Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere heutige Sitzung
eintreten, weise ich Sie auf die interfraktionelle Vereinbarung hin, den Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Energieverbrauchskennzeichnungsrechts auf Drucksache 17/8427 dem Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung nachträglich zur Mitberatung zu
überweisen. Hat jemand dagegen schwerwiegende Bedenken? - Das ist nicht der Fall. Dann beschließen wir
das so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs
zum besseren Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher vor Kostenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr
- Drucksache 17/7745 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/8805 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Marianne Schieder ({1})
Halina Wawzyniak
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu stelle
ich Einvernehmen fest. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
({2})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute ein Gesetz, das den Verbraucherinnen und Verbrauchern wirklich nützt und das ihnen hilft. Viele sind in den letzten Monaten Opfer von
sogenannten Kosten- bzw. Abofallen im Internet geworden; davon sollen 5 Millionen Bürgerinnen und Bürger
betroffen sein.
({0})
Wir haben erkannt, dass die derzeit bestehenden
Schutzmechanismen einfach nicht ausreichen, wenn es
darum geht, zu verhindern, dass Verträge unter falschen
Voraussetzungen oder wegen eines Irrtums abgeschlossen werden. Die Möglichkeiten von Widerruf oder Anfechtung wegen arglistiger Täuschung reichen allein
nicht aus, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu
schützen.
Deshalb beschließen wir heute im Bundestag - ich
hoffe mit großer Mehrheit - ein Gesetz, das die Verbraucherinnen und Verbraucher stärkt. Dieses Gesetz beschließen wir so zügig, wie es uns angesichts der Gesetzgebung auf europäischer Ebene möglich war. Wir
mussten zunächst die EU-Verbraucherrechterichtlinie
abwarten. Diese ist im Oktober 2011 im Europäischen
Rat beschlossen worden. Sofort danach ist dieser Gesetzentwurf von uns eingebracht worden.
({1})
Nun zum Inhalt des Gesetzentwurfs. Sachverständige
und Praktiker haben uns aufgefordert, eine einfache,
klare, verständliche und technikneutrale Regelung vorzulegen. Genau dazu enthält der vorliegende Gesetzentwurf unmissverständliche, klarstellende Regelungen:
Erstens. Unternehmer müssen Verbraucherinnen und
Verbraucher im unmittelbaren Zusammenhang mit der
Bestellung im Internet über die wesentlichen Merkmale
des Produktes, über den Preis, weitere Kosten sowie bei
Dauerschuldverhältnissen, also Abonnements, über die
Mindestlaufzeitzeit des Vertrags informieren. Das alles
muss klar, verständlich, in hervorgehobener Weise und
unmittelbar bevor der Verbraucher seine Erklärung abgibt, dass er etwas bestellen und kaufen will, erfolgen.
Das darf nicht an versteckter Stelle irgendwo auf dem
Bildschirm erscheinen; das reicht nicht aus.
Zweitens. Unternehmer müssen deshalb ihre Onlineshops so gestalten, dass Verbraucher bei ihrer Bestellung
ausdrücklich bestätigen, dass sie sich zu einer Zahlung
verpflichten. Die Schaltfläche für die Bestellung am
Computer, der Bestellbutton, muss unmissverständlich
und gut lesbar auf diese Zahlungspflicht hinweisen. Eine
Schaltfläche mit der Aufschrift „Kostenpflichtig bestellen“ macht jedem Verbraucher sofort klar, auf was er
sich einlässt, was die Rechtsfolge seiner Bestellung ist.
({2})
Diese Pflicht gilt für alle Vorgänge der Onlinebestellung von Waren und Dienstleistungen. Ausnahmen und
Schlupflöcher, die zur Verunsicherung der Verbraucherinnen und Verbraucher führen könnten, gibt es nicht.
Die Pflicht gilt technikneutral für Käufe per Computer,
Smartphone oder Tablet.
Drittens. Erfüllt der Unternehmer diese Pflicht zur
eindeutigen Beschriftung nicht, kommt - das ist ganz
entscheidend - ein entgeltpflichtiger Vertrag mit einem
Verbraucher gar nicht erst zustande. Ohne einen solchen
eindeutig beschrifteten Button gibt es eine klare, eindeutige und, wie ich finde, auch angemessene Rechtsfolge:
Der Verbraucher schuldet keine Zahlung. Die Unternehmer können diese gesetzlichen Vorgaben zur Beschriftung der Bestellschaltfläche gut erfüllen; das geht. Natürlich ist das mit zusätzlichem Aufwand verbunden;
aber der ist eindeutig vertretbar. Meine Damen und Herren, das Risiko, dass Verträge wegen falscher Beschriftung des Bestellbuttons ungewollt nicht zustande kommen, ist deshalb hoffentlich ganz gering; wir haben die
gesetzliche Regelung entsprechend ausgestaltet.
({3})
Wir schaffen also mehr Transparenz und mehr Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist
ein wichtiger Schritt zur Stärkung des Verbrauchers,
aber nicht der einzige, den wir als Bundesregierung vorhaben: Wir werden noch im Frühjahr Regelungen vorlegen, mit denen wir Konsequenzen aus der unerlaubten
Telefonwerbung ziehen; damit haben wir uns in diesem
Hause auch in vergangenen Legislaturperioden oft befasst. Wir werden auch Regelungen zu unseriösen Inkassodienstleistungen und zu überzogenen Abmahnungen
im wettbewerbsrechtlichen und urheberrechtlichen Bereich vorlegen. Wir unternehmen jetzt also einen ersten,
wichtigen, großen Schritt zur Stärkung des Verbrauchers, und es werden weitere folgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Marianne Schieder hat nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frei nach Klaus Lage - „… und es hat zoom gemacht“ - schreibt der Verbraucherzentrale Bundesverband in einer Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung
zum Gesetzentwurf: „Und es hat ‚klick‘ gemacht …“
Genau so ist es: Tausendmal ist nichts passiert, aber mit
einem kurzen Klick auf einer unseriösen Internetseite
fallen unzählige Verbraucherinnen und Verbraucher auf
betrügerische Abofallen im Internet herein. Die Hände
reiben sich dann auch dubiose Inkassofirmen, die häufig
mit diesen kriminellen, betrügerischen Abohändlern unter einer Decke stecken. Im Dezember letzten Jahres hat
der Verbraucherzentrale Bundesverband eine Untersuchung veröffentlicht, die genau dies belegt: 5,4 Millionen Menschen, das sind 11 Prozent aller deutschen Internetnutzer, sind auf eine Abofalle hereingefallen.
Zum vierten Mal diskutieren wir nun über dieses
Thema hier in diesem Haus. Aber immerhin geht jetzt
endlich etwas voran. Hätten Sie aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen aus den Reihen der Union und der FDP,
unserem Gesetzentwurf vor über einem Jahr zugestimmt
und ihn nicht abgelehnt, könnten wir schon erheblich
weiter sein.
({0})
Vielen Menschen in unserem Land wären dann viel Ärger und viele Ausgaben erspart geblieben.
Nun beschließen wir endlich den Gesetzentwurf der
Bundesregierung - einen Gesetzentwurf, der die Forderungen der SPD aufgreift; deshalb werden wir ihm zustimmen. Vollkommen unerklärlich ist es uns aber, warum Sie diese Gelegenheit nicht genutzt haben, um den
unseriösen Inkassobüros das Handwerk zu legen.
({1})
Es ist wirklich sehr schade, dass Sie diese Chance, für
mehr und umfassenderen Verbraucherschutz zu sorgen,
vertan haben.
Noch ein Wort zu den Interessenvertretern. Da beklagt
doch tatsächlich der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten - kurz VATM -, die
im Gesetzentwurf vorgesehene Umsetzungsfrist von drei
Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes sei zu knapp.
Man brauche eine Schonfrist von zwei Jahren oder zumindest von einem Jahr. Meine Damen und Herren vom
VATM, diese Schonfrist hatten Sie doch schon. Es muss
doch in den letzten zwei Jahren auch bei Ihnen angekommen sein, was allen klar ist, die sich jemals mit dieser Thematik beschäftigt haben: dass es längst an der
Zeit ist, hier eine gesetzliche Regelung zu schaffen.
Marianne Schieder ({2})
Äußerst ärgerlich aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, ist es, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf im Omnibusverfahren nun auch das Wohnungseigentumsgesetz ändern wollen.
({3})
Sie wollen die Verlängerung der Frist für den Ausschluss
der Nichtzulassungsbeschwerde um mehr als zwei Jahre,
nämlich vom Enddatum 1. Juli 2012 auf das Enddatum
31. Dezember 2014 ausweiten. Gemäß § 62 Abs. 2 Wohnungseigentumsgesetz ist die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 543 Abs. 1 Nr. 2 und § 544 der ZPO in Wohnungseigentumssachen nach § 43 Nr. 1 bis 4
Wohnungseigentumsgesetz - nicht statthaft, soweit die
anzufechtende Entscheidung vor dem 1. Juli 2012 verkündet wurde. Sinn und Zweck von § 62 Abs. 2 Wohnungseigentumsgesetz war es, einer Überlastung des
Bundesgerichtshofs vorzubeugen. Sie konnten weder im
Berichterstattergespräch noch im Rechtsausschuss überzeugend darlegen, warum Sie diese Beschränkung des
Rechtswegs um weitere zwei Jahre verlängern wollen.
Diese ebenfalls geplante Gesetzesänderung hat mit dem
eigentlichen Gesetzesvorhaben, nämlich dem verbesserten Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern vor
Kostenfallen im Internet, gar nichts zu tun. Daher haben
wir im Rechtsausschuss unsere Kritik am Verfahren an
sich, aber auch an der Fristverlängerung als solcher deutlich zum Ausdruck gebracht und die geplante Änderung
des Wohnungseigentumsgesetzes abgelehnt.
Der längst überfällige und von uns lange geforderte
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor den
Kostenfallen im Internet ist uns aber so wichtig, dass wir
dennoch, wenn auch mit Bauchschmerzen im Hinblick
auf die Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes, zustimmen werden. Wir meinen, die Verbraucherinnen und
Verbraucher in diesem Land haben es verdient, dass jetzt
endlich gehandelt wird.
Vielen Dank.
({4})
Marco Wanderwitz ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem heute zu verabschiedenden Gesetz setzen wir ein
weiteres wichtiges rechts- und verbraucherpolitisches
Vorhaben der christlich-liberalen Koalition um. Wir stellen damit auch unter Beweis, dass wir die neuen Herausforderungen der digitalen Welt annehmen und mit
maßgeschneiderten rechtlichen Regelungen für mehr
Rechtssicherheit bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern sorgen.
Kostenfallen sind für viele Millionen Menschen in
unserem Land - das haben wir schon in der ersten Lesung besprochen - ein großes Übel geworden. Die
Ministerin und Frau Kollegin Schieder haben schon darauf hingewiesen, was sich hinter dem Begriff Kostenfallen so alles verbirgt. In wenigen Worten: im Internet
angebotene Dienstleistungen zumeist, von denen man
annimmt und, so wie die Internetseiten gestaltet sind, annehmen muss, dass sie kostenfrei sind; diese Dienstleistungen werden oft als gratis beworben. Aus dem Kleingedruckten geht dann allerdings hervor, dass man sich
beim Kauf dieser Dienstleistungen eine Forderung einhandelt.
Viele von uns kennen solche Fälle aus eigenem Erleben, aus dem Familien- oder Bekanntenkreis. Aus Ärger
über sich selbst und über die eingetretene Situation, aus
Ungewissheit und natürlich aus der Scheu, wegen einer
meist nicht sehr hohen, aber dennoch beachtlichen Forderung - häufig handelt es sich um ungefähr 100 Euro zum Anwalt zu gehen, zahlen am Ende viele.
Eine aktuelle Infas-Studie belegt, dass bereits über
5 Millionen Menschen in unserem Land in Abofallen geraten sind. Jeder Zehnte zahlt sofort und jeder Fünfte, sobald er eine Mahnung oder Drohung bekommt. Angesichts dieser Zahlen bekommen wir schnell ein Gefühl
dafür, wie groß dieses Problem ist, wie sehr dieser Markt
im negativen Sinne prosperiert.
Durch die ständig wiederholte und auch heute wieder
vorgetragene Untätigkeitsschelte seitens der Opposition
wird nichts besser.
({0})
Wir haben bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, dass
wir in diesem Bereich etwas tun wollen.
({1})
Wir haben frühzeitig darauf hingewiesen, dass wir eine
Regelung auf europäischer Ebene brauchen. Die Kostenfallen sind ein europäisches Problem, und es macht daher nur Sinn, gemeinsam mit unseren Nachbarländern
eine Lösung zu finden.
Wir haben also nicht nichts gemacht, sondern wir haben auf die kürzlich verabschiedete EU-Richtlinie, die
Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger angesprochen
hat, Einfluss genommen.
({2})
Die Ministerinnen Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger,
die heute anwesend sind, haben an der Erstellung der
EU-Richtlinie maßgeblich mitgewirkt. Die Schaltflächenlösung, die jetzt implementiert worden ist, wurde
von Deutschland vorangetrieben.
Es ist sinnvoll, dass wir uns darauf geeinigt haben,
dass wir auf den Erlass der EU-Richtlinie warten, bevor
wir auf nationaler Ebene eine Regelung einführen, die
wir wenige Monate später revidieren müssen. Den seriösen Anbietern sind einmalig höhere Bürokratiekosten
zuzumuten; aber es ihnen nicht zuzumuten, drei Monate
später noch einmal für diese Kosten aufkommen zu müs19378
sen, nur weil man einen Schnellschuss gemacht hat; das
wäre nicht sinnvoll gewesen. Deshalb haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen parallel zur Erstellung der EU-Richtlinie den vorliegenden Gesetzentwurf erarbeitet, damit er zeitnah nach Verabschiedung
dieser Richtlinie eingebracht werden kann.
Die europarechtlich zulässige, partielle und zeitlich
vorgezogene Umsetzung einer vollharmonisierten Richtlinie müssen wir innerhalb von weniger als zwei Jahren
- bis zum 13. Dezember 2013 - vollziehen. Die Tatsache, dass wir so schnell arbeiten, zeigt, wie wichtig uns
dieses Thema ist.
({3})
Dem vorliegenden Gesetzentwurf liegt die sogenannte
Schaltflächenlösung zugrunde: Ein Vertrag kommt nur
zustande, wenn am Ende einer Bestellung im Internet
eine finale Schaltfläche aufpoppt, in der mit der Formulierung „Zahlungspflichtig bestellen“ oder einer ähnlich
unmissverständlichen Formulierung klargestellt ist: Hier
entstehen dem Verbraucher Kosten.
Das Unternehmen muss die Bestellsituation im elektronischen Geschäftsverkehr so gestalten, wie es außerhalb des elektronischen Geschäftsverkehrs zu sein hat.
Der Verbraucher muss durch Anklicken ausdrücklich bestätigen, dass er erkannt hat, dass Kosten auf ihn zukommen. Ebenso wichtig ist, dass der Verbraucher unmittelbar vor Abgabe der Bestellung durch den Unternehmer
über wesentliche Merkmale des Produkts sowie über
Mindestlaufzeit und entstehende Kosten - Gesamtpreis,
Liefer- und Versandkosten - informiert wird. Stichwort
Abofallen: Es ist oft so, dass dem Verbraucher suggeriert
wird, dass er einmalig eine Dienstleistung erwirbt; dabei
handelt es sich um ein über Jahre laufendes Abo. All das
muss oberhalb der Schaltfläche „Bestellbutton“ in hervorgehobener Weise abgebildet sein.
Die rechtlichen Konsequenzen hat die Frau Ministerin schon angesprochen. Die neue Regelung ist ein großer Gewinn für die Verbraucherinnen und Verbraucher,
denn die Verbraucher müssen nicht mehr selber die nötigen Schritte einleiten - das haben wir in der Anhörung
diskutiert -; vielmehr sieht die Regelung vor: Wenn die
Gestaltungspflichten nicht erfüllt sind, dann kommt von
vornherein kein Vertrag zustande. Der Verbraucher muss
also nicht vom Vertrag zurücktreten. Wer als Anbieter
seine Informationspflichten nicht erfüllt, dem drohen
Abmahnungen und Schadenersatzansprüche. Das Ganze
ist also ein scharfes Schwert.
Im parlamentarischen Verfahren, insbesondere bei der
Expertenanhörung im Rechtsausschuss, die ich als sehr
fruchtbar empfand, wurden vonseiten der Wissenschaftler und der Richterschaft verschiedene Modifizierungsvorschläge angeregt und praxisnah diskutiert.
In dem Berichterstattergespräch am Montag habe ich
den Eindruck gewonnen, dass wir uns relativ einig sind.
Vorgestern legten die Grünen aber einen Entschließungsantrag vor, wodurch dieser Eindruck nachträglich getrübt wurde. Ich will ein paar Sätze zu den Details dieses
Entschließungsantrags sagen.
Sie fordern eine ausdrückliche gesetzliche Normierung. Sie fordern, dass die Unternehmer einen rechtsgültig zustande gekommenen Vertrag nachzuweisen haben.
Sie fordern also ausdrücklich eine Beweislastregel. Das
ist zum einen unnötig, zum anderen unüblich, ganz einfach deshalb, weil sich die Beweislastverteilung aus der
Formulierung der Vorschrift ergibt. Will der Unternehmer einen vertraglichen Zahlungsanspruch geltend machen, muss er entsprechend den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen den Beweis erbringen; der Gläubiger
muss also die den Anspruch begründenden Tatsachen
darlegen.
Weiterhin fordern Sie wissenschaftliche und rechtliche Prüfungen bezüglich der Musterschaltfläche; das haben wir in der Anhörung besprochen. Ich gebe offen zu auch ich habe eine Frage gestellt, die in diese Richtung
zielt -: Charmant wäre das. Gleichwohl passt diese Forderung überhaupt nicht zu Ihrer Forderung nach Technikneutralität. Denn selbst wenn es gelänge, eine Musterschaltfläche für den klassischen PC zu entwickeln, ist
es schlechterdings nicht denkbar, diese zum Beispiel auf
einem Tablet oder einer Spielekonsole in derselben Form
darzustellen. Deswegen glauben wir, dass die Forderung
nach einer Musterschaltfläche, so wünschenswert sie ist,
schlicht nicht umsetzbar ist. Außerdem ist sie, wie gesagt, mit Ihrer Forderung nach Technikneutralität nicht
in Einklang zu bringen.
Zum Thema Technikneutralität hat die Ministerin
schon etwas gesagt. Ich will noch einmal betonen - das
steht auch in der Begründung des Gesetzentwurfs -, dass
eine Technik bzw. ein Endgerät ausdrücklich nicht erwähnt wurde. Insofern ist diese Regelung technikneutral.
Dementsprechend sind weitere Formulierungen überflüssig.
Ich halte Ihren gesamten Entschließungsantrag für
überflüssig. Mir ist klar, dass er nicht von den Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern der Grünen kommt.
Wir werden ihn ablehnen.
({4})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mir
wichtig ist - Frau Schieder hat ihn bereits erwähnt -:
Hinsichtlich der unseriösen Inkassounternehmen müssen
wir etwas unternehmen.
({5})
- Ja, da müssen wir etwas tun. - Allerdings gibt es nicht
nur unseriöse Inkassounternehmen, sondern auch seriöse
Inkassounternehmen. Das sollten wir an dieser Stelle
auch sagen.
({6})
- Nein, sie verschwinden nicht in der Masse. Es gibt
eine ganze Menge seriöser Inkassounternehmen; es gibt
auch eine ganze Menge Menschen in diesem Land, die
Schulden haben und sie nicht bezahlen. Gleichwohl
müssen wir hinsichtlich der unseriösen InkassounternehMarco Wanderwitz
men etwas unternehmen. Die Koalition wird in Kürze etwas dazu vorlegen.
({7})
Wir werden also sehr bald darüber verhandeln können.
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Abofallen im Internet sind ein großes Problem.
Deswegen haben wir in den vergangenen Jahren hier
schon mehrfach darüber diskutiert. Was scheinbar gratis
angeboten wird, wird schnell, durch ein paar Mausklicks, zu einem teuren Abo. Will man sich beispielsweise gratis einen Songtext herunterladen, ist man nach
wenigen Mausklicks ein teures Jahresabonnement für
ein Horoskop eingegangen. Deswegen ist es völlig unerlässlich, dass die Bundesregierung handelt, dass der
Bundestag handelt, dass dieser Abzocke im Internet endlich ein Riegel vorgeschoben wird.
({0})
Die Möglichkeiten, versteckte Kostenfallen im Internet unterzubringen, sind sehr vielfältig. Einige unseriöse
Unternehmen haben sehr viel Kreativität entwickelt leider an der falschen Stelle. Dabei geht es, wie gesagt,
um Songtexte, um Kochrezepte, um Psychotests oder um
Horoskope. Hier ist man vor Abzocke im Internet in der
Tat nicht sicher.
Diese perfide Abzocke im Internet findet seit vielen
Jahren statt. Sie schädigt Millionen Verbraucherinnen
und Verbraucher. 5,5 Millionen Menschen sind nach
Schätzungen der Verbraucherzentralen davon betroffen.
Es wird höchste Zeit, dass diese Abzocke im Internet
endlich beendet wird.
({1})
Ich habe schon gesagt, dass wir hier seit Jahren über
dieses Thema diskutieren. Schon vor anderthalb Jahren
ist an dieser Stelle über einen Gesetzentwurf der SPD
diskutiert worden. Dieser Gesetzentwurf wurde von der
Koalition abgelehnt. Die Linke hat dieses Thema bereits
in der letzten Legislaturperiode eingebracht. Deswegen
komme ich nicht darum herum, mich zu fragen, warum
es so lange gedauert hat, bis die Bundesregierung diesbezüglich eine Regelung vorgeschlagen hat.
({2})
Ich frage erneut: Was ist in der Koalition los?
({3})
Ministerin Aigner lässt seit Jahren kein Mikrofon aus,
um etwas zu diesem Thema zu sagen; gehandelt hat sie
gleichwohl nicht. Die Justizministerin sagte vorhin, das
Thema sei seit einigen Monaten bekannt. Immerhin hat
sie jetzt gehandelt. Ich sage: Durch diese Zeitverzögerung liegt der Schaden für die Verbraucherinnen und
Verbraucher im mehrstelligen Millionenbereich. Das
wäre nicht nötig gewesen.
({4})
Auch das Argument, man müsse eine europäische Regelung abwarten, ist aus meiner Sicht nicht zielführend.
Anträge und Gesetzentwürfe lagen vor, um zumindest
das zu regeln, was auf nationaler Ebene möglich gewesen wäre - es gibt keinen Grund, warum man dies nicht
getan hat -; dies wäre im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher gewesen.
Das Schneckentempo der Bundesregierung in dieser
Frage ist der Entwicklung im digitalen Zeitalter einfach
nicht angemessen. Das Internet entwickelt sich in Lichtgeschwindigkeit, und die Bundesregierung sattelt die
Pferde, um hinterherzukommen. So funktioniert das
nicht. Das muss in Zukunft schneller gehen.
({5})
Hinzu kommt: An einigen Stellen lässt der Gesetzentwurf der Bundesregierung die Klarheit vermissen, die
wir uns gewünscht hätten und die aus meiner Sicht auch
nötig gewesen wäre. Die Empfehlungen der Experten
wurden an einigen Stellen nicht ausreichend berücksichtigt. Das wird auch in dem vorliegenden Entschließungsantrag kritisiert, dem wir als Linke zustimmen werden.
Ich nenne einige Beispiele. Abzocke im Internet und
unseriöses Inkasso gehören zusammen.
({6})
Aus einer ursprünglichen Forderung von 20,84 Euro
wird mithilfe unseriöser Inkassounternehmen schnell
eine Forderung von 1 200 Euro. Die Verbraucherzentralen haben in einer Auswertung festgestellt, dass nur
1 Prozent dieser Forderungen berechtigt war. Wir haben
schon bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes über
dieses Thema diskutiert. Auch die Vertreterinnen und
Vertreter der Koalition haben das Problem nach eigenen
Aussagen erkannt. Deswegen frage ich mich: Warum
wurde die Gelegenheit nicht genutzt, um dieses Problem
gesetzlich auszuräumen? Auch hier ist die Bundesregierung in der Pflicht. Durch Untätigkeit werden Verbraucherinnen und Verbraucher geschädigt. Bei dem Thema
unseriöses Inkasso muss schnellstmöglich gehandelt
werden.
({7})
Der zweite Kritikpunkt, den ich anbringen möchte
- auch dies hat schon eine Rolle gespielt -, betrifft die
Ausgestaltung der Schaltflächen. Um Verbraucherinnen
und Verbraucher ausreichend vor Kosten warnen zu können, sollte nach unserer Auffassung nicht nur eindeutig
darüber informiert werden, dass sie zahlen müssen, sondern auch darüber, wie viel sie zahlen müssen. Diese
Schaltfläche müsste immer separat betätigt werden. Das
ist beispielsweise in Frankreich schon so üblich. Deswegen sind Kostenfallen im Internet dort kein Thema. Bei
uns hingegen geht es bei 20 bis 30 Prozent der Beschwerden, die Verbraucherinnen und Verbraucher an
die Verbraucherzentralen richten, um dieses Problem.
Auch das zeigt, dass man auf nationaler Ebene deutlich
mehr hätte tun können.
({8})
Die Forderung nach einer Musterschaltfläche, damit Unternehmen die Schaltflächen nicht bis zur Unkenntlichkeit kaschieren können, ist unerlässlich. Wir schließen
uns dieser Forderung an.
({9})
Eine weitere Forderung in dem Entschließungsantrag
ist - auch diese Auffassung teilen wir - die nach der Beweislastumkehr. Es muss eindeutig geregelt sein, dass es
die Pflicht der Unternehmen ist, die Rechtmäßigkeit der
Verträge zu beweisen, und dass nicht die Verbraucherinnen und die Verbraucher, die durch die vielen Regelungen im Internet ohnehin schon überfordert sind, nachweisen müssen, dass sie im Recht sind.
Gegen Ende meiner Rede komme ich zur bereits erwähnten Technikneutralität. Die Zeiten, in denen man
das Internet zu Hause oder am Arbeitsplatz an großen
grauen Computern nutzte, sind vorbei. Immer mehr nutzen auch Smartphones und iPads - sie sind unsere ständigen Begleiter -, um im Internet zu surfen. Untersuchungen zeigen, dass über ein Drittel der Bevölkerung
von unterwegs auf das Internet zugreift. Es ist also nicht
auszuschließen, dass man zum Beispiel bei der Internetnutzung, während man in der U-Bahn ist, in eine Abofalle tappt. Angesichts dessen muss sichergestellt werden, dass diese Internetbuttons auch für Smartphones
gelten. Das ist eigentlich selbstverständlich.
({10})
Ich komme zum Schluss. Die Vorschläge der Bundesregierung sind an zu vielen Stellen nicht präzise genug,
um die Verbraucherinnen und Verbraucher vor Abzocke
im Internet zu schützen. Auf der Zielgeraden kamen
dann noch völlig sachfremde Themen hinzu. Was die
Neuregelung des Wohnungseigentumsgesetzes mit Abzocke im Internet zu tun hat, das kann mir kein Mensch
erklären. Auch für das Omnibusverfahren haben wir
kein Verständnis.
({11})
Moderne und effektive Verbraucherpolitik muss präziser sein. Sie muss sich auf die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher stellen.
({12})
Sie darf nicht davor zurückschrecken, Herr Kollege, sich
auch mit Unternehmen anzulegen.
({13})
Vor allen Dingen muss sie schneller sein.
Vielen Dank.
({14})
Ingrid Hönlinger ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internet und Verbraucherschutz ist ein Thema, das viele
Menschen betrifft. In den Verbraucherzentralen sind
Fälle der Internetabzocke seit fünf Jahren der Spitzenreiter in der Beschwerdestatistik. Tausende von Beschwerden gehen hier jährlich ein. Unzählige Verbraucher fühlen sich schutzlos gegenüber unseriösen Unternehmern,
die die Kostenpflichtigkeit ihrer Angebote im Internet
verschleiern.
Verbraucherschutz und Internet, das ist ein echtes
Massenphänomen, ein Phänomen, das auch eine erhebliche Belastung der Gerichte zur Folge hat. Heute stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der Verbraucher
vor genau diesen unseriösen Praktiken schützen soll. Wir
setzen damit in Deutschland eine EU-Richtlinie um. Erfreulich ist, dass wir die Frist zur Umsetzung der Richtlinie nicht abwarten, sondern es schon jetzt machen.
({0})
Das verhindert, dass noch mehr Verbraucher Opfer von
Internetfallen werden. Allerdings haben wir dieses
Thema am 2. Dezember 2010 schon einmal debattiert.
Mehr als ein Jahr hat es gedauert, bis wir jetzt über den
Gesetzentwurf abstimmen können. Weniger erfreulich
ist, dass wir nicht früher handeln konnten.
({1})
Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Im Internet ist die Zeit zwischen optischem Reiz und Kaufklick
extrem kurz. In einem Lebensmittelgeschäft zum Beispiel ist das ganz anders. Da können Sie auch einmal
eine Dose Mango in die Hand nehmen, schauen, wie viel
Zucker drin ist, und die Dose bei Nichtgefallen wieder
ins Regal stellen. Das muss in ähnlicher Form auch im
Internet möglich sein.
({2})
Wir sind der Meinung, dass die Umsetzung der sogenannten Buttonlösung für Vertragsabschlüsse im Internet
einen richtigen Schritt darstellt. Wenn der Button zu sehen ist, sind dem Nutzer und der Nutzerin das Produkt
und der Gesamtpreis klar. Er und sie wissen dann: Jetzt
wird es ernst, jetzt tippt der Verkäufer die Rechnung ein,
jetzt kostet es Cash. Die Buttonlösung ist ein Verbraucherschutzinstrument, für das wir Grüne uns seit langem
einsetzen. Wir werden dem Gesetzentwurf, der die ButIngrid Hönlinger
tonlösung vorsieht, zustimmen, weil wir damit den Verbraucherschutz im Internet stärken.
({3})
Aus verbraucherpolitischer Sicht hätten wir uns aber
mehr von der Bundesregierung gewünscht.
({4})
Es geht hier um einen Gesetzentwurf, der einzig und allein die Stärkung des Verbraucherschutzes zum Ziel hat.
Deshalb sollten wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern alle Möglichkeiten an die Hand geben, ihre Rechte
zu erkennen und durchzusetzen.
({5})
Unser Ziel ist es, den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Internet ein Instrument an die Hand zu geben,
das ihnen klar und deutlich ihre Rechte vor Augen führt.
Dazu gehört Folgendes:
Erstens. Die EU-Richtlinie gibt vor, dass der Unternehmer die Beweislast dafür trägt, dass er seine Informationspflichten im Internet erfüllt hat. Nach den Regelungen der Zivilprozessordnung ist klar: Wer eine
Geldforderung einklagt - das ist im Regelfall der Unternehmer -, trägt die Beweislast dafür, dass der Vertrag im
Internet wirksam zustande gekommen ist. Für den juristischen Laien ergibt sich das aus der vorgeschlagenen
Regelung aber nicht auf den ersten Blick. Deshalb ist
hier aus unserer Sicht eine Klarstellung erforderlich.
({6})
Zweitens. Technische Entwicklungen sind schnelllebig; das wissen wir alle. Wir müssen deshalb ein Auge
darauf haben, dass Internetanbieter neuere Entwicklungen nicht dazu nutzen können, ihre Pflichten zu umgehen. Auch eine Musterschaltfläche erscheint uns sinnvoll. Wir meinen, dass wir die Verbraucherinnen und
Verbraucher damit noch besser vor unseriösen Anbietern, die ganz bewusst nach Umgehungsmöglichkeiten
suchen, schützen können.
({7})
Drittens. Wir treffen jetzt Regelungen, um unseriöse
Internetangebote zu verhindern. Es wäre sinnvoll gewesen, dies mit Regelungen zu unseriösen Inkassomaßnahmen zu verbinden. Häufig ist es doch so: Auch wenn der
Klick im Internet nicht zu einem Vertragsabschluss
führt, gibt es manche Internetanbieter, die ihre vermeintliche Forderung Inkassounternehmen zum Einzug übergeben. Diese senden Mahnungen an die Verbraucher.
Die Verbraucher fühlen sich eingeschüchtert und zahlen.
Hier brauchen wir dringend eine gesetzliche Regelung,
die unseriösem Inkassogebahren Einhalt gebietet.
({8})
Mit der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf stimmen wir nicht nur über die Buttonlösung in Bezug auf
Vertragsabschlüsse im Internet ab, sondern zusätzlich
auch über eine Änderung im Wohnungseigentumsgesetz.
2007 wurden die Verfahren in Wohnungseigentumssachen der Zivilprozessordnung unterstellt und aus der
Freiwilligen Gerichtsbarkeit herausgenommen. Die Zivilprozessordnung sieht verschiedene Rechtsmittel vor,
darunter auch die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof. Um eine Überlastung des BGH zu
vermeiden, wurde die Nichtzulassungsbeschwerde in
Wohnungseigentumssachen für eine Übergangsfrist ausgeschlossen. Diese Frist würde am 1. Juli dieses Jahres
enden.
Jetzt soll die Frist bis zum 31. Dezember 2014 um
zweieinhalb Jahren verlängert werden.
({9})
Das sind zweieinhalb Jahre, in denen sich die Beteiligten
in Wohnungseigentumssachen nicht an den Bundesgerichtshof wenden können. Ein Rechtsmittel, das die Zivilprozessordnung für diese Fälle vorsieht, wird ihnen
per Gesetz verweigert.
({10})
Wir Grünen haben 2007 klar zum Ausdruck gebracht,
dass Wohnungseigentumssachen besser in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit aufgehoben wären. Nun sind sie in
der ZPO geregelt. Das war der Wille des Gesetzgebers.
Jetzt müssen wir auch die Konsequenzen daraus tragen.
Eine Konsequenz ist, dass die Rechtsmittel, die die ZPO
bietet, jedem zur Verfügung stehen. Ausnahmen bedürfen einer triftigen Begründung.
({11})
Die Koalition bezieht sich in ihrem Änderungsantrag
auf Erfahrungen aus den Jahren 2008 bis 2010. Sie erklärt, dass es nicht gelungen ist, eine zuverlässige Prognose darüber aufzustellen, wie viele der Fälle in Wohnungseigentumssachen der Nichtzulassungsbeschwerde
zugänglich wären. Diese Erklärung genügt uns nicht.
Inzwischen liegt das Jahr 2011 hinter uns. Vier Jahre
müssten genügen, um eine klare Prognose zu erstellen.
Der Zugang zum Recht muss für alle Rechtsstreitigkeiten gleichermaßen eröffnet sein. Das beinhaltet auch den
Zugang zur höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Internet ist aus unserem Leben nicht mehr
wegzudenken. 55 Millionen Bundesbürger haben heute
regelmäßigen Zugang zum Internet. Viele Menschen
vertrauen den Informationen aus dem Netz. Heute wird
auf Wikipedia verwiesen, um die Glaubwürdigkeit einer
Information zu unterstreichen. Im Brockhaus nachzusehen, ist komplett out.
Menschen breiten ihr ganz privates Leben im Netz
aus, und Menschen mit gleichen Interessen finden sich
im Netz. Sie tauschen sich aus, befreunden sich oder machen Geschäfte miteinander. Es wird spioniert, heruntergeladen und gespeichert, und illegal erworbene Daten
werden vervielfältigt und für den eigenen Gebrauch genutzt.
Dennoch vertrauen die meisten Menschen dem Internet. 74 Prozent der Smartphone-Benutzer haben sich vor
einem Einkauf schon einmal mobil über das gewünschte
Produkt informiert. 85 Prozent aller deutschen Internetnutzer haben Erfahrungen mit Onlinekäufen. Viele nutzen den Onlinehandel vor allem, weil er für sie so unkompliziert ist, sagt der law-blog-Gründer Udo Vetter.
Die größte Gruppe der Internetnutzer bilden dabei junge
Verbraucher. Und: Mehr Männer als Frauen kaufen per
Internet ein.
Aber: 32 Prozent davon haben schon einmal schlechte
Erfahrungen gemacht. Jeder zehnte Deutsche soll schon
einmal in eine Internetfalle getappt sein. Da wundert es
nicht, dass 93 Prozent aller Befragten eine sichere Bezahlung und eine sichere Rechnungslegung für besonders wichtig halten. Sicherheit und Vertrauen sind genauso Grundlage des Internethandels wie jedes
herkömmlichen Handels.
Die Möglichkeiten, im Internet Geschäfte zu machen,
sind unglaublich schnell gewachsen. Das Wissen um die
Gefahren, die damit einhergehen, wächst hingegen viel
langsamer. Wir Internetnutzer befinden uns in einem
Lernprozess: Wie schütze ich meine persönlichen Daten? Wie kann ich feststellen, ob das, was ich lese, auch
wahr und richtig ist und ich keinem Betrug aufsitze?
Die Antworten darauf sind naturgemäß nicht ganz
einfach. An erster Stelle ist der Nutzer gefragt. Er muss
sich eigenständig informieren, bilden und auseinandersetzen. Er muss für sein eigenes Handeln Verantwortung
übernehmen, egal ob er den Vertrag im Internet abschließt oder seine Unterschrift unter ein Papier setzt.
Aber wir wollen ihn dabei nicht alleinlassen. Wir wollen
gute Information und Aufklärung ermöglichen, und wir
wollen das Vertrauen der Verbraucher in Internetgeschäfte erhalten, ja besser noch: Wir wollen es stärken.
Da, wo Missbrauch getrieben wurde, schieben wir in
Zukunft einen Riegel vor, und das europaweit. Einzellösungen auf Länderebene sind beim Internet zum Scheitern verurteilt. Deswegen herzlichen Dank an unsere
Ministerin Ilse Aigner.
({0})
Ilse Aigner ist es gelungen, die deutschen Standards in
ganz Europa umzusetzen. Frau Aigner, Sie haben einen
tollen Job gemacht. Große Anerkennung und vielen
Dank dafür!
({1})
Wo waren die Schlupflöcher für unseriöse Machenschaften? Wo liegen die Schwerpunkte des Betrugs? Das
wissen wir sehr genau. Allein bei den Verbraucherzentralen gehen bundesweit monatlich rund 22 000 Beschwerden ein. Dabei geht es bei weitem nicht nur um
Bereiche wie Horoskope oder Gewinnspiele. Nein, die
kriminelle Energie bezieht sich auf ganz unterschiedliche Nutzergruppen. So werden zum Beispiel Kinder mit
Seiten zur Hausaufgabenhilfe oder mit Malvorlagen angelockt. Jugendliche tappen bei berufswahl.de oder Movie Tests, bei fuehrerschein.de oder einem IQ-Test in die
Abofalle.
Suchen Sie auf der falschen Seite nach einem Vornamen, wollen Sie auf eine Datenbank zur Ahnenforschung zugreifen oder vielleicht Kontakt zu Ihren Nachbarn per Internet herstellen, dann kann Sie das leicht
200 Euro kosten. 192 Euro verlieren Sie auf der Seite eines Routenplaners oder einer Mitfahrerzentrale. Abschließend noch ein Beispiel insbesondere für die Kollegen: wahlinfo2009.de, angelehnt an den uns allen
bekannten Wahl-O-Mat, arbeitete ebenfalls unseriös.
Die Aufzählung zeigt: Das Phänomen ist weit verbreitet. Dabei ist das Schema immer das Gleiche. Der
Nutzer liest etwas, lädt etwas herunter, bestellt etwas,
immer in dem Glauben, dies sei kostenlos oder billiger,
als später auf der Rechnung steht.
Warum? Der Hinweis auf den Preis ist versteckt:
kleingeschrieben, ganz am Ende der Seiten und nur über
Umwege zu finden. Der einzige Sinn einer solchen Seite
besteht darin, den Nutzer zu täuschen und ihn zu bewegen, eine von ihm eigentlich so nicht gewollte kostenpflichtige Bestellung aufzugeben. Das ist unseriös, aber
leider sehr erfolgreich.
