Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/2/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere heutige Sitzung eintreten, weise ich Sie auf die interfraktionelle Vereinbarung hin, den Gesetzentwurf zur Neuordnung des Energieverbrauchskennzeichnungsrechts auf Drucksache 17/8427 dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nachträglich zur Mitberatung zu überweisen. Hat jemand dagegen schwerwiegende Bedenken? - Das ist nicht der Fall. Dann beschließen wir das so. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum besseren Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Kostenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr - Drucksache 17/7745 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/8805 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Marianne Schieder ({1}) Halina Wawzyniak Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. ({2})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute ein Gesetz, das den Verbraucherinnen und Verbrauchern wirklich nützt und das ihnen hilft. Viele sind in den letzten Monaten Opfer von sogenannten Kosten- bzw. Abofallen im Internet geworden; davon sollen 5 Millionen Bürgerinnen und Bürger betroffen sein. ({0}) Wir haben erkannt, dass die derzeit bestehenden Schutzmechanismen einfach nicht ausreichen, wenn es darum geht, zu verhindern, dass Verträge unter falschen Voraussetzungen oder wegen eines Irrtums abgeschlossen werden. Die Möglichkeiten von Widerruf oder Anfechtung wegen arglistiger Täuschung reichen allein nicht aus, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen. Deshalb beschließen wir heute im Bundestag - ich hoffe mit großer Mehrheit - ein Gesetz, das die Verbraucherinnen und Verbraucher stärkt. Dieses Gesetz beschließen wir so zügig, wie es uns angesichts der Gesetzgebung auf europäischer Ebene möglich war. Wir mussten zunächst die EU-Verbraucherrechterichtlinie abwarten. Diese ist im Oktober 2011 im Europäischen Rat beschlossen worden. Sofort danach ist dieser Gesetzentwurf von uns eingebracht worden. ({1}) Nun zum Inhalt des Gesetzentwurfs. Sachverständige und Praktiker haben uns aufgefordert, eine einfache, klare, verständliche und technikneutrale Regelung vorzulegen. Genau dazu enthält der vorliegende Gesetzentwurf unmissverständliche, klarstellende Regelungen: Erstens. Unternehmer müssen Verbraucherinnen und Verbraucher im unmittelbaren Zusammenhang mit der Bestellung im Internet über die wesentlichen Merkmale des Produktes, über den Preis, weitere Kosten sowie bei Dauerschuldverhältnissen, also Abonnements, über die Mindestlaufzeitzeit des Vertrags informieren. Das alles muss klar, verständlich, in hervorgehobener Weise und unmittelbar bevor der Verbraucher seine Erklärung abgibt, dass er etwas bestellen und kaufen will, erfolgen. Das darf nicht an versteckter Stelle irgendwo auf dem Bildschirm erscheinen; das reicht nicht aus. Zweitens. Unternehmer müssen deshalb ihre Onlineshops so gestalten, dass Verbraucher bei ihrer Bestellung ausdrücklich bestätigen, dass sie sich zu einer Zahlung verpflichten. Die Schaltfläche für die Bestellung am Computer, der Bestellbutton, muss unmissverständlich und gut lesbar auf diese Zahlungspflicht hinweisen. Eine Schaltfläche mit der Aufschrift „Kostenpflichtig bestellen“ macht jedem Verbraucher sofort klar, auf was er sich einlässt, was die Rechtsfolge seiner Bestellung ist. ({2}) Diese Pflicht gilt für alle Vorgänge der Onlinebestellung von Waren und Dienstleistungen. Ausnahmen und Schlupflöcher, die zur Verunsicherung der Verbraucherinnen und Verbraucher führen könnten, gibt es nicht. Die Pflicht gilt technikneutral für Käufe per Computer, Smartphone oder Tablet. Drittens. Erfüllt der Unternehmer diese Pflicht zur eindeutigen Beschriftung nicht, kommt - das ist ganz entscheidend - ein entgeltpflichtiger Vertrag mit einem Verbraucher gar nicht erst zustande. Ohne einen solchen eindeutig beschrifteten Button gibt es eine klare, eindeutige und, wie ich finde, auch angemessene Rechtsfolge: Der Verbraucher schuldet keine Zahlung. Die Unternehmer können diese gesetzlichen Vorgaben zur Beschriftung der Bestellschaltfläche gut erfüllen; das geht. Natürlich ist das mit zusätzlichem Aufwand verbunden; aber der ist eindeutig vertretbar. Meine Damen und Herren, das Risiko, dass Verträge wegen falscher Beschriftung des Bestellbuttons ungewollt nicht zustande kommen, ist deshalb hoffentlich ganz gering; wir haben die gesetzliche Regelung entsprechend ausgestaltet. ({3}) Wir schaffen also mehr Transparenz und mehr Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung des Verbrauchers, aber nicht der einzige, den wir als Bundesregierung vorhaben: Wir werden noch im Frühjahr Regelungen vorlegen, mit denen wir Konsequenzen aus der unerlaubten Telefonwerbung ziehen; damit haben wir uns in diesem Hause auch in vergangenen Legislaturperioden oft befasst. Wir werden auch Regelungen zu unseriösen Inkassodienstleistungen und zu überzogenen Abmahnungen im wettbewerbsrechtlichen und urheberrechtlichen Bereich vorlegen. Wir unternehmen jetzt also einen ersten, wichtigen, großen Schritt zur Stärkung des Verbrauchers, und es werden weitere folgen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Marianne Schieder hat nun das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frei nach Klaus Lage - „… und es hat zoom gemacht“ - schreibt der Verbraucherzentrale Bundesverband in einer Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf: „Und es hat ‚klick‘ gemacht …“ Genau so ist es: Tausendmal ist nichts passiert, aber mit einem kurzen Klick auf einer unseriösen Internetseite fallen unzählige Verbraucherinnen und Verbraucher auf betrügerische Abofallen im Internet herein. Die Hände reiben sich dann auch dubiose Inkassofirmen, die häufig mit diesen kriminellen, betrügerischen Abohändlern unter einer Decke stecken. Im Dezember letzten Jahres hat der Verbraucherzentrale Bundesverband eine Untersuchung veröffentlicht, die genau dies belegt: 5,4 Millionen Menschen, das sind 11 Prozent aller deutschen Internetnutzer, sind auf eine Abofalle hereingefallen. Zum vierten Mal diskutieren wir nun über dieses Thema hier in diesem Haus. Aber immerhin geht jetzt endlich etwas voran. Hätten Sie aber, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der Union und der FDP, unserem Gesetzentwurf vor über einem Jahr zugestimmt und ihn nicht abgelehnt, könnten wir schon erheblich weiter sein. ({0}) Vielen Menschen in unserem Land wären dann viel Ärger und viele Ausgaben erspart geblieben. Nun beschließen wir endlich den Gesetzentwurf der Bundesregierung - einen Gesetzentwurf, der die Forderungen der SPD aufgreift; deshalb werden wir ihm zustimmen. Vollkommen unerklärlich ist es uns aber, warum Sie diese Gelegenheit nicht genutzt haben, um den unseriösen Inkassobüros das Handwerk zu legen. ({1}) Es ist wirklich sehr schade, dass Sie diese Chance, für mehr und umfassenderen Verbraucherschutz zu sorgen, vertan haben. Noch ein Wort zu den Interessenvertretern. Da beklagt doch tatsächlich der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten - kurz VATM -, die im Gesetzentwurf vorgesehene Umsetzungsfrist von drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes sei zu knapp. Man brauche eine Schonfrist von zwei Jahren oder zumindest von einem Jahr. Meine Damen und Herren vom VATM, diese Schonfrist hatten Sie doch schon. Es muss doch in den letzten zwei Jahren auch bei Ihnen angekommen sein, was allen klar ist, die sich jemals mit dieser Thematik beschäftigt haben: dass es längst an der Zeit ist, hier eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Marianne Schieder ({2}) Äußerst ärgerlich aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, ist es, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf im Omnibusverfahren nun auch das Wohnungseigentumsgesetz ändern wollen. ({3}) Sie wollen die Verlängerung der Frist für den Ausschluss der Nichtzulassungsbeschwerde um mehr als zwei Jahre, nämlich vom Enddatum 1. Juli 2012 auf das Enddatum 31. Dezember 2014 ausweiten. Gemäß § 62 Abs. 2 Wohnungseigentumsgesetz ist die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 543 Abs. 1 Nr. 2 und § 544 der ZPO in Wohnungseigentumssachen nach § 43 Nr. 1 bis 4 Wohnungseigentumsgesetz - nicht statthaft, soweit die anzufechtende Entscheidung vor dem 1. Juli 2012 verkündet wurde. Sinn und Zweck von § 62 Abs. 2 Wohnungseigentumsgesetz war es, einer Überlastung des Bundesgerichtshofs vorzubeugen. Sie konnten weder im Berichterstattergespräch noch im Rechtsausschuss überzeugend darlegen, warum Sie diese Beschränkung des Rechtswegs um weitere zwei Jahre verlängern wollen. Diese ebenfalls geplante Gesetzesänderung hat mit dem eigentlichen Gesetzesvorhaben, nämlich dem verbesserten Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern vor Kostenfallen im Internet, gar nichts zu tun. Daher haben wir im Rechtsausschuss unsere Kritik am Verfahren an sich, aber auch an der Fristverlängerung als solcher deutlich zum Ausdruck gebracht und die geplante Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes abgelehnt. Der längst überfällige und von uns lange geforderte Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor den Kostenfallen im Internet ist uns aber so wichtig, dass wir dennoch, wenn auch mit Bauchschmerzen im Hinblick auf die Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes, zustimmen werden. Wir meinen, die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land haben es verdient, dass jetzt endlich gehandelt wird. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Marco Wanderwitz ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz setzen wir ein weiteres wichtiges rechts- und verbraucherpolitisches Vorhaben der christlich-liberalen Koalition um. Wir stellen damit auch unter Beweis, dass wir die neuen Herausforderungen der digitalen Welt annehmen und mit maßgeschneiderten rechtlichen Regelungen für mehr Rechtssicherheit bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern sorgen. Kostenfallen sind für viele Millionen Menschen in unserem Land - das haben wir schon in der ersten Lesung besprochen - ein großes Übel geworden. Die Ministerin und Frau Kollegin Schieder haben schon darauf hingewiesen, was sich hinter dem Begriff Kostenfallen so alles verbirgt. In wenigen Worten: im Internet angebotene Dienstleistungen zumeist, von denen man annimmt und, so wie die Internetseiten gestaltet sind, annehmen muss, dass sie kostenfrei sind; diese Dienstleistungen werden oft als gratis beworben. Aus dem Kleingedruckten geht dann allerdings hervor, dass man sich beim Kauf dieser Dienstleistungen eine Forderung einhandelt. Viele von uns kennen solche Fälle aus eigenem Erleben, aus dem Familien- oder Bekanntenkreis. Aus Ärger über sich selbst und über die eingetretene Situation, aus Ungewissheit und natürlich aus der Scheu, wegen einer meist nicht sehr hohen, aber dennoch beachtlichen Forderung - häufig handelt es sich um ungefähr 100 Euro zum Anwalt zu gehen, zahlen am Ende viele. Eine aktuelle Infas-Studie belegt, dass bereits über 5 Millionen Menschen in unserem Land in Abofallen geraten sind. Jeder Zehnte zahlt sofort und jeder Fünfte, sobald er eine Mahnung oder Drohung bekommt. Angesichts dieser Zahlen bekommen wir schnell ein Gefühl dafür, wie groß dieses Problem ist, wie sehr dieser Markt im negativen Sinne prosperiert. Durch die ständig wiederholte und auch heute wieder vorgetragene Untätigkeitsschelte seitens der Opposition wird nichts besser. ({0}) Wir haben bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir in diesem Bereich etwas tun wollen. ({1}) Wir haben frühzeitig darauf hingewiesen, dass wir eine Regelung auf europäischer Ebene brauchen. Die Kostenfallen sind ein europäisches Problem, und es macht daher nur Sinn, gemeinsam mit unseren Nachbarländern eine Lösung zu finden. Wir haben also nicht nichts gemacht, sondern wir haben auf die kürzlich verabschiedete EU-Richtlinie, die Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger angesprochen hat, Einfluss genommen. ({2}) Die Ministerinnen Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger, die heute anwesend sind, haben an der Erstellung der EU-Richtlinie maßgeblich mitgewirkt. Die Schaltflächenlösung, die jetzt implementiert worden ist, wurde von Deutschland vorangetrieben. Es ist sinnvoll, dass wir uns darauf geeinigt haben, dass wir auf den Erlass der EU-Richtlinie warten, bevor wir auf nationaler Ebene eine Regelung einführen, die wir wenige Monate später revidieren müssen. Den seriösen Anbietern sind einmalig höhere Bürokratiekosten zuzumuten; aber es ihnen nicht zuzumuten, drei Monate später noch einmal für diese Kosten aufkommen zu müs19378 sen, nur weil man einen Schnellschuss gemacht hat; das wäre nicht sinnvoll gewesen. Deshalb haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen parallel zur Erstellung der EU-Richtlinie den vorliegenden Gesetzentwurf erarbeitet, damit er zeitnah nach Verabschiedung dieser Richtlinie eingebracht werden kann. Die europarechtlich zulässige, partielle und zeitlich vorgezogene Umsetzung einer vollharmonisierten Richtlinie müssen wir innerhalb von weniger als zwei Jahren - bis zum 13. Dezember 2013 - vollziehen. Die Tatsache, dass wir so schnell arbeiten, zeigt, wie wichtig uns dieses Thema ist. ({3}) Dem vorliegenden Gesetzentwurf liegt die sogenannte Schaltflächenlösung zugrunde: Ein Vertrag kommt nur zustande, wenn am Ende einer Bestellung im Internet eine finale Schaltfläche aufpoppt, in der mit der Formulierung „Zahlungspflichtig bestellen“ oder einer ähnlich unmissverständlichen Formulierung klargestellt ist: Hier entstehen dem Verbraucher Kosten. Das Unternehmen muss die Bestellsituation im elektronischen Geschäftsverkehr so gestalten, wie es außerhalb des elektronischen Geschäftsverkehrs zu sein hat. Der Verbraucher muss durch Anklicken ausdrücklich bestätigen, dass er erkannt hat, dass Kosten auf ihn zukommen. Ebenso wichtig ist, dass der Verbraucher unmittelbar vor Abgabe der Bestellung durch den Unternehmer über wesentliche Merkmale des Produkts sowie über Mindestlaufzeit und entstehende Kosten - Gesamtpreis, Liefer- und Versandkosten - informiert wird. Stichwort Abofallen: Es ist oft so, dass dem Verbraucher suggeriert wird, dass er einmalig eine Dienstleistung erwirbt; dabei handelt es sich um ein über Jahre laufendes Abo. All das muss oberhalb der Schaltfläche „Bestellbutton“ in hervorgehobener Weise abgebildet sein. Die rechtlichen Konsequenzen hat die Frau Ministerin schon angesprochen. Die neue Regelung ist ein großer Gewinn für die Verbraucherinnen und Verbraucher, denn die Verbraucher müssen nicht mehr selber die nötigen Schritte einleiten - das haben wir in der Anhörung diskutiert -; vielmehr sieht die Regelung vor: Wenn die Gestaltungspflichten nicht erfüllt sind, dann kommt von vornherein kein Vertrag zustande. Der Verbraucher muss also nicht vom Vertrag zurücktreten. Wer als Anbieter seine Informationspflichten nicht erfüllt, dem drohen Abmahnungen und Schadenersatzansprüche. Das Ganze ist also ein scharfes Schwert. Im parlamentarischen Verfahren, insbesondere bei der Expertenanhörung im Rechtsausschuss, die ich als sehr fruchtbar empfand, wurden vonseiten der Wissenschaftler und der Richterschaft verschiedene Modifizierungsvorschläge angeregt und praxisnah diskutiert. In dem Berichterstattergespräch am Montag habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir uns relativ einig sind. Vorgestern legten die Grünen aber einen Entschließungsantrag vor, wodurch dieser Eindruck nachträglich getrübt wurde. Ich will ein paar Sätze zu den Details dieses Entschließungsantrags sagen. Sie fordern eine ausdrückliche gesetzliche Normierung. Sie fordern, dass die Unternehmer einen rechtsgültig zustande gekommenen Vertrag nachzuweisen haben. Sie fordern also ausdrücklich eine Beweislastregel. Das ist zum einen unnötig, zum anderen unüblich, ganz einfach deshalb, weil sich die Beweislastverteilung aus der Formulierung der Vorschrift ergibt. Will der Unternehmer einen vertraglichen Zahlungsanspruch geltend machen, muss er entsprechend den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen den Beweis erbringen; der Gläubiger muss also die den Anspruch begründenden Tatsachen darlegen. Weiterhin fordern Sie wissenschaftliche und rechtliche Prüfungen bezüglich der Musterschaltfläche; das haben wir in der Anhörung besprochen. Ich gebe offen zu auch ich habe eine Frage gestellt, die in diese Richtung zielt -: Charmant wäre das. Gleichwohl passt diese Forderung überhaupt nicht zu Ihrer Forderung nach Technikneutralität. Denn selbst wenn es gelänge, eine Musterschaltfläche für den klassischen PC zu entwickeln, ist es schlechterdings nicht denkbar, diese zum Beispiel auf einem Tablet oder einer Spielekonsole in derselben Form darzustellen. Deswegen glauben wir, dass die Forderung nach einer Musterschaltfläche, so wünschenswert sie ist, schlicht nicht umsetzbar ist. Außerdem ist sie, wie gesagt, mit Ihrer Forderung nach Technikneutralität nicht in Einklang zu bringen. Zum Thema Technikneutralität hat die Ministerin schon etwas gesagt. Ich will noch einmal betonen - das steht auch in der Begründung des Gesetzentwurfs -, dass eine Technik bzw. ein Endgerät ausdrücklich nicht erwähnt wurde. Insofern ist diese Regelung technikneutral. Dementsprechend sind weitere Formulierungen überflüssig. Ich halte Ihren gesamten Entschließungsantrag für überflüssig. Mir ist klar, dass er nicht von den Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern der Grünen kommt. Wir werden ihn ablehnen. ({4}) Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mir wichtig ist - Frau Schieder hat ihn bereits erwähnt -: Hinsichtlich der unseriösen Inkassounternehmen müssen wir etwas unternehmen. ({5}) - Ja, da müssen wir etwas tun. - Allerdings gibt es nicht nur unseriöse Inkassounternehmen, sondern auch seriöse Inkassounternehmen. Das sollten wir an dieser Stelle auch sagen. ({6}) - Nein, sie verschwinden nicht in der Masse. Es gibt eine ganze Menge seriöser Inkassounternehmen; es gibt auch eine ganze Menge Menschen in diesem Land, die Schulden haben und sie nicht bezahlen. Gleichwohl müssen wir hinsichtlich der unseriösen InkassounternehMarco Wanderwitz men etwas unternehmen. Die Koalition wird in Kürze etwas dazu vorlegen. ({7}) Wir werden also sehr bald darüber verhandeln können. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Abofallen im Internet sind ein großes Problem. Deswegen haben wir in den vergangenen Jahren hier schon mehrfach darüber diskutiert. Was scheinbar gratis angeboten wird, wird schnell, durch ein paar Mausklicks, zu einem teuren Abo. Will man sich beispielsweise gratis einen Songtext herunterladen, ist man nach wenigen Mausklicks ein teures Jahresabonnement für ein Horoskop eingegangen. Deswegen ist es völlig unerlässlich, dass die Bundesregierung handelt, dass der Bundestag handelt, dass dieser Abzocke im Internet endlich ein Riegel vorgeschoben wird. ({0}) Die Möglichkeiten, versteckte Kostenfallen im Internet unterzubringen, sind sehr vielfältig. Einige unseriöse Unternehmen haben sehr viel Kreativität entwickelt leider an der falschen Stelle. Dabei geht es, wie gesagt, um Songtexte, um Kochrezepte, um Psychotests oder um Horoskope. Hier ist man vor Abzocke im Internet in der Tat nicht sicher. Diese perfide Abzocke im Internet findet seit vielen Jahren statt. Sie schädigt Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher. 5,5 Millionen Menschen sind nach Schätzungen der Verbraucherzentralen davon betroffen. Es wird höchste Zeit, dass diese Abzocke im Internet endlich beendet wird. ({1}) Ich habe schon gesagt, dass wir hier seit Jahren über dieses Thema diskutieren. Schon vor anderthalb Jahren ist an dieser Stelle über einen Gesetzentwurf der SPD diskutiert worden. Dieser Gesetzentwurf wurde von der Koalition abgelehnt. Die Linke hat dieses Thema bereits in der letzten Legislaturperiode eingebracht. Deswegen komme ich nicht darum herum, mich zu fragen, warum es so lange gedauert hat, bis die Bundesregierung diesbezüglich eine Regelung vorgeschlagen hat. ({2}) Ich frage erneut: Was ist in der Koalition los? ({3}) Ministerin Aigner lässt seit Jahren kein Mikrofon aus, um etwas zu diesem Thema zu sagen; gehandelt hat sie gleichwohl nicht. Die Justizministerin sagte vorhin, das Thema sei seit einigen Monaten bekannt. Immerhin hat sie jetzt gehandelt. Ich sage: Durch diese Zeitverzögerung liegt der Schaden für die Verbraucherinnen und Verbraucher im mehrstelligen Millionenbereich. Das wäre nicht nötig gewesen. ({4}) Auch das Argument, man müsse eine europäische Regelung abwarten, ist aus meiner Sicht nicht zielführend. Anträge und Gesetzentwürfe lagen vor, um zumindest das zu regeln, was auf nationaler Ebene möglich gewesen wäre - es gibt keinen Grund, warum man dies nicht getan hat -; dies wäre im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher gewesen. Das Schneckentempo der Bundesregierung in dieser Frage ist der Entwicklung im digitalen Zeitalter einfach nicht angemessen. Das Internet entwickelt sich in Lichtgeschwindigkeit, und die Bundesregierung sattelt die Pferde, um hinterherzukommen. So funktioniert das nicht. Das muss in Zukunft schneller gehen. ({5}) Hinzu kommt: An einigen Stellen lässt der Gesetzentwurf der Bundesregierung die Klarheit vermissen, die wir uns gewünscht hätten und die aus meiner Sicht auch nötig gewesen wäre. Die Empfehlungen der Experten wurden an einigen Stellen nicht ausreichend berücksichtigt. Das wird auch in dem vorliegenden Entschließungsantrag kritisiert, dem wir als Linke zustimmen werden. Ich nenne einige Beispiele. Abzocke im Internet und unseriöses Inkasso gehören zusammen. ({6}) Aus einer ursprünglichen Forderung von 20,84 Euro wird mithilfe unseriöser Inkassounternehmen schnell eine Forderung von 1 200 Euro. Die Verbraucherzentralen haben in einer Auswertung festgestellt, dass nur 1 Prozent dieser Forderungen berechtigt war. Wir haben schon bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes über dieses Thema diskutiert. Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition haben das Problem nach eigenen Aussagen erkannt. Deswegen frage ich mich: Warum wurde die Gelegenheit nicht genutzt, um dieses Problem gesetzlich auszuräumen? Auch hier ist die Bundesregierung in der Pflicht. Durch Untätigkeit werden Verbraucherinnen und Verbraucher geschädigt. Bei dem Thema unseriöses Inkasso muss schnellstmöglich gehandelt werden. ({7}) Der zweite Kritikpunkt, den ich anbringen möchte - auch dies hat schon eine Rolle gespielt -, betrifft die Ausgestaltung der Schaltflächen. Um Verbraucherinnen und Verbraucher ausreichend vor Kosten warnen zu können, sollte nach unserer Auffassung nicht nur eindeutig darüber informiert werden, dass sie zahlen müssen, sondern auch darüber, wie viel sie zahlen müssen. Diese Schaltfläche müsste immer separat betätigt werden. Das ist beispielsweise in Frankreich schon so üblich. Deswegen sind Kostenfallen im Internet dort kein Thema. Bei uns hingegen geht es bei 20 bis 30 Prozent der Beschwerden, die Verbraucherinnen und Verbraucher an die Verbraucherzentralen richten, um dieses Problem. Auch das zeigt, dass man auf nationaler Ebene deutlich mehr hätte tun können. ({8}) Die Forderung nach einer Musterschaltfläche, damit Unternehmen die Schaltflächen nicht bis zur Unkenntlichkeit kaschieren können, ist unerlässlich. Wir schließen uns dieser Forderung an. ({9}) Eine weitere Forderung in dem Entschließungsantrag ist - auch diese Auffassung teilen wir - die nach der Beweislastumkehr. Es muss eindeutig geregelt sein, dass es die Pflicht der Unternehmen ist, die Rechtmäßigkeit der Verträge zu beweisen, und dass nicht die Verbraucherinnen und die Verbraucher, die durch die vielen Regelungen im Internet ohnehin schon überfordert sind, nachweisen müssen, dass sie im Recht sind. Gegen Ende meiner Rede komme ich zur bereits erwähnten Technikneutralität. Die Zeiten, in denen man das Internet zu Hause oder am Arbeitsplatz an großen grauen Computern nutzte, sind vorbei. Immer mehr nutzen auch Smartphones und iPads - sie sind unsere ständigen Begleiter -, um im Internet zu surfen. Untersuchungen zeigen, dass über ein Drittel der Bevölkerung von unterwegs auf das Internet zugreift. Es ist also nicht auszuschließen, dass man zum Beispiel bei der Internetnutzung, während man in der U-Bahn ist, in eine Abofalle tappt. Angesichts dessen muss sichergestellt werden, dass diese Internetbuttons auch für Smartphones gelten. Das ist eigentlich selbstverständlich. ({10}) Ich komme zum Schluss. Die Vorschläge der Bundesregierung sind an zu vielen Stellen nicht präzise genug, um die Verbraucherinnen und Verbraucher vor Abzocke im Internet zu schützen. Auf der Zielgeraden kamen dann noch völlig sachfremde Themen hinzu. Was die Neuregelung des Wohnungseigentumsgesetzes mit Abzocke im Internet zu tun hat, das kann mir kein Mensch erklären. Auch für das Omnibusverfahren haben wir kein Verständnis. ({11}) Moderne und effektive Verbraucherpolitik muss präziser sein. Sie muss sich auf die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher stellen. ({12}) Sie darf nicht davor zurückschrecken, Herr Kollege, sich auch mit Unternehmen anzulegen. ({13}) Vor allen Dingen muss sie schneller sein. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ingrid Hönlinger ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internet und Verbraucherschutz ist ein Thema, das viele Menschen betrifft. In den Verbraucherzentralen sind Fälle der Internetabzocke seit fünf Jahren der Spitzenreiter in der Beschwerdestatistik. Tausende von Beschwerden gehen hier jährlich ein. Unzählige Verbraucher fühlen sich schutzlos gegenüber unseriösen Unternehmern, die die Kostenpflichtigkeit ihrer Angebote im Internet verschleiern. Verbraucherschutz und Internet, das ist ein echtes Massenphänomen, ein Phänomen, das auch eine erhebliche Belastung der Gerichte zur Folge hat. Heute stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der Verbraucher vor genau diesen unseriösen Praktiken schützen soll. Wir setzen damit in Deutschland eine EU-Richtlinie um. Erfreulich ist, dass wir die Frist zur Umsetzung der Richtlinie nicht abwarten, sondern es schon jetzt machen. ({0}) Das verhindert, dass noch mehr Verbraucher Opfer von Internetfallen werden. Allerdings haben wir dieses Thema am 2. Dezember 2010 schon einmal debattiert. Mehr als ein Jahr hat es gedauert, bis wir jetzt über den Gesetzentwurf abstimmen können. Weniger erfreulich ist, dass wir nicht früher handeln konnten. ({1}) Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Im Internet ist die Zeit zwischen optischem Reiz und Kaufklick extrem kurz. In einem Lebensmittelgeschäft zum Beispiel ist das ganz anders. Da können Sie auch einmal eine Dose Mango in die Hand nehmen, schauen, wie viel Zucker drin ist, und die Dose bei Nichtgefallen wieder ins Regal stellen. Das muss in ähnlicher Form auch im Internet möglich sein. ({2}) Wir sind der Meinung, dass die Umsetzung der sogenannten Buttonlösung für Vertragsabschlüsse im Internet einen richtigen Schritt darstellt. Wenn der Button zu sehen ist, sind dem Nutzer und der Nutzerin das Produkt und der Gesamtpreis klar. Er und sie wissen dann: Jetzt wird es ernst, jetzt tippt der Verkäufer die Rechnung ein, jetzt kostet es Cash. Die Buttonlösung ist ein Verbraucherschutzinstrument, für das wir Grüne uns seit langem einsetzen. Wir werden dem Gesetzentwurf, der die ButIngrid Hönlinger tonlösung vorsieht, zustimmen, weil wir damit den Verbraucherschutz im Internet stärken. ({3}) Aus verbraucherpolitischer Sicht hätten wir uns aber mehr von der Bundesregierung gewünscht. ({4}) Es geht hier um einen Gesetzentwurf, der einzig und allein die Stärkung des Verbraucherschutzes zum Ziel hat. Deshalb sollten wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern alle Möglichkeiten an die Hand geben, ihre Rechte zu erkennen und durchzusetzen. ({5}) Unser Ziel ist es, den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Internet ein Instrument an die Hand zu geben, das ihnen klar und deutlich ihre Rechte vor Augen führt. Dazu gehört Folgendes: Erstens. Die EU-Richtlinie gibt vor, dass der Unternehmer die Beweislast dafür trägt, dass er seine Informationspflichten im Internet erfüllt hat. Nach den Regelungen der Zivilprozessordnung ist klar: Wer eine Geldforderung einklagt - das ist im Regelfall der Unternehmer -, trägt die Beweislast dafür, dass der Vertrag im Internet wirksam zustande gekommen ist. Für den juristischen Laien ergibt sich das aus der vorgeschlagenen Regelung aber nicht auf den ersten Blick. Deshalb ist hier aus unserer Sicht eine Klarstellung erforderlich. ({6}) Zweitens. Technische Entwicklungen sind schnelllebig; das wissen wir alle. Wir müssen deshalb ein Auge darauf haben, dass Internetanbieter neuere Entwicklungen nicht dazu nutzen können, ihre Pflichten zu umgehen. Auch eine Musterschaltfläche erscheint uns sinnvoll. Wir meinen, dass wir die Verbraucherinnen und Verbraucher damit noch besser vor unseriösen Anbietern, die ganz bewusst nach Umgehungsmöglichkeiten suchen, schützen können. ({7}) Drittens. Wir treffen jetzt Regelungen, um unseriöse Internetangebote zu verhindern. Es wäre sinnvoll gewesen, dies mit Regelungen zu unseriösen Inkassomaßnahmen zu verbinden. Häufig ist es doch so: Auch wenn der Klick im Internet nicht zu einem Vertragsabschluss führt, gibt es manche Internetanbieter, die ihre vermeintliche Forderung Inkassounternehmen zum Einzug übergeben. Diese senden Mahnungen an die Verbraucher. Die Verbraucher fühlen sich eingeschüchtert und zahlen. Hier brauchen wir dringend eine gesetzliche Regelung, die unseriösem Inkassogebahren Einhalt gebietet. ({8}) Mit der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf stimmen wir nicht nur über die Buttonlösung in Bezug auf Vertragsabschlüsse im Internet ab, sondern zusätzlich auch über eine Änderung im Wohnungseigentumsgesetz. 2007 wurden die Verfahren in Wohnungseigentumssachen der Zivilprozessordnung unterstellt und aus der Freiwilligen Gerichtsbarkeit herausgenommen. Die Zivilprozessordnung sieht verschiedene Rechtsmittel vor, darunter auch die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof. Um eine Überlastung des BGH zu vermeiden, wurde die Nichtzulassungsbeschwerde in Wohnungseigentumssachen für eine Übergangsfrist ausgeschlossen. Diese Frist würde am 1. Juli dieses Jahres enden. Jetzt soll die Frist bis zum 31. Dezember 2014 um zweieinhalb Jahren verlängert werden. ({9}) Das sind zweieinhalb Jahre, in denen sich die Beteiligten in Wohnungseigentumssachen nicht an den Bundesgerichtshof wenden können. Ein Rechtsmittel, das die Zivilprozessordnung für diese Fälle vorsieht, wird ihnen per Gesetz verweigert. ({10}) Wir Grünen haben 2007 klar zum Ausdruck gebracht, dass Wohnungseigentumssachen besser in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit aufgehoben wären. Nun sind sie in der ZPO geregelt. Das war der Wille des Gesetzgebers. Jetzt müssen wir auch die Konsequenzen daraus tragen. Eine Konsequenz ist, dass die Rechtsmittel, die die ZPO bietet, jedem zur Verfügung stehen. Ausnahmen bedürfen einer triftigen Begründung. ({11}) Die Koalition bezieht sich in ihrem Änderungsantrag auf Erfahrungen aus den Jahren 2008 bis 2010. Sie erklärt, dass es nicht gelungen ist, eine zuverlässige Prognose darüber aufzustellen, wie viele der Fälle in Wohnungseigentumssachen der Nichtzulassungsbeschwerde zugänglich wären. Diese Erklärung genügt uns nicht. Inzwischen liegt das Jahr 2011 hinter uns. Vier Jahre müssten genügen, um eine klare Prognose zu erstellen. Der Zugang zum Recht muss für alle Rechtsstreitigkeiten gleichermaßen eröffnet sein. Das beinhaltet auch den Zugang zur höchstrichterlichen Rechtsprechung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Internet ist aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. 55 Millionen Bundesbürger haben heute regelmäßigen Zugang zum Internet. Viele Menschen vertrauen den Informationen aus dem Netz. Heute wird auf Wikipedia verwiesen, um die Glaubwürdigkeit einer Information zu unterstreichen. Im Brockhaus nachzusehen, ist komplett out. Menschen breiten ihr ganz privates Leben im Netz aus, und Menschen mit gleichen Interessen finden sich im Netz. Sie tauschen sich aus, befreunden sich oder machen Geschäfte miteinander. Es wird spioniert, heruntergeladen und gespeichert, und illegal erworbene Daten werden vervielfältigt und für den eigenen Gebrauch genutzt. Dennoch vertrauen die meisten Menschen dem Internet. 74 Prozent der Smartphone-Benutzer haben sich vor einem Einkauf schon einmal mobil über das gewünschte Produkt informiert. 85 Prozent aller deutschen Internetnutzer haben Erfahrungen mit Onlinekäufen. Viele nutzen den Onlinehandel vor allem, weil er für sie so unkompliziert ist, sagt der law-blog-Gründer Udo Vetter. Die größte Gruppe der Internetnutzer bilden dabei junge Verbraucher. Und: Mehr Männer als Frauen kaufen per Internet ein. Aber: 32 Prozent davon haben schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht. Jeder zehnte Deutsche soll schon einmal in eine Internetfalle getappt sein. Da wundert es nicht, dass 93 Prozent aller Befragten eine sichere Bezahlung und eine sichere Rechnungslegung für besonders wichtig halten. Sicherheit und Vertrauen sind genauso Grundlage des Internethandels wie jedes herkömmlichen Handels. Die Möglichkeiten, im Internet Geschäfte zu machen, sind unglaublich schnell gewachsen. Das Wissen um die Gefahren, die damit einhergehen, wächst hingegen viel langsamer. Wir Internetnutzer befinden uns in einem Lernprozess: Wie schütze ich meine persönlichen Daten? Wie kann ich feststellen, ob das, was ich lese, auch wahr und richtig ist und ich keinem Betrug aufsitze? Die Antworten darauf sind naturgemäß nicht ganz einfach. An erster Stelle ist der Nutzer gefragt. Er muss sich eigenständig informieren, bilden und auseinandersetzen. Er muss für sein eigenes Handeln Verantwortung übernehmen, egal ob er den Vertrag im Internet abschließt oder seine Unterschrift unter ein Papier setzt. Aber wir wollen ihn dabei nicht alleinlassen. Wir wollen gute Information und Aufklärung ermöglichen, und wir wollen das Vertrauen der Verbraucher in Internetgeschäfte erhalten, ja besser noch: Wir wollen es stärken. Da, wo Missbrauch getrieben wurde, schieben wir in Zukunft einen Riegel vor, und das europaweit. Einzellösungen auf Länderebene sind beim Internet zum Scheitern verurteilt. Deswegen herzlichen Dank an unsere Ministerin Ilse Aigner. ({0}) Ilse Aigner ist es gelungen, die deutschen Standards in ganz Europa umzusetzen. Frau Aigner, Sie haben einen tollen Job gemacht. Große Anerkennung und vielen Dank dafür! ({1}) Wo waren die Schlupflöcher für unseriöse Machenschaften? Wo liegen die Schwerpunkte des Betrugs? Das wissen wir sehr genau. Allein bei den Verbraucherzentralen gehen bundesweit monatlich rund 22 000 Beschwerden ein. Dabei geht es bei weitem nicht nur um Bereiche wie Horoskope oder Gewinnspiele. Nein, die kriminelle Energie bezieht sich auf ganz unterschiedliche Nutzergruppen. So werden zum Beispiel Kinder mit Seiten zur Hausaufgabenhilfe oder mit Malvorlagen angelockt. Jugendliche tappen bei berufswahl.de oder Movie Tests, bei fuehrerschein.de oder einem IQ-Test in die Abofalle. Suchen Sie auf der falschen Seite nach einem Vornamen, wollen Sie auf eine Datenbank zur Ahnenforschung zugreifen oder vielleicht Kontakt zu Ihren Nachbarn per Internet herstellen, dann kann Sie das leicht 200 Euro kosten. 192 Euro verlieren Sie auf der Seite eines Routenplaners oder einer Mitfahrerzentrale. Abschließend noch ein Beispiel insbesondere für die Kollegen: wahlinfo2009.de, angelehnt an den uns allen bekannten Wahl-O-Mat, arbeitete ebenfalls unseriös. Die Aufzählung zeigt: Das Phänomen ist weit verbreitet. Dabei ist das Schema immer das Gleiche. Der Nutzer liest etwas, lädt etwas herunter, bestellt etwas, immer in dem Glauben, dies sei kostenlos oder billiger, als später auf der Rechnung steht. Warum? Der Hinweis auf den Preis ist versteckt: kleingeschrieben, ganz am Ende der Seiten und nur über Umwege zu finden. Der einzige Sinn einer solchen Seite besteht darin, den Nutzer zu täuschen und ihn zu bewegen, eine von ihm eigentlich so nicht gewollte kostenpflichtige Bestellung aufzugeben. Das ist unseriös, aber leider sehr erfolgreich. Dabei muss der Kunde, wie schon gesagt wurde, in solchen Fällen gar nicht zahlen. Aber wer weiß das schon? Viele Kunden fürchten den Schriftwechsel, die Arbeit und den Ärger und zahlen lieber sofort. Darauf spekuliert der Anbieter. Aber damit ist jetzt Schluss. Zukünftig gilt: Ein Vertrag kommt nur zustande, wenn der Kunde am Ende auf eine Schaltfläche mit folgenden Informationen klickt: „Zahlungspflichtig bestellt“ oder mit einer entsprechenden anderen eindeutigen Formulierung, mit Angaben zum Preis, den Gesamtlieferkosten und zur Vertragslaufzeit. Das ist eine einfache und klare Lösung. Der Kunde kann also in Zukunft sicher sein, dass er nur zahlen muss, was er auch vorher aktiv bestätigt und damit bestellt hat. Er muss keine Angst mehr haben, dass er irgendwo auf den vielen Seiten einen Hinweis übersehen hat, dass Kosten dazukommen, weil irgendwo ein Haken gesetzt war, den er hätte löschen müssen, oder dass ihm ein Jahresvertrag untergeschoben wurde, obwohl er nur einmalig etwas bestellen wollte. Die Sicherheit für den Kunden steigt, und die Missbrauchsmöglichkeiten sinken. Die Bestätigung des Kaufs über diese gesonderte Schaltfläche wird bald zum normalen Vertragsabschluss im Internet gehören; man wird sie sich bald nicht mehr wegdenken können. Taucht die Schaltfläche nicht auf, weiß der Kunde: Hier ist etwas nicht in Ordnung; ich lasse besser die Finger davon. Die Opposition fordert nun, eine Musterschaltfläche gesetzlich vorzugeben. Aber das ist in der Praxis leider nicht durchführbar. Erstens. Die Darstellungsmöglichkeiten auf einem Smartphone sind komplett andere als auf einem PC. Zweitens. Die Bestellungen sind auch ganz unterschiedlich. Kaufen Sie im Internet ein Buch, wird es für den Anbieter ganz einfach sein, Preis und Lieferkosten auf einer kleinen Schaltfläche auf einen Blick anzuzeigen. Bestellen Sie aber zum Beispiel eine Küche mit allen Einzelteilen, benötigen Sie naturgemäß eine größere Zusammenstellung, die vielleicht sogar eines Weiterblätterns, eines Scrollens bedarf. Drittens. Ich schließe eine Musterfläche schließlich deshalb aus, weil sie technisch nicht neutral ist. Wir könnten damit technische Entwicklungen sowie den Gestaltungswillen der Wirtschaft beschränken. Deswegen bin ich an dieser Stelle ganz klar aufseiten der Wirtschaft. Ich habe andererseits kein Verständnis für Teile der Wirtschaft, die eine längere Übergangszeit zur Umsetzung der Maßnahme einfordern. Seriöse Anbieter verstecken ihre Kosten nicht, ({2}) und seriöse Anbieter haben nicht eine Vielzahl von Voreinstellungen programmiert - also Häkchen in Kästchen gesetzt -, die der Kunde gar nicht bemerkt, die den Kunden aber viel Geld kosten. Ja, so manche gesetzliche Maßnahme ist eine Gratwanderung zwischen mehr Schutz und mehr Bürokratie. Mit diesem Gesetz gelingt uns ein sehr vernünftiger Ausgleich zwischen Aufwand und Nutzen für die Diensteanbieter. Wir sind uns allerdings auch dessen bewusst, dass wir mit diesem Gesetz nicht jede kriminelle Energie im Internethandel werden verhindern können. Die nächste Generation der Kostenfallen wird kommen. Aber das uns bekannte Schlupfloch schließen wir heute. ({3}) Ein weiteres Schlupfloch werden wir mit dem Gesetzentwurf zur Inkassopraxis schließen. Wir brauchen in Zukunft zwei Dinge, um den unseriösen Anbietern das Handwerk zu legen: aufmerksame und informierte Kunden und eine Politik, die schnell und zielgenau gesetzlich einschreitet.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Beides ist uns in der Vergangenheit sehr gut gelungen, beides werden wir auch in der Zukunft engagiert betreiben. Wir beschließen heute dieses Gesetz. Das ist ein guter Tag für den Verbraucherschutz. