Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
eröffne die 162. Sitzung des Deutschen Bundestages.
Ist Frau Jochimsen schon da? - Dann möchte ich Ihnen, Frau Kollegin Jochimsen, gleich vor Eintritt in die
Tagesordnung zu Ihrem heutigen 76. Geburtstag herzlich
gratulieren und alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr aussprechen.
({0})
In den zurückliegenden Tagen haben weitere Kollegen ihre Geburtstage gefeiert, darunter der Kollege
Dr. Peter Röhlinger seinen 73., der Kollege Jerzy
Montag seinen 65.
({1})
und der Kollege Hans-Joachim Fuchtel seinen 60. Geburtstag.
({2})
- Dass die Tagesordnung mit überparteilichem Jubel beginnt, ist eine schöne Motivationshilfe für die Abwicklung derselben.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
allerdings noch eine schwierige Wahl durchführen, weil
der Kollege Dr. Johann Wadephul sein Schriftführeramt
niedergelegt hat. Als neue Schriftführerin schlägt die
Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Carola Stauche
vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall, jedenfalls höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist die Kollegin hiermit gewählt.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auswirkungen der geplanten Kürzung der Solarvergütung von bis zu 32 Prozent auf die
Energiewende und den Arbeitsmarkt insbesondere in Ostdeutschland sowie drohender
Stillstand bei der EU-Energieeffizienzrichtlinie
({3})
Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 32
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar
Nietan, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verleihung des Status als EU-Beitrittskandidat
an Serbien aussprechen
- Drucksache 17/8763 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 3, 19, 29
sowie 31 b und 31 c abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 18
wird zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 31 aufgerufen.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 9. Februar 2012 ({4}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit ({5}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von
Sportwetten
- Drucksache 17/8494 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Sportausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ich darf auch hier fragen, ob Sie damit einverstanden
sind. - Das ist der Fall. Dann ist das hiermit so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus
- Drucksache 17/8672 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Innern, Dr. Hans-Peter
Friedrich.
({8})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist gerade vier Monate her, dass wir mit Entsetzen feststellen mussten, dass es zwischen der Mordserie,
die uns seit vielen Jahren bewegt hat, und der Zwickauer
Zelle einen Zusammenhang gibt. Diese Zwickauer Zelle
konnte aufgedeckt werden. Eine Frage hat uns bewegt
und bewegt uns immer noch: Wie konnte es passieren,
dass diese Mordserie, dass diese Raubserie über zehn
Jahre in Deutschland stattfinden konnte und unentdeckt
geblieben ist, jedenfalls die Zusammenhänge nicht hergestellt werden konnten?
Wir können das, was geschehen ist, die Morde, die
Verbrechen, nicht rückgängig machen. Was wir aber
können, ist, aufzuklären und dafür zu sorgen, dass die
Weichen gestellt werden, dass Ähnliches in der Zukunft
nicht wieder passieren kann. Die Aufklärung schulden
wir nicht nur unserem Rechtsstaat, sondern auch den
Angehörigen der Opfer. Das Zusammentreffen mit den
Angehörigen im November 2011, das der damalige Bundespräsident Christian Wulff organisiert hatte, und das
abermalige Zusammentreffen bei der Gedenkstunde haben mich sehr bewegt. Diese Menschen haben vieles
mitgemacht. Ihnen gegenüber haben wir unser Versprechen noch einmal erneuert, dass wir alle Möglichkeiten
unseres Rechtsstaates nutzen werden, um die Dinge aufzuklären.
({0})
Der Generalbundesanwalt hat bereits im November
letzten Jahres die Ermittlungen übernommen. Ihm zur
Seite steht eine Sonderkommission des Bundeskriminalamtes. Es sind derzeit 355 Kräfte aus Bund und Ländern
dabei, fast 6 000 Asservate auszuwerten. Nur um Ihnen
einen Eindruck zu geben: Allein das Auslesen eines einzigen beschlagnahmten Handys umfasst Tausende von
Ausdruckseiten, die Zeile für Zeile durchgegangen werden müssen. Es ist also eine sehr umfängliche Arbeit, die
da zu leisten ist.
Daneben hat, um die politische Aufarbeitung zu flankieren, der Untersuchungsausschuss des Bundestages
seine Arbeit aufgenommen, ist eine Bund-Länder-Kommission eingerichtet worden und arbeitet in Thüringen
ein Gremium mit Hochdruck an der Aufarbeitung dessen, was jetzt auf dem Tisch liegt, und dessen, was noch
zu klären ist.
Meine Damen und Herren, Weichen stellen für die
Zukunft, das bedeutet zweierlei: dafür zu sorgen, dass
wir erstens die sicherheitspolitisch richtigen Weichen
stellen und dass wir zweitens auch gesellschaftspolitisch
die richtigen Weichen stellen. Ich habe deswegen zu Beginn dieses Jahres mit meiner Kollegin Kristina
Schröder einen runden Tisch gegen Rechtsextremismus
einberufen. Alle Teilnehmer - Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, kommunale Vertreter, Vertreter
der verschiedenen Organisationen, die sich gegen den
Extremismus wenden - haben ihre Entschlossenheit zum
Ausdruck gebracht, zusammenzuarbeiten und diesen
Sumpf trockenzulegen.
Wehrhafte Demokratie, das bedeutet starke demokratische Strukturen, das bedeutet aber auch funktionierende Sicherheitsstrukturen. Deswegen ist es notwendig,
dass wir auch die modernen Möglichkeiten der Informationstechnologie nutzen, um die Kernaufgabe des Staates
zu erfüllen, nämlich die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten. Die Menschen, die in diesem Lande leben,
müssen sich sicher fühlen, egal welche Hautfarbe sie haben, egal aus welchem Land sie kommen.
Wichtig ist, dass wir die rechtsextremistischen Strukturen rechtzeitig erkennen, dass wir diejenigen identifizieren können, die Angst und Schrecken verbreiten. Die
wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass wir das Informationssystem oder den Informationsaustausch zwischen den Behörden noch weiter verbessern. Seit Mitte
Dezember letzten Jahres arbeitet das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus, in dem alle
Polizeien der Länder und die Polizei des Bundes sowie
die Nachrichtendienste zusammenarbeiten und täglich
- täglich! - über Fälle, neue Erkenntnisse, Vorkommnisse und Personen im rechtsextremistischen Bereich
sprechen. Ich denke, es ist gut und richtig, dass wir das
Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus
eingerichtet haben, um die Zusammenarbeit der Behörden auch auf höchster Ebene sicherzustellen.
({1})
Was wir heute auf den Weg bringen, ist eine Verbunddatei, mit der die Zusammenarbeit effektiver gestaltet
werden soll, indem die Dateien, die die Behörden anlegen, zusammengeführt werden. Natürlich werden Sie
fragen: Gibt es denn heute keinen Informationsaustausch? Den gibt es, und zwar in Form von sogenannten
Projektdateien im Rahmen speziell eingerichteter Projekte, die aber nur vorübergehend sind. Es fehlt die
Rechtsgrundlage für eine dauerhafte Sammlung von Daten und Informationen.
Ich denke, dass wir durch die Verbunddatei bzw.
durch das Zusammenführen aller Dateien Übermittlungsfehler vermeiden. Außerdem sind wir dann nicht
mehr auf die subjektiven Beurteilungen der jeweiligen
Beamten vor Ort angewiesen, die richtig oder falsch sein
können. Das ist momentan nämlich der Fall. Man gibt
eine Information dann weiter, wenn man der Auffassung
ist: Diese Information ist notwendig. Sie wird jetzt gebraucht. - Man fragt eine Information bei einer
bestimmten Stelle an, wenn man glaubt, dass sie dort
vorliegt. Aber das ist natürlich mit subjektiven Ungewissheiten behaftet. Deswegen, glaube ich, ist es richtig,
dass wir diese Verbunddatei schaffen, in die alle Behörden ihre Informationen automatisch einspeisen. Dass
eine solche Verbunddatei effizient ist, wissen wir von
der Antiterrordatei, die seit 2007 existiert und sehr gute
Ergebnisse zeitigt, auch was die Aufklärung im Vorfeld
möglicher Verbrechen angeht.
Wir haben in der Verbunddatei künftig alle Daten
über gewaltbezogenen Rechtsextremismus. Gewaltbezogener Rechtsextremismus: Das sind alle Bestrebungen,
die darauf gerichtet sind, unsere Demokratie, die Menschenrechte und die Menschenwürde anzugreifen, und
bei denen vor Gewalt nicht zurückgeschreckt wird. Es
wird künftig möglich sein, dass alle Behörden, die dort
zusammengeschlossen sind, erstens sogenannte Grunddaten abrufen, um Personen und Objekte zu identifizieren, und zweitens, wenn es nötig ist, auch erweiterte
Grunddaten abfragen. Das heißt, es wird möglich sein,
erste Erkenntnisgewinne, die die eine oder andere Behörde hat, abzurufen und bei Gefahr in Verzug sofort auf
dem Bildschirm zu haben.
Was neu ist - man muss sich überlegen, ob man dieses neue Instrument auf andere Dinge ausweitet, aber
das ist heute nicht unser Thema -, ist die erweiterte Datennutzung, mit der es möglich ist, Zusammenhänge
zwischen Personen, Gruppen und Objekten herzustellen.
Das ist für die Arbeit der Behörden natürlich besonders
wichtig. Auf diese Art und Weise ist es zum Beispiel
möglich, regionale Verbindungen zu finden. Wir verbessern damit die Möglichkeit - das ist das Ziel dieser
Verbunddatei -, die Zusammenhänge, die von den Ermittlungsbehörden heute mühsam aufgearbeitet und herausgesucht werden müssen, schon im Vorfeld aufzudecken und aufzuklären.
Ich sage: Wir erhöhen die Chancen. Garantien gibt es
natürlich nie, aber mit einer solchen Verbunddatei verbessern wir die Möglichkeit bzw. erhöhen die Chance,
die Mängel, die jetzt auftauchen, in der Zukunft abzustellen. Ich denke, dass diese Verbunddatei eine richtige
und zukunftsweisende Ergänzung dessen ist, was wir
schon gemacht haben.
Wir sind daneben dabei, auch im Bereich des Internets noch weiter Strukturen aufzubauen. Wir beobachten, was im Bereich des Internets an rechtsextremistischen Tendenzen vorhanden ist; denn wir stellen fest,
dass der Extremismus auch dort inzwischen sehr gezielt
versucht, vor allem junge Leute für sich einzunehmen
und zu gewinnen. Auch das ist ein Thema, das von den
Behörden seit Dezember ganz konkret, mit Hochdruck
und verstärkt angegangen wird.
Ich denke, dass wir mit all dem, was wir auf den Weg
gebracht haben bzw. auf den Weg bringen - das Gemeinsame Abwehrzentrum, die heutige erste Lesung des Gesetzentwurfs zur Einrichtung der Verbunddatei und eine
künftig stärkere Koordinierung der Behörden im Bereich
des Internets -, den Versuch starten können, in Zukunft
so etwas wie das, was in der Vergangenheit passiert ist,
zu verhindern. Ich denke, wenn es uns gelingt, auch nur
eine Tat zu verhindern, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dann hat sich alles gelohnt - auch die Einrichtung dieser Verbunddatei. Ich bitte, das bei den Beratungen auch zu berücksichtigen.
Vielen Dank.
({2})
Michael Hartmann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute vor einer Woche haben wir in einer allseitig
und zu Recht als würdig anerkannten Gedenkfeier an die
Opfer der Mordserie einer ruchlosen Nazibande erinnert.
Es ist und bleibt eine Schande, dass es trotz aller vor
zehn und mehr Jahren bereits vorliegenden Erkenntnisse
dieses heillose Trio gab, das raubend und tötend durch
unser Land ziehen konnte.
Wir können - da bin ich mit Ihnen einer Meinung,
Herr Minister - die Taten natürlich nicht mehr ungeschehen machen, sosehr wir alle das auch verfluchen mögen.
Deshalb müssen wir die Aufarbeitung umso konsequenter, entschlossener und entschiedener vorantreiben. Das
muss ohne Ansehen von Personen und Parteien und ohne
die üblichen Reflexe und Schuldzuweisungen geschehen. Wenn uns das nicht gelingt, meine Damen und Herren, dann würden wir ein zweites Mal versagen.
({0})
Deshalb ist es auch unbedingt nötig, Fehler einzugestehen, wie es der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz bereits in der ersten Sitzung des Innenausschusses zu dem Thema getan hat, indem er sagte: Dies
ist eine Niederlage der Sicherheitsbehörden. - Das Eingestehen von Fehlern ist nötig, um die Konsequenzen,
Michael Hartmann ({1})
die wir hoffentlich möglichst einvernehmlich ziehen
wollen, auch ziehen zu können. Dazu gehört über den
Bereich der unmittelbaren detaillierten Aufarbeitung hinaus, dass wir uns die Frage stellen, ob wir uns alle oder
zumindest viele von uns in Deutschland nicht zu sehr daran gewöhnt haben, mit Abstufungen, dass überall in unserer Republik praktisch an jedem Wochenende Skinheads in Springerstiefeln marschieren.
Wir müssen uns fragen, ob wir uns nicht viel zu sehr
daran gewöhnt haben - vielleicht sind wir auch abgestumpft -, dass Jugendzentren bedroht werden oder dass
bei nahezu jedem größeren Fußballspiel irgendwo der
Hitlergruß gezeigt wird oder nazistische Parolen geschrien werden. Zu der Gesamtbetrachtung gehört auch,
dass wir die NPD sehr viel schärfer als in den vergangenen Jahren in den Blick nehmen. Denn die NPD ist der
legale Arm einer Gesamtbewegung, die sich gegen unseren freiheitlichen Staat richtet.
({2})
Das sind die Biedermänner, die Kreide gefressen haben
und hinter denen sich die Brandstifter verbergen. Deshalb müssen entschlossen alle Anstrengungen unternommen werden, um diese Partei endlich zu verbieten.
({3})
- Ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Unionsfraktion, dass Sie an dieser Stelle nicht
klatschen; denn auf dem CDU-Bundesparteitag haben
Sie genau das beschlossen.
({4})
Bitte gehen Sie nicht von der Fahne, Kolleginnen und
Kollegen. Bleiben Sie dabei und hören Sie auf, solche
Dinge zu erzählen, wie man sie jetzt wieder hört in Äußerungen wie: Nun ja, ein Verbotsverfahren ist vielleicht
zu überdenken. Vielleicht genügt es ja, die Finanzierung
der NPD zu verbieten. - Nein, wenn eine Partei nicht
verboten ist, dann stehen ihr auch die üblichen Finanzierungswege offen. Sonst ist sie zu verbieten, und nach unserem Grundgesetz ist die NPD zu verbieten.
({5})
Wir müssen das zusammen machen. Wir müssen das
gründlich vorbereiten, keine Frage. Zur Vorbereitung all
dieser Maßnahmen gehört auch das Gesetz, das wir
heute in erster Lesung beraten. Es ist ein Teil einer erforderlichen Gesamtstrategie.
Indem wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das eine
neue Datei schafft, gestehen wir Fehler ein: Wir waren
zu unaufmerksam. Wir haben vorhandene Informationen
nicht immer und regelmäßig in einer geeigneten Weise
zusammengeführt.
Wir gestehen noch etwas anderes ein. Ich sollte genauer sagen: Die Bundesregierung gesteht etwas anderes
ein. Diese Bundesregierung hat nämlich den Fehler begangen, Rechtsextremismus, Linksextremismus und
Islamismus in einen Topf zu werfen und alles zusammenzurühren, ohne zu erkennen, dass jeder Extremismusansatz mit anderen Mitteln bekämpft werden muss.
Gut, dass Sie jetzt beim Verfassungsschutz wieder eine
Abteilung für den Kampf gegen rechts einrichten!
({6})
Die Aufarbeitung der Mordserie und der konsequente
Kampf gegen alte und junge Nazis müssen auf lange Zeit
das Thema der Innenpolitik bleiben. Die eigenständige
Abteilung für den Kampf gegen rechts beim Verfassungsschutz ist ein wichtiges Instrument.
Ebenso sind wir der festen Überzeugung, dass die
Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz gestärkt werden muss. Herr Minister, wir
unterstützen Sie dabei, wenn Sie Schritte in diese Richtung unternehmen. Wir wollen auch, dass das Gott sei
Dank sehr schnell eingerichtete Abwehrzentrum gegen
rechts gut funktioniert.
Wenn wir jetzt in die Beratung eines Gesetzes zur
Schaffung einer Verbunddatei eintreten, reichen wir der
Bundesregierung die Hand für die weitere Beratung. Ich
sage allerdings zugleich: Wir werden die gleiche Sorgfalt an den Tag legen wie in jeder anderen Debatte um
die Einführung neuer Sicherheitsdateien. Wir werden
differenziert abwägen und entschlossen vorangehen;
denn es wäre ein Fehler, den Feinden der Demokratie
Raum zu geben, indem wir auch nur einen Millimeter an
Freiheitsrechten preisgeben. Das muss auch in dieser
Diskussion der Maßstab für unser Handeln sein.
({7})
Dabei gilt außerdem, dass wir uns natürlich mit allen
16 Bundesländern intensiv austauschen wollen und werden. Wir werden beachten, was die Innenminister beschlossen haben und weiter beraten. Wir werden uns
über Speicherumfang und Speicherdauer genau kundig
machen und dies abwägen. Außerdem werden wir in einer bereits beschlossenen Anhörung, Herr Kollege
Bosbach, sehr gründlich Expertenrat einholen.
Ich will bei diesem Gesetz aber noch eines in Richtung Regierungsbank sagen - ich kann Ihnen diesen Vorwurf auch heute leider nicht ersparen -: Es ist nicht gut,
wenn auf die Vorlage eines Gesetzentwurfes reflexhaft
so reagiert wird, wie es im Dezember geschehen ist. Das
Bundesinnenministerium hatte nach Absprache auch mit
den anderen Ressorts einen Entwurf erarbeitet, der zugeleitet wurde, und das Justizministerium sagte erst einmal: Njet. - Stimmen Sie sich besser ab! Ersparen Sie
uns bitte diese Schmierenkomödie bei allen Sicherheitsgesetzen, aber ganz besonders in diesem Fall!
({8})
Die NPD und alle, die in ihrem Umfeld agieren, handeln gegen die Menschenwürde. Die Datei kann helfen,
das zu belegen und eine genaue Beweisführung vorzunehmen. Es gehört aber auch dazu, dass wir so wie in anderen Bereichen auch - sei es bei Fußballrowdys oder
sonstigen Gewalttaten - null Toleranz zeigen und dass
die Polizeipräsenz überall dort gesteigert wird, wo die
Michael Hartmann ({9})
Rechten aufmarschieren und sich präsentieren. Es gehören außerdem aufmerksame und gut geschulte Behördenmitarbeiter dazu sowie starke Kommunen. Wer den
Kommunen den Geldhahn zudreht, der öffnet den Rechten die Türen.
({10})
Ich bitte darum, dass wir bei dem gemeinsamen
Kampf gegen rechts alle Verharmloser und Relativierer
zum Schweigen bringen. Ich denke da nicht nur an den
Kollegen Dobrindt und dessen unselige Äußerung. Es
geht nicht an, dass wir sagen: Wir wollen die NPD verbieten, und wenn wir schon einmal dabei sind, verbieten
wir auch gleich die Linken. - Wer so argumentiert, hat
den Ernst der Stunde nicht verstanden.
({11})
Eine offene, schonungslose Aufarbeitung schulden
wir den Opfern, schulden wir unserem Rechtsstaat,
schulden wir der inneren Sicherheit, schulden wir unserer Geschichte und schulden wir dem Ansehen Deutschlands in der Welt.
Das „Nie wieder!“ war die Gründungsformel unseres
Grundgesetzes. Wir sollten dieses „Nie wieder!“ mehr
denn je beachten. Ich habe immer noch im Ohr, was
Semiya Simsek in einer unglaublich eindrucksvollen
kurzen Rede vor einer Woche sagte:
In unserem Land, in meinem Land muss sich jeder
frei entfalten können, unabhängig von Nationalität,
Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung.
Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun,
als hätten wir dieses Ziel schon erreicht. Meine Damen und Herren, die Politik, die Justiz, jeder Einzelne von uns ist gefordert.
Den Worten von Semiya Simsek ist nichts hinzuzufügen.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Hartfrid Wolff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute
liegt Ihnen das Gesetz über die Verbunddatei vor. Mit
dieser gemeinsamen elektronischen Plattform gewinnt
unser demokratischer Rechtsstaat neue Schlagkraft in
seiner legitimen Abwehr rechtsextremistischer Bestrebungen, und wir schaffen damit in einem ersten Schritt
ein rechtsstaatliches, wirkungsvolles Instrument zur besseren Zusammenarbeit der Behörden.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die
braune Gewaltkriminalität in Deutschland zu einem terroristischen Netzwerk verdichtet, zu dem auch der NSU
gehörte, der zehn entsetzliche Morde aus rassistischem
Gedankengut heraus begangen hat - anscheinend unbemerkt von den Sicherheitsbehörden.
Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, der die offenkundigen Ermittlungspannen aufklären und sich ein Gesamtbild verschaffen soll, hat mit seiner Arbeit eben erst begonnen. Doch schon jetzt zeichnet
sich ab, dass die Arbeit der Sicherheitsbehörden zwischen den Ländern, aber auch zwischen Ländern und
Bund besser verzahnt werden muss.
In Jena haben es in den 90er-Jahren schon die Spatzen
von den Dächern gepfiffen, dass sich eine braune Zelle
über Ländergrenzen hinweg bewegt hat. Wer hat sich damals darum gekümmert? Thüringen? Sachsen? Jeweils
einzeln?
Wenn der BKA-Chef Ziercke zu Beginn der Ermittlungen zu den rechtsextremistischen Mordtaten von einer Beziehungstat in Heilbronn sprach, obwohl gerade
die sachnähere baden-württembergische Polizei zu einer
ganz anderen Bewertung gekommen ist, dann gibt es offensichtlich einen Mangel an Abstimmung, an Informationsaustausch und an Kommunikation. Eine Neuorganisation der Sicherheitsbehörden und eine komplette
Neuausrichtung der gesamten Sicherheitsarchitektur
sind meines Erachtens dringend überfällig. Das reicht
von der Abschaffung des MAD bis zur Zahl der Landesämter für Verfassungsschutz. Das Nebeneinander der Sicherheitsbehörden muss aufhören.
({0})
Zuständigkeitsdiskussionen, isoliertes Handeln und
Ressortegoismen sind fehl am Platz, wenn es um die Sicherheit der Menschen und um Menschenleben geht.
Durch die schlechte Organisation der Behörden dürfen
keine Schutzlücken entstehen. Doppeltätigkeiten, auch
von anderen Sicherheitsbehörden, erzeugen Effizienzund Effektivitätsverluste.
Da wir einen Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik brauchen, sind die neue Verbunddatei und der Informationsaustausch über das Terrorabwehrzentrum hilfreich; das macht aber notwendige Strukturreformen der
Sicherheitsbehörden nicht obsolet. Ich erwarte bei der
Aufklärung und auch bei der Bekämpfung der Straftaten
zukünftig eine engere Verzahnung der Sicherheitsbehörden und eine Zusammenarbeit zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Damit muss sich vor allem die Innenministerkonferenz in diesem Monat auseinandersetzen.
Die Debatte um ein Verbot der NPD wurde durch die
Aufdeckung der Mordtaten wieder entfacht. Der Kollege
Hartmann hat das sehr pointiert hier angesprochen. Die
NPD ist aus Sicht der FDP eine verfassungsfeindliche
Partei. Aber die Hürden für ein Parteiverbot sind durch
das Bundesverfassungsgericht zu Recht sehr hoch gesetzt worden. Gleichzeitig gilt natürlich auch: Das darf
nicht bedeuten, dass extremistische Parteien per se und
generell vor einem Verbot gefeit wären. Hier ist sehr
Hartfrid Wolff ({1})
vorsichtiges Handeln gefragt. Plakatives und aktionistisches Vorgehen, lieber Kollege Hartmann, verbietet sich.
({2})
Herr Kollege Wolff, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme gleich zum Schluss. - Aber wir müssen
aufpassen, dass wir nicht einfach nur über das Beseitigen
einer Hülle reden. Das Gedankengut, die braunen Aktivitäten bekämpfen wir nicht durch die Beseitigung eines
parteipolitischen Gefüges. Die Werte des demokratischen Rechtsstaats müssen von uns allen verteidigt werden. Diese Aufgabe kann nicht ausschließlich an Polizei
und Sicherheitskräfte delegiert werden. Wer Verantwortung abgibt, läuft Gefahr, sie zu verlieren. Deshalb müssen wir als Demokraten unseres Landes gegen alle Extremisten jeder Couleur zusammenstehen.
Vielen Dank.
({0})
Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von
der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf hat den Anspruch, einen Beitrag zur Verbesserung der Bekämpfung
des Rechtsextremismus zu leisten. Einem solchen Ziel
würde die Linke jederzeit zustimmen, wenn es denn
ernst gemeint wäre. Doch handelt es sich bei diesem Gesetz um puren Aktionismus.
({0})
Die Bundesregierung will eine weitere Verbunddatei
von Polizei und Geheimdiensten. Im Klartext: Ausgerechnet jene Sicherheitsdienste sollen jetzt zuallererst
gestärkt werden, die so schmählich versagt und in einigen Fällen offenbar sogar mit der Naziszene gekungelt
haben. Sie sollen künftig noch mehr im Geheimen arbeiten dürfen. Das halten wir für einen Skandal. Wir brauchen Transparenz und Öffentlichkeit in der gesamten
Aufklärung.
({1})
Wir sollen mit der Verabschiedung dieses Gesetzes einer Ausweitung der Kompetenzen der Sicherheitsbehörden zustimmen, ohne dass wenigstens ansatzweise deren
doch so zweifelhafte Rolle gegenüber den Naziterroristen des NSU aufgeklärt wurde. Richtig wäre doch als Allererstes Aufklärung. Dafür haben wir im Übrigen einen
Untersuchungsausschuss hier im Parlament eingesetzt.
Dann entscheidet das Parlament über die Konsequenzen
politischer wie rechtlicher Art, die zu ziehen sind.
({2})
Aufzuklären wäre dringend: Wie war das mit den unseligen Allianzen zwischen V-Leuten und Neonazis?
({3})
Inwieweit haben sich die Sicherheitsbehörden im letzten
Jahrzehnt mit den Neonazis auch analytisch beschäftigt?
Was wurde versäumt oder gar vertuscht? Die Öffentlichkeit, die Angehörigen aller Nazimordopfer haben einen
Anspruch auf Transparenz und Aufklärung.
({4})
Aber auch hier mauert die Bundesregierung. Wir haben all diese Fragen kürzlich in einer Kleinen Anfrage
gestellt. Es gab keine einzige Antwort.
({5})
Die Bundesregierung argumentiert, das Staatswohl
gebiete, dass niemand weiß, was Polizei und Geheimdienste in der Vergangenheit in Sachen Nazimörder
unternommen haben. Anders kann man die entsprechenden Antworten bzw. Nicht-Antworten nicht interpretieren. Ich halte es auch für eine Verhöhnung des Parlaments, dass wir über die Geschichte der Aufarbeitung
hier vom Innenminister nichts erfahren.
({6})
Die geplante Verbunddatei folgt dem Modell der
bereits bestehenden Antiterrordatei. Schon diese wurde
damals von der Linken abgelehnt;
({7})
denn sie verstößt gegen den Grundsatz der Trennung von
Polizei und Geheimdiensten.
({8})
Diese Datei und die Datei, deren Einrichtung heute vorgeschlagen wird, kranken an zu schwammig definierten
Kriterien,
({9})
zum Beispiel, welches Verhalten von Personen eigentlich zur Speicherung führt. Bei der Nutzung der Daten
nun auch zu Recherche- und Analysezwecken werden
die Befugnisse der Behörden weit über die bisherigen
Regelungen im Zusammenhang mit der Antiterrordatei,
die offiziell der Strafverfolgung und der Prävention dienen soll, ausgedehnt. Ganz nebenbei sollen die Befugnisse jetzt auch für die Antiterrordatei mit ausgeweitet
werden. Meine Damen und Herren, es kann nicht sein
und ist auch ungeheuerlich, dass die Nazimorde jetzt
dafür instrumentalisiert werden sollen, alte Forderungen
der Union durchzusetzen.
({10})
Der Innenminister hat auch noch weiter reichende
Pläne; wir haben es eben schon vom Kollegen Hartmann
gehört. Auf die Frage der FAZ im Interview vom 23. JaUlla Jelpke
nuar, ob man nach Dateien zu Islamisten und Nazis nicht
auch eine Datei über „gewaltbereite Linksextremisten“
benötige, antwortete Friedrich:
Sie haben recht mit Ihrem Hinweis. Sie brauchen
keine Angst zu haben. Wir werden auch den Kampf
gegen den Linksextremismus verstärken.
({11})
- Ja, das ist schön. - Das zeigt doch deutlich, wohin die
Reise geht:
({12})
die Ausweitung der bisher auf den sogenannten islamistischen Terror beschränkten Datei zuerst auf den Rechtsextremismus, um dann weiter zu einer umfassenden Verdächtigen- und Gesinnungsdatei zu kommen, in der
Polizei und Geheimdienste nach Belieben schnüffeln
können. Das geht nicht in einem Rechtsstaat, meine
Damen und Herren!
({13})
Der Tendenz einer undemokratischen Zentralisierung
und Verschmelzung von Polizei und Geheimdiensten
wird mit einer solchen Verbunddatei weiter Vorschub
geleistet, und eine solche Aufweichung der Verfassung
lehnen wir eindeutig ab.
({14})
Um es deutlich zu sagen: Im Gegensatz zu manch anderer Fraktion hier in diesem Haus hat die Linke schon immer kompromisslos gegen Nazis gekämpft. Aber unser
Kampf gegen den Rechtsextremismus ist ein Kampf für
und nicht gegen die Grundrechte. Deswegen lehnen wir
Dateien dieser Art ab.
({15})
Meine Damen und Herren, wenn die Regierung es
ernst meinen würde mit der Bekämpfung des Rechtsextremismus, dann müsste sie erst einmal die Öffentlichkeit darüber informieren, was die Gremien von Bund
und Ländern denn in der Vergangenheit auf diesem Gebiet geleistet haben. Es gab ja genügend Gremien, die
dafür eingesetzt wurden. Die Regierung müsste zugeben,
dass oft der politische Wille gefehlt hat, die bestehenden
gesetzlichen Instrumentarien energisch genug einzusetzen. Und sie müsste tatsächlich Fehler zugeben, zum
Beispiel hinsichtlich der V-Leute-Praxis der Verfassungsschutzämter auf Bundes- und Landesebene. Das
NPD-Verbot wurde dadurch an die Wand gefahren, dass
die Bundesregierung nicht bereit war, diese V-Leute wenigstens aus Führungsgremien abzuziehen. Das ist sie
übrigens bis heute nicht.
Deswegen ist es richtig, wenn gesagt wird: Die NPD
ist eine verbrecherische Partei. Sie gehört verboten, und
sie vertritt hier nicht irgendwelche Meinungen. Sie müssen die V-Leute endlich abziehen, damit der Weg für ein
NPD-Verbot frei gemacht wird.
Ich danke Ihnen.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe
zu: Ich habe gewisse Schwierigkeiten. Nun sind wir
durch die Gunst der Stunde heute mit dieser Debatte in
die Primetime gerutscht. Wir behandeln den anspruchsvollen Titel „Bekämpfung des Rechtsextremismus“, und
zu der Zeit, zu der hier sonst Rettungspakete geschnürt
werden, liegt uns ein Gesetzentwurf zu einer Datei vor.
Das kann natürlich nicht alles gewesen sein.
({0})
Das ist ein Baustein. Eigentlich brauchten auch wir so
etwas wie ein Rettungspaket, so etwas wie einen Masterplan, wie wir tatsächlich Gelände zurückgewinnen, wie
wir das, was Nazis in unserem Land erobert haben, aufrollen und wie wir den Schulterschluss zwischen Repression, die notwendig ist, Frau Jelpke, und Zivilgesellschaft hinbekommen. Das steht auf der Tagesordnung.
({1})
Auch ich fand es beeindruckend, was die Kanzlerin
vor einer Woche im Konzerthaus gesagt hat. Sie hat den
Familien der Opfer Folgendes versprochen: Wir klären
die Straftaten auf und führen die Täter der Bestrafung
zu. - Da bin ich guter Dinge. Das BKA arbeitet gut und
energisch.
({2})
Das sage ich hier ganz deutlich. Für uns ist das im
Gegensatz zu Ihnen, Frau Jelpke, nicht nur irgendein
Repressionsorgan, das im Lande herumschnüffelt. Wer
soll es denn sonst tun? Wer soll denn sonst Straftäter
festnehmen? Wer soll sie denn sonst vor Gericht bringen?
({3})
Genauso richtig ist es, dass der notwendigen Verfolgung der Täter - inzwischen hat man einen Kreis von
13 Beschuldigten im Auge - eine Kontinuität in der Bekämpfung folgen muss. Wir haben den Bundesinnenminister dafür gelobt,
({4})
dass er das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus eingerichtet hat.
({5})
Das tun wir wirklich nicht oft.
({6})
Frau Jelpke, erst einmal soll der Untersuchungsausschuss untersuchen, und dann schauen wir nach anderthalb Jahren, ob man etwas ändern muss. Ich weiß schon
jetzt, dass Sie, Ulla Jelpke, sagen werden: Da kommt nur
Schnüffelei heraus, und da werden nur alte Wünsche
erfüllt. - Ein solches Modell, erst einmal abzuwarten
und dann zu erklären, sowieso nichts zu tun, das ist nicht
unser Modell. Wir wollen - das sage ich klar und deutlich - keinen weiteren Toten.
({7})
Wir sagen auch: Es geht hier nicht nur um den terroristischen Bereich.
({8})
- Passen Sie mal auf - ({9})
- Oder: Passen Sie weiter auf. Ich will heute ja ganz
friedlich sein.
({10})
Passen Sie bitte weiter auf.
Nach dem 11. September 2001 haben wir gesagt: Das
ist eine Zäsur, und daher muss und kann alles auf den
Prüfstand. Eine ähnliche Zäsur liegt jetzt auch vor.
({11})
Auch wir haben nicht gesagt: Für diese sogenannten
Döner-Morde - ein grässliches Wort -, diese Mordserie
an hier eingewanderten Migranten sind Naziterroristen
verantwortlich. Das haben wir uns so nicht vorstellen
können. Jetzt wissen wir es, und jetzt müssen wir handeln.
({12})
Jetzt möchte ich noch kurz etwas zur Datei sagen. Das
ist ein Baustein, über den wir reden wollen. Das ist ein
sensibles Thema. Das hat die Justizministerin richtig
erkannt, und das war kein kleingeistiger Zank. Lieber
Kollege Hartmann, über manche bürgerrechtlichen Fragen muss man sich auseinandersetzen.
({13})
Wenn wir einen gemeinsamen Aktenschrank für Polizei
und Nachrichtendienste schaffen - und das ist eine solche Datei -, dann muss man darum ringen, wessen Daten
darin zu finden sind.
({14})
Bei Dateien kann man zwei Dinge grundsätzlich
falsch machen:
Das Erste ist, dass man aufgrund partieller Blindheit
gar nicht sieht, wen man in diese Datei aufnehmen muss.
Wir hatten ja zum Teil das Problem, dass es unterschiedliche Opferzahlen gibt. Die Presse spricht von 148 Opfern, die Sicherheitsbehörden hingegen haben gerade
einmal ein Drittel registriert. Wenn wir da keine klaren
Kriterien haben, dann nutzt doch die schönste Datei
nichts. Wenn ich partiell blind bin, dann gebe ich in
diese Datei nicht das Richtige ein.