Dabei muss der Kunde, wie schon gesagt wurde, in
solchen Fällen gar nicht zahlen. Aber wer weiß das
schon? Viele Kunden fürchten den Schriftwechsel, die
Arbeit und den Ärger und zahlen lieber sofort. Darauf
spekuliert der Anbieter. Aber damit ist jetzt Schluss.
Zukünftig gilt: Ein Vertrag kommt nur zustande,
wenn der Kunde am Ende auf eine Schaltfläche mit folgenden Informationen klickt: „Zahlungspflichtig bestellt“ oder mit einer entsprechenden anderen eindeutigen Formulierung, mit Angaben zum Preis, den
Gesamtlieferkosten und zur Vertragslaufzeit. Das ist eine
einfache und klare Lösung.
Der Kunde kann also in Zukunft sicher sein, dass er
nur zahlen muss, was er auch vorher aktiv bestätigt und
damit bestellt hat. Er muss keine Angst mehr haben, dass
er irgendwo auf den vielen Seiten einen Hinweis übersehen hat, dass Kosten dazukommen, weil irgendwo ein
Haken gesetzt war, den er hätte löschen müssen, oder
dass ihm ein Jahresvertrag untergeschoben wurde, obwohl er nur einmalig etwas bestellen wollte. Die Sicherheit für den Kunden steigt, und die Missbrauchsmöglichkeiten sinken.
Die Bestätigung des Kaufs über diese gesonderte
Schaltfläche wird bald zum normalen Vertragsabschluss
im Internet gehören; man wird sie sich bald nicht mehr
wegdenken können. Taucht die Schaltfläche nicht auf,
weiß der Kunde: Hier ist etwas nicht in Ordnung; ich
lasse besser die Finger davon.
Die Opposition fordert nun, eine Musterschaltfläche
gesetzlich vorzugeben. Aber das ist in der Praxis leider
nicht durchführbar.
Erstens. Die Darstellungsmöglichkeiten auf einem
Smartphone sind komplett andere als auf einem PC.
Zweitens. Die Bestellungen sind auch ganz unterschiedlich. Kaufen Sie im Internet ein Buch, wird es für
den Anbieter ganz einfach sein, Preis und Lieferkosten
auf einer kleinen Schaltfläche auf einen Blick anzuzeigen. Bestellen Sie aber zum Beispiel eine Küche mit allen Einzelteilen, benötigen Sie naturgemäß eine größere
Zusammenstellung, die vielleicht sogar eines Weiterblätterns, eines Scrollens bedarf.
Drittens. Ich schließe eine Musterfläche schließlich
deshalb aus, weil sie technisch nicht neutral ist. Wir
könnten damit technische Entwicklungen sowie den Gestaltungswillen der Wirtschaft beschränken. Deswegen
bin ich an dieser Stelle ganz klar aufseiten der Wirtschaft.
Ich habe andererseits kein Verständnis für Teile der
Wirtschaft, die eine längere Übergangszeit zur Umsetzung der Maßnahme einfordern. Seriöse Anbieter verstecken ihre Kosten nicht,
({2})
und seriöse Anbieter haben nicht eine Vielzahl von Voreinstellungen programmiert - also Häkchen in Kästchen
gesetzt -, die der Kunde gar nicht bemerkt, die den Kunden aber viel Geld kosten.
Ja, so manche gesetzliche Maßnahme ist eine Gratwanderung zwischen mehr Schutz und mehr Bürokratie.
Mit diesem Gesetz gelingt uns ein sehr vernünftiger
Ausgleich zwischen Aufwand und Nutzen für die
Diensteanbieter. Wir sind uns allerdings auch dessen bewusst, dass wir mit diesem Gesetz nicht jede kriminelle
Energie im Internethandel werden verhindern können.
Die nächste Generation der Kostenfallen wird kommen.
Aber das uns bekannte Schlupfloch schließen wir heute.
({3})
Ein weiteres Schlupfloch werden wir mit dem Gesetzentwurf zur Inkassopraxis schließen.
Wir brauchen in Zukunft zwei Dinge, um den unseriösen Anbietern das Handwerk zu legen: aufmerksame
und informierte Kunden und eine Politik, die schnell und
zielgenau gesetzlich einschreitet.
Frau Kollegin.
Beides ist uns in der Vergangenheit sehr gut gelungen,
beides werden wir auch in der Zukunft engagiert betreiben. Wir beschließen heute dieses Gesetz. Das ist ein guter Tag für den Verbraucherschutz.
Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer auf den
Tribünen! Dass dies ein guter Tag für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist, ist klar. Doch hätten wir das alles schon sehr viel früher haben können, Frau Kollegin.
({0})
Wie Benjamin Franklin schon sagte: Zeit ist Geld.
Das gilt leider auch für die deutschen Verbraucherinnen
und Verbraucher. Denn bereits seit 15 Monaten könnten
- ich spreche im Konjunktiv - die Internetnutzerinnen
und -nutzer durch den Gesetzentwurf der SPD vor Kostenfallen im Internet geschützt sein.
({1})
Wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher inzwischen tatsächlich auf die Internetabzocker hereingefallen
sind, werden wir wohl nie erfahren. Eine Untersuchung
des Sozialforschungsinstituts infas sprach im Sommer
2011 von 5,4 Millionen deutschen Internetnutzern, die
auf eine Abofalle im Internet hereingefallen waren. Das,
Frau Verbraucherschutzministerin, sind immerhin 11 Prozent aller deutschen Internetnutzerinnen und -nutzer.
Dem Einsatz der Verbraucherzentralen verdanken wir,
dass der Schaden nicht noch größer ist. Bundesweit,
schätzen die Verbraucherzentralen, gibt es 22 000 Beschwerden pro Monat. Bei Rechnungen von durchschnittlich knapp 100 Euro pro Jahr - und in der Regel
handelt es sich um Zweijahresverträge - konnten die
Verbraucherzentralen von Januar 2011 bis Ende Februar
2012 damit einen geschätzten Schaden von etwa 66 Millionen Euro verhindern. Lassen Sie sich diese Zahl einmal auf der Zunge zergehen.
Zeit ist Geld. Das gilt überall dort, wo die Bundesregierung viel redet, aber nichts tut. Ankündigungen statt
Taten: Das finden wir bei den überhöhten Gebühren für
Pfändungsschutzkonten, bei dem Recht auf ein Girokonto für jedermann oder bei den überhöhten Gebühren
für das Geldabheben an Bankautomaten. Ich könnte
diese Liste fortführen.
Die Verbraucherpolitik ist der Koalition offensichtlich
so unwichtig, dass heute Morgen statt 90 Minuten nur
60 Minuten Debattenzeit angesetzt sind. Sie befürchten
wohl, dass wir Ihnen noch mehr verbraucherpolitische
Versäumnisse unter die Nase reiben könnten. Das wäre
kein Problem.
So haben Sie heute zum Beispiel eine Chance verpasst, das Inkassounwesen zu reformieren.
({2})
Das ist schon mehrfach von Frau Schieder und auch von
anderen Kollegen angesprochen worden. Die Inkassoproblematik hängt direkt mit dem Kostenfallentrick zusammen. Manche haben daraus ein gemeinsames, perfides
Geschäftsmodell entwickelt. Deshalb hat der Bundesrat
im Gesetzgebungsverfahren dazu Vorschläge auf den
Tisch gelegt. Warum haben Sie diese eigentlich nicht aufgenommen? Sollen wir wieder erst mindestens 15 Monate ins Land gehen lassen, bis die Koalition tätig wird?
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben Vorschläge gemacht. Wir fordern beispielsweise eine Deckelung der Gebühren, wir fordern mehr Sanktionsmöglichkeiten gegen die schwarzen Schafe unter den
Inkassounternehmen. Auch der Kollege von der CDU
hat das kurz angesprochen, aber es wird ja nichts vorgelegt.
({3})
Die Aufsichtsbehörden müssen bei Verstößen auch Bußgelder verhängen können. Wir wollen, dass die Inkassounternehmen die Verbraucher informieren müssen, um
welche Forderung es konkret geht.
({4})
- Dann tun Sie das doch, Herr Kollege. - Vor allem plädiere ich dafür, ein sozialdemokratisches Modell aus der
Ära von Willy Brandt auf diesen Bereich anzuwenden.
({5})
Wie bei der Kontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb sollten wir den Verbraucherzentralen die Möglichkeit geben, unseriöse Inkassounternehmen abzumahnen
und notfalls zu verklagen.
({6})
Ich schlage hier also einen Marktwächter für die Inkassobranche vor. Den einzelnen Verbraucher sollten wir
nicht allein lassen. Die Verbraucherzentralen sollen als
Marktwächter die Beschwerden der Verbraucher und
Verbraucherinnen über Inkassounternehmen erfassen,
berechtigte Beschwerden an die Überwachungsbehörden
weitergeben und Inkassounternehmen abmahnen und auf
Unterlassung bestimmter Geschäftsgebaren verklagen
können. Wie im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb muss auch geprüft werden, ob und wie dabei erzielte Gewinne abgeschöpft werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
ich hoffe, Sie legen uns bald - auch darauf gab es jetzt
leider keine Antwort - Vorschläge zur Reform des Inkassowesens vor.
({7})
- Darauf warte ich, Herr Kollege. - Denn, wie gesagt,
Zeit ist Geld. Sonst müsste unser Fazit über die Arbeit
von Schwarz-Gelb lauten: Es ist leicht gesagt, aber langsam getan.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Erik Schweickert für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
ein guter Tag für die Verbraucherinnen und Verbraucher;
denn heute beenden wir die Abzocke im Internet. Wir
machen die Kosten im Internet transparent und die Kostenfallen dicht. Den Kolleginnen und Kollegen der SPD
sage ich: Sie tun so, als ob es Abzocke im Internet erst
gäbe, seit wir an der Regierung sind. Ich frage, was Sie
vorher getan haben.
({0})
Wenn ich mir den Entschließungsantrag der Grünen
anschaue, Frau Hönlinger, dann stelle ich fest, dass Sie
selbst schreiben, dass die Verbraucherrechterichtlinie die
Grundlage der heute zu beschließenden Regelung ist. Ich
frage Sie: Wann wurde die denn vom Europäischen Parlament beschlossen? Es war am 23. Juni 2011.
({1})
Wir haben unseren Gesetzentwurf sofort vorgelegt. Es
ist gerade einmal ein Dreivierteljahr vergangen. Wir haben sofort gehandelt; heute wird der Gesetzentwurf in
zweiter und dritter Beratung behandelt.
({2})
Wir haben den Gesetzentwurf zu diesem Punkt sogar
vorgezogen, um die Abzocke bald zu beenden;
({3})
denn die Verbraucherrechterichtlinie ist komplex, und
ihre Umsetzung dauert lange. Wir haben den Punkt mit
den Kostenfallen im Internet vorgezogen, weil wir wussten, dass hier der Schuh drückt. Die Lücke wird heute
geschlossen.
Der bisherige Rechtsrahmen hat sich als nicht ausreichend erwiesen. Die Abzocker sind auf immer neue Geschäftsideen gekommen. Es wurde schon gesagt, dass
5,5 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher irDr. Erik Schweickert
gendwann schon einmal in eine Abofalle getappt sind.
Diese Zahl ist nicht unbeträchtlich. Wir verpflichten nun
die Unternehmen, den Verbraucher klar und verständlich
und in hervorgehobener Weise vor Abgabe einer Bestellung ausdrücklich darauf hinzuweisen, wenn etwas kostenpflichtig ist.
({4})
Das heißt, es geht nicht mehr, dass man die Kostenpflicht in ellenlangen AGBs versteckt oder man vorher
zehn Semester Jura studiert haben muss, um bei der Sache durchzublicken. Also: Ellenlange, unverständliche
AGBs gehören der Vergangenheit an. Im Bereich der
Kostenpflichtigkeit haben wir einfache und klare Regelungen eingeführt; dadurch wird sofort deutlich, wenn
man sich im Internet zu einer Zahlung verpflichtet.
In Ihrem Entschließungsantrag sprechen Sie zwei
weitere Punkte an, nämlich die Regelung der Beweislast
und das Thema der Musterschaltfläche.
Der Erwähnung der Beweislast des Unternehmens im
Gesetz bedarf es schon deshalb nicht, da es heute sowieso schon gängige Praxis ist, dass der Unternehmer
beweisen muss, dass er einen Anspruch auf sein Geld
hat. Dahinter steht der allgemeine Rechtsgrundsatz, dass
derjenige, der eine Tatsache behauptet, diese auch nachweisen muss. Deswegen ist es obsolet, so etwas in das
Gesetz hineinzuschreiben.
Jetzt kommen wir einmal zu der von Ihnen erhobenen
Forderung, eine Musterschaltfläche im Gesetz festzuschreiben. Das ist für mich reine Kosmetik. Lassen Sie
es sich einmal an einem einfachen Beispiel zeigen.
Schauen wir doch einmal auf die Homepage der Grünen.
Im „Grünen Shop“ kann man ein paar Spielereien erwerben. Inhalte sind zwar nicht dabei, da geht man lieber zur
FDP,
({5})
aber ein paar lustige Give-aways sind da doch zu haben,
zum Beispiel eine grüne Badeente. Für 3,49 Euro kann
man sie mit einem einfachen Klick kaufen. Hier soll jetzt
nach unseren Vorstellungen ein Kasten kommen, in dem
steht: „zahlungspflichtig bestellen“.
({6})
Seien wir doch einmal ehrlich: Es macht doch keinen
Unterschied, ob bei den Grünen nun ein grüner Button
auftaucht und bei der SPD ein roter. Ich könnte mir aber
Ihr Geschrei vorstellen, wenn wir ins Gesetz hineingeschrieben hätten: Der Kasten muss schwarz-gelb sein. Es
wäre spannend gewesen, zu erfahren, wie groß dann der
Aufschrei gewesen wäre.
({7})
Meine Damen und Herren, das überlassen wir technikneutral den Anbietern, wie sie es darstellen. Die Smartphones sind unterschiedlich.
Ich habe in einer früheren Rede schon einmal aufgezeigt, wie hoch die Schadstoffbelastung von Quietscheenten - keine grünen, sondern gelbe - ist. Was findet man
aber auf Ihrer Homepage? Grüne Quietscheentchen. Aber das ist ein anderes Thema.
Meine Damen und Herren, heute ist ein guter Tag für
die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wer eine wirklich gute Webseite besuchen will, der sollte sowieso auf
www.abzockerstopper.de gehen.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Rebmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der heutigen Debatte wurden ja schon
Klaus Lage und Benjamin Franklin zitiert. Ich könnte
jetzt als Mannheimer auch aus der Mannheimer Uraufführung von Schillers Räubern zitieren. Nur, die waren
halt damals noch nicht im Internet unterwegs.
({0})
Aber Schiller hat ja recht, wenn er bei Wallensteins Lager sagt: „Es geht nicht zu mit rechten Dingen!“ Denn
wer meint, dass nur unachtsame Internetnutzer in die
Kostenfallen geraten, der irrt sich. Es kann praktisch jeden treffen. Das Prinzip der Betrüger im Netz ist denkbar einfach und leider auch wirksam.
Es ist noch nicht lange her, dass ein guter Freund von
mir völlig arglos einen Gutschein für ein kostenloses
Musik-Download eingelöst hat und sich dann monatelang mit Mahnschreiben und unseriösen Inkassounternehmen zum angeblich abgeschlossenen Jahresabo herumschlagen musste. Wir alle kennen ja solche Beispiele
zur Genüge.
Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger wissen gar
nicht, dass es wegen irreführender Gestaltung der Internetseiten oft gar nicht zu einem wirksamen Vertrag gekommen ist; sie glauben, zahlen zu müssen, und scheuen
den Streit mit den Inkassounternehmen.
Auf die Zahl der Nutzer, die in solche Abofallen geraten sind, wurde ja schon mehrfach hingewiesen. Der dadurch entstandene Schaden überschreitet bei weitem
60 bis 70 Millionen Euro im Jahr, ohne die Dunkelziffer
miteinzurechnen. Natürlich ist das ein lukratives Geschäft für unseriöse Unternehmen, wenn ihr Geschäftsmodell darauf basiert, auf diese Weise Geld zu verdienen.
Wir als SPD haben deshalb bereits 2010 einen Gesetzentwurf zu diesem Thema vorgelegt, um genau diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben.
({1})
Wenn man mit diesem Wissen den vorliegenden Gesetzentwurf liest, dann kommt man nicht umhin, zu sagen:
Das hätten wir schon wesentlich früher haben können.
Den Betroffenen wäre damit viel Geld und noch mehr
Ärger erspart geblieben.
({2})
Allen Fraktionen war doch schon 2010 klar, dass der
rechtliche Schutz der Verbraucher im Internet bei weitem nicht ausreicht. Nur, daraus auch Schlussfolgerungen zu ziehen und Handlungen abzuleiten, dazu hatte die
Koalition offensichtlich keinen Mut.
Bei Schillers Räubern geht es um das Verhältnis von
Recht und Freiheit. Zur vertanen Chance, unserem Antrag schon damals zuzustimmen, sage ich Ihnen mit
Schiller: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre.“
({3})
Man warte lieber eine Einigung auf europäischer
Ebene ab, hieß es damals. Dafür gab es aus unserer Sicht
keinen hinreichenden Grund. Die Menschen warten bis
heute auf eine Lösung, die es in anderen EU-Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Frankreich, schon längst gibt.
Heute nun können wir endlich über einen Entwurf
entscheiden,
({4})
der sich übrigens wie auch die inzwischen vorliegende
EU-Richtlinie inhaltlich nur marginal von unserem damaligen Antrag unterscheidet.
Internetanbieter müssen endlich deutlich und unmissverständlich über den Preis einer Ware oder einer
Dienstleistung informieren. Und noch wichtiger: Der
Verbraucher muss bei der Bestellung ausdrücklich erklären, dass er den Preis zur Kenntnis genommen hat bzw.
dass er über einen Button unmissverständlich auf die
Zahlungspflicht hingewiesen worden ist.
So weit, so gut. Aber dass Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Koalition, die breite Zustimmung zu diesem Thema ausnutzen, um kurzfristig eine Änderung des
Wohnungseigentumsgesetzes mit durchzuwinken, ist,
finde ich, nicht in Ordnung.
({5})
Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten überwiegt das Wohl der Verbraucher. Die Verbraucher brauchen den Schutz des Gesetzes vor Kostenfallen
im Internet. Deshalb sagen wir Ja zu diesem Gesetz, und
ich sage Ihnen mit Schiller: „Denn das Auge des Gesetzes wacht.“
Herzlichen Dank.
({6})
Zum Abschluss dieses Tagesordnungspunktes erhält
der Kollege Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Genau heute vor einer Woche hat der US-Präsident Barack Obama seine neue
Strategie zur Verbesserung des Datenschutzrechts im Internet vorgestellt. Kernziel dieser Strategie ist die Wiederherstellung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in das Internet und in den elektronischen
Geschäftsverkehr.
Es handelt sich bei dieser Vorstellung der Strategie
von Barack Obama jedoch nur um ein Weißbuch, das im
weiteren Verlauf erst noch in Gesetzesform gegossen
werden muss. Wir sind hier schon weiter fortgeschritten.
Die christlich-liberale Koalition handelt, und wir verabschieden heute endgültig das Gesetz zur Verbesserung
und zur Steigerung des Vertrauens der Bürgerinnen und
Bürger in das Internet und in den elektronischen Geschäftsverkehr.
({0})
Es ist schon erwähnt worden: 90 Prozent der deutschen Internetnutzer nutzen das Internet insbesondere
zum Kauf von Produkten und zum Bestellen von Dienstleistungen. Was besorgniserregend ist, ist, dass 73 Prozent von ihnen in den letzten Jahren negative Erfahrungen damit gemacht haben. Ich glaube, es geht nicht um
eine Dämonisierung des Internets. Das Internet bietet
vielfältige Chancen und ungeahnte Möglichkeiten, die
noch vor 20 Jahren undenkbar waren, aber es birgt auch
gewisse Risiken in sich, und diese Risiken manifestieren
sich zusehends insbesondere darin, dass es unseriöse
Anbieter gibt, die in den letzten Jahr immer mehr ihr Unwesen getrieben haben und hunderttausendfach, ja millionenfach Ärger in Deutschland hervorgerufen haben.
Ich möchte mir nicht einmal annähernd vorstellen,
wie oft sich - wahrscheinlich hunderttausendfach - Bürgerinnen und Bürger geärgert haben, als sie Mahnungen,
Zahlungsaufforderungen und Schreiben von Rechtsanwälten und Inkassounternehmen erhalten haben. Mit Sicherheit haben viele darauf reagiert, indem sie gezahlt
haben, obwohl sie rechtlich dazu nicht verpflichtet gewesen wären,
Die Studie von infas aus dem August des letzten Jahres, nach der schon 8,4 Millionen Bundesbürger Opfer
von Internetbetrug geworden sind, ist schon erwähnt
worden. Der überwiegende Teil von ihnen, nämlich
5,4 Millionen Bürger, sind Opfer von Kosten- und Abofallen im Internet geworden.
Was an dieser Studie sehr interessant ist, ist, dass es
keine signifikanten Unterschiede gibt, was das Alter,
was das Geschlecht und auch was das Einkommen der
Stephan Mayer ({1})
Betroffenen anbelangt. Jeden kann es treffen, und keiner
ist davor gefeit. Es ist auch nicht so, dass es nur wenige
schwarze Schafe gibt, die sich in diesem Bereich tummeln. Es hat sich mittlerweile betrüblicherweise eine
ganze Abofallenindustrie in Deutschland entwickelt. Im
kollusiven Zusammenwirken von Internetunternehmen,
Rechtsanwälten und Inkassounternehmen sind Millionen
von Bundesbürgern geschädigt worden. Jeder hat es
schon am eigenen Leib erlebt. Es gibt Internetshopseiten, die trickreich und sehr irreführend gestaltet sind.
Aufgrund des häufig unklar, irritierend und überraschend gestalteten Bestellprozesses sind diesen Shops
leider schon Millionen von Bundesbürgern auf den Leim
gegangen. Diese Abo- und Kostenfallen im Internet betreffen das Bestellen sowohl von Produkten als auch von
Dienstleistungen. Das Angebot reicht von Haustieren,
Kochrezepten, Hilfen bei der Berufswahl, Routenplanern, Grußkarten und Gedichten bis hin zu Gewinnspielen und Wohnungsannoncen.
Wir, die christlich-liberale Koalition, handeln mit diesem Gesetzentwurf, der heute in zweiter und dritter Lesung behandelt wird, effektiv und gehen massiv gegen
diesen rapide zunehmenden Internetbetrug vor. Wir als
christlich-liberale Koalition sind handlungsfähig.
({2})
Wir machen klare Vorgaben, was die Ausgestaltung der
Internetseiten anbelangt. Die Schaltflächen müssen insbesondere hinsichtlich des Bestellprozesses transparent,
klar und eindeutig sein. Wichtig ist uns, dass schon auf
der Schaltfläche klar erkennbar ist, dass damit eine Zahlungsverpflichtung verbunden ist. Deshalb fassen wir
§ 312 g des Bürgerlichen Gesetzbuches neu.
Damit ist natürlich unweigerlich ein Mehraufwand
für die Unternehmen verbunden; das möchte ich nicht
unerwähnt lassen. Aber ich bin der festen Überzeugung,
dass dieser Mehraufwand, der auf etwas mehr als
41 Millionen Euro geschätzt wird, in der Abwägung mit
dem exorbitant hohen Schaden, der in der Vergangenheit
verursacht wurde, und vor allem mit dem Schadenspotenzial, das mit dem Missbrauch im Internet verbunden
ist, durchaus vertretbar ist.
Ich möchte auch noch Stellung beziehen zu der im
Ausschuss beantragten Entschließung mit der Forderung
zur Beweislast. Meines Erachtens ist es überflüssig, hier
eine Neuregelung vorzunehmen, weil es im BGB gängige Praxis ist, dass derjenige, der eine Forderung durchsetzen will, die Rechtmäßigkeit dieser Forderung beweisen muss. Es bedarf also keiner nochmaligen Festlegung,
dass der Anbieter im Internet das rechtswirksame Zustandekommen des Kauf- oder Dienstleistungsvertrages
beweisen muss. Deswegen ist diese Forderung abzulehnen.
Nach dem heutigen Tag gilt es, viele Internetseiten
umzugestalten. Wie wir vom Kollegen Dr. Schweickert
gehört haben, gilt dies auch für die Internetseite der Grünen. Ich bin gespannt, ab wann die Schaltfläche für die
Bestellung der Quietscheente rechtskonform ausgestaltet
ist. Aber selbst wenn sie rechtskonform ausgestaltet ist
und den Vorgaben in § 312 g BGB entspricht - ich gehe
davon aus, dass die Grünen, rechtstreu wie sie sind, ihren
Internetshop sehr schnell neu konfigurieren werden -,
({3})
befürchte ich, dass die Kosten doch weitaus höher als
3,50 Euro für diese Ente sein werden. Denn wer bei den
Grünen zugreift, muss leider Gottes langfristig mehr berappen als diese 3,50 Euro.
({4})
Das muss man dazusagen.
Mit diesem Gesetzeswerk, das in diesem Hause mit
Ausnahme der Linkspartei große Zustimmung finden
wird, beweisen wir, dass die christlich-liberale Koalition
insbesondere in der Rechtspolitik in der Lage ist, effektiv und schnell zu handeln, wenn sich ein Problem offenkundig und signifikant zeigt.
({5})
Wir setzen die zugrunde liegende EU-Richtlinie jetzt
schnell und zügig in deutsches Recht um. Damit beweisen wir einmal mehr, dass die christlich-liberale Koalition handlungsfähig ist
({6})
und dass wir effektiv ans Werk gehen, wenn sich Probleme ergeben. Wenn sich Missstände in unserer Gesellschaft und auch in unserer Wirtschaft zeigen,
({7})
dann erwarten die Bürgerinnen und Bürger, dass wir
schnell und effektiv handeln.
Ihre Argumentation „Das hätte doch alles schon
längst passieren müssen“ ist meines Erachtens sehr dürftig und durchsichtig. Mehr haben Sie nicht zu bieten.
({8})
Wir hingegen haben sehr viel zu bieten. In diesem Sinne
bedanke ich mich für die Unterstützung und werbe um
Zustimmung in diesem Hause.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches zum besseren
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Kos19388
Präsident Dr. Norbert Lammert
tenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr. Wir wollen einmal abwarten, ob im Sinne des Kollegen
Rebmann diese Beschlussfassung den Schneckengang
zum Adlerflug transformiert.
({0})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/8805, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7745 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit
breiter Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8806 auf. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Burkhard Lischka, Dr. Eva
Högl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Bekämpfung der
Abgeordnetenbestechung
- Drucksache 17/8613 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Im Jahr 2003 hat die Bundesrepublik
Deutschland die UN-Konvention zur Bekämpfung von
Korruption unterzeichnet, wie ich finde: völlig zu Recht.
Es muss unser aller Anliegen sein, Korruption da, wo sie
auftritt, weltweit zu bekämpfen.
({0})
Peinlich ist allerdings, dass nach dieser Unterzeichnung nichts weiter passiert ist. Nötig wäre gewesen,
diese Konvention auch in innerdeutsches Recht umzusetzen, sprich einen Straftatbestand zu schaffen, der die
Korruption, die Bestechung, die Bestechlichkeit von Abgeordneten erfasst. Warum wäre die Umsetzung dieser
Konvention notwendig gewesen? Weil wir im deutschen
Recht bisher lediglich das Thema des sogenannten Stimmenkaufs gesetzlich geregelt haben! Dies ist ein ganz
enger Tatbestand, der nur das Abstimmungsverhalten erfasst und deswegen ein stumpfes Schwert ist und der
Konvention, so wie sie vorliegt, bei weitem nicht genügt.
Deswegen unterbreiten wir Ihnen heute einen Lösungsvorschlag für ein nicht einfaches Thema, nämlich
die Auflösung des Spannungsfeldes zwischen dem, was
zu Recht als Abgeordnetenbestechung, als Bestechung,
als Korruption benannt werden muss, und dem, was zum
parlamentarischen Verhalten gehört. Wir haben es uns
mit unserem Entwurf nicht leicht gemacht. Wir haben
viele Argumente, die in der Diskussion seit vielen Jahren
genannt werden, gegeneinander abgewogen. Ich will unseren Vorschlag kurz begründen; denn ich kann damit
auf viele Kritikpunkte eingehen.
Wir schlagen vor, Abgeordnetenbestechung in Zukunft ganz klar zu beschreiben als einen Vorgang, bei
dem ein Abgeordneter einen Vorteil für sich oder einen
Dritten dafür bekommt, dass er einen Auftrag oder eine
Weisung in entsprechendes parlamentarisches Verhalten
umsetzt. Dies ist ein ganz klar definierter Tatbestand.
Warum ist er so klar und so eng beschrieben? Weil wir
wollen, dass die Kritikpunkte, die aufgekommen sind
- nämlich dass dann in Zukunft parlamentarisches Verhalten, also die Aufgabe des Abgeordneten, sich für die
Interessen derjenigen einzusetzen, für die er sich berufen
fühlt, nicht mehr möglich wäre -, ausgeräumt werden,
haben wir diesen Tatbestand eng beschrieben. Ich will
dazu einige Beispiele nennen.
Ich bekomme vom Weinbauernverband den Auftrag
oder die Weisung, eine Initiative zur Abschaffung der
Sektsteuer zu ergreifen, was ich dann in meiner Fraktion
und im parlamentarischen Verfahren durchsetze. Wenn
ich dafür dann eine mehrwöchige Urlaubsreise als Vorteil erhalte, würde das genau den von uns definierten
Straftatbestand erfüllen, wie ich finde: völlig zu Recht.
Das wäre ein klarer Fall von Bestechung und Bestechlichkeit.
({1})
Nun wird eingewandt, dies widerspreche dem freien
Mandat. - Ja, zu Recht haben wir als Abgeordnete die
Möglichkeit, nach Art. 38 des Grundgesetzes das freie
Mandat auszuüben. Das ist das Wesen, der Inhalt dessen,
was wir als Abgeordnete tun. Aber im Ernst: Niemand
kann behaupten, dass der Vorgang, den ich eben beschrieben habe, nämlich einen Vorteil dafür zu bekommen, dass ich als Abgeordnete einen Auftrag oder eine
Weisung befolge, auch nur im Geringsten etwas mit dem
freien Mandat zu tun hat. Deswegen sollten wir eine
klare Definition vornehmen
({2})
Es wird des Weiteren kritisiert, dass der Vorteilsbegriff nicht eng genug gefasst sei und dass dann unter
Umständen Staatsanwälte ungerechtfertigte Ermittlungsmaßnahmen einleiten könnten. Aber wir haben ausdrücklich geschrieben, dass parlamentsübliches Verhalten nicht als Vorteilsnahme zu verstehen ist. Dazu gehört
beispielsweise das Abendessen beim Parlamentarischen
Abend. Selbstverständlich erwartet niemand, dass in Zukunft ein Abgeordneter mit der Brotdose zum Parlamentarischen Abend geht, weil er Angst hat, dass es ihm als
Vorteilsnahme ausgelegt wird, wenn er sich am Buffet
bedient. Wir wollen das im Gesetz genau regeln, um entsprechende Sorgen auszuräumen.
Ich habe wahrscheinlich ein bisschen mehr Vertrauen
in die deutschen Staatsanwälte - ich habe einige Erfahrungen im 1. Ausschuss gemacht -, darin, dass sie in den
entsprechenden Angelegenheiten mit Augenmaß vorgehen und nicht wegen jedes Essens oder jedes geschenkten Bleistifts Ermittlungen einleiten.
({3})
Es gibt auch den Kritikpunkt, wir setzten die UNKonvention nicht um, weil sonst bei uns mit Ermittlungen zu rechnen sei; in Bananenrepubliken sei das möglich, weil dort die Staatsanwälte sowieso nicht gegen
Abgeordnete ermitteln. Sie sollten sich aber anschauen,
welche Länder diese Konvention bisher nicht umgesetzt
haben. Das sind zum Beispiel der Sudan, Somalia und
die Bundesrepublik. Aber Staaten wie Norwegen, Frankreich, Großbritannien und die USA haben diese Konvention umgesetzt. Bei diesen Ländern handelt es sich mitnichten um Bananenrepubliken.
({4})
Wir sollten jetzt die Chance ergreifen und nach neun
Jahren endlich für eine Umsetzung sorgen, um uns nicht
länger dem Vorwurf auszusetzen, dass wir Korruption
bei anderen kritisieren, uns aber, wenn es um uns geht,
auf einmal nicht in der Lage sehen, ein entsprechendes
Gesetz in Kraft zu setzen. Das ist peinlich. Das sollte gelöst werden.
({5})
Ich merke, dass es ein bisschen Bewegung auch in
den Reihen der Koalition gibt. Es hat mich sehr erfreut,
dass der Bundestagspräsident, Herr Lammert, ein klares
Bekenntnis in dieser Fragestellung abgegeben und darauf hingewiesen hat, dass wir dringend eine gesetzliche
Regelung brauchen.
({6})
Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann entsprechen
die Vorstellungen des Bundestagspräsidenten ziemlich
genau dem, was wir klar definiert und hinreichend bestimmt formuliert haben.
({7})
- Ich kann gerne die entsprechenden Stellen zitieren. Ich freue mich auf jeden Fall auf die Auseinandersetzung.
Es ist richtig, dass wir in dieser Frage miteinander
diskutieren. Hören Sie aber auf, eine Totalverweigerungshaltung einzunehmen! Wir sollten uns auf den Weg
machen und endlich klare Regelungen - auch für uns schaffen, damit der Verdacht, dass wir nur für uns Ausnahmen schaffen wollen, ausgeräumt wird. Es wird Zeit.
Deswegen fordere ich Sie auf: Machen Sie mit! Ein entsprechender Vorschlag liegt auf dem Tisch.
Vielen Dank.
({8})
Frau Kollegin Lambrecht, ich freue mich ebenfalls
auf die Auseinandersetzung. Aber Sie verstehen sicherlich, dass ich von diesem Stuhl aus mich mit dieser
knappen Bemerkung begnüge.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Voßhoff für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD zum, glaube ich, dritten Mal
in diesem Jahr in diesem Hause über das Thema Abgeordnetenbestechung. Hintergrund der Diskussion sind
- das ist von der Kollegin Lambrecht zur Einführung bereits gesagt worden - die Antikorruptionsübereinkommen der Vereinten Nationen und des Europarates. Dass
diese Abkommen seinerzeit von der von SPD und Grünen getragenen Bundesregierung für Deutschland unterzeichnet, aber bislang nicht ratifiziert wurden, ist ein unbefriedigender Zustand. Wohl wahr!
({0})
Worin besteht aber der unbefriedigende Zustand? Ist es
die bisher fehlende Ratifizierung,
({1})
oder ist es nicht vielmehr das Dilemma, dass die Unterzeichnung - wie der Vorsitzende des Rechtsausschusses
und Kollege Siegfried Kauder es einmal beschrieben hat schon ein Webfehler war,
({2})
weil uns die sich daraus ergebende Notwendigkeit der
Ratifizierung vielleicht vor eine unlösbare Aufgabe
stellt,
({3})
weil uns dadurch vorgegeben wird, unter Umständen das
Mandat mit der Amtsträgereigenschaft gleichzusetzen,
was für uns nicht umsetzbar ist?
({4})
Ich darf mir erlauben, an dieser Stelle einmal grundsätzlich etwas zu dem Thema anzumerken; denn wir haben heute viele Zuhörer. Aus der bisher fehlenden Ratifizierung darf nun nicht geschlussfolgert werden - auch
wenn dies immer wieder getan wird -, dass wir in
Deutschland mit der Korruptionsbekämpfung bei Abgeordneten gegenüber manch anderen Staaten hoffnungslos ins Hintertreffen geraten,
({5})
die ein solches Übereinkommen, wie auch immer, ratifiziert haben. Aus diplomatischer Rücksichtnahme will
ich hier gar keine nennen. Wenn uns aber diejenigen, die
ständig die Ratifikation fordern, wirklich einreden wollen, dass wir in Deutschland ohne eine solche Ratifikation in der Korruptionsbekämpfung bei Abgeordneten
diesen Staaten hinterherhinken, dann weise ich das zurück.
({6})
Ich habe gerade von einer vielleicht unlösbaren Aufgabe gesprochen. Die Tatsache, dass wir heute bereits
den dritten Versuch einer gesetzlichen Regelung zum
Thema Abgeordnetenbestechung vorliegen haben, zeigt
wohl das grundsätzliche Problem: Wie kann das Ganze
geregelt werden?
Die beiden Gesetzentwürfe, die von den Linken und
den Grünen vorgelegt worden sind, sind aus guten
Gründen abzulehnen. Darüber haben wir häufig genug
diskutiert. Der heute von der SPD vorliegende Entwurf
begegnet ebenfalls erheblichen Bedenken. Die Materie
ist nun einmal strafrechtlich außerordentlich kompliziert
und verfassungsrechtlich vielschichtig. Populistische
Schnellschüsse wie die beiden Gesetzentwürfe der Grünen und der Linken sind schon deshalb grundsätzlich
verfehlt.
({7})
Auch die Stellungnahme des Anwaltvereins, der ja
unverdächtig ist, den Abgeordneten nach dem Munde zu
reden, hat in einem, man kann fast sagen, Totalverriss
der Gesetzentwürfe der Linken und der Grünen dargelegt, dass diese Entwürfe eben nicht geeignet sind, die
grundsätzliche Schwierigkeit einer über den bisherigen
Tatbestand des § 108 e StGB - darin geht es nur um den
Stimmenkauf - hinausgehenden Erfassung als korrupt
bezeichneter Verhaltensweisen zu überwinden und sie
unter Wahrung verfassungsrechtlicher Vorgaben unter
Strafe zu stellen.
({8})
Ich befürchte, dass eine Bewertung des SPD-Entwurfs
nicht wesentlich besser ausfallen würde.
Überhaupt fragt man sich - Frau Kollegin, Sie hatten
vorhin die Daten genannt; darüber wurde bereits häufiger diskutiert, und das darf man auch wieder tun -,
warum die Oppositionsfraktionen, die seinerzeit Regierungsfraktionen waren, denn damals nach der Unterzeichnung nicht gehandelt haben.
({9})
Sie hatten nach der Unterzeichnung der UN-Konvention zwei Jahre Zeit, und beim Europaratsabkommen
von 1999 waren es immerhin sechs Jahre. Was haben Sie
gemacht? Nichts. Wir haben an dieser Stelle häufig genug die Worte Ihres damaligen rechtspolitischen Sprechers Stünker zitiert - das könnte ich mir heute eigentlich ersparen -, der im September 2008 das rot-grüne
Scheitern hier im Plenum ausreichend kommentiert hat,
indem er sagte:
Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir
durften sie
- gemeint waren Ihre Vorschläge nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen
blockiert haben. … Das war eine Regelung, die
dem Kollegen Beck zu weit und dem Kollegen
Ströbele nicht weit genug ging.
Frau Voßhoff, darf die Kollegin Lambrecht Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Voßhoff, Sie haben ja angesprochen,
dass auch in der rot-grünen Regierungszeit kein Vorschlag unterbreitet wurde. Das ist richtig. Ich erlaube mir
in diesem Zusammenhang aber noch einmal, an die zeitlichen Abläufe zu erinnern, und möchte Sie bitten, mir
das entsprechend zu bestätigen.
2003 gab es diese Konvention; das ist richtig. Unter
Rot-Grün haben wir uns dann relativ zügig an die Arbeit
gemacht. Sie haben beschrieben, dass es in der damaligen Koalition nicht ganz einfach war, zueinanderzukommen, weil es sich eben um keine einfache Regelungsmaterie handelt. Wir hatten uns aber trotzdem
darangemacht. Es gab unterschiedliche Entwürfe. Die
konnten dann allerdings nicht mehr eingebracht werden,
weil 2005 vorgezogene Neuwahlen angesetzt waren. Danach gab es eine Große Koalition, in der die SPD dieses
Thema weiterhin auf die Tagesordnung gebracht hat.