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen! Dass dies ein guter Tag für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist, ist klar. Doch hätten wir das alles schon sehr viel früher haben können, Frau Kollegin. ({0}) Wie Benjamin Franklin schon sagte: Zeit ist Geld. Das gilt leider auch für die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher. Denn bereits seit 15 Monaten könnten - ich spreche im Konjunktiv - die Internetnutzerinnen und -nutzer durch den Gesetzentwurf der SPD vor Kostenfallen im Internet geschützt sein. ({1}) Wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher inzwischen tatsächlich auf die Internetabzocker hereingefallen sind, werden wir wohl nie erfahren. Eine Untersuchung des Sozialforschungsinstituts infas sprach im Sommer 2011 von 5,4 Millionen deutschen Internetnutzern, die auf eine Abofalle im Internet hereingefallen waren. Das, Frau Verbraucherschutzministerin, sind immerhin 11 Prozent aller deutschen Internetnutzerinnen und -nutzer. Dem Einsatz der Verbraucherzentralen verdanken wir, dass der Schaden nicht noch größer ist. Bundesweit, schätzen die Verbraucherzentralen, gibt es 22 000 Beschwerden pro Monat. Bei Rechnungen von durchschnittlich knapp 100 Euro pro Jahr - und in der Regel handelt es sich um Zweijahresverträge - konnten die Verbraucherzentralen von Januar 2011 bis Ende Februar 2012 damit einen geschätzten Schaden von etwa 66 Millionen Euro verhindern. Lassen Sie sich diese Zahl einmal auf der Zunge zergehen. Zeit ist Geld. Das gilt überall dort, wo die Bundesregierung viel redet, aber nichts tut. Ankündigungen statt Taten: Das finden wir bei den überhöhten Gebühren für Pfändungsschutzkonten, bei dem Recht auf ein Girokonto für jedermann oder bei den überhöhten Gebühren für das Geldabheben an Bankautomaten. Ich könnte diese Liste fortführen. Die Verbraucherpolitik ist der Koalition offensichtlich so unwichtig, dass heute Morgen statt 90 Minuten nur 60 Minuten Debattenzeit angesetzt sind. Sie befürchten wohl, dass wir Ihnen noch mehr verbraucherpolitische Versäumnisse unter die Nase reiben könnten. Das wäre kein Problem. So haben Sie heute zum Beispiel eine Chance verpasst, das Inkassounwesen zu reformieren. ({2}) Das ist schon mehrfach von Frau Schieder und auch von anderen Kollegen angesprochen worden. Die Inkassoproblematik hängt direkt mit dem Kostenfallentrick zusammen. Manche haben daraus ein gemeinsames, perfides Geschäftsmodell entwickelt. Deshalb hat der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren dazu Vorschläge auf den Tisch gelegt. Warum haben Sie diese eigentlich nicht aufgenommen? Sollen wir wieder erst mindestens 15 Monate ins Land gehen lassen, bis die Koalition tätig wird? Wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben Vorschläge gemacht. Wir fordern beispielsweise eine Deckelung der Gebühren, wir fordern mehr Sanktionsmöglichkeiten gegen die schwarzen Schafe unter den Inkassounternehmen. Auch der Kollege von der CDU hat das kurz angesprochen, aber es wird ja nichts vorgelegt. ({3}) Die Aufsichtsbehörden müssen bei Verstößen auch Bußgelder verhängen können. Wir wollen, dass die Inkassounternehmen die Verbraucher informieren müssen, um welche Forderung es konkret geht. ({4}) - Dann tun Sie das doch, Herr Kollege. - Vor allem plädiere ich dafür, ein sozialdemokratisches Modell aus der Ära von Willy Brandt auf diesen Bereich anzuwenden. ({5}) Wie bei der Kontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb sollten wir den Verbraucherzentralen die Möglichkeit geben, unseriöse Inkassounternehmen abzumahnen und notfalls zu verklagen. ({6}) Ich schlage hier also einen Marktwächter für die Inkassobranche vor. Den einzelnen Verbraucher sollten wir nicht allein lassen. Die Verbraucherzentralen sollen als Marktwächter die Beschwerden der Verbraucher und Verbraucherinnen über Inkassounternehmen erfassen, berechtigte Beschwerden an die Überwachungsbehörden weitergeben und Inkassounternehmen abmahnen und auf Unterlassung bestimmter Geschäftsgebaren verklagen können. Wie im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb muss auch geprüft werden, ob und wie dabei erzielte Gewinne abgeschöpft werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ich hoffe, Sie legen uns bald - auch darauf gab es jetzt leider keine Antwort - Vorschläge zur Reform des Inkassowesens vor. ({7}) - Darauf warte ich, Herr Kollege. - Denn, wie gesagt, Zeit ist Geld. Sonst müsste unser Fazit über die Arbeit von Schwarz-Gelb lauten: Es ist leicht gesagt, aber langsam getan. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für die Verbraucherinnen und Verbraucher; denn heute beenden wir die Abzocke im Internet. Wir machen die Kosten im Internet transparent und die Kostenfallen dicht. Den Kolleginnen und Kollegen der SPD sage ich: Sie tun so, als ob es Abzocke im Internet erst gäbe, seit wir an der Regierung sind. Ich frage, was Sie vorher getan haben. ({0}) Wenn ich mir den Entschließungsantrag der Grünen anschaue, Frau Hönlinger, dann stelle ich fest, dass Sie selbst schreiben, dass die Verbraucherrechterichtlinie die Grundlage der heute zu beschließenden Regelung ist. Ich frage Sie: Wann wurde die denn vom Europäischen Parlament beschlossen? Es war am 23. Juni 2011. ({1}) Wir haben unseren Gesetzentwurf sofort vorgelegt. Es ist gerade einmal ein Dreivierteljahr vergangen. Wir haben sofort gehandelt; heute wird der Gesetzentwurf in zweiter und dritter Beratung behandelt. ({2}) Wir haben den Gesetzentwurf zu diesem Punkt sogar vorgezogen, um die Abzocke bald zu beenden; ({3}) denn die Verbraucherrechterichtlinie ist komplex, und ihre Umsetzung dauert lange. Wir haben den Punkt mit den Kostenfallen im Internet vorgezogen, weil wir wussten, dass hier der Schuh drückt. Die Lücke wird heute geschlossen. Der bisherige Rechtsrahmen hat sich als nicht ausreichend erwiesen. Die Abzocker sind auf immer neue Geschäftsideen gekommen. Es wurde schon gesagt, dass 5,5 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher irDr. Erik Schweickert gendwann schon einmal in eine Abofalle getappt sind. Diese Zahl ist nicht unbeträchtlich. Wir verpflichten nun die Unternehmen, den Verbraucher klar und verständlich und in hervorgehobener Weise vor Abgabe einer Bestellung ausdrücklich darauf hinzuweisen, wenn etwas kostenpflichtig ist. ({4}) Das heißt, es geht nicht mehr, dass man die Kostenpflicht in ellenlangen AGBs versteckt oder man vorher zehn Semester Jura studiert haben muss, um bei der Sache durchzublicken. Also: Ellenlange, unverständliche AGBs gehören der Vergangenheit an. Im Bereich der Kostenpflichtigkeit haben wir einfache und klare Regelungen eingeführt; dadurch wird sofort deutlich, wenn man sich im Internet zu einer Zahlung verpflichtet. In Ihrem Entschließungsantrag sprechen Sie zwei weitere Punkte an, nämlich die Regelung der Beweislast und das Thema der Musterschaltfläche. Der Erwähnung der Beweislast des Unternehmens im Gesetz bedarf es schon deshalb nicht, da es heute sowieso schon gängige Praxis ist, dass der Unternehmer beweisen muss, dass er einen Anspruch auf sein Geld hat. Dahinter steht der allgemeine Rechtsgrundsatz, dass derjenige, der eine Tatsache behauptet, diese auch nachweisen muss. Deswegen ist es obsolet, so etwas in das Gesetz hineinzuschreiben. Jetzt kommen wir einmal zu der von Ihnen erhobenen Forderung, eine Musterschaltfläche im Gesetz festzuschreiben. Das ist für mich reine Kosmetik. Lassen Sie es sich einmal an einem einfachen Beispiel zeigen. Schauen wir doch einmal auf die Homepage der Grünen. Im „Grünen Shop“ kann man ein paar Spielereien erwerben. Inhalte sind zwar nicht dabei, da geht man lieber zur FDP, ({5}) aber ein paar lustige Give-aways sind da doch zu haben, zum Beispiel eine grüne Badeente. Für 3,49 Euro kann man sie mit einem einfachen Klick kaufen. Hier soll jetzt nach unseren Vorstellungen ein Kasten kommen, in dem steht: „zahlungspflichtig bestellen“. ({6}) Seien wir doch einmal ehrlich: Es macht doch keinen Unterschied, ob bei den Grünen nun ein grüner Button auftaucht und bei der SPD ein roter. Ich könnte mir aber Ihr Geschrei vorstellen, wenn wir ins Gesetz hineingeschrieben hätten: Der Kasten muss schwarz-gelb sein. Es wäre spannend gewesen, zu erfahren, wie groß dann der Aufschrei gewesen wäre. ({7}) Meine Damen und Herren, das überlassen wir technikneutral den Anbietern, wie sie es darstellen. Die Smartphones sind unterschiedlich. Ich habe in einer früheren Rede schon einmal aufgezeigt, wie hoch die Schadstoffbelastung von Quietscheenten - keine grünen, sondern gelbe - ist. Was findet man aber auf Ihrer Homepage? Grüne Quietscheentchen. Aber das ist ein anderes Thema. Meine Damen und Herren, heute ist ein guter Tag für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wer eine wirklich gute Webseite besuchen will, der sollte sowieso auf www.abzockerstopper.de gehen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Rebmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Stefan Rebmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte wurden ja schon Klaus Lage und Benjamin Franklin zitiert. Ich könnte jetzt als Mannheimer auch aus der Mannheimer Uraufführung von Schillers Räubern zitieren. Nur, die waren halt damals noch nicht im Internet unterwegs. ({0}) Aber Schiller hat ja recht, wenn er bei Wallensteins Lager sagt: „Es geht nicht zu mit rechten Dingen!“ Denn wer meint, dass nur unachtsame Internetnutzer in die Kostenfallen geraten, der irrt sich. Es kann praktisch jeden treffen. Das Prinzip der Betrüger im Netz ist denkbar einfach und leider auch wirksam. Es ist noch nicht lange her, dass ein guter Freund von mir völlig arglos einen Gutschein für ein kostenloses Musik-Download eingelöst hat und sich dann monatelang mit Mahnschreiben und unseriösen Inkassounternehmen zum angeblich abgeschlossenen Jahresabo herumschlagen musste. Wir alle kennen ja solche Beispiele zur Genüge. Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger wissen gar nicht, dass es wegen irreführender Gestaltung der Internetseiten oft gar nicht zu einem wirksamen Vertrag gekommen ist; sie glauben, zahlen zu müssen, und scheuen den Streit mit den Inkassounternehmen. Auf die Zahl der Nutzer, die in solche Abofallen geraten sind, wurde ja schon mehrfach hingewiesen. Der dadurch entstandene Schaden überschreitet bei weitem 60 bis 70 Millionen Euro im Jahr, ohne die Dunkelziffer miteinzurechnen. Natürlich ist das ein lukratives Geschäft für unseriöse Unternehmen, wenn ihr Geschäftsmodell darauf basiert, auf diese Weise Geld zu verdienen. Wir als SPD haben deshalb bereits 2010 einen Gesetzentwurf zu diesem Thema vorgelegt, um genau diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben. ({1}) Wenn man mit diesem Wissen den vorliegenden Gesetzentwurf liest, dann kommt man nicht umhin, zu sagen: Das hätten wir schon wesentlich früher haben können. Den Betroffenen wäre damit viel Geld und noch mehr Ärger erspart geblieben. ({2}) Allen Fraktionen war doch schon 2010 klar, dass der rechtliche Schutz der Verbraucher im Internet bei weitem nicht ausreicht. Nur, daraus auch Schlussfolgerungen zu ziehen und Handlungen abzuleiten, dazu hatte die Koalition offensichtlich keinen Mut. Bei Schillers Räubern geht es um das Verhältnis von Recht und Freiheit. Zur vertanen Chance, unserem Antrag schon damals zuzustimmen, sage ich Ihnen mit Schiller: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre.“ ({3}) Man warte lieber eine Einigung auf europäischer Ebene ab, hieß es damals. Dafür gab es aus unserer Sicht keinen hinreichenden Grund. Die Menschen warten bis heute auf eine Lösung, die es in anderen EU-Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Frankreich, schon längst gibt. Heute nun können wir endlich über einen Entwurf entscheiden, ({4}) der sich übrigens wie auch die inzwischen vorliegende EU-Richtlinie inhaltlich nur marginal von unserem damaligen Antrag unterscheidet. Internetanbieter müssen endlich deutlich und unmissverständlich über den Preis einer Ware oder einer Dienstleistung informieren. Und noch wichtiger: Der Verbraucher muss bei der Bestellung ausdrücklich erklären, dass er den Preis zur Kenntnis genommen hat bzw. dass er über einen Button unmissverständlich auf die Zahlungspflicht hingewiesen worden ist. So weit, so gut. Aber dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, die breite Zustimmung zu diesem Thema ausnutzen, um kurzfristig eine Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes mit durchzuwinken, ist, finde ich, nicht in Ordnung. ({5}) Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten überwiegt das Wohl der Verbraucher. Die Verbraucher brauchen den Schutz des Gesetzes vor Kostenfallen im Internet. Deshalb sagen wir Ja zu diesem Gesetz, und ich sage Ihnen mit Schiller: „Denn das Auge des Gesetzes wacht.“ Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Abschluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der Kollege Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Genau heute vor einer Woche hat der US-Präsident Barack Obama seine neue Strategie zur Verbesserung des Datenschutzrechts im Internet vorgestellt. Kernziel dieser Strategie ist die Wiederherstellung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in das Internet und in den elektronischen Geschäftsverkehr. Es handelt sich bei dieser Vorstellung der Strategie von Barack Obama jedoch nur um ein Weißbuch, das im weiteren Verlauf erst noch in Gesetzesform gegossen werden muss. Wir sind hier schon weiter fortgeschritten. Die christlich-liberale Koalition handelt, und wir verabschieden heute endgültig das Gesetz zur Verbesserung und zur Steigerung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in das Internet und in den elektronischen Geschäftsverkehr. ({0}) Es ist schon erwähnt worden: 90 Prozent der deutschen Internetnutzer nutzen das Internet insbesondere zum Kauf von Produkten und zum Bestellen von Dienstleistungen. Was besorgniserregend ist, ist, dass 73 Prozent von ihnen in den letzten Jahren negative Erfahrungen damit gemacht haben. Ich glaube, es geht nicht um eine Dämonisierung des Internets. Das Internet bietet vielfältige Chancen und ungeahnte Möglichkeiten, die noch vor 20 Jahren undenkbar waren, aber es birgt auch gewisse Risiken in sich, und diese Risiken manifestieren sich zusehends insbesondere darin, dass es unseriöse Anbieter gibt, die in den letzten Jahr immer mehr ihr Unwesen getrieben haben und hunderttausendfach, ja millionenfach Ärger in Deutschland hervorgerufen haben. Ich möchte mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie oft sich - wahrscheinlich hunderttausendfach - Bürgerinnen und Bürger geärgert haben, als sie Mahnungen, Zahlungsaufforderungen und Schreiben von Rechtsanwälten und Inkassounternehmen erhalten haben. Mit Sicherheit haben viele darauf reagiert, indem sie gezahlt haben, obwohl sie rechtlich dazu nicht verpflichtet gewesen wären, Die Studie von infas aus dem August des letzten Jahres, nach der schon 8,4 Millionen Bundesbürger Opfer von Internetbetrug geworden sind, ist schon erwähnt worden. Der überwiegende Teil von ihnen, nämlich 5,4 Millionen Bürger, sind Opfer von Kosten- und Abofallen im Internet geworden. Was an dieser Studie sehr interessant ist, ist, dass es keine signifikanten Unterschiede gibt, was das Alter, was das Geschlecht und auch was das Einkommen der Stephan Mayer ({1}) Betroffenen anbelangt. Jeden kann es treffen, und keiner ist davor gefeit. Es ist auch nicht so, dass es nur wenige schwarze Schafe gibt, die sich in diesem Bereich tummeln. Es hat sich mittlerweile betrüblicherweise eine ganze Abofallenindustrie in Deutschland entwickelt. Im kollusiven Zusammenwirken von Internetunternehmen, Rechtsanwälten und Inkassounternehmen sind Millionen von Bundesbürgern geschädigt worden. Jeder hat es schon am eigenen Leib erlebt. Es gibt Internetshopseiten, die trickreich und sehr irreführend gestaltet sind. Aufgrund des häufig unklar, irritierend und überraschend gestalteten Bestellprozesses sind diesen Shops leider schon Millionen von Bundesbürgern auf den Leim gegangen. Diese Abo- und Kostenfallen im Internet betreffen das Bestellen sowohl von Produkten als auch von Dienstleistungen. Das Angebot reicht von Haustieren, Kochrezepten, Hilfen bei der Berufswahl, Routenplanern, Grußkarten und Gedichten bis hin zu Gewinnspielen und Wohnungsannoncen. Wir, die christlich-liberale Koalition, handeln mit diesem Gesetzentwurf, der heute in zweiter und dritter Lesung behandelt wird, effektiv und gehen massiv gegen diesen rapide zunehmenden Internetbetrug vor. Wir als christlich-liberale Koalition sind handlungsfähig. ({2}) Wir machen klare Vorgaben, was die Ausgestaltung der Internetseiten anbelangt. Die Schaltflächen müssen insbesondere hinsichtlich des Bestellprozesses transparent, klar und eindeutig sein. Wichtig ist uns, dass schon auf der Schaltfläche klar erkennbar ist, dass damit eine Zahlungsverpflichtung verbunden ist. Deshalb fassen wir § 312 g des Bürgerlichen Gesetzbuches neu. Damit ist natürlich unweigerlich ein Mehraufwand für die Unternehmen verbunden; das möchte ich nicht unerwähnt lassen. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Mehraufwand, der auf etwas mehr als 41 Millionen Euro geschätzt wird, in der Abwägung mit dem exorbitant hohen Schaden, der in der Vergangenheit verursacht wurde, und vor allem mit dem Schadenspotenzial, das mit dem Missbrauch im Internet verbunden ist, durchaus vertretbar ist. Ich möchte auch noch Stellung beziehen zu der im Ausschuss beantragten Entschließung mit der Forderung zur Beweislast. Meines Erachtens ist es überflüssig, hier eine Neuregelung vorzunehmen, weil es im BGB gängige Praxis ist, dass derjenige, der eine Forderung durchsetzen will, die Rechtmäßigkeit dieser Forderung beweisen muss. Es bedarf also keiner nochmaligen Festlegung, dass der Anbieter im Internet das rechtswirksame Zustandekommen des Kauf- oder Dienstleistungsvertrages beweisen muss. Deswegen ist diese Forderung abzulehnen. Nach dem heutigen Tag gilt es, viele Internetseiten umzugestalten. Wie wir vom Kollegen Dr. Schweickert gehört haben, gilt dies auch für die Internetseite der Grünen. Ich bin gespannt, ab wann die Schaltfläche für die Bestellung der Quietscheente rechtskonform ausgestaltet ist. Aber selbst wenn sie rechtskonform ausgestaltet ist und den Vorgaben in § 312 g BGB entspricht - ich gehe davon aus, dass die Grünen, rechtstreu wie sie sind, ihren Internetshop sehr schnell neu konfigurieren werden -, ({3}) befürchte ich, dass die Kosten doch weitaus höher als 3,50 Euro für diese Ente sein werden. Denn wer bei den Grünen zugreift, muss leider Gottes langfristig mehr berappen als diese 3,50 Euro. ({4}) Das muss man dazusagen. Mit diesem Gesetzeswerk, das in diesem Hause mit Ausnahme der Linkspartei große Zustimmung finden wird, beweisen wir, dass die christlich-liberale Koalition insbesondere in der Rechtspolitik in der Lage ist, effektiv und schnell zu handeln, wenn sich ein Problem offenkundig und signifikant zeigt. ({5}) Wir setzen die zugrunde liegende EU-Richtlinie jetzt schnell und zügig in deutsches Recht um. Damit beweisen wir einmal mehr, dass die christlich-liberale Koalition handlungsfähig ist ({6}) und dass wir effektiv ans Werk gehen, wenn sich Probleme ergeben. Wenn sich Missstände in unserer Gesellschaft und auch in unserer Wirtschaft zeigen, ({7}) dann erwarten die Bürgerinnen und Bürger, dass wir schnell und effektiv handeln. Ihre Argumentation „Das hätte doch alles schon längst passieren müssen“ ist meines Erachtens sehr dürftig und durchsichtig. Mehr haben Sie nicht zu bieten. ({8}) Wir hingegen haben sehr viel zu bieten. In diesem Sinne bedanke ich mich für die Unterstützung und werbe um Zustimmung in diesem Hause. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches zum besseren Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Kos19388 Präsident Dr. Norbert Lammert tenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr. Wir wollen einmal abwarten, ob im Sinne des Kollegen Rebmann diese Beschlussfassung den Schneckengang zum Adlerflug transformiert. ({0}) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/8805, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7745 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit angenommen. Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8806 auf. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Burkhard Lischka, Dr. Eva Högl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung - Drucksache 17/8613 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2003 hat die Bundesrepublik Deutschland die UN-Konvention zur Bekämpfung von Korruption unterzeichnet, wie ich finde: völlig zu Recht. Es muss unser aller Anliegen sein, Korruption da, wo sie auftritt, weltweit zu bekämpfen. ({0}) Peinlich ist allerdings, dass nach dieser Unterzeichnung nichts weiter passiert ist. Nötig wäre gewesen, diese Konvention auch in innerdeutsches Recht umzusetzen, sprich einen Straftatbestand zu schaffen, der die Korruption, die Bestechung, die Bestechlichkeit von Abgeordneten erfasst. Warum wäre die Umsetzung dieser Konvention notwendig gewesen? Weil wir im deutschen Recht bisher lediglich das Thema des sogenannten Stimmenkaufs gesetzlich geregelt haben! Dies ist ein ganz enger Tatbestand, der nur das Abstimmungsverhalten erfasst und deswegen ein stumpfes Schwert ist und der Konvention, so wie sie vorliegt, bei weitem nicht genügt. Deswegen unterbreiten wir Ihnen heute einen Lösungsvorschlag für ein nicht einfaches Thema, nämlich die Auflösung des Spannungsfeldes zwischen dem, was zu Recht als Abgeordnetenbestechung, als Bestechung, als Korruption benannt werden muss, und dem, was zum parlamentarischen Verhalten gehört. Wir haben es uns mit unserem Entwurf nicht leicht gemacht. Wir haben viele Argumente, die in der Diskussion seit vielen Jahren genannt werden, gegeneinander abgewogen. Ich will unseren Vorschlag kurz begründen; denn ich kann damit auf viele Kritikpunkte eingehen. Wir schlagen vor, Abgeordnetenbestechung in Zukunft ganz klar zu beschreiben als einen Vorgang, bei dem ein Abgeordneter einen Vorteil für sich oder einen Dritten dafür bekommt, dass er einen Auftrag oder eine Weisung in entsprechendes parlamentarisches Verhalten umsetzt. Dies ist ein ganz klar definierter Tatbestand. Warum ist er so klar und so eng beschrieben? Weil wir wollen, dass die Kritikpunkte, die aufgekommen sind - nämlich dass dann in Zukunft parlamentarisches Verhalten, also die Aufgabe des Abgeordneten, sich für die Interessen derjenigen einzusetzen, für die er sich berufen fühlt, nicht mehr möglich wäre -, ausgeräumt werden, haben wir diesen Tatbestand eng beschrieben. Ich will dazu einige Beispiele nennen. Ich bekomme vom Weinbauernverband den Auftrag oder die Weisung, eine Initiative zur Abschaffung der Sektsteuer zu ergreifen, was ich dann in meiner Fraktion und im parlamentarischen Verfahren durchsetze. Wenn ich dafür dann eine mehrwöchige Urlaubsreise als Vorteil erhalte, würde das genau den von uns definierten Straftatbestand erfüllen, wie ich finde: völlig zu Recht. Das wäre ein klarer Fall von Bestechung und Bestechlichkeit. ({1}) Nun wird eingewandt, dies widerspreche dem freien Mandat. - Ja, zu Recht haben wir als Abgeordnete die Möglichkeit, nach Art. 38 des Grundgesetzes das freie Mandat auszuüben. Das ist das Wesen, der Inhalt dessen, was wir als Abgeordnete tun. Aber im Ernst: Niemand kann behaupten, dass der Vorgang, den ich eben beschrieben habe, nämlich einen Vorteil dafür zu bekommen, dass ich als Abgeordnete einen Auftrag oder eine Weisung befolge, auch nur im Geringsten etwas mit dem freien Mandat zu tun hat. Deswegen sollten wir eine klare Definition vornehmen ({2}) Es wird des Weiteren kritisiert, dass der Vorteilsbegriff nicht eng genug gefasst sei und dass dann unter Umständen Staatsanwälte ungerechtfertigte Ermittlungsmaßnahmen einleiten könnten. Aber wir haben ausdrücklich geschrieben, dass parlamentsübliches Verhalten nicht als Vorteilsnahme zu verstehen ist. Dazu gehört beispielsweise das Abendessen beim Parlamentarischen Abend. Selbstverständlich erwartet niemand, dass in Zukunft ein Abgeordneter mit der Brotdose zum Parlamentarischen Abend geht, weil er Angst hat, dass es ihm als Vorteilsnahme ausgelegt wird, wenn er sich am Buffet bedient. Wir wollen das im Gesetz genau regeln, um entsprechende Sorgen auszuräumen. Ich habe wahrscheinlich ein bisschen mehr Vertrauen in die deutschen Staatsanwälte - ich habe einige Erfahrungen im 1. Ausschuss gemacht -, darin, dass sie in den entsprechenden Angelegenheiten mit Augenmaß vorgehen und nicht wegen jedes Essens oder jedes geschenkten Bleistifts Ermittlungen einleiten. ({3}) Es gibt auch den Kritikpunkt, wir setzten die UNKonvention nicht um, weil sonst bei uns mit Ermittlungen zu rechnen sei; in Bananenrepubliken sei das möglich, weil dort die Staatsanwälte sowieso nicht gegen Abgeordnete ermitteln. Sie sollten sich aber anschauen, welche Länder diese Konvention bisher nicht umgesetzt haben. Das sind zum Beispiel der Sudan, Somalia und die Bundesrepublik. Aber Staaten wie Norwegen, Frankreich, Großbritannien und die USA haben diese Konvention umgesetzt. Bei diesen Ländern handelt es sich mitnichten um Bananenrepubliken. ({4}) Wir sollten jetzt die Chance ergreifen und nach neun Jahren endlich für eine Umsetzung sorgen, um uns nicht länger dem Vorwurf auszusetzen, dass wir Korruption bei anderen kritisieren, uns aber, wenn es um uns geht, auf einmal nicht in der Lage sehen, ein entsprechendes Gesetz in Kraft zu setzen. Das ist peinlich. Das sollte gelöst werden. ({5}) Ich merke, dass es ein bisschen Bewegung auch in den Reihen der Koalition gibt. Es hat mich sehr erfreut, dass der Bundestagspräsident, Herr Lammert, ein klares Bekenntnis in dieser Fragestellung abgegeben und darauf hingewiesen hat, dass wir dringend eine gesetzliche Regelung brauchen. ({6}) Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann entsprechen die Vorstellungen des Bundestagspräsidenten ziemlich genau dem, was wir klar definiert und hinreichend bestimmt formuliert haben. ({7}) - Ich kann gerne die entsprechenden Stellen zitieren. Ich freue mich auf jeden Fall auf die Auseinandersetzung. Es ist richtig, dass wir in dieser Frage miteinander diskutieren. Hören Sie aber auf, eine Totalverweigerungshaltung einzunehmen! Wir sollten uns auf den Weg machen und endlich klare Regelungen - auch für uns schaffen, damit der Verdacht, dass wir nur für uns Ausnahmen schaffen wollen, ausgeräumt wird. Es wird Zeit. Deswegen fordere ich Sie auf: Machen Sie mit! Ein entsprechender Vorschlag liegt auf dem Tisch. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Lambrecht, ich freue mich ebenfalls auf die Auseinandersetzung. Aber Sie verstehen sicherlich, dass ich von diesem Stuhl aus mich mit dieser knappen Bemerkung begnüge. Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Voßhoff für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD zum, glaube ich, dritten Mal in diesem Jahr in diesem Hause über das Thema Abgeordnetenbestechung. Hintergrund der Diskussion sind - das ist von der Kollegin Lambrecht zur Einführung bereits gesagt worden - die Antikorruptionsübereinkommen der Vereinten Nationen und des Europarates. Dass diese Abkommen seinerzeit von der von SPD und Grünen getragenen Bundesregierung für Deutschland unterzeichnet, aber bislang nicht ratifiziert wurden, ist ein unbefriedigender Zustand. Wohl wahr! ({0}) Worin besteht aber der unbefriedigende Zustand? Ist es die bisher fehlende Ratifizierung, ({1}) oder ist es nicht vielmehr das Dilemma, dass die Unterzeichnung - wie der Vorsitzende des Rechtsausschusses und Kollege Siegfried Kauder es einmal beschrieben hat schon ein Webfehler war, ({2}) weil uns die sich daraus ergebende Notwendigkeit der Ratifizierung vielleicht vor eine unlösbare Aufgabe stellt, ({3}) weil uns dadurch vorgegeben wird, unter Umständen das Mandat mit der Amtsträgereigenschaft gleichzusetzen, was für uns nicht umsetzbar ist? ({4}) Ich darf mir erlauben, an dieser Stelle einmal grundsätzlich etwas zu dem Thema anzumerken; denn wir haben heute viele Zuhörer. Aus der bisher fehlenden Ratifizierung darf nun nicht geschlussfolgert werden - auch wenn dies immer wieder getan wird -, dass wir in Deutschland mit der Korruptionsbekämpfung bei Abgeordneten gegenüber manch anderen Staaten hoffnungslos ins Hintertreffen geraten, ({5}) die ein solches Übereinkommen, wie auch immer, ratifiziert haben. Aus diplomatischer Rücksichtnahme will ich hier gar keine nennen. Wenn uns aber diejenigen, die ständig die Ratifikation fordern, wirklich einreden wollen, dass wir in Deutschland ohne eine solche Ratifikation in der Korruptionsbekämpfung bei Abgeordneten diesen Staaten hinterherhinken, dann weise ich das zurück. ({6}) Ich habe gerade von einer vielleicht unlösbaren Aufgabe gesprochen. Die Tatsache, dass wir heute bereits den dritten Versuch einer gesetzlichen Regelung zum Thema Abgeordnetenbestechung vorliegen haben, zeigt wohl das grundsätzliche Problem: Wie kann das Ganze geregelt werden? Die beiden Gesetzentwürfe, die von den Linken und den Grünen vorgelegt worden sind, sind aus guten Gründen abzulehnen. Darüber haben wir häufig genug diskutiert. Der heute von der SPD vorliegende Entwurf begegnet ebenfalls erheblichen Bedenken. Die Materie ist nun einmal strafrechtlich außerordentlich kompliziert und verfassungsrechtlich vielschichtig. Populistische Schnellschüsse wie die beiden Gesetzentwürfe der Grünen und der Linken sind schon deshalb grundsätzlich verfehlt. ({7}) Auch die Stellungnahme des Anwaltvereins, der ja unverdächtig ist, den Abgeordneten nach dem Munde zu reden, hat in einem, man kann fast sagen, Totalverriss der Gesetzentwürfe der Linken und der Grünen dargelegt, dass diese Entwürfe eben nicht geeignet sind, die grundsätzliche Schwierigkeit einer über den bisherigen Tatbestand des § 108 e StGB - darin geht es nur um den Stimmenkauf - hinausgehenden Erfassung als korrupt bezeichneter Verhaltensweisen zu überwinden und sie unter Wahrung verfassungsrechtlicher Vorgaben unter Strafe zu stellen. ({8}) Ich befürchte, dass eine Bewertung des SPD-Entwurfs nicht wesentlich besser ausfallen würde. Überhaupt fragt man sich - Frau Kollegin, Sie hatten vorhin die Daten genannt; darüber wurde bereits häufiger diskutiert, und das darf man auch wieder tun -, warum die Oppositionsfraktionen, die seinerzeit Regierungsfraktionen waren, denn damals nach der Unterzeichnung nicht gehandelt haben. ({9}) Sie hatten nach der Unterzeichnung der UN-Konvention zwei Jahre Zeit, und beim Europaratsabkommen von 1999 waren es immerhin sechs Jahre. Was haben Sie gemacht? Nichts. Wir haben an dieser Stelle häufig genug die Worte Ihres damaligen rechtspolitischen Sprechers Stünker zitiert - das könnte ich mir heute eigentlich ersparen -, der im September 2008 das rot-grüne Scheitern hier im Plenum ausreichend kommentiert hat, indem er sagte: Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durften sie - gemeint waren Ihre Vorschläge nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen blockiert haben. … Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Voßhoff, darf die Kollegin Lambrecht Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Voßhoff, Sie haben ja angesprochen, dass auch in der rot-grünen Regierungszeit kein Vorschlag unterbreitet wurde. Das ist richtig. Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang aber noch einmal, an die zeitlichen Abläufe zu erinnern, und möchte Sie bitten, mir das entsprechend zu bestätigen. 2003 gab es diese Konvention; das ist richtig. Unter Rot-Grün haben wir uns dann relativ zügig an die Arbeit gemacht. Sie haben beschrieben, dass es in der damaligen Koalition nicht ganz einfach war, zueinanderzukommen, weil es sich eben um keine einfache Regelungsmaterie handelt. Wir hatten uns aber trotzdem darangemacht. Es gab unterschiedliche Entwürfe. Die konnten dann allerdings nicht mehr eingebracht werden, weil 2005 vorgezogene Neuwahlen angesetzt waren. Danach gab es eine Große Koalition, in der die SPD dieses Thema weiterhin auf die Tagesordnung gebracht hat. Vom Koalitionspartner CDU/CSU kam aber damals die klare Ansage: In dieser Fragestellung werden wir auf keinen Fall etwas auf den Weg bringen wollen. - Aufgrund der Koalitionsvereinbarung, dass Gesetze eben nur gemeinsam eingebracht werden dürfen, mussten wir dann darauf verzichten, dieses Thema weiterhin zu verfolgen. Deswegen bitte ich, doch zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der Großen Koalition nicht die SPD war, die untätig war - genauso wenig wie in der rot-grünen Regierungszeit -, sondern dass es in der Großen Koalition gerade Ihre Fraktion war, die in dieser Frage ganz konkret geblockt hat. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Lambrecht, ich habe nicht von der Zeit der Großen Koalition gesprochen. ({0}) - Ja, das ist doch in Ordnung; dazu stehe ich auch. ({1}) Wir können das auch gerne diskutieren. Das ist nicht der Punkt. - Wir haben über die Zeit von 2003 bis 2005 gesprochen. Da hat bekanntermaßen Rot-Grün regiert. Ja, Gott sei Dank ist das vorzeitig beendet worden. Nichtsdestotrotz hätte es Zeit gegeben. ({2}) Das beweist das Zitat des Kollegen Stünker doch eindeutig. ({3}) Meine Damen und Herren, es gab übrigens auch Zeiten, in denen das Thema zwischen Opposition und Regierung sehr ausgewogen beraten wurde, ({4}) nämlich bei der Schaffung des § 108 e im Jahre 1993, bei der das Thema Abgeordnetenbestechung sehr wohl auch Gegenstand war - logisch! - und man zu dem Ergebnis gekommen ist, das Sie heute hier kritisieren. Die Kollegen haben sich damals sehr abgewogen mit dem Bestimmtheitsgrundsatz befasst. ({5}) In den Begründungen der damaligen Gesetzentwürfe nicht nur von CDU/CSU und FDP, sondern auch von der SPD heißt es - ich darf zitieren -: Der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung kann nicht dem der Beamten- und Richterbestechung nachgebildet werden. ({6}) … Bei der Ausübung von Stimmrechten im Parlament spielen oft auch politische Gesichtspunkte und Rücksichtnahmen eine Rolle. Es ist nicht zu beanstanden, wenn bei der Stimmabgabe politische Zwecke mitverfolgt werden, die den eigenen Interessen des Stimmberechtigten entgegenkommen. ({7}) Bei zahlreichen Abgeordneten ist die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe von wesentlicher Bedeutung für ihre Aufstellung als Kandidat. Von dem Abgeordneten erwartet die gesellschaftliche Gruppe dann auch, daß er sich für ihre Belange einsetzt. … Die Tätigkeit der Abgeordneten reicht über das eigentliche parlamentarische Wirken hinaus in das allgemeine politische Geschehen, wo scharf abgrenzbare Verhaltensvorschriften fehlen. Liebe Kollegen von der SPD, Ihre damaligen Erkenntnisse hätten Sie vielleicht auch heute berücksichtigen sollen. ({8}) Sie betonen in der Begründung Ihres heute vorliegenden Entwurfs zu Recht, dass es darum gehen müsse, die Abgrenzung zwischen erlaubtem Tun und strafbewehrtem Verhalten in der Hand des Gesetzgebers zu belassen, nicht in die Hände der Staatsanwaltschaften und Gerichte zu geben. Diesem eigenen Anspruch werden Sie dann aber nicht gerecht. In § 108 e Abs. 3 StGB in der von Ihnen vorgeschlagenen Fassung versuchen Sie mehr schlecht als recht, mit Negativbeispielen, also mit einer Beschreibung dessen, was nicht strafbar sein soll, irgendeine Form der Abgrenzung hinzubekommen. Im Ergebnis überlassen Sie es dann in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise eben doch der jeweiligen Auslegung der Staatsanwaltschaft, was parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht und was nicht. ({9}) Ebenso ungeeignet ist Ihr Versuch der Definition der strafbaren Vorteilsannahme, wie er auf Seite 3 Ihres Entwurfs in der Begründung sinngemäß zu lesen ist: Eine Strafbarkeit der Vorteilsnahme soll dann nicht der Fall sein, wenn der Mandatsträger gemäß seiner inneren Überzeugung handelt, ({10}) die Vorteilsgewährung das Verhalten des Mandatsträgers also nicht beeinflusst hat. Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr Vorschlag läuft auf eine Gesinnungsprüfung und Gewissensrechtfertigung eines Abgeordneten gegenüber einem Staatsanwalt hinaus ({11}) und konterkariert geradezu die verfassungsrechtliche Stellung des freien und nur seinem Gewissen unterworfenen Abgeordneten. ({12}) Ich sage das auch in Richtung unserer Zuhörer heute: Wir sollten uns in dieser Debatte auch einmal in Erinnerung rufen, was die verfassungsgemäße Aufgabe von Abgeordneten ist. Bei der Suche nach einer Antwort geht es nicht um das Selbstverständnis jeder einzelnen Person, sondern auch um Fragen des Parlamentarismus und der verfassungsrechtlichen Stellung, Aufgabe und Verantwortung von uns Abgeordneten nach Art. 38 GG. Ich finde, ein Blick in die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 2007 fördert da sehr Erhellendes und Eindrucksvolles zutage - ich darf zitieren -: Dem von Art. 38 Abs. 1 GG gewährleisteten freien Mandat des Abgeordneten entspricht es, dass die Abgeordneten über die Art und Weise der Ausübung des Mandats grundsätzlich frei und in ausschließlicher Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler entscheiden. ({13}) … Dafür bedarf es keiner rechtsförmigen Kriterien; die wertende Beurteilung soll vielmehr gerade der öffentlichen Diskussion und letztlich dem Wähler anheim gegeben werden. Noch viel treffender besagt das Urteil unter Randnummer 262: Wer freie Abgeordnete will, muss auch ein Mindestmaß an Vertrauen aufbringen, dass die vom Volk Gewählten ganz überwiegend mit Umsicht und verantwortlich mit ihrer Freiheit umgehen. ({14}) Das Prinzip der Freiheit verlangt, dass nur der Missbrauch gezielt und konsequent bekämpft wird, aber nicht, dass aus dem abweichenden Verhalten Weniger zuerst ein Ambiente des Misstrauens geschürt und sodann eine lückenlose Kontrolle auch der redlich Arbeitenden verlangt wird. Ich denke, meine Damen und Herren, dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, ({15}) was die Stellung von Abgeordneten betrifft. Keiner von uns, keiner, der hier gegen Ihren Gesetzentwurf redet, ist für Korruption; das ist überhaupt keine Frage. ({16}) Aber wenn entsprechende gesetzliche Regelungen dazu führen würden, dass gerade in Fällen von Wahlkämpfen durch falsche Anzeigen die Staatsanwaltschaft verpflichtet wird, zu ermitteln, ({17}) dann wird dies zu einem politischen Instrument. Das ist für uns nicht tragbar. Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Sharma das Wort. ({0})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worüber reden wir heute? Wir reden über Vertrauen: Vertrauen in die Politik, Vertrauen in Politiker und Vertrauen in die parlamentarische Demokratie ganz allgemein. Konkret reden wir über einen Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches und eines Straftatbestandes, der die Abgeordnetenbestechung regeln soll. Abgeordnetenbestechung ist heute im Grunde nicht geregelt. Es ist nur das Verbot des Stimmenkaufs geregelt. Wie soll man sich Stimmenkauf vorstellen? Es ist klar, dass so etwas in der Praxis kaum Anwendung findet; denn wenn jemand wirklich vorhat, die Stimme eines Abgeordneten zu kaufen, werden da in der Regel keine Verträge schriftlich verfasst und unterschrieben. ({0}) Insofern ist es klar, dass dieses Gesetz, so wie wir es jetzt haben, im Grunde ein Placebogesetz ist, bei dem es dringenden Änderungsbedarf gibt. ({1}) Nichtsdestotrotz und ohne dass man hier überall immer gleich Böswilligkeit und kriminelles Handeln unterstellen muss, ist es wohl unumstritten, dass Abgeordnete in Korruptionsgeflechte eingebunden sind. Das ist keine Formulierung, die von mir stammt; das ist eine Formulierung, die aus einer Bundesratsinitiative des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2002 stammt. Sie war schon damals richtig. Diese Bundesratsinitiative ist - wie so viele Initiativen, die in diesem Bereich entwickelt worden sind - im Ausschuss verschwunden und nicht weiter behandelt worden. Aber der Ansatz war richtig. Das ist jetzt fast zehn Jahre her. Blicken wir einmal von Nordrhein-Westfalen etwas weiter nach Norden und in die Gegenwart: nach Sylt. Dort gab es im vergangenen Jahr ein Treffen auf Einladung der Glücksspiellobby mit Spitzenpolitikern von CDU und FDP, um dort gemeinsam darüber zu reden, wie man die Weichen für eine Liberalisierung des Glücksspielmarktes stellen könne. ({2}) - So ist es. Richtig, das ist auch „Sylt-Sause“ genannt worden. - Die Weichen sind auch gestellt worden; denn dieses Treffen fand interessanterweise am gleichen Tag statt, an dem die Entscheidung in der Staatskanzlei getroffen worden ist, hier als Land Schleswig-Holstein einen Sonderweg zu gehen. Ich würde jetzt nicht definitiv sagen können - und man kann es auch nicht beweisen -, dass das eine die Leistung und das andere die Gegenleistung gewesen ist. Aber zumindest ein Geschmäckle hat es mit Sicherheit. Wir als Politiker haben hier die Verantwortung. ({3}) - Wir reden über Straftaten, Herr Kollege Kauder; wir reden aber auch darüber, wie wir Vertrauen in die Politik schaffen wollen. Es gibt aufgrund solcher Vorgehensund Verhaltensweisen Misstrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wenn wir diesem Misstrauen begegnen wollen, können wir uns nicht hinstellen und sagen: „Wir sind erhaben über dieses Misstrauen, weil wir Politiker sind“, sondern wir müssen es aufnehmen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Sharma, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grosse-Brömer gestatten?

