden: Besser geht es
kaum. Und alles ohne Zwang, in Freiheit und in Verantwortung für die Umwelt.
Die Grünen sollten auch hier von ihrem und unserem
gemeinsamen zukünftigen Präsidenten Joachim Gauck
lernen: Freiheit zur Verantwortung heißt sein Leitmotiv,
nicht Zwang zur Verantwortung.
Nun könnte man sagen: Es ist richtig, wir brauchen
die Rohstoffe. Und weil wir die Rohstoffe brauchen,
müssen wir ein Verfahren haben, wie wir die zurückgewinnen können. Und dazu wiederum braucht es Anreize.
Stimmt alles. So weit, so gut. Hier aber findet die Gabelung statt, kommt der Unterschied zwischen phantasielos und kreativ, zwischen Zwang und Freiheit: Zwangspfand ist kurzsichtig, im Lösungsansatz primitiv und im
Übrigen ordnungspolitisch repressiv.
Für die Rücknahme und Rückgabe von ausgedienten
Altgeräten mit wertvollen Wertstoffen gibt es nicht nur
bereits kommunale und private Strukturen, die auch in
Zukunft tragen und flexibel ausgebaut werden können.
Es gibt auch zahllose Rückgabestellen im Handel, auch
bei karitativen Organisationen und in Behörden und Institutionen, die aus Verantwortung für die Umwelt und
aus anderen Anreizen sammeln, damit sorgfältig recycelt
werden kann. Und das alles geht ökologisch wie ökonomisch effizient und sozusagen zwanglos.
Wer will, dass die Menschen ihrer Verantwortung für
die Umwelt nachkommen und ihren eigenen Nachkommen - so sie welche haben - eine bessere, gesündere
Umwelt hinterlassen, der muss großes Interesse an
Verantwortung und Freiheit haben, und dafür kämpfen.
Konkret bedeutet das im vorliegenden Fall: umsichtig
für Umwelt eintreten, Ressourcenschutz hoch ansiedeln,
Recycling, am besten direkte Wiederverwendung, befördern.
Beim Thema ITK ist die Folge dieser Freiheit zur
Verantwortung, dass wir Produzenten und Abnehmer,
Handel und Mobilfunkprovider und vor allem die Millionen Nutzer mit intelligenten Anreizen auf, ganz wichtig,
freiwilliger Basis zur, wiederum wichtig, nachhaltigen
Ressourcenschonung auffordern. Zwang schreckt ab,
Repression ist Mittel gegen schweren Missbrauch. Das
mag beim problematischen Export in Länder der sogenannten Dritten Welt mit all den Gesundheitsrisiken und
Umweltschäden sehr sinnvoll sein. Und wir sind die
Letzten, die dies nicht verhindern wollten, und nötigenfalls mit aller Macht. Dennoch muss die Debatte über
den Kern der Ressourcenschonung geführt werden. Das
beginnt bei der Produktion, betrifft im Übrigen am Ende
die einzelne, verantwortliche Kaufentscheidung eines
jeden Konsumenten, auch derer, die Mitglied hier im
Deutschen Bundestag sind, und es betrifft nicht nur ITKProdukte, sondern auch Autos, viele andere Konsumgüter, Einrichtungsgegenstände und vieles mehr.
Eine „Handypfand“-Debatte daraus zu machen, wie
die Grünen es uns leider vorgeführt haben, ist ein
falscher Weg. Deshalb gehört der Antrag, trotz vieler
richtiger abgeschriebener Punkte, politisch aufs Abstellgleis. Wir nehmen uns als CDU/CSU die Freiheit,
aus Verantwortung diesen Antrag in dieser Form abzulehnen.
Als zuständiger Berichterstatter für Abfallwirtschaft
in der SPD-Bundestagsfraktion kann ich dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich zustimmen. Der Antrag greift ein Problem auf, dass auch wir
Sozialdemokraten seit längerer Zeit thematisiert haben.