({15})
Der zweite Fehler, den ich machen kann, ist, dass ich
das Falsche eingebe und dass ich einen Datenmoloch
schaffe. Es war richtig, um den Gewaltbezug zu ringen.
Er ist unseres Erachtens bei den Kontaktpersonen aber
nicht durchgehalten worden. Es hat nicht viel Sinn, zu sagen, die Gewalttäter kämen sowieso in die Datei - denn
sie sind ja gewaltbezogen - und der Rest komme als
Kontaktperson hinein.
Es ist wirklich schade, dass wir die Islamismusdatei
noch nicht evaluiert und ausgewertet haben. Verfassungsschutzpräsident Fromm hatte vorher gesagt, er
habe die Hoffnung, dass weniger als 10 000 Personen in
die Datei „Islamistischer Terrorismus“ hineinkommen.
Es sind doppelt so viele geworden. Das heißt, die Frage,
wie wir nur die wirklichen Gefährder und nur die
schlimmsten Finger dort hineinbekommen, muss diskutiert und auch im Gesetzgebungsverfahren behandelt
werden.
Uns allen ist es ganz klar - das sage ich abschließend -,
dass Rechtsextremismus strukturell immer gewalttätig
ist.
({16})
Er geht immer in Richtung Gewalt. Dennoch müssen wir
uns um juristische Abgrenzungskriterien bemühen. Wir
dürfen dabei aber nicht vergessen, was die Zivilgesellschaft sagt. Deswegen ist es wichtig, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie darf nicht durch Extremismusklauseln
und ähnliche Dinge kujoniert werden.
({17})
Deswegen dürfen Rechtsextremismus und Linksextremismus nicht gleichmacherisch behandelt werden. Da
haben Sie, Kollege Hartmann, recht. Das alles darf nicht
geschehen. Wir brauchen den Zusammenschluss in der
Gesellschaft.
Naziideologie in den Köpfen kann ich nicht verbieten.
Man kann auch durch Verbote nicht erreichen, dass sie
nicht in die Köpfe hineinkommt. Dafür zu sorgen, ist
vielmehr eine zivilgesellschaftliche Aufgabe. Verbote
können dennoch sehr nützlich sein; auch Repression
muss sein. Im Ergebnis kommt es darauf an, was die
Zivilgesellschaft sagt. Ich erlaube mir daher zum
Schluss, einen Satz der Antifa zu zitieren, weil er den
gemeinsamen Bogen spannt: Nationalsozialismus ist
keine Meinung, Nationalsozialismus ist ein Verbrechen.
({18})
Wolfgang Bosbach erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Jelpke, ohne alle Schärfe möchte ich
sagen - ich kann Ihnen das jetzt nicht ersparen -: Es ist
völlig unmöglich, dass Sie dem Kollegen Wieland während seines leidenschaftlichen Plädoyers den Scheibenwischer gezeigt haben.
({0})
Es ist nicht nur so, dass es gegen jede parlamentarische
Gepflogenheit ist. Auch die geistige Haltung, die dahintersteht, ist unerträglich. Nicht das Plädoyer des Kollegen Wieland war plemplem.
({1})
Plemplem ist es, hier ständig den Eindruck zu erwecken,
als sei die Bundesrepublik Deutschland ein Schnüffelund Überwachungsstaat. Wir haben fast auf den Tag
genau vor 22 Jahren einen Schnüffelstaat abgeschafft,
und niemand möchte einen neuen errichten.
({2})
Lieber Michael Hartmann, weite Teile deiner Rede
kann ich unterschreiben. Aber in einem Punkt bin ich
unterschiedlicher Auffassung. Wir müssen nicht über
alles streiten; das hast du in deiner Rede dankenswerterweise selbst gesagt. Es ist gut, dass auch bei dieser ernsten Debatte parteipolitischer Streit - so weit, wie das
möglich ist - außen vor bleibt. Aber es bleibt noch ein
Rest übrig, über den man unterschiedlicher Auffassung
sein kann.
Hans-Peter Uhl und ich sowie einige andere in diesem
Hause können uns noch sehr genau daran erinnern, wie
es vor zwölf Jahren beim ersten NPD-Verbotsverfahren
war. Jeder in diesem Hause wäre froh, wenn die NPD
schon vor zwölf Jahren verboten worden wäre. Aber ein
NPD-Verbot setzt nicht nur guten Willen voraus, sondern auch gute juristische Argumente.
({3})
Der kraftvolle politische Wille, den wir alle äußern, wird
diese guten juristischen Argumente in Karlsruhe nicht
ersetzen können.
Ich will noch einen Satz dazu sagen: Wenn ein erneutes NPD-Verbotsverfahren beschlossen werden sollte,
darf dieses Verfahren unter keinen Umständen scheitern.
Einen solchen Propagandaerfolg dürfen wir der NPD
nicht gönnen.
({4})
Die Verbunddatei Rechtsextremismus ist ein wichtiges Mittel beim Kampf gegen den gewaltbereiten
Rechtsextremismus. Sie ist kein Allheilmittel, aber ein
wichtiger Baustein, um eine Mauer zu errichten gegen
politischen Fanatismus, gegen Antisemitismus, gegen
Rassismus, gegen eine Brutalität, wie wir sie uns nicht
vorgestellt haben. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes
notwendig, so notwendig wie gesellschaftliches Engagement. Hier hat Wolfgang Wieland völlig recht: Den
Kampf gegen politischen Extremismus und politische
Gewaltbereitschaft allein den staatlichen Behörden zu
übertragen, greift zu kurz. Herr Präsident, es tut mir von
vorherein leid, es ist ein unparlamentarischer Ausdruck,
aber er ist richtig: Im Rheinland gab es vor gut zehn Jahren die Initiative „Arsch huh, Zäng ussenander“.
({5})
Aufstehen und offen antreten: Das ist das, was in dieser
Situation von uns allen erwartet wird. Keine Handbreit,
kein Millimeter Toleranz für diejenigen, die nichts anderes im Sinn haben, als diese freiheitlich-demokratische
Grundordnung zu zertrümmern, und zwar völlig unabhängig davon, aus welcher Richtung sie gegen diesen
Staat marschieren.
({6})
Die Datei ist aber auch ein Ausdruck des Umstandes,
dass wir in Deutschland insgesamt 36 Behörden mit
Sicherheitsaufgaben haben. Die große Zahl von Behörden alleine macht es nicht. Das war auch dein Plädoyer,
Hartfrid Wolff. Es ist nicht entscheidend, dass wir möglichst viele Behörden haben. Entscheidend ist, wie die
Behörden zusammenarbeiten, wie sie ihre Arbeit koordinieren, wie sie kooperieren. Jede Behörde hat eine gesonderte Rechtsgrundlage, besondere Zuständigkeiten
und besondere Eingriffsbefugnisse. Entscheidend ist es,
eine Lehre aus den bitteren Erfahrungen der jüngsten Ermittlungserkenntnisse zu ziehen. Die Behörden dürfen
nicht nebeneinander arbeiten, sondern müssen miteinander arbeiten. Es darf nicht mehr so sein, dass Sicherheitsbehörden denken: Mein Tatort, meine Zuständigkeit,
mein Fall; ich weiß etwas, was du nicht weißt.
({7})
Entscheidend ist, dass wir die Erkenntnisse so zusammenführen, dass wir ständig komplette Lagebilder in der
ganzen Bundesrepublik Deutschland erstellen können.
({8})
Jede Maßnahme der Gefahrenabwehr setzt voraus,
dass ich eine Gefahr erkennen will und dass ich sie erkennen kann. Wenn ich eine Gefahr nicht erkennen
kann, dann kann ich sie auch nicht abwehren.
Die Bundesministerin der Justiz hat die legitime
Frage gestellt, ob diese Organisationsstruktur, wie wir
sie jetzt haben, wirklich optimal für die Aufgabenwahrnehmung ist. Jeder Bundespolitiker, der sich diese Frage
stellt, begibt sich auf ein schlüpfriges Terrain, weil man
weiß, dass man aus den Ländern hört: Das ist unsere
Kompetenz, unsere Zuständigkeit, unsere Behörde, und
das lassen wir uns nicht nehmen. - Dennoch ist es richtig
und wichtig, dass wir über dieses Thema sprechen; denn
es kann sein, dass insbesondere kleinere Behörden bei
der Aufgabenwahrnehmung an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gelangen.
({9})
Nehmen wir das Beispiel Videoobservation. Es wird
ein Hauseingang observiert, um zu sehen, ob die Zielpersonen dort tatsächlich verkehren. Es ist aber unglaublich
personalintensiv, neben diese Kamera immer Ermittler
zu stellen: 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche. Die
Kamera läuft also, wie es so schön heißt, unbemannt.
Dann wird Tage später der Film ausgewertet, und siehe
da, sie waren da. Die Kamera war zwar da, aber keiner,
der hätte zugreifen können. Also legt man sich wieder
auf die Lauer und guckt, ob sie vielleicht noch einmal
vorbeikommen. Das Ergebnis ist bekannt: Sie sind nie
mehr gekommen.
Nehmen wir das Beispiel Observation. Es ist anders
als im Tatort: Vorne die Zielperson, der Ermittler fährt
hinterher und observiert alles, und beide finden auch
noch gleichzeitig nebeneinander einen Parkplatz.
({10})
Im richtigen Leben ist es so, dass ich für eine Observation zwischen 20 und 22 Mitarbeiter benötige. Was machen Sie aber bei einem Amt mit 50 oder 60 Mitarbeitern und zwei oder drei Zielpersonen, die sie über einen
längeren Zeitraum observieren müssen?
Ich kenne das formale Argument - § 2 Abs. 2 Bundesverfassungsschutzgesetz -: Jedes Land hat eine eigene Behörde. Daran werden wir im Übrigen auch nichts
ändern. Dass die Behörden aber enger zusammenarbeiten müssen, dass sie sich abstimmen müssen, ist im
wahrsten Sinne des Wortes notwendig.
({11})
Einige Fragen sind von überragender Bedeutung - daneben gibt es noch viele Tausend andere -, auf deren Beantwortung die ganze Republik wartet:
Erstens. Wie konnte es eigentlich sein, dass drei Personen, die sich im Visier der Sicherheitsbehörden befanden, 13 Jahre lang untertauchen und unter uns leben
konnten, ohne dass ihr mörderisches Treiben gestoppt
werden konnte? Sie sind ja nicht an einem exotischen
Ort untergetaucht, sondern mitten unter uns. Das macht
man nur, wenn man sich eines Unterstützerumfeldes sicher sein kann.
Zweitens. Haben sie isoliert agiert, oder waren sie
Teil einer größeren Terrorzelle? Darüber wurde auch
gestern im Innenausschuss des Deutschen Bundestages
leidenschaftlich diskutiert. Im Moment dreht sich alles
um die wichtigsten Fragen: Wer waren die Hintermänner, Anstifter, Gehilfen? Gibt es noch andere Terrorzellen bei uns in Deutschland, die mit ähnlicher Brutalität
und Mitleidlosigkeit agieren?
Ich sage einmal in aller Ruhe und ohne Vorwurf an irgendjemanden: Zur Beantwortung dieser Frage wäre die
Vorratsdatenspeicherung ein unverzichtbares Hilfsmittel.
({12})
Auch sie ist keine Wunderwaffe, und ich würde auch
nicht sagen: Wenn wir sie gehabt hätten, hätte das mörderische Treiben gestoppt werden können. Dafür gibt es
im Moment gar kein Indiz. Wenn wir aber vom Bundeskriminalamt die Beantwortung der Frage erwarten, ob es
sich um eine isolierte Zelle handelte oder ob sie Teil eines Netzwerkes war, dann ist es doch von überragender
Bedeutung, zu wissen, mit wem die drei Personen in der
Vergangenheit kommuniziert und mit wem sie telefoniert haben. War es ein Telefonat, oder waren es Hunderte Telefonate,
({13})
insbesondere in der Zeit vor und nach einem Mord, vor
und nach einem Banküberfall?
Natürlich gibt es auch andere Ermittlungsansätze,
aber gerade die Auswertung elektronischer Spuren ist für
die Behörde von überragender Bedeutung. Wenn wir
vom Bundeskriminalamt erwarten, dass es diesen Fall
aufklärt, und zwar nicht nur den Tatbeitrag der Drei, sondern auch das Hinterfeld ausleuchtet, dann müssen wir
dem Bundeskriminalamt auch das Instrument geben, um
diese Aufgabe erfüllen zu können.
({14})
Zu Recht ist in den letzten Monaten Kritik geäußert
worden. Es gab Fehler, es gab Versäumnisse, es gab zum
Teil Fehleinschätzungen mit dramatischen Folgen. Es
gibt aber auch die enormen Anstrengungen von knapp
500 Ermittlerinnen und Ermittlern, die in den letzten
Monaten eine wirklich beeindruckende Arbeit geleistet
haben, die den Zeitraum von 13 Jahren Tag für Tag rekonstruieren, alle Akten auswerten, allen Spuren noch
einmal nachgehen. Der Bundesinnenminister hat gesagt,
dass fast 7 000 Asservate ausgewertet werden müssen,
davon über 2 000 aus dem niedergebrannten Haus. Allen
Ermittlerinnen und Ermittlern sind wir zu Dank verpflichtet. Sie machen eine hervorragende Arbeit. Ich
hoffe, dass sie den gesamten Tatkomplex aufklären können. Das sind wir den Opfern und den Hinterbliebenen
schuldig.
Danke fürs Zuhören.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Rechtsextreme Gewalt ist präsent in unserem Land. In manchen Regionen ist sie sogar sehr präsent. Das Wort „alltäglich“ will mir bei diesem Thema
allerdings nicht über die Lippen kommen; denn rechtsextreme Gewalt darf in unserem Land nie wieder alltäglich werden.
({0})
Trotzdem: Jeden Tag geschehen in diesem Land
rechtsextreme Straftaten. Leider hat es die schrecklichen
Morde des NSU gebraucht, um das Thema auf die politische Agenda dieser Bundesregierung zu heben. Dabei
sind die Zeitungen voll von Meldungen - in Ostdeutschland und nicht nur dort, sondern im ganzen Land.
Gleichwohl sollten uns die Geschehnisse Anlass genug sein, dass wir als Demokratinnen und Demokraten
gemeinsam überlegen, was wir gegen Rechtsextremismus tun können und wie wir die Menschen in unserem
Land wirksam vor rechter Gewalt schützen können.
Denn genau das ist es, was die Menschen von uns zu
Recht erwarten.
Ich will zunächst sagen: Ich finde es gut, dass es heute
diese Initiative der Bundesregierung gibt, auch wenn wir
im Detail Fragen haben und Kritik anbringen. Ich finde
es auch gut, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz
wieder eine eigene Abteilung zum Thema Rechtsextremismus hat. Ich war irgendwie immer davon ausgegangen, dass das natürlich so ist.
({1})
Die Extremismusgleichmacherei hat zumindest an diesem Punkt endlich ein Ende.
Das ist gut; aber ganz ehrlich: Das ist wirklich nur ein
erster, kleiner Schritt. Was nützt denn eine Datei, wenn
Straftaten von den Verantwortlichen im Zweifel eben
nicht als rechtsextrem qualifiziert werden? Was nützt die
Datei, wenn die Polizei in manchem Bundesland viel zu
lange braucht, um an Ort und Stelle zu sein? Was nützt
sie denn, wenn viele Betroffene in manchen Landstrichen gar nicht mehr zur Polizei gehen und sich nicht
trauen, Anzeige zu erstatten, wenn sie Opfer rechter Gewalt werden? Was nützt sie, wenn in vielen öffentlichen
Verwaltungen und öffentlichen Stellen noch nicht die
Sensibilität herrscht, zu wissen, dass man bei diesem
Problem ganz genau hinschauen muss? Was nützt sie,
wenn mancher Prozess gegen rechte Schläger und Kameradschaften unendlich lange dauert?
Das, was Sie heute vorlegen, ist wirklich nur ein erster, kleiner Schritt. Die Menschen in unserem Land verlangen viel, viel mehr. Wir tun gut daran, das gemeinsam
und schnell anzugehen; denn das Vertrauen der Menschen in staatliche Institutionen ist gerade durch die Geschehnisse rings um den NSU massiv nach unten gegangen.
Viele Schritte sind notwendig. Dazu gehört für uns
erst einmal die Erkenntnis, dass wir beides brauchen:
Prävention und Repression; wir dürfen beides niemals
gegeneinander ausspielen. Die Polizei kann eben nur
sehr wenig gegen rechtes Gedankengut und gegen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft tun, genauso wenig,
wie eine zivilgesellschaftliche Initiative etwas gegen
eine gewaltbereite Kameradschaft vor Ort tun kann.
Ich spreche das Gebot, Prävention und Repression
nicht gegeneinander auszuspielen, auch deshalb an, weil
in Ihrem Ministerium, Herr Friedrich, eine Instanz der
Prävention zu Hause ist, die ein bisschen an die Wand
gedrückt wurde. Sie wissen, wovon ich spreche: Ich
spreche von der Bundeszentrale für politische Bildung.
Sie haben die Mittel der Bundeszentrale gekürzt, auch
nachdem die Morde des NSU bekannt geworden sind.
Herr Friedrich, auch damit haben Sie Vertrauen verspielt.
({2})
Heute geht es aber vor allen Dingen um wirkungsvolle Repression. Sie ist wichtig; denn Neonazis sind für
sehr viele Menschen in unserem Land tatsächlich eine
Bedrohung. Wir von der SPD sagen: Wir brauchen eine
massive Sensibilität in der gesamten Gesellschaft und in
allen staatlichen Behörden für das Problem. Das tut not,
damit rechtsextreme Straftaten als solche erkannt werden und auch als solche erkannt werden wollen. Vor diesem Hintergrund muss ich persönlich meiner Erschütterung über den Kalender der DPolG in Bayern Ausdruck
verleihen. Hier ist noch einiges zu tun; dieser Kalender
hat nun wirklich jede Sensibilität vermissen lassen.
({3})
Wir, die SPD, haben mit dem Ziel, die Sensibilität zu
stärken, einen Antrag eingebracht, dass Hate Crime, also
Hasskriminalität, strafverstärkend wirken soll. Wir erhoffen uns davon auch, dass die Justiz so einen viel besseren Blick darauf hat, dass in unserem Land viele Straftaten aus Hass, aus niederen Beweggründen begangen
werden.
Wir brauchen, sehr geehrte Damen und Herren, aber
auch eine Debatte über die Statistik, über die eklatante
Lücke zwischen den Opferzahlen, die uns die Zivilgesellschaft präsentiert, und denen, die uns die Polizei prä19214
Daniela Kolbe ({4})
sentiert. Woher kommt diese Lücke, und wie kann sie
geschlossen werden? Das ist eine der großen Fragen dieser Stunde.
Wir brauchen aus meiner Sicht eine höhere Präsenz
der Polizei auf der Straße, gerade in den Bereichen, in
denen Neonazis aktiv und präsent sind. Von den Neonazis geht eine Gefahr aus; sie machen Menschen Angst.
Wir brauchen dies als Zeichen an die Betroffenen, dass
sie nicht alleine sind, und wir brauchen das Zeichen an
die Neonazis, dass ihr Treiben beobachtet wird und sie
keinen Platz in unserer Gesellschaft und auf unseren
Straßen haben.
({5})
Wir brauchen ein Verbot der NPD, auch wenn, Herr
Wolff, ganz klar ist, dass man rechtsextremes Gedankengut natürlich nicht mit verbieten kann. Dazu braucht es
dann wieder die breite Zivilgesellschaft.
Sie sehen: Viele Schritte sind nötig. Ich denke eigentlich, das sehen auch Sie so. Zudem gibt es dafür einen
breiten gesellschaftlichen Konsens. Also lassen Sie uns
das gemeinsam angehen. Das, was Sie heute vorlegen,
ist ein erster Schritt, allerdings ein „Babystep“, wie man
so schön sagt. Vor uns liegt aber ein Marathon.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Stefan Ruppert ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich die
Debatte heute Morgen, wie sie von SPD, CDU, Grünen
und FDP geführt wird, ausgesprochen sachlich und gut
finde, weil sich zeigt, dass nicht das reflexhafte Aufeinandereinschlagen, sondern durchaus das Ringen um
sachliche Positionen im Vordergrund steht. Leider muss
ich die Rede von Frau Jelpke an dieser Stelle ausnehmen, weil ich finde, dass das, was Sie hier gesagt haben,
leider viel zu wenig ist. Ihre eigene Präsidentschaftskandidatin hat - wenn man Zeugnisse lesen kann, weiß man
Bescheid - ein klares Urteil darüber gefällt. Ich zitiere
Beate Klarsfeld: Es ist löblich, dass die Linke sich bemüht. - Eine schlechtere Note im Zeugnisdeutsch gibt es
aus meiner Sicht nicht. Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, die Sie heute
Morgen hier abgeliefert haben.
({0})
Nun werden die repressiven Elemente von Herrn
Hartmann in den Vordergrund gestellt und die präventiven von anderen Rednern wie Herrn Wieland. Beide Elemente brauchen wir. Wer allerdings zu schnell alleine
auf Repression, strafrechtliche Härte und Verfolgung abstellt - diese sind sicherlich zwingend notwendig -, der
schwächt auf Dauer die Immunsysteme unserer Gesellschaft, weil wir uns dann zu sehr darauf verlassen, dass
allein der Staat, das Strafrecht und die Strafverfolgung
das Problem lösen werden. Das wird nicht gelingen. Wir
alle müssen jeden Tag den Kampf gegen Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft aufnehmen; sonst
werden wir keinen Erfolg haben.
({1})
Das damalige NPD-Verbotsverfahren war nichts anderes als die Flucht in eine symbolische Politik. Die
NPD ist eine zutiefst rechtsextreme Partei. Aber wer ein
Verfahren so betreibt, wie es im Wesentlichen damals
von Herrn Schily betrieben worden ist, und es dermaßen
schlecht vorbereitet, der schadet der Sache und hilft ihr
nicht. Deswegen ist ein erneutes NPD-Verbotsverfahren
- wenn überhaupt - gründlich zu überdenken und, wenn
es nötig ist, bestens vorzubereiten.
({2})
Man muss aber auch sagen, dass es hohe Transaktionskosten gibt, um einen Begriff aus der Ökonomie zu verwenden. Zur Vorbereitung eines solchen Verfahrens
müssen wir V-Leute abschalten und können den rechten
Terror weniger beobachten. Deswegen muss man sich
sehr gut überlegen, ob der Preis, der dafür zu zahlen ist,
im Einzelfall nicht zu hoch ist.
Deswegen werbe ich am Ende dafür: Lassen Sie uns
dem Reflex widerstehen, zu sehr auf die repressive, auf
die symbolische, auf die gesetzliche Ebene zu schauen.
Die infrage stehende Datei stellt einen guten und ausgewogenen Kompromiss dar. Lassen Sie uns vor allem den
Schmerz, den diese Attentate und dieser Terror ausgelöst
haben, noch etwas spüren, ihm noch etwas nachgehen
und ihn uns selbst als Anreiz dazu dienen, um jeden Tag
aufs Neue aufzustehen und gegen rechte Gewalt in
Deutschland vorzugehen, anstatt auf die Symbole der
Repression alleine zu setzen. Sie ist richtig und notwendig, aber kein Allheilmittel.
Vielen Dank.
({3})
Petra Pau ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über eine Verbunddatei für rechtsextreme Gewalttäter. Zur Begründung heißt es im Gesetzentwurf - ich
zitiere -: Sie soll die „bewährten Formen der Zusammenarbeit“ zwischen den Ämtern „sinnvoll … ergänzen“.
Es war heute schon die Rede davon: Auslöser für die
heutige Debatte ist eine jahrelange Nazimordserie mit
zehn Toten. Danach von einer bewährten Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in diesem Fall zu sprechen,
finde ich allerdings dreist und würdelos, auch gegenüber
den Hinterbliebenen.
({0})
Nachdem die Nazimordserie publik wurde, hat der
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich drei Schlussfolgerungen bzw. Maßnahmen angekündigt: erstens ein
Abwehrzentrum gegen rechten Terror, zweitens die besagte Verbunddatei für rechtsextremistische Gewalttäter
und drittens eine Sonderkommission, die sich mit den
Ermittlungspannen beschäftigen sollte.
Was Sonderkommissionen sollen, dürfen oder tun, ist
unklar. Eine Bund-Länder-Koordinierung gegen Rechtsterrorismus gab es schon einmal. Sie stellte im Jahre
2007 unverrichteter Dinge ihre Arbeit ein. Ebenso gab es
eine Spezialdatei für rechtsextreme Kameradschaften.
Sie wurde im Jahre 2010 gelöscht, und zwar so nachhaltig, dass sich der zuständige Staatssekretär im Dezember
letzten Jahres auf meine Nachfrage nicht einmal mehr an
die Existenz dieser Datei erinnern konnte.
Kurzum: Wir erfinden heute nicht den Stein der Weisen. Es geht zum Teil um alte Hüte, die zuvor abgelegt
wurden und nun lediglich aufpoliert werden. Die Verbunddatei soll vor allem Erkenntnisse der Kriminal- und
Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern bündeln. Dazu wird es eine Anhörung im Innenausschuss
geben. Dazu drei Anmerkungen von mir:
Erstens. Es heißt, das sei eine Täterdatei, keine Gewissensdatei. Der Gesetzentwurf schließt allerdings eine
Gesinnungsdatei nicht aus. Einem solchen Vorstoß wird
die Linke nicht zustimmen.
({1})
Zweitens. Wenn Sie den Gesetzentwurf lesen, dann
stellen Sie fest, dass die unsägliche V-Leute-Praxis im
rechtsextremen Milieu durch Sonderregelungen fortgeschrieben wird. Das wäre für die Linke nicht hinnehmbar.
({2})
Drittens. Lapidar wird im Text mitgeteilt, dass verbriefte Grundrechte eingeschränkt werden. Auch das ist
so nicht akzeptabel.
({3})
Der Entwurf, um den es hier geht, trägt den Titel „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus“. Ich halte das ein wenig für anmaßend - andere
haben schon darauf hingewiesen -, denn es ist nur diese
Datei, die tatsächlich Bestandteil des Gesetzes ist.
({4})
Kollege Hartmann hat es bereits gesagt: Es fehlt ein Gesamtkonzept, gerade auch was die Prävention im Kampf
gegen Rechtsextremismus angeht. Das ist das eigentliche Problem. Nun erwarte ich nicht - das ist auch nicht
Ihre Aufgabe -, dass das Bundesinnenministerium ein
Gesamtkonzept vorstellt. Allerdings erwarte ich es auch
nicht vom Familienministerium, das nach der Geschäftsverteilung der Bundesregierung eigenartigerweise zuständig ist. Meines Wissens gab es nach der unglaublichen Nazimordserie von der Bundesfamilienministerin
zwei Reaktionen: Erstens sei sie für Prävention und nicht
für Morde zuständig - das ist richtig -, und zweitens
werde ein Kompetenz- und Informationszentrum geschaffen; dieses Zentrum solle wertvolle Erfahrungen,
auch pädagogische, im Umgang mit Rechtsextremen
sammeln und verbreiten.
({5})
Inzwischen konnten wir lesen, was als pädagogisch
wertvoll gilt. So sollten in Dortmund 30 militante Neonazis mit 30 demokratischen Jugendlichen plaudern, um
die Nazis vom rechten Weg abzubringen. Von derselben
pädagogischen Güte waren übrigens geplante Ausflüge
junger Kölner CDU-Mitglieder nach Berlin-Kreuzberg.
Sie sollten sich besetzte Häuser ansehen, um der linken
Gefahr ins Auge zu schauen.
({6})
Das alles wurde gefördert mit Geldern aus dem Bundesfamilienministerium. Wer von diesem Thema Ahnung
hat, der ist fassungslos.
({7})
Wir können weiter über das Für und Wider von Verbunddateien streiten und werden das auch tun. Aber das
eigentliche Manko besteht darin, dass ein gesamtgesellschaftliches Konzept für gemeinsames Handeln fehlt.
Dieser Bereich liegt weiterhin brach. Überhaupt: Solange Rechtsextremisten verharmlost und Antifaschisten
misstrauisch beäugt werden, ist etwas faul. Dieser Angelegenheit sollten wir uns gemeinsam zuwenden.
({8})
Konstantin von Notz ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Mordtaten
der Zwickauer Zelle geben sehr ernsten Anlass, zu prüfen, ob wir wirklich alles getan haben, um die schrecklichen Taten zu verhindern bzw. rechtzeitig aufzuklären.
Wir wissen bis heute nicht, was exakt in den Sicherheitsbehörden schiefgelaufen ist. Deswegen haben wir ge19216
meinsam einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Dessen Aufklärungsarbeit ist von
ganz entscheidender Bedeutung für das Zurückgewinnen
von Vertrauen in den Bevölkerungsgruppen, in denen
dieses Vertrauen ernsthaft erschüttert ist.
({0})
Weil wir bis heute mehr Fragen als Antworten haben,
ist es schwierig, bereits jetzt, noch vor Abschluss dieser
wichtigen Arbeit, ein Gesetz zu verabschieden, mit dem
letztlich Fakten geschaffen werden. Es gibt weitere
Gründe, abzuwarten: Mit dem Antiterrordateigesetz der
schwarz-roten Koalition liegt die Grundkonzeption dieses Gesetzentwurfs derzeit dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Mit dem Urteil kann und muss
jederzeit gerechnet werden. Außerdem findet derzeit
eine Evaluation dieser Antiterrordatei statt. Es wäre also
angezeigt, auf das Ergebnis der Evaluation und das Urteil zu warten, bevor man ein weiteres, ganz ähnliches
grundrechtsrelevantes Gesetzeswerk auf den Weg bringt.
({1})
Bei dem Skandal bezüglich des Versagens der Sicherheitsbehörden im Fall der Zwickauer Zelle stehen heute
nicht deren angeblich unzulängliche Instrumente im Vordergrund, sondern es geht bislang vor allem um falsche
Einschätzungen, um Kompetenzwirrwarr und um Informationseitelkeiten. Der Fall des mutmaßlichen Mittäters
Holger G. wirft ein schräges Licht auf genau diese Problematik. Der niedersächsische Verfassungsschutz erhielt einen Hinweis der Kollegen aus Thüringen. Der unter Verdacht stehende Holger G. sollte observiert werden.
Die Observation wurde nach zwei Tagen eingestellt. Als
das Ende der Speicherprüffrist erreicht war, löschte man
den Vorgang einfach, und das entgegen den gesetzlichen
Bestimmungen und trotz Terrorismusverdacht. Daraus
kann man nur lernen: Wenn die vorgeschalteten kriminalistischen Bewertungen nicht stimmen, wenn die bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt werden, wenn sogar
gegen gesetzliche Regelungen verstoßen wird, dann
helfen auch alle technischen Instrumente der Welt nicht.
({2})
Reflexhaft sind wir in eine Verschärfungsdebatte eingestiegen. Herr Bosbach, obwohl ich Ihre Rede insgesamt erfreulich fand - ich meine insbesondere den
Schulterschluss -, finde ich es einfach unsäglich, an
dieser Stelle wieder die Vorratsdatenspeicherung zu
fordern.
({3})
Wir diskutieren darüber in einer Situation, in der selbst
Gutgläubige den Eindruck haben könnten, bestehende
Instrumente würden maßlos und unverhältnismäßig genutzt. Massenhafte Funkzellenabfragen in Berlin und
Dresden, gigantische Zahlen bei der automatischen Erfassung von E-Mails durch die Dienste und der geradezu
naive Einsatz von kommerzieller Trojanersoftware
durch Bundesbehörden,
({4})
das ist der Hintergrund dieser Debatte, Herr Kollege, in
der wir hier über die nächste Befugniserweiterung zugunsten der Sicherheitsbehörden diskutieren.
Wir Grüne konzedieren, dass bemerkenswerte
Schritte für mehr Datenschutz bei der Schaffung der
Datei gemacht wurden. Vor allem die verbesserten Verfahrensrechte - das wurde hier bereits angesprochen weisen in die richtige Richtung. Auf dem Verfahrensweg
können aber nicht die Fehler kompensiert werden, die
bei der Grundkonstruktion gemacht wurden. Deshalb
kritisieren wir die nicht eindeutige Aufzählung der
zugriffsberechtigten Behörden als einen Verstoß gegen
den Bestimmtheitsgrundsatz und die unzureichend eingehegte Erfassung von Kontaktpersonen. Diese Verbunddatei greift in das Trennungsgebot und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein.
({5})
Sie bewegt sich im Vorfeld eines konkreten Verdachts
und konkreter Gefahren und damit potenziell außerhalb
dessen, was derzeit rechtsstaatlich solide einhegbar
erscheint.
Solche Dateien sind nicht grundsätzlich unzulässig,
({6})
aber sie müssen eine Ausnahme bleiben, und ihr Umfang
ist zu beschränken; denn sie ebnen tendenziell die verfassungsrechtlich abgesicherten Unterschiede zwischen
operativer Polizeiarbeit und geheimdienstlicher Informationstätigkeit ein. Deswegen sage ich bei allem Problembewusstsein angesichts der schrecklichen Morde: Diese
Dateien müssen die äußerste Ausnahme sein, und wir
müssen sie aufs Strengste beschränken.
({7})
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Es ist richtig: Unser vordringlichstes Ziel muss es
sein, dass es keine weiteren Toten gibt. Wir müssen uns
dabei aber - das haben Sie, Herr Innenminister, völlig zu
Recht gesagt - im Rahmen unserer Verfassung bewegen.
Deswegen fordere ich uns alle auf, diese Maßgaben zur
Grundlage unserer Diskussion zu machen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Peter Uhl für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Zehn Jahre lang zehn Morde, von ein und derselben Gruppe begangen, nicht aufgeklärt zu haben,
macht geneigt, diesen Umstand als Skandal zu bezeichnen. Ich möchte so weit nicht gehen. Aber ich gebe zu
bedenken, ob man über die föderale Struktur, die wohl
Ursache der Angelegenheit ist, im Bereich der Sicherheitsbehörden verstärkt nachdenken sollte.
({0})
Der Föderalismus, zu dem wir uns alle bekennen, hat
eben auch seine Schwächen. Bei diesem Sachverhalt
werden die Schwächen überdeutlich. Wir werden im
Laufe der weiteren Ermittlungen darauf einzugehen haben. Es ist gut, dass es einen Untersuchungsausschuss in
Thüringen und einen Untersuchungsausschuss in Sachsen gibt
({1})
- wir werden ihn bald haben - und dass wir bereits einen
auf Bundesebene eingesetzt haben. Ich halte es auch für
richtig, dass die Expertenkommission von Bund und
Ländern ihre Arbeit aufnimmt. Dies alles trägt dazu bei,
den ungeheuerlichen Vorwurf - den dürfen wir auf keinen Fall stehen lassen - aus der Welt zu schaffen, dass
der deutsche Staat auf dem rechten Auge blind sei. Das
darf es nicht geben.
({2})
Wir haben jetzt ein gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum gegen rechtsextreme gewaltbereite Kräfte eingerichtet. Das war richtig so. Es ist dem Bundesinnenminister zu danken, dass so unverzüglich gehandelt
wurde. Wir beraten heute in erster Lesung über den in
großer Eile und in Abstimmung mit den Ländern erarbeiteten Gesetzentwurf, der vorsieht, für gewaltbereite
Rechtsextremisten eine gemeinsame, standardisierte
zentrale Datei zu schaffen, in die alle Behörden ihre Erkenntnisse eingeben müssen. Das ist der entscheidende
Punkt: Sie müssen sie eingeben. Was heißt „alle Behörden“? Man muss sich das einmal vorstellen: 16 Landeskriminalämter, 16 Landesämter für Verfassungsschutz,
das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das sind schon 35 Behörden.