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gern.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sharma, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Ich will auf Ihr Beispiel zurückkommen. Ich weiß nicht, wie Sie dieses Treffen bewertet hätten, wenn es unter den gleichen Voraussetzungen nicht auf Sylt, sondern in Berlin ({0}) stattgefunden hätte. Vielleicht ist es, gerade weil es auf Sylt stattgefunden hat, plötzlich eine Sause. Das Schöne ist, dass Sie offenkundig darüber Bescheid wissen - wie alle anderen auch -, weil natürlich von einer sehr aufmerksamen Presse sehr ausführlich beschrieben wurde, was dort alles stattgefunden hat - eine Sache, die in Deutschland offenbar funktioniert. Sind Sie nach Ihrer eigenen Schilderung der Auffassung, dass wir dieses Problem künftig dadurch lösen, dass ein Staatsanwalt in Regelfällen bei betroffenen Politikern nach einer relativ schnell gestellten Anzeige bewertet, ob das jetzt eine parlamentarische Gepflogenheit ist und ob es auch deshalb strafbar ist, weil so ein Treffen auf Sylt stattgefunden hat und nicht in Berlin im Jakob-Kaiser-Haus? Entspricht es Ihrer Vorstellung von effizienter Bestrafung und besserer Überwachung von Abgeordnetenbestechlichkeit und soll es so sein, dass ein Staatsanwalt dann künftig bewerten muss, ob ein Treffen auf Sylt oder ein Treffen in Berlin den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht oder nicht? Ist das effizient - auch im Hinblick auf Ihre Aufgabe als Abgeordneter?

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Grosse-Brömer, lassen Sie mich zwei Aspekte ansprechen. Zunächst eine Bemerkung zu Sylt. Sylt ist eine wunderschöne Insel in Schleswig-Holstein, wo man wunderbar Ferien machen kann und wo sich bekanntermaßen nicht nur Filmproduzenten und Bundespräsidenten treffen und Urlaub machen, sondern wo sich insgesamt die Schönen, Reichen und Mächtigen treffen. Wenn man Sylt kennt, dann kann man das auch nachvollziehen. Also: nichts gegen Sylt. Aber wenn dort, wo sich die Schönen, Reichen und Mächtigen treffen, auf Einladung der Glücksspiellobby eine Veranstaltung stattfindet, bei der es genau um dieses Thema geht - man redet in schönem Ambiente über Blackjack und Lotto -, dann hat das einen gewissen Beigeschmack. ({0}) - Vergessen Sie Blackjack. Das soll der Staatsanwalt aus meiner Sicht nicht entscheiden. Ich halte den Vorschlag der SPD an dieser Stelle für zu unkonkret; darauf werde ich später eingehen. Wir brauchen konkretere Regelungen, mit denen nicht nur die Staatsanwaltschaft etwas anfangen kann, sondern auch die Betroffenen selbst. Es muss klare Spielregeln geben, damit auch die Bürgerinnen und Bürger wissen, was erlaubt ist und was nicht. ({1}) Das Treffen auf Sylt - wir können es Sylt-Sause nennen oder auch nicht - ist keine Ausnahme; Ähnliches erleben wir in unserer tagtäglichen Praxis. Es gibt viele andere Beispiele, die ein Geschmäckle haben. Wenn ein Bundestagsabgeordneter, der beispielsweise für den Bereich Gesundheit zuständig ist, regelmäßig Vorträge bei der Pharmalobby hält, für die er ein Honorar zwischen 1 000 und 3 500 Euro bekommt - das ist transparent; das kann man aufgrund der Veröffentlichungspflichten nachvollziehen -, dann würde ich nicht unbedingt unterstellen, dass das Honorar für diese Vorträge unangemessen ist, aber trotzdem stellt sich die Frage, ob sich nicht in gewisser Art und Weise Dankbarkeitsverhältnisse und Verpflichtungen entwickeln, ({2}) allein dadurch, dass man regelmäßig Geld bekommt. ({3}) - Ich komme gleich zum Thema Strafbarkeit und werde Ihnen einen ganz konkreten Vorschlag machen. ({4}) - Genau das ist ja das Problem. Auch da stellen sich Fragen. Das alles erzeugt Misstrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern, und diesem Misstrauen müssen wir begegnen; denn Vertrauen ist der wichtigste Wert in der Politik. Dieses Vertrauen müssen wir stärken. ({5}) Eingangs wurde bereits erwähnt, dass es schon seit langem Handlungsbedarf gibt. Ein Gesetzentwurf ist überfällig. Die rot-grüne Regierung hat 2003 vieles gemacht, was wir als Linke überhaupt nicht gut finden. Die Agenda 2010 ist nur ein Beispiel. ({6}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich will ausdrücklich loben, dass die SPD-geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder im Jahr 2003 die UN-Konvention gegen Korruption unterzeichnet hat. Das war richtig gut; das haben Sie gut gemacht. Das Problem ist - das ist schon gesagt worden -, dass es danach erst einmal für lange Zeit einen Stillstand gab. Im Moment haben wir die Situation, dass CDU, CSU und FDP die Ratifizierung und Umsetzung weiterer Richtlinien verhindern. Das finde ich bemerkenswert. Erst am Montag haben wir über das Hilfspaket für Griechenland abgestimmt. Nun sagt der Fraktionsvorsitzende der FDP, Herr Brüderle, den Griechen, sie sollen Maß halten, sie sollen die Korruption bekämpfen und sich insgesamt am deutschen Michel orientieren. Dabei haben die Griechen, wie viele andere Staaten auch, im Gegensatz zu Deutschland einen erweiterten Straftatbestand, der die Abgeordnetenkorruption in umfassenderer Weise unter Strafe stellt. ({7}) - Überlegen Sie sich gut, ob es richtig ist, über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Deutschen Bundestag so hämisch zu lachen. Sie wollen Europäer sein? Ich finde, das ist Häme, das ist deutsche Großmannssucht. ({8}) Die Griechen haben entsprechende Richtlinien, genauso wie die Finnen, die Franzosen und andere. Sie können sich überall in Europa und in der Welt umgucken - es wurde schon gesagt -: Deutschland steht auf einer Ebene mit dem Sudan. Zur CDU/CSU. Sie sind eigentlich die Fraktion von Law and Order, die jeden Kiffer und jeden Falschparker mit drakonischen Strafen versehen will. Jetzt schauen Sie auf einmal weg, man hört, weitere Maßnahmen seien nicht nötig; denn es geht um die eigene Sache, es geht um eigene Privilegien. An die will man nicht herangehen. Das sind doppelte Standards, das ist doppelbödig, und das ist nicht in Ordnung. ({9}) Indem Sie seit Jahren verweigern, diesen Straftatbestand einzuführen, betreiben Sie mindestens Arbeitsverweigerung. In einem anderen Zusammenhang wäre es Strafvereitelung im Amt. ({10}) Die verschiedenen Initiativen sind schon angesprochen worden. In dieser Wahlperiode waren die Linken die Ersten: Wir haben im Jahr 2010 einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Grünen folgten im Jahr 2011, die SPD in diesem Jahr, im Jahr 2012. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, legt die FDP vielleicht im Jahr 2014 einen Gesetzentwurf vor, vielleicht, weil dann die Wahlperiode zu Ende ist. Alles andere weiß man auch nicht. ({11}) Das dauert alles viel zu lange. Wir müssen schneller vorangehen. Deswegen ist die Initiative gut. Die Tolerierung politischer Korruption, wie sie jetzt gehandhabt wird, schwächt den Kampf gegen Korruption insgesamt. ({12}) Zum Gesetzentwurf der SPD. Ich habe ihn wirklich sorgfältig durchgelesen. Die erste Seite finde ich ganz prima. Ich habe da ganz viele Haken angebracht. Alles richtig: die Problembeschreibung, grundsätzlich die Lösung, auch die Alternativen sind richtig beschrieben, und zu den Kosten brauche ich nichts zu sagen. Das Problem aber ist die Formulierung - das ist hier schon gesagt worden -, dass Zuwendungen, die „parlamentarischen Gepflogenheiten“ entsprechen, ausgenommen werden sollen. Das ist sehr allgemein formuliert; das sage ich auch als Jurist. Wenn ich so eine Formulierung lese, gehen bei mir die Alarmglocken an. Das wird noch näher ausgeführt. Hier heißt es, dass die Bewirtung bei Informationsgesprächen und Festveranstaltungen in Ordnung sein soll, dass das, was üblich ist, in Ordnung sein soll. Die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen soll in Ordnung sein, auch der unentgeltliche Transport zu einer Veranstaltung und die Übernahme der Übernachtungskosten. Das Gleiche gilt für Informationsreisen. Das sind genau die Beispiele, die Sie in den Korruptionsrichtlinien der Landesregierungen finden. ({13}) Die Landesregierungen untersagen all das ihren Beamten und Angestellten. ({14}) - Darauf komme ich gleich zu sprechen. - All das wird Beamten und Angestellten untersagt. Bei Abgeordneten soll das alles möglich sein. ({15}) Dann sind das alles parlamentarische Gepflogenheiten. Auf diese Beispiele setzen Sie noch eines drauf, indem Sie auf die „allgemeine Lebenserfahrung“ abheben. Meine allgemeine Lebenserfahrung sagt mir etwas, was ich hier nicht aussprechen möchte. Ich befürchte, dass viele Bürgerinnen und Bürger das genauso sehen. Wir können nicht die allgemeine Lebenserfahrung zum Maßstab für das Handeln machen und die Beurteilung dessen in die Hände eines Staatsanwalts oder einer Staatsanwältin legen. ({16}) Das Problem ist, dass hier der Versuch unternommen wird, Politikern Privilegien einzuräumen. Sie haben völlig recht: Beamte sind keine Abgeordneten, und man muss sie anders behandeln als Parlamentarier. ({17}) Der Grundsatz ist aber der gleiche - diesen Grundsatz finden Sie in den Korruptionsrichtlinien und den entsprechenden Erlassen -: Die Annahme von Aufmerksamkeiten kann ein Einfallstor für Korruption sein. Dem müssen wir begegnen, weil genau das Misstrauen auslöst. Ich nehme einmal ein ganz konkretes Beispiel: Wenn meine Katze wegläuft und ein Polizeibeamter so freundlich ist, sie mir nach seinem Feierabend nach Hause zu bringen, sodass ich überglücklich bin, darf ich ihm keine Flasche Wein geben. Ich darf sie ihm zwar anbieten, aber er muss dieses Dankeschön abschlagen. Bei Politikern wäre das überhaupt kein Problem, und bei diesen bleibt es auch nicht bei einer Flasche Wein. ({18}) Ich will Ihnen sagen, was wir brauchen: Wir brauchen klare Regeln, um dem begegnen zu können. Eine klare Regel wäre zum Beispiel eine Bagatell- oder Erheblichkeitsgrenze. ({19}) Ich sage Ihnen auch: Ich würde diese Grenze ziemlich niedrig ansetzen. Ich würde sie bei 10 Euro ansetzen. Für 10 Euro kann man sich durchaus von Herrn Maschmeyer, wenn man das möchte, auf einen Kaffee einladen lassen. Für 10 Euro ist sogar ein Stück Kuchen drin. Wenn Sie aber ein Abendessen oder schöne Weinrunden haben möchten, dann müssen Sie die selbst bezahlen. Das ist zumutbar. Wir bekommen anständige Diäten, und wir erhalten Aufwandsentschädigungen. Das ist alles möglich. Wir können das selbst bezahlen. Ich möchte nicht, dass bei den Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck entsteht, der Bundestag sei eine Schnorrerbude. Das ist er nämlich nicht. ({20}) Ich komme zum Schluss. Es ist sinnvoll, Abgeordnetenkorruption unter Strafe zu stellen. Sinnvoll ist es, kein Sonderrecht für Abgeordnete und Parlamentarier zu schaffen. Bezüglich der Details sind wir immer zu Gesprächen bereit. Statt dieses Placebogesetzes brauchen wir endlich eine bittere Pille für korrupte Abgeordnete. Das müssen wir schaffen. Vielen Dank. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jörg van Essen ist der nächste Redner für die FDPFraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe zu denen gehört, die im Jahre 1993 zusammen mit dem Kollegen Hans de With von der SPD den Versuch unternommen haben, die Situation, die wir damals vorgefunden haben - seit dem Jahr 1953, in dem eine entsprechende Bestimmung aufgehoben worden ist, hatten wir überhaupt keine Strafbarkeit -, sorgfältig zu analysieren, auch im Rahmen von Anhörungen. Nachdem wir uns die verschiedenen Fragestellungen sehr sorgfältig angeschaut hatten, waren wir gemeinsam zu dem Vorschlag gekommen, die jetzige Vorschrift bezüglich des Stimmenkaufs - § 108 e StGB - in den Deutschen Bundestag einzubringen. Das ist damals auch mit den Stimmen der SPD verabschiedet worden. Auch die SPD hat damals - zu Recht, wie ich finde - gesagt, dass alle Versuche, auch anderes Verhalten strafrechtlich zu fassen, in die Irre führen. ({0}) Ich bin der Auffassung, dass das weiterhin gilt. Interessant ist im Übrigen, dass hier immer als Notwendigkeit angeführt wird, dass es internationale Abkommen gibt - es gibt sie -, dass aber nie als Notwendigkeit angeführt wird, dass wir irgendeinen Fall haben, der eigentlich bestraft gehört. ({1}) Ich bin sehr froh, dass das so ist. Ich finde, dass das zeigt, was unsere wichtigste Aufgabe ist. Unsere vornehmste Aufgabe ist nämlich, unsere Amtsverhältnisse so zu gestalten, dass es nach Möglichkeit keine Bestechung im Bundestag und auch überhaupt keinen Anreiz dafür gibt. ({2}) Deshalb möchte ich damit anfangen und nicht mit dem Strafrecht, wie man es vielleicht von einem Oberstaatsanwalt wie mir erwarten könnte. ({3}) Der erste Punkt bei der Verhinderung von Korruption, der mir ganz wichtig ist, ist: Ein Parlament darf nicht zu klein werden. In einem kleinen Parlament bestimmt praktisch der einzelne Berichterstatter, was verabschiedet wird; dies macht ihn anfällig für Angebote. In einem Parlament wie unserem, in dem schon in den Fraktionen breit diskutiert wird, merken die Kollegen sehr schnell, wenn ein Kollege, dessen Meinung man in aller Regel kennt, plötzlich andere Auffassungen vertritt. Die Kollegen werden dann überrascht nachfragen und dafür sorgen, dass die Argumente, wenn es keine guten sind, nie das Licht des Deutschen Bundestages erblicken. Das ist aktive Vorbeugung gegen Korruption. Der zweite Punkt, der mir ganz wichtig ist - auch das spielt kaum eine Rolle in der Diskussion -, ist, dass wir Abgeordnete brauchen, die nicht von der Politik abhängig sind, ({4}) die einen Beruf haben, in den sie zurückkehren können. Wer beispielsweise Rechtsanwalt ist und nach der Zeit in der Politik wieder als Rechtsanwalt tätig werden kann, wer wie ich Beamter ist und eine Garantie hat, in den Beruf zurückkehren zu können, der wird sich ganz anders verhalten als jemand, der nicht über einen solchen Beruf verfügt und deshalb große Sorgen hat, was aus ihm wird. So jemand wird eher Gefälligkeiten umsetzen als jemand, der vor seiner Zeit im Deutschen Bundestag einen Beruf ausgeübt hat, in den er zurückkehren kann, und der daher selbstbewusster ist. ({5}) Deshalb - das ist der nächste Aspekt, den ich gerne ansprechen möchte - brauchen wir Verhaltensregeln, die Transparenz schaffen. Ich glaube, dass wir da gut vorangekommen sind. ({6}) Ich gestehe zu - ich schaue den Kollegen Beck an -, dass ich da und dort kritisch war. ({7}) Aber ich muss sagen: Manches, das ich kritisch gesehen habe, hat sich inzwischen bewährt. Transparenz führt natürlich auch dazu, dass weniger Korruption stattfinden kann. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Vorbeugung von Korruption im Deutschen Bundestag. Ich glaube, dass das bei uns bisher sehr gut funktioniert hat. Wenn ich mich recht entsinne, dann hat es bisher nur zwei Fälle von wirklichem Stimmenkauf gegeben; das wäre strafbar gewesen. Das war das Kaufen von Stimmen durch die Stasi der DDR bei einem Votum 1972. ({8}) - Ja, Herr Kollege.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Darf der Kollege Montag Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Montag, bitte schön.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Kollege van Essen, ich hatte auf die Erlaubnis des Präsidenten gewartet. - Sie führen, wie ich finde, völlig zu Recht aus, dass wir im Deutschen Bundestag seit vielen Jahren zum Glück überhaupt keinen Fall von Bestechung oder Bestechlichkeit kennen und dass es in der Vergangenheit nur sehr wenige Fälle gegeben hat. Würden Sie mir zustimmen, dass dieser Blickwinkel auf den Deutschen Bundestag bei dieser Debatte über die Strafbarkeit viel zu eng ist? ({0}) Denn die internationalen Verträge, die wir eingegangen sind, und die Gesetzentwürfe, die hierzu in der Vergangenheit und auch jetzt vorgelegt worden sind, umfassen alle Abgeordneten der Kommunen, der Bezirke, der Länder und des Bundes. Für die Zehntausenden von Kolleginnen und Kollegen auf allen diesen Ebenen ist das Bild schon ein bisschen anders, Herr Kollege van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Sie haben jetzt einen Punkt angesprochen, auf den ich ohnehin gekommen wäre. Dafür bin ich Ihnen ganz dankbar; denn so spare ich Redezeit. Was, glaube ich, sehr hilft - das ist der erste Teil meiner Antwort -, ist unsere offene Immunitätsregelung. Bei uns weiß jeder Abgeordnete: Wenn er etwas pekziert, dann findet sofort Strafverfolgung statt. Bei uns wird nicht so verfahren wie in Frankreich, wo ganz lange Immunität herrscht und irgendwann, ganz spät, Strafverfolgung stattfindet. Da Sie praktizierender Rechtsanwalt sind - auch ich komme aus dem Bereich der Justiz -, wissen Sie: Je später eine Verhandlung stattfindet, desto günstiger ist dies für den Beschuldigten bzw. den Angeklagten, weil sich die Zeugen dann schlechter erinnern können. Deshalb trägt unsere offene Immunitätsregelung mit dazu bei, dass solch strafwürdiges Verhalten bei uns seltener vorkommt als in anderen Ländern. ({0}) Was Sie zu Recht angesprochen haben - Herr Kollege, ich möchte weiter auf Ihre Frage antworten -, ({1}) ist die Situation insbesondere in den Kommunalparlamenten. Dort gab es entsprechende Vorgänge; das ist unbestreitbar. Ich weise allerdings darauf hin, dass der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung deutlich gemacht hat, dass die Vorschrift des § 108 e StGB viel weiter auszulegen ist, dass sie als Unternehmensdelikt ausgestaltet ist und dass die Strafbarkeit deshalb schon sehr früh beginnt. Sie, Frau Kollegin Lambrecht, haben in dieser Debatte wieder die Behauptung aufgestellt, dass das Ganze ins Leere läuft. ({2}) Wer sich die Entscheidung des Bundesgerichtshofes anschaut, stellt fest: Der BGH hat sehr deutlich gemacht, ({3}) dass das Gericht dies übersehen hat und unsere Entscheidung, den § 108 e StGB als Unternehmensdelikt auszugestalten, auch die Möglichkeit eröffnet, ein solches Verhalten, beispielsweise in Kommunalparlamenten, strafrechtlich zu erfassen. ({4}) Von daher bin ich der Auffassung, dass wir eine ganze Menge unternommen haben, um unser Parlament nach Möglichkeit von Korruption frei zu halten. ({5}) Es hat hier immer wieder eine Rolle gespielt, welche internationalen Vereinbarungen von den verschiedenen Bundesregierungen, insbesondere von der rot-grünen Bundesregierung, abgeschlossen worden sind. Daran erinnere ich mich sehr gut. Die rot-grüne Bundesregierung ist von allen damals im Bundestag vertretenen Fraktionen - von der SPD als stärkster Fraktion, von der CDU/ CSU, von den Grünen und von der FDP - gebeten worden, die Konvention nicht zu unterzeichnen. ({6}) - Das war so. ({7}) Ich war bei den Gesprächen mit der Bundesregierung selbst dabei. ({8}) Die Bundesregierung ist selbstverständlich von allen Fraktionen gebeten worden, die Konvention nicht zu unterzeichnen. Was war der Grund dafür, dass alle Fraktionen dies gefordert haben? Der Grund war sehr nachvollziehbar. Es war nämlich beabsichtigt, in dieser internationalen Konvention alle Amtsträger ({9}) einschließlich der Abgeordneten gleichzubehandeln. Das ist angesichts unseres nationalen Rechts nicht umzusetzen. ({10}) Ich habe deutlich gemacht: Ich bin von der Ausbildung her Jurist und von Beruf Oberstaatsanwalt - und damit Beamter. Somit war vollkommen klar: Wenn ich bei Ermittlungen ein Gespräch geführt habe, habe ich kein Geschenk angenommen; das ist für Beamte ein ganz klarer Pflichtenkreis. Aber als Abgeordneter gilt für mich Art. 38 des Grundgesetzes. Wenn man zum Beispiel - es sind ja schon einige Beispiele angeführt worden - einen Betrieb besichtigt, etwa einen Bäckereibetrieb, dann bekommt man danach in aller Regel ein Gastgeschenk. ({11}) Es ist auch eine Frage der Höflichkeit, dieses dann anzunehmen. ({12}) - Woher wissen Sie denn, dass die Unrechtsvereinbarung fehlt? ({13}) Das wäre nämlich der nächste Satz gewesen, den ich sagen wollte: Damit wird häufig der Wunsch verbunden, ({14}) dass man sich für die Interessen des Betriebes, die gerade vorgestellt und in aller Regel gut begründet worden sind, einsetzt. ({15}) Das macht deutlich, dass wir hier in einer ganz schwierigen Situation sind. Die Kollegin Lambrecht hat die Erwartung geäußert, dass die Staatsanwälte all das, was die SPD formuliert hat, nicht so eng sehen würden. ({16}) Das ist doch schier unfassbar! Wir befinden uns hier im Bereich des Strafrechts. ({17}) Und hier gilt das Bestimmtheitsgebot. Es kann nicht sein, dass Sie irgendwelche Hoffnungen gegenüber den Strafverfolgern äußern, ({18}) sondern es muss doch ganz klar definiert sein, was strafbar ist und was nicht. ({19}) - Dass Sie es nicht gemacht haben, hat Ihnen der Kollege Raju Sharma ja schon vorgeführt. Sie normieren etwas in dem einen Paragrafen, und im nächsten Absatz führen Sie aus, was alles nicht strafbar sein soll. Das ist doch schier unfassbar.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege van Essen, darf auch der Kollege Ströbele eine Zwischenfrage stellen?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Beim Kollegen Ströbele tue ich mich immer ganz schwer, aber bitte sehr. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Warum eigentlich, Herr Kollege van Essen?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie können sich denken, dass Oberstaatsanwälte mit Ihnen Probleme haben. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sind Sie hier als Abgeordneter oder als Oberstaatsanwalt? Herr Kollege van Essen, nehmen Sie zur Kenntnis, dass in unseren Gesetzentwurf eine Vorschrift aus dem Strafgesetzbuch, die seit Jahrzehnten geltendes Recht ist, nämlich die Verwerflichkeitsklausel im Nötigungsparagrafen, deshalb aufgenommen worden ist, um klar und deutlich zu machen, dass es nach allgemeiner Meinung - hier muss der Staatsanwalt gar nicht großzügig sein nicht verwerflich ist, wenn Sie in der Bäckerei ein Brötchen annehmen. Deshalb kommt hier Strafbarkeit gar nicht in Betracht. Dieser Tatbestand im Nötigungsparagrafen hat sich - in Anführungsstrichen - weitgehend bewährt. Sie können doch nicht sagen, das sei zu allgemein. Das ist vom Bundesverfassungsgericht immer wieder abgesegnet und dort aufgenommen worden.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist so, ja. Sie führen ja selber aus, dass das sehr allgemein ist. ({0}) Wir haben die Diskussion hierzu ja schon mehrfach geführt. Es sei insbesondere darauf hingewiesen, dass sich auch der Deutsche Anwaltverein dazu geäußert hat und dass wir daher eine breite Unterstützung dafür haben, dass der Vorschlag, den Sie gemacht haben - das gilt insbesondere für die Verwendung des Begriffs „verwerflich“ -, nicht zielführend ist. ({1}) Deshalb muss ich Ihnen sagen, dass wir diesen Weg nicht gehen werden. Ich bin im Übrigen dankbar, dass auch die SPD diesen Weg nicht gegangen ist, weil sie genau gemerkt hat, dass die Kritik, die an dieser Formulierung erhoben worden ist, zutrifft. ({2}) Ich finde es allerdings richtig, dass die SPD mit ihrer Vorschrift deutlich gemacht hat, dass für Abgeordnete eine andere Regelung als für Beamte gefunden werden muss. ({3}) Damit unterscheidet sich die SPD ganz deutlich von den Linken. Ich glaube, dass das der Weg sein muss, wenn man zu einer Lösung kommen will. Ich kann jedem nur empfehlen - damit will ich meine Ausführungen schließen -, einen wirklich bemerkenswerten Aufsatz zu lesen, den nicht eine Abgeordnete, sondern eine Strafverteidigerin, Regina Michalke, in der Festschrift für Professor Hamm geschrieben hat. Dort hat sie sich mit all diesen Argumenten ganz außerordentlich gut auseinandergesetzt. Das ist nicht nur für Juristen verständlich, das können auch Historiker, gelernte Sozialwissenschaftler oder andere sehr gut lesen. Wenn Sie den Artikel gelesen haben, wissen Sie, warum wir uns so schwer damit tun. Eine wirklich befriedigende Abgrenzung - auf der einen Seite die Freiheit des Mandats und auf der anderen Seite die Anforderungen, die wir an Beamte stellen - und strafrechtliche Lösung finden wir hier nicht. Deshalb sollten wir, wie ich finde, unseren Schwerpunkt weiter auf einen Weg legen, mit dem wir sehr viel Erfolg hatten, nämlich darauf, durch Prävention zu verhindern, dass es überhaupt zu entsprechenden Handlungen von Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages kommt. Eine Bemerkung ganz zum Schluss: Es liegt ein neuer Vorschlag auf dem Tisch. Dies ist ein neuer Ansatz. Deshalb ist es ganz selbstverständlich, dass wir uns in den parlamentarischen Beratungen mit diesem Vorschlag der SPD auseinandersetzen und dass wir gucken, was möglich und was nicht möglich ist. Das ist ganz selbstverständlich und gehört auch mit zu einer parlamentarischen Debatte. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jerzy Montag hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zu Ihnen sage ich heute: Willkommen an Bord! Seit 2005 beschäftige ich mich im Deutschen Bundestag mit der Abgeordnetenbestechung. ({0}) Wir haben darüber schon sehr viele Debatten geführt. In all diesen Debatten haben Sie immer gesagt, dass etwas getan werden muss. Es hat zwar sehr lange gedauert, aber jetzt sind Sie dabei. Das freut uns. ({1}) Ich will zuallererst etwas zu dem sagen, was uns hoffentlich eint. Korruption ist ein Verhalten, das in der Kommune, im Land, in Europa und im globalen Ausmaß wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe verursacht. Korruption zersetzt die Moral. Sie eliminiert Grundsätze ethischen Verhaltens und fördert Gier und Egoismus. Korruption zerstört demokratische und rechtsstaatliche Strukturen. Sie vernichtet die Bindung der Bürokratie an Recht und Gesetz. Korruption folgt dem Gesetz des Dschungels. Deshalb muss sie bekämpft werden, national und international. Das geschieht mit Verhaltenskodizes, durch Schulungen und Ausbildung und auch auf gesetzlichem Wege. Auf internationaler Ebene geschieht es durch die Eingehung internationaler Verträge. Das ist im Grundsatz die Position der jetzigen Bundesregierung, und das war die Position der früheren Bundesregierungen. Heute geht es darum, was wir jetzt machen müssen. Deshalb will ich mich nicht über die Vergangenheit, ob 1999, 2003 oder wann auch immer, äußern. Wir reden über die Situation 2012 und über die Zukunft. Uns liegt das Strafrechtsübereinkommen über Korruption des Europarats vor. Deutschland ist Gründungsmitglied des Europarats. Wir haben dieses Abkommen mit ausgearbeitet. Wir gehören zu den Erstunterzeichnern. Im Rahmen des Europarats ist das Abkommen seit zehn Jahren in Kraft. 43 der 47 Mitgliedstaaten des Europarats haben es ratifiziert. Wir gehören zu den letzten Staaten, die es noch nicht ratifiziert haben. Das ist eine Schande. ({2}) Auch die Konvention der Vereinten Nationen gegen Korruption, die seit 2005 in Kraft ist, liegt uns vor. Auch daran hat Deutschland im Rahmen der UNO konstruktiv mitgearbeitet. 