Wenn Sie selber genau nachdenken, werden Sie feststellen, dass auch Sie ungenutzte, überholte oder defekte
Elektrogeräte im Haushalt gelagert haben. Dies trifft,
davon bin ich überzeugt, auf die meisten deutschen
Haushalte zu. Die Sammel- und Recyclingquote für
Elektroaltgeräte in Deutschland ist im europäischen
Vergleich zwar Spitze. Die Umsetzung der europäischen
WEEE-Richtlinie war zum damaligen Zeitpunkt angemessen und im europäischen Vergleich beispielgebend. Trotzdem ist gerade im Bereich des Elektroschrotts eine Verbesserung der Sammlung und des Recycling vonnöten.
Gerade in diesem Bereich ist die Quote im Vergleich
zu anderen Abfallarten geringer. Wie gesagt, dies liegt
auch daran, dass viele Elektroaltgeräte vergessen in den
Haushalten herumliegen. Viele Elektrokleingeräte werden auch immer noch in den Restmülltonnen entsorgt
und gehen damit größtenteils der Kreislaufwirtschaft
verloren. Angesichts dieser Realitäten ist eine Verbesserung durchaus machbar. Die Sammlung muss für den
Bürger einfacher werden, dann wird auch die Sammlungsquote verbessert.
In dem Antrag der Grünen-Fraktion wird ausführlich
auf die Bedeutung der zurückgewonnenen Wertstoffe
hingewiesen. Ich brauche dies daher nicht zu wiederholen. Ich verweise aber darauf, dass von einer unsachgemäßen Entsorgung von Elektroaltgeräten immer noch
ökologische oder gesundheitliche Gefahren ausgehen.
Die höhere Anzahl von gebrauchten und defekten Energiesparlampen im Abfall, insbesondere in Altglascontainern, gefährdet nach Untersuchungen aus Skandinavien
die Mitarbeiter von Recyclingunternehmen. FCKW in
alten Kühlschränken und heute bereits verbotene giftige
Stoffe in Altgeräten gefährden immer noch die Umwelt.
Wenige alte Batterien können die stoffliche Verwertung
von Bioabfällen zu Kompost unmöglich machen. Sie
sehen, es gibt nicht nur wirtschaftliche und rohstoffpolitische Gründe für eine Verbesserung des Elektroschrottrecyclings, auch wenn diese sehr wichtig und momentan
in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund stehen.
Aus all diesen Gründen ist eine umgehende Verbesserung des Sammelns und des Recyclings von Elektroaltgeräten nötig. Ich begrüße daher auch, dass die Bundesregierung in einer Antwort auf meine Schriftliche Frage
die Neuregelungen bei der Revision der europäischen
Elektrogeräterichtlinie, WEEE, befürwortet und umsetzen will. Um dieses Ziel zu erreichen, muss aber am
Anfang, bei der Produktion, begonnen werden.
Der Ressourcenverbrauch, sowohl der energetische
als auch der stoffliche, muss gesenkt werden. Vor allem
aber muss die Lebensfähigkeit, die Langlebigkeit und
die Wiederverwendbarkeit von Elektro-, Elektronik- und
IT-Geräten verbessert werden. Ich weiß, davon reden
alle, auch die Wirtschaft. Noch sieht die Realität aber
anders aus. Machen wir uns nichts vor: Immer noch
werden Elektrogeräte so produziert, dass sie kurz nach
Ablauf der Gewährleistungspflicht kaputtgehen. TechZu Protokoll gegebene Reden
nisch könnte die Lebensdauer der Geräte, Elektrogeräte, bereits heute viele Jahre länger sein.
Aber genau dies geschieht oftmals nicht. Es wird so
produziert, dass der Bürger nach einigen Jahren ein
neues Gerät kaufen muss. Erhöhung des Umsatzes, nicht
nachhaltiges Wirtschaften ist die Realität. Sogar in der
Forschung, und dies halte ich für einen großen Skandal,
werden Methoden erforscht, damit Produkte relativ
schnell defekt werden. Hier muss sich vieles ändern,
nicht nur wie bisher mit Worten, sondern auch mit Taten.
Die Produktion muss sich ändern in Richtung Nachhaltigkeit.