Dass da enorme Zentrifugalkräfte wirken, kann man sich
gut vorstellen. Dass das nicht auf Zusammenarbeit angelegt ist, sondern dass das auseinanderstrebt, liegt in der
Natur der Sache und ist der Preis des Föderalismus. Dieses Defizit muss beseitigt werden. Deswegen ist es richtig, diese Datei zu schaffen.
Ich halte es auch für richtig, dass die Datei bis Ende
Januar 2016 befristet ist und dass vor Ablauf dieser Frist
evaluiert wird, um gegebenenfalls nachzubessern, an
kleinen Schrauben zu drehen und noch einmal Erfahrungen zu sammeln, auch im Umgang mit der bereits bestehenden Datei gegen Linksextremismus. Das kann man
so machen.
Das ganze Thema ist - das zeigt auch die heutige Debatte - zwischen den Parteien eigentlich nicht strittig.
Vielmehr besteht der Konflikt im Verhältnis des Bundes
zu den Ländern. Wenn wir den Dingen auf den Grund
gehen, werden wir möglicherweise Defizite in Thüringen und Sachsen aus der Zeit von vor zehn Jahren und
Versäumnisse, die keinem zuzurechnen sind, in den darauffolgenden Jahren in anderen Bundesländern feststellen. Das sind die Zusammenhänge. Das heißt, hier geht
es nicht um SPD- oder unionsgeführte Landesregierungen, sondern darum, dass das Zusammenspiel der Sicherheitsbehörden nicht funktioniert hat. Deswegen
glaube ich, dass es sehr wichtig ist, Konsens mit den
Ländern herzustellen. Morgen wird sich auch das Plenum des Bundesrats mit der Schaffung dieser Datei befassen. Dazu gibt es eine Reihe von Änderungsvorschlägen. Frau Justizministerin, diese sollten wir ernsthaft
prüfen, weil sie zum Teil zum Ziel haben, Korrekturen,
die Sie an dieser Datei vorgenommen haben, in eine andere Richtung nachzubessern.
({3})
- Ich vertraue auf den Sachverstand der Praktiker bei
solchen Dingen.
({4})
Ich glaube nicht, dass wir bezüglich solcher Dateien den
höchsten Sachverstand hier in diesem Hause haben. Wir
müssen die Praktiker aus den Landessicherheitsbehörden
sehr ernstnehmen, wenn sie sagen, dass wir dieses oder
jenes Werkzeug - diese müssen dann natürlich auf ihre
Rechtmäßigkeit, zum Beispiel im Hinblick auf Datenschutzgesetze, überprüft werden - brauchen. Ich möchte
hier jedenfalls keinen Konflikt zwischen Bund und Ländern.
({5})
Die Länder fordern für den Kampf gegen Rechtsextremismus eine erweiterte Datennutzung, und zwar
generell und ganzjährig, nicht nur beschränkt auf befristete Projekte. Die infrage stehende Datei wird vom Bundeskriminalamt geführt. Ein großer Teil der Kosten wird
vom Bund übernommen, ein kleinerer Teil von den Ländern. In neun Monaten wird die Datei funktionsfähig
sein. Das ist gut so.
Wir haben jetzt das Terrorabwehrzentrum gegen
Rechtsextremismus, die Rechtsextremismusdatei, einen
entsprechenden Untersuchungsausschuss und die BundLänder-Expertenkommission. Dies sind vier sehr ernstzunehmende und gute Reaktionen auf den Umstand,
dass man über zehn Jahre zehn Morde nicht aufgeklärt
hat.
Zu dem Ruf nach einem NPD-Verbot hat Kollege
Bosbach eigentlich schon das Nötige gesagt. Der Ruf
nach einem NPD-Verbot ist verständlich. Ein solches
Verfahren ist aber nicht - das hat bereits Kollege
Ruppert gesagt - der allein selig machende Weg. Ich
glaube eher, dass wir uns - das ist eine zutiefst demokratische Einstellung - mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass die Gedanken frei sind,
({6})
leider auch rechtsextreme Gedanken, und dass Menschen, die solche Gedanken haben, auch in Zukunft frei
herumlaufen können; das ist leider so. Ich glaube, dass
es hohe Hürden zu überwinden gilt, bevor wir als Verfassungsorgan, aber letztlich auch als Parteipolitiker einen
Antrag auf Verbot einer konkurrierenden Partei stellen.
Die Hürden sind vom Gericht sehr hoch angesetzt.
Ich glaube, dass der Kampf gegen rechtsextremes Gedankengut sehr viel wichtiger als ein NPD-Verbot ist. In
der gesamten Gesellschaft müssen wir den Kampf gegen
Ausländerfeindlichkeit, den Kampf gegen Antisemitismus, den Kampf gegen Rassismus und den Kampf gegen
antidemokratisches Führerdenken ohne Unterlass sehr
ernsthaft führen; denn das alles ist Neonazi-Denken und
muss von der ganzen Gesellschaft geächtet werden. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Das ist das Allerwichtigste.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kirsten Lühmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Sehr geehrte Anwesende! NADIS, INPOL,
POLAS und AFIS - das sind nur einige von Dutzenden
von Dateien, die der Polizei bei ihrer Arbeit zur Verfügung stehen. Da stellt sich natürlich die Frage: Brauchen
wir wirklich noch eine Datei, zumal wir schon Dateien
haben, in denen Daten zu Gewalttätern gespeichert werden, zum Beispiel die Dateien „Gewalttäter Sport“, „Gewalttäter Links“, „Gewalttäter Rechts“, und das schon
seit Jahren?
Wenn eine Bande über zehn Jahre lang mordend
durch Deutschland zieht, wenn sie unerkannt Unterstützergruppen hat, wenn sie Fahrzeuge und Wohnungen beliebig wechseln kann, dann muss sich in unserer Sicherheitsstruktur etwas ändern.
({0})
Die Probleme, die durch den fehlenden Informationsfluss bei einzelnen Behörden über Ländergrenzen hinweg, ja sogar innerhalb einiger Länder aufgetaucht sind,
werden zurzeit von einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet. Eines ist aber schon jetzt klar: Um zu erkennen, wann aus einem Rechtsextremen ein Rechtsterrorist
wird, brauchen wir ein neues Instrument.
Ein Beispiel gibt es schon: die sogenannte Antiterrordatei. In ihr werden nicht nur Namen, sondern auch Daten zu Kontaktpersonen, Handys, Wohnungen und Fahrzeugen gespeichert. Eine solche Verbunddatei soll jetzt
auch im Hinblick auf den Rechtsterrorismus geschaffen
werden, allerdings nicht als Kopie der Antiterrordatei
- dann brauchten wir sie nur zu erweitern -, sondern als
eine Datei, die auf die besonderen Verhältnisse des
Rechtsterrorismus zugeschnitten ist.
Ein Problem haben beide Gesetze: Auch wenn die
Verbunddateien nur eine gemeinsame Infoquelle sind,
weichen sie die strikte Trennung zwischen Polizei und
Geheimdiensten immer weiter auf. Beide, Polizei und
Geheimdienste, sollen Daten einstellen. Beide, Polizei
und Geheimdienste, können auf diese Daten zugreifen.
So kann die Polizei auch Informationen erlangen, die mit
geheimdienstlichen Mitteln beschafft wurden. Genau
dies wird aufgrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime des Dritten Reiches als
problematisch angesehen. Im Gesetzentwurf sind dazu
Sicherungen vorgesehen. So kann die Polizei nicht ungehemmt auf alle Informationen zugreifen. Die einstellenden Behörden entscheiden über die Weitergabe einzelner
Daten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob das
wirklich ausreicht, wissen wir noch nicht, zumal die Antiterrordatei zurzeit gerichtlich überprüft wird. Bei dieser
Überprüfung geht es um die Frage, ob das Trennungsgebot eingehalten wird oder ob die Regelungen gegen das
Grundgesetz verstoßen. Ich hoffe, das Urteil kommt so
rechtzeitig, dass wir die Ergebnisse bei den Beratungen
über den uns vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigen können. Denn es wäre ein fatales Signal, wenn uns
diese neue Waffe im Kampf gegen den Rechtsextremismus vom Bundesverfassungsgericht gleich wieder weggenommen werden würde. Das darf nicht passieren.
({1})
- Danke schön, Herr Kollege.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich habe noch ein
paar praktische Fragen. Im vorliegenden Gesetzentwurf
steht, dass die beteiligten Behörden sogenannte erweiterte Speicherungen ganz unterlassen können, wenn besondere Geheimhaltungsinteressen dies ausnahmsweise
erfordern. Dabei sind es genau diese erweiterten Daten
- etwa Adressen für elektronische Post, genutzte Handys
oder Fahrzeuge -, die für die Ermittlungsbehörden eminent wichtig sind. Das sind genau die Daten, die bei den
Ermittlungen im Hinblick auf die Rechtsterroristen hilfreich gewesen wären. Von einigen Behörden wurden sie
aber mit Hinweis auf ebendiese besonderen Geheimhaltungsinteressen nicht weitergegeben. Das Problem, das
wir mit diesem Gesetz beseitigen wollen, wird also mit
diesem Gesetz festgeschrieben. Das ist widersinnig.
({2})
Durch unbestimmte Rechtsbegriffe wie „besonderes Geheimhaltungsinteresse“ oder „besonders schutzwürdige
Interessen“ werden Ausschlusstatbestände geschaffen,
die auf jeden Fall angewendet werden können. In der
Anhörung zu diesem Gesetzentwurf sollten wir deshalb
besonderes Augenmerk darauf richten, dass hier die GeKirsten Lühmann
fahr droht, dass Wissenslücken entstehen, wo keine Wissenslücken sein dürfen.
Dass den berechtigten Anliegen einiger Behörden
Rechnung getragen wird, zeigt die Möglichkeit der verdeckten Speicherung. Dabei muss jede verweigerte Datenweitergabe mit der Begründung, warum die Daten
nicht weitergegeben wurden, gespeichert werden. So
kann auch noch nach Monaten nachvollzogen werden,
ob Daten rechtmäßig weitergegeben wurden oder auch
nicht weitergegeben wurden. Bei einer nicht erfolgten
Speicherung ist dies nicht möglich. Die Behörde, die
mauert, bleibt im Dunkeln und muss sich nicht erklären.
Das kann nicht unser Ziel sein.
Insgesamt sehe ich nicht so sehr die Gefahr der ungehemmten Sammelwut. Dazu sind die Kriterien zu eng
gefasst. Sie sind so eng gefasst, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dass sich sogar die Bundesländer unisono fragen, ob wirklich nur gewaltbezogene Extremisten oder nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht
auch gewaltbereite Extremisten in unseren Fokus rücken
sollten. Ich finde, dass es sich lohnt, auch diese Frage in
der Anhörung näher zu beleuchten.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir sind am Anfang der parlamentarischen Beratungen. Ausgehend von
dem Expertenwissen, das wir in der Anhörung erlangen
werden, sollten wir gemeinsam darauf hinwirken, dass
das Gesetz auf einer gesicherten rechtsstaatlichen
Grundlage steht und in der Praxis ein effektives und effizientes Instrument im Kampf gegen den Rechtsextremismus werden wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Niemand - das haben viele heute hier schon gesagt hätte es für möglich gehalten, dass Rechtsextremisten
- viele haben sie als rechtsextremistische Bande,
Nazimörder oder ähnlich bezeichnet - durch Deutschland ziehen und zehn Morde begehen, und niemand von
uns hätte es für möglich gehalten, dass das nicht vorher
bekannt wurde.
Aber ganz ehrlich, liebe Kollegin Jelpke: Der Skandal
ist das, was passiert ist, und nicht das, was wir heute hier
tun und besprechen. Ich habe während Ihrer Rede versucht - ich glaube, das kann niemand wirklich schaffen -,
mich in die Angehörigen der Opfer zu versetzen. Ich
glaube, Sie haben an deren Interessen wirklich völlig
vorbeigeredet; denn es geht darum, aus dem, was passiert ist, Lehren zu ziehen, und es geht nicht darum, die
Angehörigen der Opfer zu verhöhnen. Es geht nicht um
die Verharmlosung von Gewalt, sondern es geht um die
Bekämpfung von Gewalt. Ich glaube, hier haben Sie sich
wirklich im Ton vergriffen.
({0})
Rechte Gewalt, Gewalt aufgrund widerwärtiger, menschenverachtender Ideologien, muss selbstverständlich
mit aller Kraft bekämpft werden. Es ist gut, wenn wir
alle uns darüber einig sind. Nein, Herr Kollege
Hartmann, ich glaube, niemand von uns hier im Deutschen Bundestag hat sich an Rechtsextremismus gewöhnt.
Ich glaube, es ist - wenn man das so sagen darf richtig und gut, dass niemand von der NPD hier im
Deutschen Bundestag vertreten ist. Wir alle gemeinsam
sollten es als Aufgabe sehen, dass das auch so bleibt anders als in dem einen oder anderen Landtag. Herr Kollege Hartmann, ein NPD-Vertreter in einem Landtag ist
kein Biedermann, sondern bleibt offen NPD-Vertreter.
Ich bin mir nicht sicher, was Max Frisch zu Ihrem Vergleich gesagt hätte. Für mich jedenfalls kann jemand, der
der NPD angehört, auch in einem Landtag niemals als
Biedermann bezeichnet werden.
({1})
Unser Ziel als Demokraten muss sein, dafür zu sorgen,
dass niemand mit rechtsextremistischem Gedankengut in
den Bundestag oder in ein Landesparlament einzieht.
({2})
Wir bekämpfen Rechtsextremismus, aber auch Extremismus jeder Art; auch das muss hier einmal gesagt werden. Das ist die Aufgabe aller demokratischen Parteien.
Dafür - das ist schon gesagt worden - reicht eine einfache Datei oder auch ein NPD-Verbotsverfahren reloaded,
wie das heute heißt, nicht aus. Wir dürfen uns nichts vormachen: Ein Verfahren, das scheitert - eines ist schon
gescheitert -,
({3})
kann sich diese Demokratie nicht leisten. Es darf nicht
nur Verbotsverfahren geben, sondern die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit rechtsextremistischer Ideologie muss fortgeführt werden. Das ist unsere Aufgabe.
Ich glaube, wir alle hier wissen: Es gibt keine einfachen Lösungen - nicht für die Auseinandersetzung mit
rechten Parteien und auch nicht für die Verfolgung
rechtsextremistischer Straftäter. Es wäre falsch, zu glauben, dass mit dem Gesetzentwurf, über den wir heute
hier diskutieren, alles gemacht worden ist.
Wir haben gelernt, dass die Ermittlungsbehörden
nicht in die richtige Richtung gearbeitet haben. Aus welchen Gründen dies nicht geschah, arbeiten der Untersuchungsausschuss, die Regierungskommission von Bund
und Ländern und nicht zuletzt auch - sehr erfolgreich der Generalbundesanwalt gerade auf.
Man muss sich aber auch die Frage stellen, ob diese
Morde der richtige Anlass dafür sind, hier noch einmal
über die Vorratsdatenspeicherung zu sprechen.
({4})
- Nicht nur zu denen, zu Ihnen genauso. Das ist doch
Ihre Auffassung.
({5})
Ich wäre hier einmal ganz vorsichtig, Herr Kollege
Hartmann. Ich glaube, Sie und nicht wir haben das gemacht. - Dass ein Trio, das telefonisch überwacht
wurde, ein Argument für die Vorratsdatenspeicherung
ist, kann meine Fraktion nicht zwingend erkennen.
Wir können nur noch einmal appellieren: Mit dem,
was wir vorgeschlagen haben und was die Justizministerin vorgelegt hat, dem Quick-freeze-Verfahren, hätten
wir jetzt die Möglichkeit, hier mehr zu tun, als wir jetzt
tun können. Von daher, meine Kollegen von der Union:
Wir wären weiter, wenn Sie mit uns darüber sprechen
würden.
({6})
Sie wissen - das ist kein Geheimnis -, dass meine
Fraktion Dateien immer kritisch beäugt. Das war bei der
Antiterrordatei schon so, und das gilt auch hier.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir das tun müssen, was nötig ist, um Rechtsextremismus zu bekämpfen. Aber für Liberale kann es auch keinen Zweifel daran geben, dass wir unsere Demokratie und unsere
Grundrechte nur dann auch gegen Neonazis verteidigen
können, wenn wir die Verfassung und die sich daraus ergebenden Grenzen beachten.
Deshalb ist es gut, dass tatsächliche Anhaltspunkte
darüber entscheiden, wer in die neue Datei aufgenommen wird. Eine Datei, bei der die vermutete Gesinnung
ausreichte, um ins Visier der Sicherheitsbehörden zu geraten, wäre aus unserer Sicht nicht mit unserem Rechtsstaat vereinbar. Der verfehlten Ideologie der Rechten zu
begegnen, ist Aufgabe der politischen und gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung. Den tatsächlichen Gefahren zu begegnen, ist Aufgabe der Sicherheitsbehörden.
Zudem - das ist schon von dem einen oder anderen
gesagt worden - gilt bei keiner Datei das Motto „Viel
hilft viel“. Das ist in der letzten Zeit deutlich geworden.
({7})
Auch ist richtig, dass die Datei nicht als Volltextdatei,
sondern als erweiterte Indexdatei angelegt ist. Polizei
und Nachrichtendienste haben unterschiedliche Aufgaben. Das ist mehrfach gesagt worden und dem schließe
ich mich an. Es ist und bleibt ein gutes Prinzip in unserem Rechtsstaat, dass wer alles darf, nicht alles weiß und
wer alles weiß, nicht alles darf. Dafür wird sich die FDP
auch in Zukunft immer einsetzen.
({8})
So gesehen ist es spannend, Herr Kollege Hartmann,
wenn Sie in Ihrer Rede die Regierung dafür kritisieren,
dass wir um diese Prinzipien ringen, aber die Kollegin
Lühmann als dritte Rednerin Ihrer Fraktion selbstverständlich diese Prinzipien vorträgt. Von daher danke ich
Ihnen, Frau Kollegin Lühmann. Vielleicht können Sie
auch den Kollegen Hartmann auf den richtigen Weg
bringen.
({9})
Aus unserer Sicht ist es auch zu begrüßen, dass es bei
den bisherigen Speicherfristen im Verfassungsschutzgesetz bleibt. Wir haben die Verlängerung der Speicherfristen nach dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz nach gründlicher Prüfung nicht mehr für nötig
gehalten. Es wäre widersinnig, jetzt anders zu handeln.
Es ist auch gut, dass wir uns selbst den Auftrag geben,
die Wirksamkeit des Gesetzes zu überprüfen. Denn auch
bei einem hehren Ziel oder vielmehr gerade dann dürfen
wir nicht dem Glauben verfallen, uns nicht mehr selbst
hinterfragen zu müssen.
Interessant ist aber auch, dass die Länder im Bundesrat sehr viel weiter gehen wollen. Ich bin sehr gespannt,
was die mitregierenden Kollegen der SPD und der Linken, die noch viel weiter gehen wollen, morgen in der
Länderkammer tun werden.
({10})
Ich habe die Ahnung, dass wir dort von ihnen nicht viel
hören werden.
Eine gemeinsame Datei kann nur so gut sein wie die,
die sie gemeinsam nutzen, dies ermöglichen. Daran sollten wir arbeiten. Uns ist klar: Kein Gesetzentwurf verlässt dieses Haus so, wie er hineingeht. Wichtig ist, dass
ein Gesetz die rechtsstaatlichen Grundsätze widerspiegelt. Dafür werden wir sorgen.
Vielen Dank.
({11})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das Thema
der heutigen Debatte. Kollege Wieland hat gesagt, die
Datei könne dazu nicht alles sein. Das ist völlig richtig.
Aber diese Datei ist ein wichtiger Schritt. Sie ist ein
wichtiger Baustein.
Dabei dürfen wir nicht vergessen: Es bleibt unsere
Gesamtverantwortung, und es bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, im Kampf gegen den Rechtsextremismus alles zu tun, damit sich solche Taten nicht wiederholen und solche Strukturen nicht verfestigen können
und wir eine wehrhafte Demokratie bleiben.
({0})
Bei dem Teilbaustein, den wir heute beraten, geht es
um Fragen des Informationsaustausches. Als im November 2011 die schreckliche Mordserie bekannt wurde
- zehn Morde, zwei Sprengstoffattentate; hinzu kamen
mehrere Banküberfälle -, stellte sich die Frage: Wie
konnte das sein, ohne dass es jemand gemerkt hat?
Ich will uns allen den Spiegel noch etwas stärker vorhalten. Das Terrortrio wurde am 4. November 2011 entdeckt. Am 5. November waren die Täter identifiziert.
Man wusste, dass dieses Trio für den Mord an der Polizistin in Heilbronn verantwortlich war, weil man die
Dienstwaffen gefunden hatte - mehr nicht. Niemand
- nicht einmal dort - kam auf die Idee, zu fragen, ob das
nicht auch die Täter bei den neun Morden an unseren
ausländischen Mitbürgern gewesen sein könnten - am
5. November nicht, am 6. nicht und am 7. nicht. Niemand von uns, niemand von den Journalisten, niemand
bei den Sicherheitsbehörden - niemand hat diese These
aufgestellt. Erst als man die Ceska gefunden hatte, war
klar, dass es sich um sehr viel mehr handelt, nämlich um
eine schreckliche Mordserie.
Es muss uns noch viel mehr zu denken geben, was Informationsaustausch und Informationsbewertung betrifft, dass wir, selbst als die Täter erkannt waren, nicht
von alleine auf diese Spur gekommen sind. Deshalb
glaube ich, dass dem sehr technischen Begriff des Informationsaustauschs zwischen Sicherheitsbehörden eine
viel größere Bedeutung beigemessen werden muss, als
wir vielleicht annehmen.
Es geht im Kern um folgende Frage: Wie gehen wir in
unserem Rechtsstaat mit dem Wissen um, das Sicherheitsbehörden über rechtsextremistische Gewalttäter
oder gewaltbereite Personen haben? Die Antwort kann
nicht sein, dass wir das Wissen voreinander abschotten,
auf möglichst viele Stellen verteilen, dass keiner mit
dem anderen redet, Informationen nur im Ausnahmefall
ausgetauscht werden und man sich hinterher wundert,
wie so etwas geschehen konnte. Das wäre die falsche
Antwort.
({1})
Wenn wir das als Maßstab anerkennen, dann ist diese
Datei der richtige Ansatz. Dafür müssen wir auch nicht
auf die Ergebnisse der Untersuchungsarbeit unserer Ausschüsse, die sehr viel tiefer geht, warten. Diese Datei
können wir schon heute auf den Weg bringen.
Sie ist notwendig, weil sich in Deutschland 36 unterschiedliche Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern
mit Rechtsextremismus befassen. Es ist ganz entscheidend, den Informationsaustausch so zu organisieren,
dass keine Information verloren geht. Diese Datei wird
eines erreichen: Sie wird der Rahmen sein, innerhalb
dessen aus verschiedenen Informationsbruchstücken ein
aussagekräftiges Bild entsteht.
Dazu werden verschiedene Dinge gespeichert, und
zwar von Polizei und Verfassungsschutz. An die Adresse
der Grünen: Wenn Sie es ernst meinen, wenn wir alle es
ernst meinen mit der Aussage, dass sich so etwas nicht
wiederholen darf und wir im Kampf gegen Rechtsextremismus wehrhafter sein müssen, dann müssen wir an
dieser Stelle konkret werden. Wir als Union - in der
Großen Koalition gemeinsam mit der SPD - haben in
der Vergangenheit schon immer gesagt: Der Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz
verstößt nicht gegen das Trennungsverbot. Er ist notwendig, um eine Aufgabe sachgerecht zu erfüllen.
({2})
An dieser Stelle werden Sie Ihre Position korrigieren
müssen. Das wage ich vorauszusagen. Alles andere
würde nicht funktionieren.
({3})
- Der Kollege Ströbele ist verzweifelt. Ich würde die
Frage zulassen, wenn der Präsident sie zulässt.
Gut, dann sind wir uns insofern einig.
({0})
Bitte, Herr Kollege Ströbele.
Danke, Herr Präsident. - Danke auch, Herr Kollege.
Sie sprechen zutreffend an, dass in der Öffentlichkeit immer wieder der Eindruck erweckt wird, dass die Sicherheitsbehörden bei uns in Deutschland so voneinander abgeschottet sind, dass die einen Informationen zum
Beispiel über Rechtsextremismus, über Gewalttaten,
über Straftaten und Ähnliches haben, die sie den anderen
nicht mitteilen. Das sei - so wird das in der Öffentlichkeit manchmal dargestellt - verboten.
Geben Sie mir recht, dass dies entgegen der Auffassung in der Bevölkerung und entgegen anderslautenden
Medienberichten gar nicht so ist? Können Sie bestätigen,
dass die Gesetzeslage so ist, dass etwa die Verfassungsschutzämter Informationen sehr wohl weitergeben können und eigentlich auch weitergeben sollten, wenn dies
zur Aufklärung oder sogar Verhinderung von Straftaten
dienen kann, dass sie das aber in der Vergangenheit ver19222
mutlich - in einigen Fällen offensichtlich - nicht getan
haben?
Die Verfassungsschutzämter handeln typischerweise
so, dass sie ihre Informationen für sich behalten und
nicht weitergeben wollen, etwa weil sie ihre Informanten
schützen wollen oder meinen, ihr Wissen sei zu wichtig
für eine Weitergabe an die Vollzugsbehörden. Stimmen
Sie mir darin zu, dass da der Fehler liegt, dass es da ein
falsches Denken gibt? Man konnte Informationen nach
dem Gesetz schon immer weitergeben, hat es aber nicht
getan.
({0})
Herr Kollege Ströbele, es ist unbestritten, dass im
Einzelfall ein Austausch von Informationen zwischen
dem Verfassungsschutz und der Polizei oder innerhalb
des Verfassungsschutzverbundes möglich war.
({0})
Aber das war - das war die Erlass- und Gesetzeslage immer an sehr hohe Hürden gekoppelt. Es war der Landesbehörde überlassen, zu entscheiden, ob eine Information für den Bund oder eine der anderen 15 Landesbehörden relevant sein könnte. Wenn diese Behörde
entschieden hat, die Information nicht weiterzugeben,
weil sie als banal erachtet wurde, dann wurde sie nicht
weitergegeben. Die Fristen zur Speicherung solcher Informationen waren im Übrigen sehr kurz. Ich will daran
erinnern: Die Daten des Terrortrios mussten nach fünf
Jahren gelöscht werden. Das Trio war ab 2003 nicht
mehr auf dem amtlichen Radarschirm. Die Daten waren
in keiner einzigen Datei mehr gespeichert.
Es kann uns doch nicht ruhig lassen, wenn wir eine
Konstruktion haben, bei der solche Informationen verloren gehen. Die jetzt vorgesehene Datei hat ein verpflichtendes, automatisiertes Element und stellt damit sicher,
dass die Mosaiksteine, die vielleicht im Land X keine
Bedeutung haben, dafür aber im Land Y, zusammengeführt werden. Das war bis heute nicht möglich, mit Ausnahme des Bereichs des internationalen Terrorismus, wo
wir sehr erfolgreich sind. Wir brauchen eine solche Datei
auch für den Bereich Rechtsextremismus, wenn wir
wehrhaft sein wollen - und wir wollen wehrhaft sein.
({1})
Ich will in aller Kürze, weil die Datei gerade ein
Thema war, darauf eingehen, was gespeichert wird. Herr
Kollege von Notz hat vorhin eine Aussage getroffen, die
ich für schwer durchzuhalten halte. Ich will Ihnen das
gleich begründen. In diese Datei kommen Daten über
bekannte rechtsextremistische Straftäter, bekannte
rechtsextremistische gewaltorientierte Personen, deren
Kontaktpersonen sowie Vereinigungen, Sachen und Objekte. Sie, Herr Kollege von Notz, haben kritisiert, dass
vielleicht zu viele Kontaktpersonen aus dem rechtsextremen Milieu erfasst werden könnten.
({2})
Ich kann das nicht nachvollziehen; denn wenn wir die
richtigen Konsequenzen ziehen wollen, dann müssen wir
präzise bleiben. Hätte man Ihren Maßstab angelegt, dann
wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit die Beschuldigte
Zschäpe nicht in der Datei gewesen. Das sollte Ihnen zu
denken geben. Gerade Kontaktpersonen haben oftmals
keine Straftaten begangen, sind aber nah an den Straftätern dran. Die Erfassung solcher Personen hilft uns,
Netzwerke zu erkennen. Daten solcher Personen nicht zu
speichern, würde dazu führen, dass unsere Instrumente
von vornherein zum Scheitern verurteilt wären. Deshalb
muss man schon A und B sagen.
({3})
Eine weitere Bemerkung bezieht sich auf die Punkte
des Bundesrats, die der Kollege Uhl vorhin zu Recht angesprochen hat. Der Bundesrat möchte weitere Recherchemöglichkeiten haben. Das werden wir uns in der Anhörung von den Praktikern erklären lassen. Es spricht
einiges dafür, zu fragen, warum man erst Projekte definieren und beschreiben soll, wenn es eine Daueraufgabe
ist und gerade das Zusammenführen von Erkenntnissen
uns einen Schritt weiter bringt. Der Bundesrat sagt aber
auch, dass er ein Problem bei den Speicherfristen sieht.
Das sehe auch ich.
Wenn wir die richtigen Lehren aus der Analyse dieser
schrecklichen Mordserie ziehen - ich komme immer
wieder auf diesen Fall zurück -, dann müssen sich die
Ergebnisse in unserem Handeln wiederfinden. Heute
wissen wir, dass die Speicherfrist für die Daten des Terrortrios 2003 auslief und ab 2003 die Daten von
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in allen polizeilichen
und automatisierten Verfassungsschutzdateien gelöscht
werden mussten, weil die Speicherdauer so kurz war.
Hinter der Speicherfrist steht ein logischer Gedanke.
Der Gedanke, nach fünf Jahren die Daten zu löschen, beruht auf der Annahme, dass jemand, der fünf Jahre nicht
in Erscheinung tritt, offensichtlich wieder den Weg in
das normale bürgerliche Leben zurückgefunden hat und
nicht mehr dieser Szene angehört. Aber die Tatsache,
dass ein Terrortrio fünf Jahre untergetaucht ist, ist doch
kein Beleg dafür, dass die Mitglieder dieses Trios wieder
normale Bürger geworden sind. Deshalb dürfen wir
nicht noch einmal den Fehler begehen, die Speicherfrist
zu kurz zu fassen, sodass nach fünf Jahren kein Wissen
mehr über die Personen vorhanden ist. Es war ein
Grundfehler der Sicherheitsbehörden, zuzulassen, dass
das Wissen gar nicht mehr vorhanden war, weil die Daten gelöscht wurden, oder nur Bruchstücke vorhanden
waren, die auch noch verteilt waren.
Ich glaube, dass wir und die Bundesregierung mit
dem neuen Zentrum zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und mit der Antiterrordatei rechts, wie man sie
auch nennen könnte, zwei wichtige Schritte gemacht haben. Die Untersuchungsausschüsse werden weitere
Empfehlungen geben. Unter dem Strich muss die Botschaft sein: Wir werden nicht zulassen, dass sich so etClemens Binninger
was wiederholt. Wir werden alles dafür tun, dass diese
schreckliche Mordserie aufgeklärt wird. Das sind wir allen Menschen in unserem Land schuldig.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 17/8672 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rentenversicherung stärken und solidarisch
ausbauen - Solidarische Mindestrente einführen
- Drucksache 17/8481 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch
darüber besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Matthias Birkwald für die Fraktion
Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sage und schreibe 112 000 Menschen gehen jenseits
ihres 75. Geburtstages einem Minijob nach. Älter als 65
sind mehr als 760 000 der Minijobberinnen und Minijobber. Zwei Drittel davon sind Frauen.
({0})
Einen Augenblick, bitte! Könnten wir uns vielleicht
darauf verständigen, dass notwendige Gespräche an passenderer Stelle geführt werden?
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Karin Schäfer,
68 Jahre alt, aus Blankenfelde bei Berlin ist eine von ihnen. Sie geht putzen. Dabei hat sie ihr Leben lang gearbeitet. Sie hat 35 Jahre als Verkäuferin und als Kassiererin Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt, und sie hat
drei Kinder erzogen. Nun bleiben ihr nur magere 599
Euro gesetzliche Rente. Weitere Alterseinkünfte hat sie
nicht, und auch nichts auf der hohen Kante. Das reicht
hinten und vorne nicht. Sie sagt:
Ich muss arbeiten gehen, mein ganzes Leben lang.
Keine Ahnung, wovon ich leben soll, wenn das mal
nicht mehr geht.
Für Karin Schäfer und für Hunderttausende weiterer
Seniorinnen und Senioren gibt es keinen Ruhestand. Ihr
Schicksal heißt: Malochen bis zum Tode. Dieses Schicksal ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist politisch gemacht. Darum kann man es auch politisch ändern. Dazu
ist es allerhöchste Zeit.
({0})
Meine Damen und Herren, 14 Prozent der Menschen
im Rentenalter gelten heute als arm. Immer mehr Rentnerinnen und Rentner sind auf die Grundsicherung im
Alter angewiesen. Sie liegt bei 688 Euro im Monat - im
Schnitt. Mehr als 400 000 Menschen über 65 Jahre müssen damit auskommen. Altersarmut ist also schon heute
ein Problem. Genau das Problem will die Linke lösen.
({1})
Die einen spüren die Altersarmut Monat für Monat,
wenn sie feststellen müssen, dass das Geld vorne und
hinten nicht reicht. Die anderen spüren die Altersarmut
als Furcht vor einer ungewissen Zukunft; denn sie wissen, dass aus einem langen Arbeitsleben mit schlecht
bezahlten Jobs, mit Leiharbeit und immer wieder unterbrochenen befristeten Beschäftigungsverhältnissen oder
unfreiwilliger Teilzeitarbeit kein Anspruch auf eine auskömmliche Rente entsteht. Diejenigen, die lange Jahre
arbeitslos sind oder waren, wissen genau, dass ihnen die
Altersarmut droht, weil für Langzeiterwerbslose nur
niedrige oder dank CDU/CSU und FDP nun gar keine
Beiträge mehr an die Rentenversicherung überwiesen
werden.
Aber auch wer lange Jahre Beiträge eingezahlt hat,
macht sich Sorgen, weil die Renten der Neurentnerinnen
und Neurentner von Jahr zu Jahr sinken. Selbst für Menschen, die 35 Jahre und länger erwerbstätig waren und in
die Rentenkasse eingezahlt haben, sinkt die Rente. Wer
vor zwölf Jahren nach langjähriger Versicherung neu in
Rente ging, erhielt im Durchschnitt noch 1 020 Euro
Rente. 2010 erhielten solche Neurentnerinnen und Neurentner im Durchschnitt nur noch eine Rente in Höhe
von 919 Euro. Bei den Frauen waren es nur 597 Euro.
Nach den geltenden Gesetzen wird das Rentenniveau
weiter sinken. Das ist der falsche Weg. Wir brauchen
endlich wieder ein Rentensystem, das den Menschen die
Angst vor der Zukunft nimmt.
({2})
Meine Damen und Herren, eine gute Rentenpolitik
muss an zwei Punkten gemessen werden: Die gesetzliche Rentenversicherung muss zum einen den einmal
durch gute Arbeit erreichten Lebensstandard sichern und
zum anderen die Menschen zuverlässig vor Altersarmut
schützen. Beides schafft die gesetzliche Rente schon
heute nicht - von morgen oder übermorgen ganz zu
schweigen. Wir brauchen also eine grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung.