160 Staaten haben sie ratifiziert. Nicht unterschrieben haben Nordkorea, Somalia und der Tschad, nicht ratifiziert haben Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Myanmar und Deutschland. Das ist ebenfalls eine Schande. ({3}) Beide Verträge fordern von uns, dass wir bestechliche und bestochene Mitglieder inländischer öffentlich-rechtlicher Vertretungskörperschaften, die Gesetzgebungsbefugnisse ausüben - das sind Abgeordnete -, unter Strafe stellen. So der Europarat. Die Vereinten Nationen definieren Personen, die durch Wahl ein Amt im Bereich der Gesetzgebung ausüben. Das sind Abgeordnete. Worum es nicht geht, ist eine Gleichsetzung mit Amtsträgern. Es geht auch in diesen völkerrechtlichen Verträgen nicht um die Gleichsetzung. Es gibt eine Differenzierung. Diese kann aber nicht bedeuten, dass es bei Amtsträgern keine Bestechung geben darf, dass dies jedoch für Abgeordnete nicht gelten soll. Eine solche Differenzierung zwischen Amtsträgern und freien Abgeordneten wollen Sie doch sicherlich nicht. Das können Sie nicht verlangen, meine Damen und Herren von der Union und der FDP. ({4}) Ich will an dieser Stelle nur am Rande auf einen Völkerrechtsvertrag von 1997 hinweisen, Herr Kollege van Essen, nämlich das OECD-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. Dieses völkerrechtliche Abkommen hat die damalige schwarz-gelbe Regierung verhandelt und unterschrieben. In dieser völkerrechtlichen Vereinbarung wird gefordert, eine Strafbarkeit einzuführen für - Zitat - „eine Person, die in einem anderen Staat durch … Wahl ein Amt im Bereich der Gesetzgebung … innehat“. Diese Formulierung ist identisch mit denjenigen aus den Völkerrechtsverträgen von 1999 und 2003. Berichterstatter waren Herr Kollege Geis und Sie, Herr van Essen. Als der Straftatbestand der Bestechung ausländischer Abgeordneter im Sommer 1998 eingeführt worden ist, gab es hier eine Debatte. Ich habe gestern die Protokolle nachgelesen. In dieser Debatte hat lediglich der Kollege van Essen ganz kurz dazu Stellung genommen. Sie haben diese Strafvorschrift in dem neuen Gesetz ausdrücklich begrüßt. Deswegen ist es unglaubwürdig und auch ein bisschen heuchlerisch, ({5}) wenn Sie jetzt so tun, als wenn erst unter Rot-Grün eine falsche völkerrechtliche Richtung bei der Bekämpfung internationaler Kriminalität eingeschlagen worden wäre. ({6}) Es wurde nur den bewährten Spuren gefolgt, die Sie bereits gezogen hatten. Nur weigern Sie sich heute, die Konsequenzen daraus zu ziehen. ({7}) In der Debatte im letzten Jahr haben Kolleginnen und Kollegen von der Union behauptet, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs würde eine Ungleichbehandlung von Amtsträgern und Abgeordneten fordern, und zwar in der Richtung, dass Abgeordnete von Strafbarkeit freizusprechen seien. ({8}) Sie haben die BGH-Rechtsprechung für sich reklamiert. Nun will ich Ihnen einmal einen Auszug aus der Wuppertal-Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Wortlaut vorlesen - Zitat -: Die enge gesetzliche Regelung der Strafbarkeit des Stimmenkaufs … führt nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers dazu, weite Teile von als strafwürdig empfundenen Manipulationen im Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen in Volksvertretungen … straflos zu stellen. Der Senat sieht hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf … ({9}) - Nein, in Bezug auf Mandatsträger - ohne eine Beschränkung auf kommunale. Aber selbst diesbezüglich handeln Sie ja nicht. Deutlicher kann die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland nicht sein. Der Auftrag liegt auf dem Tisch, und wir müssen ihn endlich erfüllen. ({10}) Im Übrigen sieht auch das Grundgesetz nicht vor, dass bestochene und bestechliche Abgeordnete von Strafe freigestellt werden. So ist die Freiheit des Mandats in Art. 38 Grundgesetz nun wirklich nicht zu verstehen. ({11}) Wir diskutieren fünf Gesetzentwürfe, zwei von der Linken, zwei von uns und einen von der SPD. Bei allen haben Union und FDP immer behauptet, die Entwürfe seien zu ungenau, zu unpräzise, zu schwammig. Die Union hat mit diesem Argument allerdings noch nie auf ein Strafgesetz verzichtet. ({12}) Den Bürgern muten Sie auch manchmal ungenaue, unpräzise und schwammige Formulierungen zu. ({13}) Für sich reklamieren Sie allerdings eine Sonderbehandlung. Das ist unglaubwürdig, und das geht nicht. ({14}) Wenn Sie wirklich der Meinung sind, unsere Gesetzentwürfe seien nicht ausreichend, dann legen Sie endlich selbst einen vor, über den wir diskutieren können. ({15}) Insbesondere der Vorwurf, in den Gesetzentwürfen, insbesondere in dem der Grünen, würden unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, ist ein geradezu lächerliches Argument. Das Strafgesetzbuch strotzt vor unbestimmten Rechtsbegriffen. ({16}) Diese muten Sie den Bürgerinnen und Bürgern alle zu, weil wir eine funktionierende, objektive und unabhängige Justiz haben, die in der Lage ist, auch unbestimmte Rechtsbegriffe im Strafrecht nach dem Bestimmtheitsgrundsatz auszudeuten. ({17}) Das gilt in gleicher Art und Weise auch für die Aufgabe, der wir uns jetzt zu stellen haben. Die Zeit reicht nicht, um noch einige kritische Worte zum Gesetzentwurf der SPD zu sagen. Das werden wir in den Beratungen tun. Ich will schließen, indem ich sage - da greife ich sehr gerne Ihre Schlussbemerkung, Herr Kollege van Essen, auf -: Jenseits der Positionierungen in der ersten Lesung müssen wir - das ist politisch evident - zu einer Lösung kommen, die es uns ermöglicht, in der internationalen Korruptionsbekämpfung nicht lächerlich dazustehen. Deswegen müssen wir gemeinsam eine Lösung finden. Ich hoffe, dass Ihr Beitrag und die Tatsache, dass auch die SPD jetzt dabei ist, ein Anlass sind, dass wir uns interfraktionell zu Gesprächen zusammenfinden und an der bestmöglichen Lösung arbeiten. Danke schön. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wolfgang Götzer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als sich der Deutsche Bundestag 1993 mit der Frage beschäftigte, wie der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung gesetzlich geregelt werden könnte und sollte, kam man nach intensiven Beratungen und einer Sachverständigenanhörung zu dem Ergebnis, eine Erweiterung des Tatbestands der Abgeordnetenbestechung über den Stimmenkauf hinaus abzulehnen. Ich möchte jedem empfehlen - das wurde heute schon von meinen Vorrednern zitiert -, die Begründung der Gesetzentwürfe der CDU/CSU und der FDP einerseits und der SPD andererseits dazu noch einmal genau zu studieren. Die Begründungen ebenso wie die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen sind in den Gesetzentwürfen der CDU/CSU und FDP und der SPD identisch. Das ist ein höchst seltener und umso bemerkenswerterer Vorgang. ({0}) - Die SPD war vorangegangen. - Die Grünen haben ihren Gesetzentwurf dann zurückgezogen, sodass es zu einer überwältigenden Mehrheit für den § 108 e StGB, wie er jetzt gültig ist, gekommen ist. Ich darf einige wenige Sätze aus der identischen Begründung beider Gesetzentwürfe zitieren: Bei der Art des Aufgabenbereichs der Abgeordneten ist es jedoch nicht möglich, solche andersartigen Handlungen, die Gegenstand einer Bestechung sein könnten, begrifflich in einem klar abgegrenzten Tatbestand zu erfassen. … Eine hinreichend klare Abgrenzung läßt sich auch nicht dadurch erreichen, daß - wie verschiedentlich vorgeschlagen - dem Tatbestand Merkmale wie „in verwerflicher Weise“, „in pflichtwidriger Weise“ oder - jetzt kommt der Ausdruck, der auch im SPD-Entwurf vorkommt „den Gepflogenheiten eines ehrenhaften Abgeordneten unangemessen“ beigefügt werden … Auch die Aufnahme einer der Bestimmung des § 240 Abs. 2 StGB entsprechenden Rechtswidrigkeitsklausel ist nicht zu befürworten. Das ist aus der Begründung der Gesetzentwürfe. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, dass sich an dieser Sach- und Rechtslage irgendetwas grundlegend geändert hat. ({1}) Über mehr als zehn Jahre war diese Regelung, die damals, wie gesagt, mit überwältigender Mehrheit beschlossen wurde, auch nicht umstritten. Seit einigen Jahren wird das Thema nun wieder verstärkt behandelt und beschäftigt den Bundestag allmählich jährlich, teils mit neuen, teils mit aufgewärmten Gesetzentwürfen. Dabei sind die Argumente doch hinlänglich ausgetauscht. Was ist der Grund dafür, dass das Thema der Abgeordnetenbestechung seit einigen Jahren wieder verstärkt thematisiert wird? Sind etwa einschlägige Vorkommnisse, Fälle oder gar eine Häufung derselben in den letzten Jahren aufgetreten? Das Beispiel des Kollegen Sharma ist nun wahrlich nicht geeignet, eine solche Verschärfung zu begründen. ({2}) Im Bundestag hat es nach meiner Erinnerung in den letzten Jahren nichts dergleichen gegeben, was Anlass zu einer Verschärfung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung geben würde. Nun berufen sich die Befürworter einer solchen Verschärfung - das haben wir heute wieder gehört - mangels tatsächlicher Erfordernisse gerne auf internationale Übereinkommen, insbesondere der VN und des Europarats, gegen Korruption, die von der damaligen rot-grünen Bundesregierung unterzeichnet worden sind, worüber insbesondere die Abgeordneten der SPD damals alles andere als begeistert waren. Auch der aktuelle Gesetzentwurf der SPD kritisiert - wir haben es heute wieder gehört -, dass Deutschland zu den wenigen Vertragsstaaten gehört, die bis heute insbesondere das VN-Übereinkommen nicht in nationales Recht umgesetzt haben. Warum hat der Deutsche Bun19402 destag diesem Abkommen bis heute nicht zugestimmt? Der entscheidende Punkt - ich sage es noch einmal -, der gegen eine Ratifizierung dieser Abkommen damals wie heute spricht, ist: Beide Abkommen stellen Abgeordnete ausdrücklich mit Amtsträgern gleich. ({3}) Eine solche Gleichstellung ist aber nicht nur sachwidrig, sie ist auch mit unserem Verfassungsverständnis nicht vereinbar. ({4}) Darüber sind sich - das ergibt sich auch aus den Debattenbeiträgen des letzten Jahres - jedenfalls die Fraktionen der demokratischen Parteien in diesem Hause einig. Weitere Ausführungen dazu möchte ich mir deshalb an dieser Stelle ersparen. Obwohl der damaligen rot-grünen Bundesregierung der grundlegende Unterschied zwischen Amtsträgern und Abgeordneten klar war, hat sie seinerzeit bei der Zustimmung zu den beiden internationalen Abkommen keinen entsprechenden Vorbehalt erklärt - was sie hätte machen können. Gerne versucht man auch heute wieder die Forderung nach Ratifizierung des VN-Abkommens damit zu untermauern, dass inzwischen, wie ich glaube, 158 Staaten diese vollzogen hätten und außer Deutschland nur noch Länder wie Syrien, Saudi-Arabien oder Nordkorea nicht dabei seien. ({5}) Das überzeugt mich aber nun am allerwenigsten. Schauen wir uns doch einmal umgekehrt an, welche Länder diese Abkommen ratifiziert haben: Pakistan, Afghanistan, ({6}) Iran, China, ({7}) Russland, Kuba, ({8}) Libyen unter Gaddafi usw. Ich glaube, da erübrigt sich jeder Kommentar. ({9}) Die Forderung nach Verschärfung des Tatbestands der Abgeordnetenbestechung wird auch heute wieder wie im SPD-Gesetzentwurf darauf gestützt, dass eine Rechtsprechung des BGH eine solche Verschärfung angeblich erforderlich mache. Dazu möchte ich klar sagen: Das angeführte Urteil aus dem Jahr 2006 bezieht sich ausdrücklich auf kommunale Mandatsträger. Deren Rechtsstellung ist eine andere als die von Landtags- und Bundestagsabgeordneten. ({10}) Damit möchte ich zusammenfassend feststellen: Da es in den letzten Jahren im Bereich des Deutschen Bundestages keine Vorkommnisse gab, die eine Verschärfung der Strafvorschrift der Abgeordnetenbestechung erforderlich erscheinen lassen, ({11}) da des Weiteren schwerwiegende Gründe gegen eine Ratifizierung der einschlägigen internationalen Abkommen sprechen und da sich keine Handlungsverpflichtung aus höchstrichterlicher Rechtsprechung herleiten lässt, gibt es, verehrte Kolleginnen und Kollegen, keinen Regelungsbedarf. ({12}) Umso fragwürdiger und hinterfragungswürdiger ist es, dass dieses Thema immer wieder hochgespielt wird; denn dadurch wird - entgegen der Realität - der Eindruck erweckt, Korruption bei Parlamentariern sei ein großes Problem. ({13}) Damit stellt man die Abgeordneten in Gesamtheit unter Generalverdacht. ({14}) Das ist durch nichts gerechtfertigt. ({15}) Leider leistet dem auch der SPD-Gesetzentwurf in seiner Begründung Vorschub. Die Gefahr, dass Abgeordnete unberechtigt öffentlichen Anschuldigungen und damit Vorverurteilungen ausgesetzt werden, ({16}) würde im Übrigen noch verstärkt, wenn der Tatbestand des § 108 e StGB mit unscharfen Formulierungen und unbestimmten Rechtsbegriffen angereichert würde, wie sie bislang alle Änderungsvorschläge enthalten. ({17}) Alle bisher bekannten Formulierungsvorschläge werden den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Grundgesetz nicht gerecht. ({18}) - Sie kennen doch die Schlussfolgerung meiner Argumentation, werte Kollegin: weil es nicht möglich ist. ({19}) Ich beziehe mich dabei auf die damals einvernehmlich auch von SPD und Grünen übernommene Begründung von 1993: Weil es nicht möglich ist, das, was Sie regeln wollen, juristisch in einen sauberen, klar abgrenzbaren Tatbestand zu fassen. ({20}) Ich sage noch einmal: Keiner der vorgelegten Vorschläge genügt den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots in Art. 103 Grundgesetz. Das gilt auch für den jetzt eingebrachten Gesetzentwurf der SPD. Da ist zum Beispiel von „parlamentarischen Gepflogenheiten“ die Rede. Ja, wer bestimmt denn im Fall des Falles, was darunter zu verstehen ist? ({21}) Sollen das die Staatsanwaltschaften machen? Auch die Begründung des SPD-Entwurfes, verehrte Kollegin Lambrecht, spricht im Übrigen die grundsätzliche Schwierigkeit an, bei diesem Thema überhaupt zu einer hinreichend klaren Formulierung zu kommen. Sie sprechen zwar die Schwierigkeiten an, scheitern aber an ihnen. Meine Damen und Herren, die wirksamsten Mittel gegen Korruption sind öffentliche Kontrolle und parlamentarische Transparenz. ({22}) Das ist gerade in einer Demokratie mit einer kritischen Medienöffentlichkeit effektiver als jede Strafdrohung. ({23}) Dass die Kontrolle durch die Öffentlichkeit funktioniert, kann niemand bezweifeln. Und was die Transparenz angeht, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Durch die Verschärfung unserer Verhaltensregeln haben wir gezeigt, dass es uns ernst damit ist. Ich bedanke mich. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin immer optimistisch, und deswegen bin ich heute in der Hoffnung in die Debatte gegangen, dass sich die Koalitionsfraktionen nicht länger verschließen, sondern endlich erkennen, dass wir dringend eine Regelung brauchen, um Abgeordnetenbestechung unter Strafe zu stellen. Denn die Stimmen hatten sich gemehrt. Die Staatssekretärin im Bundesjustizministerium hat bereits vor zwei Jahren angekündigt, die Bundesregierung setze alles daran, die UN-Konvention zur Bekämpfung von Korruption umzusetzen. Unabhängig davon, dass wir es nicht als eine Aufgabe der Bundesregierung ansehen, fand ich das sehr ambitioniert formuliert. Auch unser Bundestagspräsident, der heute schon ein paar Mal erwähnt wurde, hat sich mehrfach sehr deutlich dazu geäußert, dass er ebenfalls dafür sei. Jüngst hat auch Ex-Finanzminister Theo Waigel - das hat mich sehr überrascht, aber auch gefreut - an Sie appelliert und offensichtlich sogar die bayerische Justizministerin aufgefordert, einen Entwurf vorzulegen und endlich tätig zu werden. Ich bin heute also in der Hoffnung in die Debatte gegangen, dass sich bei Ihnen endlich etwas bewegt, und da wir einen exzellenten Vorschlag für die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung gemacht haben, hatte ich gehofft, dass Sie sich zumindest dieser Debatte nicht weiter grundsätzlich verschließen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht Handlungsbedarf. Ich will - das ist schon erwähnt worden - zur UN-Konvention noch eines sagen: Mich hat es einigermaßen erstaunt, Frau Voßhoff, dass Sie heute in die Debatte eingeworfen haben, es sei ein Fehler gewesen, diese Konvention zu unterzeichnen. Ich denke, wir sind uns hier in diesem Haus einig, dass internationale Vereinbarungen eingehalten werden und dass wir sie nicht dem politischen Tagesgeschäft und der aktuellen Meinung unterwerfen. ({0}) Wir sind uns in diesem Haus sicherlich auch einig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass uns die Tatsache, dass Staaten, bei denen wir uns wundern, dass sie einzelne Konventionen unterzeichnet haben, die Übereinkommen auch umgesetzt haben, nicht daran hindern darf, unsere international eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. ({1}) Jetzt stellen wir uns bitte einmal die Botschaft vor, die von diesem Haus ausgehen würde, wenn wir sagen würden: Wir bekräftigen hier, dass wir uns nicht an diese so wichtige Konvention halten. - Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, und deswegen schließe ich an das an, was schon gesagt wurde: Es ist peinlich, dass wir zu den wenigen Staaten gehören, die noch nicht unterzeichnet haben. - Auch Bundestagspräsident Lammert hat gesagt, dass wir uns damit nicht nur statistisch, sondern auch politisch in einer schwierigen Gesellschaft befinden. ({2}) - Das haben Sie ihm ja schon an die Hand gelegt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik. Wir wissen ganz genau, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Integrität der Volksvertreterinnen und Volksvertreter auch von dieser Frage abhängt und dass es nicht besonders groß ist. Dazu, Herr Kollege van Essen, brauchen wir keinen Fall von Abgeordnetenbestechung. Schließlich sind wir alle froh und dankbar, dass wir es nicht massenhaft mit solchen Fällen zu tun haben. ({3}) Vielmehr setzt uns schon die Tatsache, dass Sie sich verschließen, gemeinsam eine sinnvolle, praktikable Regelung zu finden, dem unberechtigten, unnötigen und absolut vermeidbaren Verdacht aus, wir hätten irgendetwas zu verbergen. Dieses Signal müssen wir ganz dringend verhindern. ({4}) Allein der Verdacht reicht aus, das Vertrauen in uns und unsere Politik zu beschädigen oder zu reduzieren. Meine Damen und Herren, das deutliche Signal „Nein, wir sind nicht bestechlich!“ muss von uns, muss vom Deutschen Bundestag ausgehen. Es ist unsere Aufgabe, das Vertrauen herzustellen. ({5}) Ich stelle bei der Debatte fest, dass unser Gesetzentwurf überhaupt nicht gelesen worden ist. Denn da wird etwas „hineingeheimnist“, was da überhaupt nicht drinsteht. Deswegen will ich noch einmal ganz deutlich sagen, dass die Unrechtsvereinbarung der entscheidende Punkt ist. Wir füllen den Begriff vom freien Mandat des Abgeordneten - nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sind wir nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur unserem Gewissen unterworfen - mit dieser Regelung in unserem Gesetzentwurf aus. Wir wollen eben nicht, dass Abgeordnete an Aufträge und Weisungen gebunden sind. Natürlich haben wir um den Vorteilsbegriff gerungen. Das ist ein ganz schwieriger Punkt; wir wissen das. Aber wir alle wollen nicht unter Verdacht geraten, wenn wir an einem parlamentarischen Abend teilnehmen. Da möchte ich einmal die Frage stellen, was Sie auf einem parlamentarischen Abend machen, Herr Kollege Sharma. Entscheidend ist, dass wir nach dem Besuch eines parlamentarischen Abends oder nach der Teilnahme an einem Abendessen eben nicht Aufträge erhalten oder Weisungen entgegennehmen. Das ist der entscheidende Gesichtspunkt in unserem Gesetzentwurf. Wir formulieren den Sachverhalt sehr konkret. Die Aufnahme des Abs. 3 in § 108 e StGB, wie wir sie in unserem Gesetzentwurf vorsehen, ist daher sehr wichtig. Ich bitte darum, das genau nachzulesen. Durch den Verweis auf die parlamentarischen Gepflogenheiten soll der Vorteilsbegriff eingegrenzt werden. Wir sagen, dass alles, was den parlamentarischen Gepflogenheiten unterliegt, vom Vorteilsbegriff nicht umfasst wird. Das ist eine ganz wichtige Eingrenzung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Präsident. Danke sehr, Frau Kollegin Högl. - Sie haben gerade gesagt, Ihr Gesetzentwurf sei im Hohen Hause offensichtlich nicht gelesen worden. Ich für meinen Teil möchte das zurückweisen. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihnen habe ich das auch nicht unterstellt. ({0}) - Nein.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe ihn intensiv gelesen. Sie haben in diesem Abs. 3 - das ist von Ihnen sicherlich gut gemeint - beschrieben, was eine Ausnahme in Bezug auf den Vorteilsbegriff ist. Ein Vorteil ist zwar immer noch ein Vorteil, aber kein Vorteil im Sinne des Gesetzes, wenn er den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht. Ich möchte Sie fragen, wie Sie sich das in der Praxis vorgestellt haben. Soll es ein geschlossener Begriff sein? Das würde bedeuten, dass sich die Justiz beim zuständigen Parlament der Gemeinde XY erkundigt, was dort die Gepflogenheiten sind, wenn sie einen entsprechenden Fall auf dem Tisch hat. Wenn die Wildwuchsgepflogenheiten dieses Parlaments so sind, wie sie sind, dann ist die Strafbarkeit offen. Oder soll es ein offener Begriff sein? Das würde bedeuten, dass die Staatsanwaltschaft und damit die Justiz bestimmen, was parlamentarische Gepflogenheiten sind. Beide Varianten halte ich für unmöglich. Können Sie uns erklären, was Sie genau meinen?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich. Ich möchte aber zunächst vorausschicken, dass ich großes Vertrauen in unsere Staatsanwaltschaften, in unsere Richterinnen und Richter und in die Justiz allgemein habe. ({0}) Das spiegelt sich in diesem Gesetzentwurf wider. Mit Blick auf Ihre Frage möchte ich auch sagen, dass ich es bedenklich finde, dass schon die Bejahung eines Anfangsverdachts manchmal politische Karrieren verhindern kann. Deswegen tun wir uns so schwer bei der Konkretisierung dieses Vorteilsbegriffs. ({1}) Ich kann mir vorstellen, dass wir in der weiteren Beratung den Begriff „parlamentarische Gepflogenheiten“ weiter konkretisieren. Es gibt schon einen Kanon dessen - dieser Punkt ist heute schon angesprochen worden -, was wir unter parlamentarischen Gepflogenheiten verstehen. Ich nenne beispielsweise die Einladung zu einem Essen und die Teilnahme an einer Veranstaltung mit Interessenvertreterinnern und Interessenvertretern. Ich möchte aber so weit wie möglich konkretisieren, was parlamentarische Gepflogenheiten sind. Ich kann mir vorstellen - darüber müssen wir uns noch einmal unterhalten; das gilt auch für meine Fraktion -, dass wir einen Katalog erstellen, der entsprechende Hinweise enthält. Wir müssen uns, wie gesagt, Gedanken darüber machen, was wir unter parlamentarischen Gepflogenheiten verstehen. Ich möchte diesen Begriff nicht so unbestimmt wie möglich lassen, sondern ihn so weit wie möglich konkretisieren; denn ich halte die Konkretisierung für den entscheidenden Gesichtspunkt in unserem Gesetzentwurf. In der Vergangenheit gab es immer schon Debatten darüber, wie man den Vorteilsbegriff eingrenzen kann. Ich sage es noch einmal: Ich bin optimistisch, dass wir auf Basis unseres Vorschlages, den ich für sehr praktikabel und sehr gut durchdacht halte - logischerweise; wir haben uns sehr viele Gedanken darüber gemacht -, zu einer gemeinsamen Haltung kommen und den richtigen Weg finden. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass wir unsere Vorschläge zum Thema, was man gegen Abgeordnetenbestechung tun kann, in einem Paket mit anderen Maßnahmen sehen. Das Stichwort „Transparenz und Offenheit im Deutschen Bundestag“ ist schon gefallen. Wir haben auch Vorschläge auf den Tisch gelegt, was die Beschäftigung von Externen in der Bundesverwaltung und was das Lobbyregister angeht. Ich bitte sehr darum, dass wir uns gemeinsam diese Vorschläge ansehen. Es wäre ein starkes Signal des Deutschen Bundestages, wenn wir uns selbst verpflichten würden, mehr Transparenz walten zu lassen. Damit würden wir uns nicht mehr grundlosen Verdächtigungen aussetzen, sondern wir würden etwas dafür tun, dass das Vertrauen in uns und unsere Politik gestärkt wird. Unser Gesetzentwurf dient dazu, die Korruption zu bekämpfen und gegen diesen Generalverdacht anzugehen. Deswegen bitte ich - hier greife ich das auf, was Sie, Herr Kollege van Essen, gesagt haben darum, dass wir in die Diskussion eintreten und dass wir uns gemeinsam bemühen und allen Sachverstand zusammennehmen, um eine gute Regelung zu finden. Wir können nicht ohne Regel bleiben, sondern wir müssen die Abgeordnetenbestechung unter Strafe stellen. Wir haben Handlungsbedarf. Ich hoffe, dass diese Debatte das heute auch gezeigt hat. Wir haben einen guten Vorschlag vorgelegt. Schließen Sie sich dem an! Kommen Sie in die Diskussion mit uns! Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns in dieser Legislaturperiode nunmehr mit dem dritten Gesetzentwurf zur Regelung der Abgeordnetenbestechung. Nach mehr als einer Stunde Debatte zu diesem Gesetzentwurf der SPD heute im Plenum des Bundestages gibt es wahrscheinlich kaum ein Argument, das nicht schon in irgendeiner Form angesprochen worden ist. Alle vorgelegten Entwürfe nehmen Bezug auf die beiden internationalen Übereinkommen gegen Korruption, nämlich die UN-Konvention vom 30. Oktober 2003 und das Strafrechtsübereinkommen des Europarates über Korruption vom 27. Januar 1999. Deutschland hat beide Übereinkommen bisher noch nicht ratifiziert. In der Begründung des SPD-Entwurfes heißt es, dass es ein peinlicher Umstand sei, dass wir das UN-Übereinkommen bisher noch nicht in nationales Recht umgesetzt haben. ({0}) Das mag man so sehen. Es ist hier im Plenum bei den vorausgegangenen Debatten ebenso wie bei der heutigen Debatte stets eingewandt worden, dass dieser Vorgang uns nicht erst in dieser Wahlperiode betrifft. Insofern handelt es sich, wenn überhaupt, um eine fortwirkende Peinlichkeit, die auch andere politische Konstellationen betrifft. ({1}) In meiner letzten Rede dazu habe ich schon sehr ausführlich aus einem Plenarprotokoll des Jahres 2008 zitiert; das könnte ich hier heute bei Bedarf gerne wiederholen. Aber ich glaube, es ist allen noch präsent. Lassen Sie mich eines vorab klarstellen: Für Deutschland und für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die Bekämpfung von Korruption ein wichtiges Anliegen. Wir meinen, dass es dabei nicht nur um formelle Regelungen gehen darf. Dessen sollten wir uns bei der ganzen Diskussion stets bewusst sein, insbesondere wenn wir auf die 158 Staaten schauen, die die genannten Konventionen schon ratifiziert und/oder umgesetzt haben. Hier kann man sich das eine oder andere Land anschauen; Kollege Götzer hat Libyen unter Gaddafi genannt. ({2}) - Dazu komme ich gleich auch noch. Hören Sie erst einmal beide Sätze an. Ich habe „eines“ gesagt. Darauf folgt meistens noch ein „Zweites“. Erstens. Es gibt Länder wie Libyen unter Gaddafi: Da muss man sehen, dass die Buchstaben eines Gesetzes zwar Recht schaffen mögen, es aber etwas anderes ist, wie man Recht lebt. Dies ist auch eine Frage des gesellschaftlichen Gesamtumganges. Das mag für das eine oder andere Land zutreffen. Das ist der eine Punkt. Zweitens. Dann gibt es noch einige andere Länder. Zu denen gehören Frankreich, aber auch die USA, ({3}) die rechtssystematische Unterschiede zu uns haben. Die Unterscheidung zwischen Amtsträgereigenschaft und Mandatsträgereigenschaft in der Form, wie wir sie haben, kennen sie eben nicht. Insofern darf man das nicht über einen Kamm scheren. ({4}) Man muss, wenn man auf die anderen Länder schaut, sehr differenziert hinsehen. Sie scheren das insofern über einen Kamm, als Sie auf die Peinlichkeit hinweisen, dass eine Konvention nicht umgesetzt wurde. Es lohnt sich schon, dort genauer hinzuschauen. ({5}) Es muss natürlich auch darauf hingewiesen werden, dass Deutschland schon jetzt über ein sehr hohes strafrechtliches Schutzniveau bei der Bekämpfung von Korruption verfügt. ({6}) Für Abgeordnete ist der Stimmenkauf und der -verkauf in § 108 e des Strafgesetzbuches strafrechtlich geregelt. Für Amtsträger gibt es die §§ 331 ff. des Strafgesetzbuches. Es ist daher sehr genau hinzuschauen und die Frage zu stellen, ob es überhaupt eine Lücke gibt, die jetzt geschlossen werden muss. Schauen wir uns ganz genau an, was in den letzten Jahren beim Thema Abgeordnetenbestechung passiert ist. Sämtliche Gesetzesinitiativen scheiterten doch stets ({7}) daran, dass es nicht wirklich gelang, den Bereich des eigentlich strafbaren Verhaltens des Abgeordneten genau zu bestimmen. ({8}) Das gelingt auch dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion nicht. Ich möchte unterstellen, dass dieser Gesetzentwurf genauso wie andere Gesetzentwürfe - das habe ich schon in meinen vorherigen Reden ausgeführt - von dem guten Willen getragen ist, eine Regelung zu finden. ({9}) Aber gerade der geänderte § 108 e Abs. 3 des Strafgesetzbuches zeigt, dass auch Sie versuchen, durch eine Negativabgrenzung für mehr Klarheit zu sorgen. Aber das misslingt; denn die Formulierungen sind zu unbestimmt. So heißt es in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs: Um die im parlamentarischen Verkehr üblichen Verhaltensweisen aus der Strafbarkeit auszuklammern, nimmt der Gesetzentwurf Zuwendungen, die parlamentarischen Gepflogenheiten entsprechen, explizit aus dem Vorteilsbegriff heraus. Genau daran krankt der Gesetzentwurf. Wie kann man diesen Begriff ausfüllen, und wie kann das politisch Erlaubte vom strafrechtlich Verbotenen abgegrenzt werden? In der Konsequenz würde das Staatsanwälten und Strafrichtern eine kaum einzugrenzende und eine kaum zu kontrollierende Einflussnahme auf das parlamentarische System eröffnen. Deswegen kann ich nur festhalten: Was erlaubt ist und was nicht, ist im Gesetzentwurf zu unbestimmt dargestellt. Es wird eine praktisch kaum einzugrenzende Grauzone geschaffen. Was aber könnte für klare Bestimmungen herangezogen werden? Ist es die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, die die Abgeordneten schon jetzt in einigen Bereichen zu Transparenz verpflichtet und gemäß der Angaben zum Teil veröffentlicht werden müssen und zum Teil auch nicht? Trägt der Rückgriff auf die Verhaltensregeln für Abgeordnete in irgendeiner Form dazu bei, parlamentarisch übliches Verhalten und die entsprechenden Gepflogenheiten klar einzugrenzen? Was macht eine politisch übliche und sozial adäquate Verhaltensweise überhaupt aus? Ist eine Bewirtung erlaubt, und, wenn ja, in welchem Umfang, oder wäre das schon eine solche Vorteilsnahme? Vielleicht ist dabei auch die Frage entscheidend, wo eine Bewirtung stattfindet, ob in Berlin oder auf Sylt. Müsste dann jede Einladung von einem Interessenvertreter oder ein Treffen mit einem solchen offengelegt werden? ({10}) Wenn nicht, liegt es dann zum Beispiel in der Hand des jeweiligen politischen Gegners, zu entscheiden, was sozial adäquat ist und ob der Staatsanwalt eingeschaltet wird? ({11}) Kurzum: Damit wären Tür und Tor für ungerechtfertigte Ermittlungsverfahren geöffnet, ({12}) die möglicherweise zu Wahlzwecken oder zur Ausschaltung des politischen Gegners eingeleitet werden bzw. - das ist der entscheidende Punkt - eingeleitet werden müssten. Denn die Staatsanwaltschaft müsste - so sieht es Ihr Gesetzentwurf vor - in Fällen, in denen ein solcher Anschein besteht, Ermittlungen aufnehmen. Somit muss die Staatsanwaltschaft bestimmen, was den politischen Gepflogenheiten entspricht. Was bleibt aber übrig, wenn es zu einem Ermittlungsverfahren kommt? ({13}) Da ist ein Abgeordneter, gegen den ein Ermittlungsverfahren geführt wurde, und es kommt nicht mehr darauf an, ob es zu Recht oder zu Unrecht geführt wurde. Das zeigt: Auch der SPD gelingt es in ihrem Gesetzentwurf nicht, mehr Klarheit zu schaffen. Insgesamt muss man festhalten, dass die Kernprobleme in zwei Bereichen bestehen. Zum einen gibt es das Problem bei der Unterscheidung zwischen der Mandatsträgereigenschaft und der Amtsträgereigenschaft. ({14}) Zum anderen gibt es daraus folgend das Problem, den Bereich des politisch Erlaubten klar zu umreißen. In den internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung der Korruption ist generell nur von Amtsträgern die Rede. Dies mag für andere Rechtssysteme passen, nicht aber für unser Rechtssystem, das deutlich zwischen Mandatsund Amtsträger unterscheidet. ({15}) Wie ich bereits am 8. April 2011 zum Gesetzentwurf der Linken ausgeführt habe, haben Amtsträger anders als Abgeordnete einen ganz klar umrissenen Pflichten- und Aufgabenkreis. ({16}) Um nur einige Abgrenzungskriterien zu nennen: Sie sind weisungsgebunden und treffen und vollziehen im Rahmen von Diensthandlungen Einzelentscheidungen, die nicht an den Amtsträger gebunden und damit nicht personengebunden sind. Demgegenüber bedeutet das freie Mandat, das in Art. 38 grundgesetzlich verankert ist, dass der gewählte Abgeordnete sein Mandat im Parlament frei ausübt und dafür nur seinem Gewissen unterworfen und an keine Aufträge und Weisungen gebunden ist. ({17}) Das ist im Übrigen auch vom Bundesgerichtshof so bestätigt worden. ({18}) Natürlich vertreten Abgeordnete in ihrer Mandatsausübung Interessen, und das müssen sie sogar. ({19}) Aus diesen Interessen formt sich dann im parlamentarischen Prozess das allgemeingültige Recht. Interessengeleitetes Handeln und Öffentlichkeit sind dabei zwei einander bedingende und sich gegenseitig ausbalancierende Elemente politischen Handelns. Ich vertraue - das darf ich abschließend sagen - auf die in Deutschland meines Erachtens schon sehr gut funktionierenden Instrumente: auf das Gewissen eines jeden Mandatsträgers, die strafrechtlichen Sanktionen, die Transparenz durch Verhaltensregeln für Abgeordnete und durch eine aktive Zivilgesellschaft, darauf, dass die politischen Folgen von Fehlverhalten klar diskutiert werden,