Aber nicht nur die Langlebigkeit muss verbessert
werden, auch die Recyclefähigkeit der Produkte muss
bei der Produktion berücksichtigt werden. Es müssen
recycelbare Materialen eingesetzt werden. Die leichte
Zerlegung und anschließende Verwertung muss von
Beginn an berücksichtigt und ermöglicht werden. Das
Verlöten, Verschweißen und Vermischen unterschiedlicher Materialien, mit der Konsequenz, dass sie nicht
oder nur schwer stofflich verwertet werden können,
müssen massiv verringert werden. Dazu sind auch politische Vorgaben und Anreize beim Produktdesign notwendig.
Der vorliegende Antrag weist hier auf konkrete
Möglichkeiten, zum Beispiel die Umsetzung eines TopRunner-Programms, hin. Die SPD fordert seit langem
ein solches Programm. Auch die Verlängerung der Gewährleistungspflicht und konsequentere Herstellerverantwortung sind gute Ansätze. Eine Rücknahmepflicht
des Handels für Elektrokleingeräte fordern auch wir. Ich
halte das für eine sinnvolle, verbraucherfreundliche
Möglichkeit, die Sammelquote, vor allem für Elektrokleingeräte, zu verbessern. Diese Rücknahmepflicht
sollte meiner Meinung nach umgehend eingeführt werden. Es ist nicht nötig, auf den Zeitpunkt zu warten, bis
die EU die Umsetzung vorschreibt.
Einige ergänzende Anregungen und kritische Nachfragen seien mir noch gestattet. Bei der damaligen
Umsetzung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes
hat die SPD Regelungen durchgesetzt, welche den
Behindertenwerkstätten und anderen sozialen Einrichtungen weiterhin einen Anteil am Recyclingmarkt gesichert haben. Dies hat zu meiner großen Freude auch gut
geklappt. Zahlreiche Kommunen, Entsorgungs- und
Elektrounternehmen haben Verträge mit Behindertenwerkstätten für das Elektroschrottrecycling abgeschlossen. Dort wird eine ökologisch und sozial sinnvolle
Tätigkeit geleistet. Bei allen notwendigen Reformen
muss dies erhalten bleiben.
Es wird hier vorgeschlagen, einen verpflichtenden
Mindestanteil recycelter Rohstoffe bei der Produktion zu
prüfen. Das ist sicherlich überlegens- und prüfungswert.
Ich kann mir aber noch nicht vorstellen, wie eine solche
Quote, vor allem bei Importprodukten, zu überprüfen ist.
Heute haben wir auch über das Ressourcenschutzprogramm der Bundesregierung debattiert. Die Ziele und
Grundsätze sind die gleichen wie in dem vorliegenden
Antrag. Darüber hinaus hat die Bundesregierung öffentlich die Zustimmung zu der Novelle der WEEE deutlich
gemacht. Ich bin gespannt, ob Union und FDP diesem
Antrag, der ihren Zielen entspricht, zustimmen werden.
Die ungeregelte Ausfuhr von europäischem Elektroschrott in afrikanische Länder lässt mich nicht unberührt. Es ist nicht akzeptabel, dass wir unseren Dreck
einfach anderswo abladen. Gleichwohl ist ein differenzierter Blick erforderlich: Es gibt schadstoffbelastete
und kaputte Elektrogeräte, es gibt reparable Elektrogeräte und es gibt funktionstüchtige Geräte, die ihren Weg
auf andere Kontinente finden. Ich sehe kein Problem
darin, wenn funktionstüchtige Altgeräte in anderen
Ländern genutzt werden.
Deutschland hat sich auf europäischer Ebene für effektivere Exportregeln eingesetzt. Es hätte auch wenig
Sinn gemacht, diese auf nationaler Ebene im Alleingang
einzuführen. Schließlich lebt unser Binnenmarkt von offenen Grenzen. Es kann nicht in unserem Interesse sein,
dass Exportregeln ohne großen Aufwand umgangen
werden.
Der europäische Vorschlag der WEEE-Richtlinie ist
deshalb hinsichtlich der Exportregeln voll und ganz zu
begrüßen. Die Exporteure müssen zukünftig die Gebrauchsfähigkeit der Geräte nachweisen. Damit können
die negativen Umwelt- und Gesundheitseffekte in afrikanischen Ländern wirksam werden. Diese Regelung der
Richtlinie wollen wir zügig in nationales Recht umsetzen. An dieser Stelle will ich dem Antrag auch ausdrücklich beipflichten. Wenngleich dies in meinen Augen aufgrund der Verhandlungsführung der Bundesregierung
eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.