({3})
Deshalb schlägt die Linksfraktion vor, die gesetzliche
Rentenversicherung zu einer solidarischen Rentenversicherung auszubauen, die den Lebensstandard sichert und
die eine solidarische Mindestrente enthält. Denn die
Linke will, dass niemand im Alter von weniger als
900 Euro leben muss.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesetzliche
Rente soll den einmal erreichten Lebensstandard wieder
sichern. Das bedeutet aber, dass jede Frau und jeder
Mann ganz realistisch auch die Möglichkeit haben muss,
sich einen guten Lebensstandard erarbeiten zu können.
({5})
Nur so ist eine im Kern lohnbezogene Rente auch sozial
gerecht.
Viele Menschen haben diese Chance aber nicht. Sie
sind bereits vor dem Rentenalter arm, und wenn wir
nichts ändern, werden sie es wahrscheinlich auch im
Rentenalter bleiben. Das gilt insbesondere für diejenigen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, wie zum
Beispiel Alleinerziehende ohne Kinderbetreuung, Beschäftigte, die zu miesen Konditionen und niedrigen
Löhnen arbeiten müssen, Hartz-IV-Betroffene, die lange
Zeit keinen Job finden, oder Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nur eingeschränkt oder gar nicht
mehr arbeiten können, die also erwerbsgemindert sind.
Für sie alle müssen wir dringend etwas tun. Denn auch
sie haben ein Recht darauf, in Würde alt zu werden.
({6})
Meine Damen und Herren, allen sozial denkenden
Menschen muss es doch darum gehen, Armut gar nicht
erst entstehen zu lassen.
({7})
Armut in der Erwerbsphase zu bekämpfen, hilft, Armut
im Alter zu vermeiden.
Jede moderne Alterssicherungspolitik muss darum
am Arbeitsmarkt ansetzen, deswegen sagt die Linke:
Wer von Altersarmut spricht, darf zu prekärer Beschäftigung, also zu schlechter und unsicherer Arbeit, nicht
schweigen. Hier müssen wir ran.
({8})
Meine Damen und Herren, das, was die Menschen
brauchen, ist gute Arbeit. Gute Arbeit ist eine Beschäftigung, die sicher, geregelt und sozial geschützt ist und die
vor allem so gut bezahlt wird, dass man in Vollzeit auch
davon leben kann. Darum brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro
brutto in der Stunde.
({9})
Darum muss der soziale Schutz auch für die Minijobs
gelten, deshalb soll künftig jede Stunde Erwerbsarbeit
sozialversicherungspflichtig sein und für die Rente zählen. Das nützt vor allem den Frauen.
({10})
Gute Arbeit bedeutet auch, dass Frauen endlich nicht
nur genauso viel verdienen wie die Männer, sondern
dass sie das auch bekommen, und dass Männer und
Frauen Familie und Beruf wirklich miteinander vereinbaren können.
({11})
Meine Damen und Herren, eine gute, den Lebensstandard sichernde Rente ist ohne ein vernünftiges Sicherungsniveau nicht möglich. Die Rentenkürzungen der
vergangenen Jahre müssen einmalig ausgeglichen und
die Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel gestrichen
werden. Nach mehr als 20 Jahren deutsche Einheit ist es
höchste Zeit, die Prinzipien „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ und „Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“
umzusetzen und das Rentenniveau Ost endlich auf das
Westniveau anzuheben.
({12})
Nach allem, was wir wissen, sind die Ostdeutschen in
Zukunft besonders von Altersarmut bedroht, und darum
ist die Angleichung an das Westniveau besonders wichtig.
Nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück. Das wäre ein
echter Beitrag zur Lebensstandardsicherung und zur Armutsvermeidung.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer bereits heute auf
ein Leben voller Unsicherheit und Erwerbslosigkeit zurückblicken muss, sieht in einer den Lebensstandard sichernden Rente kein Versprechen, sondern eine Drohung.
4,6 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor,
und für viele von ihnen ist die Sicherung des Lebensstandards gleichbedeutend mit Altersarmut. Deswegen wollen wir den Solidarausgleich in der gesetzlichen Rente
stärken und zum Beispiel die Rente nach Mindestentgeltpunkten für Beschäftigte mit niedrigerem Einkommen
entfristen. Für Hartz-IV-Betroffene sollen wieder Rentenbeiträge in anständiger Höhe gezahlt werden.
({14})
Für all diejenigen, die trotz dieser und vieler anderer
von uns vorgeschlagenen Maßnahmen kein Alterseinkommen von mindestens 900 Euro erreichen, greift unser Vorschlag der solidarischen Mindestrente. Noch einmal: Die Linke will, dass niemand im Alter von weniger
als 900 Euro im Monat leben muss.
({15})
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Mindestrente soll die Lebensstandardsicherung ergänzen, sie
soll sie nicht ersetzen. Wir Linken fordern seit langem
einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Aber
wir wollen keine Gesellschaft von MindestlohnbezieMatthias W. Birkwald
henden, sondern wir wollen, dass möglichst viele Beschäftigte gute Tariflöhne deutlich darüber bekommen.
({16})
Das Ziel der Linken sind gute, lohnbezogene und den
Lebensstandard sichernde Renten und Alterseinkommen, die weit über der Mindestrente liegen - und das für
möglichst viele Rentnerinnen und Rentner, am besten für
alle. Wir fordern aber sehr nachdrücklich eine solidarische Mindestrente, damit niemand im Alter in Armut leben muss.
({17})
Die heutige lohnbezogene Rente ist an Vorleistungen
geknüpft, die im Kern auf Beiträgen durch Lohnarbeit
beruhen. Das soll auch so bleiben. Es ist so weit in Ordnung, wie die Menschen auch die Möglichkeit haben, einer guten Arbeit nachzugehen. Wenn wir aber Armut bekämpfen wollen, sind Vorbehalte fehl am Platz. Darum
soll jede und jeder über 65 die Mindestrente erhalten,
wenn ihr oder sein Einkommen 900 Euro netto unterschreitet - ohne Vorleistungen. Vermögen unterhalb
bestimmter Freibeträge wird nicht angerechnet. Bei der
aktuellen Grundsicherung im Alter beträgt der Vermögensfreibetrag nur 2 600 Euro. Das ist eine bedürftigkeitsgeprüfte Leistung. Nur wer schon sein letztes Hemd
verkauft hat, hat ein Recht auf die Grundsicherung. Das
wollen wir ausdrücklich nicht.
({18})
In der linken solidarischen Mindestrente werden darum Vermögen unterhalb von 20 000 Euro und Ersparnisse fürs Alter von 750 Euro pro Lebensjahr ebenso wenig angerechnet wie die selbst genutzte Wohnung oder
das Eigenheim bis 130 Quadratmeter Wohnfläche. Die
Mindestrente wird als steuerfinanzierter Zuschlag im
Rahmen der Rentenversicherung verwaltet und als Rente
ausgezahlt. Mindestrentner und Mindestrentnerinnen
werden dann nicht mehr diskriminiert. Sie erhalten wie
ihre Nachbarn und Freunde auch eine Rente.
({19})
Das ist wichtig; denn viele Ältere schämen sich, die
Grundsicherung im Alter oder Sozialhilfe zu beantragen.
Karin Schäfer, die 68-jährige Minijobberin, sieht das
auch so. Sie scheut davor zurück, Grundsicherung zu beantragen. Sie wolle keine Almosen, sagt sie. Das kann
als falscher Stolz abgetan werden. Das ist aber verschämte Altersarmut. Weder das eine noch das andere
träfe zu, wenn auch in der Rentenpolitik endlich wieder
gälte: Sozial ist, was Würde schafft.
Herzlichen Dank.
({20})
Vielen Dank, Kollege Birkwald. - Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Karl
Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Aus den Erzählungen von
Homer kennen wir die Geschichte des in der Ägäis herumirrenden Odysseus, der der großen Gefahr ausgesetzt
ist, an der Insel der Sirenen, die schöne Schalmeienklänge aussenden, vorbeizukommen und darauf hereinzufallen. Ist man darauf hereingefallen, kostet einen das
Leib und Leben.
({0})
Der Antrag der Linken enthält solche sozialpolitischen Schalmeienklänge. Hinter diesen Klängen der
Linken steht ein Weltbild, das in den Abgrund führt - ich
sage das so deutlich -,
({1})
das verführerisch ist und das unseren Wertvorstellungen
nicht entspricht.
({2})
Ihr Antrag bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Rentenversicherung von einer auf eigener Leistung beruhenden Alterssicherung in staatlich finanzierte Abhängigkeit führt.
({3})
Das entspricht nicht unserem Menschenbild.
({4})
Das entspricht auch nicht den Prinzipien, nach denen die
Rentenversicherung aufgebaut worden ist. Und das entspricht auch nicht den geistigen Prinzipien, aus denen
heraus wir als Union Politik gestalten. Für uns gehört es
zur Menschenwürde, dass jeder durch seiner eigenen
Hände und seines eigenen Kopfes Arbeit auch für sein
Alter vorsorgen kann. Im Gegensatz zu Ihren Positionen
ist die betriebliche und die private Vorsorge Bestandteil
der Alterssicherung und keineswegs etwas, was falsch
ist.
({5})
Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dittrich?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Danke schön, dass Sie mir die Zwischenfrage gestatten. - Sie haben eben von meinem Kollegen Herrn
Birkwald gehört, dass es eine Bevölkerungsgruppe gibt,
die besonders betroffen ist, nämlich Mütter. Wir wissen,
dass das flächendeckende Kinderbetreuungsprogramm
für Kinder unter drei Jahren gescheitert ist. Sie haben
aber eben gesagt: Jeder und jede sollte mit der eigenen
Hände oder des eigenen Kopfes Arbeit die Rente erarbeiten können. Wie soll ein Vater oder eine Mutter, der
oder die erzieht, eine Arbeitsstelle annehmen, wenn
keine Kinderbetreuung möglich ist? Können Sie mir sagen, wie er oder sie die Rente erarbeiten soll?
Erstens. Das Programm der Betreuung von Kindern
unter drei Jahren ist nicht gescheitert. Wir erleben einen
gigantischen Ausbau. Das wird weiter gefördert. Dort,
wo es scheitert, liegt es nicht am Bund, sondern an den
Ländern.
({0})
Zweitens. Auf die Frage der Alterssicherung werde
ich im Rahmen meiner Rede noch eingehen.
Die Rente genießt eine hohe gesellschaftliche Anerkennung nicht als Fürsorgesystem, sondern als Solidarsystem. Zurzeit sind, anders als manche Unken rufen,
2,5 Prozent der Rentnerinnen und Rentner auf Grundsicherung angewiesen. Dies ist zugegebenermaßen eine
Zahl, die nicht hoch ist, aber jeder einzelne Fall treibt
uns um. Unser Ziel ist, dass im Alter die Gefahr der Abhängigkeit von der Grundsicherung nicht weiter steigt.
Deshalb haben wir bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, dass in einem Dialogprozess erörtert werden soll,
wie wir dagegen angehen. Entsprechende Schritte sind
eingeleitet.
({1})
Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind.
Besonders betroffen von der Altersarmut sind die Erwerbsminderungsrentner. Wir wissen, dass etwa 9,5 Prozent der Erwerbsminderungsrentner auf Grundsicherung
im Alter angewiesen sind. Das wollen wir durch höhere
Bewertung der Beitragszeiten abfedern. Wir wollen,
dass diejenigen, die 63 Jahre alt sind und in Rente gehen,
so viel hinzuverdienen dürfen, dass sie das Einkommensniveau der letzten Erwerbsjahre erreichen können.
Ich sage Ihnen ausdrücklich die Unterstützung der entsprechenden Überlegungen der Bundesarbeitsministerin
zu. Diejenigen, die Kinder erzogen haben, wie die von
Ihnen genannte Schäferin, Frau Schäfer - sie war Schäferin, hatten Sie gesagt? Das passt beides ({2})
- ach so -, ihre Eltern gepflegt haben, die zwischendurch
erwerbstätig waren und deren Rente noch nicht einmal
das Niveau der Grundsicherung erreicht, müssen so viel
über staatliche finanzielle Mittel hinzubekommen, dass
sie nicht auf die Grundsicherung angewiesen sind, sondern dass ihre Rente darüber liegt. Diese Vorstellungen,
die die Bundesarbeitsministerin eingebracht hat, teile ich
ausdrücklich. Der von Ihnen genannten Person würde
das zugutekommen.
({3})
Wir stehen zur Rente mit 67 Jahren, die ihre Wirkung
erst 2031 voll erreichen wird. Wir sehen dazu keine Alternative. Nach den europäischen Statistiken sind heute
bereits über 44 Prozent der über 60-Jährigen erwerbstätig. Wir wollen, dass deutlich mehr Ältere das Renteneintrittsalter erreichen. Hier sind alle gefordert. Die Betriebe und insbesondere die Klein- und Mittelbetriebe
brauchen dabei Unterstützung und Förderung. Das ist
angelaufen. Das findet zurzeit statt. Das Bundesarbeitsministerium hat zum Beispiel mit einem Programm wie
INQA und anderen Programmen maßgebliche Unterstützung auf den Weg gebracht.
Aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind gefordert. Wo sie dabei Unterstützung brauchen,
sollen sie sie bekommen. Wir wollen daher die Möglichkeiten der Rehabilitation erweitern, indem wir das demografiemäßig anpassen und den Menschen auch die
gesundheitliche Unterstützung für ihre Arbeit gewähren.
Aber alles ist von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig und davon, dass Arbeitsplätze entstehen und erhalten bleiben; das geschieht in der Wirtschaft. Deswegen ist unser Augenmerk darauf zu richten, dass die
wirtschaftliche Entwicklung beibehalten bleibt, damit
wir all die genannten Aufgaben erfüllen können. Hierzu
gehört allerdings auch die Tatsache - das entspricht der
Wahrheit -, dass die Wirtschaft, ebenso wie alle anderen
Bereiche, einer Entwicklung unterliegt, die wir die demografische Entwicklung nennen. Wirtschaft, Staat, Gesellschaft - sämtliche Bereiche in Deutschland hängen in
wesentlichem Maße von der demografischen Entwicklung ab.
Aus diesem Grunde ergeben sich besondere Chancen
für die Älteren am Arbeitsmarkt, weil wir auf sie angewiesen sind, weil wir sie brauchen und weil auch die
Betriebe sie brauchen. Unsere Aufgabe ist es, die
Menschen in Beschäftigung zu halten oder sie in Beschäftigung zurückzuführen. Das müssen wir staatlich
unterstützen.
({4})
Wir diskutieren über Fachkräftemangel - eine Diskussion, die wir uns vor sechs Jahren noch gar nicht hätten träumen lassen. Da haben wir über 5 Millionen Arbeitslose diskutiert. Mir ist lieber, wir diskutieren über
Fachkräftemangel als über Arbeitslosigkeit; das will ich
Ihnen deutlich sagen. Genau dieser Fachkräftemangel
führt dazu, dass die Arbeitslosen wieder eine Perspektive haben.
Dass die Rentenversicherung auf einem guten Weg
ist, sehen wir daran, dass wir eine Rücklage von über
24 Milliarden Euro haben. Wir sind guter Hoffnung;
denn der Arbeitsmarkt befindet sich in einer guten Verfassung. Wie die neuesten Zahlen belegen, ist jahreszeitlich bedingt eine leichte Erhöhung der Arbeitslosenzahlen festzustellen. In der Gesamtentwicklung nimmt die
Arbeitslosigkeit jedoch deutlich ab. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit 2006 um über 1 Million gesunken. Das sind die hoffnungsvollen Zeichen, die wir setzen.
Unser Menschenbild entspricht nicht dem Rundumsorglos-Paket. Unserem Menschenbild entspricht vielmehr, dass wir den stärken und fördern, der mit seiner
Hände Arbeit tut, was er kann. Das entspricht unseren
christlichen Wertvorstellungen von Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Menschenwürde. Das ist etwas
anderes als Sirenenklänge von einer wohlfeilen Gesellschaft, in der letztendlich die Menschen ihre Freiheit
verlieren und ihre Verantwortung abgeben.
({5})
Vielen Dank, Kollege Karl Schiewerling. - Nächste
Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Elke Ferner. Bitte
schön, Frau Kollegin Elke Ferner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
muss sagen, liebe Kollegen und Kolleginnen von den
Linken: Es ist schon sehr mutig, hier einen solchen Antrag vorzulegen;
({0})
denn der Antrag folgt dem Motto, das Sie immer haben:
Im Himmel ist Jahrmarkt, und gleichzeitig fällt auch
noch Ostern und Weihnachten auf denselben Tag. Über
die Finanzierung Ihrer Wohltaten reden Sie in dem Antrag überhaupt nicht, verfassungsrechtliche Restriktionen beachten Sie nicht, und der Antrag ist auch in sich
widersprüchlich, Herr Birkwald.
({1})
Wenn dieser Antrag Gesetz würde, würden Sie damit
die Lebensleistung vieler Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen entwerten. In Ihrem Antrag steht, Sie wollen
allen, die lange in die Rentenversicherung eingezahlt haben, im Alter oder bei Erwerbsminderung Rentenansprüche garantieren, mit denen sie den Lebensstandard ohne
erhebliche Einbußen aufrechterhalten können. So weit,
so gut.
Wenige Zeilen später fordern Sie dann: Niemand soll
im Alter von weniger als 900 Euro leben müssen. Es
geht hier also nicht um diejenigen, die lange eingezahlt
haben,
({2})
sondern es geht um alle. Die Voraussetzungen, die zu erfüllen sind, finde ich schon sehr gewagt, muss ich sagen:
Man muss in Deutschland leben, man muss in einer
Wohnung leben, die nicht größer ist als 130 Quadratmeter, man darf nicht mehr als 20 000 Euro Geldvermögen
besitzen, man darf nicht mehr als 48 750 Euro für die
Altersvorsorge zurückgelegt haben, und man darf keinen
Unterhaltsanspruch haben. Eine eigene Beitragsleistung
ist überhaupt nicht notwendig.
({3})
Was heißt das im Klartext? Manches wird klarer,
wenn man es an einem konkreten Beispiel deutlich
macht: Ein selbstständiges Ehepaar, das nicht rentenversichert war und auch sonst keine Vorsorge für eine
monatliche Rente betrieben hat, das aber 40 000 Euro
Geldvermögen ansparen konnte, das ein Altersvorsorgevermögen von fast 100 000 Euro besitzt und auch noch
in einer 130 Quadratmeter großen Wohnung lebt, bekommt monatlich 1 800 Euro Rente, Jahr für Jahr, und
das steuerfinanziert.
({4})
Vergleichen wir das mit der Situation des Verkäufers
und der Verkäuferin, die 45 Jahre lang in dem Geschäft
dieses Ehepaars gearbeitet haben, die Beiträge gezahlt,
die deshalb kein Geld übrig hatten, um sich 40 000 Euro
anzusparen, die auch kein Geld übrig hatten, um sich ein
Altersvorsorgevermögen von 100 000 Euro anzusparen.
Wenn man sich anschaut, was dieses Ehepaar, abhängig
vom Tarifvertrag, an Rente bekommt, stellt man fest,
dass beide zusammen zwischen 1 640 und 2 120 Euro
Rente erhalten - gegenüber 1 800 Rente steuerfinanziert,
ohne eine eigene Anstrengung. Was daran gerecht sein
soll, das erschließt sich mir überhaupt nicht.
({5})
Das ist wirklich eine Entwertung der Lebensleistung.
Man kann das jetzt noch auf die Spitze treiben. Jetzt
nehmen wir einmal denjenigen, der im Ausland sein großes Erbe verjubelt hat, im Alter nichts mehr übrig hat
und dann zurück nach Deutschland kommt. Der kriegt
auch noch 900 Euro Mindestrente.
({6})
Das ist die Politik der Linken. Das wird die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland wirklich
freuen. Man sieht es auch schon an der heutigen Besetzung: Hier haben offenbar diejenigen in Ihrer Fraktion
gewonnen, die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen,
({7})
nicht diejenigen, die eher gewerkschaftlich orientiert
sind.
({8})
Wenn man sich das weiter anschaut, dann erkennt
man: Es ist auch in sich widersprüchlich. Mit 10 Euro
Mindestlohn kommen Sie nach 40 Versicherungsjahren
- Sie wollen ja auch, dass jemand nach 40 Versiche19228
rungsjahren abschlagsfrei in Rente gehen kann - auf
742 Euro Rente, also auf weniger als 900 Euro. Wenn
man 45 Jahre zugrunde legt, kommt man auf 834 Euro;
auch da hat man also noch nicht den Sprung über Ihre
Mindestrente geschafft.
Ich sage Ihnen, was Ihre sogenannte solidarische
Mindestrente bewirkt: Sie privilegiert all diejenigen, die
nicht, wenig, in Teilzeit oder selbstständig gearbeitet
haben und sich, wenn überhaupt, nur in sehr geringem
Umfang an der Finanzierung der Rentenversicherung
durch Beiträge beteiligt haben. Sie benachteiligen mit
Ihrem Vorschlag alle, die lange gearbeitet und wenig
verdient haben. Sie verringern die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung bei den Beziehern und Bezieherinnen mittlerer Einkommen. Das ist das Ergebnis
Ihres Vorschlages.
({9})
Das ist nicht solidarisch und schon gar nicht gerecht. Im
Prinzip, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist das nichts
anderes als die sogenannte Zuschussrente von Frau von
der Leyen, nur auf höherem Niveau.
({10})
- Ich sage doch: „nur auf höherem Niveau.“
({11})
Dann komme ich zum Thema: abschlagsfreie Rente
nach 40 Versicherungsjahren, und zwar ohne Mindestalter. Die IG Metall fordert, wenn ich es richtig sehe,
eine Rente ohne Abschläge nach 40 Versicherungsjahren
und ab dem 60. Lebensjahr, stellt also zwei Bedingungen. Ihr Vorschlag heißt im Klartext: Wer mit 15 anfängt, zu arbeiten, kann mit 55 aufhören. Bei gleicher
Beitragsleistung und gleicher Lebenserwartung bezieht
er oder sie zehn Jahre länger Rente als derjenige oder
diejenige, der und die mit 25 angefangen hat, zu arbeiten. Das mag nach Ihrer Auffassung gerecht sein, aber
finanzierbar ist es mit Sicherheit nicht. Da streuen Sie
den Leuten wirklich Sand in die Augen.
Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze mittelfristig aufheben und die Renten derjenigen mit den höheren
Einkommen zwar nicht mehr kappen - das war auch einmal im Gespräch -, aber absenken. Ich halte das verfassungsrechtlich zumindest für bedenklich; es gibt auch
Leute, die das für verfassungswidrig halten. Es ist jedenfalls nicht gesichert, dass Ihr Vorschlag verfassungsgemäß ist. Dabei gehen Sie an ein Grundelement der
gesetzlichen Rentenversicherung heran, nämlich an das
Äquivalenzprinzip. Ich will Sie einmal fragen: Wie wollen Sie demjenigen mit dem hohen Einkommen, den Sie
richtigerweise zusätzlich in der gesetzlichen Rentenversicherung haben wollen, erklären, dass er trotz seiner
hohen Einzahlungen einen geringeren Rentenanspruch
zu erwarten hat? Wenn man umverteilen will, wogegen
ich nichts habe, dann macht man das besser im Steuerrecht und nicht über die Beiträge in der Rentenversicherung.
({12})
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen - da wird
wirklich deutlich, dass im Himmel doch Jahrmarkt ist
und Ostern und Weihnachten zusammenfallen -: Es geht
um ihre Forderung, den Rentenwert Ost an den Rentenwert West anzugleichen, unter gleichzeitiger Beibehaltung des Höherwertungsfaktors.
({13})
Dann muss man sich anschauen, was das in Cent und
Euro bedeutet: Nehmen wir einmal zwei Beschäftigte
hier in Berlin. Beide verdienen je 2 000 Euro brutto. Der
eine wohnt in Ostberlin, die andere wohnt in Westberlin.
Nach 45 Versicherungsjahren hat diejenige in Westberlin
967 Euro Rente und derjenige in Ostberlin 981 Euro
Rente, also schon ein bisschen mehr. Wenn man jetzt
aber Ihrem Vorschlag folgt, bleibt die Rentnerin im Westen bei 967 Euro Rente; der Rentner im Osten kriegt aber
1 100 Euro Rente, ohne dass er mehr eingezahlt oder
verdient hat; der einzige zusätzliche Verdienst ist die
Geografie, sprich: der Wohnort.
({14})
Das hat doch mit Gerechtigkeit nichts zu tun.
({15})
Ich will noch einmal deutlich machen: Auch im Westen dieser Republik gibt es Regionen, in denen im Vergleich zum Durchschnittseinkommen in Westdeutschland und auch zu einigen Regionen in Ostdeutschland
unterdurchschnittlich verdient wird.
({16})
- Im Saarland beispielsweise.
Frau Kollegin Ferner, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Kollegin Dr. Bunge?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Flach.
({0})
Ferner, so viel Zeit muss sein.
Frau Kollegin Elke Ferner spricht.
Ferner, Entschuldigung. Ich war jetzt bei einem anderen Thema, der Organspende, deshalb habe ich gedanklich nur halb umgeschaltet.
({0})
Könnte bei Ihrem Beispiel - da habe ich nämlich aufgehorcht - nicht die Ursache darin liegen, dass die Frau
in der DDR viel länger gearbeitet hat und damit mehr
Entgeltpunkte hat, was natürlich der Frau in der alten
Bundesrepublik auch zu wünschen gewesen wäre, ihr
aber nicht möglich war? Diese hatte unter Umständen
eine ganz andere Familien- und Einkommensstruktur,
weil in den alten Bundesländern zumeist auch andere
Alterseinkünfte und Vermögen eine Rolle spielen. Man
kann hier also nicht, wie Sie es machen, Äpfel mit Birnen vergleichen.
({1})
Frau Kollegin Bunge, das wird Herr Birkwald Ihnen
wahrscheinlich nachrechnen können; auch ich kann
Ihnen die Berechnung geben. Es geht hier nicht um Vergleiche zurückliegender Erwerbsbiografien, sondern es
geht hier nur um die Tatsache, dass - wenn man bei null
anfängt, es auf 45 Jahre hochrechnet und die Rentenanwartschaften Ost und West vergleicht - Sie den Rentenwert Ost und den Rentenwert West angleichen, also auf
das Westniveau anheben, und gleichzeitig den Höherwertungsfaktor hinzunehmen wollen. Es steht aber die
gleiche Arbeitsleistung dahinter. Das mögen Sie glauben
oder nicht. Das ist so. Das ist schlicht und ergreifend
Mathematik.
Aber lassen Sie mich vielleicht noch eines zu dem
Vorwurf sagen, der bei Ihnen angeklungen ist, wir achteten die Erwerbsbiografien der Frauen in Ostdeutschland
nicht. Ich erinnere mich an Diskussionen, die wir kurz
nach der Wende in meinem Landesverband, im Saarland,
hatten. Da war einer Vorsitzender, der auch einmal Vorsitzender Ihrer Partei war. Der hat uns immer gepredigt,
es könne doch wohl nicht angehen, dass ein Ehepaar im
Osten ein so viel höheres Renteneinkommen habe als ein
Ehepaar im Westen. Wir haben immer gesagt: Es liegt
vielleicht daran, dass die Frauen im Osten im Gegensatz
zu den Frauen im Westen eine durchgängige Erwerbsbiografie und deshalb eine höhere eigenständige Rentenanwartschaft hatten. Dieser Mann hieß Oskar Lafontaine
und war bis vor kurzem Ihr Parteivorsitzender. Ich
glaube, Sie brauchen uns hier keinen Nachhilfeunterricht
in der Frage der Anerkennung der Lebensleistungen der
Frauen im Osten zu geben.
({0})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, erteile
ich das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen
Matthias Birkwald.
Frau Kollegin Ferner, Sie haben die Finanzierung
angesprochen. Dazu muss man deutlich sagen: Wir müssen entscheiden: Wollen wir Menschenwürde an der
Kassenlage oder an einem menschenwürdigen Bedarf
ausrichten?
({0})
Die Linke hat sich klar entschieden: Ein menschenwürdiges Leben im Alter darf nicht von der Kassenlage
bestimmt werden. Das ist der erste Punkt.
({1})
Dann haben Sie in Ihren Kritikpunkten vergessen zu
erwähnen, dass wir in unserem Antrag vorgeschlagen
haben, eine Erwerbstätigenversicherung einzuführen,
das heißt alle, die in irgendeiner Weise erwerbstätig sind,
einzubeziehen. Dazu gehören nicht nur Pflegende und
Erziehende; dazu sollen auch Politikerinnen und Politiker, wir Abgeordnete, Ministerinnen und Minister, gehören, außerdem Selbstständige und Beamtinnen und
Beamte. Wir möchten langfristig alle in die gesetzliche
Rentenversicherung einbeziehen, selbstverständlich
auch die Erwerbslosen. Deswegen nennen wir sie „solidarische Rentenversicherung“. Das war der zweite
Punkt.
({2})
Drittens. Die Beitragsbemessungsgrenze haben Sie
angesprochen. Selbstverständlich ist Art. 20 des Grundgesetzes - wir sind ein Sozialstaat - die Grundlage dafür,
dass wir unten und oben solidarisch sind und die Rentenansprüche bei mehr als dem Doppelten des Durchschnitts abflachen können. Ich bin gern bereit, mit einem
solchen Vorschlag bis vor das Bundesverfassungsgericht
zu gehen, und ich bin ziemlich sicher, dass wir da Recht
bekommen werden.
({3})
Viertens. Am 9. November 1989 ist nachmittags etwas
geschehen, das so bedeutend war, dass wir alle wissen,
wo wir an diesem Tag gewesen sind. - Am Vormittag
wurde im Deutschen Bundestag, damals noch in Bonn,
eine Debatte über eine Rentenreform geführt. Meine
Vorvorgängerpartei saß da noch nicht im Bundestag.
Aber alle anderen Parteien im Bundestag waren sich
damals einig, dass der Beitragssatz für die Rente bis zum
Jahr 2030 bis zu 28 Prozent betragen könnte. Damals sah
man darin kein Problem. Der Unsinn mit dem Dogma
der Beitragssatzstabilität, der von der Weltbank kam,
kam erst später.
Moderate Beitragssatzsteigerung bei gleichzeitigem
Wirtschaftswachstum und bei steigender Arbeitsproduktivität - das ist sehr wohl möglich. Deswegen kann man
sehr wohl davon ausgehen, dass die Beiträge moderat
steigen, und kann auch Steuerzuschüsse einbeziehen,
wie das die Bundesministerin bei der Zuschussrente vorsieht. In dem Steuerkonzept, das wir vorgelegt haben, ist
einiges an Ideen enthalten, was man mit Vermögen- und
Erbschaftsteuer und Ähnlichem machen kann.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu dem
machen, was Sie und auch der Kollege Schiewerling zu
den drei Säulen gesagt haben. Riester ist ein Flop. Das
wissen Sie alle; das steht in jeder Zeitung. Da ist sogar
der Sparstrumpf besser. Sie müssen schon über 90 werden, in manchen Rechnungen sogar 128, damit Sie eine
anständige Rendite von 5 Prozent bekommen. Ich erinnere daran: Als Riester eingeführt wurde - ich habe es
hier vorliegen -, wurden 3,25 Prozent Rendite versprochen. Seit 1. Januar 2012 sind gesetzlich 1,75 Prozent
festgelegt. Riester ist also Unsinn.
({4})
Zu der betrieblichen Altersvorsorge. Die haben im Osten
gerade einmal 35 Prozent und im Westen 55 Prozent der
Beschäftigten.
Ihr Schlusssatz, bitte.
Ich komme zum Schluss. - Man sieht: Es sind insgesamt weniger als die Hälfte. Also: Die Drei-SäulenTheorie funktioniert nicht.
Mein letzter Satz. Was die Legitimation der Rentenversicherung angeht, so glaube ich: Wenn jeder Beschäftigte, egal, was er oder sie verdient, davon ausgehen
kann, im Alter eine anständige Rente zu bekommen, die
in der Nähe oder oberhalb der Armutsgrenze liegt, dann
stärkt das die Legitimation der gesetzlichen Rentenversicherung und schwächt sie nicht. In 28 von 30 OECDStaaten geht das auch.
Herzlichen Dank.
({0})
Zur Antwort gebe ich der Kollegin Elke Ferner das
Wort.
({0})
Doch, darauf kann man antworten; darauf muss man
sogar antworten. Denn dadurch wird der Unterschied,
der vorhanden ist, deutlich, und ich bin froh, dass er
offenkundig wird.
Es geht ein Stück weit um Gerechtigkeit. Diejenigen,
die 30, 40 oder 45 Jahre gearbeitet haben, die keine
Möglichkeit hatten, sich der Rentenversicherungspflicht
zu entziehen, können es nicht einsehen und werden es
nicht einsehen, dass diejenigen, die im Extremfall null
an Beitragsleistung erbracht haben, 900 Euro Rente
bekommen. Das kann nicht gerecht sein, und das wird
von der Mehrheit der Bevölkerung auch nicht als gerecht
empfunden.
({0})
Der zweite Punkt ist die Finanzierung. Wofür Sie
Geld ausgeben, ist Ihre Sache. Es ist auch Ihre Sache,
welche Schwerpunkte Sie setzen. Aber Sie sollten dem
staunenden Publikum schon einmal erklären, woher das
Geld denn kommen soll. Es ist Ihnen ja völlig unbenommen, Milliarden für Ihr Programm auszugeben, aber
schreiben Sie in Ihrem Antrag doch auch, wie Sie das
finanzieren wollen.
({1})
- Nein, es steht in dem Antrag nicht drin, Frau Enkelmann.
Man sollte den Antrag schon gelesen haben. Es ist kein
einziger Finanzierungsvorschlag enthalten.
Allein die Tatsache, dass man die Rentenversicherung
zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln
will, hilft auch nicht weiter. In Ihrem Antrag wird vorgeschlagen, in einem ersten Schritt die Selbstständigen, die
ja nicht in einem anderen Versorgungssystem sind, mit
einzubeziehen. Das heißt, das ist ein Prozess und wird
nicht auf Knopfdruck passieren. Aber, Leute: Die haben
doch auch Ansprüche, wenn sie in die Rentenversicherung einzahlen. Diese Einbeziehung bringt vielleicht für
den Moment eine Verbesserung der Liquidität der Rentenkasse,
({2})
aber à la longue entstehen auch Ansprüche. Insofern
sollte man mit der gebotenen Redlichkeit an dieses
Thema herangehen.
Man kann sich für das eine oder andere entscheiden;
das muss jede Partei und jede Fraktion für sich selber
entscheiden. Aber ich erwarte, dass dann auch jede Fraktion klar und deutlich die Hausnummern benennt: was es
kostet, wem es nützt und wem es schadet. Auf alle Fälle
schadet Ihr Vorschlag der Akzeptanz der deutschen Rentenversicherung.
({3})
Wir setzen die Debatte in der Reihenfolge fort.
Nächster Redner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herzlich willkommen zur sozialpolitischen Debatte am
Donnerstagvormittag. Ich freue mich, dass wir heute,
wie in fast jeder Sitzungswoche, Gelegenheit zum
Austausch unserer Ansichten dazu haben. Heute geht es
um das Thema Rente. Allerdings - das ist die Besonderheit - richtet sich der Angriff der Linken heute nicht gegen die Regierung, sondern gegen Rot-Grün, also gegen
die Fraktionen, die in ihrer Regierungszeit aus Sicht der
Linken besonders Schreckliches getan haben.
({0})
Angesichts des bisherigen Verlaufs der Debatte bin
ich etwas ratlos, was ich jetzt noch sagen soll;
({1})
denn ich muss der Kollegin Ferner zu meiner eigenen
Überraschung in vielem, fast allem beipflichten.