Vom Koalitionspartner CDU/CSU kam aber damals die
klare Ansage: In dieser Fragestellung werden wir auf
keinen Fall etwas auf den Weg bringen wollen. - Aufgrund der Koalitionsvereinbarung, dass Gesetze eben
nur gemeinsam eingebracht werden dürfen, mussten wir
dann darauf verzichten, dieses Thema weiterhin zu verfolgen.
Deswegen bitte ich, doch zur Kenntnis zu nehmen,
dass es in der Großen Koalition nicht die SPD war, die
untätig war - genauso wenig wie in der rot-grünen Regierungszeit -, sondern dass es in der Großen Koalition
gerade Ihre Fraktion war, die in dieser Frage ganz konkret geblockt hat.
({0})
Frau Kollegin Lambrecht, ich habe nicht von der Zeit
der Großen Koalition gesprochen.
({0})
- Ja, das ist doch in Ordnung; dazu stehe ich auch.
({1})
Wir können das auch gerne diskutieren. Das ist nicht der
Punkt. - Wir haben über die Zeit von 2003 bis 2005 gesprochen. Da hat bekanntermaßen Rot-Grün regiert. Ja,
Gott sei Dank ist das vorzeitig beendet worden. Nichtsdestotrotz hätte es Zeit gegeben.
({2})
Das beweist das Zitat des Kollegen Stünker doch eindeutig.
({3})
Meine Damen und Herren, es gab übrigens auch Zeiten, in denen das Thema zwischen Opposition und Regierung sehr ausgewogen beraten wurde,
({4})
nämlich bei der Schaffung des § 108 e im Jahre 1993,
bei der das Thema Abgeordnetenbestechung sehr wohl
auch Gegenstand war - logisch! - und man zu dem Ergebnis gekommen ist, das Sie heute hier kritisieren. Die
Kollegen haben sich damals sehr abgewogen mit dem
Bestimmtheitsgrundsatz befasst.
({5})
In den Begründungen der damaligen Gesetzentwürfe
nicht nur von CDU/CSU und FDP, sondern auch von der
SPD heißt es - ich darf zitieren -:
Der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung kann
nicht dem der Beamten- und Richterbestechung
nachgebildet werden.
({6})
… Bei der Ausübung von Stimmrechten im Parlament spielen oft auch politische Gesichtspunkte
und Rücksichtnahmen eine Rolle. Es ist nicht zu
beanstanden, wenn bei der Stimmabgabe politische
Zwecke mitverfolgt werden, die den eigenen Interessen des Stimmberechtigten entgegenkommen.
({7})
Bei zahlreichen Abgeordneten ist die Zugehörigkeit
zu einer gesellschaftlichen Gruppe von wesentlicher Bedeutung für ihre Aufstellung als Kandidat.
Von dem Abgeordneten erwartet die gesellschaftliche Gruppe dann auch, daß er sich für ihre Belange
einsetzt. …
Die Tätigkeit der Abgeordneten reicht über das eigentliche parlamentarische Wirken hinaus in das
allgemeine politische Geschehen, wo scharf abgrenzbare Verhaltensvorschriften fehlen.
Liebe Kollegen von der SPD, Ihre damaligen Erkenntnisse hätten Sie vielleicht auch heute berücksichtigen sollen.
({8})
Sie betonen in der Begründung Ihres heute vorliegenden Entwurfs zu Recht, dass es darum gehen müsse, die
Abgrenzung zwischen erlaubtem Tun und strafbewehrtem Verhalten in der Hand des Gesetzgebers zu belassen,
nicht in die Hände der Staatsanwaltschaften und Gerichte zu geben. Diesem eigenen Anspruch werden Sie
dann aber nicht gerecht. In § 108 e Abs. 3 StGB in der
von Ihnen vorgeschlagenen Fassung versuchen Sie mehr
schlecht als recht, mit Negativbeispielen, also mit einer
Beschreibung dessen, was nicht strafbar sein soll, irgendeine Form der Abgrenzung hinzubekommen. Im Ergebnis überlassen Sie es dann in verfassungsrechtlich
bedenklicher Weise eben doch der jeweiligen Auslegung
der Staatsanwaltschaft, was parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht und was nicht.
({9})
Ebenso ungeeignet ist Ihr Versuch der Definition der
strafbaren Vorteilsannahme, wie er auf Seite 3 Ihres Entwurfs in der Begründung sinngemäß zu lesen ist: Eine
Strafbarkeit der Vorteilsnahme soll dann nicht der Fall
sein, wenn der Mandatsträger gemäß seiner inneren
Überzeugung handelt,
({10})
die Vorteilsgewährung das Verhalten des Mandatsträgers
also nicht beeinflusst hat. Meine Damen und Herren von
der SPD, Ihr Vorschlag läuft auf eine Gesinnungsprüfung und Gewissensrechtfertigung eines Abgeordneten
gegenüber einem Staatsanwalt hinaus
({11})
und konterkariert geradezu die verfassungsrechtliche
Stellung des freien und nur seinem Gewissen unterworfenen Abgeordneten.
({12})
Ich sage das auch in Richtung unserer Zuhörer heute:
Wir sollten uns in dieser Debatte auch einmal in Erinnerung rufen, was die verfassungsgemäße Aufgabe von
Abgeordneten ist. Bei der Suche nach einer Antwort
geht es nicht um das Selbstverständnis jeder einzelnen
Person, sondern auch um Fragen des Parlamentarismus
und der verfassungsrechtlichen Stellung, Aufgabe und
Verantwortung von uns Abgeordneten nach Art. 38 GG.
Ich finde, ein Blick in die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 2007 fördert da sehr Erhellendes und Eindrucksvolles zutage - ich darf zitieren -:
Dem von Art. 38 Abs. 1 GG gewährleisteten freien
Mandat des Abgeordneten entspricht es, dass die
Abgeordneten über die Art und Weise der Ausübung des Mandats grundsätzlich frei und in ausschließlicher Verantwortlichkeit gegenüber dem
Wähler entscheiden.
({13})
… Dafür bedarf es keiner rechtsförmigen Kriterien;
die wertende Beurteilung soll vielmehr gerade der
öffentlichen Diskussion und letztlich dem Wähler
anheim gegeben werden.
Noch viel treffender besagt das Urteil unter Randnummer 262:
Wer freie Abgeordnete will, muss auch ein Mindestmaß an Vertrauen aufbringen, dass die vom
Volk Gewählten ganz überwiegend mit Umsicht
und verantwortlich mit ihrer Freiheit umgehen.
({14})
Das Prinzip der Freiheit verlangt, dass nur der
Missbrauch gezielt und konsequent bekämpft wird,
aber nicht, dass aus dem abweichenden Verhalten
Weniger zuerst ein Ambiente des Misstrauens geschürt und sodann eine lückenlose Kontrolle auch
der redlich Arbeitenden verlangt wird.
Ich denke, meine Damen und Herren, dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen,
({15})
was die Stellung von Abgeordneten betrifft.
Keiner von uns, keiner, der hier gegen Ihren Gesetzentwurf redet, ist für Korruption; das ist überhaupt keine
Frage.
({16})
Aber wenn entsprechende gesetzliche Regelungen dazu
führen würden, dass gerade in Fällen von Wahlkämpfen
durch falsche Anzeigen die Staatsanwaltschaft verpflichtet wird, zu ermitteln,
({17})
dann wird dies zu einem politischen Instrument. Das ist
für uns nicht tragbar.
Vielen Dank.
({18})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Sharma das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worüber
reden wir heute? Wir reden über Vertrauen: Vertrauen in
die Politik, Vertrauen in Politiker und Vertrauen in die
parlamentarische Demokratie ganz allgemein. Konkret
reden wir über einen Gesetzentwurf zur Änderung des
Strafgesetzbuches und eines Straftatbestandes, der die
Abgeordnetenbestechung regeln soll. Abgeordnetenbestechung ist heute im Grunde nicht geregelt. Es ist nur
das Verbot des Stimmenkaufs geregelt.
Wie soll man sich Stimmenkauf vorstellen? Es ist
klar, dass so etwas in der Praxis kaum Anwendung findet; denn wenn jemand wirklich vorhat, die Stimme eines Abgeordneten zu kaufen, werden da in der Regel
keine Verträge schriftlich verfasst und unterschrieben.
({0})
Insofern ist es klar, dass dieses Gesetz, so wie wir es
jetzt haben, im Grunde ein Placebogesetz ist, bei dem es
dringenden Änderungsbedarf gibt.
({1})
Nichtsdestotrotz und ohne dass man hier überall immer gleich Böswilligkeit und kriminelles Handeln unterstellen muss, ist es wohl unumstritten, dass Abgeordnete
in Korruptionsgeflechte eingebunden sind. Das ist keine
Formulierung, die von mir stammt; das ist eine Formulierung, die aus einer Bundesratsinitiative des Landes
Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2002 stammt. Sie war
schon damals richtig. Diese Bundesratsinitiative ist
- wie so viele Initiativen, die in diesem Bereich entwickelt worden sind - im Ausschuss verschwunden und
nicht weiter behandelt worden. Aber der Ansatz war
richtig. Das ist jetzt fast zehn Jahre her.
Blicken wir einmal von Nordrhein-Westfalen etwas
weiter nach Norden und in die Gegenwart: nach Sylt.
Dort gab es im vergangenen Jahr ein Treffen auf Einladung der Glücksspiellobby mit Spitzenpolitikern von
CDU und FDP, um dort gemeinsam darüber zu reden,
wie man die Weichen für eine Liberalisierung des
Glücksspielmarktes stellen könne.
({2})
- So ist es. Richtig, das ist auch „Sylt-Sause“ genannt
worden. - Die Weichen sind auch gestellt worden; denn
dieses Treffen fand interessanterweise am gleichen Tag
statt, an dem die Entscheidung in der Staatskanzlei getroffen worden ist, hier als Land Schleswig-Holstein einen Sonderweg zu gehen.
Ich würde jetzt nicht definitiv sagen können - und
man kann es auch nicht beweisen -, dass das eine die
Leistung und das andere die Gegenleistung gewesen ist.
Aber zumindest ein Geschmäckle hat es mit Sicherheit.
Wir als Politiker haben hier die Verantwortung.
({3})
- Wir reden über Straftaten, Herr Kollege Kauder; wir
reden aber auch darüber, wie wir Vertrauen in die Politik
schaffen wollen. Es gibt aufgrund solcher Vorgehensund Verhaltensweisen Misstrauen bei den Bürgerinnen
und Bürgern. Wenn wir diesem Misstrauen begegnen
wollen, können wir uns nicht hinstellen und sagen: „Wir
sind erhaben über dieses Misstrauen, weil wir Politiker
sind“, sondern wir müssen es aufnehmen.
({4})
Herr Kollege Sharma, würden Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Grosse-Brömer gestatten?
Ja, gern.
Herr Kollege Sharma, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Ich will auf Ihr Beispiel zurückkommen. Ich weiß nicht, wie Sie dieses Treffen bewertet
hätten, wenn es unter den gleichen Voraussetzungen
nicht auf Sylt, sondern in Berlin
({0})
stattgefunden hätte. Vielleicht ist es, gerade weil es auf
Sylt stattgefunden hat, plötzlich eine Sause. Das Schöne
ist, dass Sie offenkundig darüber Bescheid wissen - wie
alle anderen auch -, weil natürlich von einer sehr aufmerksamen Presse sehr ausführlich beschrieben wurde,
was dort alles stattgefunden hat - eine Sache, die in
Deutschland offenbar funktioniert.
Sind Sie nach Ihrer eigenen Schilderung der Auffassung, dass wir dieses Problem künftig dadurch lösen,
dass ein Staatsanwalt in Regelfällen bei betroffenen
Politikern nach einer relativ schnell gestellten Anzeige
bewertet, ob das jetzt eine parlamentarische Gepflogenheit ist und ob es auch deshalb strafbar ist, weil so ein
Treffen auf Sylt stattgefunden hat und nicht in Berlin im
Jakob-Kaiser-Haus? Entspricht es Ihrer Vorstellung von
effizienter Bestrafung und besserer Überwachung von
Abgeordnetenbestechlichkeit und soll es so sein, dass
ein Staatsanwalt dann künftig bewerten muss, ob ein
Treffen auf Sylt oder ein Treffen in Berlin den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht oder nicht? Ist das
effizient - auch im Hinblick auf Ihre Aufgabe als Abgeordneter?
Herr Kollege Grosse-Brömer, lassen Sie mich zwei
Aspekte ansprechen. Zunächst eine Bemerkung zu Sylt.
Sylt ist eine wunderschöne Insel in Schleswig-Holstein,
wo man wunderbar Ferien machen kann und wo sich bekanntermaßen nicht nur Filmproduzenten und Bundespräsidenten treffen und Urlaub machen, sondern wo sich
insgesamt die Schönen, Reichen und Mächtigen treffen.
Wenn man Sylt kennt, dann kann man das auch nachvollziehen. Also: nichts gegen Sylt. Aber wenn dort, wo
sich die Schönen, Reichen und Mächtigen treffen, auf
Einladung der Glücksspiellobby eine Veranstaltung stattfindet, bei der es genau um dieses Thema geht - man redet in schönem Ambiente über Blackjack und Lotto -,
dann hat das einen gewissen Beigeschmack.
({0})
- Vergessen Sie Blackjack. Das soll der Staatsanwalt aus
meiner Sicht nicht entscheiden. Ich halte den Vorschlag
der SPD an dieser Stelle für zu unkonkret; darauf werde
ich später eingehen. Wir brauchen konkretere Regelungen, mit denen nicht nur die Staatsanwaltschaft etwas
anfangen kann, sondern auch die Betroffenen selbst. Es
muss klare Spielregeln geben, damit auch die Bürgerinnen und Bürger wissen, was erlaubt ist und was nicht.
({1})
Das Treffen auf Sylt - wir können es Sylt-Sause nennen oder auch nicht - ist keine Ausnahme; Ähnliches erleben wir in unserer tagtäglichen Praxis. Es gibt viele andere Beispiele, die ein Geschmäckle haben. Wenn ein
Bundestagsabgeordneter, der beispielsweise für den Bereich Gesundheit zuständig ist, regelmäßig Vorträge bei
der Pharmalobby hält, für die er ein Honorar zwischen
1 000 und 3 500 Euro bekommt - das ist transparent; das
kann man aufgrund der Veröffentlichungspflichten nachvollziehen -, dann würde ich nicht unbedingt unterstellen, dass das Honorar für diese Vorträge unangemessen
ist, aber trotzdem stellt sich die Frage, ob sich nicht in
gewisser Art und Weise Dankbarkeitsverhältnisse und
Verpflichtungen entwickeln,
({2})
allein dadurch, dass man regelmäßig Geld bekommt.
({3})
- Ich komme gleich zum Thema Strafbarkeit und werde
Ihnen einen ganz konkreten Vorschlag machen.
({4})
- Genau das ist ja das Problem. Auch da stellen sich Fragen. Das alles erzeugt Misstrauen bei den Bürgerinnen
und Bürgern, und diesem Misstrauen müssen wir begegnen; denn Vertrauen ist der wichtigste Wert in der Politik. Dieses Vertrauen müssen wir stärken.
({5})
Eingangs wurde bereits erwähnt, dass es schon seit
langem Handlungsbedarf gibt. Ein Gesetzentwurf ist
überfällig. Die rot-grüne Regierung hat 2003 vieles gemacht, was wir als Linke überhaupt nicht gut finden. Die
Agenda 2010 ist nur ein Beispiel.
({6})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich will
ausdrücklich loben, dass die SPD-geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder im Jahr 2003 die UN-Konvention gegen Korruption unterzeichnet hat. Das war
richtig gut; das haben Sie gut gemacht. Das Problem ist
- das ist schon gesagt worden -, dass es danach erst einmal für lange Zeit einen Stillstand gab.
Im Moment haben wir die Situation, dass CDU, CSU
und FDP die Ratifizierung und Umsetzung weiterer
Richtlinien verhindern. Das finde ich bemerkenswert.
Erst am Montag haben wir über das Hilfspaket für Griechenland abgestimmt. Nun sagt der Fraktionsvorsitzende
der FDP, Herr Brüderle, den Griechen, sie sollen Maß
halten, sie sollen die Korruption bekämpfen und sich
insgesamt am deutschen Michel orientieren. Dabei haben die Griechen, wie viele andere Staaten auch, im Gegensatz zu Deutschland einen erweiterten Straftatbestand, der die Abgeordnetenkorruption in umfassenderer
Weise unter Strafe stellt.
({7})
- Überlegen Sie sich gut, ob es richtig ist, über einen
Mitgliedstaat der Europäischen Union im Deutschen
Bundestag so hämisch zu lachen. Sie wollen Europäer
sein? Ich finde, das ist Häme, das ist deutsche Großmannssucht.
({8})
Die Griechen haben entsprechende Richtlinien, genauso
wie die Finnen, die Franzosen und andere. Sie können
sich überall in Europa und in der Welt umgucken - es
wurde schon gesagt -: Deutschland steht auf einer Ebene
mit dem Sudan.
Zur CDU/CSU. Sie sind eigentlich die Fraktion von
Law and Order, die jeden Kiffer und jeden Falschparker
mit drakonischen Strafen versehen will. Jetzt schauen
Sie auf einmal weg, man hört, weitere Maßnahmen seien
nicht nötig; denn es geht um die eigene Sache, es geht
um eigene Privilegien. An die will man nicht herangehen. Das sind doppelte Standards, das ist doppelbödig,
und das ist nicht in Ordnung.
({9})
Indem Sie seit Jahren verweigern, diesen Straftatbestand
einzuführen, betreiben Sie mindestens Arbeitsverweigerung. In einem anderen Zusammenhang wäre es Strafvereitelung im Amt.
({10})
Die verschiedenen Initiativen sind schon angesprochen worden. In dieser Wahlperiode waren die Linken
die Ersten: Wir haben im Jahr 2010 einen Gesetzentwurf
vorgelegt. Die Grünen folgten im Jahr 2011, die SPD in
diesem Jahr, im Jahr 2012. Wenn wir in diesem Tempo
weitermachen, legt die FDP vielleicht im Jahr 2014 einen Gesetzentwurf vor, vielleicht, weil dann die Wahlperiode zu Ende ist. Alles andere weiß man auch nicht.
({11})
Das dauert alles viel zu lange. Wir müssen schneller
vorangehen. Deswegen ist die Initiative gut. Die Tolerierung politischer Korruption, wie sie jetzt gehandhabt
wird, schwächt den Kampf gegen Korruption insgesamt.
({12})
Zum Gesetzentwurf der SPD. Ich habe ihn wirklich
sorgfältig durchgelesen. Die erste Seite finde ich ganz
prima. Ich habe da ganz viele Haken angebracht. Alles
richtig: die Problembeschreibung, grundsätzlich die Lösung, auch die Alternativen sind richtig beschrieben, und
zu den Kosten brauche ich nichts zu sagen.
Das Problem aber ist die Formulierung - das ist hier
schon gesagt worden -, dass Zuwendungen, die „parlamentarischen Gepflogenheiten“ entsprechen, ausgenommen werden sollen. Das ist sehr allgemein formuliert;
das sage ich auch als Jurist. Wenn ich so eine Formulierung lese, gehen bei mir die Alarmglocken an. Das wird
noch näher ausgeführt. Hier heißt es, dass die Bewirtung
bei Informationsgesprächen und Festveranstaltungen in
Ordnung sein soll, dass das, was üblich ist, in Ordnung
sein soll. Die Teilnahme an sportlichen und kulturellen
Veranstaltungen soll in Ordnung sein, auch der unentgeltliche Transport zu einer Veranstaltung und die Übernahme der Übernachtungskosten. Das Gleiche gilt für
Informationsreisen. Das sind genau die Beispiele, die Sie
in den Korruptionsrichtlinien der Landesregierungen finden.
({13})
Die Landesregierungen untersagen all das ihren Beamten und Angestellten.
({14})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen. - All das wird
Beamten und Angestellten untersagt. Bei Abgeordneten
soll das alles möglich sein.
({15})
Dann sind das alles parlamentarische Gepflogenheiten.
Auf diese Beispiele setzen Sie noch eines drauf, indem Sie auf die „allgemeine Lebenserfahrung“ abheben.
Meine allgemeine Lebenserfahrung sagt mir etwas, was
ich hier nicht aussprechen möchte. Ich befürchte, dass
viele Bürgerinnen und Bürger das genauso sehen. Wir
können nicht die allgemeine Lebenserfahrung zum Maßstab für das Handeln machen und die Beurteilung dessen
in die Hände eines Staatsanwalts oder einer Staatsanwältin legen.
({16})
Das Problem ist, dass hier der Versuch unternommen
wird, Politikern Privilegien einzuräumen. Sie haben völlig recht: Beamte sind keine Abgeordneten, und man
muss sie anders behandeln als Parlamentarier.
({17})
Der Grundsatz ist aber der gleiche - diesen Grundsatz
finden Sie in den Korruptionsrichtlinien und den entsprechenden Erlassen -: Die Annahme von Aufmerksamkeiten kann ein Einfallstor für Korruption sein. Dem
müssen wir begegnen, weil genau das Misstrauen auslöst.
Ich nehme einmal ein ganz konkretes Beispiel: Wenn
meine Katze wegläuft und ein Polizeibeamter so freundlich ist, sie mir nach seinem Feierabend nach Hause zu
bringen, sodass ich überglücklich bin, darf ich ihm keine
Flasche Wein geben. Ich darf sie ihm zwar anbieten, aber
er muss dieses Dankeschön abschlagen. Bei Politikern
wäre das überhaupt kein Problem, und bei diesen bleibt
es auch nicht bei einer Flasche Wein.
({18})
Ich will Ihnen sagen, was wir brauchen: Wir brauchen
klare Regeln, um dem begegnen zu können. Eine klare
Regel wäre zum Beispiel eine Bagatell- oder Erheblichkeitsgrenze.
({19})
Ich sage Ihnen auch: Ich würde diese Grenze ziemlich
niedrig ansetzen. Ich würde sie bei 10 Euro ansetzen.
Für 10 Euro kann man sich durchaus von Herrn
Maschmeyer, wenn man das möchte, auf einen Kaffee
einladen lassen. Für 10 Euro ist sogar ein Stück Kuchen
drin. Wenn Sie aber ein Abendessen oder schöne Weinrunden haben möchten, dann müssen Sie die selbst bezahlen. Das ist zumutbar. Wir bekommen anständige
Diäten, und wir erhalten Aufwandsentschädigungen.
Das ist alles möglich. Wir können das selbst bezahlen.
Ich möchte nicht, dass bei den Bürgerinnen und Bürgern
der Eindruck entsteht, der Bundestag sei eine Schnorrerbude. Das ist er nämlich nicht.
({20})
Ich komme zum Schluss. Es ist sinnvoll, Abgeordnetenkorruption unter Strafe zu stellen. Sinnvoll ist es, kein
Sonderrecht für Abgeordnete und Parlamentarier zu
schaffen. Bezüglich der Details sind wir immer zu Gesprächen bereit. Statt dieses Placebogesetzes brauchen
wir endlich eine bittere Pille für korrupte Abgeordnete.
Das müssen wir schaffen.
Vielen Dank.
({21})
Jörg van Essen ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe zu denen gehört, die im Jahre 1993 zusammen mit dem Kollegen
Hans de With von der SPD den Versuch unternommen
haben, die Situation, die wir damals vorgefunden haben
- seit dem Jahr 1953, in dem eine entsprechende Bestimmung aufgehoben worden ist, hatten wir überhaupt keine
Strafbarkeit -, sorgfältig zu analysieren, auch im Rahmen von Anhörungen.
Nachdem wir uns die verschiedenen Fragestellungen
sehr sorgfältig angeschaut hatten, waren wir gemeinsam
zu dem Vorschlag gekommen, die jetzige Vorschrift bezüglich des Stimmenkaufs - § 108 e StGB - in den
Deutschen Bundestag einzubringen. Das ist damals auch
mit den Stimmen der SPD verabschiedet worden. Auch
die SPD hat damals - zu Recht, wie ich finde - gesagt,
dass alle Versuche, auch anderes Verhalten strafrechtlich
zu fassen, in die Irre führen.
({0})
Ich bin der Auffassung, dass das weiterhin gilt.
Interessant ist im Übrigen, dass hier immer als Notwendigkeit angeführt wird, dass es internationale Abkommen gibt - es gibt sie -, dass aber nie als Notwendigkeit angeführt wird, dass wir irgendeinen Fall haben,
der eigentlich bestraft gehört.
({1})
Ich bin sehr froh, dass das so ist. Ich finde, dass das
zeigt, was unsere wichtigste Aufgabe ist. Unsere vornehmste Aufgabe ist nämlich, unsere Amtsverhältnisse
so zu gestalten, dass es nach Möglichkeit keine Bestechung im Bundestag und auch überhaupt keinen Anreiz
dafür gibt.
({2})
Deshalb möchte ich damit anfangen und nicht mit dem
Strafrecht, wie man es vielleicht von einem Oberstaatsanwalt wie mir erwarten könnte.
({3})
Der erste Punkt bei der Verhinderung von Korruption,
der mir ganz wichtig ist, ist: Ein Parlament darf nicht zu
klein werden. In einem kleinen Parlament bestimmt
praktisch der einzelne Berichterstatter, was verabschiedet wird; dies macht ihn anfällig für Angebote. In einem
Parlament wie unserem, in dem schon in den Fraktionen
breit diskutiert wird, merken die Kollegen sehr schnell,
wenn ein Kollege, dessen Meinung man in aller Regel
kennt, plötzlich andere Auffassungen vertritt. Die Kollegen werden dann überrascht nachfragen und dafür sorgen, dass die Argumente, wenn es keine guten sind, nie
das Licht des Deutschen Bundestages erblicken. Das ist
aktive Vorbeugung gegen Korruption.
Der zweite Punkt, der mir ganz wichtig ist - auch das
spielt kaum eine Rolle in der Diskussion -, ist, dass wir
Abgeordnete brauchen, die nicht von der Politik abhängig sind,
({4})
die einen Beruf haben, in den sie zurückkehren können.
Wer beispielsweise Rechtsanwalt ist und nach der Zeit in
der Politik wieder als Rechtsanwalt tätig werden kann,
wer wie ich Beamter ist und eine Garantie hat, in den
Beruf zurückkehren zu können, der wird sich ganz anders verhalten als jemand, der nicht über einen solchen
Beruf verfügt und deshalb große Sorgen hat, was aus
ihm wird. So jemand wird eher Gefälligkeiten umsetzen
als jemand, der vor seiner Zeit im Deutschen Bundestag
einen Beruf ausgeübt hat, in den er zurückkehren kann,
und der daher selbstbewusster ist.
({5})
Deshalb - das ist der nächste Aspekt, den ich gerne
ansprechen möchte - brauchen wir Verhaltensregeln, die
Transparenz schaffen. Ich glaube, dass wir da gut vorangekommen sind.
({6})
Ich gestehe zu - ich schaue den Kollegen Beck an -,
dass ich da und dort kritisch war.
({7})
Aber ich muss sagen: Manches, das ich kritisch gesehen
habe, hat sich inzwischen bewährt. Transparenz führt natürlich auch dazu, dass weniger Korruption stattfinden
kann. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Vorbeugung von Korruption im Deutschen Bundestag.
Ich glaube, dass das bei uns bisher sehr gut funktioniert hat. Wenn ich mich recht entsinne, dann hat es bisher nur zwei Fälle von wirklichem Stimmenkauf gegeben; das wäre strafbar gewesen. Das war das Kaufen von
Stimmen durch die Stasi der DDR bei einem Votum
1972.
({8})
- Ja, Herr Kollege.
Darf der Kollege Montag Ihnen eine Zwischenfrage
stellen?
Bitte.
Herr Kollege Montag, bitte schön.
Danke schön, Kollege van Essen, ich hatte auf die Erlaubnis des Präsidenten gewartet. - Sie führen, wie ich
finde, völlig zu Recht aus, dass wir im Deutschen Bundestag seit vielen Jahren zum Glück überhaupt keinen
Fall von Bestechung oder Bestechlichkeit kennen und
dass es in der Vergangenheit nur sehr wenige Fälle gegeben hat. Würden Sie mir zustimmen, dass dieser Blickwinkel auf den Deutschen Bundestag bei dieser Debatte
über die Strafbarkeit viel zu eng ist?
({0})
Denn die internationalen Verträge, die wir eingegangen
sind, und die Gesetzentwürfe, die hierzu in der Vergangenheit und auch jetzt vorgelegt worden sind, umfassen
alle Abgeordneten der Kommunen, der Bezirke, der
Länder und des Bundes. Für die Zehntausenden von
Kolleginnen und Kollegen auf allen diesen Ebenen ist
das Bild schon ein bisschen anders, Herr Kollege van
Essen.
Vielen Dank. - Sie haben jetzt einen Punkt angesprochen, auf den ich ohnehin gekommen wäre. Dafür bin
ich Ihnen ganz dankbar; denn so spare ich Redezeit.
Was, glaube ich, sehr hilft - das ist der erste Teil meiner Antwort -, ist unsere offene Immunitätsregelung.
Bei uns weiß jeder Abgeordnete: Wenn er etwas pekziert, dann findet sofort Strafverfolgung statt. Bei uns
wird nicht so verfahren wie in Frankreich, wo ganz lange
Immunität herrscht und irgendwann, ganz spät, Strafverfolgung stattfindet.
Da Sie praktizierender Rechtsanwalt sind - auch ich
komme aus dem Bereich der Justiz -, wissen Sie: Je später eine Verhandlung stattfindet, desto günstiger ist dies
für den Beschuldigten bzw. den Angeklagten, weil sich
die Zeugen dann schlechter erinnern können. Deshalb
trägt unsere offene Immunitätsregelung mit dazu bei,
dass solch strafwürdiges Verhalten bei uns seltener vorkommt als in anderen Ländern.
({0})
Was Sie zu Recht angesprochen haben - Herr Kollege, ich möchte weiter auf Ihre Frage antworten -,
({1})
ist die Situation insbesondere in den Kommunalparlamenten. Dort gab es entsprechende Vorgänge; das ist unbestreitbar. Ich weise allerdings darauf hin, dass der
Bundesgerichtshof in einer Entscheidung deutlich gemacht hat, dass die Vorschrift des § 108 e StGB viel weiter auszulegen ist, dass sie als Unternehmensdelikt ausgestaltet ist und dass die Strafbarkeit deshalb schon sehr
früh beginnt.
Sie, Frau Kollegin Lambrecht, haben in dieser Debatte wieder die Behauptung aufgestellt, dass das Ganze
ins Leere läuft.
({2})
Wer sich die Entscheidung des Bundesgerichtshofes anschaut, stellt fest: Der BGH hat sehr deutlich gemacht,
({3})
dass das Gericht dies übersehen hat und unsere Entscheidung, den § 108 e StGB als Unternehmensdelikt auszugestalten, auch die Möglichkeit eröffnet, ein solches
Verhalten, beispielsweise in Kommunalparlamenten,
strafrechtlich zu erfassen.
({4})
Von daher bin ich der Auffassung, dass wir eine ganze
Menge unternommen haben, um unser Parlament nach
Möglichkeit von Korruption frei zu halten.
({5})
Es hat hier immer wieder eine Rolle gespielt, welche
internationalen Vereinbarungen von den verschiedenen
Bundesregierungen, insbesondere von der rot-grünen
Bundesregierung, abgeschlossen worden sind. Daran erinnere ich mich sehr gut. Die rot-grüne Bundesregierung
ist von allen damals im Bundestag vertretenen Fraktionen - von der SPD als stärkster Fraktion, von der CDU/
CSU, von den Grünen und von der FDP - gebeten worden, die Konvention nicht zu unterzeichnen.
({6})
- Das war so.
({7})
Ich war bei den Gesprächen mit der Bundesregierung
selbst dabei.
({8})
Die Bundesregierung ist selbstverständlich von allen
Fraktionen gebeten worden, die Konvention nicht zu unterzeichnen.
Was war der Grund dafür, dass alle Fraktionen dies
gefordert haben? Der Grund war sehr nachvollziehbar.
Es war nämlich beabsichtigt, in dieser internationalen
Konvention alle Amtsträger
({9})
einschließlich der Abgeordneten gleichzubehandeln.
Das ist angesichts unseres nationalen Rechts nicht umzusetzen.
({10})
Ich habe deutlich gemacht: Ich bin von der Ausbildung her Jurist und von Beruf Oberstaatsanwalt - und
damit Beamter. Somit war vollkommen klar: Wenn ich
bei Ermittlungen ein Gespräch geführt habe, habe ich
kein Geschenk angenommen; das ist für Beamte ein
ganz klarer Pflichtenkreis. Aber als Abgeordneter gilt
für mich Art. 38 des Grundgesetzes. Wenn man zum
Beispiel - es sind ja schon einige Beispiele angeführt
worden - einen Betrieb besichtigt, etwa einen Bäckereibetrieb, dann bekommt man danach in aller Regel ein
Gastgeschenk.
({11})
Es ist auch eine Frage der Höflichkeit, dieses dann anzunehmen.
({12})
- Woher wissen Sie denn, dass die Unrechtsvereinbarung fehlt?
({13})
Das wäre nämlich der nächste Satz gewesen, den ich sagen wollte: Damit wird häufig der Wunsch verbunden,
({14})
dass man sich für die Interessen des Betriebes, die gerade vorgestellt und in aller Regel gut begründet worden
sind, einsetzt.
({15})
Das macht deutlich, dass wir hier in einer ganz schwierigen Situation sind.
Die Kollegin Lambrecht hat die Erwartung geäußert,
dass die Staatsanwälte all das, was die SPD formuliert
hat, nicht so eng sehen würden.
({16})
Das ist doch schier unfassbar! Wir befinden uns hier im
Bereich des Strafrechts.
({17})
Und hier gilt das Bestimmtheitsgebot. Es kann nicht
sein, dass Sie irgendwelche Hoffnungen gegenüber den
Strafverfolgern äußern,
({18})
sondern es muss doch ganz klar definiert sein, was strafbar ist und was nicht.
({19})
- Dass Sie es nicht gemacht haben, hat Ihnen der Kollege Raju Sharma ja schon vorgeführt. Sie normieren etwas in dem einen Paragrafen, und im nächsten Absatz
führen Sie aus, was alles nicht strafbar sein soll. Das ist
doch schier unfassbar.
Herr Kollege van Essen, darf auch der Kollege
Ströbele eine Zwischenfrage stellen?
Beim Kollegen Ströbele tue ich mich immer ganz
schwer, aber bitte sehr.
({0})
Warum eigentlich, Herr Kollege van Essen?
Sie können sich denken, dass Oberstaatsanwälte mit
Ihnen Probleme haben.
({0})
Sind Sie hier als Abgeordneter oder als Oberstaatsanwalt?
Herr Kollege van Essen, nehmen Sie zur Kenntnis,
dass in unseren Gesetzentwurf eine Vorschrift aus dem
Strafgesetzbuch, die seit Jahrzehnten geltendes Recht ist,
nämlich die Verwerflichkeitsklausel im Nötigungsparagrafen, deshalb aufgenommen worden ist, um klar und
deutlich zu machen, dass es nach allgemeiner Meinung
- hier muss der Staatsanwalt gar nicht großzügig sein nicht verwerflich ist, wenn Sie in der Bäckerei ein Brötchen annehmen. Deshalb kommt hier Strafbarkeit gar
nicht in Betracht.
Dieser Tatbestand im Nötigungsparagrafen hat sich
- in Anführungsstrichen - weitgehend bewährt. Sie können doch nicht sagen, das sei zu allgemein. Das ist vom
Bundesverfassungsgericht immer wieder abgesegnet und
dort aufgenommen worden.
Es ist so, ja. Sie führen ja selber aus, dass das sehr allgemein ist.
({0})
Wir haben die Diskussion hierzu ja schon mehrfach geführt. Es sei insbesondere darauf hingewiesen, dass sich
auch der Deutsche Anwaltverein dazu geäußert hat und
dass wir daher eine breite Unterstützung dafür haben,
dass der Vorschlag, den Sie gemacht haben - das gilt insbesondere für die Verwendung des Begriffs „verwerflich“ -, nicht zielführend ist.
({1})
Deshalb muss ich Ihnen sagen, dass wir diesen Weg
nicht gehen werden. Ich bin im Übrigen dankbar, dass
auch die SPD diesen Weg nicht gegangen ist, weil sie
genau gemerkt hat, dass die Kritik, die an dieser Formulierung erhoben worden ist, zutrifft.
({2})
Ich finde es allerdings richtig, dass die SPD mit ihrer
Vorschrift deutlich gemacht hat, dass für Abgeordnete
eine andere Regelung als für Beamte gefunden werden
muss.
({3})
Damit unterscheidet sich die SPD ganz deutlich von den
Linken. Ich glaube, dass das der Weg sein muss, wenn
man zu einer Lösung kommen will.
Ich kann jedem nur empfehlen - damit will ich meine
Ausführungen schließen -, einen wirklich bemerkenswerten Aufsatz zu lesen, den nicht eine Abgeordnete,
sondern eine Strafverteidigerin, Regina Michalke, in der
Festschrift für Professor Hamm geschrieben hat. Dort
hat sie sich mit all diesen Argumenten ganz außerordentlich gut auseinandergesetzt. Das ist nicht nur für Juristen
verständlich, das können auch Historiker, gelernte Sozialwissenschaftler oder andere sehr gut lesen.
Wenn Sie den Artikel gelesen haben, wissen Sie, warum wir uns so schwer damit tun. Eine wirklich befriedigende Abgrenzung - auf der einen Seite die Freiheit des
Mandats und auf der anderen Seite die Anforderungen,
die wir an Beamte stellen - und strafrechtliche Lösung
finden wir hier nicht. Deshalb sollten wir, wie ich finde,
unseren Schwerpunkt weiter auf einen Weg legen, mit
dem wir sehr viel Erfolg hatten, nämlich darauf, durch
Prävention zu verhindern, dass es überhaupt zu entsprechenden Handlungen von Kolleginnen und Kollegen des
Deutschen Bundestages kommt.
Eine Bemerkung ganz zum Schluss: Es liegt ein neuer
Vorschlag auf dem Tisch. Dies ist ein neuer Ansatz. Deshalb ist es ganz selbstverständlich, dass wir uns in den
parlamentarischen Beratungen mit diesem Vorschlag der
SPD auseinandersetzen und dass wir gucken, was möglich und was nicht möglich ist. Das ist ganz selbstverständlich und gehört auch mit zu einer parlamentarischen Debatte.
Vielen Dank.
({4})
Jerzy Montag hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zu Ihnen
sage ich heute: Willkommen an Bord! Seit 2005 beschäftige ich mich im Deutschen Bundestag mit der Abgeordnetenbestechung.
({0})
Wir haben darüber schon sehr viele Debatten geführt. In
all diesen Debatten haben Sie immer gesagt, dass etwas
getan werden muss. Es hat zwar sehr lange gedauert,
aber jetzt sind Sie dabei. Das freut uns.
({1})
Ich will zuallererst etwas zu dem sagen, was uns hoffentlich eint. Korruption ist ein Verhalten, das in der
Kommune, im Land, in Europa und im globalen Ausmaß
wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe verursacht.
Korruption zersetzt die Moral. Sie eliminiert Grundsätze
ethischen Verhaltens und fördert Gier und Egoismus.
Korruption zerstört demokratische und rechtsstaatliche
Strukturen. Sie vernichtet die Bindung der Bürokratie an
Recht und Gesetz.