Dennoch: An einigen anderen Stellen ist der Antrag
der Grünen nicht zielführend bzw. spricht nicht alle relevanten Probleme an.
Die Grünen fordern ein verbessertes System der
haushaltsnahen sortenreinen Sammlung von Elektrogeräten. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich nichts
anderes als eine weitere Elektroschrotttonne. Diese ist
verbraucherunfreundlich, ohne Umweltnutzen und realitätsfremd.
Wie Ihnen sicher bekannt ist, plant die Bundesregierung die Einführung einer Wertstofftonne. Allerdings
soll diese die gelben Tonnen und gelben Säcke ersetzen.
Der gesammelte Inhalt soll an die heutigen Standards
der Sortierung und Verwertung angepasst werden. Bei
der Wertstofftonne lohnt sich das auch. 600 000 Tonnen
mehr werden wir jährlich an Plastik und Metallen dem
Recycling zuführen.
Aufgrund der Kontamination des restlichen Inhalts
und Schwierigkeiten beim Recycling wird Elektroschrott
voraussichtlich bei der Wertstofftonne nicht dabei sein.
Eine Tonne nur für Elektroschrott allein lohnt sich
nicht. Zwar landen in Deutschland pro Jahr 142 000 Tonnen an Elektrokleingeräten im Restmüll. Wir verlieren
dadurch viele Wertstoffe, die wir anderweitig gut
gebrauchen könnten. Aber wenn Sie die Zahlen hochZu Protokoll gegebene Reden
rechnen: Diese Tonne lässt sich niemals füllen! Ich
wette, dass leere Tonnen mit großen Abholzeiträumen
spätestens dann voll werden, wenn die sonstigen Tonnen
im Hof voll sind. Allerdings nicht mit Elektroschrott,
sondern allem möglichen anderen Mist. Damit können
Sie den Elektroschrott nicht mehr sinnvoll nutzen. Nein,
diese Tonne macht keinen Sinn.
Ein anderer Vorschlag von Ihnen zielt auf die stärkere
Einbeziehung des Effizienzgedankens beim Produktdesign und dabei insbesondere auf verbindliche Vorgaben für das abfallarme Design von Neugeräten. Oder,
um es einfacher auszudrücken: Der Hersteller soll,
wenn er heute für ein Handy 25 Milligramm Gold und
500 Gramm Gummi braucht, in Zukunft nur noch
15 Milligramm Gold und 350 Gramm Gummi verbrauchen. Genau darin steckt ihr Denkfehler. Dadurch, dass
Sie das Einsparziel unter Zwangsandrohung in den
Vordergrund stellen wollen, üben Sie Druck auf die
Forschungsabteilungen der Unternehmen aus, Effizienzeinsparungen über alle anderen Forschungsprojekte zu stellen.
Wir finden es reizvoller, einen Anreiz dafür zu setzen,
bei der Handykonstruktion darauf zu achten, dass die
Teile leicht auseinanderzubauen sind und wiedergenutzt
werden können. Wenn das funktioniert, ist es auch egal,
wie viel Material verwendet worden ist.
Hier setzen Sie den Schwerpunkt, „weniger zu verbrauchen“. Wir setzen den Schwerpunkt, „mehr zu gebrauchen“. Aus diesem Grund widerspricht die von uns
heute in erster Lesung zum Ressourceneffizienzprogramm beschlossene Regelung auch ihrem Vorschlag:
Wir wollen bei Normungsprozessen neben dem Energieverbrauch auch andere geeignete Ressourcenaspekte
vermehrt berücksichtigen. Dies soll die Anreize erhöhen, ressourceneffiziente Produkte und Dienstleistungen
zu entwickeln und zur Marktreife zu führen.