({2})
Deswegen will ich Sie, Herr Birkwald, mit ein paar
grundsätzlichen Anmerkungen versorgen.
Aus der Überschrift Ihres Antrages kann man schließen, dass es Ihnen darum geht, die Rentenversicherung
zu stärken. Wenn man sich Ihren Antrag näher ansieht,
muss man aber feststellen, dass Sie das Thema verfehlt
haben. Ihr Antrag ist vollkommen unausgegoren; das hat
schon die Kollegin Ferner zu Recht gesagt. Das, was Sie
hier vorgelegt haben, taugt nicht und ist in jeder Hinsicht
unfinanzierbar. Sie verwechseln da etwas: Die gesetzliche Rentenversicherung ist vom Wesen her kein sozialpolitischer Reparaturbetrieb, sondern es handelt sich
hierbei um eine Versicherung, die konsequent nach dem
Äquivalenzprinzip organisiert ist. Das heißt: Renten
werden entsprechend den vorher erbrachten Leistungen
gezahlt.
({3})
Frau Ferner hat Ihren Vorschlag richtig durchgerechnet.
Angesichts dessen, was Sie vorschlagen - 900 Euro
Grundrente
({4})
und Wohngeld on top, auch für eine 130 Quadratmeter
große Wohnung, auch für Wohnungen in teuren Lagen -,
kann man sich nur an den Kopf greifen.
({5})
Herr Kollege Birkwald, wer die Rente stärken will,
der muss auf die Finanzen achten. Das tun wir. Wir hatten Ende letzten Jahres eine Nachhaltigkeitsrücklage in
Höhe von 25 Milliarden Euro - das war ein neuer
Rekordstand -; das entspricht 1,5 Monatsausgaben. Wer
die Rente stärken will, muss darauf achten, dass mehr,
möglichst viele Beitragszahler in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Das tun wir. Wir haben einen
Rekordstand bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland. Wer die Rente stärken will,
der muss die Balance zwischen den Generationen wahren. Deswegen sage ich Ihnen: Ihre Hetze gegen die
„Rente erst ab 67“, wie Sie immer sagen, ist vor diesem
Hintergrund wirklich vollkommen unangemessen. Wir
müssen die Belastungen zwischen den heutigen Beitragszahlern, den heutigen Rentnern und vor allen
Dingen denen, die in den Jahren 2030 und 2035 Beiträge
zahlen, ausjustieren. Dazu leistet Ihr Vorschlag keinen
Beitrag.
Ich glaube, die Rente ab 67, die wir stufenweise und
nicht schlagartig im Jahr 2012 einführen, wird akzeptiert, wenn sie gut adjustiert ist und wenn man den
einzelnen Versicherten Möglichkeiten für flexible Übergänge bietet. Das wollen wir. Das hat die FDP-Bundestagsfraktion in diesem Hause schon sehr früh vorgeschlagen. Allerdings - auch das gehört zur Ehrlichkeit ist in einem äquivalenzorientierten Rentenversicherungssystem ein vorzeitiger Renteneintritt ohne
Abschläge schlicht und einfach nicht denkbar. Das
würde zu Beitragsungerechtigkeiten und Verzerrungen
führen.
({6})
Das passt mit unserem heutigen Rentensystem nicht zusammen, Herr Kollege Birkwald.
Sie sprechen die Altersarmut an. In diesem Zusammenhang will ich eines sehr deutlich sagen: Wir haben
heute etwa 3 Prozent Rentner, die von Altersarmut bedroht sind.
({7})
- 3 Prozent.
({8})
- In der Grundsicherung. Genau. Das ist die Zahl, die ich
meine. - Dieses Problem wird sich verschärfen. Ich
glaube aber, dass man sagen kann, dass die gesetzliche
Rente für die allermeisten auch in Zukunft einen
Armutsschutz darstellen wird. Ich glaube, dass die allermeisten Menschen auch in Zukunft aufgrund ihrer gesetzlichen Rente in Kombination mit Bezügen aus ihrer
betrieblichen und privaten Altersvorsorge ein hohes,
ausreichendes Alterseinkommen erzielen werden.
({9})
Wer hier etwas anderes erzählt, betreibt ein Geschäft mit
der Angst. Vor allen Dingen arbeitet er gegen die Säulen
der Rentenversicherung in der Form, in der sie heute besteht. Diese Säulen sollten aus unserer Sicht gestärkt und
nicht geschwächt werden.
Herr Kollege Birkwald, ich will Sie auf einen Denkfehler hinweisen. Ich glaube, dass die Frage, ob jemand
überhaupt einen Arbeitsplatz hat, für die zu erwerbenden
Altersansprüche wesentlich entscheidender ist als die
Entlohnung für diese Arbeit. Ich möchte diese Angelegenheit nicht kleinreden; Ihre radikalen arbeitsmarktpolitischen Vorschläge bergen aus unserer Sicht aber die
große Gefahr, dass sehr, sehr viele Menschen ihren
Arbeitsplatz verlieren. Dann stünden sie schlechter da,
als das heute der Fall ist.
Dieses System, das Rot-Grün, also die von Ihnen
heute Attackierten, eingeführt hat, dass jeder privat leis19232
ten soll, was geht, und der Staat ergänzend etwas hinzugibt, hat sich, glaube ich, bewährt.
({10})
Das ist einer der Gründe dafür - das sage ich durchaus
anerkennend an die Adresse der Kollegen von SPD und
Grünen -, dass wir heute ein derart hohes Beschäftigungsniveau in Deutschland haben. Ich bedaure nur,
dass SPD und Grüne zu ihren früheren Erkenntnissen
mittlerweile nicht mehr stehen und das System radikal
zurückbauen wollen.
({11})
Herr Kollege Birkwald, ich will mit einem Beispiel
des Kollegen Haustein enden. Er hat mir vorhin zugerufen, wie viel Rente seine Mutter, die in der DDR drei
Kinder großgezogen hat, bekam. Das waren 312 OstMark, Herr Kollege Birkwald.
({12})
Nach der Wende waren das 1 500 DM, also in heutiger
Währung 750 Euro.
({13})
Wenn die zwischenzeitlich vorgenommenen Erhöhungen
hinzugerechnet würden, läge das deutlich über dem Satz,
den Sie fordern. Deswegen ist das nicht glaubhaft, was
Sie hier vortragen. Heute, da Geld für Sie keine Rolle
spielt - jedenfalls solange Sie nicht regieren, und das
wird auf absehbare Zeit der Fall sein -, wollen Sie uns
vorschreiben, was zu tun ist. Als Ihre Vorgängerpartei
regiert hat, hatten Sie hinreichend Gelegenheit, ein
hohes Versorgungsniveau, ein Paradies auf Erden, zu
schaffen. Sie haben es nicht geschafft; Sie haben versagt.
Deswegen hätten Sie heute besser geschwiegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Herr
Kollege.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kolb sagte gerade, dass wir hier regelmäßig über
sozialpolitische Themen diskutieren. Das ist richtig. Das
Problem ist aber, dass das immer auf Initiative der Opposition geschieht. Man hat den Eindruck, dass im Ministerium gar nichts mehr gemacht wird und auch von den
Regierungsfraktionen in dieser Hinsicht überhaupt
nichts mehr kommt.
({0})
- Das letzte sozialpolitische Thema, das hier von Ihnen
angegangen wurde, war die landwirtschaftliche Sozialversicherung. Aber das war vor allen Dingen eine Initiative der Agrarpolitikerinnen und Agrarpolitiker.
({1})
Daran hat das Arbeitsministerium relativ wenig Anteil
gehabt. Insbesondere zum Thema Altersarmut kam in
den letzten Monaten nichts, aber überhaupt nichts. Es ist
sehr einfach, über den zugegebenermaßen nicht sehr guten Antrag der Linken herzuziehen. Aber es gibt keine
Alternative vonseiten der Regierungsfraktionen, und
auch von der SPD kam nichts außer heißer Luft.
({2})
Herr Kolb, Sie meinten, Altersarmut sei heutzutage
kein Problem. Das stimmt nicht. Es ist mittlerweile
höchste Eisenbahn, auf diesem Gebiet etwas zu tun.
({3})
Es ist lange Zeit gelungen, zu erreichen, dass das Einkommen der älteren Bevölkerung nicht oder kaum unter
dem Einkommen der Jüngeren lag. Das hat sich mittlerweile geändert. Noch 2003, also zu rot-grüner Regierungszeit, hatten die über 65-Jährigen in Westdeutschland immerhin ein Einkommen von 98 Prozent des
Durchschnittseinkommens; in Ostdeutschland waren es
95 Prozent. 2008 waren es im Westen nur noch 95 Prozent, also schon 3 Prozentpunkte weniger. Im Osten ging
der Wert sogar auf 87 Prozent zurück, was noch einmal
deutlich macht, dass insbesondere für Ostdeutschland
etwas zu tun ist. Bemerkenswert ist auch, dass der Zahlbetrag der Zugangsrenten von 2000 bis 2010 real um
sage und schreibe 16,6 Prozentpunkte gesunken ist. Das
zeigt, welche Entwicklung wir vor uns haben. Auch die
Altersarmut nimmt zu. Auf Basis der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe 2008 liegt die Armutsrisikoquote
der Älteren mittlerweile wieder über dem Durchschnitt
der Gesamtbevölkerung. Bei anderen Studien liegt sie
knapp unter dem Durchschnitt. Man kann also nicht
mehr behaupten, dass Altersarmut in Deutschland kein
Problem ist.
({4})
Die Altersarmutswelle rollt schon jetzt auf uns zu und
wird sich in den nächsten Jahren noch erheblich beschleunigen. Deswegen ist es dringend an der Zeit, etwas
gegen Altersarmut zu tun.
({5})
Aber es geht nicht nur um Altersarmut. Die Menschen
zahlen fast ein Fünftel ihres Einkommens an Beiträgen
in die Rentenversicherung. Wenn sie das Gefühl haben,
dass dann die Rente am Ende nicht einmal reicht, um
den Bezug von Grundsicherung zu vermeiden, bekommen wir ein ernsthaftes ökonomisches Problem. Wir
müssen deswegen als Politik gewährleisten, dass die
Menschen für ihre Beiträge eine Gegenleistung erhalten.
Das heißt erstens: Zumindest wer lange eingezahlt hat,
muss eine Rente, die über dem Grundsicherungsniveau
liegt, erhalten. Das heißt zweitens: Wer mehr einzahlt,
muss auch eine höhere Rente bekommen.
({6})
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die
Legitimität und Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung aus sozialpolitischen und auch aus ökonomischen Gründen.
Und was macht die Regierung? Vor einem Jahr sollte
eine Kommission zum Thema Altersarmut eingesetzt
werden. Angedacht war April 2011, dies wurde dann auf
den Herbst verschoben. Danach gab es den sogenannten
Regierungsdialog Rente, den manche der Beteiligten
allerdings eher als Regierungsmonolog empfunden
haben. Am Anfang standen drei Vorschläge der Bundesregierung. Bis Ende letzten Jahres wurden - weitgehend
hinter verschlossenen Türen - Gespräche geführt. Seit
Anfang dieses Jahres herrscht Schweigen im Walde.
Man hört nichts mehr. Wir haben im Ausschuss diverse
Male nachgefragt, wie weiter diskutiert wird und was
geplant ist. Wir haben keine Antwort bekommen. Staatssekretär Brauksiepe hat jedes Mal gesagt, er könne sich
dazu nicht äußern,
({7})
es gebe Gespräche zwischen den Regierungsfraktionen,
zwischen den Ministerien, zwischen wem auch immer.
Auch der Finanzminister hat wohl ein Wörtchen mitzureden. Dies alles findet nicht öffentlich statt. Aber wir
brauchen endlich eine öffentliche Debatte darüber, wie
wir die Rente armutsfest machen.
Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Sagen Sie endlich der Öffentlichkeit, was Sie gegen Altersarmut
machen wollen! Brechen Sie Ihr Schweigen! Sagen Sie
der Öffentlichkeit, was aus der Idee der Zuschussrente
wird! Wird sie, wie Sie das vorgeschlagen haben, eingeführt oder nicht? Planen Sie jetzt etwas ganz anderes?
Wir hören dazu nichts. Bei diesem Thema muss aber
endlich etwas passieren; das ist wichtig.
({8})
Ich finde, das, was die Bundesregierung da treibt, ist ein
echtes Armutszeugnis.
Nun zum Antrag der Linken; um diesen geht es in der
Debatte heute vor allen Dingen.
({9})
Die Linken legen immerhin einen Vorschlag vor, wenn
auch einen schlechten. Zunächst zum Positiven: Die
Linke hat erkannt, dass man an mehreren Stellen ansetzen muss. Einerseits brauchen wir präventive Maßnahmen - diese fehlen beim Regierungsdialog -,
({10})
um dafür zu sorgen, dass möglichst im Vorhinein eine eigene ausreichende Rente aufgebaut wird. Andererseits
brauchen wir im Nachhinein eine Art Mindestniveau in
der Rente für den Fall, dass diese präventiven Maßnahmen nicht ausreichen. Dies ist so weit ganz gut gemeint,
allerdings sind die einzelnen Vorschläge sehr schlecht.
Ich kann auf die Vielzahl der Kritikpunkte gar nicht
eingehen; denn das würde meine Redezeit sprengen.
Deswegen konzentriere ich mich auf die sogenannte
Mindestrente, bei der es sich überhaupt nicht um eine
Rente handelt. Es wird eine umfassende Einkommensund Vermögensprüfung - wie bei der jetzigen Grundsicherung - gefordert. Auch andere Kriterien sprechen
dafür - Kollegin Ferner hat darauf hingewiesen -, dass
es sich dabei um nichts anderes als eine zweite Grundsicherung handelt, bei der die Rentenversicherung die
Rolle des Sozialamts übernimmt. Das hat, Frau Ferner,
überhaupt nichts mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zu tun. Dies ist nichts anderes als eine
Grundsicherung de luxe.
({11})
Damit wird ein wesentliches Ziel bei der Schaffung eines Mindestniveaus in der Rente verfehlt, nämlich den
Grundsicherungsbezug zu verhindern. Würde man
Ihrem Antrag folgen, würden noch viel mehr Menschen
Grundsicherung beziehen und sich dadurch stigmatisiert
fühlen. Es könnte auch verdeckte Armut entstehen.
Sie hatten als Beispiel die Situation von Frau Schäfer
dargestellt. Diese müsste dann erst zur Rentenversicherung, um dort die solidarische Mindestrente zu beantragen, und dann müsste sie entweder zum Wohngeldamt
oder zum Grundsicherungsamt, um Grundsicherung zu
beantragen.
({12})
Nach Ihrem Konzept liegt das Niveau der Grundsicherung bei durchschnittlichen Wohnkosten höher als die
von Ihnen angedachte Mindestrente in Höhe von
900 Euro. Das alles passt überhaupt nicht zusammen.
Diese doppelte Grundsicherung ist völliger Unsinn.
({13})
Allerdings ist der Vorschlag der Linken für eine Mindestrente gar nicht so weit vom ursprünglichen Vorschlag der Ministerin für eine Zuschussrente entfernt.
Bei beiden soll eine Bedürftigkeitsprüfung durchgeführt
werden. Mir ist nicht klar: Soll diese Zuschussrente nun
eine Fürsorgeleistung oder eine Leistung der Renten19234
versicherung sein? Das ist aber nicht der einzige Fehler,
der auf beiden Seiten gemacht wird. Bei der Zuschussrente und auch bei der Mindestrente ist problematisch,
dass die eigenen Ansprüche voll angerechnet werden
sollen. Das ist ökonomisch falsch und auch ungerecht,
weil sich eigene Beitragszahlungen dadurch nicht mehr
lohnen.
({14})
Das ist auch sozialpolitisch falsch, weil es die soziale
Spaltung verstärkt. Die linke Mindestrente ist, wie gesagt, nichts anderes als eine Sozialhilfe de luxe. Das
reicht nicht.
({15})
Wir brauchen eine Garantierente mit einem Mindestniveau, das über dem Grundsicherungsniveau liegt, auf
die die Menschen aufgrund ihrer Beitragszahlungen ein
Anrecht haben und die ohne Antrag und ohne umfassende Bedürftigkeitsprüfung zusammen mit der Rente
ausgezahlt wird. Die Garantierente muss so ausgestaltet
sein, dass eigene Ansprüche und Eigenvorsorge zu einem höheren Einkommen im Alter führen. Das ist notwendig, um die Akzeptanz der Rentenversicherung zu
sichern.
Gleichzeitig brauchen wir, um einen Bezug der Garantierente möglichst zu vermeiden, präventive Maßnahmen, die dazu führen, dass die Menschen einen ausreichenden eigenen Rentenanspruch erwerben. Dazu gehören
Mindestlöhne, höhere Löhne insgesamt, unter anderem
durch Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne,
und eine Eindämmung prekärer Beschäftigungsverhältnisse.
({16})
Hier sind wir uns mit der Linken von der Tendenz her
durchaus einig, auch wenn es im Detail unterschiedliche
Vorstellungen gibt. Darüber werden wir im Ausschuss
noch reden.
Darüber hinaus wollen wir die Rentenversicherung zu
einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, gehen hier
also weiter als die Linken mit ihrem Vorschlag einer
Erwerbstätigenversicherung. Als erste Schritte sollen
bisher nicht abgesicherte Selbstständige in die Rentenversicherung einbezogen und Minijobs wieder rentenversicherungspflichtig werden. Für Arbeitslose müssen
wieder Beiträge gezahlt werden. Last, but not least wollen wir die eigenständige Alterssicherung von Frauen
stärken; auch dies ist ein Punkt, der im Antrag der Linken völlig fehlt. Durch diese Maßnahmen werden unterbrochene Versicherungsbiografien geschlossen und eigene Ansprüche aufgebaut, und die Finanzierung der
Rentenversicherung wird auf eine insgesamt nachhaltigere Basis gestellt.
Das Wort Finanzierung - das ist schon gesagt worden taucht im Antrag der Linken überhaupt nicht auf. Es
wird überhaupt nichts dazu gesagt, was das Ganze kostet. Letztendlich ist der Antrag ein Sammelsurium von
allen möglichen Einzelmaßnahmen, die sehr teuer sind,
die zum Teil nicht zusammenpassen, die widersprüchlich sind, die nicht zu Ende gedacht sind und für die Vorschläge zur Gegenfinanzierung völlig fehlen.
Wir werden in absehbarer Zeit ein durchgerechnetes
Konzept einer grünen Garantierente vorlegen. Bis dahin
warten wir gespannt, ob die Bundesregierung noch etwas vorlegt. Vielleicht macht ja sogar einmal die SPD
einen konkreten Vorschlag.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({17})
Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön,
Kollege Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland, die
wichtigste Säule der Altersvorsorge der Deutschen, steht
zu Beginn des Jahres 2012 besser da, als wir je gedacht
haben. Wir haben zurzeit eine Rücklage, also ein Plus
auf dem Rentenkonto, in Höhe von mehr als 1,4 Monatsausgaben.
({0})
Im vergangenen Jahr hat die Rentenversicherung ein
Plus von 4,6 Milliarden Euro gemacht. Dies wird dazu
führen, dass Rentenanpassungen, sprich Rentenerhöhungen für diejenigen, die bereits in Rente sind, wieder in
einem ansehnlichen Ausmaß möglich werden.
Die Absenkung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung zum 1. Januar dieses Jahres von 19,9 Prozent
auf 19,6 Prozent ist eine deutliche finanzielle Entlastung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie wird übrigens zur Folge haben, dass die Rentenanpassung für
die Rentnerinnen und Rentner im übernächsten Jahr
deutlich höher ausfallen wird, als es ohne Absenkung
des Beitragssatzes der Fall gewesen wäre.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
finde, in dieser Situation können wir mit Recht sagen:
Wir haben die gesetzliche Rentenversicherung, die wichtigste Säule der Alterssicherung in Deutschland, sowohl
durch die Reformpolitik der vergangenen Jahre als auch
insbesondere infolge der guten wirtschaftlichen Entwicklung im vergangenen Jahr in einem Ausmaß stabilisiert, auf das wir stolz sein können. Zu allen Anschlägen
auf die Sicherheit der deutschen Rentenversicherung
muss es ein klares Nein geben.
({1})
In der Tat gibt es eine Reihe von neuen Aufgaben. Vor
diesen Herausforderungen stehen wir, weil im Rahmen
der Rentenreform, die in der Regierungszeit von RotGrün durchgeführt wurde, eine Absenkung des RentenPeter Weiß ({2})
niveaus beschlossen wurde - dazu ist es, wie gesagt, unter der Verantwortung von Rot-Grün gekommen -,
({3})
die zu einigen Problemen geführt hat. Vor diesem Hintergrund danke ich der Bundesministerin für Arbeit und
Soziales, Ursula von der Leyen, dafür, dass sie im vergangenen Jahr eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt
hat, wie wir die bestehenden Probleme angehen können.
({4})
- Herr Strengmann-Kuhn, weil wir es mit der Bürgerbeteiligung, die die Grünen immer fordern, ernst meinen,
hat die Ministerin zu einem Rentendialog eingeladen, an
dem alle interessierten Verbände und Bürgerinnen und
Bürger teilnehmen konnten.
({5})
Die Koalitionsfraktionen sind derzeit damit befasst, die
Ergebnisse des Rentendialogs gründlich auszuwerten.
Wir gestalten die Rente nicht gegen die Bevölkerung,
sondern wir betreiben Rentenpolitik für die Bevölkerung. Deswegen: Ja zum Rentendialog!
({6})
Wir haben erstens vor, ein wichtiges Prinzip in der
Rentenversicherung zu verankern: Wer ein Leben lang
gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat,
der sollte auch in Zukunft sicher sein, dass er aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine Leistung erhält, die
oberhalb der Grundsicherung liegt, dass er also nicht zusätzlich um staatliche Unterstützung bitten muss. Das ist
die Idee, die der Zuschussrente zugrunde liegt.
Herr Birkwald hat gerade beispielhaft das Problem
von Frau Schäfer vorgetragen. Die Lösung dieses Problems wäre ganz einfach. Er müsste nur zu Frau von der
Leyen gehen und sagen: Frau von der Leyen, ich trage
Ihr Konzept mit.
({7})
Frau Schäfer würde dann nämlich ab sofort 850 Euro an
Rente bekommen.
({8})
Kollege Karl Schiewerling hat schon darauf aufmerksam gemacht: Das größte Problem hinsichtlich der drohenden Altersarmut ergibt sich bei den Beziehern von
Erwerbsminderungsrente, also bei Menschen, die wegen
Krankheit vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden
mussten. Deswegen wollen wir zweitens den Schutz für
Erwerbsminderungsrentner verbessern, indem wir die
Zurechnungszeit verlängern und die Jahre, in denen sie
schlechter verdient haben, bei der Rentenberechnung
nicht berücksichtigen. Dadurch gewährleisten wir insgesamt einen besseren Schutz für Erwerbsminderungsrentner.
Drittens wollen wir für all diejenigen, die vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Erwerbsleben
ausscheiden und Rente beantragen oder das Instrument
der Teilrente nutzen wollen, die Hinzuverdienstgrenzen
deutlich erhöhen, um vor allen Dingen den Tarifpartnern, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, die
Möglichkeit zu geben, betriebliche Modelle eines gleitenden Übergangs aus der Berufstätigkeit in die Rente zu
ermöglichen.
Mit diesen drei Reformvorhaben, die wir als Koalition angehen wollen, werden wir unser Rentensystem
stärken und einen wirksamen Schutz gegen Altersarmut
einbauen. Das ist unser Ziel.
({9})
Was dagegen die Linke vorschlägt, ist nichts anderes
als ein brutaler Anschlag auf die Prinzipien des deutschen Rentenversicherungssystems.
({10})
Dass künftig jemand, der in die Rentenversicherung eingezahlt hat, die gleiche Rentenzahlung erhalten soll wie
jemand, der nie eingezahlt hat, widerspricht allen Prinzipien der Solidarität und der Gerechtigkeit.
({11})
Wir haben in der Vergangenheit im Deutschen Bundestag in der Rentenpolitik oftmals - und das war gut - gemeinsam über alle Fraktionen hinweg Beschlüsse gefasst. Warum haben wir das getan? Im Hintergrund stand
für uns: Wir wollen die Leistungen von Menschen, die
arbeiten und in die Rentenversicherung einzahlen, mit
einer anständigen Rente belohnen. Die Rente ist lohnund beitragsbezogen. Wer zu dieser Solidarität im Rentensystem nichts beiträgt, der kann auch nicht eine
gleich hohe Rente erhalten wie jemand, der sein ganzes
Leben lang eingezahlt hat.
({12})
Gott sei Dank wird heute einmal deutlich, dass die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland,
die ehrlich arbeiten und in die Rentenversicherung einzahlen,
({13})
mit einem brutalen Angriff der Linken zu rechnen haben,
({14})
die ihre Ehrlichkeit, ihren Gerechtigkeitssinn und ihre
Bereitschaft zur Solidarität in unglaublicher Art und
Weise ohrfeigt. Wir stehen dazu: Die Rentenversicherung muss gerecht und vor allen Dingen solidarisch sein.
({15})
Das Gleiche gilt für den Vorschlag der Linken, dass
die Arbeitnehmer, die im Osten gearbeitet haben, und
die Arbeitnehmer, die im Westen gearbeitet haben und
das Gleiche verdient haben, künftig nicht die gleiche
Rente bekommen sollen - die Forderung, dass sie die
gleiche Rente bekommen, fände ich okay; das würde ich
unterstützen -, sondern dass die Rentner im Osten mehr
Rente erhalten sollen als die im Westen.
({16})
Sprich: Die Linke will die deutsche Spaltung nicht beenden, sondern sie will eine neue Spaltung in Deutschland
einführen. Das weisen wir mit aller Entschiedenheit zurück.
({17})
Das Gleiche gilt für das Finanzierungskonzept. Letzten Endes geht es nicht um einen Beitragssatz von
28 Prozent für die Rentenversicherung, wie Herr
Birkwald vorgetragen hat. Wenn man das durchrechnet,
dann kommt man vielmehr auf einen Rentenversicherungsbeitrag von über 30 Prozent. Was soll ein junger
Auszubildender denken, wenn er im Job zum ersten Mal
seine geringe Ausbildungsvergütung ausbezahlt bekommt und der Beitragssatz für die Rentenversicherung
bei 30 Prozent liegt?
({18})
Mit Generationengerechtigkeit, mit der gleichmäßigen
Verteilung der Lasten auf die einzelnen Generationen hat
das nichts zu tun. Wenn wir ein gesundes, solides und
von der Bevölkerung akzeptiertes Rentensystem haben
wollen, dann muss es gleichmäßige Belastungen und
Entlastungen für alle Generationen geben. Man kann
nicht die Lasten einseitig auf eine Generation verteilen.
Wir sind die Fraktion, die dafür steht: Generationengerechtigkeit ist die Grundlage unseres Rentensystems.
({19})
Das war ein guter Schlusssatz, Herr Kollege.
Ich will zum Schluss noch eines sagen.
Dann aber ganz zum Schluss.
Damit unsere Rentenversicherung auch in Zukunft erfolgreich und leistungsfähig ist, wäre es schön, wenn wir
in diesem Parlament wieder gemeinsam zu den Prinzipien des deutschen Rentenversicherungssystems stehen
könnten. Dazu fordere ich Sie herzlich auf.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Anton Schaaf. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Peter Weiß, du hast gesagt, dass ihr Rentenpolitik mit
den Menschen macht. Ganz im Ernst: Beim Thema Regierungsdialog wisst nicht einmal ihr in der Koalition,
was am Ende dabei herauskommt, geschweige denn die
Menschen. An der Stelle macht ihr überhaupt nichts.
({0})
Es ist offenbar eine geheime Kommandosache, was gerade im Ministerium läuft. Das ist so geheim, dass selbst
ihr nicht wisst, was bei dieser komischen Zuschussrente
am Ende herauskommt. Von daher war das etwas überzogen.
Was die Gemeinsamkeiten angeht, haben wir bei den
großen Leitlinien der Rentenversicherung bzw. der Alterssicherung der Menschen immer zusammengearbeitet. Aber wenn ihr anfangt, bei dieser Zuschussrente einen individualisierten Teil zur Grundlage dafür zu
machen, dass Menschen eine staatliche Förderung erhalten, dann werden wir das nicht gemeinsam beschließen.
Dabei machen Sozialdemokraten nämlich nicht mit.
({1})
So einfach ist das.
({2})
Im Übrigen verlasst ihr die Gemeinsamkeiten, die Parität
und Solidarität bedeuteten. Darauf haben wir immer sehr
großen Wert gelegt. Wenn aber die individualisierte
Rente, also die Riester-Rente, Anspruchsvoraussetzung
für die Zuschussrente werden soll, dann werden wir das
auf keinen Fall mitmachen. Dann verlassen wir eben die
gemeinsamen Linien und kämpfen ums Detail.
({3})
Dann zu Ihnen, Kollege Strengmann-Kuhn: Wir haben uns zur Erwerbstätigenversicherung verhalten. Wir
haben im Plenum auch Vorschläge zur Erwerbsminderungsrente diskutiert. Heute Abend wird es noch um den
Rehadeckel gehen. Wir haben im Plenum eigene Anträge zur Rente mit 67 eingebracht und zum Thema Soloselbstständigkeit Position bezogen. Zu sagen, wir hätten nichts zum Thema Rente gemacht, ist absoluter
Unfug.
({4})
In dieser Debatte geht es aber um einen Antrag der
Linken. Wir sind übrigens einer Meinung: Er ist katastrophal schlecht. Darum geht es in dieser Debatte. Es
geht nicht darum, ob wir vollendete Konzepte vorgelegt
haben. Ein vollendetes Konzept gibt es auf Ihrer Seite
auch nicht.
({5})
Ich erinnere mich an das vollendete Konzept, das die
Grünen einst vorgelegt haben. Es war zumindest sehr
überprüfungsbedürftig.
({6})
Herr Birkwald, wenn wir Rentendebatten geführt haben, insbesondere wenn die Linken sie beantragt hatten,
hat oft Herr Gysi geredet, und ich habe dann immer gesagt: Lasst doch jemanden von eurer Fraktion reden, der
Ahnung von Rente hat. - Diesem Anspruch sind Sie
heute nicht gerecht geworden. Ich weiß nicht, warum.
({7})
Denn Sie haben eigentlich Ahnung von Rente.
Ich sage es folgendermaßen: Wie wollen Sie jemandem, der 35 Jahre lang gearbeitet und für jeden verdammten Cent, den er verdient hat, entsprechend in die
Rentenversicherung eingezahlt, sodass er einen Rentenanspruch von 901 Euro hat, erklären, dass sein Nachbar,
der nie irgendwo eingezahlt hat, 900 Euro bekommt?
({8})
Diese Debatte halten Sie auf keinen Fall durch. Das ist
auch weder eine gerechte noch eine linke Debatte.
({9})
In der Rentenversicherung spiegeln sich Lebensleistungen wider. Man kann zwar anderer Meinung sein,
aber dann gilt das, was Sie in Ihrem eigenen Antrag ausschließen. Sie wollen keine staatlich verordneten Almosen. Was ist denn eine Regelung, wie Sie sie mit den
900 Euro vorsehen? Das ist eine staatlich verordnete Almosenrente.
({10})
Ihr Beispiel von der Rentnerin ist entlarvend. Bei ihr
spiegelt sich die Lebensleistung in der Form wider, dass
die Rente circa 580 Euro beträgt. Sozialdemokraten und
Grüne haben die Grundsicherung im Alter eingeführt,
damit Menschen nicht zu Bittstellern werden, weil sie zu
wenig Rente haben. Jetzt sagen Sie, dass die Frau in Ihrem Beispiel keine Almosen will und deswegen die
Grundsicherung nicht beantragen würde. Ob aber jemand von 580 Euro durch einen staatlichen Zuschuss
von 100 Euro auf 680 Euro kommt oder ob man bis
900 Euro alimentiert: Die Frau ist am Ende immer Bittstellerin; bei Ihnen ist der Zuschuss nur etwas größer.
Bei Ihnen werden allerdings viel mehr Menschen zu
Bittstellern, da Sie einen Wert von 900 Euro zugrunde
legen.
({11})
Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag beträgt im
Moment 800 Euro. Alle Menschen, deren Rente im Bereich dieses durchschnittlichen Zahlbetrags liegt, werden
bei Ihnen zu Bittstellern.
({12})
Wenn Sie die Debatte intellektuell redlich führen würden, dann würden Sie über das Leistungsniveau diskutieren, dann würden Sie sagen, dass es falsch ist, das Leistungsniveau weiter abzusenken.
({13})
- Ja, aber das korrespondiert in keinster Weise mit Ihrem
Vorschlag einer Grundrente.
Bevor meine Redezeit ganz abgelaufen ist, will ich
noch etwas zum Thema Ost-West sagen. Sie haben natürlich recht: Die Regierungsfraktionen hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben, in
dieser Legislaturperiode diesbezüglich etwas zu machen.
({14})
Wir können gemeinsam feststellen, Matthias Birkwald,
dass sie die den Menschen versprochene Ost-West-Angleichung in dieser Legislaturperiode nicht umsetzen
werden. An der Stelle wird nichts geschehen. Das
müsste die Ministerin den Menschen eigentlich ehrlich
sagen.
({15})
Sie haben ein Versprechen gebrochen, meine Damen und
meine Herren aus der Regierungskoalition.
({16})
Herr Birkwald, die Kollegin Ferner hat recht: Nach
Ihrem Modell wird eine Person, die im Osten für die
gleiche Arbeit das gleiche Geld wie eine Person im Westen bekommt, bevorzugt - das müssen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Westen ehrlich sagen -; denn über den Höherwertungsfaktor haben Sie
kein einziges Wort verloren. Sie haben nur gesagt, die
Rentenwerte sollten angeglichen werden. Sie haben
zwar von gleichem Geld für gleiche Arbeit und gleicher
Rente für gleiche Lebensleistung gesprochen, über den
Höherwertungsfaktor haben Sie aber kein Wort verloren.
Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
im Westen der Republik, dass Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Osten der Republik weiter bevorzugen wollen.
({17})
Das wäre redlich, und dann kann man auch damit umgehen.
Der Höherwertungsfaktor ist durch unterschiedliche
Einkommenshöhen begründet; deswegen sei er gerecht.
Ist das Einkommen aber gleich - und der Kollege
Birkwald hat zu Beginn seiner Rede von gleichem Geld
für gleiche Arbeit gesprochen -, dann ist der Höherwertungsfaktor nicht mehr begründbar.
({18})
Elke Ferner hat schon gesagt, dass wir auch im Westen der Republik Regionen haben, in denen man nicht so
gut verdient, beispielsweise im Norden der Republik
oder im Saarland. Da wird auch nichts ausgeglichen.
Sie wollen den Charakter der Rentenversicherung
verändern. Sie behaupten zwar, Sie wollten keine Einheitsrente. Aber Ihr Vorschlag ist der erste Schritt zu einer Einheitsrente.
({19})
Wir sind der festen Überzeugung, dass es sehr sinnvoll ist, dass sich Lebensleistung in der Höhe der Rente
widerspiegelt. Wir wollen niemanden ins Bodenlose fallen lassen. Deswegen gibt es die Grundsicherung im Alter. Wir streiten auch gerne über das Rentenniveau und
über die Frage, ob zum Beispiel die Absenkung des Rentenniveaus ursächlich dafür ist, dass mehr Menschen altersarm werden, ob man an dieser Stelle eine Grenze einziehen muss. Wir streiten gerne über eine nachgelagerte
Höherwertung.