Korruption folgt dem Gesetz des Dschungels. Deshalb muss sie bekämpft werden, national und international. Das geschieht mit Verhaltenskodizes, durch Schulungen und Ausbildung und auch auf gesetzlichem
Wege. Auf internationaler Ebene geschieht es durch die
Eingehung internationaler Verträge. Das ist im Grundsatz die Position der jetzigen Bundesregierung, und das
war die Position der früheren Bundesregierungen. Heute
geht es darum, was wir jetzt machen müssen. Deshalb
will ich mich nicht über die Vergangenheit, ob 1999,
2003 oder wann auch immer, äußern. Wir reden über die
Situation 2012 und über die Zukunft.
Uns liegt das Strafrechtsübereinkommen über Korruption des Europarats vor. Deutschland ist Gründungsmitglied des Europarats. Wir haben dieses Abkommen
mit ausgearbeitet. Wir gehören zu den Erstunterzeichnern. Im Rahmen des Europarats ist das Abkommen seit
zehn Jahren in Kraft. 43 der 47 Mitgliedstaaten des Europarats haben es ratifiziert. Wir gehören zu den letzten
Staaten, die es noch nicht ratifiziert haben. Das ist eine
Schande.
({2})
Auch die Konvention der Vereinten Nationen gegen
Korruption, die seit 2005 in Kraft ist, liegt uns vor. Auch
daran hat Deutschland im Rahmen der UNO konstruktiv
mitgearbeitet. 160 Staaten haben sie ratifiziert. Nicht unterschrieben haben Nordkorea, Somalia und der Tschad,
nicht ratifiziert haben Saudi-Arabien, Sudan, Syrien,
Myanmar und Deutschland. Das ist ebenfalls eine
Schande.
({3})
Beide Verträge fordern von uns, dass wir bestechliche
und bestochene Mitglieder inländischer öffentlich-rechtlicher Vertretungskörperschaften, die Gesetzgebungsbefugnisse ausüben - das sind Abgeordnete -, unter Strafe
stellen. So der Europarat.
Die Vereinten Nationen definieren Personen, die
durch Wahl ein Amt im Bereich der Gesetzgebung ausüben. Das sind Abgeordnete.
Worum es nicht geht, ist eine Gleichsetzung mit
Amtsträgern. Es geht auch in diesen völkerrechtlichen
Verträgen nicht um die Gleichsetzung. Es gibt eine Differenzierung. Diese kann aber nicht bedeuten, dass es bei
Amtsträgern keine Bestechung geben darf, dass dies jedoch für Abgeordnete nicht gelten soll. Eine solche Differenzierung zwischen Amtsträgern und freien Abgeordneten wollen Sie doch sicherlich nicht. Das können Sie
nicht verlangen, meine Damen und Herren von der
Union und der FDP.
({4})
Ich will an dieser Stelle nur am Rande auf einen Völkerrechtsvertrag von 1997 hinweisen, Herr Kollege van
Essen, nämlich das OECD-Übereinkommen über die
Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger
im internationalen Geschäftsverkehr. Dieses völkerrechtliche Abkommen hat die damalige schwarz-gelbe
Regierung verhandelt und unterschrieben. In dieser völkerrechtlichen Vereinbarung wird gefordert, eine Strafbarkeit einzuführen für - Zitat - „eine Person, die in einem anderen Staat durch … Wahl ein Amt im Bereich
der Gesetzgebung … innehat“. Diese Formulierung ist
identisch mit denjenigen aus den Völkerrechtsverträgen
von 1999 und 2003.
Berichterstatter waren Herr Kollege Geis und Sie,
Herr van Essen. Als der Straftatbestand der Bestechung
ausländischer Abgeordneter im Sommer 1998 eingeführt
worden ist, gab es hier eine Debatte. Ich habe gestern die
Protokolle nachgelesen. In dieser Debatte hat lediglich
der Kollege van Essen ganz kurz dazu Stellung genommen. Sie haben diese Strafvorschrift in dem neuen Gesetz ausdrücklich begrüßt.
Deswegen ist es unglaubwürdig und auch ein bisschen heuchlerisch,
({5})
wenn Sie jetzt so tun, als wenn erst unter Rot-Grün eine
falsche völkerrechtliche Richtung bei der Bekämpfung
internationaler Kriminalität eingeschlagen worden wäre.
({6})
Es wurde nur den bewährten Spuren gefolgt, die Sie bereits gezogen hatten. Nur weigern Sie sich heute, die
Konsequenzen daraus zu ziehen.
({7})
In der Debatte im letzten Jahr haben Kolleginnen und
Kollegen von der Union behauptet, die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs würde eine Ungleichbehandlung
von Amtsträgern und Abgeordneten fordern, und zwar in
der Richtung, dass Abgeordnete von Strafbarkeit freizusprechen seien.
({8})
Sie haben die BGH-Rechtsprechung für sich reklamiert. Nun will ich Ihnen einmal einen Auszug aus der
Wuppertal-Entscheidung des Bundesgerichtshofs im
Wortlaut vorlesen - Zitat -:
Die enge gesetzliche Regelung der Strafbarkeit des
Stimmenkaufs
… führt nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers dazu, weite Teile von als strafwürdig
empfundenen Manipulationen im Zusammenhang
mit Wahlen und Abstimmungen in Volksvertretungen … straflos zu stellen. Der Senat sieht hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf …
({9})
- Nein, in Bezug auf Mandatsträger - ohne eine Beschränkung auf kommunale. Aber selbst diesbezüglich
handeln Sie ja nicht.
Deutlicher kann die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland nicht sein. Der Auftrag liegt auf dem
Tisch, und wir müssen ihn endlich erfüllen.
({10})
Im Übrigen sieht auch das Grundgesetz nicht vor,
dass bestochene und bestechliche Abgeordnete von
Strafe freigestellt werden. So ist die Freiheit des Mandats in Art. 38 Grundgesetz nun wirklich nicht zu verstehen.
({11})
Wir diskutieren fünf Gesetzentwürfe, zwei von der
Linken, zwei von uns und einen von der SPD. Bei allen
haben Union und FDP immer behauptet, die Entwürfe
seien zu ungenau, zu unpräzise, zu schwammig. Die
Union hat mit diesem Argument allerdings noch nie auf
ein Strafgesetz verzichtet.
({12})
Den Bürgern muten Sie auch manchmal ungenaue, unpräzise und schwammige Formulierungen zu.
({13})
Für sich reklamieren Sie allerdings eine Sonderbehandlung. Das ist unglaubwürdig, und das geht nicht.
({14})
Wenn Sie wirklich der Meinung sind, unsere Gesetzentwürfe seien nicht ausreichend, dann legen Sie endlich
selbst einen vor, über den wir diskutieren können.
({15})
Insbesondere der Vorwurf, in den Gesetzentwürfen,
insbesondere in dem der Grünen, würden unbestimmte
Rechtsbegriffe verwendet, ist ein geradezu lächerliches
Argument. Das Strafgesetzbuch strotzt vor unbestimmten Rechtsbegriffen.
({16})
Diese muten Sie den Bürgerinnen und Bürgern alle zu,
weil wir eine funktionierende, objektive und unabhängige Justiz haben, die in der Lage ist, auch unbestimmte
Rechtsbegriffe im Strafrecht nach dem Bestimmtheitsgrundsatz auszudeuten.
({17})
Das gilt in gleicher Art und Weise auch für die Aufgabe,
der wir uns jetzt zu stellen haben.
Die Zeit reicht nicht, um noch einige kritische Worte
zum Gesetzentwurf der SPD zu sagen. Das werden wir
in den Beratungen tun. Ich will schließen, indem ich
sage - da greife ich sehr gerne Ihre Schlussbemerkung,
Herr Kollege van Essen, auf -: Jenseits der Positionierungen in der ersten Lesung müssen wir - das ist politisch evident - zu einer Lösung kommen, die es uns ermöglicht, in der internationalen Korruptionsbekämpfung
nicht lächerlich dazustehen. Deswegen müssen wir gemeinsam eine Lösung finden. Ich hoffe, dass Ihr Beitrag
und die Tatsache, dass auch die SPD jetzt dabei ist, ein
Anlass sind, dass wir uns interfraktionell zu Gesprächen
zusammenfinden und an der bestmöglichen Lösung arbeiten.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat nun Wolfgang Götzer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Als sich der Deutsche Bundestag 1993 mit der Frage beschäftigte, wie der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung gesetzlich geregelt werden könnte und sollte, kam
man nach intensiven Beratungen und einer Sachverständigenanhörung zu dem Ergebnis, eine Erweiterung des
Tatbestands der Abgeordnetenbestechung über den
Stimmenkauf hinaus abzulehnen. Ich möchte jedem
empfehlen - das wurde heute schon von meinen Vorrednern zitiert -, die Begründung der Gesetzentwürfe der
CDU/CSU und der FDP einerseits und der SPD andererseits dazu noch einmal genau zu studieren.
Die Begründungen ebenso wie die vorgeschlagenen
Gesetzesänderungen sind in den Gesetzentwürfen der
CDU/CSU und FDP und der SPD identisch. Das ist ein
höchst seltener und umso bemerkenswerterer Vorgang.
({0})
- Die SPD war vorangegangen. - Die Grünen haben ihren Gesetzentwurf dann zurückgezogen, sodass es zu einer überwältigenden Mehrheit für den § 108 e StGB, wie
er jetzt gültig ist, gekommen ist.
Ich darf einige wenige Sätze aus der identischen Begründung beider Gesetzentwürfe zitieren:
Bei der Art des Aufgabenbereichs der Abgeordneten ist es jedoch nicht möglich, solche andersartigen Handlungen, die Gegenstand einer Bestechung
sein könnten, begrifflich in einem klar abgegrenzten Tatbestand zu erfassen. …
Eine hinreichend klare Abgrenzung läßt sich auch
nicht dadurch erreichen, daß - wie verschiedentlich
vorgeschlagen - dem Tatbestand Merkmale wie „in
verwerflicher Weise“, „in pflichtwidriger Weise“
oder
- jetzt kommt der Ausdruck, der auch im SPD-Entwurf
vorkommt „den Gepflogenheiten eines ehrenhaften Abgeordneten unangemessen“ beigefügt werden …
Auch die Aufnahme einer der Bestimmung des
§ 240 Abs. 2 StGB entsprechenden Rechtswidrigkeitsklausel ist nicht zu befürworten.
Das ist aus der Begründung der Gesetzentwürfe. Ich
kann beim besten Willen nicht erkennen, dass sich an
dieser Sach- und Rechtslage irgendetwas grundlegend
geändert hat.
({1})
Über mehr als zehn Jahre war diese Regelung, die damals, wie gesagt, mit überwältigender Mehrheit beschlossen wurde, auch nicht umstritten. Seit einigen Jahren wird das Thema nun wieder verstärkt behandelt und
beschäftigt den Bundestag allmählich jährlich, teils mit
neuen, teils mit aufgewärmten Gesetzentwürfen. Dabei
sind die Argumente doch hinlänglich ausgetauscht.
Was ist der Grund dafür, dass das Thema der Abgeordnetenbestechung seit einigen Jahren wieder verstärkt
thematisiert wird? Sind etwa einschlägige Vorkommnisse, Fälle oder gar eine Häufung derselben in den letzten Jahren aufgetreten? Das Beispiel des Kollegen
Sharma ist nun wahrlich nicht geeignet, eine solche Verschärfung zu begründen.
({2})
Im Bundestag hat es nach meiner Erinnerung in den letzten Jahren nichts dergleichen gegeben, was Anlass zu einer Verschärfung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung geben würde.
Nun berufen sich die Befürworter einer solchen Verschärfung - das haben wir heute wieder gehört - mangels tatsächlicher Erfordernisse gerne auf internationale
Übereinkommen, insbesondere der VN und des Europarats, gegen Korruption, die von der damaligen rot-grünen Bundesregierung unterzeichnet worden sind, worüber insbesondere die Abgeordneten der SPD damals
alles andere als begeistert waren.
Auch der aktuelle Gesetzentwurf der SPD kritisiert
- wir haben es heute wieder gehört -, dass Deutschland
zu den wenigen Vertragsstaaten gehört, die bis heute insbesondere das VN-Übereinkommen nicht in nationales
Recht umgesetzt haben. Warum hat der Deutsche Bun19402
destag diesem Abkommen bis heute nicht zugestimmt?
Der entscheidende Punkt - ich sage es noch einmal -,
der gegen eine Ratifizierung dieser Abkommen damals
wie heute spricht, ist: Beide Abkommen stellen Abgeordnete ausdrücklich mit Amtsträgern gleich.
({3})
Eine solche Gleichstellung ist aber nicht nur sachwidrig,
sie ist auch mit unserem Verfassungsverständnis nicht
vereinbar.
({4})
Darüber sind sich - das ergibt sich auch aus den Debattenbeiträgen des letzten Jahres - jedenfalls die Fraktionen der demokratischen Parteien in diesem Hause einig.
Weitere Ausführungen dazu möchte ich mir deshalb an
dieser Stelle ersparen.
Obwohl der damaligen rot-grünen Bundesregierung
der grundlegende Unterschied zwischen Amtsträgern
und Abgeordneten klar war, hat sie seinerzeit bei der Zustimmung zu den beiden internationalen Abkommen keinen entsprechenden Vorbehalt erklärt - was sie hätte machen können.
Gerne versucht man auch heute wieder die Forderung
nach Ratifizierung des VN-Abkommens damit zu untermauern, dass inzwischen, wie ich glaube, 158 Staaten
diese vollzogen hätten und außer Deutschland nur noch
Länder wie Syrien, Saudi-Arabien oder Nordkorea nicht
dabei seien.
({5})
Das überzeugt mich aber nun am allerwenigsten.
Schauen wir uns doch einmal umgekehrt an, welche
Länder diese Abkommen ratifiziert haben: Pakistan,
Afghanistan,
({6})
Iran, China,
({7})
Russland, Kuba,
({8})
Libyen unter Gaddafi usw. Ich glaube, da erübrigt sich
jeder Kommentar.
({9})
Die Forderung nach Verschärfung des Tatbestands der
Abgeordnetenbestechung wird auch heute wieder wie im
SPD-Gesetzentwurf darauf gestützt, dass eine Rechtsprechung des BGH eine solche Verschärfung angeblich
erforderlich mache. Dazu möchte ich klar sagen: Das
angeführte Urteil aus dem Jahr 2006 bezieht sich ausdrücklich auf kommunale Mandatsträger. Deren Rechtsstellung ist eine andere als die von Landtags- und Bundestagsabgeordneten.
({10})
Damit möchte ich zusammenfassend feststellen: Da
es in den letzten Jahren im Bereich des Deutschen Bundestages keine Vorkommnisse gab, die eine Verschärfung der Strafvorschrift der Abgeordnetenbestechung erforderlich erscheinen lassen,
({11})
da des Weiteren schwerwiegende Gründe gegen eine Ratifizierung der einschlägigen internationalen Abkommen
sprechen und da sich keine Handlungsverpflichtung aus
höchstrichterlicher Rechtsprechung herleiten lässt, gibt
es, verehrte Kolleginnen und Kollegen, keinen Regelungsbedarf.
({12})
Umso fragwürdiger und hinterfragungswürdiger ist
es, dass dieses Thema immer wieder hochgespielt wird;
denn dadurch wird - entgegen der Realität - der Eindruck erweckt, Korruption bei Parlamentariern sei ein
großes Problem.
({13})
Damit stellt man die Abgeordneten in Gesamtheit unter
Generalverdacht.
({14})
Das ist durch nichts gerechtfertigt.
({15})
Leider leistet dem auch der SPD-Gesetzentwurf in seiner
Begründung Vorschub.
Die Gefahr, dass Abgeordnete unberechtigt öffentlichen Anschuldigungen und damit Vorverurteilungen
ausgesetzt werden,
({16})
würde im Übrigen noch verstärkt, wenn der Tatbestand
des § 108 e StGB mit unscharfen Formulierungen und
unbestimmten Rechtsbegriffen angereichert würde, wie
sie bislang alle Änderungsvorschläge enthalten.
({17})
Alle bisher bekannten Formulierungsvorschläge werden
den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots des
Art. 103 Grundgesetz nicht gerecht.
({18})
- Sie kennen doch die Schlussfolgerung meiner Argumentation, werte Kollegin: weil es nicht möglich ist.
({19})
Ich beziehe mich dabei auf die damals einvernehmlich
auch von SPD und Grünen übernommene Begründung
von 1993: Weil es nicht möglich ist, das, was Sie regeln
wollen, juristisch in einen sauberen, klar abgrenzbaren
Tatbestand zu fassen.
({20})
Ich sage noch einmal: Keiner der vorgelegten Vorschläge genügt den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots in Art. 103 Grundgesetz. Das gilt auch für den
jetzt eingebrachten Gesetzentwurf der SPD. Da ist zum
Beispiel von „parlamentarischen Gepflogenheiten“ die
Rede. Ja, wer bestimmt denn im Fall des Falles, was darunter zu verstehen ist?
({21})
Sollen das die Staatsanwaltschaften machen?
Auch die Begründung des SPD-Entwurfes, verehrte
Kollegin Lambrecht, spricht im Übrigen die grundsätzliche Schwierigkeit an, bei diesem Thema überhaupt zu
einer hinreichend klaren Formulierung zu kommen. Sie
sprechen zwar die Schwierigkeiten an, scheitern aber an
ihnen.
Meine Damen und Herren, die wirksamsten Mittel gegen Korruption sind öffentliche Kontrolle und parlamentarische Transparenz.
({22})
Das ist gerade in einer Demokratie mit einer kritischen
Medienöffentlichkeit effektiver als jede Strafdrohung.
({23})
Dass die Kontrolle durch die Öffentlichkeit funktioniert,
kann niemand bezweifeln. Und was die Transparenz angeht, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Durch die Verschärfung unserer Verhaltensregeln haben wir gezeigt,
dass es uns ernst damit ist.
Ich bedanke mich.
({24})
Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin immer optimistisch, und deswegen bin ich heute in
der Hoffnung in die Debatte gegangen, dass sich die Koalitionsfraktionen nicht länger verschließen, sondern
endlich erkennen, dass wir dringend eine Regelung brauchen, um Abgeordnetenbestechung unter Strafe zu stellen.
Denn die Stimmen hatten sich gemehrt. Die Staatssekretärin im Bundesjustizministerium hat bereits vor zwei
Jahren angekündigt, die Bundesregierung setze alles daran, die UN-Konvention zur Bekämpfung von Korruption umzusetzen. Unabhängig davon, dass wir es nicht
als eine Aufgabe der Bundesregierung ansehen, fand ich
das sehr ambitioniert formuliert.
Auch unser Bundestagspräsident, der heute schon ein
paar Mal erwähnt wurde, hat sich mehrfach sehr deutlich
dazu geäußert, dass er ebenfalls dafür sei. Jüngst hat
auch Ex-Finanzminister Theo Waigel - das hat mich
sehr überrascht, aber auch gefreut - an Sie appelliert und
offensichtlich sogar die bayerische Justizministerin aufgefordert, einen Entwurf vorzulegen und endlich tätig zu
werden.
Ich bin heute also in der Hoffnung in die Debatte gegangen, dass sich bei Ihnen endlich etwas bewegt, und
da wir einen exzellenten Vorschlag für die Strafbarkeit
der Abgeordnetenbestechung gemacht haben, hatte ich
gehofft, dass Sie sich zumindest dieser Debatte nicht
weiter grundsätzlich verschließen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es besteht Handlungsbedarf. Ich will - das ist
schon erwähnt worden - zur UN-Konvention noch eines
sagen: Mich hat es einigermaßen erstaunt, Frau Voßhoff,
dass Sie heute in die Debatte eingeworfen haben, es sei
ein Fehler gewesen, diese Konvention zu unterzeichnen.
Ich denke, wir sind uns hier in diesem Haus einig, dass
internationale Vereinbarungen eingehalten werden und
dass wir sie nicht dem politischen Tagesgeschäft und der
aktuellen Meinung unterwerfen.
({0})
Wir sind uns in diesem Haus sicherlich auch einig, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass uns die Tatsache, dass
Staaten, bei denen wir uns wundern, dass sie einzelne
Konventionen unterzeichnet haben, die Übereinkommen
auch umgesetzt haben, nicht daran hindern darf, unsere
international eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen.
({1})
Jetzt stellen wir uns bitte einmal die Botschaft vor, die
von diesem Haus ausgehen würde, wenn wir sagen würden: Wir bekräftigen hier, dass wir uns nicht an diese so
wichtige Konvention halten. - Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, und deswegen schließe ich an das
an, was schon gesagt wurde: Es ist peinlich, dass wir zu
den wenigen Staaten gehören, die noch nicht unterzeichnet haben. - Auch Bundestagspräsident Lammert hat gesagt, dass wir uns damit nicht nur statistisch, sondern
auch politisch in einer schwierigen Gesellschaft befinden.
({2})
- Das haben Sie ihm ja schon an die Hand gelegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik. Wir
wissen ganz genau, dass das Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger in die Integrität der Volksvertreterinnen und
Volksvertreter auch von dieser Frage abhängt und dass
es nicht besonders groß ist. Dazu, Herr Kollege van
Essen, brauchen wir keinen Fall von Abgeordnetenbestechung. Schließlich sind wir alle froh und dankbar,
dass wir es nicht massenhaft mit solchen Fällen zu tun
haben.
({3})
Vielmehr setzt uns schon die Tatsache, dass Sie sich
verschließen, gemeinsam eine sinnvolle, praktikable Regelung zu finden, dem unberechtigten, unnötigen und
absolut vermeidbaren Verdacht aus, wir hätten irgendetwas zu verbergen. Dieses Signal müssen wir ganz dringend verhindern.
({4})
Allein der Verdacht reicht aus, das Vertrauen in uns und
unsere Politik zu beschädigen oder zu reduzieren.
Meine Damen und Herren, das deutliche Signal
„Nein, wir sind nicht bestechlich!“ muss von uns, muss
vom Deutschen Bundestag ausgehen. Es ist unsere Aufgabe, das Vertrauen herzustellen.
({5})
Ich stelle bei der Debatte fest, dass unser Gesetzentwurf überhaupt nicht gelesen worden ist. Denn da wird
etwas „hineingeheimnist“, was da überhaupt nicht drinsteht. Deswegen will ich noch einmal ganz deutlich sagen, dass die Unrechtsvereinbarung der entscheidende
Punkt ist. Wir füllen den Begriff vom freien Mandat des
Abgeordneten - nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sind wir nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur unserem Gewissen unterworfen - mit
dieser Regelung in unserem Gesetzentwurf aus. Wir
wollen eben nicht, dass Abgeordnete an Aufträge und
Weisungen gebunden sind.
Natürlich haben wir um den Vorteilsbegriff gerungen.
Das ist ein ganz schwieriger Punkt; wir wissen das. Aber
wir alle wollen nicht unter Verdacht geraten, wenn wir
an einem parlamentarischen Abend teilnehmen. Da
möchte ich einmal die Frage stellen, was Sie auf einem
parlamentarischen Abend machen, Herr Kollege
Sharma. Entscheidend ist, dass wir nach dem Besuch eines parlamentarischen Abends oder nach der Teilnahme
an einem Abendessen eben nicht Aufträge erhalten oder
Weisungen entgegennehmen.
Das ist der entscheidende Gesichtspunkt in unserem
Gesetzentwurf. Wir formulieren den Sachverhalt sehr
konkret. Die Aufnahme des Abs. 3 in § 108 e StGB, wie
wir sie in unserem Gesetzentwurf vorsehen, ist daher
sehr wichtig. Ich bitte darum, das genau nachzulesen.
Durch den Verweis auf die parlamentarischen
Gepflogenheiten soll der Vorteilsbegriff eingegrenzt
werden. Wir sagen, dass alles, was den parlamentarischen Gepflogenheiten unterliegt, vom Vorteilsbegriff
nicht umfasst wird. Das ist eine ganz wichtige Eingrenzung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Selbstverständlich.
Danke schön, Herr Präsident. Danke sehr, Frau Kollegin Högl. - Sie haben gerade gesagt, Ihr Gesetzentwurf
sei im Hohen Hause offensichtlich nicht gelesen worden.
Ich für meinen Teil möchte das zurückweisen.
({0})
Ihnen habe ich das auch nicht unterstellt.
({0})
- Nein.
Ich habe ihn intensiv gelesen. Sie haben in diesem
Abs. 3 - das ist von Ihnen sicherlich gut gemeint - beschrieben, was eine Ausnahme in Bezug auf den Vorteilsbegriff ist. Ein Vorteil ist zwar immer noch ein Vorteil, aber kein Vorteil im Sinne des Gesetzes, wenn er
den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht.
Ich möchte Sie fragen, wie Sie sich das in der Praxis
vorgestellt haben. Soll es ein geschlossener Begriff sein?
Das würde bedeuten, dass sich die Justiz beim zuständigen Parlament der Gemeinde XY erkundigt, was dort die
Gepflogenheiten sind, wenn sie einen entsprechenden
Fall auf dem Tisch hat. Wenn die Wildwuchsgepflogenheiten dieses Parlaments so sind, wie sie sind, dann ist
die Strafbarkeit offen. Oder soll es ein offener Begriff
sein? Das würde bedeuten, dass die Staatsanwaltschaft
und damit die Justiz bestimmen, was parlamentarische
Gepflogenheiten sind. Beide Varianten halte ich für unmöglich. Können Sie uns erklären, was Sie genau meinen?
Selbstverständlich. Ich möchte aber zunächst vorausschicken, dass ich großes Vertrauen in unsere Staatsanwaltschaften, in unsere Richterinnen und Richter und in
die Justiz allgemein habe.
({0})
Das spiegelt sich in diesem Gesetzentwurf wider. Mit
Blick auf Ihre Frage möchte ich auch sagen, dass ich es
bedenklich finde, dass schon die Bejahung eines Anfangsverdachts manchmal politische Karrieren verhindern kann. Deswegen tun wir uns so schwer bei der Konkretisierung dieses Vorteilsbegriffs.
({1})
Ich kann mir vorstellen, dass wir in der weiteren Beratung den Begriff „parlamentarische Gepflogenheiten“
weiter konkretisieren. Es gibt schon einen Kanon dessen
- dieser Punkt ist heute schon angesprochen worden -,
was wir unter parlamentarischen Gepflogenheiten verstehen. Ich nenne beispielsweise die Einladung zu einem
Essen und die Teilnahme an einer Veranstaltung mit Interessenvertreterinnern und Interessenvertretern.
Ich möchte aber so weit wie möglich konkretisieren,
was parlamentarische Gepflogenheiten sind. Ich kann
mir vorstellen - darüber müssen wir uns noch einmal unterhalten; das gilt auch für meine Fraktion -, dass wir einen Katalog erstellen, der entsprechende Hinweise enthält. Wir müssen uns, wie gesagt, Gedanken darüber
machen, was wir unter parlamentarischen Gepflogenheiten verstehen. Ich möchte diesen Begriff nicht so unbestimmt wie möglich lassen, sondern ihn so weit wie
möglich konkretisieren; denn ich halte die Konkretisierung für den entscheidenden Gesichtspunkt in unserem
Gesetzentwurf.
In der Vergangenheit gab es immer schon Debatten
darüber, wie man den Vorteilsbegriff eingrenzen kann.
Ich sage es noch einmal: Ich bin optimistisch, dass wir
auf Basis unseres Vorschlages, den ich für sehr praktikabel und sehr gut durchdacht halte - logischerweise; wir
haben uns sehr viele Gedanken darüber gemacht -, zu einer gemeinsamen Haltung kommen und den richtigen
Weg finden.
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass wir unsere Vorschläge zum Thema, was man gegen Abgeordnetenbestechung tun kann, in einem Paket mit anderen
Maßnahmen sehen. Das Stichwort „Transparenz und Offenheit im Deutschen Bundestag“ ist schon gefallen. Wir
haben auch Vorschläge auf den Tisch gelegt, was die Beschäftigung von Externen in der Bundesverwaltung und
was das Lobbyregister angeht. Ich bitte sehr darum, dass
wir uns gemeinsam diese Vorschläge ansehen. Es wäre
ein starkes Signal des Deutschen Bundestages, wenn wir
uns selbst verpflichten würden, mehr Transparenz walten zu lassen. Damit würden wir uns nicht mehr grundlosen Verdächtigungen aussetzen, sondern wir würden etwas dafür tun, dass das Vertrauen in uns und unsere
Politik gestärkt wird. Unser Gesetzentwurf dient dazu,
die Korruption zu bekämpfen und gegen diesen Generalverdacht anzugehen. Deswegen bitte ich - hier greife ich
das auf, was Sie, Herr Kollege van Essen, gesagt haben darum, dass wir in die Diskussion eintreten und dass wir
uns gemeinsam bemühen und allen Sachverstand zusammennehmen, um eine gute Regelung zu finden. Wir können nicht ohne Regel bleiben, sondern wir müssen die
Abgeordnetenbestechung unter Strafe stellen. Wir haben
Handlungsbedarf. Ich hoffe, dass diese Debatte das
heute auch gezeigt hat. Wir haben einen guten Vorschlag
vorgelegt. Schließen Sie sich dem an! Kommen Sie in
die Diskussion mit uns!
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beschäftigen uns in dieser Legislaturperiode nunmehr
mit dem dritten Gesetzentwurf zur Regelung der Abgeordnetenbestechung. Nach mehr als einer Stunde Debatte zu diesem Gesetzentwurf der SPD heute im Plenum des Bundestages gibt es wahrscheinlich kaum ein
Argument, das nicht schon in irgendeiner Form angesprochen worden ist.
Alle vorgelegten Entwürfe nehmen Bezug auf die beiden internationalen Übereinkommen gegen Korruption,
nämlich die UN-Konvention vom 30. Oktober 2003 und
das Strafrechtsübereinkommen des Europarates über
Korruption vom 27. Januar 1999. Deutschland hat beide
Übereinkommen bisher noch nicht ratifiziert.
In der Begründung des SPD-Entwurfes heißt es, dass
es ein peinlicher Umstand sei, dass wir das UN-Übereinkommen bisher noch nicht in nationales Recht umgesetzt
haben.
({0})
Das mag man so sehen. Es ist hier im Plenum bei den
vorausgegangenen Debatten ebenso wie bei der heutigen
Debatte stets eingewandt worden, dass dieser Vorgang
uns nicht erst in dieser Wahlperiode betrifft. Insofern
handelt es sich, wenn überhaupt, um eine fortwirkende
Peinlichkeit, die auch andere politische Konstellationen
betrifft.
({1})
In meiner letzten Rede dazu habe ich schon sehr ausführlich aus einem Plenarprotokoll des Jahres 2008 zitiert;
das könnte ich hier heute bei Bedarf gerne wiederholen.
Aber ich glaube, es ist allen noch präsent.
Lassen Sie mich eines vorab klarstellen: Für Deutschland und für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist
die Bekämpfung von Korruption ein wichtiges Anliegen.
Wir meinen, dass es dabei nicht nur um formelle Regelungen gehen darf. Dessen sollten wir uns bei der ganzen
Diskussion stets bewusst sein, insbesondere wenn wir
auf die 158 Staaten schauen, die die genannten Konventionen schon ratifiziert und/oder umgesetzt haben. Hier
kann man sich das eine oder andere Land anschauen;
Kollege Götzer hat Libyen unter Gaddafi genannt.
({2})
- Dazu komme ich gleich auch noch. Hören Sie erst einmal beide Sätze an. Ich habe „eines“ gesagt. Darauf folgt
meistens noch ein „Zweites“.
Erstens. Es gibt Länder wie Libyen unter Gaddafi: Da
muss man sehen, dass die Buchstaben eines Gesetzes
zwar Recht schaffen mögen, es aber etwas anderes ist,
wie man Recht lebt. Dies ist auch eine Frage des gesellschaftlichen Gesamtumganges. Das mag für das eine
oder andere Land zutreffen. Das ist der eine Punkt.
Zweitens. Dann gibt es noch einige andere Länder. Zu
denen gehören Frankreich, aber auch die USA,
({3})
die rechtssystematische Unterschiede zu uns haben. Die
Unterscheidung zwischen Amtsträgereigenschaft und
Mandatsträgereigenschaft in der Form, wie wir sie haben, kennen sie eben nicht. Insofern darf man das nicht
über einen Kamm scheren.
({4})
Man muss, wenn man auf die anderen Länder schaut,
sehr differenziert hinsehen.
Sie scheren das insofern über einen Kamm, als Sie auf
die Peinlichkeit hinweisen, dass eine Konvention nicht
umgesetzt wurde. Es lohnt sich schon, dort genauer hinzuschauen.
({5})
Es muss natürlich auch darauf hingewiesen werden,
dass Deutschland schon jetzt über ein sehr hohes strafrechtliches Schutzniveau bei der Bekämpfung von Korruption verfügt.
({6})
Für Abgeordnete ist der Stimmenkauf und der -verkauf in § 108 e des Strafgesetzbuches strafrechtlich geregelt. Für Amtsträger gibt es die §§ 331 ff. des Strafgesetzbuches. Es ist daher sehr genau hinzuschauen und
die Frage zu stellen, ob es überhaupt eine Lücke gibt, die
jetzt geschlossen werden muss.
Schauen wir uns ganz genau an, was in den letzten
Jahren beim Thema Abgeordnetenbestechung passiert
ist. Sämtliche Gesetzesinitiativen scheiterten doch stets
({7})
daran, dass es nicht wirklich gelang, den Bereich des eigentlich strafbaren Verhaltens des Abgeordneten genau
zu bestimmen.
({8})
Das gelingt auch dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion
nicht. Ich möchte unterstellen, dass dieser Gesetzentwurf
genauso wie andere Gesetzentwürfe - das habe ich
schon in meinen vorherigen Reden ausgeführt - von dem
guten Willen getragen ist, eine Regelung zu finden.
({9})
Aber gerade der geänderte § 108 e Abs. 3 des Strafgesetzbuches zeigt, dass auch Sie versuchen, durch eine
Negativabgrenzung für mehr Klarheit zu sorgen. Aber
das misslingt; denn die Formulierungen sind zu unbestimmt. So heißt es in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs:
Um die im parlamentarischen Verkehr üblichen
Verhaltensweisen aus der Strafbarkeit auszuklammern, nimmt der Gesetzentwurf Zuwendungen, die
parlamentarischen Gepflogenheiten entsprechen,
explizit aus dem Vorteilsbegriff heraus.
Genau daran krankt der Gesetzentwurf. Wie kann man
diesen Begriff ausfüllen, und wie kann das politisch Erlaubte vom strafrechtlich Verbotenen abgegrenzt werden? In der Konsequenz würde das Staatsanwälten und
Strafrichtern eine kaum einzugrenzende und eine kaum
zu kontrollierende Einflussnahme auf das parlamentarische System eröffnen. Deswegen kann ich nur festhalten: Was erlaubt ist und was nicht, ist im Gesetzentwurf
zu unbestimmt dargestellt. Es wird eine praktisch kaum
einzugrenzende Grauzone geschaffen.
Was aber könnte für klare Bestimmungen herangezogen werden? Ist es die Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages, die die Abgeordneten schon jetzt in einigen Bereichen zu Transparenz verpflichtet und gemäß
der Angaben zum Teil veröffentlicht werden müssen und
zum Teil auch nicht? Trägt der Rückgriff auf die Verhaltensregeln für Abgeordnete in irgendeiner Form dazu
bei, parlamentarisch übliches Verhalten und die entsprechenden Gepflogenheiten klar einzugrenzen? Was macht
eine politisch übliche und sozial adäquate Verhaltensweise überhaupt aus? Ist eine Bewirtung erlaubt, und,
wenn ja, in welchem Umfang, oder wäre das schon eine
solche Vorteilsnahme? Vielleicht ist dabei auch die
Frage entscheidend, wo eine Bewirtung stattfindet, ob in
Berlin oder auf Sylt. Müsste dann jede Einladung von einem Interessenvertreter oder ein Treffen mit einem solchen offengelegt werden?
({10})
Wenn nicht, liegt es dann zum Beispiel in der Hand des
jeweiligen politischen Gegners, zu entscheiden, was sozial adäquat ist und ob der Staatsanwalt eingeschaltet
wird?
({11})
Kurzum: Damit wären Tür und Tor für ungerechtfertigte
Ermittlungsverfahren geöffnet,
({12})
die möglicherweise zu Wahlzwecken oder zur Ausschaltung des politischen Gegners eingeleitet werden bzw.
- das ist der entscheidende Punkt - eingeleitet werden
müssten. Denn die Staatsanwaltschaft müsste - so sieht
es Ihr Gesetzentwurf vor - in Fällen, in denen ein solcher Anschein besteht, Ermittlungen aufnehmen. Somit
muss die Staatsanwaltschaft bestimmen, was den politischen Gepflogenheiten entspricht. Was bleibt aber übrig,
wenn es zu einem Ermittlungsverfahren kommt?
({13})
Da ist ein Abgeordneter, gegen den ein Ermittlungsverfahren geführt wurde, und es kommt nicht mehr darauf
an, ob es zu Recht oder zu Unrecht geführt wurde. Das
zeigt: Auch der SPD gelingt es in ihrem Gesetzentwurf
nicht, mehr Klarheit zu schaffen.
Insgesamt muss man festhalten, dass die Kernprobleme in zwei Bereichen bestehen. Zum einen gibt es
das Problem bei der Unterscheidung zwischen der Mandatsträgereigenschaft und der Amtsträgereigenschaft.
({14})
Zum anderen gibt es daraus folgend das Problem, den
Bereich des politisch Erlaubten klar zu umreißen. In den
internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung der
Korruption ist generell nur von Amtsträgern die Rede.
Dies mag für andere Rechtssysteme passen, nicht aber
für unser Rechtssystem, das deutlich zwischen Mandatsund Amtsträger unterscheidet.
({15})
Wie ich bereits am 8. April 2011 zum Gesetzentwurf
der Linken ausgeführt habe, haben Amtsträger anders als
Abgeordnete einen ganz klar umrissenen Pflichten- und
Aufgabenkreis.
({16})
Um nur einige Abgrenzungskriterien zu nennen: Sie sind
weisungsgebunden und treffen und vollziehen im Rahmen von Diensthandlungen Einzelentscheidungen, die
nicht an den Amtsträger gebunden und damit nicht personengebunden sind. Demgegenüber bedeutet das freie
Mandat, das in Art. 38 grundgesetzlich verankert ist,
dass der gewählte Abgeordnete sein Mandat im Parlament frei ausübt und dafür nur seinem Gewissen unterworfen und an keine Aufträge und Weisungen gebunden
ist.
({17})
Das ist im Übrigen auch vom Bundesgerichtshof so bestätigt worden.
({18})
Natürlich vertreten Abgeordnete in ihrer Mandatsausübung Interessen, und das müssen sie sogar.
({19})
Aus diesen Interessen formt sich dann im parlamentarischen Prozess das allgemeingültige Recht. Interessengeleitetes Handeln und Öffentlichkeit sind dabei zwei
einander bedingende und sich gegenseitig ausbalancierende Elemente politischen Handelns.
Ich vertraue - das darf ich abschließend sagen - auf
die in Deutschland meines Erachtens schon sehr gut
funktionierenden Instrumente: auf das Gewissen eines
jeden Mandatsträgers, die strafrechtlichen Sanktionen,
die Transparenz durch Verhaltensregeln für Abgeordnete
und durch eine aktive Zivilgesellschaft, darauf, dass die
politischen Folgen von Fehlverhalten klar diskutiert werden,
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
({0})
- darauf, dass wir eine funktionierende Beobachtung
und Kontrolle durch die Öffentlichkeit, insbesondere
durch die Medien, haben und dass es eine funktionierende gegenseitige Kontrolle durch die unterschiedlichen politischen Institutionen und Fraktionen gibt. Zum
Schluss: Ich vertraue natürlich den Wählerinnen und
Wählern, dass sie unser Verhalten schon richtig beurteilen können.
({0})
Wir werden uns einer weiteren Diskussion nicht verschließen
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- und haben dazu in der Ausschussberatung ausreichend Gelegenheit.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, ich habe
Ihnen jetzt über eine Stunde sehr aufmerksam zugehört
und all Ihre Argumente, die Sie gegen eine Regelung zur
Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung hier ins Feld
geführt haben, vernommen: die Besonderheiten des parlamentarischen Betriebs, die manches Mal schwierige
Abgrenzung zwischen einer zulässigen politischen Einflussnahme und einer unzulässigen Bestechung, die Gefahr, dass der Ruf eines Abgeordneten durch eine Strafanzeige beschädigt wird, dass er ein Mandat verliert und,
und, und.