Noch in einem dritten Punkt muss ich ihrem Antrag
widersprechen: Sie wollen einen verpflichtenden Mindestanteil recycelter Rohstoffe bei der Herstellung von
IT- und Kommunikationsgeräten. Ist Ihnen eigentlich
klar, was das bedeutet? Sie müssen für jeden Rohstoff regelmäßig die Marktsituation am Sekundärrohstoffmarkt
analysieren, ob ausreichend Sekundärrohstoffe überhaupt verfügbar sein könnten. Für manche Stoffe sind
noch keine geeigneten Recyclingverfahren gefunden. Sie
brauchen Beamte, die Geräte kontrollieren, um
Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Wie kontrollieren
Sie das, wenn wie beim Kunststoff die Eigenschaften von
Sekundärrohstoffen und Primärrohstoffen verfließen?
Die Gerätetypen unterscheiden sich - nicht zuletzt
dabei, wie Sie jeweils für den Einbau von Recyclingmaterialien geeignet sind. Sie brauchen dann für jeden
Gerätetyp eine unterschiedliche Quote. Hinter dieser
Forderung steckt ein bürokratisches und planwirtschaftliches Monstrum. In der Sache ist es sehr viel vielversprechender, das System der Wiederverwendung und des
Recyclings von Elektrogeräten zu optimieren.
Insgesamt sehe ich im Antrag durchaus Ansätze, die
die FDP so mittragen könnte. An einigen Stellen finden
sich dennoch undurchdachte und auch fehlerhafte Positionierungen, die zwingend abzulehnen sind.
Bündnis 90/Die Grünen beantragen, die Sammlung
und das Recycling von Elektronikschrott zu verbessern.
Zur Verbesserung der Sammlung soll die haushaltsnahe
Erfassung von Elektrogeräten ausgebaut und der Handel zur Rücknahme verpflichtet werden. Die Einführung
einer Pfandpflicht soll Anreize für Verbraucherinnen
und Verbraucher setzen, die zu entsorgenden Geräte zurückzugeben.
Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Entschließungsantrag, Bundestagsdrucksache 17/7509, die Einrichtung
von Pfandsystemen für technische Geräte bereits gefordert und unterstützt den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen. Die momentanen Erfassungsquoten sind längst
nicht ausreichend und außerdem von der Größe der Produkte abhängig. Während Großgeräte meistens bei den
kommunalen Sammelstellen abgegeben werden, landen
kleinere Geräte vorwiegend im Restmüll und werden
durch die Erfassung größtenteils zerstört.
Es sind gerade die kleineren Produkte, mit denen
hochwertige Rohstoffe durch die Nichterfassung einer
Kreislaufwirtschaft entzogen werden. Zum erheblichen
Teil belasten die verwendeten Stoffe wegen ihrer Toxizität aber auch massiv die Umwelt. Wegen der enormen
Zahl der im Umlauf befindlichen Geräte ist die Erfassung daher kurzfristig möglichst auf 100 Prozent zu steigern. Die Einführung einer Pfandpflicht hält meine
Fraktion für ein geeignetes Mittel auf dem Weg dahin.
Die Antragsteller wollen das Pfand im Rahmen eines
Pilotprojekts für Mobiltelefone und Smartphones in einer Größenordnung von 10 Euro je Gerät einführen.
Dieser Preis ist so weit angemessen.
Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden weitere sinnvolle Forderungen aufgestellt. Es geht besonders um die Eindämmung illegaler Müllexporte, die
Weiterentwicklung der Produktverantwortung besonders
in Hinblick auf die Minimierung der verwendeten Stoffmengen und auf längere Haltbarkeiten, die Ausweitung
der Garantiezeiten und um höhere Forschungsmittel zur
Entwicklung innovativer Recyclingverfahren. In der
Rede meines Kollegen Ralph Lenkert zum Kreislaufwirtschaftsgesetz wurden diese Problematiken bereits angesprochen und Lösungen vorgestellt.
Die Wiederverwendung wird im Antrag angesprochen. Sie reduziert sich jedoch im Wesentlichen auf die
Entwicklung eines Gebrauchsgütermarktes. Wegen der
permanenten Weiterentwicklung und der kurzen Generationszeiten von Mikroelektronik sind andere Möglichkeiten auch aus Sicht meiner Fraktion in der Praxis nicht
möglich. Diese Situation ist vor allen Dingen dem ausufernden globalen Wettlauf um die besten Produkte geschuldet. Sie verursacht systemisch den Verbrauch von
Ressourcen und Energie.