Aber Ihren Weg der Gleichmacherei unterschiedlicher
Lebensleistungen werden wir nicht mitgehen.
({20})
Vielen Dank, Herr Kollege Schaaf. - Bevor ich dem
nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich dem Kollegen Matthias Birkwald das Wort zu einer Kurzintervention.
Wer den Antrag gelesen und bei meiner Rede gut zugehört hat, der wird festgestellt haben, dass wir Linken,
erstens, deutlich fordern, dass auf dem Arbeitsmarkt etwas verändert wird, weil wir selbstverständlich mit Ihnen einer Meinung darin sind, dass die Rente nicht das
reparieren kann, was auf dem Arbeitsmarkt schiefgegangen ist. Das muss man erst einmal festhalten.
({0})
Zweitens. Wenn Sie die Kürzungsfaktoren aus der
Rentenformel herausnehmen, wenn Sie die Rentenwerte
in einem Schritt um 4 Prozent anheben und all das machen, was wir vorgeschlagen haben, dann werden diejenigen, die lange Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben, auch eine deutlich höhere Rente als
900 Euro bekommen. Die werden eine Rente von
1 100 Euro und mehr bekommen.
Das heißt, dass wir das Grundprinzip der Äquivalenz
im Bereich der Lebensstandardsicherung nicht antasten.
Aber wir sagen: Wir müssen im unteren Bereich solidarisch sein und dafür sorgen, dass niemand im Alter in
Armut leben muss. Eine Grundsicherung im Alter, wie
es sie heute gibt, würde es dann nicht mehr geben. Es ist
sehr wohl richtig, dass viele Menschen die Grundsicherung heute nicht beantragen, weil sie sich schämen. Sie
müssten dann, Kollege Schaaf, keine Bittsteller oder
Bittstellerinnen mehr sein; denn die Rentenversicherung
fragt, ob die Rentnerin oder der Rentner über eine gesetzliche Rente von zum Beispiel 600 Euro oder mehr
verfügt und ob eine Riester-Rente oder eine betriebliche
Altersvorsorge vorhanden ist. Im Osten müssten 99 Prozent der Menschen antworten: Ich habe nur die gesetzliche Rente. Dann würde gesagt: Wenn kein Vermögen in
einer bestimmten Größenordnung oder sonstiges Einkommen vorhanden ist, dann gibt es den Zuschlag.
Je besser die Rente - das hat Kollege Weiß angesprochen -, was die Äquivalenzseite anbetrifft, reformiert
wird, umso weniger brauchen wir den Zuschlag der solidarischen Mindestrente. Das heißt, wenn wir alle das
Rentensystem armutsfest machen, dann brauchen wir
null Zuschlag und null Mindestrente. Dagegen habe ich
nichts.
Ich sage noch einmal: Wir Linken fordern einen Mindestlohn, und wir fordern eine Mindestrente. Wir wollen
aber keine Gesellschaft der Mindestrentebeziehenden
und der Mindestlohnbeziehenden, sondern eine Gesellschaft von Menschen, die mehr verdienen, gute Tariflöhne erhalten und eine höhere Rente als die Mindestrente bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
die Gerechtigkeitsdebatte von den Menschen, die als
Durchschnittsverdienerinnen und Durchschnittsverdiener in Zukunft 36 Jahre werden arbeiten müssen, um
überhaupt einen Rentenanspruch oberhalb der heutigen
Grundsicherung im Alter zu haben, so geführt werden
wird. Deswegen ist es wichtig, dass die Rentenversicherung armutsfest gemacht und gleichzeitig ein Zuschlag
eingeführt wird, wenn dies nicht gelingt.
Ich komme zum Schluss zu den Renten im Osten. Es
besteht heute immer noch ein Lohnunterschied zwischen
Ost und West in Höhe von 11 Prozent. In dem Maße, wie
der Abstand schmilzt, soll auch die Angleichung beim
Hochwertungsfaktor erfolgen. Darin sind wir uns völlig
einig. Wir wollen natürlich nicht, dass in einem Landesteil die Renten unter dem Strich höher sind als in dem
anderen.
({1})
Die Realität ist aber eine andere. Heute werden den
Ostrentnern bei der Durchschnittsrente im Schnitt
140 Euro im Monat genommen.
Sie kommen jetzt bitte zum Schluss.
Diese 140 Euro im Monat brauchen die Rentnerinnen
und Rentner im Osten. Deswegen ist es wichtig, dass wir
in einem ersten Schritt die Löhne angleichen. Dann
brauchen wir auch nicht mehr den Hochwertungsfaktor.
Solange die Löhne aber nicht angeglichen sind, ist es nur
gerecht, dass ein Florist oder eine Betonbauerin nach einem langen Leben für die gleiche Lebensleistung auch
die gleiche Rente erhält. Das werden auch die Menschen
im Westen einsehen. Ich komme aus Köln. Da gibt es
den Satz: Man muss auch jönne könne. - Da bin ich mir
sicher.
Danke schön.
({0})
Das Wort zur Antwort hat Kollege Anton Schaaf.
Bei vielen Punkten kann ich mich wiederholen.
Matthias Birkwald hat hier in seiner Rede kein Wort zum
Höherwertungsfaktor gesagt. Auch im Antrag steht dazu
nichts.
({0})
Was bleibt, ist, was hier gesagt worden ist und was im
Antrag steht. Es ist gesagt worden: gleiches Geld für
gleiche Arbeit, gleiche Rente für gleiche Lebensleistung.
Zum Höherwertungsfaktor ist hier kein Wort gesagt worden. Ich stelle das nur noch einmal fest.
Das ist jetzt korrigiert. Das nehme ich zur Kenntnis.
Wenn wir bei gleicher Einkommensstruktur gleiche Rentenwerte haben, dann ist das in Ordnung. Das ist keine
Frage. Nur, dann fällt der Höherwertungsfaktor weg.
Das muss man im Osten dann auch sagen. Entweder er
wird beibehalten - dann muss man das im Westen sagen -,
oder er fällt weg, und dann muss man das im Osten sagen. Das gehört zur Redlichkeit.
Was mich am meisten bei der Form der Grundrente,
oder wie auch immer man es nennen möchte, stört, ist,
dass sie zuerst einmal bedingungslos ist. Man braucht
keine eigenen Beiträge eingezahlt zu haben. Das ist der
entscheidende Punkt. Wenn man aber sagt, man müsse
nur das Niveau der Renten anheben, dann muss man
auch dazu sagen, wer das finanzieren soll und wie viel
das kostet. Einfach die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, alle Einkommensbezieher in die Rentenversicherung aufzunehmen und die Renten zu deckeln - das kann
man natürlich machen -, reicht nicht, um umzuverteilen
und die Kosten gegenzufinanzieren, die auf uns zukommen. Das ist unredlich.
Wenn ich so etwas will, muss ich den Menschen ehrlicherweise sagen, dass sie sich mit einem Rentenversicherungsbeitrag von 28 Prozent abfinden müssen, um
solch ein Niveau zu erreichen. Das aber wird nicht gesagt. Weil Frau von der Leyen den Betrag von 850 Euro
genannt hat, muss die Linke sie natürlich überbieten und
900 Euro fordern. Es handelt sich um einen Bieterwettbewerb, wobei die Kosten in keiner Weise gegenfinanziert sind und die genannten Summen unrealistisch sind.
Vielen Dank. - Wir fahren nun in der Reihenfolge unserer Wortmeldungen fort.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön,
Kollege Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,
lassen Sie mich zunächst ein Wort an den Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Dr. Strengmann-Kuhn,
richten.
({0})
Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben kritisiert, dass die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bisher
noch keinen Entwurf zur Bekämpfung der Altersarmut
vorgelegt haben. Ich möchte Sie deshalb doch darauf
hinweisen, dass es Kennzeichen dieser Bundesregierung
und der sie tragenden Koalitionsfraktionen ist, dass wir
sorgfältig nachdenken, den Dialog mit allen Betroffenen
führen, uns gute Lösungen überlegen und dann vor allen
Dingen nachhaltige und belastbare Gesetze dem Hohen
Haus hier vorlegen - im Gegensatz zu Ihnen.
({1})
Sie erinnern sich vielleicht daran, womit wir in den vergangenen Monaten alles beschäftigt waren: mit der Jobcenterreform, mit Hartz IV, mit der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Mit all diesen Dingen
mussten wir uns beschäftigen, weil Sie während Ihrer
Regierungszeit hierbei nicht die entsprechende handwerkliche Qualität vorgelegt haben.
({2})
Deshalb: Wir arbeiten anders. Lernen Sie von uns! Dann
werden auch Sie einmal erfolgreich sein.
({3})
Aber jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken. Lieber Matthias Birkwald, es gibt einen großen Politiker; der hat einmal gesagt: Politik beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit. - Es ist doch geradezu
erschütternd, mit welcher unglaublichen Hartnäckigkeit
Sie sich diesem doch guten politischen Grundsatz verweigern. All die Maßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung, die Sie kritisieren, wie zum Beispiel die
Stärkung der privaten Säule, die Einführung der RiesterRente, die Rente mit 67, die Einfügung eines demografischen Faktors, die Einfügung eines Nachhaltigkeitsfaktors, haben doch die Vorgängerregierungen nicht aus Jux
und Tollerei ergriffen, sondern deswegen, weil sie auf
eine Notwendigkeit reagieren mussten, die Sie nicht
wegdiskutieren können. Diese Notwendigkeit hat einen
Namen: demografischer Wandel. Demografischer Wandel bedeutet, dass sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern immer ungünstiger entwickelt. Das
sage ich auch mit Blick auf die vielen jungen Zuhörerinnen und Zuhörer, die heute hier im Saal sind. 1970 waren es noch fünf Beitragszahler, die eine Rente finanziert
haben, im Jahr 2000 waren es noch drei, und im Jahr
2040 soll das Verhältnis bei eins zu eins liegen.
Wenn wir die gesetzliche Rentenversicherung erhalten wollen, müssen wir steuernd eingreifen. Das, was Sie
vorschlagen, ist unverantwortlich und vor allen Dingen
unbezahlbar.
({4})
Zum Stichwort „bezahlbar“ - die Kollegin Ferner hat
schon darauf hingewiesen -: Es ist ja schon erstaunlich,
dass Sie mit keinem einzigen Wort in Ihrem Antrag erwähnen, wie Sie das, was Sie da vorschlagen, finanzieren wollen. An einer Stelle gibt es die vage Andeutung;
da fordern Sie eine Mehrbelastung für freie Berufe und
von Menschen mit höherem Einkommen. Sie müssen
aber auch sehen, dass aus einer Mehrbelastung dann
auch höhere Ansprüche entstehen, jedenfalls dann, wenn
wir das Äquivalenzprinzip aufrechterhalten wollen. Insofern stellen Ihre Vorschläge nichts anderes als eine
Milchmädchenrechnung dar.
Das ist aber noch nicht alles. Dieser Antrag darf ja
nicht isoliert betrachtet werden. Da wir hier munter Donnerstag für Donnerstag über Sozialpolitik diskutieren
- Kollege Kolb hat schon darauf hingewiesen -, wissen
wir, welche weiteren sozialpolitischen Forderungen Sie
erheben: die Anhebung des Arbeitslosengeld-II-Regelsatzes auf 500 Euro, die mittelfristige Einführung einer
sanktionsfreien Mindestsicherung, die deutliche Erhöhung der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik und
einen massiven Ausbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, irgendwann müssen Sie einmal in der Realität ankommen
und uns sagen, wie Sie diese Menge an staatlichen Ausgaben in Zukunft finanzieren wollen.
({6})
- Das Steuerkonzept, das Sie vorgelegt haben, trägt eben
nicht. - Was passiert, wenn für die ganzen Ausgaben, die
Sie sich vorstellen, nicht entsprechende Steuereinnahmen realisiert werden, sehen wir jetzt gerade in erschreckender Weise am Beispiel der europäischen Finanzkrise. Das, was Sie hier vorgeschlagen haben, ist schlicht
nicht von dieser Welt. Es ist unverantwortlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
kommen Sie irgendwann einmal in der realen Politik an!
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Kober. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Johann
Wadephul. Bitte schön, Kollege Dr. Wadephul.
({0})
Herr Präsident, wer verfolgt hat, wie Sie dem Kollegen Birkwald eine zweite Möglichkeit gegeben haben,
hier in einer Kurzintervention noch einmal den Versuch
zu unternehmen, das Anliegen der Linken zu begründen,
war vielleicht zunächst verärgert. Ich jedenfalls war eigentlich ganz zufrieden. Man hat gemerkt, Herr Kollege
Birkwald - wir haben Sie als einen kompetenten Rentenfachmann im Ausschuss kennen- und schätzen gelernt -,
({0})
dass Sie eigentlich eine ganz andere Auffassung als die
vertreten, die hier in diesem wirren Antrag niedergelegt
worden ist. Das, was Sie in der Sache mündlich vortragen, passt überhaupt nicht zu dem, was seitens der Linken niedergelegt worden ist,
({1})
und insofern anempfehle ich Ihnen erst einmal eine interne Diskussion innerhalb der Fraktion der Linken. Sie
werden sich nicht nur über die Frage, wer Bundespräsident dieses Landes werden sollte, nicht ganz einig, sondern Sie werden sich auch über grundlegende Fragen der
Rentenpolitik nicht einig. Frau Bunge, die das Interesse
an dieser Diskussion mittlerweile verloren und den Saal
verlassen hat, ist möglicherweise die Autorin. Denn dieser Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, atmet noch
sehr stark das Gedankengut der Wissenschaft, die Frau
Bunge lange Zeit betrieben hat, und deswegen sage ich
Ihnen: Marxismus-Leninismus führt uns in Deutschland
nicht weiter, auch nicht in der Rentenpolitik.
({2})
Vollkommen zu Recht haben Sie, Herr Birkwald, gesagt, der Kern der Problemlösung sei der Arbeitsmarkt.
Da können wir Ihnen - das muss hier auch einmal gesagt
werden - nur recht geben. Der Arbeitsmarkt ist das
Kernelement, mit dem wir Armut bekämpfen, mit dem
wir den sozialen Ausgleich herstellen, mit dem wir Zufriedenheit auch im Alter schaffen.
({3})
Darüber hinaus ist der Arbeitsmarkt die Grundvoraussetzung dafür, dass eine Rentenversicherung funktionieren
kann.
Trotz eines harten Winters haben wir einen stabilen
Arbeitsmarkt, und trotz einer Finanz- und Wirtschaftskrise in ganz Europa verzeichnen wir einen Erfolg auf
dem Arbeitsmarkt in Deutschland, um den uns viele beneiden. Insofern finde ich es schon bemerkenswert, dass
Sie keinen einzigen Satz darauf verschwendet haben,
meine Damen und Herren.
Sozial ist, was Arbeit schafft,
({4})
und diese Koalition hat dafür gesorgt, dass wir einen
Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt erleben. Das ist ein
wirklicher Erfolg für die Menschen, und das sichert auch
eine gute Altersvorsorge.
({5})
Herr Kollege Dr. Wadephul, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sie haben gerade gesagt: Sozial ist, was Arbeit
schafft. - Darf ich Sie einmal daran erinnern, dass es einen Gleichstellungsbericht der Bundesregierung gibt, in
dem die Vorsitzende des Sachverständigenausschusses
gesagt hat, es sei desaströs, dass es auf dem Arbeitsmarkt 400-Euro-Jobs, befristete Stellen und Freiwilligendienste gebe? Keine Frau könne davon eine Rente
aufbauen.
Sie haben sehr zutreffend gesagt - das hat auch mein
Kollege Birkwald gesagt -, dass wir auf dem Arbeitsmarkt anfangen müssen. Aber wo sind Ihre Konzepte dafür, dass erziehende Elternteile auf dem Arbeitsmarkt
Chancen haben?
({0})
Sie wissen ganz genau, dass die Kinderbetreuungsquote
im Westen der Republik bei unter 30 Prozent liegt. Das
kommt für Frauen und Männer, die Kinder erziehen, einem Verbot der Vollzeitarbeit gleich. Äußern Sie sich,
bitte schön, dazu.
({1})
Das mache ich sehr gerne. - Dass Sie mir nun gerade
in dieser Debatte in Anwesenheit der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen die Gelegenheit geben,
darauf hinzuweisen, dass es Ursula von der Leyen war,
die dafür gesorgt hat, dass in der Bundesrepublik
Deutschland, dass im vereinten Deutschland nun die
Grundlagen dafür gelegt werden, dass die Betreuungsquote steigen kann
({0})
und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser
möglich sein wird, als sie dies unter einer anderen Regierung je war, dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. Das
ist in der Tat ein entscheidendes politisches Verdienst,
das sich mit dem Namen Ursula von der Leyen persönlich verbinden lässt, und das setzen wir fort. Das ist nicht
ganz einfach. Denn es muss auch finanziert werden. Insofern bedarf es einer gemeinsamen Kraftanstrengung
von Bund, Ländern und Kommunen, der wir uns auch
stellen.
Ich möchte Sie allerdings auf Folgendes hinweisen,
Frau Kollegin: Schauen Sie sich bitte einmal in Nachbarländern um.
({1})
- Nein, wir verzeichnen jetzt in ganz Deutschland in einem bekannten Problemmonat wie dem Februar eine
Verringerung der Arbeitslosigkeit um über 6 Prozent.
Das ist ein Erfolg, meine Damen und Herren, und jeder,
der Arbeit gefunden hat - wir haben so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie nie zuvor -, kann etwas für die Rente tun. Darüber sollten wir uns freuen,
und daher sollten wir diesen Weg auch fortsetzen.
({2})
Das sage ich nicht ausweichend auf die Frage, dass es
natürlich prekäre Beschäftigung gibt. Diesem Problem
weichen wir nicht aus, und auch Frau Bundesarbeitsministerin hat sich hierzu schon öffentlich geäußert.
Darüber hinaus sind wir dabei, für eine feste Lohnuntergrenze die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, und hoffen, dass wir in dieser Koalition
noch in dieser Legislaturperiode zu einem Ergebnis
kommen. Da sind wir also auf dem richtigen Weg. Diesen sozialpolitischen Fragen weichen wir in keiner
Weise aus.
Zweiter Punkt. Wir sollten die Rentenversicherung,
die wirklich ein Erfolgsmodell ist, nicht schlechtreden.
Die Rentenversicherung ist - darauf haben auch die Redner der sozialdemokratischen Fraktion dankenswerterweise hingewiesen - an allererster Stelle eine Versicherung und keine staatliche Wohltätigkeitsinstitution. Sie
lebt davon, dass Menschen Beiträge zahlen. Als Gegenleistung für das, was sie eingezahlt haben, bekommen sie
dann im Alter eine Rente.
({3})
Lieber Herr Birkwald, wenn Sie sagen, die von Ihnen
geforderte Grundrente in Höhe von 900 Euro
({4})
würde nicht zu einer Demotivation der Menschen führen, dann geht das an der Lebenswirklichkeit vorbei.
Seien wir doch einmal ehrlich: Wer arbeitet denn
40 Jahre, um am Schluss eine Rente zu bekommen, die
vielleicht 100 Euro über Ihrer Garantierente liegt? Das
demotiviert. Wir müssen doch Anreize dafür geben,
morgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und sozialversicherungspflichtig tätig zu sein. Wir dürfen die Menschen aber nicht demotivieren, indem wir ihnen versprechen, dass sie am Schluss eine Leistung bekommen, für
die sie heute noch hart arbeiten müssen. Das ist der falsche Weg, den wir nicht mitgehen werden.
({5})
Dritter Punkt. Das mehrsäulige Modell in Deutschland funktioniert. Ich stelle dabei nicht in Abrede, dass
die Riester-Rente nicht die Lösung aller Probleme ist.
Das ist vollkommen klar; auch Sie haben das angedeutet.
Viele Menschen haben einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen oder betreiben auf andere Art und Weise
privat Altersvorsorge. Ich möchte an dieser Stelle darauf
hinweisen - der Kollege Weiß hat vorhin schon dargelegt, was man da noch ergänzend reformieren kann und
welche Weiterentwicklungen es geben sollte -, dass wir
in Deutschland auf unsere betriebliche Altersvorsorge,
die in Europa ihresgleichen sucht, stolz sein können.
({6})
Sie sorgt für sozialen Frieden und dafür, dass in den Betrieben ein Zusammengehörigkeitsgefühl besteht und
dass unsere Betriebe erfolgreich sind,
({7})
und sie zeigt, dass Solidarität zwischen Menschen im Erwerbsleben und Menschen, die eine Rente beziehen,
möglich ist. Das ist eine wesentliche Säule unserer Altersvorsorge, auf die wir stolz sind und die wir bewahren
und stärken sollten.
({8})
Es ist daher verkehrt, Ängste zu schüren, was Sie an
vielen Stellen ihres Antrags tun. Sie verwechseln oftmals Armutsgefährdung mit tatsächlicher Armut im Alter und weisen nicht darauf hin, dass in Deutschland
nach wie vor die größte Gefahr dafür, dass viele Menschen in der Tat im Alter von Armut bedroht sind, in der
Arbeitslosigkeit besteht. Deswegen sage ich Ihnen: Das
Wichtigste ist, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und dafür
zu sorgen, dass Menschen Arbeit haben.
({9})
Wir dürfen ihnen nicht weitere Sozialleistungen versprechen, die wir am Schluss nicht finanzieren können.
Der Kollege Kober hat gerade auf die Nichtfinanzierbarkeit Ihrer Vorschläge hingewiesen. Deswegen müssen
Sie in jeder lauteren Debatte zur Kenntnis nehmen, dass
wir im Jahre 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, einen Bundeszuschuss von 20 Milliarden Euro an die Rentenversicherung gezahlt haben. In diesem Jahr überweisen wir der Rentenversicherung über 80 Milliarden
Euro.
Abschließend will ich zu diesem Punkt sagen: Jeder,
der an dieser Stelle mehr Geld ausgeben will, muss zumindest ansatzweise erklären, an welcher Stelle im Bundeshaushalt er das Geld lockermachen will. Darauf bleiben Sie jede Antwort schuldig. Angesichts einer
europaweiten Schuldenkrise werden Sie von uns keine
Zustimmung zu Ihrer Schuldenpolitik bekommen.
({10})
Wir müssen vielmehr unsere Haushalte konsolidieren
und gleichzeitig dafür sorgen, dass Menschen im Alter
und auch in anderen Lebensabschnitten frei von Armutsängsten leben können. Dafür sorgen diese Regierung
und die Koalition mit einer erfolgreichen Arbeitsmarktund Wachstumspolitik. Diese Politik werden wir fortsetzen.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wadephul. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege Ottmar
Schreiner für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte
schön, Kollege Ottmar Schreiner.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Ich muss achtgeben, wenn Kollegen der Koalition vor mir gesprochen
haben; denn das löst bei mir immer automatisch Angriffsreflexe aus.
({0})
Diesem Impuls will ich heute einmal nicht nachgeben,
weil es um einen Antrag der Linksfraktion geht.
({1})
Ob Sie wirklich Glück gehabt haben, da bin ich mir
nicht sicher.
Einige Redner haben zu Recht darauf hingewiesen,
dass es zwischen dem Antrag der Linkspartei und dem,
was bislang aus dem Hause von der Leyen zu dem
Thema Zuschussrente bekannt geworden ist, merkwürdige Parallelen gibt. Es wäre schade, wenn ich meine
Zeit damit verbringen würde, diese Parallelen hier zu belegen. Es ist aber schon erstaunlich, wenn der Kollege
Weiß sagt: Der Antrag der Linkspartei ist der brutalstmögliche Angriff auf die Rentenversicherung. Und der
Kollege Wadephul sagt: Bei dem Antrag der Linkspartei
war der Marxismus-Leninismus am Werk. Schlussfolgernd bietet es sich geradezu an, die These zu vertreten:
Auch im Hause von der Leyen waltet der MarxismusLeninismus, und es finden brutalstmögliche Angriffe auf
die deutsche Rentenversicherung statt.
({2})
So weit bin ich mit meiner Argumentation noch nicht
gegangen. Man sieht, es fällt einem manches in den
Schoß, ohne dass man sich vorbereiten musste. Das
Ganze hat einen Vorteil. Es findet offenkundig ein politischer Wettkampf zwischen den Fraktionen und den Parteien statt, wie man am wirksamsten gegen Altersarmut
vorgehen kann. Das ist sicherlich auch im Interesse der
betroffenen Menschen in der Republik. Deshalb macht
es Sinn, im Parlament diese kontroversen Debatten zu
führen.
Zum Antrag der Linkspartei. Auch meine Wahrnehmung ist, dass dieser Antrag ein Mittelding zwischen der
lohnbezogenen Rente und dem bedingungslosen Grundeinkommen ist, mit starker Schlagseite in Richtung bedingungslosem Grundeinkommen. Die Einschränkungen
sind sehr vage und sehr zurückhaltend formuliert. Herr
Kollege Birkwald, Sie haben mit Ihrer zweiten Intervention nicht recht, dass bei der Angleichung der Rentenwerte Ost und West auf die Höherwertung verzichtet
worden ist. Dies steht ausdrücklich in Ihrem Antrag.
({3})
Ich zitiere:
Mit Blick auf den Grundsatz „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“ wird der Rentenwert Ost auf das
Westniveau angehoben und die Höherwertung beibehalten.
Also, nach der Anhebung beibehalten. Diese Art der Privilegierung versteht wirklich kein Mensch.
({4})
Das müssen Sie begründen. Das ist überhaupt nicht
nachvollziehbar.
In Ihrem Antrag steht auf Seite 8 der bemerkenswerte
Satz:
Einen Anspruch auf die solidarische Mindestrente
haben alle Menschen, deren Alterseinkommen unterhalb von 900 Euro netto liegt. Sie müssen nicht
zuvor in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert gewesen sein.
Das heißt, jeglicher Bezug zur gesetzlichen Rentenversicherung wird gekappt. Wieso eine solche Position dazu
geeignet sein soll, diese Rentenversicherung zu stärken,
müssen Sie dem staunenden Publikum erklären. Das Gegenteil wird der Fall sein.
({5})
Sie haben als zweites eine maßvolle Anhebung der
Rentenwerte in Ihrem Antrag vorgeschlagen. Damit
würde das Rentenniveau geringfügig erhöht werden. Das
ist sicherlich ein sinnvoller Vorschlag. Im Zusammenhang mit den anderen Vorschlägen führt auch dies in die
Irre.
Von den Rentenexperten der Bremer Arbeitnehmerkammer habe ich mir einige Berechnungen zukommen
lassen. Danach würde Ihr Antrag dazu führen, dass die
sogenannte Standardrente - das ist die Rente eines
Durchschnittseinkommensbeziehers nach 45 Versiche19244
rungsjahren - von jetzt 1 100 Euro auf etwa 1 150 Euro
netto steigt. Um eine Rente in Höhe von 900 Euro zu bekommen, würde ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin, auch nach dem Vorschlag Ihres Konzepts zur Anhebung des Rentenniveaus, gut 35 Versicherungsjahre
brauchen. Das - hier stimme ich allen Vorrednern zu werden Sie keinem Arbeitnehmer und keiner Arbeitnehmerin erklären können. Wenn sich Leistung lohnen soll,
dann muss hier ein völlig anderes Verfahren gewählt
werden. So kann man das nicht machen.
({6})
Sie bewerten 35 Beitragsjahre. Beitragsjahre sind in einem enormen Maße Lohnverzicht. Die sind gewissermaßen für die Katz, weil man auch ohne jeden Beitrag an
den gleichen Zahlbetrag herankommen kann.
In Ihrem Antrag wimmelt es zudem vor immanenten
Widersprüchen. Dazu will ich Ihnen einige vortragen.
Der erste Widerspruch bezieht sich auf den Mindestlohn.
Bislang habe ich Ihre Position zum Mindestlohn immer
so verstanden, dass die 10 Euro Mindestlohn dazu führen sollen, dass ein Einkommen generiert wird, das oberhalb der Grundsicherung, oberhalb der Sozialhilfe liegt.
Das war auch so. Wenn man Ihrem geänderten Antrag
folgt, dann müsste der Mindestlohn bei Ihnen mindestens 12 Euro betragen, um eine Rente in Höhe der neuen
Mindestsicherung zu erreichen. Hier ist von Abstand
noch gar keine Rede. Leistung muss sich lohnen. Das ist
der erste Widerspruch.
Der zweite Widerspruch. Sie fordern - wie wir im
Übrigen auch - die Entfristung der Rente nach Mindesterwerbseinkommen. Das würde bedeuten, dass niedrige
Einkommen rentenpolitisch aufgewertet werden in Richtung 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. Die von
Ihnen geforderten 900 Euro entsprechen aber bereits
78 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das heißt,
auch diese Waffe ist, ähnlich dem Mindestlohn, völlig
stumpf, jedenfalls rentenpolitisch.
Genauso verhält es sich mit den Vorschlägen zur Ausweitung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten
und Pflegezeiten sowie mit dem Vorschlag - der ja
meine Zustimmung findet -, erneut einen Versicherungsbeitrag für Hartz-IV-Bezieher in Höhe der Hälfte des
Durchschnittseinkommens einzuführen. Auch dieser
Vorschlag würde vor dem Hintergrund der von Ihnen geforderten 900 Euro vollständig ins Leere zielen. Das bedeutet, Sie können das gesamte Paket Ihrer rentenpolitischen Vorschläge auf den Misthaufen werfen, weil sie
ohne jede Wirkung sind.
({7})
Diese Vorschläge in Ihrem Antrag sind bestenfalls
schmückendes Beiwerk.
Das Kernproblem ist: Die Standardrente liegt nach
Ihrer Konzeption nur noch circa 250 Euro über der von
Ihnen vorgeschlagenen Mindestrente. Von dem, was Sie,
was wir und manche anderen immer gefordert haben
- dass ein deutlicher Abstand zwischen der Höhe der
Mindestsicherung und dem Lohneinkommen bestehen
muss -, kann überhaupt keine Rede mehr sein. Sie
schmelzen diesen Abstand eher zusammen. Das Gegenteil von der Forderung, die Sie bisher aufgestellt haben,
wäre der Fall.
Die Zahlen sind völlig klar: Das Mindestsicherungsniveau wird bei Ihnen nochmals um gut ein Drittel angehoben, der aktuelle Rentenwert und damit die Gesamtheit der Renten aber gerade einmal um 4 Prozent. Hier
liegt der Hund begraben. Wenn die Mindestsicherung
um mehr als 30 Prozent, um mehr als ein Drittel angehoben wird, während der Rentenwert um ganze 4 Prozent
steigt, dann führt das tendenziell zu einem Ergebnis, das
Sie gar nicht wollen können. Das begünstigt nämlich objektiv die Verschmelzung von Rente und Mindestsicherung; das ist geradezu vorprogrammiert. Das können Sie
im Ernst nicht wollen.
({8})
Das wäre der Abschied von der gesetzlichen Rentenversicherung.
Was für die gesetzliche Rentenversicherung über
Jahrzehnte konstitutiv war, nämlich die Lebensstandardsicherung, fände dann so gut wie nicht mehr statt, bestenfalls noch beiläufig. Sie muss aber wieder im Mittelpunkt der Diskussionen stehen. Ihr Konzept reduziert die
Sozialstaatspolitik auf Armutsvermeidung. So wichtig
das auch sein mag: Das ist zu wenig und konzeptionell
völlig unzureichend. Deshalb möchte ich Sie dringend
bitten, das Ganze zu überarbeiten.
({9})
- Der Vorschlag der SPD? Wir haben eine ganze Reihe
von Vorschlägen unterbreitet, und wir werden weitere
liefern. Wir organisieren den politischen Wettkampf, von
dem ich gesprochen habe, auch in den eigenen Reihen.
Das hat seinen Vorteil; manchmal hat es auch Nachteile.
Sie werden von uns noch manches zu sehen bekommen.
Wir haben zu den allermeisten Punkten in den vergangenen Monaten und Jahren eigene Vorschläge gemacht. Insoweit können Sie nicht fragen: Wo ist der Vorschlag der
SPD? Das meine ich gar nicht geringschätzig und hämisch; davon bin ich völlig frei.
Herr Kollege Schreiner, Sie schauen auf die Uhr?
Herr Präsident, ich bin schon am Abflug. - Ich weiß,
dass es sich um ein sehr kompliziertes Thema handelt.
Gleichwohl sollte man sich der Kritik stellen und Ihrerseits jetzt nicht in einen reinen Abwehrreflex verfallen.
Das wäre weder der Sache noch Ihrem eigenen Anspruch angemessen.
Herr Präsident, herzlichen Dank für die Großzügigkeit.
({0})
Vielen Dank und guten Flug. - Nächster Redner in
unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist in der Tat eine Debatte, bei der man sich über die
Wortmeldungen der Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratie gefreut hat, insbesondere über die von
Ihnen, Frau Ferner; das muss man wirklich sagen. Ich
konnte - das ist selten der Fall, wenn wir über bestimmte
Themen streiten und diskutieren - fast jeden Satz Ihrer
Rede unterschreiben.
Toni Schaaf, ich habe mich auch sehr gefreut, dass du
den überparteilichen Konsens in der Aufgabe, das Rentensystem zukunftssicher zu machen, betont hast. Ich
muss aber sagen, dass zwei Dinge nicht passen - so viel
Auseinandersetzung mit euch muss schon sein -:
({0})
Erstens. In der Auseinandersetzung eben über die
Frage, was wir gegen Altersarmut tun, wolltest du dich
ein Stück weit von dem Konsens entfernen, den es hier
zu Recht einmal gegeben hat: dass wir das Rentensystem
auf zwei Säulen - gesetzlich und privat - aufbauen müssen. Die Demografie ist nämlich nun einmal so, wie sie
ist. Anders können wir das Rentensystem nicht zukunftsfest machen. Davon sollten wir uns nicht verabschieden,
lieber Kollege Toni Schaaf; davon rate ich dringend ab.
({1})
Zweitens - Kollege Schreiner hat eben darauf hingewiesen, welche Vorschläge Sozialdemokraten hier in den
letzten Monaten eingebracht haben -: die Abkehr von
der Rente mit 67. Sie von der SPD haben die Rente mit
67 eingeführt und wollen sich nicht mehr dazu bekennen.
({2})
- Ja, aber Sie auch. Der damalige Arbeits- und Sozialminister Müntefering war der federführende Minister. An dieser Stelle möchte ich den Kollegen Müntefering
zitieren, der noch vor wenigen Wochen im Bayerischen
Rundfunk zur Entwicklung des Arbeitsmarktes für Ältere gesagt hat, das sei „der entscheidende Aufstieg der
letzten Jahre“; die Bedingungen für die Rente mit 67
seien erfüllt.
({3})
Deshalb seien alle Vorwürfe, die Rente mit 67 bedeute
de facto eine Rentenkürzung, nur als „Unsinn“ zu bezeichnen. An dieser Stelle haben wir von der Regierungskoalition den Worten des Kollegen Müntefering
nichts hinzuzufügen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich beantworte gerne die Frage des Kollegen
Schreiner.
Jawohl, auch ich lasse sie zu. - Bitte schön.
Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil ich Ihren
Ausführungen etwas hinzufügen möchte.
Gerne.
Sie wissen, dass in dem berühmten Rentenkompromiss der Großen Koalition zur Rente mit 67 vereinbart
worden ist, dass eine eventuelle Anhebung des Renteneintrittsalters im Lichte der Entwicklung des Arbeitsmarktes für Ältere geprüft werden soll.
({0})
Ich habe vor wenigen Tagen in der Saarbrücker Zeitung gelesen - man ist zurzeit etwas häufiger im Saarland -, dass Frau von der Leyen eine Untersuchung vorgestellt hat, die ergab, dass von den 55- bis 64-Jährigen
ganze 27 Prozent einem sozialversicherungspflichtigen,
also existenzsichernden Beschäftigungsverhältnis nachgehen.