Ich frage mich allerdings: Ist das nur hier in Deutschland so, oder warum haben gleichwohl mehr als
150 Staaten weltweit - fast alle europäischen Länder,
fast alle Demokratien dieser Welt - eine Regelung zur
Abgeordnetenbestechung hinbekommen?
({0})
Nur wir in Deutschland diskutieren seit über neun Jahren
und kriegen überhaupt nichts auf die Reihe. Woran liegt
das eigentlich? Das ist doch die Kernfrage. Darauf haben
Sie in dieser Debatte überhaupt keine Antwort gegeben.
Das macht sie so bedrückend und so peinlich.
({1})
All die Argumente, die Sie hier vortragen, gelten
doch nicht nur für uns hier in Deutschland, sondern für
jede Demokratie weltweit. Natürlich haben das Parlament und der einzelne Parlamentarier eine besondere
Rolle, die es zu schützen gilt. Natürlich ist es manches
Mal schwierig, die zulässige Einflussnahme von der unzulässigen Bestechung abzugrenzen. Aber dass diese
Abgrenzung unmöglich wäre, so wie Sie behaupten,
wird doch durch alle Demokratien mit entsprechenden
Regelungen widerlegt, und zwar schon seit Jahren und
Jahrzehnten. Das ist doch der springende Punkt.
({2})
Deshalb drängt sich der Verdacht auf, dass es sich um
Schutzbehauptungen handelt. Viele von denen, die uns
zugehört haben, werden sagen: Das ist eine Art Selbstprivilegierung, der Sie hier das Wort reden. Darüber
können wir nur den Kopf schütteln. - Im Ausland stößt
das mittlerweile auch auf Unverständnis, wie wir alle
wissen.
Nein, meine Damen und Herren, bei dieser Debatte
geht es um eine gefährliche und beunruhigende - ich
finde sogar: eine fast unfassbare - Strafbarkeitslücke.
Jede Demokratie lebt doch zunächst einmal von dem
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger darauf, dass wir
Parlamentarier Vertreter des ganzen Volkes sind und uns
nicht in die Abhängigkeit zu irgendwelchen Geldgebern
begeben, dass die Auseinandersetzungen hier im Parlament mit Argumenten geführt werden und nicht durch
die Bestechung einzelner Abgeordneter beeinflusst werden.
Andere Länder haben das offensichtlich verstanden.
Es ist eben ein strafwürdiges Unrecht, wenn sich ein
Volksvertreter, der dem Gemeinwohl verpflichtet ist,
schmieren lässt. Es ist ein Skandal, wenn das in Deutschland nach wie vor noch weitestgehend straflos ist.
({3})
Das schadet der Demokratie, und das schadet der politischen Kultur in unserem Land. Es schadet mittlerweile
auch dem Ansehen der Republik. Dafür tragen Schwarz
und Gelb mit ihrer beharrlichen Verweigerungsstrategie
die Verantwortung.
({4})
Ich darf einmal ein Fazit der heutigen Debatte ziehen.
Ich glaube, Sie haben bis heute eines nicht verstanden:
Die Bestechung eines Abgeordneten ist der wohl
schwerste Angriff auf ein Parlament und auf die Funktionsweise einer Demokratie, den man sich überhaupt
vorstellen kann. Gerade wir Parlamentarier haben die
Aufgabe und die Pflicht, unsere Demokratie vor solchen
Angriffen zu schützen. Eine Rechtsordnung, die es unterlässt, ihre Rechtserzeuger vor solchen Angriffen zu sichern, verliert auf Dauer an Legitimation. Es schadet übrigens uns allen, wenn wir uns als unfähig erweisen,
unsere Demokratie in diesem wichtigen Punkt zu verteidigen.
({5})
Unser Gesetzentwurf, den wir von der SPD hier eingebracht haben, zeigt, dass wir es mit der Korruptionsbekämpfung ernst meinen, und zwar auch dann, wenn es
um unsere eigene Zunft geht. Dieser Gesetzentwurf
zeigt, dass wir unsere eigenen Angelegenheiten transparent regeln können. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wir
das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere
Volksvertretungen stärken wollen. Dieser Gesetzentwurf
zeigt schließlich auch, dass wir uns nicht damit abfinden
wollen, dass wir international betrachtet inzwischen die
rote Laterne haben, wenn es darum geht, den Kernbereich politischer Entscheidungsprozesse zu schützen.
Ihre Reaktion zeigt mir nur eines: Sie von Union und
FDP sind nicht willens und in der Lage, etwas zu regeln,
was international inzwischen zum Standard gehört, nämlich parlamentarische Entscheidungsprozesse vor Korruption zu schützen. Dass wir uns damit international
betrachtet inzwischen in der Glaubwürdigkeitsfalle befinden, das ist Ihnen offensichtlich vollkommen egal. Sie
wollen keine Regelung; Sie denken nicht einmal ernsthaft über eine Lösung nach. Deshalb sage ich Ihnen: Sie
können diesen Gesetzentwurf ablehnen und sich dann
weiter im Nichtstun üben; aber spätestens 2013, unter
der neuen rot-grünen Bundesregierung, werden wir das
regeln, und zwar sofort und ohne Wenn und Aber.
({6})
Das Wort hat nun Siegfried Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden auch beim fünften Mal scheitern, wenn wir über eine
Lösung beim Thema Abgeordnetenbestechung diskutieren. Viermal hat es nicht geklappt; beim fünften Mal
wird es wieder nicht klappen,
Siegfried Kauder ({0})
({1})
wenn man immer versucht, die Abgeordnetenbestechung
an einen Straftatbestand anzudocken, der schlicht und
ergreifend nicht auf das parlamentarische Verhalten
passt.
({2})
Man kann es nicht schöner sagen als der Bundesgerichtshof, 5. Senat, in einer Entscheidung vom 9. Mai
2006, Randziffer 29, wo es heißt:
Amtsausübung ist etwas anderes als Mandatsausübung.
({3})
Derjenige, der eine Amtspflicht wahrnimmt, ist bei seiner Entscheidung ersetzbar; er ist gebunden an Vorschriften, an die wir nicht gebunden sein wollen und dürfen.
({4})
Der Abgeordnete ist frei und muss eine freie Entscheidung treffen können.
({5})
Meine lieben Kollegen, was mich am meisten irritiert,
ist der Umstand, dass ich wieder einen Begriff vorfinde,
den der Kollege Ströbele einmal beim Verfassungsgericht erwähnt hat. Sie alle fühlen sich „normativ unfrei“,
weil es Verträge gibt, an die Sie sich gebunden fühlen,
die Sie umsetzen wollen. Sie müssen doch überlegen:
Welchen Sachverhalt wollen Sie regeln? Oder wollen
Sie nur einem Vertrag, den eine Regierung unterschrieben hat, nachfolgen?
({6})
Wir sind das Parlament und entscheiden, was wir zu tun
haben; wir lassen uns nicht an die Entscheidung einer
Regierung binden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Gerne.
Danke schön, Herr Kollege Kauder. - Sie haben wie
in Ihren früheren Reden so auch jetzt auf die Differenz,
auf den Unterschied zwischen einem Amtsträger und einem frei gewählten Abgeordneten abgestellt. Ich gebe
Ihnen völlig recht: Das ist etwas ganz anderes. Die Frage
ist - ich stelle sie Ihnen -: Was ist das Wesen des Unterschieds? Insbesondere in unserer Debatte stellt sich die
Frage: Ist der Unterschied zwischen dem Mandatsträger
und dem Amtsträger derjenige, dass der Amtsträger
nicht bestochen werden darf, während der freie Abgeordnete bestochen werden darf? Wenn dies das Wesen
des Unterschieds wäre, dann wären Sie, Herr Kollege
Kauder, auf einem Irrweg.
({0})
Wenn das aber der Unterschied nicht ist, dann können
wir selbstverständlich auf eine dem Mandat gemäße Art
und Weise die Strafbarkeit der Bestechung einführen.
({1})
Herr Kollege Montag, Sie sind Strafrechtler wie ich
auch. Sie wissen genau, was die Voraussetzungen für
eine Bestechung oder eine Bestechlichkeit, für die Vorteilsannahme oder das Anbieten einer Leistung sind.
Nicht einmal diese Differenzierungen macht dieser Gesetzentwurf. Was eigentlich unter Strafe gestellt werden
soll, ist keine Bestechung, weil wir keine pflichtwidrige
Diensthandlung vornehmen können; es wäre allenfalls
eine Vorteilsannahme.
({0})
Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Schon die Begrifflichkeiten stimmen nicht.
Wir nehmen keine Dienstpflichten wahr. Wir entscheiden. Wir sind auch nicht objektiv, wir können subjektiv
sein, wir dürfen Interessen von Bürgern verfolgen - also
ein grundlegender Unterschied. Solange Sie das Verhalten, das Sie inkriminieren wollen, an den Strafvorschriften zu Bestechung und Bestechlichkeit festmachen, werden Sie scheitern, weil es dazu nicht passt.
({1})
Die SPD bläst einen riesengroßen Luftballon auf,
stellt den Abgeordneten, obwohl es nicht passt, erst einmal dem Dienstverpflichteten gleich,
({2})
um dann am Ende wieder den Ballon zu zerstören und
sich ins Knie zu schießen, indem man sagt: Wenn der
Abgeordnete diese Handlung auch vorgenommen und
die Entscheidung ohne das Geschenk getroffen hätte,
dann soll es nicht strafbar sein. - Über die innere Tatseite kann sich der Abgeordnete wieder aus der Verantwortung ziehen. Der Vorschlag, den Sie machen, bringt
hinten und vorne nichts, weil er nicht zu einer Strafbarkeit führen wird.
Siegfried Kauder ({3})
Dann tun Sie etwas, von dem Sie selbst wissen, dass
Sie es nicht verantworten können, weil es nicht geht:
Was den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht,
soll nicht strafbar sein. Sie vergessen dabei eines: Sie
wollen nicht nur den Abgeordneten bestrafen, nicht nur
den bestrafen, der nimmt, sondern auch den, der gibt.
Wir wissen vielleicht, was eine parlamentarische Gepflogenheit ist, aber der, der einen parlamentarischen
Abend ausrichtet, weiß nicht, was die parlamentarischen
Gepflogenheiten sind.
({4})
Den müssen wir nachher fragen. Und nicht Sie fragen
ihn, sondern der Staatsanwalt fragt. Da wundert mich
das Verhalten der Linken etwas, die zu Recht darüber
klagen, ohne Genehmigung des Parlaments würden sie
vom Verfassungsschutz bespitzelt. Sie werden es in Zukunft, wenn Sie diesen Straftatbestand einführen, nicht
nur mit dem Verfassungsschutz zu tun haben, der Ihnen
auf die Finger schaut, sondern auch mit dem Staatsanwalt, der nach einem parlamentarischen Abend zu Ihnen
ins Büro kommt, sich die Tür öffnen lässt und schaut,
wie viele Flaschen Wein Sie darin stehen haben. Wenn
Sie das wollen, können Sie den Straftatbestand verabschieden.
({5})
Er wird nicht das erreichen, was Sie erreichen wollen.
({6})
Wir müssen ganz woanders anfangen. Wenn Sie ein
bestimmtes Verhalten von Abgeordneten nicht haben
wollen, müssen Sie das über die Verhaltensregeln machen und nicht über Straftatbestände.
({7})
Wir wollen nicht, dass der Staatsanwalt uns zu parlamentarischen Abenden begleitet. Wer dieses Gesetz befürwortet, schadet dem Parlamentarismus, und er demontiert den Abgeordneten im deutschen Parlament.
({8})
Sie haben es doch selbst gesagt, Herr Kollege
Sharma: Natürlich darf man zu parlamentarischen Abenden gehen, aber nicht nach Sylt. - Ich habe ganz bewusst
gefragt: Wie karg muss die Veranstaltung sein, zu der
wir gehen? Müssen wir vorher anrufen und fragen, was
die Location und das Brötchen kosten und ob man ein
oder zwei Brötchen essen darf?
({9})
Das ist doch absoluter Unsinn. Das funktioniert nicht
und ist eines Parlaments nicht würdig.
Deswegen sage ich Ihnen eines: Wir brauchen keine
strafrechtliche Regelung. Der Kollege van Essen hat es
zu Recht ausgeführt. Es gibt im Staat eine Gewalt, die
sehr genau weiß und schaut, was ein Abgeordneter tut.
Das ist die Bevölkerung, die Öffentlichkeit und die
Presse.
({10})
Wir brauchen keine Regelungen, die für das Parlament nicht passen und die auch eines Parlamentes unwürdig sind. Deswegen lassen Sie diese Diskussion bitte
sein, sie führt nicht weiter.
({11})
Sie nützt niemandem, sie dient niemandem, sie schadet
nur. Ich empfehle Ihnen, solche Debatten nicht zu führen,
({12})
sondern darüber nachzudenken, was wir tatsächlich in
einem Parlament brauchen:
({13})
selbstbewusste Parlamentarier, die sich nicht von Regierungen und nicht von der öffentlichen Meinung gängeln
und sich nicht von parlamentarischen Abenden beeindrucken lassen. Es kann doch nicht sein, dass ein Parlamentarier im Nachhinein sagen kann, er hätte die Entscheidung auch so getroffen, deswegen sei das Geschenk
dafür nicht kausal. - Da begeben Sie sich in eine Falle.
Sie schießen sich selbst mit Ihrem Gesetzentwurf ab. Er
ist in sich nicht schlüssig, nicht nachvollziehbar. Deswegen kann ich nur empfehlen, dem nicht zuzustimmen.
Hören Sie mit der Debatte auf!
({14})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Christian Lange für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Spiegel vom 21. Mai 2007 war folgende Begebenheit zu lesen - ich zitiere -:
Christian Lange ({0})
Die Gäste im Kanzleramt waren höflich, aber deutlich. Eine Gruppe afrikanischer Bischöfe und Kardinäle war Anfang Mai zu Angela Merkel gereist,
um über die Lage auf dem Schwarzen Kontinent zu
sprechen. Ausführlich referierte der kongolesische
Erzbischof …, dass Armut meist mit schlechter Regierungsführung und Korruption einhergehe. Dann
erinnerte der Afrikaner die Gastgeberin schnörkellos an ihre Verantwortung: „Auch Deutschland“,
sagte der Erzbischof, „hat die UNO-Konvention gegen Korruption noch nicht ratifiziert“. Merkel
schwieg.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, ersparen Sie Ihrer Kanzlerin, ersparen Sie Deutschland
solche Peinlichkeiten.
({1})
Wenn Ihnen schon Ihre Kanzlerin egal ist, dann halten
Sie sich wenigstens an das, was der niedersächsische
Justizminister Bernd Busemann am 30. Juli 2008 zu Protokoll gab. Der Justizminister forderte, die UN-Konvention gegen Korruption endlich vonseiten des Bundestages zu ratifizieren und zu verabschieden. - Hören Sie auf
Ihre Länder! Vielleicht hilft das weiter.
({2})
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
wenn Ihnen die Meinung der Länder egal ist, dann hören
Sie doch wenigstens auf die Vertreterinnen und Vertreter
der Wirtschaft. Ihr Parteifreund von der CSU, Theo
Waigel, Berater von Siemens,
({3})
hat Ihnen einen Formulierungsvorschlag an die Hand gegeben, wie man es regeln kann. Dann, bitte schön: Hören
Sie doch auf Theo Waigel, hören Sie auf die Wirtschaft,
und tun Sie endlich etwas!
({4})
Schließlich lassen Sie mich auf zwei Gegenargumente
eingehen. Auf Ihr Gegenargument, das auf eine angebliche Verbeamtung von Abgeordneten abstellt, möchte ich
mit den Worten des Geschäftsführers von Transparency
International, Christian Humborg, antworten. Er sagte
dazu - ich zitiere -:
Für eine Ratifizierung der Konvention wird keine
Gleichstellung von Beamten und Parlamentariern
verlangt.
({5})
Er führt weiter aus: In einigen Ländern sei das so umgesetzt worden, aber die Regelungen zur Abgeordnetenbestechung könnten auch unabhängig davon verschärft
werden. - Genau das tut die SPD-Bundestagsfraktion in
ihrem Gesetzentwurf.
({6})
Das beredtste Beispiel dafür ist die Begründung - auch
die Begründung gehört zu einem Gesetzentwurf -, in der
wir Abs. 3, um den es hier geht - parlamentarische Gepflogenheiten -, auslegen. Wir geben darin Staatsanwaltschaften und Justiz eine Richtschnur mit auf den Weg,
etwa: Auf der einen Seite das DGB-Sommerfest und unser Eintreten für den Mindestlohn und auf der anderen
Seite die Spielautomatenwirtschaft und der Las-VegasAusflug - das eine ist möglich, das andere ist rechtswidrig.
({7})
Ihr zweites Gegenargument bezieht sich auf den Bestimmtheitsgrundsatz. Wir knüpfen an die Aussagen des
Art. 38 Grundgesetz an, der besagt, dass Vertreter des
Volkes nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sind.
So steht es im Grundgesetz, und so steht es in unserem
Gesetzentwurf. Er ist daher hinreichend bestimmt. Im
Übrigen haben wir ausgebildete Juristen, die dies entsprechend auslegen können.
Wenn alles das nicht hilft, will ich den Bundestagspräsidenten anführen. Auch er hat Sie von CDU/CSU
und FDP aufgefordert, endlich zum Abschluss zu kommen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie schon unserem
Vorschlag nicht folgen wollen, wenn Sie dem Vorschlag
der Grünen nicht folgen wollen und wenn Sie dem Vorschlag der Linken nicht folgen wollen, dann bringen Sie
doch bitte einen eigenen Vorschlag ein! Blockieren Sie
nicht weiterhin! Die Wahrheit ist doch: Sie wollen nicht,
und das ist traurig, traurig für die internationale Reputation und insbesondere für uns Abgeordnete.
Abgeordnete sind nicht bestechlich,
({8})
sie wollen nicht bestechlich sein, und deswegen wird es
Zeit, dass wir endlich eine Regelung finden.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8613 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau
der kalten Progression
- Drucksache 17/8683 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister der Finanzen Wolfgang Schäuble das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die kalte Progression in der Lohn- und Einkommensbesteuerung, die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
bekämpfen wollen, entsteht durch die Wirkungsweise eines Lohn- und Einkommensteuertarifs, der Leistungsfähigere prozentual höher besteuert. Dieses Prinzip ist
Grundlage unseres Einkommensteuerrechts und weitgehend unbestritten. Es gibt zwar gelegentlich andere Vorschläge, weil das in Zweifel gezogen wird. Ich finde
aber, es hat sich über Jahrzehnte bewährt, dass wir als
Grundlage der Einkommensbesteuerung ein progressives Steuersystem haben, das heißt bei höheren Einkommen einen höheren Steuersatz.
Im Zusammenwirken mit der Geldentwertung entsteht hier aber der Effekt der kalten Progression. Wenn
jemand bei einer unterstellten Preissteigerungsrate von
2 Prozent mehr Lohn oder Einkommen erhält, dann zahlt
er eben nicht 2 Prozent mehr Lohn- oder Einkommensteuer, sondern einen etwas höheren Prozentsatz. Die
Differenz ist die kalte Progression. Auf lange Sicht führt
das zu einer starken Verschiebung, zu einer höheren
Steuerbelastung, die vom Gesetzgeber so nicht entschieden ist. Da Einnahmen und Ausgaben, die den Steuerzahler betreffen, vom Gesetzgeber entschieden werden
müssen - im Zusammenhang mit den Ausgaben erinnern
wir wieder und wieder an die Budgetverantwortung des
Parlaments - ist die kalte Steuerprogression, da sie nicht
vom Gesetzgeber vorgesehen ist, ein eigentlich gesetzeswidriger Zustand. Deswegen schaffen wir mit diesem
Gesetzentwurf Abhilfe.
({0})
Mit einer solchen Entscheidung geben wir zugleich
das klare Signal, dass wir dauerhaft auf Stabilität setzen
und nicht daran interessiert sind, weder als Regierung
noch als Parlament, durch Geldentwertung, durch Inflation, quasi Windfall Profits, nicht vom Gesetzgeber beschlossene Steuermehreinnahmen, zu haben. Nein, die
Bekämpfung, die dauerhafte Absage an die kalte Steuerprogression ist ein glaubwürdiges Signal, dass Regierung und Parlament an dauerhafter Preis- und Geldwertstabilität interessiert sind. Auch unter diesem
Gesichtspunkt bitte ich um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.
({1})
Unser Vorschlag zielt darauf, die ohnedies verfassungsgerichtlich gebotene Anpassung des steuerlichen
Grundfreibetrags an das steuerfreie Existenzminimum
zu nutzen, im gesamten Verlauf des Lohn- und Einkommensteuertarifs progressive Wirkungen, die ausschließlich aus diesem Zusammenwirken resultieren, zu
vermeiden. Deswegen schlagen wir vor, den Grundfreibetrag zu erhöhen. Ich will hinzufügen: Der steuerfreie
Grundfreibetrag liegt im Jahr 2012 knapp 1 Prozent über
dem steuerfreien Existenzminimum; das sind 9 Euro.
Das ist also knapp. Das heißt, dass für 2013/2014 Handlungsbedarf besteht; denn niemand wird riskieren
wollen, dass wir aufgrund eines nicht mehr verfassungsgemäßen steuerlichen Grundfreibetrags eine verfassungsrechtlich nicht einwandfreie Grundlage unseres
Steuersystems haben. Die Anhebung des Grundfreibetrags in zwei Stufen, 2013 und 2014, um insgesamt
4,4 Prozent - gleich 350 Euro - ist verfassungsrechtlich
geboten und kann deswegen eigentlich nicht bestritten
werden.
({2})
Wenn man diesen Schritt unternimmt und vermeiden
will, dass der Eingangssteuersatz steigt - wenn man weiter nichts täte, als nur den Grundfreibetrag zu erhöhen,
würde der Einkommensteuersatz steigen; das wird niemand wollen -, ist es zwangsläufig geboten, den Steuertarif entsprechend zu schieben. Wenn man die kalte Progression bekämpfen will, muss man den Grenzsteuersatz
konstant lassen. Deswegen muss man die prozentuale
Anhebung des Grundfreibetrags auf den Tarifverlauf
übertragen. Das genau ist Inhalt dieses Gesetzentwurfs.
Das ist konsequent und sachlich richtig zur Bekämpfung
der kalten Steuerprogression.
({3})
Eigentlich sind das keine Steuerentlastungen, sondern
es ist der Verzicht auf vom Gesetzgeber nicht beschlossene Steuererhöhungen. Wer sich dagegen ausspricht,
plädiert für Steuererhöhungen, die der Gesetzgeber so
nicht beschlossen hat. Gelegentlich wird gesagt, das
würde nur einer Tasse Kaffee pro Monat entsprechen. Es
ist im Vergleich erstaunlich, wie groß die Erregung bei
steigenden Belastungen ist. Hier reden wir immerhin
von monatlichen Steuerentlastungen zwischen 15 und
25 Euro für Ledige; für Verheiratete ist der Betrag doppelt so hoch. Das ist nicht viel; aber wer sagt, das sei gar
nichts, hat keine Vorstellung von der Lebenswirklichkeit
der Arbeitnehmer in unserem Lande.
({4})
Wir haben lange darüber diskutiert. Wir wollen nicht,
dass die kalte Progression durch einen automatisch wirkenden Mechanismus beseitigt wird, weil sich dadurch
das Problem der Scala mobile ergibt und weil wir grundsätzlich gegen jede Indizierung sind; jede Indizierung
fördert tendenziell die Inflation. Daher haben wir uns
entschieden, es diskretionär zu machen. Wir legen jetzt
für die Jahre 2013 und 2014 einen Vorschlag für die Anhebung des Grundfreibetrags, orientiert an der voraussichtlichen Entwicklung des steuerfrei zu stellenden
Existenzminimums, vor. Hierzu sehen wir eine Überprüfung im Zwei-Jahres-Rhythmus vor. Der Tarifverlauf
soll, falls notwendig, entsprechend angepasst werden.
Durch diskretionäre Entscheidungen wollen wir dauerBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
haft sicherstellen, dass kalte Steuerprogression nicht entsteht.
Ich will im Übrigen, weil es eine Debatte darüber
gibt, ob das notwendig sei, hinzufügen: Wir haben den
steuerlichen Grundfreibetrag zwischen 1998 und 2009,
wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sechsmal angehoben. Das ist also nicht ungewöhnlich. Diejenigen, die
sich dagegen aussprechen, sollten sich dies genau überlegen, da dies in einem auffälligen Widerspruch zu früheren Entscheidungen steht. Wir haben den Grundfreibetrag seit 1998 sechsmal angehoben, und oft waren damit
Maßnahmen verbunden, mit denen eine Erhöhung des
Eingangssteuersatzes vermieden wurde. Im Übrigen haben wir auch durch andere Steuerentscheidungen immer
wieder die kalte Progression bekämpft.
Jetzt haben wir einen systematisch richtigen Ansatz:
Anhebung des Grundfreibetrags, Verschiebung im Tarifverlauf um denselben Prozentsatz und alle zwei Jahre
eine Überprüfung mit den entsprechenden Konsequenzen. Ich glaube, dass das die richtigen Maßnahmen sind.
Das Gesamtausfallvolumen durch beide Stufen der Anhebung des Grundfreibetrags beläuft sich, wenn es voll
wirksam wird, auf 6 Milliarden Euro. Da Bund, Länder
und Gemeinden am Aufkommen von Lohn- und Einkommensteuer partizipieren, müssen Bund, Länder und
Gemeinden auf nicht vom Gesetzgeber gewollte Steuererhöhungen entsprechend ihrem Anteil am Gesamtsteueraufkommen verzichten. Darüber kann kein Zweifel bestehen.
Gleichwohl hat die Bundesregierung im Gesetzentwurf vorgeschlagen, den Ländern in den ersten Jahren
für den Teil der Auswirkungen, der aufgrund der proportionalen und der prozentualen Verschiebung entsteht, ein
Stück weit entgegenzukommen. Diese Ausnahme ist der
besonderen Situation der Länder- und der Kommunalfinanzen geschuldet. Aber grundsätzlich müssen alle Gebietskörperschaften akzeptieren, dass sie nicht dauerhaft
Steuermehreinnahmen erhalten, die vom Gesetzgeber
nicht beschlossen sind. Deswegen erwarte ich, dass der
Bundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen wird, falls der
Deutsche Bundestag ihn beschließen wird, worum ich
bitte.
({5})
Es geht darum, das Prinzip der leistungsgerechten Besteuerung - das prägt unser progressives Steuersystem mit der Verteidigung der Geldwertstabilität in eine vernünftige Übereinstimmung zu bringen. Ich bitte Sie um
Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
({6})
Das Wort hat nun Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Bundesfinanzminister, Sie führen in
dieser Frage eine Ablenkungsdiskussion.
({0})
Die Steuerpolitik der schwarz-gelben Koalition in den
letzten zweieinhalb Jahren war zum Erbarmen. Sie wollen nun von dem ablenken, was wir erlebt haben, was
Sie der Öffentlichkeit geboten haben.
({1})
Deshalb haben Sie sich etwas einfallen lassen, und das
haben Sie gerade zusammengefasst vorgetragen.
Über Jahre hinweg, vor allem im Bundestagswahlkampf 2009, haben alle drei Koalitionsparteien, nicht
nur die FDP, den Menschen massive Steuersenkungen
versprochen. Schon 2009 war das nichts anderes als eine
Wählertäuschung.
({2})
Das Versprechen massiver Steuersenkungen waren der
Wahlkampfschlager und die Legitimation von SchwarzGelb.
({3})
Ihre Steuersenkungsversprechen gehörten zur Entstehungsgeschichte von Schwarz-Gelb.
({4})
Wie viel - oder besser, Herr Kollege: wie wenig - davon
übrig geblieben ist, sieht man an dem Gesetzentwurf,
den wir hier und heute beraten.
({5})
Sie biegen sich die Dinge zurecht. Der Täuschung aus
dem Jahre 2009 folgt der politische Pfusch, den Sie mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf abliefern.
({6})
Natürlich haben Frau Merkel und Herr Schäuble bereits vor der letzten Bundestagswahl gewusst, dass in
den öffentlichen Kassen auf absehbare Zeit kein Geld für
Steuersenkungen ist. Nur: Sie haben das im Wahlkampf
verschwiegen oder den Bürgern sogar das Gegenteil erzählt. Vornehm ausgedrückt: Sie waren unehrlich.
Schwarz-Gelb basierte von Anfang an auf massiver
Wählertäuschung. Diese Wählertäuschung gehört zur
Entstehungsgeschichte von Schwarz-Gelb, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie für die laufende
Legislaturperiode Steuersenkungen in einer Größenord-
nung von insgesamt 24 Milliarden Euro versprochen.
Seitdem der Koalitionsvertrag unterschrieben ist - wir
haben die Geschichte in den Medien verfolgen können -,
überlegt der durchaus trickreiche Bundesfinanzminister
Schäuble, wie er im Hinblick auf die angekündigten
Steuersenkungen eine Minimallösung konstruiert, die
a) von der FDP - und auch von der CSU - geschluckt
wird und die es b) der Opposition möglichst schwer
macht, sie abzulehnen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Krestel von der FDP-Fraktion?
Natürlich.
Sehr geehrter Herr Kollege Poß, davon abgesehen,
dass ich, wie wahrscheinlich die Mehrheit der hier anwesenden Kollegen, Ihren Ausführungen zur Steuerpolitik
der Bundesregierung nicht ganz folgen kann
({0})
- ich sprach von der Mehrheit -, möchte ich Ihnen eine
Frage stellen. Wenn Sie das ehrliche Bemühen dieser
Koalition, die Besteuerung in diesem Land einfacher,
niedriger und gerechter zu gestalten, in Abrede stellen,
wie erklären Sie uns dann, dass Ihre Partei im Jahre 2005
mit dem Slogan „Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer!“
in den Wahlkampf gegangen ist und die Umsatzsteuer
unmittelbar nach der Wahl, als Sie Regierungsverantwortung hatten, von 16 auf 19 Prozent erhöht hat? Ich
bitte Sie, diese Frage zu beantworten.
Lieber Kollege, ich glaube, dass die deutsche Bevölkerung im Gegensatz zu Ihnen nachvollziehen kann, was
ich gesagt habe. Umfragen kamen zu dem Ergebnis, dass
mindestens zwei Drittel der Befragten, wenn nicht mehr,
angesichts des Theaters, das Sie in der Steuerpolitik aufgeführt haben - nicht nur im Hinblick auf die Hoteliersteuer, sondern auch im Hinblick auf die Diskussion
über Steuersenkungen -, nur mit dem Kopf geschüttelt
haben. Von daher sehe ich mich durchaus auf der Seite
der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, wenn auch
nicht dieses Parlaments.
Der andere Aspekt, den Sie angesprochen haben,
macht deutlich, dass es in den Parteien unterschiedliche
Auffassungen gibt. Dieser Umstand hat zu Beginn der
Regierungszeit der Großen Koalition zu dem Ergebnis
geführt, das Sie geschildert haben. Eine Parallele zu dem
Vorgang, den ich erwähnt habe, besteht aber nicht. Hier
ging es darum, dass von Ihrer Seite - insbesondere von
der FDP, aber auch von der CDU und der CSU - der Bevölkerung suggeriert wurde, wir könnten die Steuern
senken. Teilweise war von Steuersenkungen in einer
Größenordnung von über 30 Milliarden Euro die Rede.
({0})
Das muss man sich einmal vorstellen! Jetzt sehen wir,
womit wir es zu tun haben.
Herr Kollege Schäuble hat versucht, zu retten, was zu
retten ist. Er hat die Stichworte Grundfreibetrag und
kalte Progression angesprochen.
({1})
Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist alles, was von
dem jahrelangen Steuersenkungsgerede von CDU, CSU
und FDP übrig geblieben ist. Am Anfang klang es ja wie
ein Weltrettungsprogramm; daran wird man in diesem
Parlament doch erinnern dürfen. Sie wollen das vergessen machen.
({2})
Weil Sie das wissen, reden Sie nicht mehr von „Steuerentlastung“. Stattdessen sprechen Sie in diesem Gesetzentwurf von der Vermeidung „nicht gewollter Steuerbelastungen“.
({3})
Merken Sie nicht, wie lächerlich Sie sich mit diesen verbalen Verrenkungen machen?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbst für Ihre
Minientlastung ist kein Geld in den öffentlichen Kassen.
Schon ohne die Zusatzbelastung von gut 2 Milliarden
Euro, die dieses Gesetz allein die Länder und Kommunen jährlich kosten würde, wissen viele Länder und Gemeinden nicht, wie sie die Schuldenbremse einhalten
können. Das ist doch die Realität. Schauen Sie sich einmal in Ihren Gemeinden und in Ihren Ländern um! Dann
wissen Sie Bescheid.
Der Schuldenstand Deutschlands liegt im Übrigen
noch immer 20 Prozentpunkte über dem, was die Europäische Währungsunion maximal zulässt.
({4})
Die 6 Milliarden Euro, die die Umsetzung dieses Gesetzentwurfs kosten würde, sind mit keinem Euro gegenfinanziert. Die öffentliche Verschuldung erhöht sich um
den vollen Umfang. Zur Begründung entwerfen Sie eine
neue Philosophie, über die auch unter juristischen
Aspekten noch zu reden sein wird.
Bisher hat das Bundesverfassungsgericht zum Grundfreibetrag immer gesagt, die Anpassung müsse nach
Vorlage des Existenzminimumberichts erfolgen. Da hat
der Gesetzgeber noch Spielraum. Das wird in der Darstellung von Herrn Schäuble in ein ganz anderes Licht
getaucht. Darüber wird noch zu reden sein. Sie haben
keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung vorgelegt, was
aber notwendig wäre. Wie passt das zusammen, Herr
Schäuble? Sie spielen zusammen mit Frau Merkel in
Europa den fiskalischen Zuchtmeister, und hier zu Hause
wollen Sie Steuersenkungen auf Pump.
({5})
Im Übrigen: Kein Sozialdemokrat verweigert sich einer notwendigen Anhebung des Grundfreibetrags.
({6})
Wer etwas anderes sagt, sagt schlicht die Unwahrheit.
Bis heute liegt aber keine ordentliche und nachvollziehbare Berechnung der Bundesregierung dafür vor,
({7})
wann und um welchen Betrag der Grundfreibetrag erhöht werden muss. Die von Ihnen genannten Zahlen
wurden gegriffen.
({8})
In guter Übung wird die Höhe des notwendigen
Grundfreibetrags alle zwei Jahre in den sogenannten
Existenzminimumberichten der Bundesregierung fortgeschrieben. Der nächste Bericht, der neunte, steht planmäßig 2013 ins Haus. Legen Sie den Neunten Existenzminimumbericht mit einer vernünftigen und auch
sachgerechten Berechnung von Existenzminimum und
Grundfreibetrag vor! Dann werden wir sehen, wann und
um welchen Betrag Anhebungen notwendig sind, und
die werden wir dann auch mittragen.
({9})
Diese „Prognoseabschätzungen“ haben allein das Ziel,
Legitimationen für Steuerentlastungen zu fingieren. Das
ist Teil dieser Ablenkungs- und Täuschungsaktion, die
wir hier erleben.
({10})
Angesichts der aufgelaufenen öffentlichen Verschuldung
und auch der Schuldenbremse, die einzuhalten ist, brauchen wir selbst für zwingende Erhöhungen des Grundfreibetrags eine solide Gegenfinanzierung.
Zum Phänomen der kalten Progression, dem zweiten
Stichwort, ist zu sagen, dass die Regierung trotz vieler
Nachfragen meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem
Finanzausschuss bis heute keine überzeugenden Berechnungen vorgelegt hat. Im Übrigen sind sich alle Experten einig: Dank der vielen von SPD-Bundesfinanzministern zu verantwortenden Einkommensteuersenkungen in
allen Einkommensbereichen seit 1998 spielte die kalte
Progression in unserer Regierungszeit keine Rolle.
In Herrn Schäubles Rede klang fast klassenkämpferisch die Frage an, ob man den Menschen nicht etwas
gönnen wolle.
({11})
Die Auseinandersetzung darüber, wie eine gerechte
Steuerpolitik aussieht, die auch die Hochleistungsfähigen in diesem Land durch höhere Spitzensteuersätze und
eine angemessene Vermögensteuer stärker in die Mitverantwortung für das Gemeinwesen bringt,
({12})
werden wir in den nächsten Wochen und Monaten führen.
({13})
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Gesetzentwurf ist offensichtlich so ausgereift und so
klug und präzise justiert, dass der Kollege Poß es vermieden hat, sich dezidiert mit ihm auseinanderzusetzen.
({0})
Das wahre Ablenkungsmanöver war die Rede von Herrn
Poß, in der er Nebenkriegsschauplätze aufgemacht hat.
({1})
Es ist nicht wahr, dass dieser Gesetzentwurf das einzige Steuergesetz ist, das diese Koalition in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht hat.
({2})
Wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz und
vieles andere, auch zur Steuervereinfachung, auf den
Weg gebracht. Jetzt gehen wir das Thema der kalten Progression gezielt in einem Punkt an, den auch Sie, wie Sie
den Menschen in Ihrem Wahlprogramm noch versprochen haben, unterstützen wollten.
Der Bundesfinanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es nicht darum geht, vorhandene Steuern zu
senken. Es geht vielmehr darum, auf nicht gewollte
Steuererhöhungen zu verzichten. Insofern muss man
auch keine Vorschläge zur Gegenfinanzierung vorlegen.
Damit fallen alle Ihre Gegenargumente, die Sie auch
über die Länder im Bundesrat vorbringen, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
({3})
Von der Kritik bleibt also nichts übrig.
Wir haben uns gezielt die unteren und mittleren Einkommen vorgenommen, weil wir wollen, dass die Auf19416
schwungsdividende endlich auch bei den Beziehern von
unteren und mittleren Einkommen ankommen soll. Warum ist die SPD ausgerechnet dagegen? Diese Frage hätten Sie der Öffentlichkeit in Ihrer Rede beantworten
sollen, Herr Kollege Poß. Warum unterstützt die Sozialdemokratie nicht den Schutz der unteren und mittleren
Einkommen vor ungewollten Steuererhöhungen?
({4})
Wenn man abstrakt die Frage stellt, warum man diesen
Gesetzentwurf braucht, dann könnte man sagen: „Die
Arbeit ist die Quelle allen Reichtums und aller Kultur“.
Dieses Zitat stammt aus dem Gothaer Programm von
1875. Die SPD hat sich offensichtlich weitgehend von
diesen Prinzipien entfernt.
({5})
Was machen Sie heute? Sie kämpfen mit einer nicht
nachvollziehbaren Begründung gegen einen Ausgleich
für reale Einkommensverluste durch die Inflation.
({6})
Der Bundesfinanzminister sagte zu Recht, dass der
Deutsche Bundestag die inflationsbedingten Steuererhöhungen nie wollte und sie auch nie beschlossen hat.
Wenn Sie zur Vermeidung ungewollter Steuererhöhungen Nein sagen, dann sagen Sie Ja zu diesen Steuererhöhungen.
({7})
Dann sind Sie eine Steuererhöhungspartei, was die unteren und mittleren Einkommen angeht. Damit müssen Sie
sich auseinandersetzen.
({8})
Das passt zu dem, was Sie sonst der Öffentlichkeit zu
bieten haben. Das ganze linke Parteienspektrum überbietet sich inzwischen an Vorschlägen dazu, wie man die
Steuern in Deutschland weiter erhöhen kann.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Paus?
Ja, bitte.