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- darauf, dass wir eine funktionierende Beobachtung und Kontrolle durch die Öffentlichkeit, insbesondere durch die Medien, haben und dass es eine funktionierende gegenseitige Kontrolle durch die unterschiedlichen politischen Institutionen und Fraktionen gibt. Zum Schluss: Ich vertraue natürlich den Wählerinnen und Wählern, dass sie unser Verhalten schon richtig beurteilen können. ({0}) Wir werden uns einer weiteren Diskussion nicht verschließen

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- und haben dazu in der Ausschussberatung ausreichend Gelegenheit. Ganz herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion. ({0})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, ich habe Ihnen jetzt über eine Stunde sehr aufmerksam zugehört und all Ihre Argumente, die Sie gegen eine Regelung zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung hier ins Feld geführt haben, vernommen: die Besonderheiten des parlamentarischen Betriebs, die manches Mal schwierige Abgrenzung zwischen einer zulässigen politischen Einflussnahme und einer unzulässigen Bestechung, die Gefahr, dass der Ruf eines Abgeordneten durch eine Strafanzeige beschädigt wird, dass er ein Mandat verliert und, und, und. Ich frage mich allerdings: Ist das nur hier in Deutschland so, oder warum haben gleichwohl mehr als 150 Staaten weltweit - fast alle europäischen Länder, fast alle Demokratien dieser Welt - eine Regelung zur Abgeordnetenbestechung hinbekommen? ({0}) Nur wir in Deutschland diskutieren seit über neun Jahren und kriegen überhaupt nichts auf die Reihe. Woran liegt das eigentlich? Das ist doch die Kernfrage. Darauf haben Sie in dieser Debatte überhaupt keine Antwort gegeben. Das macht sie so bedrückend und so peinlich. ({1}) All die Argumente, die Sie hier vortragen, gelten doch nicht nur für uns hier in Deutschland, sondern für jede Demokratie weltweit. Natürlich haben das Parlament und der einzelne Parlamentarier eine besondere Rolle, die es zu schützen gilt. Natürlich ist es manches Mal schwierig, die zulässige Einflussnahme von der unzulässigen Bestechung abzugrenzen. Aber dass diese Abgrenzung unmöglich wäre, so wie Sie behaupten, wird doch durch alle Demokratien mit entsprechenden Regelungen widerlegt, und zwar schon seit Jahren und Jahrzehnten. Das ist doch der springende Punkt. ({2}) Deshalb drängt sich der Verdacht auf, dass es sich um Schutzbehauptungen handelt. Viele von denen, die uns zugehört haben, werden sagen: Das ist eine Art Selbstprivilegierung, der Sie hier das Wort reden. Darüber können wir nur den Kopf schütteln. - Im Ausland stößt das mittlerweile auch auf Unverständnis, wie wir alle wissen. Nein, meine Damen und Herren, bei dieser Debatte geht es um eine gefährliche und beunruhigende - ich finde sogar: eine fast unfassbare - Strafbarkeitslücke. Jede Demokratie lebt doch zunächst einmal von dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger darauf, dass wir Parlamentarier Vertreter des ganzen Volkes sind und uns nicht in die Abhängigkeit zu irgendwelchen Geldgebern begeben, dass die Auseinandersetzungen hier im Parlament mit Argumenten geführt werden und nicht durch die Bestechung einzelner Abgeordneter beeinflusst werden. Andere Länder haben das offensichtlich verstanden. Es ist eben ein strafwürdiges Unrecht, wenn sich ein Volksvertreter, der dem Gemeinwohl verpflichtet ist, schmieren lässt. Es ist ein Skandal, wenn das in Deutschland nach wie vor noch weitestgehend straflos ist. ({3}) Das schadet der Demokratie, und das schadet der politischen Kultur in unserem Land. Es schadet mittlerweile auch dem Ansehen der Republik. Dafür tragen Schwarz und Gelb mit ihrer beharrlichen Verweigerungsstrategie die Verantwortung. ({4}) Ich darf einmal ein Fazit der heutigen Debatte ziehen. Ich glaube, Sie haben bis heute eines nicht verstanden: Die Bestechung eines Abgeordneten ist der wohl schwerste Angriff auf ein Parlament und auf die Funktionsweise einer Demokratie, den man sich überhaupt vorstellen kann. Gerade wir Parlamentarier haben die Aufgabe und die Pflicht, unsere Demokratie vor solchen Angriffen zu schützen. Eine Rechtsordnung, die es unterlässt, ihre Rechtserzeuger vor solchen Angriffen zu sichern, verliert auf Dauer an Legitimation. Es schadet übrigens uns allen, wenn wir uns als unfähig erweisen, unsere Demokratie in diesem wichtigen Punkt zu verteidigen. ({5}) Unser Gesetzentwurf, den wir von der SPD hier eingebracht haben, zeigt, dass wir es mit der Korruptionsbekämpfung ernst meinen, und zwar auch dann, wenn es um unsere eigene Zunft geht. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wir unsere eigenen Angelegenheiten transparent regeln können. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere Volksvertretungen stärken wollen. Dieser Gesetzentwurf zeigt schließlich auch, dass wir uns nicht damit abfinden wollen, dass wir international betrachtet inzwischen die rote Laterne haben, wenn es darum geht, den Kernbereich politischer Entscheidungsprozesse zu schützen. Ihre Reaktion zeigt mir nur eines: Sie von Union und FDP sind nicht willens und in der Lage, etwas zu regeln, was international inzwischen zum Standard gehört, nämlich parlamentarische Entscheidungsprozesse vor Korruption zu schützen. Dass wir uns damit international betrachtet inzwischen in der Glaubwürdigkeitsfalle befinden, das ist Ihnen offensichtlich vollkommen egal. Sie wollen keine Regelung; Sie denken nicht einmal ernsthaft über eine Lösung nach. Deshalb sage ich Ihnen: Sie können diesen Gesetzentwurf ablehnen und sich dann weiter im Nichtstun üben; aber spätestens 2013, unter der neuen rot-grünen Bundesregierung, werden wir das regeln, und zwar sofort und ohne Wenn und Aber. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Siegfried Kauder für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden auch beim fünften Mal scheitern, wenn wir über eine Lösung beim Thema Abgeordnetenbestechung diskutieren. Viermal hat es nicht geklappt; beim fünften Mal wird es wieder nicht klappen, Siegfried Kauder ({0}) ({1}) wenn man immer versucht, die Abgeordnetenbestechung an einen Straftatbestand anzudocken, der schlicht und ergreifend nicht auf das parlamentarische Verhalten passt. ({2}) Man kann es nicht schöner sagen als der Bundesgerichtshof, 5. Senat, in einer Entscheidung vom 9. Mai 2006, Randziffer 29, wo es heißt: Amtsausübung ist etwas anderes als Mandatsausübung. ({3}) Derjenige, der eine Amtspflicht wahrnimmt, ist bei seiner Entscheidung ersetzbar; er ist gebunden an Vorschriften, an die wir nicht gebunden sein wollen und dürfen. ({4}) Der Abgeordnete ist frei und muss eine freie Entscheidung treffen können. ({5}) Meine lieben Kollegen, was mich am meisten irritiert, ist der Umstand, dass ich wieder einen Begriff vorfinde, den der Kollege Ströbele einmal beim Verfassungsgericht erwähnt hat. Sie alle fühlen sich „normativ unfrei“, weil es Verträge gibt, an die Sie sich gebunden fühlen, die Sie umsetzen wollen. Sie müssen doch überlegen: Welchen Sachverhalt wollen Sie regeln? Oder wollen Sie nur einem Vertrag, den eine Regierung unterschrieben hat, nachfolgen? ({6}) Wir sind das Parlament und entscheiden, was wir zu tun haben; wir lassen uns nicht an die Entscheidung einer Regierung binden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Kollege Kauder. - Sie haben wie in Ihren früheren Reden so auch jetzt auf die Differenz, auf den Unterschied zwischen einem Amtsträger und einem frei gewählten Abgeordneten abgestellt. Ich gebe Ihnen völlig recht: Das ist etwas ganz anderes. Die Frage ist - ich stelle sie Ihnen -: Was ist das Wesen des Unterschieds? Insbesondere in unserer Debatte stellt sich die Frage: Ist der Unterschied zwischen dem Mandatsträger und dem Amtsträger derjenige, dass der Amtsträger nicht bestochen werden darf, während der freie Abgeordnete bestochen werden darf? Wenn dies das Wesen des Unterschieds wäre, dann wären Sie, Herr Kollege Kauder, auf einem Irrweg. ({0}) Wenn das aber der Unterschied nicht ist, dann können wir selbstverständlich auf eine dem Mandat gemäße Art und Weise die Strafbarkeit der Bestechung einführen. ({1})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, Sie sind Strafrechtler wie ich auch. Sie wissen genau, was die Voraussetzungen für eine Bestechung oder eine Bestechlichkeit, für die Vorteilsannahme oder das Anbieten einer Leistung sind. Nicht einmal diese Differenzierungen macht dieser Gesetzentwurf. Was eigentlich unter Strafe gestellt werden soll, ist keine Bestechung, weil wir keine pflichtwidrige Diensthandlung vornehmen können; es wäre allenfalls eine Vorteilsannahme. ({0}) Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Schon die Begrifflichkeiten stimmen nicht. Wir nehmen keine Dienstpflichten wahr. Wir entscheiden. Wir sind auch nicht objektiv, wir können subjektiv sein, wir dürfen Interessen von Bürgern verfolgen - also ein grundlegender Unterschied. Solange Sie das Verhalten, das Sie inkriminieren wollen, an den Strafvorschriften zu Bestechung und Bestechlichkeit festmachen, werden Sie scheitern, weil es dazu nicht passt. ({1}) Die SPD bläst einen riesengroßen Luftballon auf, stellt den Abgeordneten, obwohl es nicht passt, erst einmal dem Dienstverpflichteten gleich, ({2}) um dann am Ende wieder den Ballon zu zerstören und sich ins Knie zu schießen, indem man sagt: Wenn der Abgeordnete diese Handlung auch vorgenommen und die Entscheidung ohne das Geschenk getroffen hätte, dann soll es nicht strafbar sein. - Über die innere Tatseite kann sich der Abgeordnete wieder aus der Verantwortung ziehen. Der Vorschlag, den Sie machen, bringt hinten und vorne nichts, weil er nicht zu einer Strafbarkeit führen wird. Siegfried Kauder ({3}) Dann tun Sie etwas, von dem Sie selbst wissen, dass Sie es nicht verantworten können, weil es nicht geht: Was den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht, soll nicht strafbar sein. Sie vergessen dabei eines: Sie wollen nicht nur den Abgeordneten bestrafen, nicht nur den bestrafen, der nimmt, sondern auch den, der gibt. Wir wissen vielleicht, was eine parlamentarische Gepflogenheit ist, aber der, der einen parlamentarischen Abend ausrichtet, weiß nicht, was die parlamentarischen Gepflogenheiten sind. ({4}) Den müssen wir nachher fragen. Und nicht Sie fragen ihn, sondern der Staatsanwalt fragt. Da wundert mich das Verhalten der Linken etwas, die zu Recht darüber klagen, ohne Genehmigung des Parlaments würden sie vom Verfassungsschutz bespitzelt. Sie werden es in Zukunft, wenn Sie diesen Straftatbestand einführen, nicht nur mit dem Verfassungsschutz zu tun haben, der Ihnen auf die Finger schaut, sondern auch mit dem Staatsanwalt, der nach einem parlamentarischen Abend zu Ihnen ins Büro kommt, sich die Tür öffnen lässt und schaut, wie viele Flaschen Wein Sie darin stehen haben. Wenn Sie das wollen, können Sie den Straftatbestand verabschieden. ({5}) Er wird nicht das erreichen, was Sie erreichen wollen. ({6}) Wir müssen ganz woanders anfangen. Wenn Sie ein bestimmtes Verhalten von Abgeordneten nicht haben wollen, müssen Sie das über die Verhaltensregeln machen und nicht über Straftatbestände. ({7}) Wir wollen nicht, dass der Staatsanwalt uns zu parlamentarischen Abenden begleitet. Wer dieses Gesetz befürwortet, schadet dem Parlamentarismus, und er demontiert den Abgeordneten im deutschen Parlament. ({8}) Sie haben es doch selbst gesagt, Herr Kollege Sharma: Natürlich darf man zu parlamentarischen Abenden gehen, aber nicht nach Sylt. - Ich habe ganz bewusst gefragt: Wie karg muss die Veranstaltung sein, zu der wir gehen? Müssen wir vorher anrufen und fragen, was die Location und das Brötchen kosten und ob man ein oder zwei Brötchen essen darf? ({9}) Das ist doch absoluter Unsinn. Das funktioniert nicht und ist eines Parlaments nicht würdig. Deswegen sage ich Ihnen eines: Wir brauchen keine strafrechtliche Regelung. Der Kollege van Essen hat es zu Recht ausgeführt. Es gibt im Staat eine Gewalt, die sehr genau weiß und schaut, was ein Abgeordneter tut. Das ist die Bevölkerung, die Öffentlichkeit und die Presse. ({10}) Wir brauchen keine Regelungen, die für das Parlament nicht passen und die auch eines Parlamentes unwürdig sind. Deswegen lassen Sie diese Diskussion bitte sein, sie führt nicht weiter. ({11}) Sie nützt niemandem, sie dient niemandem, sie schadet nur. Ich empfehle Ihnen, solche Debatten nicht zu führen, ({12}) sondern darüber nachzudenken, was wir tatsächlich in einem Parlament brauchen: ({13}) selbstbewusste Parlamentarier, die sich nicht von Regierungen und nicht von der öffentlichen Meinung gängeln und sich nicht von parlamentarischen Abenden beeindrucken lassen. Es kann doch nicht sein, dass ein Parlamentarier im Nachhinein sagen kann, er hätte die Entscheidung auch so getroffen, deswegen sei das Geschenk dafür nicht kausal. - Da begeben Sie sich in eine Falle. Sie schießen sich selbst mit Ihrem Gesetzentwurf ab. Er ist in sich nicht schlüssig, nicht nachvollziehbar. Deswegen kann ich nur empfehlen, dem nicht zuzustimmen. Hören Sie mit der Debatte auf! ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Christian Lange für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Spiegel vom 21. Mai 2007 war folgende Begebenheit zu lesen - ich zitiere -: Christian Lange ({0}) Die Gäste im Kanzleramt waren höflich, aber deutlich. Eine Gruppe afrikanischer Bischöfe und Kardinäle war Anfang Mai zu Angela Merkel gereist, um über die Lage auf dem Schwarzen Kontinent zu sprechen. Ausführlich referierte der kongolesische Erzbischof …, dass Armut meist mit schlechter Regierungsführung und Korruption einhergehe. Dann erinnerte der Afrikaner die Gastgeberin schnörkellos an ihre Verantwortung: „Auch Deutschland“, sagte der Erzbischof, „hat die UNO-Konvention gegen Korruption noch nicht ratifiziert“. Merkel schwieg. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, ersparen Sie Ihrer Kanzlerin, ersparen Sie Deutschland solche Peinlichkeiten. ({1}) Wenn Ihnen schon Ihre Kanzlerin egal ist, dann halten Sie sich wenigstens an das, was der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann am 30. Juli 2008 zu Protokoll gab. Der Justizminister forderte, die UN-Konvention gegen Korruption endlich vonseiten des Bundestages zu ratifizieren und zu verabschieden. - Hören Sie auf Ihre Länder! Vielleicht hilft das weiter. ({2}) Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, wenn Ihnen die Meinung der Länder egal ist, dann hören Sie doch wenigstens auf die Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft. Ihr Parteifreund von der CSU, Theo Waigel, Berater von Siemens, ({3}) hat Ihnen einen Formulierungsvorschlag an die Hand gegeben, wie man es regeln kann. Dann, bitte schön: Hören Sie doch auf Theo Waigel, hören Sie auf die Wirtschaft, und tun Sie endlich etwas! ({4}) Schließlich lassen Sie mich auf zwei Gegenargumente eingehen. Auf Ihr Gegenargument, das auf eine angebliche Verbeamtung von Abgeordneten abstellt, möchte ich mit den Worten des Geschäftsführers von Transparency International, Christian Humborg, antworten. Er sagte dazu - ich zitiere -: Für eine Ratifizierung der Konvention wird keine Gleichstellung von Beamten und Parlamentariern verlangt. ({5}) Er führt weiter aus: In einigen Ländern sei das so umgesetzt worden, aber die Regelungen zur Abgeordnetenbestechung könnten auch unabhängig davon verschärft werden. - Genau das tut die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Gesetzentwurf. ({6}) Das beredtste Beispiel dafür ist die Begründung - auch die Begründung gehört zu einem Gesetzentwurf -, in der wir Abs. 3, um den es hier geht - parlamentarische Gepflogenheiten -, auslegen. Wir geben darin Staatsanwaltschaften und Justiz eine Richtschnur mit auf den Weg, etwa: Auf der einen Seite das DGB-Sommerfest und unser Eintreten für den Mindestlohn und auf der anderen Seite die Spielautomatenwirtschaft und der Las-VegasAusflug - das eine ist möglich, das andere ist rechtswidrig. ({7}) Ihr zweites Gegenargument bezieht sich auf den Bestimmtheitsgrundsatz. Wir knüpfen an die Aussagen des Art. 38 Grundgesetz an, der besagt, dass Vertreter des Volkes nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sind. So steht es im Grundgesetz, und so steht es in unserem Gesetzentwurf. Er ist daher hinreichend bestimmt. Im Übrigen haben wir ausgebildete Juristen, die dies entsprechend auslegen können. Wenn alles das nicht hilft, will ich den Bundestagspräsidenten anführen. Auch er hat Sie von CDU/CSU und FDP aufgefordert, endlich zum Abschluss zu kommen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie schon unserem Vorschlag nicht folgen wollen, wenn Sie dem Vorschlag der Grünen nicht folgen wollen und wenn Sie dem Vorschlag der Linken nicht folgen wollen, dann bringen Sie doch bitte einen eigenen Vorschlag ein! Blockieren Sie nicht weiterhin! Die Wahrheit ist doch: Sie wollen nicht, und das ist traurig, traurig für die internationale Reputation und insbesondere für uns Abgeordnete. Abgeordnete sind nicht bestechlich, ({8}) sie wollen nicht bestechlich sein, und deswegen wird es Zeit, dass wir endlich eine Regelung finden. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8613 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression - Drucksache 17/8683 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister der Finanzen Wolfgang Schäuble das Wort. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die kalte Progression in der Lohn- und Einkommensbesteuerung, die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bekämpfen wollen, entsteht durch die Wirkungsweise eines Lohn- und Einkommensteuertarifs, der Leistungsfähigere prozentual höher besteuert. Dieses Prinzip ist Grundlage unseres Einkommensteuerrechts und weitgehend unbestritten. Es gibt zwar gelegentlich andere Vorschläge, weil das in Zweifel gezogen wird. Ich finde aber, es hat sich über Jahrzehnte bewährt, dass wir als Grundlage der Einkommensbesteuerung ein progressives Steuersystem haben, das heißt bei höheren Einkommen einen höheren Steuersatz. Im Zusammenwirken mit der Geldentwertung entsteht hier aber der Effekt der kalten Progression. Wenn jemand bei einer unterstellten Preissteigerungsrate von 2 Prozent mehr Lohn oder Einkommen erhält, dann zahlt er eben nicht 2 Prozent mehr Lohn- oder Einkommensteuer, sondern einen etwas höheren Prozentsatz. Die Differenz ist die kalte Progression. Auf lange Sicht führt das zu einer starken Verschiebung, zu einer höheren Steuerbelastung, die vom Gesetzgeber so nicht entschieden ist. Da Einnahmen und Ausgaben, die den Steuerzahler betreffen, vom Gesetzgeber entschieden werden müssen - im Zusammenhang mit den Ausgaben erinnern wir wieder und wieder an die Budgetverantwortung des Parlaments - ist die kalte Steuerprogression, da sie nicht vom Gesetzgeber vorgesehen ist, ein eigentlich gesetzeswidriger Zustand. Deswegen schaffen wir mit diesem Gesetzentwurf Abhilfe. ({0}) Mit einer solchen Entscheidung geben wir zugleich das klare Signal, dass wir dauerhaft auf Stabilität setzen und nicht daran interessiert sind, weder als Regierung noch als Parlament, durch Geldentwertung, durch Inflation, quasi Windfall Profits, nicht vom Gesetzgeber beschlossene Steuermehreinnahmen, zu haben. Nein, die Bekämpfung, die dauerhafte Absage an die kalte Steuerprogression ist ein glaubwürdiges Signal, dass Regierung und Parlament an dauerhafter Preis- und Geldwertstabilität interessiert sind. Auch unter diesem Gesichtspunkt bitte ich um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf. ({1}) Unser Vorschlag zielt darauf, die ohnedies verfassungsgerichtlich gebotene Anpassung des steuerlichen Grundfreibetrags an das steuerfreie Existenzminimum zu nutzen, im gesamten Verlauf des Lohn- und Einkommensteuertarifs progressive Wirkungen, die ausschließlich aus diesem Zusammenwirken resultieren, zu vermeiden. Deswegen schlagen wir vor, den Grundfreibetrag zu erhöhen. Ich will hinzufügen: Der steuerfreie Grundfreibetrag liegt im Jahr 2012 knapp 1 Prozent über dem steuerfreien Existenzminimum; das sind 9 Euro. Das ist also knapp. Das heißt, dass für 2013/2014 Handlungsbedarf besteht; denn niemand wird riskieren wollen, dass wir aufgrund eines nicht mehr verfassungsgemäßen steuerlichen Grundfreibetrags eine verfassungsrechtlich nicht einwandfreie Grundlage unseres Steuersystems haben. Die Anhebung des Grundfreibetrags in zwei Stufen, 2013 und 2014, um insgesamt 4,4 Prozent - gleich 350 Euro - ist verfassungsrechtlich geboten und kann deswegen eigentlich nicht bestritten werden. ({2}) Wenn man diesen Schritt unternimmt und vermeiden will, dass der Eingangssteuersatz steigt - wenn man weiter nichts täte, als nur den Grundfreibetrag zu erhöhen, würde der Einkommensteuersatz steigen; das wird niemand wollen -, ist es zwangsläufig geboten, den Steuertarif entsprechend zu schieben. Wenn man die kalte Progression bekämpfen will, muss man den Grenzsteuersatz konstant lassen. Deswegen muss man die prozentuale Anhebung des Grundfreibetrags auf den Tarifverlauf übertragen. Das genau ist Inhalt dieses Gesetzentwurfs. Das ist konsequent und sachlich richtig zur Bekämpfung der kalten Steuerprogression. ({3}) Eigentlich sind das keine Steuerentlastungen, sondern es ist der Verzicht auf vom Gesetzgeber nicht beschlossene Steuererhöhungen. Wer sich dagegen ausspricht, plädiert für Steuererhöhungen, die der Gesetzgeber so nicht beschlossen hat. Gelegentlich wird gesagt, das würde nur einer Tasse Kaffee pro Monat entsprechen. Es ist im Vergleich erstaunlich, wie groß die Erregung bei steigenden Belastungen ist. Hier reden wir immerhin von monatlichen Steuerentlastungen zwischen 15 und 25 Euro für Ledige; für Verheiratete ist der Betrag doppelt so hoch. Das ist nicht viel; aber wer sagt, das sei gar nichts, hat keine Vorstellung von der Lebenswirklichkeit der Arbeitnehmer in unserem Lande. ({4}) Wir haben lange darüber diskutiert. Wir wollen nicht, dass die kalte Progression durch einen automatisch wirkenden Mechanismus beseitigt wird, weil sich dadurch das Problem der Scala mobile ergibt und weil wir grundsätzlich gegen jede Indizierung sind; jede Indizierung fördert tendenziell die Inflation. Daher haben wir uns entschieden, es diskretionär zu machen. Wir legen jetzt für die Jahre 2013 und 2014 einen Vorschlag für die Anhebung des Grundfreibetrags, orientiert an der voraussichtlichen Entwicklung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums, vor. Hierzu sehen wir eine Überprüfung im Zwei-Jahres-Rhythmus vor. Der Tarifverlauf soll, falls notwendig, entsprechend angepasst werden. Durch diskretionäre Entscheidungen wollen wir dauerBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble haft sicherstellen, dass kalte Steuerprogression nicht entsteht. Ich will im Übrigen, weil es eine Debatte darüber gibt, ob das notwendig sei, hinzufügen: Wir haben den steuerlichen Grundfreibetrag zwischen 1998 und 2009, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sechsmal angehoben. Das ist also nicht ungewöhnlich. Diejenigen, die sich dagegen aussprechen, sollten sich dies genau überlegen, da dies in einem auffälligen Widerspruch zu früheren Entscheidungen steht. Wir haben den Grundfreibetrag seit 1998 sechsmal angehoben, und oft waren damit Maßnahmen verbunden, mit denen eine Erhöhung des Eingangssteuersatzes vermieden wurde. Im Übrigen haben wir auch durch andere Steuerentscheidungen immer wieder die kalte Progression bekämpft. Jetzt haben wir einen systematisch richtigen Ansatz: Anhebung des Grundfreibetrags, Verschiebung im Tarifverlauf um denselben Prozentsatz und alle zwei Jahre eine Überprüfung mit den entsprechenden Konsequenzen. Ich glaube, dass das die richtigen Maßnahmen sind. Das Gesamtausfallvolumen durch beide Stufen der Anhebung des Grundfreibetrags beläuft sich, wenn es voll wirksam wird, auf 6 Milliarden Euro. Da Bund, Länder und Gemeinden am Aufkommen von Lohn- und Einkommensteuer partizipieren, müssen Bund, Länder und Gemeinden auf nicht vom Gesetzgeber gewollte Steuererhöhungen entsprechend ihrem Anteil am Gesamtsteueraufkommen verzichten. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Gleichwohl hat die Bundesregierung im Gesetzentwurf vorgeschlagen, den Ländern in den ersten Jahren für den Teil der Auswirkungen, der aufgrund der proportionalen und der prozentualen Verschiebung entsteht, ein Stück weit entgegenzukommen. Diese Ausnahme ist der besonderen Situation der Länder- und der Kommunalfinanzen geschuldet. Aber grundsätzlich müssen alle Gebietskörperschaften akzeptieren, dass sie nicht dauerhaft Steuermehreinnahmen erhalten, die vom Gesetzgeber nicht beschlossen sind. Deswegen erwarte ich, dass der Bundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen wird, falls der Deutsche Bundestag ihn beschließen wird, worum ich bitte. ({5}) Es geht darum, das Prinzip der leistungsgerechten Besteuerung - das prägt unser progressives Steuersystem mit der Verteidigung der Geldwertstabilität in eine vernünftige Übereinstimmung zu bringen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Joachim Poß für die SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Bundesfinanzminister, Sie führen in dieser Frage eine Ablenkungsdiskussion. ({0}) Die Steuerpolitik der schwarz-gelben Koalition in den letzten zweieinhalb Jahren war zum Erbarmen. Sie wollen nun von dem ablenken, was wir erlebt haben, was Sie der Öffentlichkeit geboten haben. ({1}) Deshalb haben Sie sich etwas einfallen lassen, und das haben Sie gerade zusammengefasst vorgetragen. Über Jahre hinweg, vor allem im Bundestagswahlkampf 2009, haben alle drei Koalitionsparteien, nicht nur die FDP, den Menschen massive Steuersenkungen versprochen. Schon 2009 war das nichts anderes als eine Wählertäuschung. ({2}) Das Versprechen massiver Steuersenkungen waren der Wahlkampfschlager und die Legitimation von SchwarzGelb. ({3}) Ihre Steuersenkungsversprechen gehörten zur Entstehungsgeschichte von Schwarz-Gelb. ({4}) Wie viel - oder besser, Herr Kollege: wie wenig - davon übrig geblieben ist, sieht man an dem Gesetzentwurf, den wir hier und heute beraten. ({5}) Sie biegen sich die Dinge zurecht. Der Täuschung aus dem Jahre 2009 folgt der politische Pfusch, den Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf abliefern. ({6}) Natürlich haben Frau Merkel und Herr Schäuble bereits vor der letzten Bundestagswahl gewusst, dass in den öffentlichen Kassen auf absehbare Zeit kein Geld für Steuersenkungen ist. Nur: Sie haben das im Wahlkampf verschwiegen oder den Bürgern sogar das Gegenteil erzählt. Vornehm ausgedrückt: Sie waren unehrlich. Schwarz-Gelb basierte von Anfang an auf massiver Wählertäuschung. Diese Wählertäuschung gehört zur Entstehungsgeschichte von Schwarz-Gelb, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie für die laufende Legislaturperiode Steuersenkungen in einer Größenord- nung von insgesamt 24 Milliarden Euro versprochen. Seitdem der Koalitionsvertrag unterschrieben ist - wir haben die Geschichte in den Medien verfolgen können -, überlegt der durchaus trickreiche Bundesfinanzminister Schäuble, wie er im Hinblick auf die angekündigten Steuersenkungen eine Minimallösung konstruiert, die a) von der FDP - und auch von der CSU - geschluckt wird und die es b) der Opposition möglichst schwer macht, sie abzulehnen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krestel von der FDP-Fraktion?