({1})
Man kann eine einfache Frage stellen, Herr Kollege:
Wenn ein Viertel der Älteren einem existenzsichernden
Beschäftigungsverhältnis nachgeht, was ist dann eigentlich mit den anderen drei Vierteln?
({2})
Wo sind die anderen drei Viertel eigentlich? In der offenen Arbeitslosigkeit? In der statistisch manipulierten Arbeitslosigkeit? Bei 400-Euro-Jobs? Sind sie krank, gehandicapt, in Hartz IV? Ja, was ist denn mit denen?
Sie können doch nicht im Ernst bestreiten, dass bei einer Beschäftigungsquote der Älteren von gut einem
Viertel die Rente mit 67, die Anhebung des Renteneintrittsalters, nichts anderes ist als blanker Rentenbeschiss.
({3})
Lieber Herr Kollege Schreiner, zwei Dinge dazu:
Erstens. Richtig ist: Die Quote der Beschäftigten
- Sie haben diese Quote angesprochen - beträgt 41 Prozent.
Johannes Vogel ({0})
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Vogel.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Zweitens. Wir wissen
natürlich, dass wir bei der Beschäftigung von Älteren in
diesem Land noch nicht am Ziel sind. Wir wollen diese
Beschäftigungsquote steigern. Das wollten auch Sie, als
Sie die Rente mit 67 eingeführt haben - die übrigens
nicht ab morgen gilt, sondern in den nächsten Jahren
schrittweise eingeführt wird. Das Entscheidende ist doch
der Trend: Ändert sich endlich die Einstellung zu den
Älteren in diesem Land in den Köpfen der Personaler, in
den Unternehmen, in den Betrieben? Da kann ich nur sagen: In den letzten fünf Jahren ist der Anteil der 60- bis
65-Jährigen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, um 40 Prozent gestiegen. Das heißt, der Trend
ist besser, als Sie es je hoffen konnten.
Genau das hat Ihr sozialdemokratischer Kollege
Franz Müntefering gesagt. Er hat noch vor wenigen Tagen im Bayerischen Rundfunk gesagt, die Entwicklung
der letzten Jahre zeige, der Arbeitsmarkt entwickele sich
dort, die Voraussetzungen für die schrittweise Einführung der Rente mit 67 seien erfüllt.
({0})
Wenn Sie dazu nicht mehr stehen, dann erweisen Sie den
Älteren am Arbeitsmarkt einen Bärendienst, erst recht
den Jüngeren, die zukünftig eine sichere Rente bekommen wollen, Herr Kollege Schreiner.
Jetzt will ich trotz fortgeschrittener Zeit einen Satz
zum Antrag der Linken sagen.
({1})
- Lieber Herr Kollege Birkwald, leider kann ich mich
der Einschätzung, dass es ein guter Antrag ist, nicht anschließen. Ich schätze Sie persönlich sehr - das wissen
Sie -, aber ich finde: Dieser Antrag ist wirklich ausgemachter Murks. An vielen Stellen wurde bereits darauf
hingewiesen, dass dieser Antrag schon inhaltlich nicht
zusammenpasst. Es gibt Widersprüche in diesem Antrag;
einen will ich zitieren. Sie schreiben in der Begründung:
Die Fraktion DIE LINKE. folgt einem einfachen
Grundsatz: „… gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“.
Schon zwei Absätze später schreiben Sie:
Menschen mit höheren Einkommen sollen … weniger erhalten, als sie eingezahlt haben.
Das kann man wollen - ich halte es für falsch -; aber widersprüchlich ist es in jedem Falle. Konsistent ist das
nicht, Herr Kollege Birkwald.
({2})
Ganz unabhängig davon, ob Ihr Antrag konsistent ist,
atmet er den Geist von „Wünsch dir was“, von „Alles für
alle, und am besten umsonst“, ohne jeden Hinweis, wie
die Solidargemeinschaft das finanzieren soll.
Sie haben eben mit dem Zitat „Man muss auch jönne
könne“ darauf hingewiesen, dass Sie aus Köln kommen.
In Köln gibt es leider auch den Satz: Et hätt noch immer
joot jejange. Als jemand, der das Rheinland sehr schätzt,
weil er jahrelang dort gelebt hat, muss ich sagen: Dieser
Satz, der die Ethik des Wünsch-dir-was ausdrückt, mag
im Rheinland eine schöne Lebenseinstellung sein; aber
er ist ganz sicher keine seriöse Grundlage, um Rentenpolitik in diesem Land zu machen und Sozialsysteme zukunftssicher auszurichten.
({3})
Es ist deshalb gut, dass Sie hier keine Verantwortung
für die Rente tragen, sondern dass wir uns darum kümmern können, die Rente zukunftssicher zu machen durch Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, durch ein Bekenntnis zu den Strukturreformen der letzten Jahre und
auch durch Reformen, die jetzt notwendig sind, um der
kommenden Gefahr von Altersarmut vorzubeugen und
um auf sie zu reagieren.
Lieber Herr Kollege Schreiner, an dieser Stelle kann
man versöhnlich sagen: Ich freue mich, dass Sie die
Sorge geäußert haben, dass bei der Betrachtung von Anpassungen im Rentensystem in den Köpfen nicht Marxismus-Leninismus regieren sollte. Ich kann Ihnen für
meine Fraktion garantieren: Wir werden sicherstellen,
dass das nicht passiert; da können Sie ganz unbesorgt
sein.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Heike Brehmer.
Bitte schön, Frau Kollegin Heike Brehmer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, wenn man Ihren Antrag liest, wird klar, dass es Ihnen weder um die Bekämpfung von Altersarmut noch
um Solidarität geht.
Die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut, die bereits von vielen Seiten erkannt wird und deren Ursachen
wir bekämpfen, nutzen Sie zur gezielten Panikmache.
Unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit fordern Sie
den Ausbau der Rentenversicherung nach Ihren Wünschen. Dabei vergessen Sie die gegenwärtige Situation
der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
Sozioökonomische Studien belegen, dass das Armutsrisiko für ältere Menschen in Deutschland in den letzten
zehn Jahren etwa gleich geblieben ist.
({0})
Von rund 20 Millionen Senioren sind circa 3 Prozent auf
Grundsicherung im Alter angewiesen. Diese Zahl hat
sich seit über vier Jahren nicht erhöht.
({1})
Das ist die gegenwärtige Situation.
Die christlich-liberale Koalition hat auch die Zukunft
im Blick. Unsere Ministerin hat zur rechten Zeit einen
Rentendialog gestartet. Frau von der Leyen ist mit Vertretern der Rentenversicherung, Fachpolitikern, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Arbeitgebern in
einen Dialog getreten. Mit dieser Initiative sollen die
Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt
werden. Der Rentendialog zielt außerdem auf einen verbesserten Erwerbsminderungsschutz und die stärkere
Anerkennung von Erziehungszeiten in der Alterssicherung.
Keine Frage: Wir stehen in Zukunft vor veränderten
demografischen Strukturen in unserer Gesellschaft. Die
Politik und die Vorschläge der Linken lösen das grundsätzliche Problem nicht. Zukünftig werden immer mehr
Rentenempfängern immer weniger Beitragszahler gegenüberstehen. Eine steuerfinanzierte Grundrente löst
dieses Problem nicht.
({2})
Aussteiger und Schwarzarbeiter wären die Nutznießer
einer solchen Grundrente. Das kann nicht ernsthaft Ihr
Anliegen sein, meine Damen und Herren.
({3})
Wer sein Leben lang hart gearbeitet hat, sollte im Alter etwas von seiner Rente haben. Wenn die Rente
nichts, aber auch gar nichts mehr mit der geleisteten Arbeit zu tun hat, dann ist das entwürdigend für diejenigen,
die jahrzehntelang in die Rentenversicherungskasse eingezahlt haben.
({4})
Das hat in meinen Augen nichts mit Solidarität und
Gerechtigkeit zu tun.
Die CDU/CSU will die Gefahr der Altersarmut eindämmen und verfolgt eine nachhaltige Arbeitsmarktund Sozialpolitik. Wir wollen Menschen in den ersten
Arbeitsmarkt integrieren, anstatt ihnen die Chance auf
Wiedereingliederung zu verbauen. Der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ist der größte Ausgabenposten im Bundeshaushalt.
Die Rente ist und bleibt ein Spiegel der eigenen lebenslangen Erwerbstätigkeit. Verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, man kann ein Erwerbsleben
im Nachhinein nicht umkehren oder etwa renovieren,
wie Sie es vorhaben. Der CDU/CSU ist es besonders
wichtig, diejenigen im Blick zu haben, die aus verschiedensten Gründen Lücken in ihren Erwerbsbiografien
aufweisen, sich aber dennoch bemüht haben, einer Tätigkeit nachzugehen.
In den neuen Bundesländern - ich glaube, ich bin
heute die Einzige, die aus den neuen Bundesländern zu
diesem Thema spricht - waren nach der Wiedervereinigung viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig. Viele
Bürger verloren ihren Arbeitsplatz. Verehrte Kollegen
von den Linken, das sind die Folgen der verfehlten Politik der SED-Diktatur.
({5})
Der Normalbürger - daran möchte ich Sie gerne erinnern - hätte im Durchschnitt vielleicht 340 Ostmark
Rente erhalten. Ich möchte auch daran erinnern, dass es
damals weder das Arbeitslosengeld noch eine Grundsicherung gab. Die Mindestrente soll noch weit unter
dem genannten Betrag gelegen haben.
Heute bemühen sich viele Unternehmen in den neuen
Bundesländern, wettbewerbsfähig zu bleiben und ihre
Arbeitskräfte zu halten. Doch einen Bruttostundenlohn
von 10 Euro, wie Sie ihn fordern, können viele noch
nicht zahlen. Damit würden wir ganze Unternehmenszweige, zum Beispiel die Tourismusbranche oder den
Dienstleistungsbereich, nicht nur in den neuen Bundesländern kaputtmachen.
Ich kann Ihnen ein Beispiel aus einer Veranstaltung
nennen, die gestern Abend stattgefunden hat; viele Kollegen waren anwesend. Ein Unternehmer aus den neuen
Bundesländern, der in der Reinigungsbranche tätig ist,
hat mir gesagt: Wenn ich diesen Stundenlohn zahlen
müsste, dann müsste ich die höheren Kosten auf die
Preise umlegen. Die Folge wäre: Er würde sofort seinen
Auftrag verlieren, und die Arbeitnehmer würden abwandern.
Die Bürgerinnen und Bürger in den alten und in den
neuen Bundesländern sollen unserer Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik auch in Zukunft vertrauen können. Mit Ihrem Antrag versprechen Sie den Bürgern etwas, was
nicht umsetzbar ist. Alles, was verteilt werden soll,
({6})
muss vorher hart erarbeitet werden.
Auf unserem CDU-Parteitag in Leipzig haben wir uns
mit deutlicher Mehrheit für die Einführung einer Lohnuntergrenze in den Bereichen ausgesprochen, in denen
ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Dieser Lohn soll durch eine Kommission der Tarifpartner
festgelegt werden und sich an den für allgemeinverbindlich erklärten, tarifvertraglich vereinbarten Lohnuntergrenzen orientieren. Gerechter Lohn ist das Ergebnis
von Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern. Diese
Art der Lohnfindung gehört zu den Grundpfeilern der
sozialen Marktwirtschaft.
({7})
Dass das Prinzip der Tarifautonomie seit seiner Einführung 1919 funktioniert, beweisen 67 000 bestehende
Tarifverträge und der wirtschaftliche Erfolg unserer
Unternehmen. Wir müssen mit unserer Politik die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass der Weg hin zu
mehr Beschäftigungsverhältnissen ermöglicht wird. Für
den Eintritt ins spätere Erwerbsleben sind Bildung und
Qualifikation grundlegende Voraussetzungen.
Bildung ist und bleibt ein zentrales Thema. Bildung
darf keine Frage der Herkunft oder des Einkommens
sein. Es ist zwingend erforderlich, dass alle Schüler die
Schule mit einem Schulabschluss verlassen; denn das ist
die Grundvoraussetzung für eine Ausbildung bzw. ein
Studium und den späteren Eintritt ins Erwerbsleben.
({8})
Mit der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets
haben wir circa 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen
aus Geringverdienerfamilien Leistungen für Bildung und
Teilhabe ermöglicht. Das ist ein wichtiger Schritt; denn
die Vermeidung von Altersarmut, wie wir sie hier diskutieren, ist eine elementare Aufgabe unserer christlichliberalen Politik, und die werden wir, wie im Koalitionsvertrag verankert, auch erfüllen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Brehmer. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kollege Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am
Ende dieser Debatte stelle ich fest: Wenn man den
Antrag der Linken in puncto Rentensicherung für die
Menschen in unserem Lande bewerten soll, dann könnte
man meinen, dass Weihnachten und Ostern, wie es die
Frau Kollegin Ferner formuliert hat, und alle weiteren
schönen Tage zusammenfallen.
Schon allein der Titel des Antrags ist verräterisch:
„Rentenversicherung stärken und solidarisch ausbauen Solidarische Mindestrente einführen“.
({0})
Es wird so getan, als ob die Bundesregierung keinen
Beitrag zur Sicherung des Lebensstandards im Alter leisten würde bzw. keine Leistung erbringen würde, um
Armut im Alter vorzubeugen. Das ist falsch. Das sieht
man an den Ergebnissen, die wir durch unsere Wirtschaftspolitik und auch durch unsere Arbeitsmarktpolitik
erzielt haben. Allein die Tatsache, dass es seit 2006
1 Million weniger Hartz-IV-Bezieher und damit mehr
Beitragszahler gibt, die in die Rentenversicherung einzahlen,
({1})
führt für die Menschen in unserem Lande zu einer besseren Sicherung im Alter.
({2})
Die Linken erzeugen hier ein Zerrbild - das machen
sie in fast jeder Plenarwoche; einmal geht es um die
Rente, einmal um die Grundsicherung im Alter, dann
wieder um Hartz IV und dergleichen mehr -, um unseren
Sozialstaat, um unsere sozialen Sicherungssysteme in
der Öffentlichkeit zu diskreditieren und letztendlich die
Leistungsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme
herabzusetzen.
({3})
- Doch. - Das lassen wir Ihnen und den übrigen Angehörigen Ihrer Fraktion nicht durchgehen, Kollege
Birkwald.
Letztendlich umweht diesen Antrag - darauf haben
mehrere Kollegen schon hingewiesen - der Hauch des
bedingungslosen Grundeinkommens.
({4})
- Doch. - Ich sage ganz bewusst: Sie wollen am Schluss
eine Einheitsrente für die Menschen in unserem Lande.
({5})
- Doch, Herr Kollege Birkwald. - Verräterisch ist, dass
Sie für eine solidarische Mindestrente in Höhe von
900 Euro plädieren. Sie nennen auch die Bedingungen,
die damit verbunden sein sollen - die Kollegin Ferner
hat darauf schon hingewiesen -: eine Einkommensprüfung und eine Vermögensprüfung. Es ist nur noch ein
kleiner Schritt zu dem Gedanken, dass bei der Beantragung von Rentenleistungen grundsätzlich Vermögensprüfungen stattzufinden haben.
({6})
- Natürlich. Das ist nach Ihrem Gusto. Das wollen Sie in
Zukunft haben.
Es beginnt mit der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Das planen Sie zumindest langfristig - so
steht es in Ihrem Antrag -, obwohl es selbst im DDRRentenrecht eine Beitragsbemessungsgrenze gab;
({7})
das möchte ich nur am Rande anführen. Darüber hinaus
ist verniedlichend von einer Abflachung des RentenMax Straubinger
anspruchs die Rede. Sie wollen sich also vom Äquivalenzprinzip verabschieden.
({8})
Sie wollen die Rentenversicherung letztendlich zu einer
Sozialbehörde umbauen. Zum Schluss soll nur noch eine
Rente gezahlt werden, und die Zahlung soll davon abhängig sein, ob man Vermögen hat oder nicht oder
({9})
ob man im Alter bedürftig ist oder nicht. Herr Kollege
Birkwald und verehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linken, das ist nicht unser Verständnis von Rentenversicherung und Altersabsicherung. Wir wollen die leistungsbezogene Altersabsicherung. Diese wird weiterhin
Bestand haben.
({10})
Ich bin sehr dankbar, dass vor allen Dingen die großen Fraktionen in diesem Hause, CDU/CSU, FDP, aber
auch die SPD, mit Blick auf die Sicherung des Rentensystems heute die Gemeinsamkeiten herausgestellt
haben. Natürlich hat das Altersversicherungssystem
angesichts der demografischen Entwicklung Herausforderungen zu bewältigen. Ich bin dankbar, dass heute
deutlich wurde, dass allein das Vorlegen eines Wunschkataloges sinnlos ist; schließlich müssen die Maßnahmen von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern
finanziert werden. Deshalb ist zu verurteilen, dass die
Beitragssatzstabilität nach Ihrer Meinung keine Rolle
spielen soll. Sie treten mit einem Vorschlag an, nach dem
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer letztendlich
grenzenlos mit Beiträgen belastet werden sollen. Das
kann es nicht sein. Das ist nicht in unserem Sinne. Das
ist auch nicht im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist nicht im Sinne der Menschen in unserem Land.
Es gab keine Alternative zu den Reformen, die wir
durchgeführt haben, insbesondere nicht zur Rente mit 67.
Herr Kollege Schreiner, da Sie dem Kollegen Vogel in
Ihrer Zwischenfrage vorhin entgegengehalten haben,
dass sich nur 27 Prozent der älteren Generation in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen
befinden, möchte ich hier darlegen - der Kollege Vogel
sprach von gut 40 Prozent -: 44 Prozent der Älteren sind
erwerbstätig.
({11})
Aber auch von den Erwerbsfähigen unter 55 Jahren
sind nur rund 50 Prozent sozialversicherungspflichtig
beschäftigt. Die Forderung der SPD, 50 Prozent der
Erwerbstätigen müssten sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein, bedeutet eine indirekte Abkehr von der
Rente mit 67. Auch das sollte man hier verdeutlichen.
({12})
Man sollte den Bürgerinnen und Bürgern sagen, was die
Umsetzung dieser Forderung bedeutet, nämlich Beitragssatzerhöhungen. Anders kann das Ganze nicht ausgeglichen werden. Wir befinden uns heute allerdings
nicht in der Auseinandersetzung mit der SPD, sondern
mit der Linken.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?
Dem Kollegen Toni Schaaf kann ich natürlich keine
Zwischenfrage verwehren.
Sie gestatten seine Zwischenfrage also. Dann wird
sich Ihre Redezeit noch wesentlich verlängern.
Das freut mich besonders. Da bedanke ich mich.
Bitte schön, Kollege Schaaf.
Ich habe nur eine Frage, die Sie mit Sicherheit beantworten können, Herr Straubinger. Würden Sie mir recht
geben, dass die SPD-Bundestagsfraktion in dieser Legislaturperiode einen Antrag zur Abstimmung gestellt hat,
in dem sie nicht die Abschaffung der Rente mit 67, sondern deren Verschiebung gefordert hat? Können Sie mir
das bestätigen?
Das ist richtig, Kollege Schaaf. Die Folge wäre aber,
dass immer wieder verschoben werden muss; Sie haben
für die Verschiebung ja keine Grenzen gesetzt.
({0})
Sie haben Ihren Antrag auf Verschiebung mit der Bedingung verknüpft, dass erreicht wird, dass 50 Prozent der
Älteren sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
Wie soll das geschehen, Herr Kollege Schaaf, wenn bereits bei den jüngeren Jahrgängen nur 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, weil Selbstständige und Beamte nicht mitgezählt werden? Wir haben
diesen Antrag zu Recht abgelehnt.
({1})
Ein Letztes noch, Herr Kollege Birkwald. Sie haben
auch dargelegt, dass die Riester-Rente ein Flop sei. Es
gibt mittlerweile 15 Millionen Menschen, die einen
Riester-Vertrag abgeschlossen haben. Darüber hinaus
geht es hier in keiner Weise um grenzenlose Renditeversprechen; denn die Riester-Rente ist konzipiert wie eine
ganz normale Rentenversicherung. Wenn jemand, der in
der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist und
bis zum 65. Lebensjahr gearbeitet hat, kurz nach Renteneintritt leider Gottes verstirbt, so verbleibt keinerlei Rendite aus seinen Beiträgen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Genauso ist das beim Riester-Rentner. Somit
kann man hier nicht in Renditen rechnen und sagen, man
müsse 90 Jahre alt werden, um eine 4-prozentige Rendite zu erreichen.
Das Entscheidende bei einem Versicherungsvertrag
ist - so das Versicherungsprinzip -, dass eine lebenslange Rente gewährleistet ist. Das ist mit den RiesterVerträgen gegeben. Die Riester-Rente ist eine zusätzliche Versorgung. Eine zusätzliche Versorgung hat es auch
in der ehemaligen DDR gegeben. Eine zusätzliche
Versorgung ist notwendig, damit der Lebensstandard der
alten Menschen gesichert ist. Dies werden wir auch
weiterhin unterstützen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Max Straubinger. - Damit
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8481 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a, d und e
sowie 18 auf:
31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 2. Dezember 2010 über die Errichtung des Funktionalen Luftraumblocks
„Europe Central“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, der
Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Schweizerischen Eidgenossenschaft ({0})
- Drucksache 17/8726 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Axel Troost, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzmärkte verbrauchergerecht regulieren Finanzwächter und Finanz-TÜV einführen
- Drucksache 17/8764 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Finanzausschuss
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und
Kindern für das Jahr 2012 ({3})
- Drucksache 17/5550 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
18 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 17. März 1992
zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler
Seen
- Drucksache 17/8725 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis h sowie
den Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-
che vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 32 a:
a) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 17/8320 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({6})
- Drucksache 17/8798 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
- Bericht des Haushaltsausschusses ({7})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8804 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Petra Merkel ({8})
Otto Fricke
Roland Claus
Priska Hinz ({9})
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8798, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/8320 abzulehVizepräsident Eduard Oswald
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Es stimmt
niemand zu. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Das ist die
Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist
somit in zweiter Beratung abgelehnt. Sie wissen, dass
damit nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung entfällt.
Tagesordnungspunkt 32 b bis h. Wir kommen zu den
Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 32 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 390 zu Petitionen
- Drucksache 17/8590 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen, Sozialdemokraten und
Linksfraktion, also alle. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 390
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 391 zu Petitionen
- Drucksache 17/8591 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen. Vorsichtshalber
frage ich noch: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Sammelübersicht 391 ist
angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 392 zu Petitionen
- Drucksache 17/8592 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 392
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 393 zu Petitionen
- Drucksache 17/8593 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Sammelübersicht 393 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 394 zu Petitionen
- Drucksache 17/8594 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen mit Ausnahme
der Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Somit ist
Sammelübersicht 394 angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 395 zu Petitionen
- Drucksache 17/8595 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 395 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 396 zu Petitionen
- Drucksache 17/8596 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 396 ist angenommen.
Zusatzpunkt 2:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar
Nietan, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verleihung des Status als EU-Beitrittskandidat
an Serbien aussprechen
- Drucksache 17/8763 Wer stimmt für diesen Antrag? - Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und
Linksfraktion. Der Antrag ist abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Verlangen der
Fraktion Die Linke unterbrechen wir wegen einer Fraktionssitzung die Plenarsitzung für eine Stunde. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt.
Die Sitzung ist damit unterbrochen.
({17})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der
Europäischen Union
- Drucksache 17/8682 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verabredet ist, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Ole
Schröder das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unsere wirtschaftliche Stärke und damit der
Wohlstand jedes Einzelnen von uns werden in Zukunft
noch stärker von der Innovationskraft und dem Wissen
der Menschen abhängen. Gerade aus diesem Grund stellt
der Fachkräftemangel auch eine Gefahr für unseren
Wohlstand dar.
Fachkräfte werden rar in Deutschland. Das liegt nicht
zuletzt an der Entwicklung unserer Geburtenrate. Aus
diesem Grund hat die Bundesregierung ein Konzept zur
Fachkräftesicherung vorgelegt, das im Wesentlichen drei
Ansätze verfolgt:
Zum Ersten ist es wichtig, dass wir die Menschen in
Deutschland dabei unterstützen, ihr Potenzial noch besser zur Entfaltung zu bringen. Wir wollen bessere Rahmenbedingungen zur aktiven Teilnahme am Erwerbsleben schaffen. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir die
Anzahl der Schulabbrecher und derjenigen, die ihre Ausbildung abbrechen, reduzieren und natürlich eine bessere
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, und
wir müssen dafür sorgen, dass gerade ältere Menschen
bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
({0})
Zweitens. Neben diesen heimischen Fachkräften sollten wir auch nicht vergessen, dass es innerhalb Europas,
also innerhalb des Binnenmarktes, viele gut ausgebildete
junge Menschen gibt, deren Potenzial wir hier in
Deutschland ebenfalls nutzen können.
({1})
Denken wir nur an die hohe Arbeitslosigkeit von jungen
Menschen, auch Akademikern, in den südlichen Mitgliedstaaten! In Spanien beträgt die Jugendarbeitslosigkeit über 40 Prozent. Dort wird jetzt schon von einer verlorenen Generation gesprochen.
Wir können zum Gewinn aller dafür sorgen, dass
diese Menschen hier in Deutschland eine Chance haben.
Die Unternehmerinnen und Unternehmer sollten ihren
Blick auch darauf richten, diesen jungen Europäern in
Deutschland die Möglichkeit zu bieten, eine Ausbildung
zu machen.
({2})
Aufgrund der kulturellen Nähe haben wir hier natürlich
auch weniger Probleme im Bereich der Integration.
Als dritte Möglichkeit sollten wir schließlich auch auf
das Potenzial der Menschen zurückgreifen, deren Wissen auf der ganzen Welt gefragt ist.
Wir wollen heute darüber sprechen, wie unser Land
für die hochqualifizierten Arbeitskräfte aus Staaten außerhalb Europas attraktiver werden kann, die sich hier
integrieren möchten und hier arbeiten wollen.
({3})
Dazu ist es notwendig, dass wir uns in diese Menschen
hineinversetzen, die ihr Glück woanders suchen und bereit sind, in einem anderen Land zu arbeiten.
Welche Erwartungen hat ein Hochqualifizierter? Welche Erwartungen hätte jeder Einzelne von uns? Wir sind
ja auch Hochqualifizierte, denke ich, wenn ich in die
Runde blicke. Welche Erwartungen hätte jeder Einzelne
von Ihnen an seinen künftigen Arbeitgeber und an die
Lebensbedingungen vor Ort? Ginge es Ihnen um Gehalt,
Vertragslaufzeiten, Aufstiegschancen und die Erlernbarkeit der Sprache oder vielleicht um das Klima? Vielleicht ginge es Ihnen auch nur um Freizeitmöglichkeiten,
was ja auch wichtig ist. Sicherlich wäre es Ihnen wichtig, ob Ihre Familie mit nach Deutschland kommen kann,
ob Ihr Ehepartner ebenfalls arbeiten darf oder ob Sie bereits Menschen im Zielland kennen.
({4})
Welche Unterstützung würden Sie sich wünschen, wenn
Sie in ein anderes Land gehen? „Bin ich dort willkommen?“, würden Sie sich fragen.
({5})
Wir sprechen von einer Willkommenskultur, die für ein
Land notwendig ist, um attraktiv zu sein. Kurzum: Wovon würden Sie Ihre Entscheidung abhängig machen?
Unter den von mir genannten Faktoren - sie waren
ungeordnet - gibt es viele, die wir als Gesetzgeber berücksichtigen müssen, die wir aber nicht selbst beeinflussen können. Das gilt selbstverständlich für das Klima
und die geografische Lage. Andere Faktoren wie das Gehalt oder die Arbeitsbedingungen bestimmen in erster
Linie die Unternehmen zusammen mit den Gewerkschaften.
({6})
Wir können und müssen als Gesetzgeber aber regeln,
unter welchen Voraussetzungen jemand kommen kann,
und damit die Entscheidung eines Zuwanderers positiv
oder negativ beeinflussen. Genau deshalb führen wir die
sogenannte Bluecard EU, die Blaue Karte EU, ein. Sie
richtet sich an Hochqualifizierte. Zuwanderung in die
Sozialsysteme wollen wir damit ausschließen.
Wir verlangen ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Die Gehaltsuntergrenze von knapp 45 000 Euro
macht es auch für hochqualifizierte Berufseinsteiger interessant. In sogenannten Mangelberufen, in denen wir
besonders dringend Fachkräfte brauchen, zum Beispiel
Ärzte oder Ingenieure, liegt die Gehaltsuntergrenze bei
rund 35 000 Euro.
Zu den entscheidenden Bedingungen gehören aber
auch die Perspektiven für Ehepartner und Familie. Ehegatten von Inhabern der Blauen Karte dürfen ebenfalls
von Anfang an arbeiten. Auf den Nachweis von Sprachkenntnissen verzichten wir. Denn wir gehen davon aus,
dass diese Hochqualifizierten das selbst in die Hand nehmen werden, weil sie hier von Anfang an aktiv am Arbeitsleben teilnehmen.
Die Blaue Karte EU rundet damit unser Gesamtkonzept der Arbeitsmigration ab. Sie bettet sich ein zwischen dem Aufenthaltstitel für geringer Qualifizierte, denen wir nur einen befristeten Aufenthaltstitel gewähren,
und dem für Höchstqualifizierte, die ab dem ersten Tag,
an dem sie bei uns sind, einen dauerhaften Aufenthaltstitel, also eine Niederlassungserlaubnis, erhalten.
Außerhalb der Blauen Karte schaffen wir weitere Voraussetzungen, um Migranten, die bei uns ausgebildet
wurden, auch hier zu halten.
({7})
Denn es macht keinen Sinn, in die Ausbildung dieser
Menschen zu investieren, um sie danach gleich wieder
nach Hause zu schicken. So haben Absolventen deutscher Hochschulen ein Jahr lang Zeit für die Arbeitsplatzsuche. Sie dürfen während dieser Zeit zum Beispiel
durch Aushilfsjobs ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich
denke dabei beispielsweise an einen Biologen, der sein
Diplomstudium abgeschlossen hat und für den Zeitraum
der Arbeitsplatzsuche, nämlich ein Jahr lang, weiter in
dem Job bleiben darf, in dem er als Student gearbeitet
hat, bis er eine adäquate Beschäftigung gefunden hat.
Ein Daueraufenthaltsrecht gibt es bereits nach zwei
Jahren, wenn sie sich in ihrem erlernten Beruf etabliert
haben.
In Deutschland spielt das duale Ausbildungssystem
eine besondere Rolle für unsere Wirtschaft. Wir wissen:
Ein in Deutschland ausgebildeter Geselle kann häufig
mehr als viele Absolventen von Hochschulen im Ausland. Daher ist es folgerichtig, dass wir dafür sorgen,
dass auch Ausländer, die hier bei uns eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, bleiben dürfen, um in ihrem
erlernten Beruf zu arbeiten.
({8})
Damit werden gerade die Branchen und Regionen gestärkt, die schon jetzt Probleme haben, Ausbildungsplätze zu besetzen. Wir senden damit klare Signale an
ambitionierte internationale Fachkräfte außerhalb Europas. Die Botschaft lautet: Ihr werdet gebraucht, ihr seid
mit euren Angehörigen willkommen, und ihr habt eine
Zukunft in Deutschland! Wir wollen weltoffen und attraktiv für die klügsten Köpfe auf der Welt sein.
Ich möchte mit einem Zitat der Bundeskanzlerin
schließen, die anlässlich der Gedenkveranstaltung am
23. Februar 2012 Folgendes zur Geschichte unseres Landes sagte - ich zitiere -:
Denn es ist auch eine Geschichte der Auswanderung und der Zuwanderung. So wurden Brücken in
alle Welt geschlagen. Seinen Wohlstand verdankt
Deutschland zu einem guten Teil seiner Weltoffenheit und seiner Neugier auf andere.
Ich finde, das fasst gut zusammen, was wir vorhaben.
Ich bin dankbar für die zahlreichen konstruktiven Anregungen vieler Beteiligter, insbesondere der Länder. Ich
bin davon überzeugt, dass hiervon im parlamentarischen
Verfahren noch einiges bedacht und aufgenommen werden wird und dass wir am Ende zu einem hervorragenden Ergebnis kommen werden, das unser Land für Menschen, die bei uns arbeiten wollen, zwar sicherlich nicht
attraktiver machen kann, mit dem aber bürokratische
Hürden, die es bisher gab, abgebaut werden.
({9})
Daniela Kolbe hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Von der Bundesregierung liegt heute ein
Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Bluecard-Richtlinie vor. Das ist zunächst einmal sehr begrüßenswert; immerhin sind wir mit der Umsetzung schon ein wenig in
Verzug.
Es ist natürlich sinnvoll, den Zuzug von Hochqualifizierten aus Drittstaaten in Europa einheitlich zu gestalten. Unabhängig von dieser Debatte wäre es sinnvoll
und, ich denke, auch notwendig, in diesem Hohen Hause
noch viel mehr darüber zu sprechen, wie qualifizierte
Fachkräfte nach Deutschland zuwandern können und an
welchen der verschiedenen Stellschrauben wir diesbezüglich drehen wollen.
Bei prinzipieller Übereinstimmung, dass das Ziel
richtig und wichtig ist, bleiben wir bei einer ganz deutlichen Kritik an Ihrer Umsetzung. Denn Ihr Gesetzentwurf beinhaltet nur ein einziges Rezept. Es besteht, kurz
zusammengefasst, darin, die Mindestverdiensthöhen für
qualifizierte Zuwanderer abzusenken.
({0})
Die erforderliche Höhe des Jahresgehaltes bei einem Arbeitsplatz, den ein Zuwanderer in Deutschland antreten
möchte, soll gering sein - darüber werden wir uns noch
streiten können -; das ist auch das Mantra der Arbeitgeber. An manchen Stellen finden wir das durchaus richtig.
Bei Ihrem Gesetzentwurf haben wir aber an einer Stelle
politisch größte Bedenken.
Ich habe den Gesetzentwurf gelesen. Die Mindestverdiensthöhe scheint die einzige Schraube zu sein, an der
Sie drehen wollen; Sie wollen sie absenken. Das geht
uns auf der einen Seite zu weit, und zwar aus formalen
Gründen, weil Sie aus unserer Sicht das durch die Richtlinie erlaubte Maß unterschreiten - darauf komme ich
gleich noch zurück - und weil Sie die Grenze bei den
Mangelberufen so weit absenken, dass wir es für politisch äußerst bedenklich halten. Auf der anderen Seite
geht es uns nicht weit genug, weil Sie verschiedene andere Stellschrauben bei der Zuwanderung außer Acht
lassen und nicht nutzen.
Was meine ich, wenn ich sage, dass Sie über das erlaubte Maß hinausgehen? Was steht in der Richtlinie, die
Sie hier umsetzen? Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie fordert
ein Mindestgehalt von mindestens dem Anderthalbfachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts in dem
betreffenden Mitgliedstaat. Das durchschnittliche Jahresgehalt in Deutschland beträgt offiziell 31 144 Euro.
Das Anderthalbfache hiervon sind 46 716 Euro. In Ihrem Gesetzentwurf wird das Mindestgehalt anders festgesetzt. Das ist legitim; das kann jede Regierung
machen, wie sie möchte. Sie setzen zwei Drittel der
Beitragsbemessungsgrenze an und kommen auf
44 800 Euro. Dieser Betrag liegt um fast 2 000 Euro unter der Grenze, die von Europa als Minimum angegeben
worden ist.