Herr Wissing, Sie haben gesagt, Sie wollten die Bürgerinnen und Bürger vor Inflation schützen. Abgesehen
davon, dass dafür die Europäische Zentralbank zuständig ist, frage ich Sie: Können Sie mir sagen - darüber
gibt der Gesetzentwurf leider keine Auskunft -, wie Sie
die Entwicklung der Inflation in den Jahren 2013 bis
2016 einschätzen? Können Sie mir zumindest die Aussage des Bundesfinanzministeriums im Finanzausschuss
bestätigen, dass vor allen Dingen diejenigen mit höheren
Einkommensteuerzahlungen zu rechnen haben, die in
den nächsten Jahren höhere Boni bekommen werden,
und dass die Tarifsteigerungen jedenfalls kein Grund für
die höhere Inflationsrate sein werden?
({0})
Frau Kollegin, die Inflationsbekämpfung ist in der Tat
Aufgabe der Europäischen Zentralbank. Aber wir haben
darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zu leisten, indem
wir uns bei der Stabilisierung unserer Währung im Rahmen der Bekämpfung der Staatsverschuldungskrise engagieren. Es ist nicht Gegenstand dieser Debatte, was die
Bundesregierung in einem großen Kraftakt, auch mit
Unterstützung der Opposition, diesbezüglich auf den
Weg bringen konnte. Ich bin sicher, dass es uns gelingen
wird, einen Inflationsanstieg zu vermeiden.
Gleichwohl sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir
auch ohne Inflationsanstieg eine kontinuierliche Inflation haben, die zu einem ungewollten Anstieg der Steuerbelastung führt. Es ist inzwischen so, dass eine Lohnerhöhung in bestimmten Einkommensgruppen nur zu
einem ganz geringen Teil bei den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern ankommt.
({0})
Ich finde es etwas kalt, dass Sie das überhaupt nicht berührt, dass Sie darüber einfach hinweggehen und sagen:
Ich mache mir keine Gedanken darüber, wie bei unteren
Einkommen eine Überstunde besteuert wird.
({1})
Sie sollten sich einmal etwas intensiver mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen. Sie sollten sich außerdem einmal die Frage stellen, ob Ihre Verweigerungshaltung den Beziehern unterer und mittlerer Einkommen in
Deutschland tatsächlich zuzumuten ist.
({2})
Ich glaube, dass Sie am Ende Ihre Meinung revidieren
müssen, denn es ist eine Gerechtigkeitsfrage, die kalte
Progression zu bekämpfen.
({3})
Ich komme auf die angesprochenen Steuererhöhungsvorschläge zurück. Sie wollen mit Ihrem Nein zu diesem
Gesetzentwurf eine Steuererhöhung für untere und mittlere Einkommen. Gleichzeitig sagen Sie - das ist inzwiDr. Volker Wissing
schen ein Überbietungswettkampf -, der Spitzensteuersatz müsse auf 45 Prozent, 49 Prozent
({4})
oder, wie zuletzt von den Linken gefordert, 75 Prozent
steigen.
({5})
Das entspricht dem Vorschlag Ihres sozialdemokratischen Freundes Hollande, der Präsident der Französischen Republik werden möchte. Irgendwann hat man
den Eindruck, dass die Sozialdemokraten das Steuerrecht als Strafrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstehen.
({6})
Das ist es aber nicht, weil es einen Zusammenhang zwischen Arbeit bzw. der Steuerbelastung von Arbeit und
dem Sozialstaat gibt. Das Bewusstsein dafür ist Ihnen
offenbar abhandengekommen.
Soziale Leistungen des Staates fallen nicht vom Himmel, sondern müssen erwirtschaftet werden. Es gilt der
Grundsatz: Geht es den Beschäftigten und der Wirtschaft
gut, dann geht es auch dem Sozialstaat gut. Das wollten
Sie uns nie glauben, und deswegen haben wir es Ihnen
bewiesen. Wir haben wachstumsorientiert konsolidiert.
Wir haben durch kluge Steuerpolitik - von der Vermeidung von Steuererhöhungen zu Beginn dieser Legislaturperiode bis hin zu diesem Gesetzentwurf - für die maximale Entfaltung von Wachstumskräften in unserem
Land gesorgt. Jetzt sind die Sozialkassen voll, und die
Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, ist niedrig. Den Beweis, dass unsere Politik richtig
ist, haben wir erbracht. Jetzt setzen wir sie fort und laden
Sie ein, umzukehren, Ihre Verweigerungshaltung aufzugeben und endlich den richtigen Kurs für unser Land zu
unterstützen.
({7})
Geben Sie Ihre Scheinkämpfe auf, und unterstützen Sie
diesen Gesetzentwurf, der endlich einen Paradigmenwechsel im Einkommensteuerrecht einleitet und mit der
kontinuierlichen Überprüfung der kalten Progression
mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schafft. Wir wollen, dass sie an den Erfolgen der
Wirtschaft teilhaben.
Wir freuen uns, dass die Einkommen der Beschäftigten gestiegen sind. Jetzt muss man dafür sorgen, dass
diejenigen, die sich in der Vergangenheit zurückgehalten
haben und jetzt Lohnsteigerungen erwarten, diese auch
behalten können, indem sie gerecht besteuert werden. Es
darf jetzt nicht ausgerechnet bei den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern im unteren und mittleren Einkommensbereich zugegriffen werden.
Ich lade Sie ein, Ihre Verweigerungshaltung aufzugeben und diesen Gesetzentwurf zu unterstützen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wissing, das war eine vergiftete Einladung. Sie
können doch nicht ernsthaft meinen, dass wir uns an Ihrer vermurksten Steuerpolitik beteiligen. Das ist wirklich
eine Zumutung.
({0})
Nach zweieinhalb Jahren kommen Sie endlich aus
dem Knick und legen etwas vor, scheinbar den großen
Wurf. Die Koalition will jetzt endlich die kalte Progression bekämpfen. Dazu kann ich nur sagen: Gut, dass Sie
endlich ausgeschlafen haben. Ich darf Sie daran erinnern: Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen
Antrag vorgelegt und haben Sie aufgefordert, etwas gegen die kalte Progression, die ein Teilproblem darstellt,
zu tun. Wir haben in unserem Antrag verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt: Man könnte einen Inflationsfaktor
in den Tarif einbauen, oder man könnte eine kontinuierliche Anpassung im Grundfreibetrag gestalten. Es gibt
verschiedene Möglichkeiten.
({1})
Das hat Sie damals nicht sonderlich interessiert. Sie haben den Antrag abgelehnt. Jetzt kommt Ihr großer Wurf.
Aber wir unterscheiden uns erheblich in der Einordnung. Sie betrachten Ihren Gesetzentwurf zum Abbau
der kalten Progression als die Lösung des Problems der
Steuergerechtigkeit. Dem ist mitnichten so. Bei uns war
diese Aufforderung in unserem Vorschlag zur Reform
der Einkommensteuer eingebettet. Da liegt das Problem;
denn die kalte Progression resultiert aus der Kombination von Lohnsteigerung, Inflation und konkretem Tarifverlauf.
Nun sind wir uns alle einig, dass wir mit dem progressiven Einkommensteuertarif dem Grundprinzip des deutschen Steuerrechts Rechnung tragen, die Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vorzunehmen. Allerdings - es war Herr Waigel, der das damals
eingeführt hat - haben wir keine durchgehend linearprogressive Gestaltung, sondern wir haben einen sogenannten Steuerbauch. Das führt dazu, dass Bezieher von
unteren und mittleren Einkommen durch den Tarifverlauf überproportional belastet werden. Das ist das Problem. Solange Sie dieses Problem nicht angehen, haben
Sie bei der Kombination einer Lohnsteigerung in Höhe
der Inflationsrate mit diesem Tarifverlauf den Effekt,
dass sich die überproportionale Belastung verstärkt.
Deshalb sagen wir: Wir müssen das Grundproblem
anpacken. Wir brauchen einen neuen Einkommensteuertarif. Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht: Anhebung
des Grundfreibetrags auf 9 300 Euro und Anhebung des
Spitzensteuersatzes auf 53 Prozent, der ab 65 000 Euro
greifen soll. Um keine Verwirrung aufkommen zu lassen: Dieser Tarif führt zu einer Entlastung bis zu einem
zu versteuernden Jahreseinkommen von 70 000 Euro.
Das ist ein wirklich gerechter Vorschlag.
({2})
Diejenigen, die über 70 000 Euro verdienen, können wir
sehr wohl belasten, weil sie tatsächlich eine wesentlich
höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben. Das ist
das Grundproblem, und das müssen wir angehen.
({3})
Solange Sie dies nicht tun, können Sie hier und da ein
bisschen herumdoktern, aber Sie lösen das Problem
nicht.
Eine solche Reform können wir uns auch leisten. Sie
ist finanzierbar, weil es sich um eine Kombination von
Entlastung und Belastung handelt; denn wir heben den
Spitzensteuersatz an, gestalten aber den Tarifverlauf
durchgehend linear-progressiv. Das würde zur Übersichtlichkeit beitragen; denn es ist klar, dass sich letztendlich mit jeder Lohnerhöhung die Progression minimal, aber durchgehend gleichmäßig erhöht. Eine solche
Progression ist sozial gerecht. Deshalb müssen wir dafür
kämpfen.
({4})
Es gibt ein zweites Problem. Herr Wissing, Sie tönen
hier groß über die Arbeit usw. Wer hat denn in Deutschland in großer Gemeinsamkeit seit dem Jahr 2000 darauf
hingewirkt, dass Menschen nicht mehr ordentlich für
ihre Arbeit bezahlt werden? Wir haben in Deutschland
die Situation, dass das Arbeitsvolumen de facto nicht gestiegen ist. Es hat sich lediglich auf mehr Schultern verteilt, aber nicht bei gleichbleibender Bezahlung; vielmehr wurden Mini- und Midijobs installiert, wodurch
eine wahnsinnige Lohndrückerei erfolgt ist. Wir haben
in Deutschland Tausende Menschen, die Vollzeit arbeiten, aber von ihrem Lohn nicht leben können. Wir müssen hier das Problem auch mit einem Mindestlohn angehen.
({5})
Wir brauchen hier in Deutschland massive Lohnsteigerungen, die nicht nur die Inflation ausgleichen, sondern
über der Inflationsrate liegen müssen.
({6})
Das sind die dringenden Probleme.
({7})
Wir unterstützen die Anhebung des Grundfreibetrags.
Herr Schäuble, Sie haben eben gesagt, die einfache Verschiebung des Tarifs sei die endgültige Absage an die
kalte Progression. Das verstehe ich nicht ganz. Es ist ja
nicht eine laufende Verschiebung.
({8})
Endgültig kann das nicht sein. Das ist jetzt eine Maßnahme. Aber das Problem als solches ist nicht gelöst.
({9})
Dafür brauchen wir einen anderen Tarifverlauf. Wenn
wir einen solchen Einkommensteuertarif beschließen
würden, wie wir ihn vorschlagen, erst dann hätten wir
eine wirkliche Entlastung im unteren und mittleren Einkommensbereich. Das, was Sie vorschlagen, ist eine
Mini-Entlastung.
({10})
Sie hantieren ja auch im Gesetzentwurf nicht mit absoluten Zahlen, sondern nur mit relativen Zahlen. Absolut und relativ sind - Frau Paus hat in ihrer Zwischenfrage darauf hingewiesen - eben doch zwei verschiedene
Sachen. Wenn ich einer Verkäuferin sage: „Du wirst relativ viel mehr entlastet“, kommt dabei absolut nur eine
Entlastung von monatlich vielleicht 5 Euro heraus. Wenn
ich aber demjenigen, der ein Einkommen in Höhe von
vielleicht 1 Million Euro hat, sage: „Es tut mir leid, du
hast relativ eine wesentlich geringere Entlastung“, bekommt er dann 500 Euro oder wie viel auch immer - das
kann ich jetzt nicht genau sagen -; das ist doch absolut
bedeutend mehr.
({11})
Diese Frage steht dahinter.
({12})
Deshalb können wir Ihre Argumentation in diesem
Punkt nicht teilen. Wir können das auch nicht voll unterstützen. So geht es nämlich nicht. Wir brauchen die
ganze politische Kraft für die Einführung eines neuen
Einkommensteuertarifs, der sozial gerecht ist, der finanzierbar ist
({13})
und der damit tatsächlich wieder eine Rückkehr zum
Prinzip der Besteuerung nach der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit darstellt.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Schäuble, es ist schon sehr erstaunlich, wie man
einen ganz normalen ökonomischen Fachbegriff zu dem
gesellschaftspolitischen Problem schlechthin aufblasen
kann. Kommen wir noch einmal konkret zu dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf. In Ihrem Gesetzentwurf
selbst wird festgestellt, dass es dieses riesengroße gesellschaftliche Problem zumindest in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht gegeben hat. Außerdem - darauf
wurde schon von Herrn Poß hingewiesen - bekämpfen
Sie so ein Problem, von dem Sie heute überhaupt noch
nicht wissen, in welcher Form es eintreten wird.
Es wird da in der Tat etwas geben. Voraussichtlich im
nächsten Jahr steht eine Anpassung beim Existenzminimum an.
({0})
Ja, wir werden auch eine Preissteigerung größer null haben. Auch das ist so weit richtig. Aber in Ihrem Gesetz
sagen Sie ganz konkret, dass die kalte Progression im
Jahr 2017 6,6 Milliarden Euro betragen wird, also in fünf
Jahren. Sehr geehrter Herr Schäuble,
({1})
da müssen Sie als Bundesfinanzminister mir doch zustimmen, dass das ökonomischer Humbug ist.
({2})
Ihnen ging es einzig und allein um ein wohlklingendes Etikett für Ihre Ministeuersenkung.
({3})
Deswegen müssen Sie das auch mit riesengroßem Getöse hier immer wieder vortragen. Entsprechend donnernd ist Ihre Wortwahl. Aber dass Sie sich hier so in
Rage reden, ist, wie wir finden, an Bigotterie nicht zu
überbieten.
({4})
Ich jedenfalls habe nicht vergessen und Hunderttausende
von Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern auch
nicht, wie Sie tatsächlich mit der Existenzsicherung von
Menschen in diesem Land umgehen.
Es war im Februar 2010, als das Bundesverfassungsgericht den Hartz-IV-Satz für verfassungswidrig erklärt
hat. Es hat über ein Jahr gebraucht, bis Sie diesen korrigiert haben.
({5})
Sie haben ihn auch nicht rückwirkend korrigiert, sondern
bei jedem Hartz-IV-Empfänger und bei jeder Hartz-IVEmpfängerin satte 55 Euro eingespart, indem Sie das
Verfassungsgerichtsurteil erst später umgesetzt haben.
So halten Sie es mit den sozialen Grundrechten in diesem Land. Ich finde, wer so etwas tut, der hat wirklich
jegliches moralische Recht verwirkt, so zu debattieren.
({6})
- Das Bundesverfassungsgerichtsurteil war im Februar
2010, Herr Lindner; das wissen Sie. Sie wissen auch,
({7})
wie lange Sie gebraucht haben, um auszurechnen, dass
der Ausgleich nur 5 Euro beträgt. Aber selbst diese
5 Euro haben Sie den Hartz-IV-Empfängerinnen und
-Empfängern im Jahr 2010 Monat für Monat nicht gegönnt.
({8})
- Ja, genau.
Kommen wir jetzt zum materiellen Kern Ihres Gesetzes.
({9})
Sie sagen: Der Aufschwung soll bei denjenigen, die arbeiten, also den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
im unteren und mittleren Bereich, endlich ankommen.
Ich greife damit das auf, was Sie, Herr Wissing, eben gesagt haben.
({10})
Sie versuchen, den Leuten zu verkaufen, dass das insbesondere etwas für die unteren und mittleren Einkommen
bringt.
({11})
Schauen wir uns einmal Ihr Gesetz an und rechnen.
Dann stellen wir fest: Bei einem Bruttolohn von 1 200
Euro sollen sie nach dem Gesetz im Jahre 2013 ganze
2 Euro und im Jahre 2014 ganze 5 Euro mehr im Monat
bekommen. Eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer
mit einem Bruttolohn von 3 000 Euro wird mit 5 Euro
und im Jahr darauf mit 15 Euro pro Monat entlastet.
Aber wo fängt es an, sich langsam zu lohnen? Natürlich wie immer bei den höheren Einkommen. Bei
6 000 Euro brutto im Monat fängt man an, es tatsächlich
zu spüren. Dann sind es 30 Euro im Monat, also
360 Euro im Jahr 2014.
({12})
Schaut man sich an, wem die geplanten Steuerentlastungen von Schwarz-Gelb tatsächlich nützen, dann muss
man erneut feststellen: Insbesondere die oberen Einkommen werden entlastet.
({13})
Wenn man sich die Verteilungswirkungen insgesamt anschaut, dann sieht man: Die unteren 20 Prozent, von denen Sie immer sagen, dass Sie sie entlasten wollen, bekommen nach Ihrem Gesetz keinen einzigen Euro mehr.
({14})
Aber die obersten 10 Prozent bekommen 30 Prozent der
insgesamt 6,6 Milliarden Euro.
({15})
So geht Steuerpolitik bei Schwarz-Gelb. So sieht die
Gerechtigkeit bei Schwarz-Gelb aus: Wer hat, dem wird
gegeben.
({16})
Auch mit diesem Gesetz schaffen Sie es nicht, das zu ändern.
({17})
- Ich kann Ihnen die Zahlen geben. Wir haben es ausgerechnet.
({18})
Und wem wird es genommen? Den öffentlichen
Haushalten wird es genommen, und das bedeutet für die
Länder und Kommunen eine Lücke von 2,25 Milliarden
Euro. Allein im Land Berlin, aus dem ich komme, würden auf diesem Wege jährlich 120 Millionen Euro in der
Kasse landen. Zum Vergleich: Die Konsolidierungshilfe,
die der Bund großzügig an das Land Berlin zahlt, liegt
bei 80 Millionen Euro. Es ist also direkt wieder eine Lücke von 40 Millionen Euro. Auch Nordrhein-Westfalen
ist mit einer halben Milliarden Euro dabei.
Was wird die Folge sein? Berlin und die anderen
Städte und Kommunen werden wieder einmal an den
Gebühren schrauben müssen. Ob Kita, Abfall, Wasser,
Nahverkehr, Schwimmbäder oder Kultur - das bleibt in
der Tat ihnen überlassen.
({19})
Betroffen sein werden immer die Bezieher von unteren
oder mittleren Einkommen, weil sie nämlich auf die öffentliche Infrastruktur angewiesen sind und weil sie
({20})
von den sozialen Staffelungen nur selten profitieren können.
Wenn Sie also ernsthaft insbesondere Arbeitnehmer
mit kleineren und mittleren Einkommen entlasten wollen
- es stehen ja noch Verhandlungen an -, dann lade ich
Sie herzlich ein, genau das zu tun und unseren grünen
Tarif zu Ihrer Gesetzesinitiative zu machen.
({21})
Durch unsere Anhebung des Grundfreibetrages auf
8 500 Euro statt wie bei Ihnen im weiteren Verlauf auf
8 354 Euro entlasten wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Bruttolohn von 1 200 bis 3 500
Euro stärker als Sie von der Koalition.
({22})
Darüber hinaus ist unser Vorschlag bereits im Jahr 2012
vollständig umsetzbar, und wir erzielen durch die gesamte Einkommensteuertarifreform samt Erhöhung des
Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent nicht Mindereinnahmen von 6 Milliarden Euro, sondern Mehreinnahmen
von 2,5 Milliarden Euro
({23})
und verbessern damit auch noch die staatliche Handlungsfähigkeit und damit die Möglichkeit der Versorgung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort.
({24})
Meine Damen und Herren von der Koalition, so wird
ein Schuh draus. Schlagen Sie darauf ein, und wir bekommen eine vernünftige Reform, den Abbau der kalten
Progression und eine tatsächliche Entlastung der unteren
und mittleren Einkommen.
Herzlichen Dank.
({25})
Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland
ein kompliziertes Steuersystem, und es gibt nicht immer
Zustimmung zu diesem Steuersystem. Es gibt zu einem
Bereich des Steuersystems große Zustimmung, nämlich
dazu, dass wir einen großen Teil der Bevölkerung von
der Lohn- und Einkommensteuer freistellen - das sind
fast 40 Prozent - und dass diejenigen, die ein gutes bzw.
ein hohes Einkommen haben, entsprechend höher belastet werden.
Das nennen wir Progression nach der Leistungsfähigkeit. Das heißt, jemand, der ein hohes Einkommen hat,
wird mit 45 Prozent Lohnsteuer oder Einkommensteuer
belastet. Dazu kommen der Solidaritätszuschlag und die
Kirchensteuer, und so erreicht man fast 50 Prozent.
({0})
Hier gibt es eine hohe Übereinstimmung darin, dass
die Leistungsfähigen für die anderen mitzahlen, und
heute ist es so, dass die oberen 10 Prozent der Leistungsfähigen 55 Prozent der gesamten Lohn- bzw. Einkommensteuer zahlen.
Was die Bevölkerung aber nicht akzeptiert, ist, dass
man nicht automatisch 3 Prozent mehr in der Tasche hat,
wenn man eine Gehaltserhöhung von 3 Prozent bekommt. Aufgrund unseres Steuertarifs müssen für jeden
Euro, der mehr verdient wird, mehr Steuern gezahlt werden. Das nennen wir kalte Progression. Nicht nur die
Bürgerinnen und Bürger, sondern auch wir von der Koalition akzeptieren das nicht.
({1})
Pro Jahr nimmt der Staat - also Bund, Länder und Gemeinden - durch diese kalte Progression etwa 3 Milliarden Euro mehr ein. Sie wurde nicht gesetzlich festgelegt;
sie kommt nur durch die die Inflation ausgleichenden
Gehaltserhöhungen zustande. Das heißt, mit jedem Euro
zusätzlich zahlt man automatisch mehr Steuern. Mittlere
Einkommen in Höhe von 2 000 bis 3 000 Euro brutto im
Monat zahlen nach der Grundtabelle auf jeden zusätzlichen Euro 30 Prozent Steuern. Das heißt, für jeden Euro,
den die Bezieher solcher Einkommen zusätzlich verdienen, werden, wenn man die 20 Prozent Sozialabgaben
hinzunimmt, 50 Prozent abgezogen. Das kann auf Dauer
nicht akzeptiert werden, und wir wollen das auch nicht
akzeptieren. Im Koalitionsvertrag haben wir festgehalten, was wir nach der Wahl tun werden. Jetzt tun wir,
was wir gesagt haben.
({2})
Wir haben schon öfter über den Einkommensteuertarif diskutiert. In der Großen Koalition haben wir damals
im Rahmen des Konjunkturpaketes II eine Tarifanpassung vorgenommen.
({3})
Wir haben 2010 zu Beginn der christlich-liberalen Koalition die Familien mit 5 Milliarden Euro unterstützt,
weil es sich um Leistungsträger der Gesellschaft handelt.
({4})
Außerdem haben wir Gesetze im unternehmerischen Bereich sozusagen entschärft, damit die Wirtschaft wieder
Schwung aufnimmt und die Konjunktur gestärkt wird.
Diesen Effekt können wir heute erleben. Denn im Zeitraum von 2010 bis 2013 gibt es Steuermehreinnahmen in
Höhe von 83 Milliarden Euro für Bund, Länder und Gemeinden. Davon wollen wir den Bürgern jetzt 6 Milliarden Euro zurückgeben.
({5})
Sie alle wissen, dass im Spätherbst der neue Existenzminimumbericht erscheint. Das heißt, wir werden beim
Grundfreibetrag ohnehin eine Anpassung vornehmen.
Aber wir wollen auch den Tarif anpassen. Da muss ich
insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der SPD fragen: Wo sind Sie eigentlich angelangt, dass Sie untere
und mittlere Einkommen nicht mehr entlasten wollen?
({6})
Ich verstehe ja, dass Sie nicht allem zustimmen. Aber
hier geht es um 6 Milliarden Euro, die als Einnahmen für
Bund, Länder und Gemeinden nicht eingeplant waren.
Der Finanzminister hat allen, also auch Ihnen, angeboten, die Kosten für die Veränderungen des Tarifverlaufs
zu übernehmen. Das ist nichts anderes als eine Kostenübernahme des Bundes. Dennoch lehnen Sie eine Senkung der Steuern für untere und mittlere Einkommen ab.
Sie haben deutlich gemacht, dass es nach Ihrer Überzeugung einen höheren Spitzensteuersatz geben müsste.
Der Spitzensteuersatz in Höhe von 42 Prozent wird
schon bei einem Jahreseinkommen von 53 000 Euro erreicht. Plus Solidaritätszuschlag ergibt sich eine Steuerbelastung von fast 47 Prozent. Wer zusätzlich noch die
Reichensteuer zahlen muss, liegt bei fast 50 Prozent
Steuern.
Sie sollten einmal deutlich sagen, dass Sie auch bei
Jahreseinkommen ab 53 000 Euro brutto über eine Steuerbelastung von 47 Prozent hinausgehen wollen. Zusätzlich zu den Sozialabgaben müssten die Betroffenen dann
über 50 Prozent Steuern zahlen.
({7})
Von der Linkspartei rede ich in diesem Zusammenhang
gar nicht erst. Sie wollen möglicherweise wie Hollande
in Frankreich in Richtung 75 Prozent gehen.
Sie müssen aber wissen: Wenn Sie den Spitzensteuersatz - wir nennen ihn die Reichensteuer - um einen Prozentpunkt anheben, dann fließen in die Kassen von
Bund, Ländern und Gemeinden 300 Millionen Euro zusätzlich. Auf den Bund entfallen dabei 128 Millionen
Euro. Das ist exakt 1 Promille unseres Sozialhaushaltes.
Sie werden erleben, dass dann die mittelständische Wirtschaft, die familiengeprägt ist, und die Personenunternehmen, die Einkommensteuer zahlen, Investitionen zurückfahren.
Heute erleben wir einen Aufschwung in Deutschland.
Damit liegen wir weltweit an der Spitze. Wir haben
durch unsere Maßnahmen im Jahre 2010 und auch im
Zeitraum bis heute unsere Wirtschaft gestärkt. Wir erleben einen Boom, weil wir darauf geachtet haben, die Unternehmen stark zu machen und die Familienbetriebe bei
der Erbschaftsteuer zu entlasten, damit auch die nächste
Generation Arbeitsplätze in Deutschland schafft.
({8})
Wir haben immer an den Ausgleich zwischen kleineren
und größeren Einkommen, zwischen Privatpersonen und
Unternehmen gedacht. Das haben die Gesetze des Jahres
2010 geschaffen. Wir haben übrigens auch kleine und
mittlere Unternehmen entlastet, indem wir zum Beispiel
die Istbesteuerung verändert haben, damit kleine und
mittlere Unternehmen mehr Liquidität bekommen, um
damit Arbeitsplätze zu schaffen.
Herr Poß, Sie haben von Verschuldung gesprochen.
Man kann aber keine Steuersenkung vornehmen, weil
die Verschuldung so hoch ist. Sie sind lange genug dabei. Sehen Sie sich einmal die Jahre von 1998 bis 2005
an. Sie haben in jedem Jahr mehr Schulden aufgenommen als wir im Jahr 2011.
({9})
Da gab es keine Krise.
Wir haben eine Schuldenbremse eingeführt. Wir haben beim Haushalt des Bundesministers gesehen: Wir
haben eine Neuverschuldung in Höhe von 48 Milliarden
Euro geplant. Wir sind bei 17 Milliarden Euro angelangt.
Wir sind der stabile Faktor in Deutschland.
Wir sind bei der ersten Lesung dieses Gesetzes. Es
geht darum, Motivation nicht nur für Unternehmen, für
Leistungsträger, für Hochverdiener zu schaffen, sondern
es geht insbesondere darum, Motivation bei Arbeitnehmern mit unterem oder mittlerem Einkommen zu schaffen. Motivation ist der Kernbereich für die Leistungsfähigkeit dieser Gesellschaft. Deswegen kann ich nur
sagen: Unterstützen Sie die Bundesregierung. Unterstützen Sie die Koalitionsparteien, dass zu viel gezahlte
Steuern von unteren und mittleren Einkommen zurückgefahren werden.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt hat, so ist
einem heute aufgefallen, dass aufseiten der FDP eine
ganz ungewohnte Mischung aus Nervosität und Aggression vorhanden war. Daraus kann ich nur schließen, dass
dieser Gesetzentwurf wieder für das symptomatisch ist,
was die Koalition in den letzten Jahren im Steuerbereich
anzupacken versucht hat, was nie gelungen ist.
Auch dieser Gesetzentwurf ist davon geprägt, weil er
etwas vorgibt, was er nicht ist. Sie haben am Anfang gar
nicht gewusst, was Sie vorhaben.
({0})
Wenn man sich einmal die Historie anschaut, dann stellt
man fest: Aus der ganz großen Steuerentlastung ist eine
witzige Melange entstanden. Wenn man die Presse verfolgt hat, dann weiß man, dass es einen großen Konflikt
gab. Wir haben Finanzminister Schäuble noch dabei unterstützt, als er gesagt hat: Wir haben für die 24 Milliarden Euro kein Entlastungspotenzial. Dann wurde die
Höhe der Entlastung immer kleiner. Inzwischen haben
Sie sich entschieden, zu sagen, das, was erst eine abgeschmolzene Entlastung war und jetzt etwas wird, was nie
geplant war, sei verfassungsnotwendig.
Was sagen Sie denn jetzt? Sie sagen: Wir bräuchten
jetzt die Erhöhung des Existenzminimums. Sie vergessen dabei völlig, dass es eigentlich ein geregeltes Verfahren gibt, wie wir uns gemeinsam immer auf eine Erhöhung des Grundfreibetrages geeinigt haben, um das
Existenzminimum eines erwachsenen Menschen steuerfrei zu stellen.
Ich finde aber, Sie sollten zugeben: Wenn Sie die
Werte einfach so greifen, ohne auf die Berechnungen zu
warten, dann ist es eine politische Entscheidung, die daraus folgt, dass Sie die Melange, die ich beschrieben
habe, irgendwie zufriedenstellen müssen. Es wäre ein
normales Verfahren, zu sagen: Wir sehen uns die Zahlen
an. Übrigens, Herr Volk, das hat mit Inflation nichts zu
tun. Die Berechnungen des Existenzminimumsberichts
ergeben sich nicht einfach aus einer Hochrechnung der
Inflation, sondern kommen in einem wissenschaftlich
geregelten Verfahren zustande. Wir haben immer gesagt:
Wenn die Zahlen vorliegen, sind wir bereit - das ist eine
verfassungsrechtliche Vorgabe -, dies mitzutragen. Aber
Sie verbrämen sozusagen diese verfassungsrechtliche
Notwendigkeit mit einer - aus Ihrer Sicht, nicht aus unserer Sicht - viel zu klein geratenen Steuerentlastung.
Dann kommt so ein - ich weiß nicht, was - Mix heraus.
({1})
Sie ziehen mit Ihrem Gesetzentwurf keine konsequente Linie und setzen keine klaren Prioritäten. Sie
können sich zwischen Steuerentlastung und dem Notwendigen nicht entscheiden. Für uns Sozialdemokraten
hätten Sie Mut bewiesen, wenn Sie Prioritäten gesetzt
hätten.
Unsere Prioritäten sind: Der Schuldenabbau ist notwendig, weil er dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen
entspricht. Das ist die erste Priorität.
({2})
Die zweite Priorität ist: Wir wollen eine Sicherheitsreserve für schwierige Zeiten schaffen. Ich finde es witzig, zu sehen, dass Sie inzwischen so tun, als ob es ausNicolette Kressl
schließlich einen Zusammenhang zwischen der
Überwindung der Krise und Ihrem Wachstumsbeschleunigungsgesetz gäbe. Zu Beginn dieser Legislaturperiode
waren Sie noch ehrlich und haben zugegeben, dass das
auf die Krisenpakete zurückzuführen ist, die wir gemeinsam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben. Inzwischen geht es ausschließlich um das Wachstumsbeschleunigungsgesetz.
({3})
Das finde ich lustig. Entweder ist das Ausdruck von Gedächtnisverlust, oder es ist Strategie. Aber das lassen wir
Ihnen natürlich nicht durchgehen.
Weil wir damals dem Schuldenabbau Vorrang gegeben haben, hatten wir Geld, um Ausgaben im Zusammenhang mit der Krisenbekämpfung - ich erwähne als
Beispiel nur die Kurzarbeiterregelung - zu decken.
({4})
Das machen Sie im Moment nicht. Das hat bei Ihnen
keine Priorität.
Die dritte Priorität ist: Da wir auf die Chancengerechtigkeit in unserem Staat achten müssen, setzen wir Mittel
vorrangig für Bildung und Betreuung ein.
Wenn diese Prioritäten beachtet sind, können wir über
Steuerentlastungen reden. Die Menschen wissen das inzwischen auch; Herr Poß hat das schon angesprochen.
Laut Umfragen können sich die Menschen eine Steuerentlastung sehr gut vorstellen, aber nur, wenn die Reihenfolge der von mir eben beschriebenen Prioritäten eingehalten wird. Eine solche Prioritätensetzung lassen Sie
aber vermissen.
({5})
Ich möchte eine letzte Anmerkung machen. Ich finde
Ihre Volte fast schon waghalsig, vielleicht in Zukunft einen automatischen Ausgleich für die kalte Progression
zu schaffen. Wir sind uns sicherlich einig, dass es einen
solchen Automatismus in den letzten Jahren nicht gab.
Sie tun so, als ob es sich nicht um eine politische Entscheidung handelte, sondern als ob es schon geradezu
verfassungswidrig wäre, die Steuereinnahmen aufgrund
der kalten Progression einzubehalten. An dieser Stelle
finde ich Ihre Argumentation nicht logisch; denn wenn
dem so wäre, dann dürften Sie nicht alle zwei Jahre eine
Überprüfung der Wirkung der kalten Progression vornehmen, sondern dann müssten Sie einen Automatismus
einbauen. Sonst passt das alles nicht.
({6})
Sie versuchen, das zu verbrämen, durchdenken es
aber nicht logisch. Wir wünschten uns mehr Mut, Prioritäten zu setzen. Sie sollten nicht so viel verpacken und
Maßnahmen auf den Weg bringen, die Sie so gar nicht
geplant haben. Dann könnten wir gemeinsam reden.
Aber so handelt es sich nicht um eine Grundlage, auf der
wir vernünftig und sachlich miteinander diskutieren können.
({7})
Das Wort hat nun Daniel Volk für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Kressl, es ist schon erstaunlich, dass
Sie hier eine Prioritätenliste der SPD vorgetragen haben,
({0})
die Sie in den Bundesländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen,
({1})
granatenmäßig verraten haben. Erklären Sie uns doch
einmal, warum die Staatsverschuldung in NordrheinWestfalen nach der Regierungsübernahme durch Ihre
Partei so in die Höhe geschnellt ist. Sie machen eine verantwortungslose Haushaltspolitik in den Bundesländern
und setzen sie mit einer verantwortungslosen Finanzpolitik im Bund fort.
({2})
Die steuerpolitischen Vorschläge von SPD, Grünen
und Linken in den letzten Monaten sehen massive Steuererhöhungen vor. Das Einzige, was Ihnen in der Steuerpolitik einfällt, ist Steuererhöhung. Deswegen ist nachvollziehbar, dass Sie bei der Frage des Abbaus der kalten
Progression so herumwüten. Es geht Ihnen schlicht darum, dass die Menschen in diesem Land mehr Steuern
zahlen müssen, als sie überhaupt zahlen sollten.
({3})
Dementsprechend kommt es Ihnen vollkommen zupass, dass eine automatische Steuererhöhung über das
Vehikel der kalten Progression in unseren Steuergesetzen angelegt ist. Sie wüten, weil wir als christlich-liberale Koalition unserer Verantwortung nachkommen, einen gerechten Ausgleich zu schaffen zwischen der
Steuerpflicht der einzelnen Bürger zur Finanzierung der
notwendigen Staatsausgaben auf der einen Seite und
dem Belassen eines genügend hohen Anteils des Einkommens bei den Bürgern auf der anderen Seite. Kurz:
Wir wollen hier einen gerechten Ausgleich zwischen
Staat und Privat.
Sie wollen immer nur die Steuern erhöhen. Aber dann
sagen Sie doch auch, dass Sie die Steuern erhöhen wollen. Machen Sie es nicht so wie im Jahr 2005. Da haben
Sie noch vor der Wahl gesagt: Mit uns gibt es keine Umsatzsteuererhöhung. Kaum waren Sie in der Regierungs19424
verantwortung, haben Sie die Umsatzsteuer von 16 Prozent auf 19 Prozent angehoben. Sagen Sie heute endlich
deutlich, dass Sie für Steuererhöhungen sind.
({4})
Dann können wir gerne eine ehrliche politische Auseinandersetzung über dieses Thema führen. Es ist jedoch
nicht fair, Nebelkerzen zu werfen, so wie Sie es hier in
dieser Debatte gemacht haben. Das ist nicht in Ordnung.
Sagen Sie offen und ehrlich, dass Sie die Steuern erhöhen wollen.
Im Übrigen möchte ich noch auf eines hinweisen: Natürlich können wir den nächsten Existenzminimumbericht abwarten. Sie können aber nicht die Augen davor
verschließen, dass wir vor einer höheren Inflation stehen. Vor diesem Hintergrund ist es doch absolut nachvollziehbar, dass die Tarifparteien die Tarifverhandlungen in diesem Jahr mit Forderungen nach relativ hohen
Lohnsteigerungen beginnen. Wir als christlich-liberale
Koalition werden dafür sorgen, dass die vollkommen
gerechtfertigten Forderungen nach inflationsbedingten
Lohnsteigerungen bei den Leuten ankommen.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression wollen wir eine im System des linear-progressiven Einkommensteuertarifs begründete Ungerechtigkeit
beseitigen. Uns geht es um die Beseitigung einer Ungerechtigkeit und nicht um eine Steuersenkung. Es geht
auch nicht um Steuergeschenke, die wir im Übrigen sowieso nicht verteilen können; denn das würde ja bedeuten, dass wir etwas haben, was wir verschenken können.
Wir Politiker sind jedoch nicht Eigentümer des Geldes
der Bürgerinnen und Bürger, das aus den Steuereinnahmen stammt, sondern wir sind die Treuhänder für dieses
Geld. Deswegen können wir gar nichts verschenken.
({0})
Dank der Progression im Einkommensteuerrecht
muss derjenige, der mehr verdient, nicht nur absolut in
Euro und Cent, sondern auch prozentual eine höhere
Steuer auf sein Einkommen zahlen. In Deutschland haben wir, wie Kollege Flosbach schon vorhin richtig dargestellt hat, einen Spitzensteuersatz einschließlich Soli
und Kirchensteuer von knapp 50 Prozent. Das führt
dazu, dass das obere Drittel der Einkommensteuerzahler
knapp 80 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens trägt. Das ist gut so. Es entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden einer breiten Mehrheit in diesem
Land.
({1})
Dennoch krankt unser Einkommensteuersystem an
der Ungerechtigkeit der kalten Progression. Die kalte
Progression bedeutet eine jährliche heimliche Steuererhöhung um mehrere Milliarden Euro. Die Bürger zahlen höhere Steuern, obwohl die reale Kaufkraft des Einkommens nicht gestiegen ist. Eigentlich ist es eine
Selbstverständlichkeit, dass wir hier eine Korrektur vornehmen und dafür sorgen, dass sich der Staat an den bescheidenen Einkommen nicht noch zusätzlich bereichert.
({2})
Das erreichen wir durch die hier vorgeschlagene stufenweise Anhebung des Grundfreibetrages und eine sich
daraus zwingend ergebende Anpassung des nachfolgenden Tarifverlaufs. Hinzu kommt die regelmäßige
Überprüfung, alle zwei Jahre. Beim steuerfreien Existenzminimum folgen wir den voraussichtlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Sie von der Opposition blockieren das hier. Ich will
doch mal sehen, wie lange Sie sich noch gegen die verfassungsrechtlich vorgegebene Nichtbesteuerung des
Existenzminimums stellen wollen. Es ist schon ein bisschen bizarr: Die SPD, die selbsternannte Schutzmacht
der kleinen Leute, die Arbeitnehmerpartei,
({3})
stellt sich hier in der Debatte gegen die Schaffung von
Steuergerechtigkeit.