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Holger Krestel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004205, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kollege Poß, davon abgesehen, dass ich, wie wahrscheinlich die Mehrheit der hier anwesenden Kollegen, Ihren Ausführungen zur Steuerpolitik der Bundesregierung nicht ganz folgen kann ({0}) - ich sprach von der Mehrheit -, möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Wenn Sie das ehrliche Bemühen dieser Koalition, die Besteuerung in diesem Land einfacher, niedriger und gerechter zu gestalten, in Abrede stellen, wie erklären Sie uns dann, dass Ihre Partei im Jahre 2005 mit dem Slogan „Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer!“ in den Wahlkampf gegangen ist und die Umsatzsteuer unmittelbar nach der Wahl, als Sie Regierungsverantwortung hatten, von 16 auf 19 Prozent erhöht hat? Ich bitte Sie, diese Frage zu beantworten.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege, ich glaube, dass die deutsche Bevölkerung im Gegensatz zu Ihnen nachvollziehen kann, was ich gesagt habe. Umfragen kamen zu dem Ergebnis, dass mindestens zwei Drittel der Befragten, wenn nicht mehr, angesichts des Theaters, das Sie in der Steuerpolitik aufgeführt haben - nicht nur im Hinblick auf die Hoteliersteuer, sondern auch im Hinblick auf die Diskussion über Steuersenkungen -, nur mit dem Kopf geschüttelt haben. Von daher sehe ich mich durchaus auf der Seite der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, wenn auch nicht dieses Parlaments. Der andere Aspekt, den Sie angesprochen haben, macht deutlich, dass es in den Parteien unterschiedliche Auffassungen gibt. Dieser Umstand hat zu Beginn der Regierungszeit der Großen Koalition zu dem Ergebnis geführt, das Sie geschildert haben. Eine Parallele zu dem Vorgang, den ich erwähnt habe, besteht aber nicht. Hier ging es darum, dass von Ihrer Seite - insbesondere von der FDP, aber auch von der CDU und der CSU - der Bevölkerung suggeriert wurde, wir könnten die Steuern senken. Teilweise war von Steuersenkungen in einer Größenordnung von über 30 Milliarden Euro die Rede. ({0}) Das muss man sich einmal vorstellen! Jetzt sehen wir, womit wir es zu tun haben. Herr Kollege Schäuble hat versucht, zu retten, was zu retten ist. Er hat die Stichworte Grundfreibetrag und kalte Progression angesprochen. ({1}) Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist alles, was von dem jahrelangen Steuersenkungsgerede von CDU, CSU und FDP übrig geblieben ist. Am Anfang klang es ja wie ein Weltrettungsprogramm; daran wird man in diesem Parlament doch erinnern dürfen. Sie wollen das vergessen machen. ({2}) Weil Sie das wissen, reden Sie nicht mehr von „Steuerentlastung“. Stattdessen sprechen Sie in diesem Gesetzentwurf von der Vermeidung „nicht gewollter Steuerbelastungen“. ({3}) Merken Sie nicht, wie lächerlich Sie sich mit diesen verbalen Verrenkungen machen? Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbst für Ihre Minientlastung ist kein Geld in den öffentlichen Kassen. Schon ohne die Zusatzbelastung von gut 2 Milliarden Euro, die dieses Gesetz allein die Länder und Kommunen jährlich kosten würde, wissen viele Länder und Gemeinden nicht, wie sie die Schuldenbremse einhalten können. Das ist doch die Realität. Schauen Sie sich einmal in Ihren Gemeinden und in Ihren Ländern um! Dann wissen Sie Bescheid. Der Schuldenstand Deutschlands liegt im Übrigen noch immer 20 Prozentpunkte über dem, was die Europäische Währungsunion maximal zulässt. ({4}) Die 6 Milliarden Euro, die die Umsetzung dieses Gesetzentwurfs kosten würde, sind mit keinem Euro gegenfinanziert. Die öffentliche Verschuldung erhöht sich um den vollen Umfang. Zur Begründung entwerfen Sie eine neue Philosophie, über die auch unter juristischen Aspekten noch zu reden sein wird. Bisher hat das Bundesverfassungsgericht zum Grundfreibetrag immer gesagt, die Anpassung müsse nach Vorlage des Existenzminimumberichts erfolgen. Da hat der Gesetzgeber noch Spielraum. Das wird in der Darstellung von Herrn Schäuble in ein ganz anderes Licht getaucht. Darüber wird noch zu reden sein. Sie haben keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung vorgelegt, was aber notwendig wäre. Wie passt das zusammen, Herr Schäuble? Sie spielen zusammen mit Frau Merkel in Europa den fiskalischen Zuchtmeister, und hier zu Hause wollen Sie Steuersenkungen auf Pump. ({5}) Im Übrigen: Kein Sozialdemokrat verweigert sich einer notwendigen Anhebung des Grundfreibetrags. ({6}) Wer etwas anderes sagt, sagt schlicht die Unwahrheit. Bis heute liegt aber keine ordentliche und nachvollziehbare Berechnung der Bundesregierung dafür vor, ({7}) wann und um welchen Betrag der Grundfreibetrag erhöht werden muss. Die von Ihnen genannten Zahlen wurden gegriffen. ({8}) In guter Übung wird die Höhe des notwendigen Grundfreibetrags alle zwei Jahre in den sogenannten Existenzminimumberichten der Bundesregierung fortgeschrieben. Der nächste Bericht, der neunte, steht planmäßig 2013 ins Haus. Legen Sie den Neunten Existenzminimumbericht mit einer vernünftigen und auch sachgerechten Berechnung von Existenzminimum und Grundfreibetrag vor! Dann werden wir sehen, wann und um welchen Betrag Anhebungen notwendig sind, und die werden wir dann auch mittragen. ({9}) Diese „Prognoseabschätzungen“ haben allein das Ziel, Legitimationen für Steuerentlastungen zu fingieren. Das ist Teil dieser Ablenkungs- und Täuschungsaktion, die wir hier erleben. ({10}) Angesichts der aufgelaufenen öffentlichen Verschuldung und auch der Schuldenbremse, die einzuhalten ist, brauchen wir selbst für zwingende Erhöhungen des Grundfreibetrags eine solide Gegenfinanzierung. Zum Phänomen der kalten Progression, dem zweiten Stichwort, ist zu sagen, dass die Regierung trotz vieler Nachfragen meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzausschuss bis heute keine überzeugenden Berechnungen vorgelegt hat. Im Übrigen sind sich alle Experten einig: Dank der vielen von SPD-Bundesfinanzministern zu verantwortenden Einkommensteuersenkungen in allen Einkommensbereichen seit 1998 spielte die kalte Progression in unserer Regierungszeit keine Rolle. In Herrn Schäubles Rede klang fast klassenkämpferisch die Frage an, ob man den Menschen nicht etwas gönnen wolle. ({11}) Die Auseinandersetzung darüber, wie eine gerechte Steuerpolitik aussieht, die auch die Hochleistungsfähigen in diesem Land durch höhere Spitzensteuersätze und eine angemessene Vermögensteuer stärker in die Mitverantwortung für das Gemeinwesen bringt, ({12}) werden wir in den nächsten Wochen und Monaten führen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf ist offensichtlich so ausgereift und so klug und präzise justiert, dass der Kollege Poß es vermieden hat, sich dezidiert mit ihm auseinanderzusetzen. ({0}) Das wahre Ablenkungsmanöver war die Rede von Herrn Poß, in der er Nebenkriegsschauplätze aufgemacht hat. ({1}) Es ist nicht wahr, dass dieser Gesetzentwurf das einzige Steuergesetz ist, das diese Koalition in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht hat. ({2}) Wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz und vieles andere, auch zur Steuervereinfachung, auf den Weg gebracht. Jetzt gehen wir das Thema der kalten Progression gezielt in einem Punkt an, den auch Sie, wie Sie den Menschen in Ihrem Wahlprogramm noch versprochen haben, unterstützen wollten. Der Bundesfinanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es nicht darum geht, vorhandene Steuern zu senken. Es geht vielmehr darum, auf nicht gewollte Steuererhöhungen zu verzichten. Insofern muss man auch keine Vorschläge zur Gegenfinanzierung vorlegen. Damit fallen alle Ihre Gegenargumente, die Sie auch über die Länder im Bundesrat vorbringen, wie ein Kartenhaus in sich zusammen. ({3}) Von der Kritik bleibt also nichts übrig. Wir haben uns gezielt die unteren und mittleren Einkommen vorgenommen, weil wir wollen, dass die Auf19416 schwungsdividende endlich auch bei den Beziehern von unteren und mittleren Einkommen ankommen soll. Warum ist die SPD ausgerechnet dagegen? Diese Frage hätten Sie der Öffentlichkeit in Ihrer Rede beantworten sollen, Herr Kollege Poß. Warum unterstützt die Sozialdemokratie nicht den Schutz der unteren und mittleren Einkommen vor ungewollten Steuererhöhungen? ({4}) Wenn man abstrakt die Frage stellt, warum man diesen Gesetzentwurf braucht, dann könnte man sagen: „Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums und aller Kultur“. Dieses Zitat stammt aus dem Gothaer Programm von 1875. Die SPD hat sich offensichtlich weitgehend von diesen Prinzipien entfernt. ({5}) Was machen Sie heute? Sie kämpfen mit einer nicht nachvollziehbaren Begründung gegen einen Ausgleich für reale Einkommensverluste durch die Inflation. ({6}) Der Bundesfinanzminister sagte zu Recht, dass der Deutsche Bundestag die inflationsbedingten Steuererhöhungen nie wollte und sie auch nie beschlossen hat. Wenn Sie zur Vermeidung ungewollter Steuererhöhungen Nein sagen, dann sagen Sie Ja zu diesen Steuererhöhungen. ({7}) Dann sind Sie eine Steuererhöhungspartei, was die unteren und mittleren Einkommen angeht. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen. ({8}) Das passt zu dem, was Sie sonst der Öffentlichkeit zu bieten haben. Das ganze linke Parteienspektrum überbietet sich inzwischen an Vorschlägen dazu, wie man die Steuern in Deutschland weiter erhöhen kann. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Paus?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Wissing, Sie haben gesagt, Sie wollten die Bürgerinnen und Bürger vor Inflation schützen. Abgesehen davon, dass dafür die Europäische Zentralbank zuständig ist, frage ich Sie: Können Sie mir sagen - darüber gibt der Gesetzentwurf leider keine Auskunft -, wie Sie die Entwicklung der Inflation in den Jahren 2013 bis 2016 einschätzen? Können Sie mir zumindest die Aussage des Bundesfinanzministeriums im Finanzausschuss bestätigen, dass vor allen Dingen diejenigen mit höheren Einkommensteuerzahlungen zu rechnen haben, die in den nächsten Jahren höhere Boni bekommen werden, und dass die Tarifsteigerungen jedenfalls kein Grund für die höhere Inflationsrate sein werden? ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, die Inflationsbekämpfung ist in der Tat Aufgabe der Europäischen Zentralbank. Aber wir haben darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zu leisten, indem wir uns bei der Stabilisierung unserer Währung im Rahmen der Bekämpfung der Staatsverschuldungskrise engagieren. Es ist nicht Gegenstand dieser Debatte, was die Bundesregierung in einem großen Kraftakt, auch mit Unterstützung der Opposition, diesbezüglich auf den Weg bringen konnte. Ich bin sicher, dass es uns gelingen wird, einen Inflationsanstieg zu vermeiden. Gleichwohl sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir auch ohne Inflationsanstieg eine kontinuierliche Inflation haben, die zu einem ungewollten Anstieg der Steuerbelastung führt. Es ist inzwischen so, dass eine Lohnerhöhung in bestimmten Einkommensgruppen nur zu einem ganz geringen Teil bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ankommt. ({0}) Ich finde es etwas kalt, dass Sie das überhaupt nicht berührt, dass Sie darüber einfach hinweggehen und sagen: Ich mache mir keine Gedanken darüber, wie bei unteren Einkommen eine Überstunde besteuert wird. ({1}) Sie sollten sich einmal etwas intensiver mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen. Sie sollten sich außerdem einmal die Frage stellen, ob Ihre Verweigerungshaltung den Beziehern unterer und mittlerer Einkommen in Deutschland tatsächlich zuzumuten ist. ({2}) Ich glaube, dass Sie am Ende Ihre Meinung revidieren müssen, denn es ist eine Gerechtigkeitsfrage, die kalte Progression zu bekämpfen. ({3}) Ich komme auf die angesprochenen Steuererhöhungsvorschläge zurück. Sie wollen mit Ihrem Nein zu diesem Gesetzentwurf eine Steuererhöhung für untere und mittlere Einkommen. Gleichzeitig sagen Sie - das ist inzwiDr. Volker Wissing schen ein Überbietungswettkampf -, der Spitzensteuersatz müsse auf 45 Prozent, 49 Prozent ({4}) oder, wie zuletzt von den Linken gefordert, 75 Prozent steigen. ({5}) Das entspricht dem Vorschlag Ihres sozialdemokratischen Freundes Hollande, der Präsident der Französischen Republik werden möchte. Irgendwann hat man den Eindruck, dass die Sozialdemokraten das Steuerrecht als Strafrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstehen. ({6}) Das ist es aber nicht, weil es einen Zusammenhang zwischen Arbeit bzw. der Steuerbelastung von Arbeit und dem Sozialstaat gibt. Das Bewusstsein dafür ist Ihnen offenbar abhandengekommen. Soziale Leistungen des Staates fallen nicht vom Himmel, sondern müssen erwirtschaftet werden. Es gilt der Grundsatz: Geht es den Beschäftigten und der Wirtschaft gut, dann geht es auch dem Sozialstaat gut. Das wollten Sie uns nie glauben, und deswegen haben wir es Ihnen bewiesen. Wir haben wachstumsorientiert konsolidiert. Wir haben durch kluge Steuerpolitik - von der Vermeidung von Steuererhöhungen zu Beginn dieser Legislaturperiode bis hin zu diesem Gesetzentwurf - für die maximale Entfaltung von Wachstumskräften in unserem Land gesorgt. Jetzt sind die Sozialkassen voll, und die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, ist niedrig. Den Beweis, dass unsere Politik richtig ist, haben wir erbracht. Jetzt setzen wir sie fort und laden Sie ein, umzukehren, Ihre Verweigerungshaltung aufzugeben und endlich den richtigen Kurs für unser Land zu unterstützen. ({7}) Geben Sie Ihre Scheinkämpfe auf, und unterstützen Sie diesen Gesetzentwurf, der endlich einen Paradigmenwechsel im Einkommensteuerrecht einleitet und mit der kontinuierlichen Überprüfung der kalten Progression mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schafft. Wir wollen, dass sie an den Erfolgen der Wirtschaft teilhaben. Wir freuen uns, dass die Einkommen der Beschäftigten gestiegen sind. Jetzt muss man dafür sorgen, dass diejenigen, die sich in der Vergangenheit zurückgehalten haben und jetzt Lohnsteigerungen erwarten, diese auch behalten können, indem sie gerecht besteuert werden. Es darf jetzt nicht ausgerechnet bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im unteren und mittleren Einkommensbereich zugegriffen werden. Ich lade Sie ein, Ihre Verweigerungshaltung aufzugeben und diesen Gesetzentwurf zu unterstützen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wissing, das war eine vergiftete Einladung. Sie können doch nicht ernsthaft meinen, dass wir uns an Ihrer vermurksten Steuerpolitik beteiligen. Das ist wirklich eine Zumutung. ({0}) Nach zweieinhalb Jahren kommen Sie endlich aus dem Knick und legen etwas vor, scheinbar den großen Wurf. Die Koalition will jetzt endlich die kalte Progression bekämpfen. Dazu kann ich nur sagen: Gut, dass Sie endlich ausgeschlafen haben. Ich darf Sie daran erinnern: Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt und haben Sie aufgefordert, etwas gegen die kalte Progression, die ein Teilproblem darstellt, zu tun. Wir haben in unserem Antrag verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt: Man könnte einen Inflationsfaktor in den Tarif einbauen, oder man könnte eine kontinuierliche Anpassung im Grundfreibetrag gestalten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. ({1}) Das hat Sie damals nicht sonderlich interessiert. Sie haben den Antrag abgelehnt. Jetzt kommt Ihr großer Wurf. Aber wir unterscheiden uns erheblich in der Einordnung. Sie betrachten Ihren Gesetzentwurf zum Abbau der kalten Progression als die Lösung des Problems der Steuergerechtigkeit. Dem ist mitnichten so. Bei uns war diese Aufforderung in unserem Vorschlag zur Reform der Einkommensteuer eingebettet. Da liegt das Problem; denn die kalte Progression resultiert aus der Kombination von Lohnsteigerung, Inflation und konkretem Tarifverlauf. Nun sind wir uns alle einig, dass wir mit dem progressiven Einkommensteuertarif dem Grundprinzip des deutschen Steuerrechts Rechnung tragen, die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vorzunehmen. Allerdings - es war Herr Waigel, der das damals eingeführt hat - haben wir keine durchgehend linearprogressive Gestaltung, sondern wir haben einen sogenannten Steuerbauch. Das führt dazu, dass Bezieher von unteren und mittleren Einkommen durch den Tarifverlauf überproportional belastet werden. Das ist das Problem. Solange Sie dieses Problem nicht angehen, haben Sie bei der Kombination einer Lohnsteigerung in Höhe der Inflationsrate mit diesem Tarifverlauf den Effekt, dass sich die überproportionale Belastung verstärkt. Deshalb sagen wir: Wir müssen das Grundproblem anpacken. Wir brauchen einen neuen Einkommensteuertarif. Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht: Anhebung des Grundfreibetrags auf 9 300 Euro und Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 53 Prozent, der ab 65 000 Euro greifen soll. Um keine Verwirrung aufkommen zu lassen: Dieser Tarif führt zu einer Entlastung bis zu einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 70 000 Euro. Das ist ein wirklich gerechter Vorschlag. ({2}) Diejenigen, die über 70 000 Euro verdienen, können wir sehr wohl belasten, weil sie tatsächlich eine wesentlich höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben. Das ist das Grundproblem, und das müssen wir angehen. ({3}) Solange Sie dies nicht tun, können Sie hier und da ein bisschen herumdoktern, aber Sie lösen das Problem nicht. Eine solche Reform können wir uns auch leisten. Sie ist finanzierbar, weil es sich um eine Kombination von Entlastung und Belastung handelt; denn wir heben den Spitzensteuersatz an, gestalten aber den Tarifverlauf durchgehend linear-progressiv. Das würde zur Übersichtlichkeit beitragen; denn es ist klar, dass sich letztendlich mit jeder Lohnerhöhung die Progression minimal, aber durchgehend gleichmäßig erhöht. Eine solche Progression ist sozial gerecht. Deshalb müssen wir dafür kämpfen. ({4}) Es gibt ein zweites Problem. Herr Wissing, Sie tönen hier groß über die Arbeit usw. Wer hat denn in Deutschland in großer Gemeinsamkeit seit dem Jahr 2000 darauf hingewirkt, dass Menschen nicht mehr ordentlich für ihre Arbeit bezahlt werden? Wir haben in Deutschland die Situation, dass das Arbeitsvolumen de facto nicht gestiegen ist. Es hat sich lediglich auf mehr Schultern verteilt, aber nicht bei gleichbleibender Bezahlung; vielmehr wurden Mini- und Midijobs installiert, wodurch eine wahnsinnige Lohndrückerei erfolgt ist. Wir haben in Deutschland Tausende Menschen, die Vollzeit arbeiten, aber von ihrem Lohn nicht leben können. Wir müssen hier das Problem auch mit einem Mindestlohn angehen. ({5}) Wir brauchen hier in Deutschland massive Lohnsteigerungen, die nicht nur die Inflation ausgleichen, sondern über der Inflationsrate liegen müssen. ({6}) Das sind die dringenden Probleme. ({7}) Wir unterstützen die Anhebung des Grundfreibetrags. Herr Schäuble, Sie haben eben gesagt, die einfache Verschiebung des Tarifs sei die endgültige Absage an die kalte Progression. Das verstehe ich nicht ganz. Es ist ja nicht eine laufende Verschiebung. ({8}) Endgültig kann das nicht sein. Das ist jetzt eine Maßnahme. Aber das Problem als solches ist nicht gelöst. ({9}) Dafür brauchen wir einen anderen Tarifverlauf. Wenn wir einen solchen Einkommensteuertarif beschließen würden, wie wir ihn vorschlagen, erst dann hätten wir eine wirkliche Entlastung im unteren und mittleren Einkommensbereich. Das, was Sie vorschlagen, ist eine Mini-Entlastung. ({10}) Sie hantieren ja auch im Gesetzentwurf nicht mit absoluten Zahlen, sondern nur mit relativen Zahlen. Absolut und relativ sind - Frau Paus hat in ihrer Zwischenfrage darauf hingewiesen - eben doch zwei verschiedene Sachen. Wenn ich einer Verkäuferin sage: „Du wirst relativ viel mehr entlastet“, kommt dabei absolut nur eine Entlastung von monatlich vielleicht 5 Euro heraus. Wenn ich aber demjenigen, der ein Einkommen in Höhe von vielleicht 1 Million Euro hat, sage: „Es tut mir leid, du hast relativ eine wesentlich geringere Entlastung“, bekommt er dann 500 Euro oder wie viel auch immer - das kann ich jetzt nicht genau sagen -; das ist doch absolut bedeutend mehr. ({11}) Diese Frage steht dahinter. ({12}) Deshalb können wir Ihre Argumentation in diesem Punkt nicht teilen. Wir können das auch nicht voll unterstützen. So geht es nämlich nicht. Wir brauchen die ganze politische Kraft für die Einführung eines neuen Einkommensteuertarifs, der sozial gerecht ist, der finanzierbar ist ({13}) und der damit tatsächlich wieder eine Rückkehr zum Prinzip der Besteuerung nach der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit darstellt. Ich danke Ihnen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Schäuble, es ist schon sehr erstaunlich, wie man einen ganz normalen ökonomischen Fachbegriff zu dem gesellschaftspolitischen Problem schlechthin aufblasen kann. Kommen wir noch einmal konkret zu dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf. In Ihrem Gesetzentwurf selbst wird festgestellt, dass es dieses riesengroße gesellschaftliche Problem zumindest in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht gegeben hat. Außerdem - darauf wurde schon von Herrn Poß hingewiesen - bekämpfen Sie so ein Problem, von dem Sie heute überhaupt noch nicht wissen, in welcher Form es eintreten wird. Es wird da in der Tat etwas geben. Voraussichtlich im nächsten Jahr steht eine Anpassung beim Existenzminimum an. ({0}) Ja, wir werden auch eine Preissteigerung größer null haben. Auch das ist so weit richtig. Aber in Ihrem Gesetz sagen Sie ganz konkret, dass die kalte Progression im Jahr 2017 6,6 Milliarden Euro betragen wird, also in fünf Jahren. Sehr geehrter Herr Schäuble, ({1}) da müssen Sie als Bundesfinanzminister mir doch zustimmen, dass das ökonomischer Humbug ist. ({2}) Ihnen ging es einzig und allein um ein wohlklingendes Etikett für Ihre Ministeuersenkung. ({3}) Deswegen müssen Sie das auch mit riesengroßem Getöse hier immer wieder vortragen. Entsprechend donnernd ist Ihre Wortwahl. Aber dass Sie sich hier so in Rage reden, ist, wie wir finden, an Bigotterie nicht zu überbieten. ({4}) Ich jedenfalls habe nicht vergessen und Hunderttausende von Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern auch nicht, wie Sie tatsächlich mit der Existenzsicherung von Menschen in diesem Land umgehen. Es war im Februar 2010, als das Bundesverfassungsgericht den Hartz-IV-Satz für verfassungswidrig erklärt hat. Es hat über ein Jahr gebraucht, bis Sie diesen korrigiert haben. ({5}) Sie haben ihn auch nicht rückwirkend korrigiert, sondern bei jedem Hartz-IV-Empfänger und bei jeder Hartz-IVEmpfängerin satte 55 Euro eingespart, indem Sie das Verfassungsgerichtsurteil erst später umgesetzt haben. So halten Sie es mit den sozialen Grundrechten in diesem Land. Ich finde, wer so etwas tut, der hat wirklich jegliches moralische Recht verwirkt, so zu debattieren. ({6}) - Das Bundesverfassungsgerichtsurteil war im Februar 2010, Herr Lindner; das wissen Sie. Sie wissen auch, ({7}) wie lange Sie gebraucht haben, um auszurechnen, dass der Ausgleich nur 5 Euro beträgt. Aber selbst diese 5 Euro haben Sie den Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern im Jahr 2010 Monat für Monat nicht gegönnt. ({8}) - Ja, genau. Kommen wir jetzt zum materiellen Kern Ihres Gesetzes. ({9}) Sie sagen: Der Aufschwung soll bei denjenigen, die arbeiten, also den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im unteren und mittleren Bereich, endlich ankommen. Ich greife damit das auf, was Sie, Herr Wissing, eben gesagt haben. ({10}) Sie versuchen, den Leuten zu verkaufen, dass das insbesondere etwas für die unteren und mittleren Einkommen bringt. ({11}) Schauen wir uns einmal Ihr Gesetz an und rechnen. Dann stellen wir fest: Bei einem Bruttolohn von 1 200 Euro sollen sie nach dem Gesetz im Jahre 2013 ganze 2 Euro und im Jahre 2014 ganze 5 Euro mehr im Monat bekommen. Eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer mit einem Bruttolohn von 3 000 Euro wird mit 5 Euro und im Jahr darauf mit 15 Euro pro Monat entlastet. Aber wo fängt es an, sich langsam zu lohnen? Natürlich wie immer bei den höheren Einkommen. Bei 6 000 Euro brutto im Monat fängt man an, es tatsächlich zu spüren. Dann sind es 30 Euro im Monat, also 360 Euro im Jahr 2014. ({12}) Schaut man sich an, wem die geplanten Steuerentlastungen von Schwarz-Gelb tatsächlich nützen, dann muss man erneut feststellen: Insbesondere die oberen Einkommen werden entlastet. ({13}) Wenn man sich die Verteilungswirkungen insgesamt anschaut, dann sieht man: Die unteren 20 Prozent, von denen Sie immer sagen, dass Sie sie entlasten wollen, bekommen nach Ihrem Gesetz keinen einzigen Euro mehr. ({14}) Aber die obersten 10 Prozent bekommen 30 Prozent der insgesamt 6,6 Milliarden Euro. ({15}) So geht Steuerpolitik bei Schwarz-Gelb. So sieht die Gerechtigkeit bei Schwarz-Gelb aus: Wer hat, dem wird gegeben. ({16}) Auch mit diesem Gesetz schaffen Sie es nicht, das zu ändern. ({17}) - Ich kann Ihnen die Zahlen geben. Wir haben es ausgerechnet. ({18}) Und wem wird es genommen? Den öffentlichen Haushalten wird es genommen, und das bedeutet für die Länder und Kommunen eine Lücke von 2,25 Milliarden Euro. Allein im Land Berlin, aus dem ich komme, würden auf diesem Wege jährlich 120 Millionen Euro in der Kasse landen. Zum Vergleich: Die Konsolidierungshilfe, die der Bund großzügig an das Land Berlin zahlt, liegt bei 80 Millionen Euro. Es ist also direkt wieder eine Lücke von 40 Millionen Euro. Auch Nordrhein-Westfalen ist mit einer halben Milliarden Euro dabei. Was wird die Folge sein? Berlin und die anderen Städte und Kommunen werden wieder einmal an den Gebühren schrauben müssen. Ob Kita, Abfall, Wasser, Nahverkehr, Schwimmbäder oder Kultur - das bleibt in der Tat ihnen überlassen. ({19}) Betroffen sein werden immer die Bezieher von unteren oder mittleren Einkommen, weil sie nämlich auf die öffentliche Infrastruktur angewiesen sind und weil sie ({20}) von den sozialen Staffelungen nur selten profitieren können. Wenn Sie also ernsthaft insbesondere Arbeitnehmer mit kleineren und mittleren Einkommen entlasten wollen - es stehen ja noch Verhandlungen an -, dann lade ich Sie herzlich ein, genau das zu tun und unseren grünen Tarif zu Ihrer Gesetzesinitiative zu machen. ({21}) Durch unsere Anhebung des Grundfreibetrages auf 8 500 Euro statt wie bei Ihnen im weiteren Verlauf auf 8 354 Euro entlasten wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Bruttolohn von 1 200 bis 3 500 Euro stärker als Sie von der Koalition. ({22}) Darüber hinaus ist unser Vorschlag bereits im Jahr 2012 vollständig umsetzbar, und wir erzielen durch die gesamte Einkommensteuertarifreform samt Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent nicht Mindereinnahmen von 6 Milliarden Euro, sondern Mehreinnahmen von 2,5 Milliarden Euro ({23}) und verbessern damit auch noch die staatliche Handlungsfähigkeit und damit die Möglichkeit der Versorgung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort. ({24}) Meine Damen und Herren von der Koalition, so wird ein Schuh draus. Schlagen Sie darauf ein, und wir bekommen eine vernünftige Reform, den Abbau der kalten Progression und eine tatsächliche Entlastung der unteren und mittleren Einkommen. Herzlichen Dank. ({25})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland ein kompliziertes Steuersystem, und es gibt nicht immer Zustimmung zu diesem Steuersystem. Es gibt zu einem Bereich des Steuersystems große Zustimmung, nämlich dazu, dass wir einen großen Teil der Bevölkerung von der Lohn- und Einkommensteuer freistellen - das sind fast 40 Prozent - und dass diejenigen, die ein gutes bzw. ein hohes Einkommen haben, entsprechend höher belastet werden. Das nennen wir Progression nach der Leistungsfähigkeit. Das heißt, jemand, der ein hohes Einkommen hat, wird mit 45 Prozent Lohnsteuer oder Einkommensteuer belastet. Dazu kommen der Solidaritätszuschlag und die Kirchensteuer, und so erreicht man fast 50 Prozent. ({0}) Hier gibt es eine hohe Übereinstimmung darin, dass die Leistungsfähigen für die anderen mitzahlen, und heute ist es so, dass die oberen 10 Prozent der Leistungsfähigen 55 Prozent der gesamten Lohn- bzw. Einkommensteuer zahlen. Was die Bevölkerung aber nicht akzeptiert, ist, dass man nicht automatisch 3 Prozent mehr in der Tasche hat, wenn man eine Gehaltserhöhung von 3 Prozent bekommt. Aufgrund unseres Steuertarifs müssen für jeden Euro, der mehr verdient wird, mehr Steuern gezahlt werden. Das nennen wir kalte Progression. Nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch wir von der Koalition akzeptieren das nicht. ({1}) Pro Jahr nimmt der Staat - also Bund, Länder und Gemeinden - durch diese kalte Progression etwa 3 Milliarden Euro mehr ein. Sie wurde nicht gesetzlich festgelegt; sie kommt nur durch die die Inflation ausgleichenden Gehaltserhöhungen zustande. Das heißt, mit jedem Euro zusätzlich zahlt man automatisch mehr Steuern. Mittlere Einkommen in Höhe von 2 000 bis 3 000 Euro brutto im Monat zahlen nach der Grundtabelle auf jeden zusätzlichen Euro 30 Prozent Steuern. Das heißt, für jeden Euro, den die Bezieher solcher Einkommen zusätzlich verdienen, werden, wenn man die 20 Prozent Sozialabgaben hinzunimmt, 50 Prozent abgezogen. Das kann auf Dauer nicht akzeptiert werden, und wir wollen das auch nicht akzeptieren. Im Koalitionsvertrag haben wir festgehalten, was wir nach der Wahl tun werden. Jetzt tun wir, was wir gesagt haben. ({2}) Wir haben schon öfter über den Einkommensteuertarif diskutiert. In der Großen Koalition haben wir damals im Rahmen des Konjunkturpaketes II eine Tarifanpassung vorgenommen. ({3}) Wir haben 2010 zu Beginn der christlich-liberalen Koalition die Familien mit 5 Milliarden Euro unterstützt, weil es sich um Leistungsträger der Gesellschaft handelt. ({4}) Außerdem haben wir Gesetze im unternehmerischen Bereich sozusagen entschärft, damit die Wirtschaft wieder Schwung aufnimmt und die Konjunktur gestärkt wird. Diesen Effekt können wir heute erleben. Denn im Zeitraum von 2010 bis 2013 gibt es Steuermehreinnahmen in Höhe von 83 Milliarden Euro für Bund, Länder und Gemeinden. Davon wollen wir den Bürgern jetzt 6 Milliarden Euro zurückgeben. ({5}) Sie alle wissen, dass im Spätherbst der neue Existenzminimumbericht erscheint. Das heißt, wir werden beim Grundfreibetrag ohnehin eine Anpassung vornehmen. Aber wir wollen auch den Tarif anpassen. Da muss ich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der SPD fragen: Wo sind Sie eigentlich angelangt, dass Sie untere und mittlere Einkommen nicht mehr entlasten wollen? ({6}) Ich verstehe ja, dass Sie nicht allem zustimmen. Aber hier geht es um 6 Milliarden Euro, die als Einnahmen für Bund, Länder und Gemeinden nicht eingeplant waren. Der Finanzminister hat allen, also auch Ihnen, angeboten, die Kosten für die Veränderungen des Tarifverlaufs zu übernehmen. Das ist nichts anderes als eine Kostenübernahme des Bundes. Dennoch lehnen Sie eine Senkung der Steuern für untere und mittlere Einkommen ab. Sie haben deutlich gemacht, dass es nach Ihrer Überzeugung einen höheren Spitzensteuersatz geben müsste. Der Spitzensteuersatz in Höhe von 42 Prozent wird schon bei einem Jahreseinkommen von 53 000 Euro erreicht. Plus Solidaritätszuschlag ergibt sich eine Steuerbelastung von fast 47 Prozent. Wer zusätzlich noch die Reichensteuer zahlen muss, liegt bei fast 50 Prozent Steuern. Sie sollten einmal deutlich sagen, dass Sie auch bei Jahreseinkommen ab 53 000 Euro brutto über eine Steuerbelastung von 47 Prozent hinausgehen wollen. Zusätzlich zu den Sozialabgaben müssten die Betroffenen dann über 50 Prozent Steuern zahlen. ({7}) Von der Linkspartei rede ich in diesem Zusammenhang gar nicht erst. Sie wollen möglicherweise wie Hollande in Frankreich in Richtung 75 Prozent gehen. Sie müssen aber wissen: Wenn Sie den Spitzensteuersatz - wir nennen ihn die Reichensteuer - um einen Prozentpunkt anheben, dann fließen in die Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden 300 Millionen Euro zusätzlich. Auf den Bund entfallen dabei 128 Millionen Euro. Das ist exakt 1 Promille unseres Sozialhaushaltes. Sie werden erleben, dass dann die mittelständische Wirtschaft, die familiengeprägt ist, und die Personenunternehmen, die Einkommensteuer zahlen, Investitionen zurückfahren. Heute erleben wir einen Aufschwung in Deutschland. Damit liegen wir weltweit an der Spitze. Wir haben durch unsere Maßnahmen im Jahre 2010 und auch im Zeitraum bis heute unsere Wirtschaft gestärkt. Wir erleben einen Boom, weil wir darauf geachtet haben, die Unternehmen stark zu machen und die Familienbetriebe bei der Erbschaftsteuer zu entlasten, damit auch die nächste Generation Arbeitsplätze in Deutschland schafft. ({8}) Wir haben immer an den Ausgleich zwischen kleineren und größeren Einkommen, zwischen Privatpersonen und Unternehmen gedacht. Das haben die Gesetze des Jahres 2010 geschaffen. Wir haben übrigens auch kleine und mittlere Unternehmen entlastet, indem wir zum Beispiel die Istbesteuerung verändert haben, damit kleine und mittlere Unternehmen mehr Liquidität bekommen, um damit Arbeitsplätze zu schaffen. Herr Poß, Sie haben von Verschuldung gesprochen. Man kann aber keine Steuersenkung vornehmen, weil die Verschuldung so hoch ist. Sie sind lange genug dabei. Sehen Sie sich einmal die Jahre von 1998 bis 2005 an. Sie haben in jedem Jahr mehr Schulden aufgenommen als wir im Jahr 2011. ({9}) Da gab es keine Krise. Wir haben eine Schuldenbremse eingeführt. Wir haben beim Haushalt des Bundesministers gesehen: Wir haben eine Neuverschuldung in Höhe von 48 Milliarden Euro geplant. Wir sind bei 17 Milliarden Euro angelangt. Wir sind der stabile Faktor in Deutschland. Wir sind bei der ersten Lesung dieses Gesetzes. Es geht darum, Motivation nicht nur für Unternehmen, für Leistungsträger, für Hochverdiener zu schaffen, sondern es geht insbesondere darum, Motivation bei Arbeitnehmern mit unterem oder mittlerem Einkommen zu schaffen. Motivation ist der Kernbereich für die Leistungsfähigkeit dieser Gesellschaft. Deswegen kann ich nur sagen: Unterstützen Sie die Bundesregierung. Unterstützen Sie die Koalitionsparteien, dass zu viel gezahlte Steuern von unteren und mittleren Einkommen zurückgefahren werden. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt hat, so ist einem heute aufgefallen, dass aufseiten der FDP eine ganz ungewohnte Mischung aus Nervosität und Aggression vorhanden war. Daraus kann ich nur schließen, dass dieser Gesetzentwurf wieder für das symptomatisch ist, was die Koalition in den letzten Jahren im Steuerbereich anzupacken versucht hat, was nie gelungen ist. Auch dieser Gesetzentwurf ist davon geprägt, weil er etwas vorgibt, was er nicht ist. Sie haben am Anfang gar nicht gewusst, was Sie vorhaben. ({0}) Wenn man sich einmal die Historie anschaut, dann stellt man fest: Aus der ganz großen Steuerentlastung ist eine witzige Melange entstanden. Wenn man die Presse verfolgt hat, dann weiß man, dass es einen großen Konflikt gab. Wir haben Finanzminister Schäuble noch dabei unterstützt, als er gesagt hat: Wir haben für die 24 Milliarden Euro kein Entlastungspotenzial. Dann wurde die Höhe der Entlastung immer kleiner. Inzwischen haben Sie sich entschieden, zu sagen, das, was erst eine abgeschmolzene Entlastung war und jetzt etwas wird, was nie geplant war, sei verfassungsnotwendig. Was sagen Sie denn jetzt? Sie sagen: Wir bräuchten jetzt die Erhöhung des Existenzminimums. Sie vergessen dabei völlig, dass es eigentlich ein geregeltes Verfahren gibt, wie wir uns gemeinsam immer auf eine Erhöhung des Grundfreibetrages geeinigt haben, um das Existenzminimum eines erwachsenen Menschen steuerfrei zu stellen. Ich finde aber, Sie sollten zugeben: Wenn Sie die Werte einfach so greifen, ohne auf die Berechnungen zu warten, dann ist es eine politische Entscheidung, die daraus folgt, dass Sie die Melange, die ich beschrieben habe, irgendwie zufriedenstellen müssen. Es wäre ein normales Verfahren, zu sagen: Wir sehen uns die Zahlen an. Übrigens, Herr Volk, das hat mit Inflation nichts zu tun. Die Berechnungen des Existenzminimumsberichts ergeben sich nicht einfach aus einer Hochrechnung der Inflation, sondern kommen in einem wissenschaftlich geregelten Verfahren zustande. Wir haben immer gesagt: Wenn die Zahlen vorliegen, sind wir bereit - das ist eine verfassungsrechtliche Vorgabe -, dies mitzutragen. Aber Sie verbrämen sozusagen diese verfassungsrechtliche Notwendigkeit mit einer - aus Ihrer Sicht, nicht aus unserer Sicht - viel zu klein geratenen Steuerentlastung. Dann kommt so ein - ich weiß nicht, was - Mix heraus. ({1}) Sie ziehen mit Ihrem Gesetzentwurf keine konsequente Linie und setzen keine klaren Prioritäten. Sie können sich zwischen Steuerentlastung und dem Notwendigen nicht entscheiden. Für uns Sozialdemokraten hätten Sie Mut bewiesen, wenn Sie Prioritäten gesetzt hätten. Unsere Prioritäten sind: Der Schuldenabbau ist notwendig, weil er dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen entspricht. Das ist die erste Priorität. ({2}) Die zweite Priorität ist: Wir wollen eine Sicherheitsreserve für schwierige Zeiten schaffen. Ich finde es witzig, zu sehen, dass Sie inzwischen so tun, als ob es ausNicolette Kressl schließlich einen Zusammenhang zwischen der Überwindung der Krise und Ihrem Wachstumsbeschleunigungsgesetz gäbe. Zu Beginn dieser Legislaturperiode waren Sie noch ehrlich und haben zugegeben, dass das auf die Krisenpakete zurückzuführen ist, die wir gemeinsam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben. Inzwischen geht es ausschließlich um das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. ({3}) Das finde ich lustig. Entweder ist das Ausdruck von Gedächtnisverlust, oder es ist Strategie. Aber das lassen wir Ihnen natürlich nicht durchgehen. Weil wir damals dem Schuldenabbau Vorrang gegeben haben, hatten wir Geld, um Ausgaben im Zusammenhang mit der Krisenbekämpfung - ich erwähne als Beispiel nur die Kurzarbeiterregelung - zu decken. ({4}) Das machen Sie im Moment nicht. Das hat bei Ihnen keine Priorität. Die dritte Priorität ist: Da wir auf die Chancengerechtigkeit in unserem Staat achten müssen, setzen wir Mittel vorrangig für Bildung und Betreuung ein. Wenn diese Prioritäten beachtet sind, können wir über Steuerentlastungen reden. Die Menschen wissen das inzwischen auch; Herr Poß hat das schon angesprochen. Laut Umfragen können sich die Menschen eine Steuerentlastung sehr gut vorstellen, aber nur, wenn die Reihenfolge der von mir eben beschriebenen Prioritäten eingehalten wird. Eine solche Prioritätensetzung lassen Sie aber vermissen. ({5}) Ich möchte eine letzte Anmerkung machen. Ich finde Ihre Volte fast schon waghalsig, vielleicht in Zukunft einen automatischen Ausgleich für die kalte Progression zu schaffen. Wir sind uns sicherlich einig, dass es einen solchen Automatismus in den letzten Jahren nicht gab. Sie tun so, als ob es sich nicht um eine politische Entscheidung handelte, sondern als ob es schon geradezu verfassungswidrig wäre, die Steuereinnahmen aufgrund der kalten Progression einzubehalten. An dieser Stelle finde ich Ihre Argumentation nicht logisch; denn wenn dem so wäre, dann dürften Sie nicht alle zwei Jahre eine Überprüfung der Wirkung der kalten Progression vornehmen, sondern dann müssten Sie einen Automatismus einbauen. Sonst passt das alles nicht. ({6}) Sie versuchen, das zu verbrämen, durchdenken es aber nicht logisch. Wir wünschten uns mehr Mut, Prioritäten zu setzen. Sie sollten nicht so viel verpacken und Maßnahmen auf den Weg bringen, die Sie so gar nicht geplant haben. Dann könnten wir gemeinsam reden. Aber so handelt es sich nicht um eine Grundlage, auf der wir vernünftig und sachlich miteinander diskutieren können. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Daniel Volk für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Kressl, es ist schon erstaunlich, dass Sie hier eine Prioritätenliste der SPD vorgetragen haben, ({0}) die Sie in den Bundesländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, ({1}) granatenmäßig verraten haben. Erklären Sie uns doch einmal, warum die Staatsverschuldung in NordrheinWestfalen nach der Regierungsübernahme durch Ihre Partei so in die Höhe geschnellt ist. Sie machen eine verantwortungslose Haushaltspolitik in den Bundesländern und setzen sie mit einer verantwortungslosen Finanzpolitik im Bund fort. ({2}) Die steuerpolitischen Vorschläge von SPD, Grünen und Linken in den letzten Monaten sehen massive Steuererhöhungen vor. Das Einzige, was Ihnen in der Steuerpolitik einfällt, ist Steuererhöhung. Deswegen ist nachvollziehbar, dass Sie bei der Frage des Abbaus der kalten Progression so herumwüten. Es geht Ihnen schlicht darum, dass die Menschen in diesem Land mehr Steuern zahlen müssen, als sie überhaupt zahlen sollten. ({3}) Dementsprechend kommt es Ihnen vollkommen zupass, dass eine automatische Steuererhöhung über das Vehikel der kalten Progression in unseren Steuergesetzen angelegt ist. Sie wüten, weil wir als christlich-liberale Koalition unserer Verantwortung nachkommen, einen gerechten Ausgleich zu schaffen zwischen der Steuerpflicht der einzelnen Bürger zur Finanzierung der notwendigen Staatsausgaben auf der einen Seite und dem Belassen eines genügend hohen Anteils des Einkommens bei den Bürgern auf der anderen Seite. Kurz: Wir wollen hier einen gerechten Ausgleich zwischen Staat und Privat. Sie wollen immer nur die Steuern erhöhen. Aber dann sagen Sie doch auch, dass Sie die Steuern erhöhen wollen. Machen Sie es nicht so wie im Jahr 2005. Da haben Sie noch vor der Wahl gesagt: Mit uns gibt es keine Umsatzsteuererhöhung. Kaum waren Sie in der Regierungs19424 verantwortung, haben Sie die Umsatzsteuer von 16 Prozent auf 19 Prozent angehoben. Sagen Sie heute endlich deutlich, dass Sie für Steuererhöhungen sind. ({4}) Dann können wir gerne eine ehrliche politische Auseinandersetzung über dieses Thema führen. Es ist jedoch nicht fair, Nebelkerzen zu werfen, so wie Sie es hier in dieser Debatte gemacht haben. Das ist nicht in Ordnung. Sagen Sie offen und ehrlich, dass Sie die Steuern erhöhen wollen. Im Übrigen möchte ich noch auf eines hinweisen: Natürlich können wir den nächsten Existenzminimumbericht abwarten. Sie können aber nicht die Augen davor verschließen, dass wir vor einer höheren Inflation stehen. Vor diesem Hintergrund ist es doch absolut nachvollziehbar, dass die Tarifparteien die Tarifverhandlungen in diesem Jahr mit Forderungen nach relativ hohen Lohnsteigerungen beginnen. Wir als christlich-liberale Koalition werden dafür sorgen, dass die vollkommen gerechtfertigten Forderungen nach inflationsbedingten Lohnsteigerungen bei den Leuten ankommen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression wollen wir eine im System des linear-progressiven Einkommensteuertarifs begründete Ungerechtigkeit beseitigen. Uns geht es um die Beseitigung einer Ungerechtigkeit und nicht um eine Steuersenkung. Es geht auch nicht um Steuergeschenke, die wir im Übrigen sowieso nicht verteilen können; denn das würde ja bedeuten, dass wir etwas haben, was wir verschenken können. Wir Politiker sind jedoch nicht Eigentümer des Geldes der Bürgerinnen und Bürger, das aus den Steuereinnahmen stammt, sondern wir sind die Treuhänder für dieses Geld. Deswegen können wir gar nichts verschenken. ({0}) Dank der Progression im Einkommensteuerrecht muss derjenige, der mehr verdient, nicht nur absolut in Euro und Cent, sondern auch prozentual eine höhere Steuer auf sein Einkommen zahlen. In Deutschland haben wir, wie Kollege Flosbach schon vorhin richtig dargestellt hat, einen Spitzensteuersatz einschließlich Soli und Kirchensteuer von knapp 50 Prozent. Das führt dazu, dass das obere Drittel der Einkommensteuerzahler knapp 80 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens trägt. Das ist gut so. Es entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden einer breiten Mehrheit in diesem Land. ({1}) Dennoch krankt unser Einkommensteuersystem an der Ungerechtigkeit der kalten Progression. Die kalte Progression bedeutet eine jährliche heimliche Steuererhöhung um mehrere Milliarden Euro. Die Bürger zahlen höhere Steuern, obwohl die reale Kaufkraft des Einkommens nicht gestiegen ist. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir hier eine Korrektur vornehmen und dafür sorgen, dass sich der Staat an den bescheidenen Einkommen nicht noch zusätzlich bereichert. ({2}) Das erreichen wir durch die hier vorgeschlagene stufenweise Anhebung des Grundfreibetrages und eine sich daraus zwingend ergebende Anpassung des nachfolgenden Tarifverlaufs. Hinzu kommt die regelmäßige Überprüfung, alle zwei Jahre. Beim steuerfreien Existenzminimum folgen wir den voraussichtlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Sie von der Opposition blockieren das hier. Ich will doch mal sehen, wie lange Sie sich noch gegen die verfassungsrechtlich vorgegebene Nichtbesteuerung des Existenzminimums stellen wollen. Es ist schon ein bisschen bizarr: Die SPD, die selbsternannte Schutzmacht der kleinen Leute, die Arbeitnehmerpartei, ({3}) stellt sich hier in der Debatte gegen die Schaffung von Steuergerechtigkeit. Ich muss es wiederholen: Wir machen keine Steuergeschenke, sondern verschonen gerade die kleinen und mittleren Einkommen von einer Steuererhöhung. Insbesondere die unteren und die mittleren Einkommen werden bei dieser Maßnahme prozentual stärker begünstigt. Natürlich gebietet es die Ehrlichkeit, zu sagen, dass die Bezieher ganz kleiner Einkommen nichts davon haben; denn die ganz kleinen Einkommen sind schon steuerfrei, die Bezieher zahlen keine oder kaum Steuern und sind in der Regel nur mit Sozialversicherungskosten belastet. Aber die Bezieher mittlerer Einkommen, die Facharbeiter, die breite Masse, die in diesem Land den Karren zieht - auf sie entfällt der größte Teil der Einnahmen aus der Einkommensteuer - sind von den Effekten der kalten Progression betroffen. Ehrlich gesagt, kann ich das Argument, wir könnten uns die Beseitigung dieser schleichenden Steuererhöhung nicht leisten, nicht mehr hören. Schauen Sie sich die Entwicklung bei den Steuereinnahmen an. Wir sind bei der Haushaltskonsolidierung dank unserem Finanzminister wunderbar im Plan. Die Maßnahmen stehen im Einklang mit der Schuldenbremse. Deutschland, werte Kolleginnen und Kollegen, ist das einzige Land in der Euro-Zone, bei dem die Ratingagenturen ohne Makel Triple A bestätigen. Wenn wir uns diese Maßnahme, dieOlav Gutting ses Stück Gerechtigkeit bei der Einkommensteuer, nicht leisten können, wer dann! ({4}) Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Ihre Blockade mithilfe des Bundesrates ist eine Attacke auf den Geldbeutel der kleinen Leute, die viel arbeiten und wenig heimbringen. ({5}) Gerade jetzt, in den nächsten Wochen und Monaten, in denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Überwindung der schweren Wirtschaftskrise in vielen Betrieben völlig zu Recht eine spürbare Lohnerhöhung erhalten werden, gerade in dieser Situation müssen wir eine Perspektive des Ausstiegs aus der kalten Progression schaffen. Die Lohnerhöhungen der nächsten Monate gehören den Bürgerinnen und Bürgern und nicht dem Staat. Treten Sie beiseite! Machen Sie Platz für mehr Steuergerechtigkeit! ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/8683 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Herbert Behrens, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Pendlerpauschale in sozial gerechtes Pendlergeld umwandeln und erhöhen - Drucksache 17/5818 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Ulrich Maurer, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Preiserhöhungswelle an den Tankstellen stoppen - Gesetzliche Benzinpreiskontrolle einführen - Drucksache 17/8786 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit Januar 2004 sind die Kraftstoffpreise um satte 53 Prozent gestiegen. Das müsste auch Ihnen von der FDP aufgefallen sein. ({0}) Allein zwischen dem 20. Dezember 2011 und Februar 2012 - also in zwei Monaten - hat sich der Preis für Superbenzin um 10,5 Prozent erhöht. An den Tankstellen findet eine Abzocke statt. Wenn man heute tankt, hat man den Eindruck, man habe die Beteiligung an einem Ölkonzern erworben. Ich habe den Eindruck, dass wir hier im Bundestag im Interesse der Bürgerinnen und Bürger des Landes eingreifen müssen. ({1}) Ursache für diese Situation ist zum einen die ungehemmte Spekulation an den Rohstoffmärkten und zum anderen die Tatsache, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Rohstoffe, bei Benzin und bei Öl, keinen Wettbewerb haben. Ich zitiere Herrn Andreas Mundt, den Präsidenten des Bundeskartellamtes, der gegenüber der Rheinischen Post am 23. Februar 2012 gesagt hat: Der Markt wird von fünf großen Mineralölkonzernen gemeinsam beherrscht, die sich gegenseitig wenig Wettbewerb machen. Das Ergebnis sind diese Preise. Das Ergebnis ist vor allem eine Abzocke bei den Menschen, die tanken müssen. Das ist nicht mehr akzeptabel. ({2}) Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass wir als Abgeordnete einschreiten und nicht zuschauen. Wir sind nicht gewählt, um zu beobachten, sondern um zu handeln. ({3}) Deshalb haben wir in unserem ersten Antrag gefordert, dass die Benzinpreise künftig überwacht werden. ({4}) Das sollte in der Weise passieren, dass Benzinpreise angemeldet werden müssen und dass ihnen zugestimmt werden muss. ({5}) - Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, empfehle ich, das in ihren Wahlkreisen zu diskutieren. Die Menschen vor Ort sehen das nämlich deutlich anders als Sie, die Sie hier absolut unqualifizierte Zwischenrufe machen. Das möchte ich Ihnen auch einmal sagen. ({6}) - Ihr fordert doch dauernd: Mehr Netto vom Brutto! Was wollt ihr denn eigentlich? Ihr betreibt doch, um es einmal deutlich zu sagen, Volksverdummung in höchster Vollendung, wenn ihr nicht für unseren Ansatz seid. ({7}) Dann kommen wir zum nächsten Antrag, der sich mit genau diesem Thema beschäftigt: Wir wollen, dass insbesondere Berufspendler von der bereits erfolgten Abzockerei wenigstens zum Teil entlastet werden. Zurzeit müssen Beschäftigte für ihren Weg zur Arbeit immer mehr zahlen; vom Einkommen bleibt immer weniger übrig. Ich habe das einmal ausgerechnet. Eine ungelernte Arbeitnehmerin, die bei Bosch in Bamberg arbeitet - ich nenne sie einmal Angela Fleißig -, verdient in Lohngruppe 2 circa 2 400 Euro brutto. Sie muss flexibel zur Arbeit kommen, weil sie auf Schichtarbeit angewiesen ist. Sie gehört der Steuerklasse I an und verdient somit netto 1 550 Euro. Wenn sie von Weißenbrunn nach Bamberg zur Arbeit fährt, sind das, einfache Strecke, 62 Kilometer. Bei einem Standardauto mit einem Verbrauch von 6,4 Litern auf 100 Kilometer bedeutet das, ({8}) dass sie - der Benzinpreis lag im Januar 2004 bei 1,06 Euro; inzwischen, im März 2012, liegt er bei 1,65 Euro - Kosten von 265 Euro zu tragen hat; im Januar 2004 hätten die Kosten noch bei 170 Euro gelegen. Für diese Mitarbeiterin von Bosch - ich weiß, dass Sie das nicht interessiert, weil es nicht Ihre Klientel ist ({9}) bedeutet das, dass sie rund 17 Prozent ihres Einkommens für Benzin ausgeben muss. Das ist unzumutbar! ({10}) Bei einer Pendlerpauschale von 30 Cent werden aktuell rund 110 Euro im Monat erstattet. Das ist nicht einmal die Hälfte ihrer Benzinkosten. Deshalb fordern wir Folgendes: Erstens. Wir müssen die Pendlerpauschale in ein Pendlergeld umwandeln, damit nicht nur die, die vom Auto abhängig sind, sondern auch diejenigen, die öffentliche Verkehrsmittel benutzen - ({11}) - Herr Präsident, ich glaube, da gibt es den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja. Der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage stellen. - Wie ich sehe, nehmen Sie seine Zwischenfrage gern entgegen. Herr Kollege Hinsken, Sie haben das Wort.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, ich verhehle nicht, dass ich der Erhöhung einer Pendlerpauschale sehr viel abgewinnen kann. ({0}) Weil Sie ein so ausgeklügeltes Beispiel gebracht haben, möchte ich Sie fragen, was das Ganze bei der Benutzung eines Porsche kosten würde; das würde mich interessieren. Sie als aktiver Porschefahrer werden doch wissen, welche Kosten ein Porsche im Gegensatz zu kleineren Autos, die von Arbeitnehmern überwiegend genutzt werden, verursacht.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist der Unterschied: ({0}) Wir selbst fahren vielleicht ein größeres Auto; aber wir kümmern uns trotzdem um die kleinen Leute. Bei Ihnen bleibt es beim größeren Auto. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Ernst, kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme sofort zum Schluss. - Ich möchte noch kurz unsere Vorschläge nennen: Erstens. Die Umwandlung der Pendlerpauschale in ein Pendlergeld, damit alle etwas davon haben. Zweitens. Erhöhung der Kilometerpauschale von 30 auf 45 Cent. Drittens. Das Pendlergeld wird unabhängig vom gewählten Verkehrsmittel gezahlt. Wie die Grünen sind wir dafür, dass der öffentliche Nahverkehr ausgebaut wird. Aber solange das noch nicht der Fall ist, kann man von den Arbeitnehmern nicht verlangen, dass sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, weil sie sich das Benzin nicht mehr leisten können. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Ernst, ich will zunächst klarstellen: Ich persönlich teile das, was eben in Zwischenrufen geäußert wurde, nicht. Ich finde es gut und schön, dass Sie einen Porsche 911 fahren; das gönne ich Ihnen von Herzen. Ich finde, das macht Sie sympathisch. ({0}) Die Linken wollen mit ihren Anträgen auf der Welle der Empörung über die hohen Spritpreise surfen. Was haben sie gemacht? Sie haben flugs ihren alten Antrag zum Pendlergeld wieder ausgegraben. Wir alle ärgern uns über die hohen Benzin- und Dieselpreise an den Tankstellen. Ich muss mich korrigieren: Einige ärgern sich nicht. Die Grünen fordern sogar noch höhere Preise. ({1}) Für die Grünen können die Preise gar nicht hoch genug steigen. Wir aber glauben, dass bezahlbare Energie und bezahlbarer Treibstoff eine wichtige Basis für unsere Volkswirtschaft sind; denn von dieser Volkswirtschaft leben wir alle. Es kann uns deshalb nicht egal sein, dass die Benzin- und Dieselpreise an den Tankstellen immer weiter in die Höhe schießen. Man muss der Öffentlichkeit klarmachen, dass die Energiesteuer auf die Treibstoffe seit der letzten Steuererhöhung 2003 unter Rot-Grün nicht mehr erhöht wurde. Seit 2003 ist die Energiesteuer auf Benzin und Diesel unverändert geblieben. ({2}) Es ist auch nicht so, dass der Fiskus, von dem kleinen Anteil der Mehrwertsteuer einmal abgesehen, bei steigenden Preisen immer mehr einnimmt. Der Steueranteil am Kraftstoff ist mit 65,6 Cent pro Liter immer gleich, völlig egal, ob der Liter 1 Euro, 1,50 Euro oder 2 Euro kostet. Das wissen leider die wenigsten, wenn sie an der Tankstelle wegen der hohen Benzinpreise auf den Staat schimpfen. Der jeweilige Steueranteil am Liter Benzin ist in den letzten Jahren aufgrund der steigenden Preise sogar zurückgegangen. Die Mineralölwirtschaft will die Schuld an den teuren Preisen der Politik und dem Staat zuschieben. Ich kann da nur sagen: Das sind schlicht Nebelkerzen. Die aktuellen Steigerungen sind nur zum Teil den gestiegenen Rohölpreisen geschuldet. Es ist die Preispolitik der fünf großen Mineralölkonzerne, die den Markt in Deutschland in einem Oligopol beherrschen. ({3}) Das Bundeskartellamt hat festgestellt, dass Absprachen zwischen den Konzernen nicht nachgewiesen werden können. Vielleicht bedarf es dieser Absprachen auch nicht; denn sie verstehen sich anscheinend blind. Ich halte es für wichtig, dass wir intensiv nach Möglichkeiten suchen, wie man den Wettbewerb unter den Konzernen und unter den Tankstellen stärker befördern kann. Das Patentrezept der Linken lautet wie immer: zerschlagen und verstaatlichen. Das wird in diesem Fall aber nicht funktionieren; denn mit der Entflechtung ist es nicht so einfach; schließlich handelt es sich um multinationale Konzerne, und multinationale Konzerne kann man durch ein deutsches Entflechtungsgesetz eben nicht entflechten. Der Ansatz muss ein anderer sein. Die Forderung nach Erhöhung der Pendlerpauschale oder nach Einführung eines Pendlergeldes, wie es jetzt die Linke wieder verlangt, ist der übliche Reflex auf den Anstieg der Treibstoffpreise an den Tankstellen. Ich kann jeden verstehen, der sagt: Da muss sich doch jetzt endlich etwas ändern. Aber eine Anhebung der 30-CentGrenze ist aus meiner Sicht unter haushalterischen Gesichtspunkten schlicht nicht darstellbar. In der vorangegangenen Debatte hat die linke Seite dieses Hauses immer wieder betont, dass es keine Mehrausgaben geben darf, dass wir keine Steuererleichterungen vornehmen dürfen. Eine Anhebung der Pendlerpauschale auf die von Ihnen vorgesehenen 45 Cent würde bei einer überschlägigen Berechnung statt bisher 3 bis 4 Milliarden Euro 7 Milliarden Euro kosten, also über 3 Milliarden Euro mehr als bisher. Wie immer machen die Linken keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung. Damit dokumentieren sie erneut, dass ihre Fraktion weder die Notwendigkeit eines Konsolidierungskurses anerkennt noch die Systematik des Steuerrechts verstanden hat. ({4}) Mit populistischen Anträgen nach dem Motto: „Soll doch die nachfolgende Generation dafür bezahlen“, können wir hier nicht arbeiten. Für die Unionsfraktion jedenfalls hat die Haushaltskonsolidierung weiterhin Priorität. Wir haben verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten. Wir müssen die Schuldenbremse einhalten. Wir werden uns daran halten. Sie schlagen vor - das haben Sie vorhin dargestellt -, das Pendlergeld selbst bei einer nicht vorhandenen Steuerschuld direkt auszubezahlen. Ich muss sagen: Ich halte das für steuersystematischen Unsinn. Das ist wie Freibier für alle. Eigentlich ist es nicht einmal das; denn betroffen sind letztendlich nur die Pendler. Was machen Sie denn mit der Rentnerin oder dem Studenten, ({5}) die ja ebenfalls unter den hohen Benzin- und Dieselpreisen leiden, da sie auf ihr Auto angewiesen sind? Eine Änderung der Pendlerpauschale nützt dieser Gruppe überhaupt nichts. ({6}) Die Entfernungspauschale ist im Übrigen eine verkehrsmittelunabhängige Pauschale. Das heißt, derjenige, der mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, erhält sie genauso wie derjenige, der mit dem Auto fährt, und wie derjenige, der mit der Bahn fährt. Selbst derjenige, der zu Fuß zur Arbeit geht, hat Anspruch auf die Entfernungspauschale.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Gutting, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich würde gerne Ihren Einwand aufgreifen, dass ein Pendlergeld einer Rentnerin, einem Rentner oder einem Nichterwerbstätigen, der kein Pendler ist, nicht zugutekommt: Das ist schon nach der jetzigen Regelung so. Würden Sie mir recht geben, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen von der Erhöhung der Benzinpreise prozentual, gemessen an ihrem Einkommen, in stärkerem Maße betroffen sind? Würden Sie mir recht geben, dass sie steigende Benzinpreise schlechter verkraften können als Personen mit einem höherem Einkommen und dass es deshalb eine sinnvolle Lösung wäre, unabhängig vom Einkommen denselben Betrag zu gewähren? Dazu müsste man die Entfernungspauschale in ein Pendlergeld umwandeln, und die Höhe des Betrages dürfte nicht abhängig sein vom Steueraufkommen desjenigen, den man entlasten will. Durch die Umsetzung unseres Vorschlages würden insbesondere die Bezieher kleiner Einkommen entlastet werden. Das muss doch Sinn der Sache sein.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Ernst, Sinn der Sache muss sein, dass wir mehr Wettbewerb unter den Tankstellen und mehr Wettbewerb unter den Ölkonzernen bekommen, sodass wir einen funktionierenden Markt haben und die Preise nicht mehr so unsinnig steigen wie in den letzten Wochen und Monaten. ({0}) Sie haben richtigerweise dargestellt, dass eine Veränderung der Bemessungsgrundlage aufgrund der linearen Progression in unserem Steuersystem bei denjenigen, die höhere Steuern bezahlen, zu einer größeren Entlastung führt. Logischerweise führt sie umgekehrt bei denjenigen, die weniger Steuern zahlen, zu einer geringeren Entlastung. Deswegen sollten Sie aber nicht das gesamte Einkommensteuersystem auf den Kopf stellen. Die Progression ist nun einmal keine Einbahnstraße. Unser Ansatz ist ein anderer. Wir haben noch vor ungefähr zehn Minuten über das Thema „kalte Progression“ gesprochen. Bei diesem Thema haben Sie sich verweigert, obwohl wir eine Regelung gefunden haben, durch die gerade die Bezieher niedriger Einkommen prozentual stärker entlastet werden. Ich kann nur sagen - das ist unser Ansatz -: Wir müssen schauen, dass Benzin und Diesel für alle bezahlbar bleiben und nicht nur für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Steuersystematisch ist und bleibt Ihr Vorschlag unsinnig. Es macht keinen Sinn, die Progression zu befürworten, wenn dadurch die höheren Einkommen stärker belastet werden, und sie abzulehnen, wenn es um die Entlastung geht. ({1}) - Sie bejammern immer wieder, dass diejenigen, die keine oder wenig Steuern zahlen, von der Entfernungspauschale nichts haben. Das ist immer das gleiche Spiel. Bei den Einkommen soll die Progression gelten; aber bei der Entlastung wollen Sie davon nichts wissen. Ich kann nur wiederholen: Solange wir einen progressiven Steuertarif haben, der seine Rechtfertigung gerade in der sozialen Gerechtigkeit hat - derjenige, der mehr verdient, zahlt nicht nur nominal, sondern auch prozentual mehr Steuern -, wirken Abzugsbeträge und Freibeträge zwangsläufig so, dass die absolute Entlastung bei einem höheren Einkommen höher ist. Jeder zusätzlich verdiente Euro ist progressionssteigernd. Das heißt, durch die Progression werden, wie schon gesagt, die Besserverdiener stärker belastet; das ist absolut richtig. Ein größerer Anteil ihres Einkommens wird besteuert. Ich will mich wiederholen: Die Progression in der Einkommensteuer ist keine Einbahnstraße. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Entfernungspauschale, in dem es uns vorgegeben hat, sie wieder einzuführen, den Grundsatz der Folgerichtigkeit herausgestellt. Zur Folgerichtigkeit gehört, dass Belastungen und Entlastungen bei einer Einkommensgruppe die gleiche Größenordnung haben. Wir haben - das will ich hier klarstellen - die Nöte der Pendler im Blick. Natürlich gibt es das Problem, das Sie geschildert haben; wir wollen uns dem überhaupt nicht verschließen. Wir haben in der Regierungskoalition in den letzten Jahren viel für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger getan: Mit dem Bürgerentlastungsgesetz und mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir ({2}) - wir zusammen mit Ihnen; später haben wir es zusammen mit der FDP fortentwickelt - die ArbeitnehmerinOlav Gutting nen und Arbeitnehmer um 24 Milliarden Euro entlastet. Es wäre schön, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn Sie einmal dazu stehen würden. ({3}) Jetzt wollen wir, die Koalition, die kalte Progression abbauen - möglich ist dies nur, wenn die Damen und Herren von SPD und Grünen ihre Blockadehaltung im Bundesrat aufgeben - und damit die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zusätzlich entlasten. Ich meine, diese steuerpolitischen Maßnahmen sind jetzt notwendig. Dadurch werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land, auch die mit geringen Einkommen, entlastet. Ich kann nur sagen: Sie sind mit Ihren heutigen Anträgen zu kurz gesprungen und führen mit der Forderung nach Einführung eines Pendlergelds den linear-progressiven Steuertarif geradezu ad absurdum. ({4}) Deswegen werden wir die beiden vorliegenden Anträge ablehnen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gutting, ich habe nicht so ganz verstanden, warum man nur dadurch, dass man Porsche fährt, sympathischer wird. Ich finde, das trifft oft nicht zu; dies nur als Anmerkung. ({0}) Lassen Sie uns zum Thema kommen. Eine fachliche Auseinandersetzung mit der Struktur der Pendlerpauschale kann grundsätzlich kein Tabu sein; ich glaube, das muss man deutlich sagen. Aber, Herr Kollege Ernst, bei Ihnen war nicht ein Hauch von Fachlichkeit zu spüren. ({1}) Das war purer Populismus. ({2}) Zum Thema Populismus muss man ergänzen: Herr Gutting, das, was Sie beschrieben haben, sehen wir teilweise durchaus auch so. Es wäre vielleicht sinnvoll, dies einigen Kollegen Ihrer Koalitionsfraktionen zu erklären; denn der Populismus, der in Bayern um sich greift, scheint nicht an Parteigrenzen haltzumachen. Ich habe gelesen, dass Frau Kramp-Karrenbauer aus dem Saarland gefordert hat, wegen der hohen Benzinpreise die Benzinsteuer zu senken. Sie haben gerade sehr schön erklärt, was das für ein Blödsinn ist; ist sage dazu gleich noch etwas. Es gibt einige CSU-Kollegen, die sich ähnlich geäußert und vorgeschlagen haben, die Pendlerpauschale zu erhöhen; auch Herr Hinsken hat das getan. Sie haben deutlich gemacht, dass das nicht geht. Ich finde, wenn Sie die Situation beschreiben, dann sollten Sie hinsichtlich der Aussagen in Ihren eigenen Reihen für Klarheit sorgen. In Zeiten des Internets lässt sich nämlich sehr leicht nachvollziehen, wer sich dem Populismus - er scheint ja sehr stark auf Bayern konzentriert zu sein - hingibt. ({3}) - Ich habe ja nichts gegen Bayern gesagt. Ich habe nur gesagt: Dort scheint der Populismus ein bisschen konzentriert zu sein. ({4}) Die entscheidende Frage lautet: Sollten wir auf die steigenden Spritpreise mit steuerlichen Maßnahmen reagieren?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst? ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, trotz Porsche bzw. egal ob mit oder ohne Porsche. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich denke, dass Bayern eine weniger wichtige Rolle spielt. Weil Sie allerdings das Wort Populismus erwähnt haben, möchte ich Sie fragen: Halten Sie es für falsch bzw. für ein Problem, dass sich die Leute, die an der Tankstelle langsam ihre Geldbörsen festhalten müssen, gegen die hohen Benzinpreise zur Wehr setzen wollen? Halten Sie es wirklich für Populismus, wenn eine Partei die Ängste und Sorgen der Bürger, dass ihnen von ihrem Geld immer weniger übrig bleibt, aufgreift? ({0}) Ist es nicht vielmehr die Aufgabe von Abgeordneten, die Bürger ernst zu nehmen und zu sagen: „Wir müssen etwas unternehmen und dürfen nicht nur zugucken und lamentieren“? Müssen wir nicht wirklich etwas tun, um die Situation der Bürger zu verbessern? ({1})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Ernst, hätten Sie nicht schon im Kopf Ihre Pseudofrage vorbereitet, sondern meinem letzten Satz zugehört, dann hätten Sie gemerkt, dass ich gerade Ihren Vorschlag aufgegriffen und die Frage formuliert habe: Ist die Steuerpolitik das richtige Mittel, um gegen steigende Benzinpreise vorzugehen? ({0}) Diesen Gedanken habe ich gerade aufgegriffen. Aber Sie mussten ja schon Ihre Frage vorbereiten, um hier im Plenum wieder einmal eifrig Ihren Populismus unter Beweis zu stellen. ({1}) - Hören Sie mir bitte weiter zu. Herr Ernst, Sie haben eine Zwischenfrage gestellt. Sie müssen hier aber nicht in der Gegend herumbrüllen. Das macht keinen Sinn. Ich finde, wir sollten uns ordentlich verständigen. ({2}) - Jetzt haben Sie sich schon wieder gesetzt. Ich soll auf Ihre Frage offensichtlich nicht mehr antworten. Sie wissen ja selbst, dass das keine ordentliche Frage war. ({3}) - Nein, belassen wir es dabei. ({4}) Ich würde jetzt gerne meine Überlegung fortsetzen: Ist es wirklich sinnvoll, im Rahmen der Steuerpolitik auf die gestiegenen Benzinpreise zu reagieren? Die Vorstellung, auf diese Art und Weise zu handeln, ist völlig abstrus. Denn wir wissen, was passieren wird: Sowohl der Vorschlag von Frau Kramp-Karrenbauer als auch eine Erhöhung der Pendlerpauschale würde dazu führen, dass man den Konzernen den Weg eröffnen würde, mit ihren Preisen nachzuziehen. ({5}) Wir wissen, dass das sofort passieren würde. In der Vergangenheit haben wir im Zuge von Mehrwertsteuersenkungen erlebt, dass die entstehenden Gewinne bei den Unternehmen verblieben sind. ({6}) Was Sie vorschlagen, klingt gut, würde aber vorne und hinten nicht funktionieren. ({7}) Bei den Preisen gibt es ein ständiges Auf und Ab. Dass die Preise gestiegen sind, fällt auf, wenn solche Anträge wie der der Linken eingebracht werden. Ich hätte gerne erlebt, dass Sie in den letzten Monaten, in denen die Preise gesunken sind, gesagt hätten: Auch darauf sollte man im Rahmen der Steuerpolitik reagieren. ({8}) Sie sagen, dass Sie das Auf und Ab bei den Preisen ausgleichen wollen. ({9}) Sie kapieren aber nicht, dass Sie dadurch nur die Gewinne der großen Konzerne erhöhen würden. Das ist der völlig falsche Weg. Es ist richtig - hier sind sich alle einig -, dass wir uns im Rahmen der Ordnungspolitik, zum Beispiel mit Blick auf Preisabsprachen, verstärkt darum kümmern müssen, dass die Politik der Konzerne unter die Lupe genommen wird. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Preisabsprachen entgegenzuwirken, sollte man sie ergreifen. Das halte ich für richtig. ({10}) Im Rahmen der Steuerpolitik auf solche Vorkommnisse zu reagieren, ist aber falsch. Nächster Punkt. Zur fachlichen Sicht würde gehören, dass Sie uns sagen, was die Umsetzung Ihrer Vorschläge kostet. Herr Gutting hat, glaube ich, nur die Kosten für die Umwandlung in ein Pendlergeld beschrieben. Durch die Negativsteuer, die in dem Antrag steht, wird das insgesamt nämlich teurer. Das, was in dem Antrag der Linken steht, kostet jährlich 11,7 Milliarden Euro. Der Höhepunkt ist, dass Ihre Angaben sich lediglich auf einen Einstieg in ein Pendlergeld beziehen. Man muss deutlich machen: Auch dieses Geld muss irgendwo herkommen. Erzählen Sie mir jetzt nicht zum siebten Mal, Sie würden das Geld aus der Erhöhung des Spitzensteuersatzes dafür verwenden. Das haben Sie nämlich schon für die Abflachung des Waigel-Buckels, die 25 Milliarden Euro kostet, ausgegeben. ({11}) Sie „hauen“ fast 12 Milliarden Euro jährlich heraus. Ein Teil dieses Geldes führt zu zunehmenden Gewinnen bei den Konzernen. Dies lassen Sie sich über die Einkommensteuer von den Bürgerinnen und Bürgern bezahlen. Das ist doch völlig abstrus! Das ist der Beweis für Populismus - nichts anderes. ({12}) Deshalb, glaube ich, sollten wir überlegen, in welcher Form wir hier in die Preisabsprachen eingreifen können. ({13}) - Herr Hinsken, Sie wollen offensichtlich keine Zwischenfrage stellen. Auf so unqualifizierte Zwischenrufe muss ich nicht reagieren. - Ich glaube, es macht Sinn, sich die ordnungspolitischen Fragen anzugucken. Der Herr Hinsken kann sich ja mit dem Herrn Gutting darüber unterhalten, wie er zur Höhe der Pendlerpauschale steht. Ich bedanke mich für Ihr Zuhören. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Daniel Volk von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klaus Ernst von der Linksfraktion, Ihr doch sehr großes Engagement im Hinblick auf die Reduzierung von Benzinkosten und Ähnliches führe ich bei Ihnen im Wesentlichen auf eine gewisse Selbstbefangenheit zurück. Ich glaube, Sie haben ein erhebliches Eigeninteresse an der ganzen Sache. ({0}) Insofern kann ich nachvollziehen, dass Sie hier mit ganz offensichtlich untauglichen Mitteln auf die aktuelle Situation reagieren wollen; ({1}) denn die Zeiten staatlicher Preisfestsetzung sind seit 22 Jahren vorbei. ({2}) Ich kann auch nur davor warnen, zu glauben, dass wir mit staatlichen Preisfestsetzungen eine Besserung erreichen werden. ({3}) Sie haben in einem Teil Deutschlands einen 40-jährigen Flächenversuch unternommen, mit staatlicher Preisfestsetzung für die dort wohnenden Bürger etwas Besseres zu erreichen. ({4}) Das Ergebnis war, dass Sie eine Mangelwirtschaft hatten und dass Sie eben nicht eine Besserung der Situation der Menschen erreicht haben. ({5}) Insofern kann ich Ihnen wirklich nur empfehlen: Bleiben Sie bei den Regeln der sozialen Marktwirtschaft. Das bringt am Ende die besten Ergebnisse. ({6}) Im Hinblick auf die aktuellen Benzinpreise möchte ich deutlich sagen, dass die Bundesregierung hier deutliche, aber marktwirtschaftliche Schritte einleitet, um einer möglichen Monopol- oder Oligopolbildung, also der Beherrschung des Marktes durch nur einen oder wenige Anbieter, entgegenzuwirken. Ich glaube schon, dass es auch wichtig ist, zu erwähnen, dass es in Deutschland neben den Tankstellen der Ölkonzerne auch viele freie Tankstellen gibt, die in Konkurrenz zu denen der Ölkonzerne stehen und durch den Wettbewerb verhindern, dass der Benzinpreis durch die Decke schießt. Ich glaube, dass wir diesen Wettbewerb steigern sollten und dass durch diesen Wettbewerb eher als durch staatliche Preisfestsetzungen ein angemessener Preis zu erreichen ist. ({7}) Die christlich-liberale Koalition und die Bundesregierung werden alles daransetzen, diesen Wettbewerb weiterhin zu fördern. ({8}) Man muss eben darauf achten, dass die freien Tankstellen den Sprit nicht zu einem höheren Preis als die Ölkonzerne von den Raffinerien kaufen müssen, und wir müssen für den Wettbewerb dafür sorgen, dass für die freien Tankstellen die gleichen Bedingungen wie für die Tankstellen der Ölkonzerne herrschen. Aus diesem Wettbewerb werden sich dann angemessene Preise entwickeln. Im Übrigen weise ich zu dem zweiten Teil Ihres Antrags zum Pendlergeld in aller Ruhe darauf hin, dass es nicht nur steuersystematischer Unsinn ist, das Nettoprinzip aufzugeben; ({9}) Unsinn ist auch, dass derjenige, der eine weitere Entfernung zu seinem Arbeitsplatz zurücklegt, dafür auch noch Geld vom Staat bekommen soll. Ich glaube, dass Sie damit einen Fehlanreiz setzen, der sicherlich nicht vertretbar sein wird. ({10}) Denn Sie schaffen dadurch den Fehlanreiz, dass die Menschen noch mehr Energie, nämlich Sprit, verbrauchen, als unbedingt notwendig ist. Ich glaube, das ist in Zeiten, in denen wir Energieeinsparungen vornehmen müssen, ein völlig falsches Signal. ({11}) Insofern kann ich nur empfehlen, dass wir weiter bei den marktwirtschaftlichen Regelungen bleiben, den Kräften eines wettbewerblichen Systems vertrauen und nicht zu staatlichen Preisfestsetzungen zurückkehren. Denn das ist sicherlich nicht der richtige Weg.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wollen Sie eine Frage des Kollegen Mücke zulassen?

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich erlaube sehr gerne eine Zwischenfrage des Kollegen Mücke.

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dr. Volk, ich habe mit großer Aufmerksamkeit das Programm der Linkspartei gelesen. ({0}) Darin gibt es ein Kapitel mit der Überschrift „Mobilität für alle - ökologische Verkehrswende“. In diesem Programm wird eine höhere Mineralölsteuer gefordert. Was halten Sie davon? Glauben Sie, dass die Forderung der Linksfraktion in diesem Zusammenhang glaubwürdig ist?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Volk, der Kollege Gambke von den Grünen möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Dann könnten Sie sie im Zusammenhang beantworten.

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Volk, ich kann Ihnen eine Frage nicht ersparen. Am 2. April 2010 gab es eine dpa-Meldung: Aufgrund der damals sehr hohen Spritpreise hat die FDP die Senkung der Mehrwertsteuer für Sprit vorgeschlagen. Können Sie hier erklären, dass die FDP eine Senkung der Mehrwertsteuer aus heutiger Sicht für falsch hält? Wie verhalten Sie sich dann im Verhältnis zu dem, was Sie zu Beginn der Legislaturperiode mit der Mehrwertsteuer im Hotelgewerbe gemacht haben? ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine beiden Herren Kollegen haben jetzt einen sehr großen Bogen gespannt. Zunächst darf ich darauf hinweisen, dass es immer richtig ist, eine steuerliche Belastung der Bürger regelmäßig zu überprüfen. ({0}) Vor dem Hintergrund ist die von Ihnen zitierte Aussage vom 2. April 2010 völlig richtig, Herr Kollege Gambke. Diese Aussage ist auch heute noch aktuell. Im Hinblick auf die inhaltlichen Vorstellungen der Linksfraktion, auf der einen Seite die Mineralölsteuer zu erhöhen und auf der anderen Seite jetzt gegen die hohen Benzinpreise vorgehen zu wollen, haben Sie, Herr Kollege Mücke, völlig richtig auf die Widersprüchlichkeit hingewiesen. Ich kann leider Gottes diesen Widerspruch nicht auflösen. ({1}) Es ist aber bei vielen Forderungen der Linksfraktion so, dass man die Widersprüche nicht auflösen kann. ({2}) Abschließend weise ich darauf hin, dass wir die Pendlerpauschale wie jede Pauschale im Steuerrecht sehr wohl überprüfen und gegebenenfalls an die konkreten Preise anpassen müssen. Jede Pauschale im Steuerrecht erfordert eine Gratwanderung hinsichtlich der Frage, ob sie zu hoch oder zu niedrig ist. Insofern muss eine Pauschale, insbesondere auch die Pendlerpauschale, hinsichtlich ihrer Höhe überprüft werden. Das, was die Linksfraktion vorgelegt hat, ist aber nicht der richtige Weg. Denn das führt zu staatlicher Preisfestsetzung und zu Fehlanreizen. Deswegen können wir diesen Weg schlicht nicht unterstützen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun die Kollegin Lisa Paus vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Volk, ich freue mich, dass die FDP zumindest bei diesem Thema wieder ein bisschen auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist. Am Anfang der Woche war das noch nicht so. Wir haben alle mitbekommen, dass die Spritpreise auf Rekordniveau sind. Da muss man nur einen Augenblick lang warten, und die ersten Populisten kommen aus den Reihen geschossen. Auf der einen Seite ist das Herr Ernst; das war klar. Auf der anderen Seite mussten wir am Wochenende Aussagen und Forderungen von Herrn Döring, immerhin Generalsekretär der FDP und Mitglied des Verkehrsausschusses, vernehmen. ({0}) - Nein, er hat das schon konkretisiert. Es ging auch um die Erhöhung der Pendlerpauschale. ({1}) Das ist genau das Gleiche, was Herr Ernst jetzt einfordert. ({2}) Wir sind uns aber grosso modo einig, dass diese Vorschläge nicht tragen, dass es Schnellschüsse sind, dass sie definitiv nicht von großer Weitsicht und vor allen Dingen von völligem ökonomischen Unverstand geprägt sind. ({3}) Es ist falsch, die Pendlerpauschale zu erhöhen. Wenn überhaupt, Herr Ernst, dann gehört sie abgeschafft. ({4}) - Wenn überhaupt, dann wollen wir sie abschaffen. ({5}) - Wir haben aktuell festgelegt, dass man dieses Fass jetzt nicht aufmachen sollte, weil es verschiedenste Probleme damit gibt. ({6}) Dazu komme ich jetzt. Herr Ernst, Ihr Antrag hat zumindest ein Gutes: Sie streichen darin noch einmal schön heraus, wie ungerecht die Pendlerpauschale ist. Diese Kritik teilen wir. Es ist so, dass Menschen mit kleinem Einkommen weniger von dieser Subvention bekommen als reiche Leute. Dazu kommt, dass alle Menschen, die nahe an ihrem Arbeitsplatz wohnen, den Arbeitsweg für die Pendler subventionieren. Die Kritik teilen wir; da haben wir etwas gemeinsam. Ihr Lösungsvorschlag trägt aus unserer Sicht aber nicht. Frau Kressl hat die zentrale Argumentation eben schon vorgetragen. Ich sage es noch einmal in meinen Worten. Das Problem sind die hohen Spritpreise, die es zum Luxus werden lassen, mobil zu sein. Der Benzinpreis sinkt aber nicht, wenn man die Pendlerpauschale erhöht, wenn man das Pendeln noch stärker subventioniert als bisher. ({7}) Das Einzige, was man erreicht, sind zusätzliche Fehlanreize zur Zersiedelung. Man könnte die Pendlerpauschale auch Zersiedelungsprämie nennen. ({8}) Das Einzige, was geschieht, ist, dass wir Steuergelder nutzen, um regelmäßig Geld nach Russland, Großbritannien, Norwegen, Kasachstan und überall dorthin, wo das Öl sprudelt, zu überweisen. Das ändert an den Ölpreisen gar nichts. Im Gegenteil: Es treibt die Preissteigerung noch weiter an. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Paus, der Kollege Mücke hat das dringende Bedürfnis, erneut eine Zwischenfrage zu stellen, obwohl wir eigentlich alle auf das Wochenende warten. Trotzdem ist es Ihre Entscheidung, ob er eine Frage stellen darf oder nicht. Wollen Sie die Frage zulassen? ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin etwas irritiert, weil Sie die Uhr gar nicht anhalten. Habe ich nur noch 36 Sekunden?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja. Ich habe die Uhr jetzt angehalten, damit Sie entscheiden können, ob Sie die Zwischenfrage zulassen oder nicht. Ich bin Ihnen schon sehr entgegengekommen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben die Uhr sehr spät angehalten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, die Uhr wird gestoppt, wenn die Zwischenfrage zugelassen ist. Ich habe sie jetzt sogar schon vorher gestoppt. Jetzt können Sie sich entscheiden. Wollen Sie die Zwischenfrage zulassen oder nicht?