Die Medien sind weltweit auf das Anheizen des Konsums ausgerichtet und erzielen einen großen Teil ihrer
Zu Protokoll gegebene Reden
Einnahmen durch Werbung. Die Abfallproblematik der
Elektrokleingeräte ist unbedingt auch systembedingt.
Eine Entschleunigung ist derzeit kaum möglich. Dazu
bedürfte es einer Veränderung der Werte. Damit die endlichen Ressourcen wirkungsvoll geschützt werden können, bleiben momentan wenig Möglichkeiten offen. Eine
der Möglichkeiten wäre die Einführung einer Steuer auf
den primären Ressourcenverbrauch. Das fehlt aus unserer Sicht im Antrag.
Da wir die gestellten Forderungen insgesamt für
richtig halten, stimmt Die Linke für den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen.
Die diesjährige CeBIT setzt auf Wachstum im Elektronikbereich. Es wird gejubelt über hohe Zuwachsraten
bei Smartphones und Tabletcomputern. Gerade anlässlich einer Messe wie der CeBIT wird aber auch erneut
deutlich, dass dieses Wachstum in der IT-Kommunikationselektronik zu immer kürzerer Nutzungsdauer der
Geräte führt und eine immer größere Menge an Elektronikschrott produziert wird.
Nach aktuellen Schätzungen werden weniger als
25 Prozent der ausgedienten Mobiltelefone einer adäquaten Verwertung zugeführt. Millionen und Abermillionen von Geräten jedoch vergammeln in Schubladen.
Fragen Sie sich mal, wie viele Althandys bei Ihnen ein
trostloses Dasein in Schubladen fristen? In Deutschland
sind es zwischen 60 und 120 Millionen Geräte.
Dabei sind Mobiltelefone heute wahre Schätze. Wir
alle horten zu Hause wichtige Ressourcen, insbesondere
die in den letzten Jahren in den Fokus gerückten Seltenen Erden. Aber Elektronikgeräte insgesamt werden
nicht ausreichend recycelt, obwohl allgemein bekannt
sein sollte, welche Rohstofflager sie sind. Fernseher und
Computer werden illegal nach Afrika oder Asien verschifft und dort unter erbärmlichen Bedingungen zerlegt. Damit exportiert Deutschland jährlich mindestens
1,6 Tonnen Silber, 300 Kilogramm Gold und 120 Kilogramm Palladium, wie eine Studie des Umweltbundesamtes belegt. Wir könnten noch Lithium und das seltene
Coltan anführen; auch hier sind entsprechende Zahlen
zu finden.
Aber dies ist nicht alles: Wir sind über den illegalen
Export auch mitverantwortlich für schlimmste gesundheitliche Schäden bei Menschen in Afrika und Asien
sowie für massive Verseuchung der Böden und des Wassers, die Folgen der unzureichenden Zerlegung unseres
E-Schrotts sind. Die Sorge darum mag manch einer von
der FDP als Gutmenschentum abtun, aber wir Grünen
übernehmen hier Verantwortung auch für den Umweltund Gesundheitsschutz in anderen Ländern der Welt.
Uns sind auch die internationalen Auswirkungen unseres Handelns - anders als den Liberalen - nicht egal.
Wir alle kennen die eben skizzierten Tatsachen genau.
Auch Umweltminister Röttgen betont in Sonntagsreden
immer wieder gerne, wie wichtig Recycling ist und dass
wir die Ressourcen daheim in der Schubladen erschließen müssen. Der Anteil der in Deutschland gesammelten
und recycelten Elektronikgeräte bleibt jedoch weiterhin
gering, und konkrete Maßnahmen, um diesen zu steigern, vermissen wir schmerzlich. Lieber macht die
Kanzlerin Rohstoffdeals mit Diktatoren in Zentralasien
und drückt alle Augen zu bei Menschenrechts- und
Demokratiefragen.