Ich muss es wiederholen: Wir machen keine Steuergeschenke, sondern verschonen gerade die kleinen und
mittleren Einkommen von einer Steuererhöhung. Insbesondere die unteren und die mittleren Einkommen werden bei dieser Maßnahme prozentual stärker begünstigt.
Natürlich gebietet es die Ehrlichkeit, zu sagen, dass die
Bezieher ganz kleiner Einkommen nichts davon haben;
denn die ganz kleinen Einkommen sind schon steuerfrei,
die Bezieher zahlen keine oder kaum Steuern und sind in
der Regel nur mit Sozialversicherungskosten belastet.
Aber die Bezieher mittlerer Einkommen, die Facharbeiter, die breite Masse, die in diesem Land den Karren
zieht - auf sie entfällt der größte Teil der Einnahmen aus
der Einkommensteuer - sind von den Effekten der kalten
Progression betroffen.
Ehrlich gesagt, kann ich das Argument, wir könnten
uns die Beseitigung dieser schleichenden Steuererhöhung nicht leisten, nicht mehr hören. Schauen Sie sich
die Entwicklung bei den Steuereinnahmen an. Wir sind
bei der Haushaltskonsolidierung dank unserem Finanzminister wunderbar im Plan. Die Maßnahmen stehen im
Einklang mit der Schuldenbremse. Deutschland, werte
Kolleginnen und Kollegen, ist das einzige Land in der
Euro-Zone, bei dem die Ratingagenturen ohne Makel
Triple A bestätigen. Wenn wir uns diese Maßnahme, dieOlav Gutting
ses Stück Gerechtigkeit bei der Einkommensteuer, nicht
leisten können, wer dann!
({4})
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Ihre Blockade mithilfe des Bundesrates ist eine Attacke
auf den Geldbeutel der kleinen Leute, die viel arbeiten
und wenig heimbringen.
({5})
Gerade jetzt, in den nächsten Wochen und Monaten, in
denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach
Überwindung der schweren Wirtschaftskrise in vielen
Betrieben völlig zu Recht eine spürbare Lohnerhöhung
erhalten werden, gerade in dieser Situation müssen wir
eine Perspektive des Ausstiegs aus der kalten Progression schaffen. Die Lohnerhöhungen der nächsten Monate gehören den Bürgerinnen und Bürgern und nicht
dem Staat. Treten Sie beiseite! Machen Sie Platz für
mehr Steuergerechtigkeit!
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8683 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Herbert Behrens, Heidrun Bluhm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Pendlerpauschale in sozial gerechtes Pendlergeld umwandeln und erhöhen
- Drucksache 17/5818 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Ulrich Maurer, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Preiserhöhungswelle an den Tankstellen stoppen - Gesetzliche Benzinpreiskontrolle einführen
- Drucksache 17/8786 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaus Ernst von der Fraktion
Die Linke das Wort.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit Januar
2004 sind die Kraftstoffpreise um satte 53 Prozent gestiegen. Das müsste auch Ihnen von der FDP aufgefallen
sein.
({0})
Allein zwischen dem 20. Dezember 2011 und Februar 2012 - also in zwei Monaten - hat sich der Preis
für Superbenzin um 10,5 Prozent erhöht. An den Tankstellen findet eine Abzocke statt. Wenn man heute tankt,
hat man den Eindruck, man habe die Beteiligung an einem Ölkonzern erworben. Ich habe den Eindruck, dass
wir hier im Bundestag im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger des Landes eingreifen müssen.
({1})
Ursache für diese Situation ist zum einen die ungehemmte Spekulation an den Rohstoffmärkten und zum
anderen die Tatsache, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland im Bereich der Rohstoffe, bei Benzin und
bei Öl, keinen Wettbewerb haben.
Ich zitiere Herrn Andreas Mundt, den Präsidenten des
Bundeskartellamtes, der gegenüber der Rheinischen Post
am 23. Februar 2012 gesagt hat:
Der Markt wird von fünf großen Mineralölkonzernen gemeinsam beherrscht, die sich gegenseitig wenig Wettbewerb machen.
Das Ergebnis sind diese Preise. Das Ergebnis ist vor
allem eine Abzocke bei den Menschen, die tanken müssen. Das ist nicht mehr akzeptabel.
({2})
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass wir als
Abgeordnete einschreiten und nicht zuschauen. Wir sind
nicht gewählt, um zu beobachten, sondern um zu handeln.
({3})
Deshalb haben wir in unserem ersten Antrag gefordert,
dass die Benzinpreise künftig überwacht werden.
({4})
Das sollte in der Weise passieren, dass Benzinpreise angemeldet werden müssen und dass ihnen zugestimmt
werden muss.
({5})
- Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, empfehle ich, das in ihren Wahlkreisen zu diskutieren. Die Menschen vor Ort sehen das nämlich deutlich anders als Sie, die Sie hier absolut unqualifizierte
Zwischenrufe machen. Das möchte ich Ihnen auch einmal sagen.
({6})
- Ihr fordert doch dauernd: Mehr Netto vom Brutto! Was
wollt ihr denn eigentlich? Ihr betreibt doch, um es einmal deutlich zu sagen, Volksverdummung in höchster
Vollendung, wenn ihr nicht für unseren Ansatz seid.
({7})
Dann kommen wir zum nächsten Antrag, der sich mit
genau diesem Thema beschäftigt: Wir wollen, dass insbesondere Berufspendler von der bereits erfolgten Abzockerei wenigstens zum Teil entlastet werden. Zurzeit
müssen Beschäftigte für ihren Weg zur Arbeit immer
mehr zahlen; vom Einkommen bleibt immer weniger übrig. Ich habe das einmal ausgerechnet. Eine ungelernte
Arbeitnehmerin, die bei Bosch in Bamberg arbeitet - ich
nenne sie einmal Angela Fleißig -, verdient in Lohngruppe 2 circa 2 400 Euro brutto. Sie muss flexibel zur
Arbeit kommen, weil sie auf Schichtarbeit angewiesen
ist. Sie gehört der Steuerklasse I an und verdient somit
netto 1 550 Euro. Wenn sie von Weißenbrunn nach Bamberg zur Arbeit fährt, sind das, einfache Strecke, 62 Kilometer. Bei einem Standardauto mit einem Verbrauch
von 6,4 Litern auf 100 Kilometer bedeutet das,
({8})
dass sie - der Benzinpreis lag im Januar 2004 bei
1,06 Euro; inzwischen, im März 2012, liegt er bei
1,65 Euro - Kosten von 265 Euro zu tragen hat; im Januar 2004 hätten die Kosten noch bei 170 Euro gelegen.
Für diese Mitarbeiterin von Bosch - ich weiß, dass Sie
das nicht interessiert, weil es nicht Ihre Klientel ist ({9})
bedeutet das, dass sie rund 17 Prozent ihres Einkommens für Benzin ausgeben muss. Das ist unzumutbar!
({10})
Bei einer Pendlerpauschale von 30 Cent werden aktuell
rund 110 Euro im Monat erstattet. Das ist nicht einmal
die Hälfte ihrer Benzinkosten. Deshalb fordern wir Folgendes:
Erstens. Wir müssen die Pendlerpauschale in ein
Pendlergeld umwandeln, damit nicht nur die, die vom
Auto abhängig sind, sondern auch diejenigen, die öffentliche Verkehrsmittel benutzen - ({11})
- Herr Präsident, ich glaube, da gibt es den Wunsch nach
einer Zwischenfrage.
Ja. Der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage
stellen. - Wie ich sehe, nehmen Sie seine Zwischenfrage
gern entgegen.
Herr Kollege Hinsken, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Ernst, ich verhehle nicht, dass ich der
Erhöhung einer Pendlerpauschale sehr viel abgewinnen
kann.
({0})
Weil Sie ein so ausgeklügeltes Beispiel gebracht haben, möchte ich Sie fragen, was das Ganze bei der Benutzung eines Porsche kosten würde; das würde mich interessieren. Sie als aktiver Porschefahrer werden doch
wissen, welche Kosten ein Porsche im Gegensatz zu
kleineren Autos, die von Arbeitnehmern überwiegend
genutzt werden, verursacht.
Das ist der Unterschied:
({0})
Wir selbst fahren vielleicht ein größeres Auto; aber wir
kümmern uns trotzdem um die kleinen Leute. Bei Ihnen
bleibt es beim größeren Auto.
({1})
Herr Ernst, kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Ich komme sofort zum Schluss. - Ich möchte noch
kurz unsere Vorschläge nennen:
Erstens. Die Umwandlung der Pendlerpauschale in
ein Pendlergeld, damit alle etwas davon haben. Zweitens. Erhöhung der Kilometerpauschale von 30 auf
45 Cent. Drittens. Das Pendlergeld wird unabhängig
vom gewählten Verkehrsmittel gezahlt.
Wie die Grünen sind wir dafür, dass der öffentliche
Nahverkehr ausgebaut wird. Aber solange das noch
nicht der Fall ist, kann man von den Arbeitnehmern
nicht verlangen, dass sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, weil sie sich das Benzin nicht mehr leisten können.
({0})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege
Ernst, ich will zunächst klarstellen: Ich persönlich teile
das, was eben in Zwischenrufen geäußert wurde, nicht.
Ich finde es gut und schön, dass Sie einen Porsche 911
fahren; das gönne ich Ihnen von Herzen. Ich finde, das
macht Sie sympathisch.
({0})
Die Linken wollen mit ihren Anträgen auf der Welle
der Empörung über die hohen Spritpreise surfen. Was
haben sie gemacht? Sie haben flugs ihren alten Antrag
zum Pendlergeld wieder ausgegraben.
Wir alle ärgern uns über die hohen Benzin- und Dieselpreise an den Tankstellen. Ich muss mich korrigieren:
Einige ärgern sich nicht. Die Grünen fordern sogar noch
höhere Preise.
({1})
Für die Grünen können die Preise gar nicht hoch genug
steigen. Wir aber glauben, dass bezahlbare Energie und
bezahlbarer Treibstoff eine wichtige Basis für unsere
Volkswirtschaft sind; denn von dieser Volkswirtschaft
leben wir alle. Es kann uns deshalb nicht egal sein, dass
die Benzin- und Dieselpreise an den Tankstellen immer
weiter in die Höhe schießen.
Man muss der Öffentlichkeit klarmachen, dass die
Energiesteuer auf die Treibstoffe seit der letzten Steuererhöhung 2003 unter Rot-Grün nicht mehr erhöht wurde.
Seit 2003 ist die Energiesteuer auf Benzin und Diesel
unverändert geblieben.
({2})
Es ist auch nicht so, dass der Fiskus, von dem kleinen
Anteil der Mehrwertsteuer einmal abgesehen, bei steigenden Preisen immer mehr einnimmt. Der Steueranteil
am Kraftstoff ist mit 65,6 Cent pro Liter immer gleich,
völlig egal, ob der Liter 1 Euro, 1,50 Euro oder 2 Euro
kostet. Das wissen leider die wenigsten, wenn sie an der
Tankstelle wegen der hohen Benzinpreise auf den Staat
schimpfen. Der jeweilige Steueranteil am Liter Benzin
ist in den letzten Jahren aufgrund der steigenden Preise
sogar zurückgegangen. Die Mineralölwirtschaft will die
Schuld an den teuren Preisen der Politik und dem Staat
zuschieben. Ich kann da nur sagen: Das sind schlicht Nebelkerzen.
Die aktuellen Steigerungen sind nur zum Teil den gestiegenen Rohölpreisen geschuldet. Es ist die Preispolitik der fünf großen Mineralölkonzerne, die den Markt in
Deutschland in einem Oligopol beherrschen.
({3})
Das Bundeskartellamt hat festgestellt, dass Absprachen
zwischen den Konzernen nicht nachgewiesen werden
können. Vielleicht bedarf es dieser Absprachen auch
nicht; denn sie verstehen sich anscheinend blind.
Ich halte es für wichtig, dass wir intensiv nach Möglichkeiten suchen, wie man den Wettbewerb unter den
Konzernen und unter den Tankstellen stärker befördern
kann. Das Patentrezept der Linken lautet wie immer:
zerschlagen und verstaatlichen. Das wird in diesem Fall
aber nicht funktionieren; denn mit der Entflechtung ist es
nicht so einfach; schließlich handelt es sich um multinationale Konzerne, und multinationale Konzerne kann
man durch ein deutsches Entflechtungsgesetz eben nicht
entflechten. Der Ansatz muss ein anderer sein.
Die Forderung nach Erhöhung der Pendlerpauschale
oder nach Einführung eines Pendlergeldes, wie es jetzt
die Linke wieder verlangt, ist der übliche Reflex auf den
Anstieg der Treibstoffpreise an den Tankstellen. Ich
kann jeden verstehen, der sagt: Da muss sich doch jetzt
endlich etwas ändern. Aber eine Anhebung der 30-CentGrenze ist aus meiner Sicht unter haushalterischen Gesichtspunkten schlicht nicht darstellbar.
In der vorangegangenen Debatte hat die linke Seite
dieses Hauses immer wieder betont, dass es keine Mehrausgaben geben darf, dass wir keine Steuererleichterungen vornehmen dürfen. Eine Anhebung der Pendlerpauschale auf die von Ihnen vorgesehenen 45 Cent würde
bei einer überschlägigen Berechnung statt bisher 3 bis
4 Milliarden Euro 7 Milliarden Euro kosten, also über
3 Milliarden Euro mehr als bisher. Wie immer machen
die Linken keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung.
Damit dokumentieren sie erneut, dass ihre Fraktion weder die Notwendigkeit eines Konsolidierungskurses anerkennt noch die Systematik des Steuerrechts verstanden
hat.
({4})
Mit populistischen Anträgen nach dem Motto: „Soll
doch die nachfolgende Generation dafür bezahlen“, können wir hier nicht arbeiten. Für die Unionsfraktion jedenfalls hat die Haushaltskonsolidierung weiterhin Priorität.
Wir haben verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten.
Wir müssen die Schuldenbremse einhalten. Wir werden
uns daran halten.
Sie schlagen vor - das haben Sie vorhin dargestellt -,
das Pendlergeld selbst bei einer nicht vorhandenen Steuerschuld direkt auszubezahlen. Ich muss sagen: Ich halte
das für steuersystematischen Unsinn. Das ist wie Freibier für alle. Eigentlich ist es nicht einmal das; denn betroffen sind letztendlich nur die Pendler. Was machen
Sie denn mit der Rentnerin oder dem Studenten,
({5})
die ja ebenfalls unter den hohen Benzin- und Dieselpreisen leiden, da sie auf ihr Auto angewiesen sind? Eine
Änderung der Pendlerpauschale nützt dieser Gruppe
überhaupt nichts.
({6})
Die Entfernungspauschale ist im Übrigen eine verkehrsmittelunabhängige Pauschale. Das heißt, derjenige,
der mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, erhält sie genauso
wie derjenige, der mit dem Auto fährt, und wie derjenige, der mit der Bahn fährt. Selbst derjenige, der zu Fuß
zur Arbeit geht, hat Anspruch auf die Entfernungspauschale.
Herr Gutting, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Gerne.
Bitte schön, Herr Ernst.
Ich würde gerne Ihren Einwand aufgreifen, dass ein
Pendlergeld einer Rentnerin, einem Rentner oder einem
Nichterwerbstätigen, der kein Pendler ist, nicht zugutekommt: Das ist schon nach der jetzigen Regelung so.
Würden Sie mir recht geben, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen von der Erhöhung der Benzinpreise
prozentual, gemessen an ihrem Einkommen, in stärkerem Maße betroffen sind? Würden Sie mir recht geben,
dass sie steigende Benzinpreise schlechter verkraften
können als Personen mit einem höherem Einkommen
und dass es deshalb eine sinnvolle Lösung wäre, unabhängig vom Einkommen denselben Betrag zu gewähren?
Dazu müsste man die Entfernungspauschale in ein Pendlergeld umwandeln, und die Höhe des Betrages dürfte
nicht abhängig sein vom Steueraufkommen desjenigen,
den man entlasten will. Durch die Umsetzung unseres
Vorschlages würden insbesondere die Bezieher kleiner
Einkommen entlastet werden. Das muss doch Sinn der
Sache sein.
Lieber Kollege Ernst, Sinn der Sache muss sein, dass
wir mehr Wettbewerb unter den Tankstellen und mehr
Wettbewerb unter den Ölkonzernen bekommen, sodass
wir einen funktionierenden Markt haben und die Preise
nicht mehr so unsinnig steigen wie in den letzten Wochen und Monaten.
({0})
Sie haben richtigerweise dargestellt, dass eine Veränderung der Bemessungsgrundlage aufgrund der linearen
Progression in unserem Steuersystem bei denjenigen, die
höhere Steuern bezahlen, zu einer größeren Entlastung
führt. Logischerweise führt sie umgekehrt bei denjenigen, die weniger Steuern zahlen, zu einer geringeren
Entlastung. Deswegen sollten Sie aber nicht das gesamte
Einkommensteuersystem auf den Kopf stellen. Die Progression ist nun einmal keine Einbahnstraße. Unser Ansatz ist ein anderer.
Wir haben noch vor ungefähr zehn Minuten über das
Thema „kalte Progression“ gesprochen. Bei diesem
Thema haben Sie sich verweigert, obwohl wir eine Regelung gefunden haben, durch die gerade die Bezieher
niedriger Einkommen prozentual stärker entlastet werden. Ich kann nur sagen - das ist unser Ansatz -: Wir
müssen schauen, dass Benzin und Diesel für alle bezahlbar bleiben und nicht nur für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer.
Steuersystematisch ist und bleibt Ihr Vorschlag unsinnig. Es macht keinen Sinn, die Progression zu befürworten, wenn dadurch die höheren Einkommen stärker belastet werden, und sie abzulehnen, wenn es um die
Entlastung geht.
({1})
- Sie bejammern immer wieder, dass diejenigen, die
keine oder wenig Steuern zahlen, von der Entfernungspauschale nichts haben. Das ist immer das gleiche Spiel.
Bei den Einkommen soll die Progression gelten; aber bei
der Entlastung wollen Sie davon nichts wissen.
Ich kann nur wiederholen: Solange wir einen progressiven Steuertarif haben, der seine Rechtfertigung gerade
in der sozialen Gerechtigkeit hat - derjenige, der mehr
verdient, zahlt nicht nur nominal, sondern auch prozentual mehr Steuern -, wirken Abzugsbeträge und Freibeträge zwangsläufig so, dass die absolute Entlastung bei
einem höheren Einkommen höher ist. Jeder zusätzlich
verdiente Euro ist progressionssteigernd. Das heißt,
durch die Progression werden, wie schon gesagt, die
Besserverdiener stärker belastet; das ist absolut richtig.
Ein größerer Anteil ihres Einkommens wird besteuert.
Ich will mich wiederholen: Die Progression in der Einkommensteuer ist keine Einbahnstraße.
Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Entfernungspauschale, in dem es uns vorgegeben hat, sie wieder einzuführen, den Grundsatz der
Folgerichtigkeit herausgestellt. Zur Folgerichtigkeit gehört, dass Belastungen und Entlastungen bei einer Einkommensgruppe die gleiche Größenordnung haben.
Wir haben - das will ich hier klarstellen - die Nöte
der Pendler im Blick. Natürlich gibt es das Problem, das
Sie geschildert haben; wir wollen uns dem überhaupt
nicht verschließen. Wir haben in der Regierungskoalition in den letzten Jahren viel für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger getan: Mit dem Bürgerentlastungsgesetz und mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
haben wir
({2})
- wir zusammen mit Ihnen; später haben wir es zusammen mit der FDP fortentwickelt - die ArbeitnehmerinOlav Gutting
nen und Arbeitnehmer um 24 Milliarden Euro entlastet.
Es wäre schön, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, wenn Sie einmal dazu stehen würden.
({3})
Jetzt wollen wir, die Koalition, die kalte Progression
abbauen - möglich ist dies nur, wenn die Damen und
Herren von SPD und Grünen ihre Blockadehaltung im
Bundesrat aufgeben - und damit die Bezieher kleiner
und mittlerer Einkommen zusätzlich entlasten. Ich
meine, diese steuerpolitischen Maßnahmen sind jetzt
notwendig. Dadurch werden die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in diesem Land, auch die mit geringen
Einkommen, entlastet.
Ich kann nur sagen: Sie sind mit Ihren heutigen Anträgen zu kurz gesprungen und führen mit der Forderung
nach Einführung eines Pendlergelds den linear-progressiven Steuertarif geradezu ad absurdum.
({4})
Deswegen werden wir die beiden vorliegenden Anträge
ablehnen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gutting, ich habe nicht so ganz verstanden, warum
man nur dadurch, dass man Porsche fährt, sympathischer
wird. Ich finde, das trifft oft nicht zu; dies nur als Anmerkung.
({0})
Lassen Sie uns zum Thema kommen. Eine fachliche
Auseinandersetzung mit der Struktur der Pendlerpauschale kann grundsätzlich kein Tabu sein; ich glaube,
das muss man deutlich sagen. Aber, Herr Kollege Ernst,
bei Ihnen war nicht ein Hauch von Fachlichkeit zu spüren.
({1})
Das war purer Populismus.
({2})
Zum Thema Populismus muss man ergänzen: Herr
Gutting, das, was Sie beschrieben haben, sehen wir teilweise durchaus auch so. Es wäre vielleicht sinnvoll, dies
einigen Kollegen Ihrer Koalitionsfraktionen zu erklären;
denn der Populismus, der in Bayern um sich greift,
scheint nicht an Parteigrenzen haltzumachen.
Ich habe gelesen, dass Frau Kramp-Karrenbauer aus
dem Saarland gefordert hat, wegen der hohen Benzinpreise die Benzinsteuer zu senken. Sie haben gerade sehr
schön erklärt, was das für ein Blödsinn ist; ist sage dazu
gleich noch etwas. Es gibt einige CSU-Kollegen, die
sich ähnlich geäußert und vorgeschlagen haben, die
Pendlerpauschale zu erhöhen; auch Herr Hinsken hat das
getan. Sie haben deutlich gemacht, dass das nicht geht.
Ich finde, wenn Sie die Situation beschreiben, dann sollten Sie hinsichtlich der Aussagen in Ihren eigenen Reihen für Klarheit sorgen. In Zeiten des Internets lässt sich
nämlich sehr leicht nachvollziehen, wer sich dem Populismus - er scheint ja sehr stark auf Bayern konzentriert
zu sein - hingibt.
({3})
- Ich habe ja nichts gegen Bayern gesagt. Ich habe nur
gesagt: Dort scheint der Populismus ein bisschen konzentriert zu sein.
({4})
Die entscheidende Frage lautet: Sollten wir auf die
steigenden Spritpreise mit steuerlichen Maßnahmen reagieren?
Frau Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
({0})
Ja, trotz Porsche bzw. egal ob mit oder ohne Porsche.
({0})
Bitte schön, Herr Ernst.
Ich denke, dass Bayern eine weniger wichtige Rolle
spielt. Weil Sie allerdings das Wort Populismus erwähnt
haben, möchte ich Sie fragen: Halten Sie es für falsch
bzw. für ein Problem, dass sich die Leute, die an der
Tankstelle langsam ihre Geldbörsen festhalten müssen,
gegen die hohen Benzinpreise zur Wehr setzen wollen?
Halten Sie es wirklich für Populismus, wenn eine Partei
die Ängste und Sorgen der Bürger, dass ihnen von ihrem
Geld immer weniger übrig bleibt, aufgreift?
({0})
Ist es nicht vielmehr die Aufgabe von Abgeordneten, die
Bürger ernst zu nehmen und zu sagen: „Wir müssen etwas unternehmen und dürfen nicht nur zugucken und lamentieren“? Müssen wir nicht wirklich etwas tun, um
die Situation der Bürger zu verbessern?
({1})
Lieber Herr Kollege Ernst, hätten Sie nicht schon im
Kopf Ihre Pseudofrage vorbereitet, sondern meinem
letzten Satz zugehört, dann hätten Sie gemerkt, dass ich
gerade Ihren Vorschlag aufgegriffen und die Frage formuliert habe: Ist die Steuerpolitik das richtige Mittel, um
gegen steigende Benzinpreise vorzugehen?
({0})
Diesen Gedanken habe ich gerade aufgegriffen. Aber Sie
mussten ja schon Ihre Frage vorbereiten, um hier im Plenum wieder einmal eifrig Ihren Populismus unter Beweis zu stellen.
({1})
- Hören Sie mir bitte weiter zu. Herr Ernst, Sie haben
eine Zwischenfrage gestellt. Sie müssen hier aber nicht
in der Gegend herumbrüllen. Das macht keinen Sinn. Ich
finde, wir sollten uns ordentlich verständigen.
({2})
- Jetzt haben Sie sich schon wieder gesetzt. Ich soll auf
Ihre Frage offensichtlich nicht mehr antworten. Sie wissen ja selbst, dass das keine ordentliche Frage war.
({3})
- Nein, belassen wir es dabei.
({4})
Ich würde jetzt gerne meine Überlegung fortsetzen:
Ist es wirklich sinnvoll, im Rahmen der Steuerpolitik auf
die gestiegenen Benzinpreise zu reagieren? Die Vorstellung, auf diese Art und Weise zu handeln, ist völlig abstrus. Denn wir wissen, was passieren wird: Sowohl der
Vorschlag von Frau Kramp-Karrenbauer als auch eine
Erhöhung der Pendlerpauschale würde dazu führen, dass
man den Konzernen den Weg eröffnen würde, mit ihren
Preisen nachzuziehen.
({5})
Wir wissen, dass das sofort passieren würde. In der Vergangenheit haben wir im Zuge von Mehrwertsteuersenkungen erlebt, dass die entstehenden Gewinne bei
den Unternehmen verblieben sind.
({6})
Was Sie vorschlagen, klingt gut, würde aber vorne und
hinten nicht funktionieren.
({7})
Bei den Preisen gibt es ein ständiges Auf und Ab.
Dass die Preise gestiegen sind, fällt auf, wenn solche
Anträge wie der der Linken eingebracht werden. Ich
hätte gerne erlebt, dass Sie in den letzten Monaten, in
denen die Preise gesunken sind, gesagt hätten: Auch darauf sollte man im Rahmen der Steuerpolitik reagieren.
({8})
Sie sagen, dass Sie das Auf und Ab bei den Preisen ausgleichen wollen.
({9})
Sie kapieren aber nicht, dass Sie dadurch nur die Gewinne der großen Konzerne erhöhen würden. Das ist der
völlig falsche Weg.
Es ist richtig - hier sind sich alle einig -, dass wir uns
im Rahmen der Ordnungspolitik, zum Beispiel mit Blick
auf Preisabsprachen, verstärkt darum kümmern müssen,
dass die Politik der Konzerne unter die Lupe genommen
wird. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Preisabsprachen
entgegenzuwirken, sollte man sie ergreifen. Das halte
ich für richtig.
({10})
Im Rahmen der Steuerpolitik auf solche Vorkommnisse
zu reagieren, ist aber falsch.
Nächster Punkt. Zur fachlichen Sicht würde gehören,
dass Sie uns sagen, was die Umsetzung Ihrer Vorschläge
kostet. Herr Gutting hat, glaube ich, nur die Kosten für
die Umwandlung in ein Pendlergeld beschrieben. Durch
die Negativsteuer, die in dem Antrag steht, wird das insgesamt nämlich teurer. Das, was in dem Antrag der Linken steht, kostet jährlich 11,7 Milliarden Euro. Der Höhepunkt ist, dass Ihre Angaben sich lediglich auf einen
Einstieg in ein Pendlergeld beziehen.
Man muss deutlich machen: Auch dieses Geld muss
irgendwo herkommen. Erzählen Sie mir jetzt nicht zum
siebten Mal, Sie würden das Geld aus der Erhöhung des
Spitzensteuersatzes dafür verwenden. Das haben Sie
nämlich schon für die Abflachung des Waigel-Buckels,
die 25 Milliarden Euro kostet, ausgegeben.
({11})
Sie „hauen“ fast 12 Milliarden Euro jährlich heraus.
Ein Teil dieses Geldes führt zu zunehmenden Gewinnen
bei den Konzernen. Dies lassen Sie sich über die Einkommensteuer von den Bürgerinnen und Bürgern bezahlen. Das ist doch völlig abstrus! Das ist der Beweis für
Populismus - nichts anderes.
({12})
Deshalb, glaube ich, sollten wir überlegen, in welcher
Form wir hier in die Preisabsprachen eingreifen können.
({13})
- Herr Hinsken, Sie wollen offensichtlich keine Zwischenfrage stellen. Auf so unqualifizierte Zwischenrufe
muss ich nicht reagieren. - Ich glaube, es macht Sinn,
sich die ordnungspolitischen Fragen anzugucken. Der
Herr Hinsken kann sich ja mit dem Herrn Gutting darüber unterhalten, wie er zur Höhe der Pendlerpauschale
steht.
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Daniel Volk von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klaus Ernst von
der Linksfraktion, Ihr doch sehr großes Engagement im
Hinblick auf die Reduzierung von Benzinkosten und
Ähnliches führe ich bei Ihnen im Wesentlichen auf eine
gewisse Selbstbefangenheit zurück. Ich glaube, Sie haben ein erhebliches Eigeninteresse an der ganzen Sache.
({0})
Insofern kann ich nachvollziehen, dass Sie hier mit ganz
offensichtlich untauglichen Mitteln auf die aktuelle Situation reagieren wollen;
({1})
denn die Zeiten staatlicher Preisfestsetzung sind seit
22 Jahren vorbei.
({2})
Ich kann auch nur davor warnen, zu glauben, dass wir
mit staatlichen Preisfestsetzungen eine Besserung erreichen werden.
({3})
Sie haben in einem Teil Deutschlands einen 40-jährigen
Flächenversuch unternommen, mit staatlicher Preisfestsetzung für die dort wohnenden Bürger etwas Besseres
zu erreichen.
({4})
Das Ergebnis war, dass Sie eine Mangelwirtschaft hatten
und dass Sie eben nicht eine Besserung der Situation der
Menschen erreicht haben.
({5})
Insofern kann ich Ihnen wirklich nur empfehlen: Bleiben
Sie bei den Regeln der sozialen Marktwirtschaft. Das
bringt am Ende die besten Ergebnisse.
({6})
Im Hinblick auf die aktuellen Benzinpreise möchte
ich deutlich sagen, dass die Bundesregierung hier deutliche, aber marktwirtschaftliche Schritte einleitet, um einer möglichen Monopol- oder Oligopolbildung, also der
Beherrschung des Marktes durch nur einen oder wenige
Anbieter, entgegenzuwirken.
Ich glaube schon, dass es auch wichtig ist, zu erwähnen, dass es in Deutschland neben den Tankstellen der
Ölkonzerne auch viele freie Tankstellen gibt, die in Konkurrenz zu denen der Ölkonzerne stehen und durch den
Wettbewerb verhindern, dass der Benzinpreis durch die
Decke schießt. Ich glaube, dass wir diesen Wettbewerb
steigern sollten und dass durch diesen Wettbewerb eher
als durch staatliche Preisfestsetzungen ein angemessener
Preis zu erreichen ist.
({7})
Die christlich-liberale Koalition und die Bundesregierung werden alles daransetzen, diesen Wettbewerb weiterhin zu fördern.
({8})
Man muss eben darauf achten, dass die freien Tankstellen den Sprit nicht zu einem höheren Preis als die Ölkonzerne von den Raffinerien kaufen müssen, und wir müssen für den Wettbewerb dafür sorgen, dass für die freien
Tankstellen die gleichen Bedingungen wie für die Tankstellen der Ölkonzerne herrschen. Aus diesem Wettbewerb werden sich dann angemessene Preise entwickeln.
Im Übrigen weise ich zu dem zweiten Teil Ihres Antrags zum Pendlergeld in aller Ruhe darauf hin, dass es
nicht nur steuersystematischer Unsinn ist, das Nettoprinzip aufzugeben;
({9})
Unsinn ist auch, dass derjenige, der eine weitere Entfernung zu seinem Arbeitsplatz zurücklegt, dafür auch noch
Geld vom Staat bekommen soll. Ich glaube, dass Sie damit einen Fehlanreiz setzen, der sicherlich nicht vertretbar sein wird.
({10})
Denn Sie schaffen dadurch den Fehlanreiz, dass die
Menschen noch mehr Energie, nämlich Sprit, verbrauchen, als unbedingt notwendig ist. Ich glaube, das ist in
Zeiten, in denen wir Energieeinsparungen vornehmen
müssen, ein völlig falsches Signal.
({11})
Insofern kann ich nur empfehlen, dass wir weiter bei
den marktwirtschaftlichen Regelungen bleiben, den
Kräften eines wettbewerblichen Systems vertrauen und
nicht zu staatlichen Preisfestsetzungen zurückkehren.
Denn das ist sicherlich nicht der richtige Weg.
Wollen Sie eine Frage des Kollegen Mücke zulassen?
Ich erlaube sehr gerne eine Zwischenfrage des Kollegen Mücke.
Herr Kollege Dr. Volk, ich habe mit großer Aufmerksamkeit das Programm der Linkspartei gelesen.
({0})
Darin gibt es ein Kapitel mit der Überschrift „Mobilität
für alle - ökologische Verkehrswende“. In diesem Programm wird eine höhere Mineralölsteuer gefordert. Was
halten Sie davon? Glauben Sie, dass die Forderung der
Linksfraktion in diesem Zusammenhang glaubwürdig
ist?
Herr Kollege Volk, der Kollege Gambke von den
Grünen möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Dann
könnten Sie sie im Zusammenhang beantworten.
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Volk, ich kann Ihnen eine Frage nicht
ersparen. Am 2. April 2010 gab es eine dpa-Meldung:
Aufgrund der damals sehr hohen Spritpreise hat die FDP
die Senkung der Mehrwertsteuer für Sprit vorgeschlagen. Können Sie hier erklären, dass die FDP eine Senkung der Mehrwertsteuer aus heutiger Sicht für falsch
hält? Wie verhalten Sie sich dann im Verhältnis zu dem,
was Sie zu Beginn der Legislaturperiode mit der Mehrwertsteuer im Hotelgewerbe gemacht haben?
({0})
Meine beiden Herren Kollegen haben jetzt einen sehr
großen Bogen gespannt. Zunächst darf ich darauf hinweisen, dass es immer richtig ist, eine steuerliche Belastung der Bürger regelmäßig zu überprüfen.
({0})
Vor dem Hintergrund ist die von Ihnen zitierte Aussage
vom 2. April 2010 völlig richtig, Herr Kollege Gambke.
Diese Aussage ist auch heute noch aktuell.
Im Hinblick auf die inhaltlichen Vorstellungen der
Linksfraktion, auf der einen Seite die Mineralölsteuer zu
erhöhen und auf der anderen Seite jetzt gegen die hohen
Benzinpreise vorgehen zu wollen, haben Sie, Herr Kollege Mücke, völlig richtig auf die Widersprüchlichkeit
hingewiesen. Ich kann leider Gottes diesen Widerspruch
nicht auflösen.
({1})
Es ist aber bei vielen Forderungen der Linksfraktion so,
dass man die Widersprüche nicht auflösen kann.
({2})
Abschließend weise ich darauf hin, dass wir die Pendlerpauschale wie jede Pauschale im Steuerrecht sehr
wohl überprüfen und gegebenenfalls an die konkreten
Preise anpassen müssen. Jede Pauschale im Steuerrecht
erfordert eine Gratwanderung hinsichtlich der Frage, ob
sie zu hoch oder zu niedrig ist. Insofern muss eine Pauschale, insbesondere auch die Pendlerpauschale, hinsichtlich ihrer Höhe überprüft werden. Das, was die
Linksfraktion vorgelegt hat, ist aber nicht der richtige
Weg. Denn das führt zu staatlicher Preisfestsetzung und
zu Fehlanreizen. Deswegen können wir diesen Weg
schlicht nicht unterstützen.
({3})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Lisa Paus vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Volk, ich freue mich, dass die FDP zumindest bei
diesem Thema wieder ein bisschen auf dem Boden der
Tatsachen angekommen ist. Am Anfang der Woche war
das noch nicht so. Wir haben alle mitbekommen, dass
die Spritpreise auf Rekordniveau sind. Da muss man nur
einen Augenblick lang warten, und die ersten Populisten
kommen aus den Reihen geschossen. Auf der einen Seite
ist das Herr Ernst; das war klar. Auf der anderen Seite
mussten wir am Wochenende Aussagen und Forderungen von Herrn Döring, immerhin Generalsekretär der
FDP und Mitglied des Verkehrsausschusses, vernehmen.
({0})
- Nein, er hat das schon konkretisiert. Es ging auch um
die Erhöhung der Pendlerpauschale.
({1})
Das ist genau das Gleiche, was Herr Ernst jetzt einfordert.
({2})
Wir sind uns aber grosso modo einig, dass diese Vorschläge nicht tragen, dass es Schnellschüsse sind, dass
sie definitiv nicht von großer Weitsicht und vor allen
Dingen von völligem ökonomischen Unverstand geprägt
sind.
({3})
Es ist falsch, die Pendlerpauschale zu erhöhen. Wenn
überhaupt, Herr Ernst, dann gehört sie abgeschafft.
({4})
- Wenn überhaupt, dann wollen wir sie abschaffen.
({5})
- Wir haben aktuell festgelegt, dass man dieses Fass jetzt
nicht aufmachen sollte, weil es verschiedenste Probleme
damit gibt.
({6})
Dazu komme ich jetzt.
Herr Ernst, Ihr Antrag hat zumindest ein Gutes: Sie
streichen darin noch einmal schön heraus, wie ungerecht
die Pendlerpauschale ist. Diese Kritik teilen wir. Es ist
so, dass Menschen mit kleinem Einkommen weniger
von dieser Subvention bekommen als reiche Leute. Dazu
kommt, dass alle Menschen, die nahe an ihrem Arbeitsplatz wohnen, den Arbeitsweg für die Pendler subventionieren.
Die Kritik teilen wir; da haben wir etwas gemeinsam.
Ihr Lösungsvorschlag trägt aus unserer Sicht aber nicht.
Frau Kressl hat die zentrale Argumentation eben schon
vorgetragen. Ich sage es noch einmal in meinen Worten.
Das Problem sind die hohen Spritpreise, die es zum
Luxus werden lassen, mobil zu sein. Der Benzinpreis
sinkt aber nicht, wenn man die Pendlerpauschale erhöht,
wenn man das Pendeln noch stärker subventioniert als
bisher.
({7})
Das Einzige, was man erreicht, sind zusätzliche Fehlanreize zur Zersiedelung. Man könnte die Pendlerpauschale auch Zersiedelungsprämie nennen.
({8})
Das Einzige, was geschieht, ist, dass wir Steuergelder
nutzen, um regelmäßig Geld nach Russland, Großbritannien, Norwegen, Kasachstan und überall dorthin, wo das
Öl sprudelt, zu überweisen. Das ändert an den Ölpreisen
gar nichts. Im Gegenteil: Es treibt die Preissteigerung
noch weiter an.
({9})
Frau Kollegin Paus, der Kollege Mücke hat das dringende Bedürfnis, erneut eine Zwischenfrage zu stellen,
obwohl wir eigentlich alle auf das Wochenende warten.
Trotzdem ist es Ihre Entscheidung, ob er eine Frage stellen darf oder nicht. Wollen Sie die Frage zulassen?
({0})
Ich bin etwas irritiert, weil Sie die Uhr gar nicht anhalten. Habe ich nur noch 36 Sekunden?
Ja. Ich habe die Uhr jetzt angehalten, damit Sie entscheiden können, ob Sie die Zwischenfrage zulassen
oder nicht. Ich bin Ihnen schon sehr entgegengekommen.