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Paus, Sie haben gerade ausgeführt, dass aus Ihrer Sicht eine Luxusentwicklung bei den Mineralölpreisen festzustellen ist. Wie stehen Sie dazu, dass Ihr Kollege Dr. Anton Hofreiter, seines Zeichens Vorsitzender des Verkehrsausschusses, ({0}) geäußert hat, dass die Benzinpreise noch viel zu niedrig sind und noch weiter angehoben werden müssten? ({1}) Wie verträgt sich das mit Ihrer Auffassung, dass der Anstieg der Benzinpreise offensichtlich dazu führt, dass Benzin zum Luxusgut wird?

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als Erstes können wir festhalten, dass Toni Hofreiter ein sehr guter Mann ist. ({0}) Als Zweites können wir festhalten, dass Herr Hofreiter mit Sicherheit auf das hinweisen wollte, was wir alle sehen, wenn wir Zeitung lesen, dass es schlichtweg ein Faktum ist, dass die Benzinpreise steigen und dass der Preis für 1 Barrel Öl steigen wird. Der Preis steigt jetzt, und er wird auch in den nächsten Jahren weiter steigen. Wir Grüne weisen darauf hin, dass dem so ist. Die Ölpreise werden weiter steigen, weil Öl endlich ist. Wir brauchen eine Strategie, die weg vom Öl führt. Wir brauchen keine Subventionierung des falschen Weges, ({1}) nicht nur weil dabei CO2 ausgestoßen wird, sondern weil das ein Weg ist, der schlichtweg in die Sackgasse führt. ({2}) - Herr Volk, Sie haben mir schon eine ganze Minute geklaut. Das machen wir jetzt nicht noch weiter. Auch wir Grüne wissen, dass es in unserem Land Menschen gibt, die nicht in der Stadt wohnen und darauf angewiesen sind, ein Auto zu benutzen, weil der öffentliche Personennahverkehr nicht gut ausgebaut ist. Wir brauchen aber keine weitere Subventionierung, sondern eine offensive Strategie zur Entwicklung sparsamerer Autos. Das ist das wirksamste Mittel gegen zu hohe Fahrtkosten, und vor allem ist das ein auf Dauer wirksames Mittel. ({3}) Eine Beispielrechnung zum Schluss: Die Erhöhung der Pendlerpauschale von 30 auf 40 Cent würde einer Pendlerin mit normalem Gehalt 200 Euro pro Jahr mehr bringen, wenn ihre Arbeitsstelle 30 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt ist. Steigt sie aber bei einem Spritpreis von 1,50 Euro auf ein Auto um, das statt 8 Litern nur 6 Liter verbraucht, dann spart sie jedes Jahr das Doppelte, nämlich 400 Euro. ({4}) Diese Ersparnis fiele dann auch anderen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern nicht zur Last, wie es bei der Pendlerpauschale der Fall wäre. Dieses Beispiel zeigt die enormen Sparpotenziale, die es gibt. Wir alle wissen, dass es schon Autos gibt, die nur 3 Liter auf 100 Kilometer verbrauchen. In diese Richtung muss es weitergehen, unserem Geldbeutel und dem Klima zuliebe. Dieses Ziel unterstützen wir gerne auch mit vernünftigen Förderprogrammen, etwa solchen für mehr Elektromobilität. ({5}) Ich lade Sie herzlich ein, bei der nächsten Gelegenheit daran mitzuarbeiten. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5818 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b: Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8786 mit dem Titel „Preiserhöhungswelle an den Tankstellen stoppen - Gesetzliche Benzinpreiskontrolle einführen“. Wer stimmt für diesen AnVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern - Drucksachen 17/3219, 17/8555 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Stephan Thomae von der FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten über einen Bericht des Rechtsausschusses über den Antrag der Grünen zum elterlichen Sorgerecht. Es liegen nunmehr zwei Anträge zu dem Themenkomplex des Sorgerechts für nichtehelich geborene Kinder vor, einer von den Grünen und einer von der SPD. Nun zeigen aber beide Anträge aus den Reihen der Opposition, wie man es besser nicht machen sollte. Diese Anträge befeuern die Diskussion, sie bereichern sie bisweilen auch, ({0}) aber Regierungsentwürfe werden in der Regel zum Gesetz. In Anbetracht der Bedeutung der Sache ist es angemessen, dass die Gedanken zu diesem Themenkomplex reifen, bevor sie in einen Gesetzentwurf münden, der dann auch beschlossen wird. ({1}) Schauen wir uns zunächst einmal den Antrag der SPD-Fraktion an. ({2}) Dort heißt es, dass dann, wenn sich die Eltern eines nichtehelichen Kindes nicht über das gemeinsame elterliche Sorgerecht verständigen können, von Amts wegen das Jugendamt aktiv wird. Dies setzt dann den Eltern eine Frist, sich zu äußern. Nun ist es aber manchmal der Fall, dass die Zeit für eine solche Entscheidung noch nicht reif ist, dass sich Eltern noch einmal Gedanken darüber machen wollen, welche Regelung sie gemeinsam treffen wollen, dass sie sich Zeit lassen wollen, weil sich vielleicht auch das Verhältnis der Eltern zueinander ändert. Dann ist es auch angemessen, dass zunächst einmal eine gewisse Zeit verstreicht, bis eine Entscheidung fällt. Stattdessen sieht der Antrag der SPD vor, dass, wenn sich die Eltern nicht innerhalb einer gesetzten Frist verständigen, das Jugendamt einen Antrag beim Familiengericht stellt. Wir halten das für ganz und gar unnötig und auch unsachgemäß; denn es ist zunächst einmal Sache der Eltern, sich Gedanken zu machen. Wenn das Kindeswohl gefährdet ist, dann ist es nach § 1666 BGB Sache des Staates, hier tätig zu werden. Dann ist der Staat gefragt. Ich sehe aber keine Notwendigkeit, dass der Staat den Eltern ein Verfahren aufzwingt, das die Eltern nicht wollen und das für die Wahrung des Kindeswohls auch nicht erforderlich ist. ({3}) So weit zum Antrag der SPD. Der Antrag der Grünen, über den wir heute an dieser Stelle beraten, liegt mir von der Diktion und der Richtung her - das sage ich offen - etwas näher, ({4}) aber auch hier sehe ich drei Probleme, die es zu beachten gilt. Das erste Problem ist, dass gemäß dem Antrag der Grünen eine achtwöchige Schonfrist ab Entbindung greifen soll und diese - jetzt kommt der entsprechende Punkt Frist in ihrem Ablauf gehemmt ist, wenn die Mutter eine entsprechende Mitteilung macht. Da liegt das Problem. Wenn die Mutter es nun versäumt, eine entsprechende Mitteilung zu machen - das wird gerade in solchen Fällen sein, in denen die Mutter mit besonders vielen Sorgen beladen ist, vielleicht weil es sich um eine Mehrlingsgeburt handelt, sich die Mutter auf keine Angehörigen stützen kann oder die Geburt Komplikationen bereitet hat -, greift diese Ablaufhemmung nicht, die die Mutter schützen soll. Gerade dann, wenn die Mutter am meisten schutzbedürftig ist, kann dieser Schutz ausfallen. Das ist ein entscheidendes Manko des Antrags der Grünen. ({5}) Das zweite Problem besteht darin, dass das Jugendamt dem Antrag des Vaters auf gemeinschaftliche Sorge dann stattgibt, wenn, so wörtlich, „dem Jugendamt keine Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung … vorliegen“. Das Problem besteht darin, dass diese Formulierung zwei unbestimmte Rechtsbegriffe enthält: einmal den Begriff der Kindeswohlgefährdung, also wann das Kindeswohl gefährdet ist, und zum anderen, wann diese Gefährdung offensichtlich ist. Solche unbestimmten Rechtsbegriffe zu klären, ist in solchen Fällen des Kindschaftsrechtes nicht Aufgabe der Verwaltungsbehörden, sondern der Gerichte. Deswegen sollten nicht Jugendämter über diese Frage entscheiden, sondern die Gerichte. ({6}) Ein weiteres Problem hierbei ist die Quelle der Erkenntnis. Die Jugendämter müssten ja selber Anhörungen durchführen und Sachverständige hören, um diese Fragen zu klären. ({7}) Es müsste eigene Ermittlungen anstellen. Aber das ist nicht Sache der Jugendämter, die in Sorgerechtsverfahren vor Gericht ja Beteiligte sind, sondern es ist eben Sache der Gerichte. ({8}) Das ist das zweite Problem. Das dritte Problem im Antrag der Grünen ist, ({9}) dass die Mutter ebenfalls das gemeinsame Sorgerecht beantragen kann. So weit, so gut. Nun heißt es aber weiter, dass das Jugendamt die gemeinsame Sorge dann ausspricht, wenn der Vater innerhalb von acht Wochen zustimmt. Das heißt e contrario, also im Umkehrschluss: Stimmt er nicht innerhalb von acht Wochen zu, also braucht er länger, etwa zehn oder zwölf Wochen, um zuzustimmen, dann kann das Gericht wegen Fristablaufs diesem Antrag nicht stattgeben. Da frage ich mich: Was ist eigentlich der Sinn des Ganzen? Warum sollte das Jugendamt die gemeinsame Sorge verweigern, wenn der Vater zwar etwas länger braucht, aber nach einer gewissen Zeit doch sagt, dass er die gemeinschaftliche Sorge für das Kind ausüben will? Das ergibt keinen Sinn. ({10}) So sehen wir als Fazit: Es gibt viele Vorschläge - dafür bedanken wir uns -, ({11}) aber sie haben eben viele Haken. ({12}) Deswegen denke ich, dass die Regelung der gemeinsamen Sorge bei der Koalition besser aufgehoben ist. ({13}) Ich kündige Ihnen an: Nachdem wir uns mit dieser Angelegenheit von großer Bedeutung intensiv beschäftigt - eine solche Sache muss ja auch reifen - und sie ausdiskutiert haben, ({14}) werden wir in Kürze in die Zielgerade einbiegen. Lassen Sie sich überraschen! Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Lischka von der SPD-Fraktion.

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Thomae, jetzt haben Sie uns über mehrere Minuten erklärt, welche Probleme die vorliegenden Anträge möglicherweise beinhalten. Wissen Sie, was das Hauptproblem ist? Das Hauptproblem ist, dass Sie bis heute nichts vorgelegt haben. Inzwischen liegen die beiden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts über zwei Jahre zurück. Schwarz-Gelb hat in diesen gut zwei Jahren mehrfach eine Neuregelung angekündigt, ({0}) nämlich für den Herbst 2010 und für das erste Halbjahr 2011. Jetzt sind wir im März 2012. ({1}) Passiert ist trotz dieser Ankündigungen überhaupt nichts, und das ist ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung und ein Beleg dafür, dass Sie in der Rechtspolitik gar nichts zustande bekommen haben, meine Damen und Herren. ({2}) Das ist ärgerlich, weil inzwischen mehr als 60 Prozent der ostdeutschen und ein Viertel der westdeutschen Kinder nichtehelich geboren werden. Insofern ist das Ganze auch kein Randthema, sondern brennt Hunderttausenden betroffenen Vätern, Müttern und Kindern unter den Nägeln. Die Politik hat die Aufgabe, Herr Thomae, diese Menschen nicht weiter zu vertrösten, sondern endlich eine praktikable Lösung auf den Weg zu bringen. ({3}) Ich gebe gerne zu: Das ist eine nicht ganz einfache Aufgabe, meine Damen und Herren, und das hängt insbesondere mit zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten zusammen. Erstens. Die Debatte über die künftige Ausgestaltung des Sorgerechts wird sehr emotional und sehr leidenschaftlich geführt. Das kann auch nicht weiter verwundern, weil sich hinter diesem Thema ganz unterschiedliche Fallkonstellationen verbergen, angefangen bei den Eltern, die auch ohne Trauschein ein Leben lang zusammenbleiben und sich gemeinsam um ihre Kinder kümmern, bis hin zu den flüchtigen Bekanntschaften, bei deBurkhard Lischka nen der Vater schon lange vor der Geburt verschwunden ist und keinen Kontakt zum Kind hat. Ein zweiter Aspekt: Jede noch so gut gemeinte gesetzliche Regelung ist letztendlich darauf angewiesen, dass die Eltern sie vor Ort in der Praxis jeden Tag gemeinsam umsetzen. Wenn das nicht geschieht, läuft jede Regelung ins Leere, und Notleidende sind dann vor allen Dingen die betroffenen Kinder. Wir erleben jetzt seit über zwei Jahren eine Debatte darüber - das ist zumindest mein Gefühl -, die uns keinen Millimeter vorangebracht hat. Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, dass die Akteure unversöhnlich in den Schützengräben verharren. Die einen fordern, dass der Vater vor Gericht ziehen muss, um eine gemeinsame Sorge zu erreichen. ({4}) Die anderen fordern, dass die Mutter vor Gericht klagen muss, wenn sie eine praktikable Sorgeregelung haben will, wenn der Vater nicht greifbar ist, keinen Unterhalt zahlt oder keinen Kontakt zu dem Kind hat. Jeder zeigt auf den anderen. Der eine ruft: Warum muss eigentlich bei deinem Modell der Vater vor Gericht ziehen? - Der andere ruft: Warum muss das bei dir eigentlich die Mutter machen? Diese Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen, bringt uns nicht weiter. Sie hat uns in eine Sackgasse geführt, und aus dieser Sackgasse müssen wir raus, und zwar schnellstmöglich. ({5}) Insofern bin ich mir sicher, dass eine Neuregelung Brücken zwischen diesen unversöhnlichen Positionen bauen muss - Brücken bauen im Sinne der Kinder. Denn Kinder lieben beide Elternteile. Aber Eltern können dieses Bedürfnis ihrer Kinder nur erfüllen, wenn sie berücksichtigen: Sie müssen Vernunft walten lassen. Sie müssen miteinander kooperieren, und sie dürfen ihre Paarkonflikte nicht auf dem Rücken der Kinder austragen. Das ist das Einzige, was in der Praxis funktioniert. Und weil wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das wissen, schlagen wir dreierlei vor: Erstens. Wir wollen es Eltern so einfach wie möglich machen, eine gemeinsame Sorge zu erklären, und zwar gleich bei dem ersten Gang, den alle nach einer Geburt vor sich haben. Beim Standesamt sollen sie die Möglichkeit haben, eine gemeinsame Sorgeerklärung abzugeben. Zweitens. Wenn die Eltern dieses nicht tun, dann wollen wir sie nicht sofort in gerichtliche Auseinandersetzungen schicken. Denn das fördert nicht die Gemeinsamkeit, sondern nur den Streit zwischen den Eltern. Wir wollen stattdessen die Eltern mithilfe des Jugendamtes unterstützen, zu einer einvernehmlichen Regelung zu kommen. Das stärkt übrigens die Eigenverantwortung der Eltern, und das vermeidet gerichtliche Auseinandersetzungen. Drittens. In den dann noch verbliebenen Konfliktfällen, in denen die Auseinandersetzungen der Eltern so stark sind, dass sie trotz aller Unterstützung partout nicht zu einer Regelung kommen können, wollen wir in der Tat, dass das Jugendamt das Verfahren dann von Amts wegen an das Familiengericht weitergibt, mit einem Antrag auf Entscheidung zur elterlichen Sorge, ohne dass Vater oder Mutter einen Antrag stellen muss. Vater und Mutter werden so nicht in die missliche Situation gebracht, gegen den jeweils anderen Elternteil zu klagen. Ich glaube, dieser Vorschlag kann verhärtete Fronten tatsächlich aufbrechen und den Weg nach vorne weisen. Wir werden in Kürze die Möglichkeit haben, über diesen Vorschlag der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag zu debattieren. Angesichts der zweieinhalb Jahre währenden Zeit des Wartens möchte ich Sie herzlich bitten: Nutzen Sie diese Chance und lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg nach vorne gehen! Das ist im Sinne der betroffenen Eltern und vor allen Dingen im Sinne der betroffenen Kinder. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute unstrittig, dass die Väter von Kindern aus Beziehungen ohne Trauschein beim elterlichen Sorgerecht benachteiligt worden sind. Die bisherige Rechtslage trägt nicht nur den vielfältigen Lebensmodellen nicht ausreichend Rechnung. Sie entspricht auch nicht ausreichend dem Zweck des Sorgerechts, nämlich das Wohl des nichtehelichen Kindes zu schützen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht haben das zu Recht moniert. Beide rügen, dass ein nichtehelicher Vater ohne Zustimmung der Mutter generell von der Sorgetragung für sein Kind ausgeschlossen ist und das auch nicht gerichtlich überprüfen lassen kann. Das ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Die Koalition hat sich intensiv damit befasst, diesen unbefriedigenden Zustand zu korrigieren. Maßstab unserer Überlegungen ist immer das Kindeswohl. Es kommt also nicht allein auf den Elternwillen an. Allerdings wird die gemeinsame elterliche Sorge regelmäßig auch dem Kindeswohl entsprechen. Die Entwicklung des Kindes wird im Idealfall durch beide Elternteile geprägt. Das ist unser Leitbild auch in diesem Gesetzgebungsprozess: Ein Kind braucht Mutter und Vater. Es ist daher zu begrüßen, wenn Väter vielfach ganz selbstverständlich dazu bereit sind und sich mit Nachdruck darum bemühen, Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen und ihr elterliches Sorgerecht wahrzunehmen. ({0}) Klar ist aber auch, dass die Mutter als Gebärende und Ernährende gerade für Kinder im Säuglingsalter die engste Bezugsperson ist und ihr daher eine naturgegebene Sonderstellung zukommt. Ein Großteil der nicht verheirateten Eltern, genau 62 Prozent, gibt nach einer Studie des Bundesjustizministeriums bereits kurz vor oder nach dem Geburtstermin eine Erklärung zur gemeinsamen Sorge ab. Das unterstreicht, dass die gemeinsame elterliche Sorge auch bei Unverheirateten der Regelfall ist und dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Es gibt aber auch mehr als nur vereinzelte Fälle, in denen unverheiratete Eltern nicht zu einer gemeinsamen Wahrnehmung ihrer Elternverantwortung bereit oder in der Lage sind. Für die Fälle, in denen sich die Eltern zu keiner gemeinsamen Sorgerechtserklärung durchringen können und die oftmals durch erhebliche Konflikte zwischen den Eltern gekennzeichnet sind, muss eine Neuregelung zum Wohl des Kindes erreicht werden. Das ist das Feld, in dem wir uns streiten. Es gibt grundsätzlich zwei Maximalpositionen, wenn die Mutter mit einer gemeinsamen elterlichen Sorge nicht einverstanden ist. Einerseits kann der Vater auf den Klageweg verwiesen werden. Andererseits kann das Sorgerecht kraft Gesetzes beiden Eltern zugewiesen werden, ohne dass es eines Antrags oder einer Sorgerechtserklärung bedarf. Die Rechtspolitik kann aber - auch das hat die Studie, die im Auftrag des Bundesjustizministeriums erstellt worden ist, ergeben - an der tatsächlichen Lebenssituation von Kindern und Eltern nicht vorbeigehen. Ich will das anhand von zwei Fallkonstellationen kurz erläutern. Nehmen Sie die Situation, dass eine Frau Opfer einer Vergewaltigung wurde, dadurch schwanger wird und sich dafür entscheidet, dieses Kind auszutragen. Kann man dieser Frau wirklich zumuten, dass sie ihre elterliche Sorge kraft Gesetzes nur gemeinsam mit dem Vergewaltiger ausüben kann und sich das alleinige Sorgerecht erst vor Gericht erstreiten muss? ({1}) Wir sind uns sicher einig - ich merke das an Ihren Reaktionen -, dass das keiner von uns will. Oder sollen Väter, die ihre Vaterrolle nicht annehmen - sei es, weil das Kind aus einer flüchtigen Beziehung oder aus einer ungeplanten Schwangerschaft stammt -, automatisch ein Sorgerecht für dieses Kind erhalten? ({2}) Ich meine, es sprechen gute Gründe dafür, das Sorgerecht zunächst allein der Mutter zuzusprechen. Das sieht das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als zulässig an. Der Vater muss aber dann die Möglichkeit haben, auch ohne den Willen oder gegen den Willen der Mutter, sein Recht auf elterliche Sorge zu erhalten. Dazu brauchen wir zügige und unkomplizierte Verfahren. Ich halte es für ein notwendiges Korrelat zur Privilegierung der Mutter mit einem anfänglich alleinigen Sorgerecht der Mutter, dass dem Vater ein Weg eröffnet wird, sein Sorgerecht schnell und einfach geltend zu machen. Die Vorschläge, die die Opposition eingebracht hat, sind schon ausführlich gewürdigt worden. Zur SPD. Sie schlagen vor, die Rolle des Jugendamtes zu stärken. Es soll eine eigene Bewertung vornehmen und den Fall dann dem Familiengericht vorlegen. Dieser Lösungsansatz beinhaltet aber eine Entscheidung über die Köpfe der Betroffenen hinweg. ({3}) Die eigenständige Vorlage durch das Jugendamt an das Familiengericht ohne weitere Einbeziehung oder Antragstellung eines Elternteils lehnen wir ab. Solche Automatismen sind eher kontraproduktiv und sicherlich nicht geeignet, mehr Rechtsfrieden zu stiften. Ähnliche Automatismen sieht der Antrag der Grünen vor. Hier wird automatisch dann die gemeinsame Sorge erteilt, wenn der Vater einen entsprechenden Antrag beim Jugendamt stellt, die Mutter innerhalb einer Erklärungsfrist nicht widerspricht und dem Jugendamt keine Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung durch den Vater vorliegen. Die Erteilung des elterlichen Sorgerechts durch das Jugendamt kraft Verwaltungsakt halten wir für eine absurde Idee. Wir lehnen sie ab. ({4}) Ich glaube, dass wir Abstand nehmen müssen von solchen automatisierten Verfahren. Wir brauchen Verfahrenswege, die eine Aussicht auf eine Beilegung der Auseinandersetzung haben, die den Interessen der Mutter und des Vaters gleichermaßen gerecht wird. Für uns als Union ist es besonders wichtig, dass das Schweigen der Mutter nicht als Zustimmung gewertet wird. Wir halten das in diesem Rechtsbereich für nicht angebracht. Gerade in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt eines Kindes ist die Mutter oft psychisch und physisch stark beansprucht. Ich glaube, es ist ein wichtiges Anliegen, dass in dieser Situation ihr Schweigen nicht einfach als Zustimmung zur Zuerkennung des gemeinsamen Sorgerechts gewertet wird. Wir wollen auch verhindern, dass es ein Hin und Her bei der Erteilung des Sorgerechts gibt, dass zunächst automatisch kraft Gesetzes ein gemeinsames Sorgerecht etabliert wird, die Mutter dann Widerspruch einlegen kann und der Vater dies wieder rückgängig machen kann. Eine mehrfache Erteilung und Entziehung des Sorgerechts birgt die Gefahr der Rechtsunsicherheit und beThomas Silberhorn schwört weitere Konflikte unter den Eltern herauf. Unser Ansatzpunkt ist eher ein Mittelweg. ({5}) - Ich spreche hier als Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({6}) Wir sind in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren. Wir diskutieren aufgrund Ihrer Anträge ganz offen, wie wir uns in diesem Bereich bewegen. ({7}) Dass Ihre Vorschläge nicht zureichend sind, die aufgeworfenen Probleme zu lösen, ist übereinstimmend deutlich geworden. ({8}) Im Übrigen, wenn ich das zu Ihrem Zuruf sagen darf: Wenn wir uns darüber einig sind, dass das Leitbild darin besteht, dass Vater und Mutter für ihre Kinder gemeinsam die elterliche Sorge tragen, dann wäre das Wesentliche schon konsentiert. Wir streiten uns dann im Kern über Verfahrensfragen, vom Jugendamt bis zum Familiengericht, Antragstellungen hin oder her, Fristen und Ähnliches, sodass wir sagen können: Wir sind auf einem guten Weg. ({9}) Wir müssen aber jetzt eine solche Lösung finden, die nicht die Verfahrensfragen und Zweifel aufwirft, die Sie in Ihren eigenen Anträgen zum Ausdruck bringen. Natürlich muss zunächst eine gemeinsame Sorgerechtserklärung der Regelfall sein. Das ist der Weg, der Konflikten am ehesten vorbeugen kann. Es muss im Blick gehalten werden, das Wohl des Kindes dadurch zu fördern, dass gemeinsame Sorgerechtserklärungen ermöglicht werden. Wenn aber die Mutter widerspricht oder zu dieser Frage schweigt, dann sollte dem Vater ein Antragsrecht zur Prüfung durch das Familiengericht eingeräumt werden. Nach meiner Auffassung sollte das in einer angemessenen, eher kurzen Frist geschehen, weil ich einen zügigen Verfahrensablauf als Korrelat zur Privilegierung der Mutter durch das anfänglich alleinige Sorgerecht betrachte. ({10}) Wir sollten uns außerdem - dieser Aspekt ist noch gar nicht angesprochen worden - um eine Verfahrensbeschleunigung vor den Familiengerichten bemühen; denn wenn letztlich vor Gericht entschieden wird, dann ist den Eltern und insbesondere den Vätern nicht gedient, wenn unbefriedigend lange Wartezeiten bis zu einer Sorgerechtsentscheidung entstehen. Auch darauf sollten wir unser Augenmerk richten. ({11}) Für uns ist zudem wichtig, den materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab zu verändern. Dieser Aspekt kommt in Ihren Überlegungen, meine Damen und Herren von der Opposition, überhaupt nicht zum Tragen. Wir wollen, dass vor Gericht nicht mehr begründet werden muss, warum die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl entspricht. Wir wollen das als Regelfall und als unser Leitbild ansehen. ({12}) Deswegen sind wir der Auffassung, dass die gerichtliche Prüfung künftig darauf konzentriert werden kann, ob Gründe des Kindeswohls einer gemeinsamen elterlichen Sorge entgegenstehen; das ist etwas ganz anderes. Der Mutter sollte natürlich in diesem Verfahrensstadium noch einmal die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Aber es macht schon einen Unterschied, ob man sich vor Gericht darüber streiten muss, ob die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl entspricht, oder ob man als Regelfall davon ausgeht, dass es dem Kindeswohl entspricht, und nur darlegen muss, ob etwas gegen die gemeinsame elterliche Sorge spricht. ({13}) Über diesen materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab müssen wir ebenfalls diskutieren. Ich denke, die Änderung des Prüfungsmaßstabs untermauert noch einmal unser Leitbild, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Regelfall dem Kindeswohl entspricht. Wie Sie sehen, sind die Fragen der elterlichen Sorge komplex und kompliziert. Wir müssen mit Fingerspitzengefühl zu einer Lösung kommen, die zuallererst dem Kindeswohl entspricht und gleichzeitig den unterschiedlichen Interessen von Vätern und Müttern ausreichend Rechnung trägt. ({14}) Wir werden vielleicht nicht alle Betroffenen zufriedenstellen können. Was uns aber gelingen kann und wird - davon bin ich fest überzeugt -, ist eine faire und transparente Regelung, die dazu dient, das bestehende Ungleichgewicht wieder in Balance zu bringen. Unser Ziel muss sein, dass die gemeinsame elterliche Sorge als Regel- und Erfolgsmodell noch stärker verankert wird. Das liegt im Interesse unserer Kinder. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Geschäftsordnungsdebatte. Was sich hier abspielt, ist den Bürgerinnen und Bürgern außerhalb des Bundestages kaum zu vermitteln. Zuerst werden über viele Jahre hinweg die Elternrechte nicht verheirateter Väter verletzt, indem sie ohne Zustimmung der Mütter generell von der Sorgetragung für ihre Kinder ausgeschlossen werden. Diese Väter konnten noch nicht einmal gerichtlich überprüfen lassen, ob es aus Gründen des Kindeswohls angezeigt ist, ein gemeinsames Sorgerecht einzuräumen oder ihnen sogar die Alleinsorge für ihre Kinder zu übertragen. 2009 rügt dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Schließlich entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Juli 2010, dass nicht verheiratete Väter das Recht haben, das gemeinsame Sorgerecht vor Gericht zu erwirken, ohne dass die Mutter dies verweigern kann. Weil das Bundesverfassungsgericht offensichtlich Erfahrung mit der Geschwindigkeit bei der Umsetzung seiner Entscheidungen durch den Gesetzgeber hat, ordnete es ein Übergangsverfahren an. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung des Sorgerechts hat das Familiengericht auf Antrag eines Vaters beiden Elternteilen die Sorge für das Kind zu übertragen, wenn dies nicht dem Kindeswohl entgegensteht. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von vor fast zwei Jahren sind wir Parlamentarier aufgefordert, die Frage des gemeinsamen Sorgerechts in diesem Sinne neu zu regeln. Dass die Bundesregierung dafür keinen eigenen Lösungsansatz vorlegt, ist schon seltsam genug. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht in den Gründen so klare und eindeutige Vorgaben gemacht, dass es selbst für Nichtjuristen möglich sein sollte, einen entsprechenden Gesetzestext oder Antrag zu formulieren. Zum anderen interessiert die Frage der Neuregelung der gemeinsamen elterlichen Sorge sehr viele Menschen in diesem Land; der Kollege Lischka hat die Zahlen schon genannt. Es sind nicht nur die Rechte der betroffenen Väter herzustellen, sondern damit hängen auch Rechte der Kinder zusammen, zum Beispiel hinsichtlich ihrer Beziehungen zu Großeltern und anderen Verwandten. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits vor mehr als einem Jahr einen Lösungsvorschlag unterbreitet, wie aus ihrer Sicht eine verfassungskonforme Regelung aussehen könnte, die den sich ändernden Familienformen in unserem Land Rechnung trägt. Was aber passiert in den zuständigen Ausschüssen? Der federführende Rechtsausschuss geht geschlagene neun Monate mit dem Antrag schwanger - es geht ja auch um das Sorgerecht -, bevor er ihn das erste Mal überhaupt auf seine Tagesordnung setzt. Da kann man sich gut vorstellen, mit welcher Dringlichkeit das Votum des mitberatenden Familienausschusses angefordert worden ist. Andererseits - das muss man an dieser Stelle auch sagen - hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen selbst beantragt, die weiteren Beratungen zu vertagen. Sich dann nach wochenlangem Warten hinzustellen und nach dem Stand der Beratungen zu fragen, ist schon ein bisschen seltsam. ({0}) Ich finde, Ihr Umgang mit einem so sensiblen und emotional besetzten Thema ist ein Armutszeugnis für die parlamentarische Arbeit. ({1}) Inzwischen liegen auch Anträge der SPD zum Sorgerecht vor. Meine Fraktion wird nächste Woche einen Antrag zur Neuregelung des Sorgerechts ins Parlament einbringen, ({2}) der dann möglicherweise die von allen geforderte Brücke zwischen den einzelnen Anträgen schlägt, damit wir zügig zu einer Neuregelung kommen. Ich hoffe, dass die heutige Debatte dazu beiträgt, die Beratungen der Anträge noch vor der Sommerpause zu ermöglichen und die beste Lösung für die betroffenen Kinder und Eltern zu finden. Denn es ist unsere Aufgabe, für die Probleme der Menschen in diesem Land zügig Lösungen zu finden. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute im Bundestag, aufgrund unseres Geschäftsordnungsantrags, zu unserem Antrag „Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern“. Leider ist diese Debatte mehr als notwendig. Wir erinnern uns: Vor zwei Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die deutsche Regelung zum Sorgerecht für unverheiratete Väter eine ungerechtfertigte Benachteiligung gegenüber Müttern und verheirateten Vätern darstellt. Kurz danach hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die betreffenden familienrechtlichen Normen das Elternrecht aus Art. 6 Grundgesetz verletzen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber, also uns, die Neuregelung des Sorgerechts aufgegeben und bis dahin eine Übergangsregelung verfügt. Vor über einem Jahr, im Januar 2011, haben wir hier bereits über unseren Antrag zur Neuregelung des Sorgerechts diskutiert. Damals waren sich alle Fraktionen einig, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zügig umgesetzt werden müssen. In der Debatte sagte zum Beispiel Frau Granold von der CDU, dass in Kürze ein eigener Gesetzentwurf vorgelegt werden könne. ({0}) Im Februar 2011 war zu hören, dass sich die Koalition nach intensiven Gesprächen und Diskussionen auf einen Kompromissvorschlag der Bundesjustizministerin einigen konnte. Heute schreiben wir den 2. März 2012, und Fakt ist: Ein solches Gesetz gibt es nach wie vor nicht. Die mehrfachen Ankündigungen, auch im Rechtsausschuss, haben sich als leere Sprechblasen entpuppt. Die schwarz-gelbe Regierung schafft es, dass eine Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wie eine Nebensache behandelt wird, und das nicht zum ersten Mal. ({1}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich fordere Sie auf, endlich tätig zu werden und für die vielen betroffenen Kinder und Väter eine Regelung zu schaffen. Denn eine Gesetzeslage, die gegen das Grundgesetz verstößt, muss so schnell wie möglich beseitigt werden. ({2}) Sie können sich nicht länger auf der Übergangslösung des Bundesverfassungsgerichts ausruhen. Wenn die heutige Debatte dazu beiträgt, dass wir seitens der Regierungskoalition und seitens der Linken Anträge und Gesetzentwürfe vorgelegt bekommen, ({3}) über die wir hier diskutieren können, dann hätte sich die Debatte am heutigen Freitagnachmittag tatsächlich gelohnt. ({4}) Wir Grünen meinen jedenfalls, dass der derzeitige Zustand nicht befriedigend ist; denn alle Kinder haben ein Recht darauf, dass beide Eltern für sie Verantwortung übernehmen. Das gilt unabhängig davon, ob diese Eltern verheiratet sind oder nicht. Dieses Recht drückt sich auch und gerade im Sorgerecht aus, meine Damen und Herren. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, diese Thematik betrifft eine Vielzahl von Einzelschicksalen. Darunter leiden nicht nur die benachteiligten Väter, sondern auch die Kinder und in letzter Konsequenz auch die Mütter. Wenn Sie sich unseren Antrag zu diesem Thema genau anschauen, dann werden Sie sehen: Er bietet eine gute Grundlage für eine ausgewogene und gerechte Lösung in der Sorgerechtsfrage. Deshalb wiederhole ich meine Aufforderung: Handeln Sie schnell und in diesem Sinne! Dann haben Sie unsere Unterstützung. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun das Wort die Kollegin Caren Marks von der SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte um das elterliche Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern macht eines ganz deutlich: Es ist definitiv an der Zeit, dass die Bundesjustizministerin endlich ein Gesetz vorlegt, um den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, ({0}) und zwar so umzusetzen, dass sich darin die heutige Lebenswirklichkeit aller Eltern und Kinder widerspiegelt. Denn diese Wirklichkeit ist durch eine Zunahme der Zahl nicht miteinander verheirateter Eltern geprägt. Alle Eltern, egal ob mit oder ohne Trauschein, haben eine gemeinsame Verantwortung für die Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder. Der dazugehörende rechtliche Rahmen muss durch uns, den Gesetzgeber, festgelegt werden. Wir alle wissen aber auch: Das Ziel der gemeinsamen Sorge wird in der Realität nicht immer erreicht. Es gibt natürlich die sogenannten Konfliktfälle, in denen sich beispielsweise Väter nicht kümmern oder aber Mütter dies nicht zulassen. An dieser Stelle finde ich den Lösungsvorschlag der Grünen nicht richtig, da dieser eine gemeinsame Sorge erschwert, weil ein Elternteil einen Antrag stellen oder Widerspruch einlegen muss, wenn die gemeinsame Sorge nicht gewünscht ist. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben ein eigenes Modell entwickelt, das wir zu einem anderen Zeitpunkt ausführlich hier im Plenum debattieren werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher fällt die Sorgerechtsverantwortung in Deutschland bei Unverheirateten kraft Gesetzes automatisch der Mutter zu. Väter können sich dieser Verantwortung schon durch die Nichtabgabe der Sorgeerklärung ohne Weiteres entziehen. Wir denken, das muss sich ändern. ({1}) Eine gemeinsame Sorge stärkt die Partnerschaftlichkeit von Müttern und Vätern. Sie ist auch ein Beitrag zu mehr Gleichstellung. Vor allem aber stärkt es die Kinder, wenn Eltern die gemeinsame Sorge haben und diese auch wirklich wahrnehmen. So ist nach einer Scheidung dem Kindeswohl in der Regel am besten gedient, wenn beide Elternteile das Sorgerecht weiter gemeinsam und einvernehmlich ausüben. Davon machen die meisten Eltern Gebrauch. Die entsprechende Regelung der Kindschaftsrechtsreform von 1998 gilt - ich denke, unbestritten - als ein wirklicher Erfolg. Denn häufig führt die Ausübung der gemeinsamen Sorge zu stabilen Beziehungen zwischen Kindern und dem getrennt lebenden Elternteil - das ist heute meistens noch der Vater - sowie zu regelmäßigeren Unterhaltszahlungen. Bei der notwendigen Neuregelung dürfen wir als Gesetzgeber nicht zuerst die Eltern im Blick haben, sondern müssen das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen. Schließlich sind die Kinder bei dieser Regelung die eigentlich Betroffenen. Bisher erfahren uneheliche Kinder immer noch Diskriminierungen in unserer Gesellschaft, wie eben auch beim Thema Sorgerecht. Die Ausrichtung am Kindeswohl darf nicht erst durch Entscheidungen von Gerichten Bedeutung erlangen, sondern sollte das Anliegen der Eltern, aber auch des Gesetzgebers sein. Darum ist es Zeit, dass Schwarz-Gelb hier endlich handelt. Wir freuen uns jedenfalls, wenn es wirklich endlich dazu kommt - Sie haben es angedeutet -, dass SchwarzGelb etwas vorlegt. Ich denke, die Eltern, aber vor allem die Kinder in unserem Land haben es verdient. Als letzte Rednerin in dieser Sitzungswoche wünsche ich meinen Kolleginnen und Kollegen ein gutes Wochenende, wahrscheinlich mit vielen Wahlkreisterminen. Ich mache heute sozusagen das Licht aus. Ich wünsche Ihnen alles Gute. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Da wir keine Abstimmung vorzunehmen haben, sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. März 2012, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.