Halten Sie sich vor Augen, wie viele wertvolle Ressourcen in dem Elektronikschrott zu finden sind, der es
nicht zum Recycling schafft. Wir müssen das Problem
endlich angehen und Lösungsstrategien entwickeln;
deshalb unser Antrag zur Verbesserung der Sammlung
und des Recyclings von Elektroschrott.
Was ist der erste Schritt zu mehr Recycling? Die
Geräte müssen erst mal eingesammelt werden. Dies ist
das Hauptproblem. Wir haben das Thema lange mit verschiedenen Fachleuten diskutiert, insbesondere die Fragen, wie mehr Altgeräte gesammelt werden können.
Geeignet dafür ist eine Rücknahmepflicht im Handel.
Alleine von Bürgerinnen und Bürgern zu erwarten, dass
sie aktiv danach suchen, wo sie ihre Geräte abgeben
können, um zum Ressourcenreichtum des Landes beizutragen, reicht hier nicht. Die Motivation für sie muss
erhöht werden, und die Sammlung muss erleichtert werden.
Wir sehen deshalb die Notwendigkeit, zusätzliche Impulse und konkrete finanzielle Anreize für eine bessere
Sammlung zu setzen und fangen bei den Mobiltelefonen
an. Einige werden jetzt wieder rufen: „Oh ein Pfand,
muss das sein? Reichen nicht freiwillige Vereinbarungen
mit dem Handel zur verbesserten Rücknahme?“ Die
Erfahrungen zeigen, das reicht nicht. Schon heute können Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn sie sich
informieren und ein aktives Interesse an der Rückgabe
haben, ihr Handy vergleichsweise unkompliziert zurückgeben. Das Sammeln ist nämlich lukrativ. Verschiedene
Unternehmer sind schon unterwegs und verbinden das
Handysammeln auch gern mit preiswerter Imagepflege
für ihr Unternehmen: hier und da ein Euro pro Handy
für die Elbe, den WWF, die Kindernothilfe oder andere.
Ob die Geräte dann aber auch wirklich einem qualifizierten Recycling zugeführt werden, ist nicht immer
klar, und in den letzten Jahren hat sich, trotz dieser
Angebote, die Menge der gesammelten Altgeräte nicht
gesteigert. Noch immer liegen nach Schätzungen 40 bis
120 Millionen Althandys in den Schubladen.
Wir wollen mit dem Pfand erreichen, dass das Sammelsystem verbessert wird. Gleichzeitig eröffnet sich für
deutsche Unternehmen dadurch die Chance, auch tatsächlich ins hochwertige Recycling zu investieren, weil
hier der regelmäßige Nachschub von Altgeräten gesichert ist. Das ist mit Pfand und Rücknahme durch den
Handel sicher zu erreichen. Wenn man bares Geld für
sein Gerät bekommt, holt man es schnell aus der Schublade und bringt es zurück. Funktioniert das Pilotprojekt
Handypfand, dann können wir es leicht ausweiten auf
die anderen Elektronikaltgeräte. Aber das Pfand ist
nicht die einzige Maßnahme, die wir vorschlagen. Wir
haben gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus
dem Gebiet ein ganzes Bündel von Maßnahmen entwiZu Protokoll gegebene Reden
ckelt, die die Sammlung und das Recycling von Elektroschrott verbessern sollen.
Auch wenn sicher nicht alle hier im Haus sofort den
von uns vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen werden, in einem sollten wir uns einig sein: Wir müssen jetzt
handeln und massiv die Rücknahmequote von Altelektronik erhöhen. Ein Warten auf die Eigeninitiative der
Verbraucherinnen und Verbraucher allein reicht nicht.
Die Ressourcen müssen aktiv gehoben werden.
Daher fordern wir Sie auf, mit uns gemeinsam zu diskutieren und energisch Maßnahmen auf den Weg zu
bringen, um dieses Ziel zu erreichen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8899 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit
einverstanden? - Es widerspricht niemand. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es kaum
glauben: Wir sind somit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. März 2012, 9 Uhr,
ein.
Ich hoffe, dass wir uns alle in Frische wiedersehen.
Vielen Dank.
Die Sitzung ist geschlossen.