Sie haben die Uhr sehr spät angehalten.
Nein, die Uhr wird gestoppt, wenn die Zwischenfrage
zugelassen ist. Ich habe sie jetzt sogar schon vorher gestoppt.
Jetzt können Sie sich entscheiden. Wollen Sie die
Zwischenfrage zulassen oder nicht?
Ja.
({0})
Bitte schön.
Frau Kollegin Paus, Sie haben gerade ausgeführt,
dass aus Ihrer Sicht eine Luxusentwicklung bei den Mineralölpreisen festzustellen ist. Wie stehen Sie dazu,
dass Ihr Kollege Dr. Anton Hofreiter, seines Zeichens
Vorsitzender des Verkehrsausschusses,
({0})
geäußert hat, dass die Benzinpreise noch viel zu niedrig
sind und noch weiter angehoben werden müssten?
({1})
Wie verträgt sich das mit Ihrer Auffassung, dass der Anstieg der Benzinpreise offensichtlich dazu führt, dass
Benzin zum Luxusgut wird?
Als Erstes können wir festhalten, dass Toni Hofreiter
ein sehr guter Mann ist.
({0})
Als Zweites können wir festhalten, dass Herr
Hofreiter mit Sicherheit auf das hinweisen wollte, was
wir alle sehen, wenn wir Zeitung lesen, dass es schlichtweg ein Faktum ist, dass die Benzinpreise steigen und
dass der Preis für 1 Barrel Öl steigen wird. Der Preis
steigt jetzt, und er wird auch in den nächsten Jahren weiter steigen. Wir Grüne weisen darauf hin, dass dem so
ist. Die Ölpreise werden weiter steigen, weil Öl endlich
ist. Wir brauchen eine Strategie, die weg vom Öl führt.
Wir brauchen keine Subventionierung des falschen Weges,
({1})
nicht nur weil dabei CO2 ausgestoßen wird, sondern weil
das ein Weg ist, der schlichtweg in die Sackgasse führt.
({2})
- Herr Volk, Sie haben mir schon eine ganze Minute geklaut. Das machen wir jetzt nicht noch weiter.
Auch wir Grüne wissen, dass es in unserem Land
Menschen gibt, die nicht in der Stadt wohnen und darauf
angewiesen sind, ein Auto zu benutzen, weil der öffentliche Personennahverkehr nicht gut ausgebaut ist. Wir
brauchen aber keine weitere Subventionierung, sondern
eine offensive Strategie zur Entwicklung sparsamerer
Autos. Das ist das wirksamste Mittel gegen zu hohe
Fahrtkosten, und vor allem ist das ein auf Dauer wirksames Mittel.
({3})
Eine Beispielrechnung zum Schluss: Die Erhöhung
der Pendlerpauschale von 30 auf 40 Cent würde einer
Pendlerin mit normalem Gehalt 200 Euro pro Jahr mehr
bringen, wenn ihre Arbeitsstelle 30 Kilometer von ihrem
Zuhause entfernt ist. Steigt sie aber bei einem Spritpreis
von 1,50 Euro auf ein Auto um, das statt 8 Litern nur
6 Liter verbraucht, dann spart sie jedes Jahr das Doppelte, nämlich 400 Euro.
({4})
Diese Ersparnis fiele dann auch anderen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern nicht zur Last, wie es bei der
Pendlerpauschale der Fall wäre.
Dieses Beispiel zeigt die enormen Sparpotenziale, die
es gibt. Wir alle wissen, dass es schon Autos gibt, die nur
3 Liter auf 100 Kilometer verbrauchen. In diese Richtung muss es weitergehen, unserem Geldbeutel und dem
Klima zuliebe. Dieses Ziel unterstützen wir gerne auch
mit vernünftigen Förderprogrammen, etwa solchen für
mehr Elektromobilität.
({5})
Ich lade Sie herzlich ein, bei der nächsten Gelegenheit
daran mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5818 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b: Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/8786 mit dem Titel „Preiserhöhungswelle an den Tankstellen stoppen - Gesetzliche Benzinpreiskontrolle einführen“. Wer stimmt für diesen AnVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten
Katja Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht
miteinander verheiratete Eltern
- Drucksachen 17/3219, 17/8555 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Stephan Thomae von der FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten über
einen Bericht des Rechtsausschusses über den Antrag
der Grünen zum elterlichen Sorgerecht. Es liegen nunmehr zwei Anträge zu dem Themenkomplex des Sorgerechts für nichtehelich geborene Kinder vor, einer von
den Grünen und einer von der SPD. Nun zeigen aber
beide Anträge aus den Reihen der Opposition, wie man
es besser nicht machen sollte. Diese Anträge befeuern
die Diskussion, sie bereichern sie bisweilen auch,
({0})
aber Regierungsentwürfe werden in der Regel zum Gesetz. In Anbetracht der Bedeutung der Sache ist es angemessen, dass die Gedanken zu diesem Themenkomplex
reifen, bevor sie in einen Gesetzentwurf münden, der
dann auch beschlossen wird.
({1})
Schauen wir uns zunächst einmal den Antrag der
SPD-Fraktion an.
({2})
Dort heißt es, dass dann, wenn sich die Eltern eines
nichtehelichen Kindes nicht über das gemeinsame elterliche Sorgerecht verständigen können, von Amts wegen
das Jugendamt aktiv wird. Dies setzt dann den Eltern
eine Frist, sich zu äußern. Nun ist es aber manchmal der
Fall, dass die Zeit für eine solche Entscheidung noch
nicht reif ist, dass sich Eltern noch einmal Gedanken darüber machen wollen, welche Regelung sie gemeinsam
treffen wollen, dass sie sich Zeit lassen wollen, weil sich
vielleicht auch das Verhältnis der Eltern zueinander ändert. Dann ist es auch angemessen, dass zunächst einmal
eine gewisse Zeit verstreicht, bis eine Entscheidung fällt.
Stattdessen sieht der Antrag der SPD vor, dass, wenn
sich die Eltern nicht innerhalb einer gesetzten Frist verständigen, das Jugendamt einen Antrag beim Familiengericht stellt. Wir halten das für ganz und gar unnötig
und auch unsachgemäß; denn es ist zunächst einmal Sache der Eltern, sich Gedanken zu machen. Wenn das
Kindeswohl gefährdet ist, dann ist es nach § 1666 BGB
Sache des Staates, hier tätig zu werden. Dann ist der
Staat gefragt. Ich sehe aber keine Notwendigkeit, dass
der Staat den Eltern ein Verfahren aufzwingt, das die Eltern nicht wollen und das für die Wahrung des Kindeswohls auch nicht erforderlich ist.
({3})
So weit zum Antrag der SPD.
Der Antrag der Grünen, über den wir heute an dieser
Stelle beraten, liegt mir von der Diktion und der Richtung her - das sage ich offen - etwas näher,
({4})
aber auch hier sehe ich drei Probleme, die es zu beachten
gilt.
Das erste Problem ist, dass gemäß dem Antrag der
Grünen eine achtwöchige Schonfrist ab Entbindung greifen soll und diese - jetzt kommt der entsprechende Punkt Frist in ihrem Ablauf gehemmt ist, wenn die Mutter eine
entsprechende Mitteilung macht. Da liegt das Problem.
Wenn die Mutter es nun versäumt, eine entsprechende
Mitteilung zu machen - das wird gerade in solchen Fällen sein, in denen die Mutter mit besonders vielen Sorgen beladen ist, vielleicht weil es sich um eine Mehrlingsgeburt handelt, sich die Mutter auf keine
Angehörigen stützen kann oder die Geburt Komplikationen bereitet hat -, greift diese Ablaufhemmung nicht, die
die Mutter schützen soll. Gerade dann, wenn die Mutter
am meisten schutzbedürftig ist, kann dieser Schutz ausfallen. Das ist ein entscheidendes Manko des Antrags
der Grünen.
({5})
Das zweite Problem besteht darin, dass das Jugendamt dem Antrag des Vaters auf gemeinschaftliche Sorge
dann stattgibt, wenn, so wörtlich, „dem Jugendamt keine
Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung … vorliegen“. Das Problem besteht darin, dass
diese Formulierung zwei unbestimmte Rechtsbegriffe
enthält: einmal den Begriff der Kindeswohlgefährdung,
also wann das Kindeswohl gefährdet ist, und zum anderen, wann diese Gefährdung offensichtlich ist. Solche
unbestimmten Rechtsbegriffe zu klären, ist in solchen
Fällen des Kindschaftsrechtes nicht Aufgabe der Verwaltungsbehörden, sondern der Gerichte. Deswegen sollten
nicht Jugendämter über diese Frage entscheiden, sondern die Gerichte.
({6})
Ein weiteres Problem hierbei ist die Quelle der Erkenntnis. Die Jugendämter müssten ja selber Anhörungen durchführen und Sachverständige hören, um diese
Fragen zu klären.
({7})
Es müsste eigene Ermittlungen anstellen. Aber das ist
nicht Sache der Jugendämter, die in Sorgerechtsverfahren vor Gericht ja Beteiligte sind, sondern es ist eben Sache der Gerichte.
({8})
Das ist das zweite Problem.
Das dritte Problem im Antrag der Grünen ist,
({9})
dass die Mutter ebenfalls das gemeinsame Sorgerecht
beantragen kann. So weit, so gut. Nun heißt es aber weiter, dass das Jugendamt die gemeinsame Sorge dann ausspricht, wenn der Vater innerhalb von acht Wochen zustimmt. Das heißt e contrario, also im Umkehrschluss:
Stimmt er nicht innerhalb von acht Wochen zu, also
braucht er länger, etwa zehn oder zwölf Wochen, um zuzustimmen, dann kann das Gericht wegen Fristablaufs
diesem Antrag nicht stattgeben. Da frage ich mich: Was
ist eigentlich der Sinn des Ganzen? Warum sollte das Jugendamt die gemeinsame Sorge verweigern, wenn der
Vater zwar etwas länger braucht, aber nach einer gewissen Zeit doch sagt, dass er die gemeinschaftliche Sorge
für das Kind ausüben will? Das ergibt keinen Sinn.
({10})
So sehen wir als Fazit: Es gibt viele Vorschläge - dafür bedanken wir uns -,
({11})
aber sie haben eben viele Haken.
({12})
Deswegen denke ich, dass die Regelung der gemeinsamen Sorge bei der Koalition besser aufgehoben ist.
({13})
Ich kündige Ihnen an: Nachdem wir uns mit dieser Angelegenheit von großer Bedeutung intensiv beschäftigt
- eine solche Sache muss ja auch reifen - und sie ausdiskutiert haben,
({14})
werden wir in Kürze in die Zielgerade einbiegen. Lassen
Sie sich überraschen!
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Lischka von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Thomae, jetzt haben Sie uns über mehrere Minuten
erklärt, welche Probleme die vorliegenden Anträge möglicherweise beinhalten. Wissen Sie, was das Hauptproblem ist? Das Hauptproblem ist, dass Sie bis heute nichts
vorgelegt haben.
Inzwischen liegen die beiden Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des
Bundesverfassungsgerichts über zwei Jahre zurück.
Schwarz-Gelb hat in diesen gut zwei Jahren mehrfach
eine Neuregelung angekündigt,
({0})
nämlich für den Herbst 2010 und für das erste Halbjahr
2011. Jetzt sind wir im März 2012.
({1})
Passiert ist trotz dieser Ankündigungen überhaupt
nichts, und das ist ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung und ein Beleg dafür, dass Sie in der Rechtspolitik gar nichts zustande bekommen haben, meine Damen und Herren.
({2})
Das ist ärgerlich, weil inzwischen mehr als 60 Prozent
der ostdeutschen und ein Viertel der westdeutschen Kinder nichtehelich geboren werden. Insofern ist das Ganze
auch kein Randthema, sondern brennt Hunderttausenden
betroffenen Vätern, Müttern und Kindern unter den Nägeln.
Die Politik hat die Aufgabe, Herr Thomae, diese
Menschen nicht weiter zu vertrösten, sondern endlich
eine praktikable Lösung auf den Weg zu bringen.
({3})
Ich gebe gerne zu: Das ist eine nicht ganz einfache Aufgabe, meine Damen und Herren, und das hängt insbesondere mit zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten zusammen.
Erstens. Die Debatte über die künftige Ausgestaltung
des Sorgerechts wird sehr emotional und sehr leidenschaftlich geführt. Das kann auch nicht weiter verwundern, weil sich hinter diesem Thema ganz unterschiedliche Fallkonstellationen verbergen, angefangen bei den
Eltern, die auch ohne Trauschein ein Leben lang zusammenbleiben und sich gemeinsam um ihre Kinder kümmern, bis hin zu den flüchtigen Bekanntschaften, bei deBurkhard Lischka
nen der Vater schon lange vor der Geburt verschwunden
ist und keinen Kontakt zum Kind hat.
Ein zweiter Aspekt: Jede noch so gut gemeinte gesetzliche Regelung ist letztendlich darauf angewiesen,
dass die Eltern sie vor Ort in der Praxis jeden Tag gemeinsam umsetzen. Wenn das nicht geschieht, läuft jede
Regelung ins Leere, und Notleidende sind dann vor allen
Dingen die betroffenen Kinder.
Wir erleben jetzt seit über zwei Jahren eine Debatte
darüber - das ist zumindest mein Gefühl -, die uns keinen Millimeter vorangebracht hat. Im Gegenteil: Ich
habe das Gefühl, dass die Akteure unversöhnlich in den
Schützengräben verharren.
Die einen fordern, dass der Vater vor Gericht ziehen
muss, um eine gemeinsame Sorge zu erreichen.
({4})
Die anderen fordern, dass die Mutter vor Gericht klagen
muss, wenn sie eine praktikable Sorgeregelung haben
will, wenn der Vater nicht greifbar ist, keinen Unterhalt
zahlt oder keinen Kontakt zu dem Kind hat. Jeder zeigt
auf den anderen. Der eine ruft: Warum muss eigentlich
bei deinem Modell der Vater vor Gericht ziehen? - Der
andere ruft: Warum muss das bei dir eigentlich die Mutter machen?
Diese Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen,
bringt uns nicht weiter. Sie hat uns in eine Sackgasse geführt, und aus dieser Sackgasse müssen wir raus, und
zwar schnellstmöglich.
({5})
Insofern bin ich mir sicher, dass eine Neuregelung
Brücken zwischen diesen unversöhnlichen Positionen
bauen muss - Brücken bauen im Sinne der Kinder. Denn
Kinder lieben beide Elternteile. Aber Eltern können dieses Bedürfnis ihrer Kinder nur erfüllen, wenn sie berücksichtigen: Sie müssen Vernunft walten lassen. Sie
müssen miteinander kooperieren, und sie dürfen ihre
Paarkonflikte nicht auf dem Rücken der Kinder austragen. Das ist das Einzige, was in der Praxis funktioniert.
Und weil wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das wissen, schlagen wir dreierlei vor:
Erstens. Wir wollen es Eltern so einfach wie möglich
machen, eine gemeinsame Sorge zu erklären, und zwar
gleich bei dem ersten Gang, den alle nach einer Geburt
vor sich haben. Beim Standesamt sollen sie die Möglichkeit haben, eine gemeinsame Sorgeerklärung abzugeben.
Zweitens. Wenn die Eltern dieses nicht tun, dann wollen wir sie nicht sofort in gerichtliche Auseinandersetzungen schicken. Denn das fördert nicht die Gemeinsamkeit, sondern nur den Streit zwischen den Eltern. Wir
wollen stattdessen die Eltern mithilfe des Jugendamtes
unterstützen, zu einer einvernehmlichen Regelung zu
kommen. Das stärkt übrigens die Eigenverantwortung
der Eltern, und das vermeidet gerichtliche Auseinandersetzungen.
Drittens. In den dann noch verbliebenen Konfliktfällen, in denen die Auseinandersetzungen der Eltern so
stark sind, dass sie trotz aller Unterstützung partout nicht
zu einer Regelung kommen können, wollen wir in der
Tat, dass das Jugendamt das Verfahren dann von Amts
wegen an das Familiengericht weitergibt, mit einem Antrag auf Entscheidung zur elterlichen Sorge, ohne dass
Vater oder Mutter einen Antrag stellen muss. Vater und
Mutter werden so nicht in die missliche Situation gebracht, gegen den jeweils anderen Elternteil zu klagen.
Ich glaube, dieser Vorschlag kann verhärtete Fronten tatsächlich aufbrechen und den Weg nach vorne weisen.
Wir werden in Kürze die Möglichkeit haben, über
diesen Vorschlag der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag zu debattieren. Angesichts der zweieinhalb Jahre
währenden Zeit des Wartens möchte ich Sie herzlich bitten: Nutzen Sie diese Chance und lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg nach vorne gehen! Das ist im Sinne der
betroffenen Eltern und vor allen Dingen im Sinne der betroffenen Kinder.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist heute unstrittig, dass die Väter von Kindern aus Beziehungen ohne Trauschein beim elterlichen Sorgerecht
benachteiligt worden sind. Die bisherige Rechtslage
trägt nicht nur den vielfältigen Lebensmodellen nicht
ausreichend Rechnung. Sie entspricht auch nicht ausreichend dem Zweck des Sorgerechts, nämlich das Wohl
des nichtehelichen Kindes zu schützen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und
das Bundesverfassungsgericht haben das zu Recht moniert. Beide rügen, dass ein nichtehelicher Vater ohne
Zustimmung der Mutter generell von der Sorgetragung
für sein Kind ausgeschlossen ist und das auch nicht gerichtlich überprüfen lassen kann. Das ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen.
Die Koalition hat sich intensiv damit befasst, diesen
unbefriedigenden Zustand zu korrigieren. Maßstab unserer Überlegungen ist immer das Kindeswohl. Es kommt
also nicht allein auf den Elternwillen an. Allerdings wird
die gemeinsame elterliche Sorge regelmäßig auch dem
Kindeswohl entsprechen. Die Entwicklung des Kindes
wird im Idealfall durch beide Elternteile geprägt. Das ist
unser Leitbild auch in diesem Gesetzgebungsprozess:
Ein Kind braucht Mutter und Vater.
Es ist daher zu begrüßen, wenn Väter vielfach ganz
selbstverständlich dazu bereit sind und sich mit Nachdruck darum bemühen, Verantwortung für ihr Kind zu
übernehmen und ihr elterliches Sorgerecht wahrzunehmen.
({0})
Klar ist aber auch, dass die Mutter als Gebärende und
Ernährende gerade für Kinder im Säuglingsalter die
engste Bezugsperson ist und ihr daher eine naturgegebene Sonderstellung zukommt.
Ein Großteil der nicht verheirateten Eltern, genau
62 Prozent, gibt nach einer Studie des Bundesjustizministeriums bereits kurz vor oder nach dem Geburtstermin eine Erklärung zur gemeinsamen Sorge ab. Das unterstreicht, dass die gemeinsame elterliche Sorge auch
bei Unverheirateten der Regelfall ist und dem Kindeswohl am ehesten entspricht.
Es gibt aber auch mehr als nur vereinzelte Fälle, in
denen unverheiratete Eltern nicht zu einer gemeinsamen
Wahrnehmung ihrer Elternverantwortung bereit oder in
der Lage sind. Für die Fälle, in denen sich die Eltern zu
keiner gemeinsamen Sorgerechtserklärung durchringen
können und die oftmals durch erhebliche Konflikte zwischen den Eltern gekennzeichnet sind, muss eine Neuregelung zum Wohl des Kindes erreicht werden. Das ist
das Feld, in dem wir uns streiten.
Es gibt grundsätzlich zwei Maximalpositionen, wenn
die Mutter mit einer gemeinsamen elterlichen Sorge
nicht einverstanden ist. Einerseits kann der Vater auf den
Klageweg verwiesen werden. Andererseits kann das
Sorgerecht kraft Gesetzes beiden Eltern zugewiesen
werden, ohne dass es eines Antrags oder einer Sorgerechtserklärung bedarf.
Die Rechtspolitik kann aber - auch das hat die Studie,
die im Auftrag des Bundesjustizministeriums erstellt
worden ist, ergeben - an der tatsächlichen Lebenssituation von Kindern und Eltern nicht vorbeigehen. Ich will
das anhand von zwei Fallkonstellationen kurz erläutern.
Nehmen Sie die Situation, dass eine Frau Opfer einer
Vergewaltigung wurde, dadurch schwanger wird und
sich dafür entscheidet, dieses Kind auszutragen. Kann
man dieser Frau wirklich zumuten, dass sie ihre elterliche Sorge kraft Gesetzes nur gemeinsam mit dem Vergewaltiger ausüben kann und sich das alleinige Sorgerecht
erst vor Gericht erstreiten muss?
({1})
Wir sind uns sicher einig - ich merke das an Ihren Reaktionen -, dass das keiner von uns will.
Oder sollen Väter, die ihre Vaterrolle nicht annehmen
- sei es, weil das Kind aus einer flüchtigen Beziehung
oder aus einer ungeplanten Schwangerschaft stammt -,
automatisch ein Sorgerecht für dieses Kind erhalten?
({2})
Ich meine, es sprechen gute Gründe dafür, das Sorgerecht zunächst allein der Mutter zuzusprechen. Das sieht
das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als zulässig
an. Der Vater muss aber dann die Möglichkeit haben,
auch ohne den Willen oder gegen den Willen der Mutter,
sein Recht auf elterliche Sorge zu erhalten. Dazu brauchen wir zügige und unkomplizierte Verfahren. Ich halte
es für ein notwendiges Korrelat zur Privilegierung der
Mutter mit einem anfänglich alleinigen Sorgerecht der
Mutter, dass dem Vater ein Weg eröffnet wird, sein Sorgerecht schnell und einfach geltend zu machen.
Die Vorschläge, die die Opposition eingebracht hat,
sind schon ausführlich gewürdigt worden.
Zur SPD. Sie schlagen vor, die Rolle des Jugendamtes
zu stärken. Es soll eine eigene Bewertung vornehmen
und den Fall dann dem Familiengericht vorlegen. Dieser
Lösungsansatz beinhaltet aber eine Entscheidung über
die Köpfe der Betroffenen hinweg.
({3})
Die eigenständige Vorlage durch das Jugendamt an das
Familiengericht ohne weitere Einbeziehung oder Antragstellung eines Elternteils lehnen wir ab. Solche Automatismen sind eher kontraproduktiv und sicherlich
nicht geeignet, mehr Rechtsfrieden zu stiften.
Ähnliche Automatismen sieht der Antrag der Grünen
vor. Hier wird automatisch dann die gemeinsame Sorge
erteilt, wenn der Vater einen entsprechenden Antrag
beim Jugendamt stellt, die Mutter innerhalb einer Erklärungsfrist nicht widerspricht und dem Jugendamt keine
Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung durch den Vater vorliegen. Die Erteilung des
elterlichen Sorgerechts durch das Jugendamt kraft Verwaltungsakt halten wir für eine absurde Idee. Wir lehnen
sie ab.
({4})
Ich glaube, dass wir Abstand nehmen müssen von solchen automatisierten Verfahren. Wir brauchen Verfahrenswege, die eine Aussicht auf eine Beilegung der Auseinandersetzung haben, die den Interessen der Mutter
und des Vaters gleichermaßen gerecht wird.
Für uns als Union ist es besonders wichtig, dass das
Schweigen der Mutter nicht als Zustimmung gewertet
wird. Wir halten das in diesem Rechtsbereich für nicht
angebracht. Gerade in den ersten Wochen und Monaten
nach der Geburt eines Kindes ist die Mutter oft psychisch und physisch stark beansprucht. Ich glaube, es ist
ein wichtiges Anliegen, dass in dieser Situation ihr
Schweigen nicht einfach als Zustimmung zur Zuerkennung des gemeinsamen Sorgerechts gewertet wird.
Wir wollen auch verhindern, dass es ein Hin und Her
bei der Erteilung des Sorgerechts gibt, dass zunächst automatisch kraft Gesetzes ein gemeinsames Sorgerecht
etabliert wird, die Mutter dann Widerspruch einlegen
kann und der Vater dies wieder rückgängig machen
kann. Eine mehrfache Erteilung und Entziehung des Sorgerechts birgt die Gefahr der Rechtsunsicherheit und beThomas Silberhorn
schwört weitere Konflikte unter den Eltern herauf. Unser
Ansatzpunkt ist eher ein Mittelweg.
({5})
- Ich spreche hier als Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({6})
Wir sind in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren.
Wir diskutieren aufgrund Ihrer Anträge ganz offen, wie
wir uns in diesem Bereich bewegen.
({7})
Dass Ihre Vorschläge nicht zureichend sind, die aufgeworfenen Probleme zu lösen, ist übereinstimmend deutlich geworden.
({8})
Im Übrigen, wenn ich das zu Ihrem Zuruf sagen darf:
Wenn wir uns darüber einig sind, dass das Leitbild darin
besteht, dass Vater und Mutter für ihre Kinder gemeinsam die elterliche Sorge tragen, dann wäre das Wesentliche schon konsentiert. Wir streiten uns dann im Kern
über Verfahrensfragen, vom Jugendamt bis zum Familiengericht, Antragstellungen hin oder her, Fristen und
Ähnliches, sodass wir sagen können: Wir sind auf einem
guten Weg.
({9})
Wir müssen aber jetzt eine solche Lösung finden, die
nicht die Verfahrensfragen und Zweifel aufwirft, die Sie
in Ihren eigenen Anträgen zum Ausdruck bringen.
Natürlich muss zunächst eine gemeinsame Sorgerechtserklärung der Regelfall sein. Das ist der Weg, der
Konflikten am ehesten vorbeugen kann. Es muss im
Blick gehalten werden, das Wohl des Kindes dadurch zu
fördern, dass gemeinsame Sorgerechtserklärungen ermöglicht werden. Wenn aber die Mutter widerspricht
oder zu dieser Frage schweigt, dann sollte dem Vater ein
Antragsrecht zur Prüfung durch das Familiengericht eingeräumt werden. Nach meiner Auffassung sollte das in
einer angemessenen, eher kurzen Frist geschehen, weil
ich einen zügigen Verfahrensablauf als Korrelat zur Privilegierung der Mutter durch das anfänglich alleinige
Sorgerecht betrachte.
({10})
Wir sollten uns außerdem - dieser Aspekt ist noch gar
nicht angesprochen worden - um eine Verfahrensbeschleunigung vor den Familiengerichten bemühen; denn
wenn letztlich vor Gericht entschieden wird, dann ist den
Eltern und insbesondere den Vätern nicht gedient, wenn
unbefriedigend lange Wartezeiten bis zu einer Sorgerechtsentscheidung entstehen. Auch darauf sollten wir
unser Augenmerk richten.
({11})
Für uns ist zudem wichtig, den materiell-rechtlichen
Prüfungsmaßstab zu verändern. Dieser Aspekt kommt in
Ihren Überlegungen, meine Damen und Herren von der
Opposition, überhaupt nicht zum Tragen. Wir wollen,
dass vor Gericht nicht mehr begründet werden muss, warum die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl
entspricht. Wir wollen das als Regelfall und als unser
Leitbild ansehen.
({12})
Deswegen sind wir der Auffassung, dass die gerichtliche Prüfung künftig darauf konzentriert werden kann, ob
Gründe des Kindeswohls einer gemeinsamen elterlichen
Sorge entgegenstehen; das ist etwas ganz anderes. Der
Mutter sollte natürlich in diesem Verfahrensstadium
noch einmal die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben
werden. Aber es macht schon einen Unterschied, ob man
sich vor Gericht darüber streiten muss, ob die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl entspricht, oder
ob man als Regelfall davon ausgeht, dass es dem Kindeswohl entspricht, und nur darlegen muss, ob etwas gegen die gemeinsame elterliche Sorge spricht.
({13})
Über diesen materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab
müssen wir ebenfalls diskutieren. Ich denke, die Änderung des Prüfungsmaßstabs untermauert noch einmal unser Leitbild, dass die gemeinsame elterliche Sorge im
Regelfall dem Kindeswohl entspricht.
Wie Sie sehen, sind die Fragen der elterlichen Sorge
komplex und kompliziert. Wir müssen mit Fingerspitzengefühl zu einer Lösung kommen, die zuallererst dem
Kindeswohl entspricht und gleichzeitig den unterschiedlichen Interessen von Vätern und Müttern ausreichend
Rechnung trägt.
({14})
Wir werden vielleicht nicht alle Betroffenen zufriedenstellen können. Was uns aber gelingen kann und wird
- davon bin ich fest überzeugt -, ist eine faire und transparente Regelung, die dazu dient, das bestehende Ungleichgewicht wieder in Balance zu bringen. Unser Ziel
muss sein, dass die gemeinsame elterliche Sorge als Regel- und Erfolgsmodell noch stärker verankert wird. Das
liegt im Interesse unserer Kinder.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen heute eine Geschäftsordnungsdebatte. Was sich
hier abspielt, ist den Bürgerinnen und Bürgern außerhalb
des Bundestages kaum zu vermitteln. Zuerst werden
über viele Jahre hinweg die Elternrechte nicht verheirateter Väter verletzt, indem sie ohne Zustimmung der
Mütter generell von der Sorgetragung für ihre Kinder
ausgeschlossen werden. Diese Väter konnten noch nicht
einmal gerichtlich überprüfen lassen, ob es aus Gründen
des Kindeswohls angezeigt ist, ein gemeinsames Sorgerecht einzuräumen oder ihnen sogar die Alleinsorge für
ihre Kinder zu übertragen.
2009 rügt dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Schließlich entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Juli 2010, dass nicht
verheiratete Väter das Recht haben, das gemeinsame
Sorgerecht vor Gericht zu erwirken, ohne dass die Mutter dies verweigern kann. Weil das Bundesverfassungsgericht offensichtlich Erfahrung mit der Geschwindigkeit bei der Umsetzung seiner Entscheidungen durch den
Gesetzgeber hat, ordnete es ein Übergangsverfahren an.
Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung des Sorgerechts
hat das Familiengericht auf Antrag eines Vaters beiden
Elternteilen die Sorge für das Kind zu übertragen, wenn
dies nicht dem Kindeswohl entgegensteht.
Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
von vor fast zwei Jahren sind wir Parlamentarier aufgefordert, die Frage des gemeinsamen Sorgerechts in diesem Sinne neu zu regeln. Dass die Bundesregierung dafür keinen eigenen Lösungsansatz vorlegt, ist schon
seltsam genug. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht in den Gründen so klare und eindeutige Vorgaben
gemacht, dass es selbst für Nichtjuristen möglich sein
sollte, einen entsprechenden Gesetzestext oder Antrag
zu formulieren. Zum anderen interessiert die Frage der
Neuregelung der gemeinsamen elterlichen Sorge sehr
viele Menschen in diesem Land; der Kollege Lischka hat
die Zahlen schon genannt. Es sind nicht nur die Rechte
der betroffenen Väter herzustellen, sondern damit hängen auch Rechte der Kinder zusammen, zum Beispiel
hinsichtlich ihrer Beziehungen zu Großeltern und anderen Verwandten.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits vor
mehr als einem Jahr einen Lösungsvorschlag unterbreitet, wie aus ihrer Sicht eine verfassungskonforme Regelung aussehen könnte, die den sich ändernden Familienformen in unserem Land Rechnung trägt. Was aber
passiert in den zuständigen Ausschüssen? Der federführende Rechtsausschuss geht geschlagene neun Monate
mit dem Antrag schwanger - es geht ja auch um das Sorgerecht -, bevor er ihn das erste Mal überhaupt auf seine
Tagesordnung setzt. Da kann man sich gut vorstellen,
mit welcher Dringlichkeit das Votum des mitberatenden
Familienausschusses angefordert worden ist.
Andererseits - das muss man an dieser Stelle auch sagen - hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen selbst beantragt, die weiteren Beratungen zu vertagen. Sich dann
nach wochenlangem Warten hinzustellen und nach dem
Stand der Beratungen zu fragen, ist schon ein bisschen
seltsam.
({0})
Ich finde, Ihr Umgang mit einem so sensiblen und emotional besetzten Thema ist ein Armutszeugnis für die
parlamentarische Arbeit.
({1})
Inzwischen liegen auch Anträge der SPD zum Sorgerecht vor. Meine Fraktion wird nächste Woche einen Antrag zur Neuregelung des Sorgerechts ins Parlament einbringen,
({2})
der dann möglicherweise die von allen geforderte Brücke zwischen den einzelnen Anträgen schlägt, damit wir
zügig zu einer Neuregelung kommen. Ich hoffe, dass die
heutige Debatte dazu beiträgt, die Beratungen der Anträge noch vor der Sommerpause zu ermöglichen und die
beste Lösung für die betroffenen Kinder und Eltern zu
finden. Denn es ist unsere Aufgabe, für die Probleme der
Menschen in diesem Land zügig Lösungen zu finden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute im Bundestag, aufgrund unseres Geschäftsordnungsantrags, zu unserem Antrag „Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern“. Leider ist diese Debatte mehr als
notwendig.
Wir erinnern uns: Vor zwei Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass
die deutsche Regelung zum Sorgerecht für unverheiratete Väter eine ungerechtfertigte Benachteiligung gegenüber Müttern und verheirateten Vätern darstellt. Kurz
danach hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt,
dass die betreffenden familienrechtlichen Normen das
Elternrecht aus Art. 6 Grundgesetz verletzen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber, also uns,
die Neuregelung des Sorgerechts aufgegeben und bis dahin eine Übergangsregelung verfügt.
Vor über einem Jahr, im Januar 2011, haben wir hier
bereits über unseren Antrag zur Neuregelung des Sorgerechts diskutiert. Damals waren sich alle Fraktionen einig, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
zügig umgesetzt werden müssen. In der Debatte sagte
zum Beispiel Frau Granold von der CDU, dass in Kürze
ein eigener Gesetzentwurf vorgelegt werden könne.
({0})
Im Februar 2011 war zu hören, dass sich die Koalition
nach intensiven Gesprächen und Diskussionen auf einen
Kompromissvorschlag der Bundesjustizministerin einigen konnte. Heute schreiben wir den 2. März 2012, und
Fakt ist: Ein solches Gesetz gibt es nach wie vor nicht.
Die mehrfachen Ankündigungen, auch im Rechtsausschuss, haben sich als leere Sprechblasen entpuppt. Die
schwarz-gelbe Regierung schafft es, dass eine Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte wie eine Nebensache behandelt
wird, und das nicht zum ersten Mal.
({1})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich fordere Sie auf, endlich tätig zu werden und für
die vielen betroffenen Kinder und Väter eine Regelung
zu schaffen. Denn eine Gesetzeslage, die gegen das
Grundgesetz verstößt, muss so schnell wie möglich beseitigt werden.
({2})
Sie können sich nicht länger auf der Übergangslösung
des Bundesverfassungsgerichts ausruhen. Wenn die heutige Debatte dazu beiträgt, dass wir seitens der Regierungskoalition und seitens der Linken Anträge und Gesetzentwürfe vorgelegt bekommen,
({3})
über die wir hier diskutieren können, dann hätte sich die
Debatte am heutigen Freitagnachmittag tatsächlich gelohnt.
({4})
Wir Grünen meinen jedenfalls, dass der derzeitige
Zustand nicht befriedigend ist; denn alle Kinder haben
ein Recht darauf, dass beide Eltern für sie Verantwortung übernehmen. Das gilt unabhängig davon, ob diese
Eltern verheiratet sind oder nicht. Dieses Recht drückt
sich auch und gerade im Sorgerecht aus, meine Damen
und Herren.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, diese Thematik betrifft eine Vielzahl von Einzelschicksalen. Darunter leiden nicht nur die benachteiligten Väter, sondern auch die Kinder und in letzter
Konsequenz auch die Mütter. Wenn Sie sich unseren Antrag zu diesem Thema genau anschauen, dann werden
Sie sehen: Er bietet eine gute Grundlage für eine ausgewogene und gerechte Lösung in der Sorgerechtsfrage.
Deshalb wiederhole ich meine Aufforderung: Handeln
Sie schnell und in diesem Sinne! Dann haben Sie unsere
Unterstützung.
Vielen Dank.
({6})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun das Wort die Kollegin Caren Marks von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte um das elterliche Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern macht eines ganz deutlich: Es ist
definitiv an der Zeit, dass die Bundesjustizministerin
endlich ein Gesetz vorlegt, um den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen,
({0})
und zwar so umzusetzen, dass sich darin die heutige Lebenswirklichkeit aller Eltern und Kinder widerspiegelt.
Denn diese Wirklichkeit ist durch eine Zunahme der
Zahl nicht miteinander verheirateter Eltern geprägt. Alle
Eltern, egal ob mit oder ohne Trauschein, haben eine gemeinsame Verantwortung für die Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder. Der dazugehörende rechtliche
Rahmen muss durch uns, den Gesetzgeber, festgelegt
werden.
Wir alle wissen aber auch: Das Ziel der gemeinsamen
Sorge wird in der Realität nicht immer erreicht. Es gibt
natürlich die sogenannten Konfliktfälle, in denen sich
beispielsweise Väter nicht kümmern oder aber Mütter
dies nicht zulassen. An dieser Stelle finde ich den Lösungsvorschlag der Grünen nicht richtig, da dieser eine
gemeinsame Sorge erschwert, weil ein Elternteil einen
Antrag stellen oder Widerspruch einlegen muss, wenn
die gemeinsame Sorge nicht gewünscht ist. Wir, die
SPD-Bundestagsfraktion, haben ein eigenes Modell entwickelt, das wir zu einem anderen Zeitpunkt ausführlich
hier im Plenum debattieren werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher fällt die Sorgerechtsverantwortung in Deutschland bei Unverheirateten kraft Gesetzes automatisch der Mutter zu. Väter können sich dieser Verantwortung schon durch die
Nichtabgabe der Sorgeerklärung ohne Weiteres entziehen. Wir denken, das muss sich ändern.
({1})
Eine gemeinsame Sorge stärkt die Partnerschaftlichkeit von Müttern und Vätern. Sie ist auch ein Beitrag zu
mehr Gleichstellung. Vor allem aber stärkt es die Kinder,
wenn Eltern die gemeinsame Sorge haben und diese
auch wirklich wahrnehmen. So ist nach einer Scheidung
dem Kindeswohl in der Regel am besten gedient, wenn
beide Elternteile das Sorgerecht weiter gemeinsam und
einvernehmlich ausüben. Davon machen die meisten Eltern Gebrauch. Die entsprechende Regelung der Kindschaftsrechtsreform von 1998 gilt - ich denke, unbestritten - als ein wirklicher Erfolg. Denn häufig führt die
Ausübung der gemeinsamen Sorge zu stabilen Beziehungen zwischen Kindern und dem getrennt lebenden
Elternteil - das ist heute meistens noch der Vater - sowie
zu regelmäßigeren Unterhaltszahlungen.
Bei der notwendigen Neuregelung dürfen wir als Gesetzgeber nicht zuerst die Eltern im Blick haben, sondern
müssen das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen.
Schließlich sind die Kinder bei dieser Regelung die eigentlich Betroffenen. Bisher erfahren uneheliche Kinder
immer noch Diskriminierungen in unserer Gesellschaft,
wie eben auch beim Thema Sorgerecht. Die Ausrichtung
am Kindeswohl darf nicht erst durch Entscheidungen
von Gerichten Bedeutung erlangen, sondern sollte das
Anliegen der Eltern, aber auch des Gesetzgebers sein.
Darum ist es Zeit, dass Schwarz-Gelb hier endlich handelt. Wir freuen uns jedenfalls, wenn es wirklich endlich
dazu kommt - Sie haben es angedeutet -, dass SchwarzGelb etwas vorlegt. Ich denke, die Eltern, aber vor allem
die Kinder in unserem Land haben es verdient.
Als letzte Rednerin in dieser Sitzungswoche wünsche
ich meinen Kolleginnen und Kollegen ein gutes Wochenende, wahrscheinlich mit vielen Wahlkreisterminen.
Ich mache heute sozusagen das Licht aus. Ich wünsche
Ihnen alles Gute.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Da wir keine Abstimmung vorzunehmen haben, sind
wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. März 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.