Noch gravierender ist diese Unterschreitung, wenn
wir uns den Bereich anschauen, der in Art. 5 Abs. 5 der
Richtlinie behandelt wird. Dort geht es um Mangelberufe. Die Richtlinie besagt, dass man die Verdienstgrenze bei Mangelberufen noch weiter senken kann,
jedoch maximal bis auf das 1,2-Fache des durchschnittlichen Jahresbruttogehalts. Für Deutschland sind das etwa
37 400 Euro. In Ihrem Gesetzentwurf legen Sie als
Grenze die Hälfte der Beitragsbemessungsgrenze fest.
Das sind 33 600 Euro. Das liegt um fast 4 000 Euro unter der von Europa festgelegten Untergrenze. Wenn man
sich die Verdienstzahlen, die für 2012 vorab berechnet
worden sind - darin sind die Lohnsteigerungen eingearbeitet -, anschaut, dann stellt man fest, dass Ihr Wert sogar fast 5 000 Euro unter dem Schwellenwert liegt, den
die EU vorgibt. Ich persönlich halte das, was Sie uns hier
vorlegen, für europarechtswidrig. Ich denke, dass wir
darüber im Ausschuss noch einmal sprechen sollten. Sie
wollen sicher nicht, dass wir Gesetzentwürfe verabschieden, die europarechtswidrig sind.
({1})
Wir halten die Gehaltsgrenze für Mangelberufe im
Übrigen auch politisch für äußerst kritikwürdig. Die
Richtlinie erlaubt die Absenkung bis auf das 1,2-Fache;
sie verpflichtet aber nicht dazu. Sie schöpfen mit der Absenkung das Maximum aus; Sie unterschreiten das Zulässige sogar deutlich, wie ich eben ausgeführt habe. Aus
unserer Sicht birgt das die Gefahr des Lohndumpings in
hochqualifizierten Berufen. Wir reden hier über Ingenieure, Mathematiker und Naturwissenschaftler.
Schauen Sie sich einmal an, wie hoch das Einstiegsgehalt eines Akademikers ist. Nach Entgeltgruppe 13
Stufe 1 TVöD liegt das Gehalt eines Berufseinsteigers
bei 39 200 Euro. Aus unserer Sicht besteht kein Bedarf,
bei Mangelberufen die Gehaltsschraube derart nach unten zu drehen.
Im Übrigen - das ist ein weiterer Punkt - bietet das
Aufenthaltsgesetz noch ganz andere Möglichkeiten,
etwa bei der Vorrangprüfung. Die Vorrangprüfung ist für
viele Unternehmen, die qualifizierte Zuwanderer nach
Deutschland holen wollen - das ist schon jetzt möglich,
ohne die Gehaltsschwellen, von denen hier die Rede ist -,
genau das Problem. Sie ist für viele Unternehmen unkalkulierbar und stellt ein großes Hindernis dar. Das wäre
ein Punkt, über den politisch ins Gespräch zu kommen,
ich mir wünschen würde. Dieses Hindernis müssen wir
beseitigen.
({2})
Sie haben angesprochen, dass es Punkte gibt, die über
die Umsetzung der Richtlinie hinausgehen. Dazu werden
Kollegen von mir noch etwas ausführen. Mir ist aufgefallen, dass Sie an einer weiteren Stelle an der Gehaltsschraube drehen, und zwar im Bereich der besonders
hoch Qualifizierten, die sofort eine Niederlassungserlaubnis bekommen. Die Gehaltsschwelle soll jetzt auf
48 000 Euro gesenkt werden. Das halten wir für politisch unproblematisch. Das kann man so machen. Allerdings ist das eigentlich eine Ausnahmeregelung für besonders hoch Qualifizierte gewesen. Ursprünglich waren
84 000 Euro die Gehaltsgrenze; jetzt sind wir bei
48 000 Euro. Die Frage ist, ob das der Hebel ist, den wir
ansetzen sollten, da hier die Niederlassungserlaubnis sofort und ohne eine Vorrangprüfung erteilt wird.
Wir sehen ganz viele andere Stellschrauben, an denen
man drehen könnte, sei es bei der Frage der Vorrangprüfung in § 18 des Aufenthaltsgesetzes oder sei es bei der
Frage der Studierenden; auch da würden wir an anderen
Stellschrauben drehen. Die Frage des Punktesystems
halten wir für nicht ausdiskutiert. Das ist für uns eine
durchaus überlegenswerte Idee.
({3})
Wir legen deshalb einen Antrag vor, um Ihnen zu zeigen,
welche Stellschrauben es noch gibt. Ich hoffe, dass wir
darüber gemeinsam im Ausschuss beraten können.
Daniela Kolbe ({4})
In diesem Sinne: Diesen Gesetzentwurf, den Sie hier
vorgelegt haben, halten wir für nicht zustimmungsfähig.
({5})
Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
effiziente und interessengeleitete Steuerung der Zuwanderung ist das Gebot der Stunde. Statt durch bürokratische Hemmnisse wollen wir die Zuwanderung sinnvoll
und interessengeleitet steuern. Eine bessere Zuwanderungssteuerung ist nicht nur Bestandteil des Koalitionsvertrages; sie wird zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands von CDU/CSU und FDP Schritt für
Schritt in die Tat umgesetzt. Die EU-Richtlinie zur
Hochqualifiziertenzuwanderung und zur Blauen Karte
bietet jetzt einen neuen Anlass, den nächsten, weiter gehenden Schritt zur Umsetzung dieses Konzepts der Koalition zu tun.
Die Einstellung von ausländischen Hochqualifizierten
und Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Arbeitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen wichtig. Deutschland braucht qualifizierte
Fachkräfte, Forscher und Entwickler und auch Unternehmer aus dem Ausland.
({0})
Dabei stehen - auch das darf man nicht vergessen die EU-Staaten in einem starken Wettbewerb um die
klügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb nehmen wir mit einer verbesserten Zuwanderungssteuerung auch an. Deshalb müssen ergänzende Zuwanderungsregelungen in
den Mitgliedstaaten geschaffen werden; sie dürfen nicht
nur in Brüssel erarbeitet werden. Das gewährleisten die
Richtlinie und auch die von uns vorgeschlagene Umsetzung. Die EU-Richtlinie betrifft viele Bereiche des Aufenthaltsrechts. Den darüber hinausgehenden Anpassungsbedarf wollen wir konstruktiv und auch progressiv
nutzen.
({1})
Wir wollen die Hochqualifiziertenzuwanderung entbürokratisieren, beschleunigen und auch vereinfachen.
Wir wollen zugleich zusätzliche Integrationsanreize
schaffen. Wir wollen über die eigentliche Richtlinienumsetzung hinaus auch das deutsche Zuwanderungsrecht
modernisieren und den Bedürfnissen einer global vernetzten Gesellschaft besser anpassen.
({2})
Dabei werden wir darauf achten, dass die Öffnung für
Hochqualifizierte nicht missbraucht wird oder die Tore
zu einem ruinösen Niedriglohnwettbewerb öffnet.
Die Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie
zielt auf einen gemeinsamen Aufenthaltstitel für Hochqualifizierte auf EU-Ebene ab, der attraktiv ausgestaltet
ist, um die Migration von Hochqualifizierten zu erleichtern und zu fördern. Zu diesem Zweck wird ein neuer
Aufenthaltstitel „Blaue Karte EU“ für Ausländer mit
akademischem oder diesem gleichwertigen Qualifikationsniveau und einem bestimmten Mindestgehalt in die
Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes aufgenommen.
Darüber hinaus sind Begleit- und Folgeregelungen, insbesondere in Bezug auf den Arbeitsmarktzugang, den
Arbeitsplatzwechsel und den Familiennachzug, notwendig.
Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf dient
aber nicht nur der Umsetzung der Richtlinie. Zusätzlich
zielt der Gesetzentwurf darauf ab, die Möglichkeiten zur
Beschäftigungsaufnahme ausländischer Absolventen
deutscher Hochschulen nach dem Studienabschluss zu
verbessern und den dauerhaften Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften, für die auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein großer Bedarf besteht, zu erleichtern. Um den
dauerhaften Zuzug von Hochqualifizierten nach
Deutschland attraktiver zu gestalten, senken wir die Gehaltsschwelle, und zwar ziemlich deutlich. Wir haben in
der Koalition noch weitere Vorschläge erarbeitet, die wir
im Ausschuss in den vorliegenden Gesetzentwurf einfließen lassen werden.
Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit dargestellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstruktiven und fortschrittlichen Verhandlungsprozess in der Zuwanderungspolitik gefunden.
({3})
Diese Koalition setzt verhältnismäßig leise und unaufgeregt einen Kurswechsel in der Zuwanderungspolitik um:
Wir fördern und fordern, ohne ideologische Scheuklappen, integrations- und arbeitsmarktorientiert.
({4})
Migration und Integration stellen Deutschland vor
neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue
Chancen. Die Koalition setzt Zug um Zug eine konsequente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland
und eine aktive Integrationspolitik um.
Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die
nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute
macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet: für
die, die eben nicht nur „territorial“ nach Deutschland
kommen, sondern auch in unserem Land mit seiner Kultur sowie unserer Gesellschaft mit ihren Grundwerten
ankommen wollen.
Wir halten es im Gegensatz zu den Grünen oder Linken nicht für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondern
wollen Anreize dafür setzen. Wir wollen fördern und
fordern.
Hartfrid Wolff ({5})
({6})
Darüber hinaus halten wir Zuwanderer nicht für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, sondern für Leistungsträger, deren Anstrengungen für ein Miteinander
auch honoriert werden.
Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungen
muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich positiv denken. Unsere Gesellschaft, die ganze Nation wird
durch Zuwanderung bereichert. Wissen ist längst international. Forschung und Entwicklung machen nicht vor
Grenzen halt, und die deutsche Wirtschaft ist auf allen
Märkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte
ist schon längst international.
Zuwanderung von Hochqualifizierten schafft Arbeitsplätze und erweitert den gesellschaftlichen Horizont.
Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit der christlich-liberalen Bundesregierung diese Veränderungen ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt Ulla Jelpke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie wir
schon gehört haben, hat die Bundesregierung hier einen
Gesetzentwurf zur Umsetzung der Bluecard-Richtlinie
der Europäischen Union vorgelegt. Geregelt werden soll
damit die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften.
Diese Richtlinie ist im Übrigen seit zweieinhalb Jahren in Kraft und hätte seit Juni 2011 in nationales Recht
umgesetzt werden müssen. Warum das so lange gedauert
hat, ist uns völlig unklar.
({0})
Denn nach der Gesetzesbegründung werden allenfalls
3 500 Menschen pro Jahr einen neuen Aufenthaltstitel
durch diese Regelung erhalten. Darunter werden viele
Menschen sein, die bereits nach den geltenden Regelungen für Hochqualifizierte einwandern konnten. Trotz
dieser geringen Erwartungen an die Zahl der Einwanderungswilligen spricht der Gesetzentwurf von einem
Fachkräftemangel in Deutschland.
Die Bundesregierung hat im vergangenen Bundeshaushalt die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit um
900 Millionen Euro und die Beteiligung des Bundes an
den Kosten der Arbeitsförderung um 800 Millionen Euro
gekürzt.
({1})
Die Kürzung bei den Arbeitsmarktinstrumenten beträgt
rund 25 Prozent. Sie beklagen also einerseits Fachkräftemangel und streichen andererseits Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen. Das ist absolut absurd.
({2})
Meine Damen und Herren, seit Jahren wird von Unternehmen und Politikern der angeblich drohende Fachkräftemangel beklagt. Zugleich gibt Deutschland seit
Jahren weniger Geld für Ausbildung aus als der Durchschnitt der anderen OECD-Länder. Das Ergebnis spiegelt sich in vergleichsweise geringen Absolventenzahlen
wider: Nur ein Viertel eines Jahrgangs hat in den vergangenen Jahren einen Hochschulabschluss erworben. In
den OECD-Staaten waren es fast 40 Prozent.
An dieser Stelle müsste die Regierung ansetzen. Das
Bildungssystem in Deutschland muss für Menschen aus
armen Familien durchlässiger werden.
({3})
Statt früher Selektion in unterschiedliche Schultypen
brauchen wir eine bedarfsorientierte Bildungsförderung.
Doch stattdessen setzen Union und FDP in den Ländern
auf den Erhalt von Hauptschulen und auf Studiengebühren an den Universitäten.
({4})
Sie selbst produzieren den Fachkräftemangel, den Sie
vorgeblich bekämpfen wollen.
Meine Damen und Herren, die Diskussion um den
Fachkräftemangel ist ein durchsichtiges Manöver.
({5})
So wollen Unternehmen durch den Zugriff auf ein höheres Arbeitskräftepotenzial den Druck auf die inländischen Löhne und Gehälter verstärken. Offensichtlich
sind die deutschen Unternehmer nicht gewillt, den hier
ausgebildeten Fachkräften ausreichende Vergütungen
und Arbeitsbedingungen zu bieten.
({6})
Besonders absurd ist es,
({7})
wie Sie versuchen, Fachkräfte zu werben. Alle Fachleute
sagen im Übrigen: Die Hochqualifizierten kommen
nicht, weil sie sich in Deutschland nicht willkommen
fühlen. Das ist auch kein Wunder. Schließlich machen
mordende Nazis auch im Ausland Schlagzeilen.
({8})
Es sind auch die komplizierten und restriktiven aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen, die Ausländer von
der Einwanderung nach Deutschland abhalten. Da setzt
die Koalition mit diesem Gesetzentwurf sogar noch einen drauf. Selbst für gebildete Deutsche ist dieses aufenthaltsrechtliche Kauderwelsch nur schwer nachvollziehbar. Statt neuer Regelungen im Detail brauchen wir
eine klare Verschlankung des gesamten Aufenthaltsrechts.
Die Linke sagt: Wer Fachkräfte haben will, der muss
sie ausbilden und sie gemäß ihrer Qualifikation bezahlen.
({9})
Wenn es wirklich einen Fachkräftemangel in Deutschland gibt, dann ist er hausgemacht. Was Sie mit der
Fachkräfteanwerbung machen, ist nichts anderes, als die
Bildungs- und Ausbildungskosten auf andere Länder
dieser Welt abzuwälzen. Das ist nichts anderes als neokoloniale Ausbeutung.
({10})
- Ja, so ist es.
({11})
Daran wird auch die Bestimmung nichts ändern, wonach das Arbeitsministerium durch Rechtsverordnung
Berufe bestimmen kann - ich zitiere -,
in denen für Angehörige bestimmter Staaten die Erteilung einer Blauen Karte EU zu versagen ist, weil
im Herkunftsland ein Mangel an qualifizierten Arbeitnehmern in diesen Berufsgruppen besteht.
Das ist reine Augenwischerei. Denn Fakt ist: In der
Realität werden sich interessierte Unternehmen ihre Beschäftigten dann eben auf anderer Rechtsgrundlage holen können.
Wer für die Menschen in der Bundesrepublik etwas
tun will, muss endlich eine Ausbildungsplatzumlage und
einen gesetzlichen Mindestlohn einführen.
({12})
Das vorhandene Geld muss in Ausbildungs-, Bildungsund Arbeitsmarktförderung fließen statt in milliardenschwere Bankenrettungspakete. Wer etwas für die Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern tun will,
muss in die soziale, ökologische und demokratische Entwicklung dieser Länder investieren - und darf nicht noch
die Leute, die dort qualifiziert wurden, abziehen - und
nicht in Kriege und eine immer effektivere Abschottung
Deutschlands.
Herzlichen Dank.
({13})
Memet Kilic hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe geschätzte Frau Kollegin Jelpke, ich
dachte eigentlich, dass Ihre Partei die Grenzen aufheben
möchte. Ich stelle aber fest, dass Sie gegen die Einwanderung von Hochqualifizierten sind. Ich weiß nicht, ob
Sie Deutschland unter eine Glocke stellen und luftdicht
verschließen wollen. Das ist sicherlich nicht im Interesse
der Migranten.
({0})
Mit der Blauen Karte setzt die Bundesregierung nur
halbherzig und sehr verspätet die Vorgaben der EU um.
Die Frist für ihre Umsetzung war der 19. Juni letzten
Jahres. Wer so lahm arbeitet wie die Bundesregierung,
({1})
der soll sich nicht wundern, wenn der Zug schon abgefahren ist. Laut dem aktuellen Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation fehlen Deutschland in Kürze Zehntausende Akademiker. Dabei haben
Sie, Frau Bundeskanzlerin, einst die Bildungsrepublik
ausgerufen. Was ist davon übrig geblieben? Erfolge sind
ausgeblieben; die Alarmglocken läuten. Wenn nicht radikal gegengesteuert wird,
({2})
gehen uns die Akademiker und Fachkräfte aus.
Die Bundesregierung scheut aber den notwendigen
Systemwechsel. Sie hat Angst vor ihrem eigenen Schatten. Sie sorgt nicht für ein offenes und transparentes Verfahren, sondern weitet unbeholfen die Ausnahmen zum
Anwerbestopp immer weiter aus. Um für qualifizierte
Einwanderer interessant zu werden, muss sich das politische und gesellschaftliche Klima ändern.
({3})
Grundlagen dafür sind: erstens eine sichere aufenthaltsrechtliche Perspektive, zweitens ein einladendes Einbürgerungsrecht und drittens das effektive Eintreten gegen
Rassismus.
({4})
- Mit diesem Gesetzentwurf bleibt die Bundesregierung
weit mehr hinter den Anforderungen zurück, als Sie vermuten, Herr Kollege.
({5})
Die Richtlinie der EU sieht die Möglichkeit vor, die
Blaue Karte auch auf Personen mit qualifizierter Berufsausbildung und mit fünfjähriger Berufserfahrung auszuweiten. In dem Entwurf der Bundesregierung findet sich
keine Spur davon. Der Gesetzentwurf ist ungenügend,
({6})
juristisch mangelhaft und wird selbst innerhalb der Koalitionsfraktionen als rechtlich unhaltbar bewertet. Darin
wird vorgesehen, dass Einwanderer ihr Aufenthaltsrecht
wieder verlieren, wenn sie innerhalb der ersten drei
Jahre Sozialleistungen beziehen.
({7})
Eine Niederlassungserlaubnis nur unter Vorbehalt zu erteilen, verstößt gegen eine Säule unseres Zuwanderungsrechts.
({8})
Nach dem Grundsatz des deutschen Rechts werden die
Voraussetzungen eines Verwaltungsaktes bei der Erteilung geprüft. Daher darf eine Niederlassungserlaubnis
aufgrund der nachträglichen Nichterfüllung der Lebensunterhaltssicherung nicht zurückgenommen werden. Das
muss auch der Union klar sein. So hat der Fraktionsvize
der Union Günter Krings erklärt,
({9})
dass eine unbefristete Niederlassungserlaubnis nicht mit
einem Vorbehalt gewährt werden könne.
Äußerungen der CSU im Sinne einer Einwanderung
in die Sozialsysteme sind nichts anderes als populistische Stammtischpolitik, liebe Freundinnen und Freunde.
Solche Äußerungen tragen Mitschuld daran, dass
Deutschland das Image einer geschlossenen Gesellschaft
hat. Das Signal an die ausländischen Fachkräfte ist ziemlich negativ. Darum ist zu befürchten, dass sie weiter einen großen Bogen um unser Land machen.
({10})
Deshalb verdient die Bundesregierung eindeutig eine
Rote Karte.
({11})
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Die
Blaue Karte reicht nicht aus, um die klugen Köpfe aus
dem Ausland nach Deutschland zu holen. Von der Visavergabe in den Konsulaten bis zu den Ausländerbehörden brauchen wir dringend einen Wandel.
({12})
Viele an einem Studium Interessierte aus dem Ausland
bekommen von deutschen Hochschulen eine Zusage, jedoch scheitert die Einwanderung an den Konsulaten.
Manche Konsulate denken, dass sie die Studierfähigkeit
eines Bewerbers besser bewerten können als unsere Universitäten. Das ist hirnrissig.
({13})
Die restriktive Visavergabe in den Konsulaten muss geändert werden.
Ein großes Potenzial für uns sind die ausländischen
Studienabsolventen in Deutschland, was auch Sie betont
haben, Herr Schröder. Sie können gut Deutsch und haben sich hier eingelebt. Deutschland kann sie aber nicht
halten. Ein Bericht der OECD legt dar, dass nur etwa jeder vierte der internationalen Studierenden nach Abschluss seines Studiums in Deutschland bleibt.
Der erste Besuch in der Ausländerbehörde ist eine
große Herausforderung für die frisch Eingewanderten.
Ich spreche hier von meinen Erlebnissen und von den
Erlebnissen von Menschen, denen es heute immer noch
so geht. Dort erwartet sie ein Bürokratiemonster: die
strengen Regeln unseres Zuwanderungsgesetzes. Deshalb muss die Bürokratie in den Ausländerbehörden abgebaut und das Personal interkulturell geschult werden.
({14})
In der letzten Sitzungswoche hat die Bundesregierung
erneut gezeigt, dass sie ein modernes Einbürgerungsgesetz scheut. Wir Grüne plädieren für eine einladende
Einwanderungspolitik für ausländische Fachkräfte. Dafür brauchen wir ein modernes und transparentes Auswahlverfahren mit einem Punktesystem. Dafür setzen
wir uns schon seit Jahren ein. Selbstverständlich müssen
die Möglichkeiten für eine humanitäre Einwanderung
weiterhin vorhanden sein. Die Einwanderung von Fachkräften wird für die politischen Parteien ein Lackmustest.
Wir müssen entscheiden, ob wir ein weltoffenes und
modernes Deutschland in einer globalisierten Welt sein
wollen. Ich wünsche mir, dass Einwanderinnen und Einwanderer willkommen geheißen und als gleichberechtigte Bürger anerkannt werden. Einwanderinnen und
Einwanderer müssen als Teil der Gesellschaft akzeptiert
werden. Die Union muss ihre ideologischen Scheuklappen endlich absetzen
({15})
und mit Vernunft das Zuwanderungsgesetz grundlegend
reformieren.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({16})
Nachdem wir uns hier ein bisschen mit der Exegese
des Wortes „hirnrissig“ beschäftigt haben und Sie, Herr
Kilic, eine Sache und nicht eine Person als solche beVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
zeichnet haben, waren wir gemeinsam der Meinung,
dass es möglich ist, dieses Wort hier zu verwenden.
({0})
Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Hans-Peter
Uhl.
({1})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung; wir befinden uns in der ersten Lesung über die Umsetzung der Richtlinie für Hochqualifizierte aus Drittstaaten. Herr Kollege Kilic, Sie
meinten, Sie müssten der Bundesregierung dieserhalben
die Rote Karte zeigen. Ich empfehle, dies besser nicht zu
tun,
({0})
weil wir Sie vielleicht noch überraschen werden. Möglicherweise können wir diesen Gesetzentwurf im Laufe
des Gesetzgebungsverfahrens noch umändern.
({1})
Es gibt ja den bekannten Spruch Ihres ehemaligen Fraktionskollegen: Kein Gesetz geht so aus dem Parlament
raus, wie es reingekommen ist. Das gilt auf jeden Fall
für dieses Gesetz.
({2})
- So ist es. - Das gilt auch für dieses Gesetz, und das ist
gut so. Wir kennen unser Selbstbewusstsein. Selbst der
Parlamentarische Staatssekretär Kampeter kann sich gut
an die Zeit erinnern, in der er noch nicht in der Regierung war und selbstbewusst auf diesem Recht bestanden
hat.
({3})
Lieber Herr Kilic, wir sollten bitte diese alten Schallplatten nicht immer wieder auflegen, dass jeder Ausländer, wenn er eine Ausländerbehörde in irgendeiner Kommune Deutschlands betritt, mit irgendwelchen demütigenden Verhaltensmustern konfrontiert wird. Erstens ist
dem nicht so, und zweitens könnten wir das Ganze,
wenn es denn so wäre, nicht mit Paragrafen ändern. Es
ist vielmehr eine Frage des zwischenmenschlichen Umgangs in einer Behörde. Das muss die dortige Behördenleitung erledigen, wir können es von hier aus nicht ändern.
({4})
Wir werden durch die Umsetzung der BluecardRichtlinie sehr viel zur Verbesserung im Bereich Arbeitskräftemangel beitragen, wobei wir wissen, dass dieses Problem nicht allein durch Zuwanderung zu lösen
ist. Uns ist bewusst, dass wir uns zunächst einmal - da
haben Sie vollkommen recht, Frau Kolbe - Gedanken
um die Arbeitslosen in Deutschland machen müssen.
({5})
Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Arbeitslosen bei
uns in Deutschland in Lohn und Brot bringen. Es gab
- da wird auch die Opposition zustimmen müssen noch nie so wenige Arbeitslose wie in diesem Februar;
({6})
das ist die niedrigste Zahl seit 21 Jahren. 3,1 Millionen
Arbeitslose - in 21 Jahren hat es so etwas nicht gegeben.
Und dennoch müssen wir uns um diese 3,1 Millionen
Arbeitslosen kümmern.
Weiterhin müssen wir das Fachkräftepotenzial stärken, indem wir junge Menschen gut ausbilden und die
Kenntnisse bei den älteren Menschen reaktivieren. Der
Zugang zum Arbeitsmarkt ist für diejenigen Frauen zu
erleichtern, die zugleich erziehende Funktionen haben.
Außerdem sollten wir uns noch mehr um die Menschen
mit Migrationshintergrund kümmern, die in Zeiten zu
uns gekommen sind, als die Zuwanderung noch so gut
wie nicht geregelt war.
Genau das ist ja unser Problem: Jahrzehntelang war
die Zuwanderung weitgehend ungeregelt.
({7})
Damals kamen sehr viele im Grunde überwiegend unqualifizierte Menschen zu uns, insbesondere durch den
Familiennachzug,
({8})
und wir gingen davon aus, dass sich die Integration
schon irgendwie von selbst erledigt. Wir haben also billigend in Kauf genommen, dass Integration zur Glückssache wurde. Das war ein schwerer Fehler, ausgeübt durch
Unterlassung, und zwar jahrzehntelang. Dafür sind wir
alle mitverantwortlich.
Das müssen wir jetzt reparieren. Nachholende Integration nennt man das. Das kostet Millionen. Deshalb
sollte niemand erzählen, dass jede Form von Migration
für den Staat ein Geschäft sei. Für den Staat ist das niemals ein Geschäft. Allenfalls der eine oder andere Arbeitgeber kann ein Geschäft mit willigen und billigen
ausländischen Arbeitskräften machen. Der Staat kann
niemals ein Geschäft mit Migration machen. Für den
Staat ist Migration immer sündhaft teuer. Das müssen
wir uns alle immer wieder bewusst machen.
({9})
- Das ist kein Käse, Frau Kollegin, sondern das ist wahr.
Wir sollten uns allerdings über eine Frage Gedanken
machen, bei der das Ausländerrecht eigentlich keine
Rolle spielt: Warum verlassen so viele Hochqualifizierte
- deutsche Ärzte, Ingenieure und Wissenschaftler - das
Land? Das kann ja nicht am Ausländerrecht liegen. Warum also? Da muss doch an den anderen Rahmenbedingungen der Beschäftigung etwas nicht stimmen. Das
heißt, wir müssen die Wirtschaft mehr in die Verantwortung nehmen, damit sie die Rahmenbedingungen für die
Hochqualifizierten attraktiver macht, sodass sie hierbleiben und nicht ihr Glück im Ausland suchen.
Der Gesetzentwurf ist ein Baustein; er geht in die
richtige Richtung. Wir werden etwas für Hochschulabsolventen tun. Auch hier - Herr Kollege Kilic, ich mache
Sie darauf aufmerksam - tun wir etwas für die Studenten, die hier studieren: Sie können während des Studiums mehr für ihr Studium dazuverdienen, indem wir
die zulässige Arbeitszeit verdoppeln.
({10})
Wir wollen denen, die in Deutschland ein Studium abgeschlossen haben, auch die Möglichkeit geben, einen Arbeitsplatz zu suchen; während dieser Arbeitsplatzsuche
sollen sie über einen längeren Zeitraum arbeiten können.
({11})
Auch hier wollen wir einiges verbessern.
Ich glaube überhaupt, dass wir auf den Bundesrat hören sollten. Da gibt es eine ganze Reihe von Anregungen. Dieses Gesetz muss mit Zustimmung der Länder ergehen. Der Bundesrat hat schon eine Fülle von weiteren
Verbesserungsvorschlägen gemacht; wir werden sie alle
in dem jetzt kommenden Verfahren, vor der zweiten und
dritten Lesung, auf uns wirken lassen und den einen oder
anderen Vorschlag übernehmen.
Ich glaube, die Analyse ist richtig, dass wir einen großen Mangel an Fachkräften haben und wir uns deswegen
auch im Ausland umschauen müssen, natürlich zunächst
im europäischen Ausland. In Spanien liegt die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen bei annähernd 50 Prozent. Da müssen wir uns natürlich im Sinne der europäischen Solidarität zuerst in solchen Ländern umschauen,
darüber hinaus aber auch in Drittstaaten; das ist selbstverständlich.
Wir werden bei Mangelberufen - Frau Kolbe, da lagen Sie mit Ihren Äußerungen nicht ganz richtig - dafür
sorgen, dass Lohndumping nicht möglich ist. Wir werden nämlich bei Mangelberufen auch bei Senkung der
Verdienstgrenze eine Vergleichbarkeitsprüfung im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen vornehmen. Es ist
wichtig, dass wir dem Wunsch mancher Arbeitgeber
nach willigen und billigen Ausländern nicht nachgeben.
Wir haben beim Umgang mit diesem Thema also schon
die nötige Sensibilität.
Insgesamt ist also Folgendes zu beachten:
Erstens. Unsere eigenen Arbeitslosen müssen geschützt
werden und qualifiziert werden, um einer Arbeit nachgehen zu können.
Zweitens. Wir kümmern uns um die Arbeitslosen in
der Europäischen Union.
Drittens. Erst danach suchen wir uns Fachkräfte aus
Drittstaaten, aus dem weiteren Ausland.
Danke schön.
({12})
Swen Schulz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um dem
Fachkräftemangel zu begegnen, müssen wir zweierlei
tun: Wir müssen als Erstes die Bildungschancen der
Menschen, die hier leben, verbessern.
({0})
Selbst wenn wir das jetzt sofort tun würden und eine perfekte Bildungspolitik machen würden, wovon die Regierungskoalition weit entfernt ist,
({1})
würde das allen Prognosen zufolge nicht ausreichen.
Wir brauchen darüber hinaus zweitens die Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland.
({2})
Darum brauchen wir die entsprechenden Rahmenbedingungen. Wir müssen als Arbeitsstandort attraktiv werden; wir müssen eine Willkommenskultur etablieren.
Nun wissen wir natürlich, dass das eine politische
Herausforderung ist; denn jahrzehntelang ist uns von
vielen Leuten erzählt worden, wie schwierig das mit der
Zuwanderung sei, was das für eine Belastung sei und
welche Schwierigkeiten es bei der Integration gebe. Hier
geht es um eine politische Thematik, der wir uns stellen
müssen. Wir müssen trotzdem, auch gegen diesen Trend,
klar erkennen und es den Leuten auch sagen: Wir benötigen Zuwanderung aus dem Ausland, um unsere Wirtschaft weiter voranzubringen und unseren Sozialstaat
perspektivisch weiter finanzieren zu können.
({3})
SPD und Grüne haben sich dieser Herausforderung
schon vor langer Zeit gestellt. Die Regierung Schröder
war es, die 2002 das Zuwanderungsgesetz beschlossen
hat, damals hart bekämpft von CDU und CSU im Deutschen Bundestag und im Bundesrat;
({4})
Swen Schulz ({5})
wir erinnern uns sehr gut daran. Ich will aber jetzt nicht
noch einmal die alten Schlachten führen, sondern nur darauf hinweisen, dass das bis heute nachwirkt und ein
Stück weit ein Problem ist. Denn die damalige Denke
bei der CDU/CSU gibt es, jedenfalls in Teilen der Union,
immer noch; sie wirkt immer noch nach. Darum ist die
Politik der Koalition in diesem Feld auch so halbherzig,
so widersprüchlich und eben auch zögerlich.
({6})
Das sieht man auch in diesem Gesetzentwurf. Minister Rösler hat gesagt, dieser Gesetzentwurf sei ein Quantensprung in der Zuwanderungspolitik.
({7})
Bei so einer Wortwahl - Sprung - denke ich unwillkürlich an eine Raubkatze, die elegant und dynamisch nach
vorne schnellt.
({8})
Aber wenn man sich das ganze Verfahren anschaut
und sich ansieht, was im Gesetzentwurf enthalten ist,
kommt man zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung
das Bild eines schläfrigen Bernhardiners abgibt, der angeschoben werden muss, damit überhaupt irgendetwas
passiert.
({9})
Das fängt schon damit an, dass die Umsetzung der
Richtlinie mit großem Zeitverzug passiert.
({10})
Die Richtlinie ist von 2009, wir sind heute im Jahr
2012, und Sie kommen erst jetzt mit dem Gesetzentwurf.
Was die Inhalte angeht, gibt es jede Menge Leerstellen. Das hat Ihnen - der Kollege Uhl hat dankenswerterweise darauf hingewiesen - der Bundesrat auch ins
Stammbuch geschrieben. Ich will nur einige Beispiele
nennen: Es fehlt zum Beispiel die Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten für ausländische Studierende.
Der Bundesrat hat gesagt: Da müssen wir etwas machen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme dankenswerterweise gesagt: Ja, okay, wir stimmen zu. - Also
hoffen wir, dass dies in den Beratungen im Deutschen
Bundestag von der Regierungskoalition auch aufgenommen wird.
({11})
Es fehlt die Verlängerung der Frist für die Arbeitsplatzsuche für die Absolventen. Die Bundesregierung
hat gesagt: Das müssen wir prüfen. - Also ein weiterer
Debattenpunkt. Es fehlt die vereinfachte Definition der
Angemessenheit der Arbeit. Die Bundesregierung hat
gesagt: Das lehnen wir ab. - Noch ein Diskussionspunkt
für die Ausschüsse. Es fehlt die Ermöglichung der
Selbstständigkeit von Absolventen. Die Bundesregierung hat gesagt: Wir prüfen. - Also müssen wir auch da
in den Beratungen im Deutschen Bundestag weiter vorankommen.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Bernhardiner-Koalition,
({13})
es ist wirklich schwer und mühsam, mit Ihnen da Fortschritte zu erreichen.
Da sind dann auch noch richtige „Klopper“ drin. Ein
starkes Stück ist das Thema „Niederlassungserlaubnis“.
Die Bundesregierung schlägt mit dem Gesetzentwurf
vor, dass die Niederlassungserlaubnis nachträglich entzogen werden kann. Was ist denn das für eine Botschaft?
Sie sagen damit den Leuten: Ihr könnt hier jahrelang
brav arbeiten, Steuern zahlen, Arbeitsplätze schaffen
und sichern, aber wenn es ein Problem gibt, dann raus
mit euch. - Das ist doch das Gegenteil von Willkommenskultur.
({14})
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Ich komme jetzt zum Ende.
Ich glaube, dass an diesem Gesetzentwurf noch eine
ganze Menge getan werden muss. Wir jedenfalls werden
in den Ausschussberatungen versuchen, diese Bernhardiner-Koalition noch ein ordentliches Stück weiter anzuschieben, damit etwas Ordentliches daraus wird.
Danke schön.
({0})
Serkan Tören hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schulz, Sie haben zwar den Begriff „Quantensprung“
kritisiert, aber er ist richtig in diesem Zusammenhang.
Wir sorgen dafür, dass der Wettbewerb um die besten
Köpfe weltweit begonnen wird und vernünftig funktioniert. Das war in Ihrer Regierungszeit gar kein Thema.
Auch darauf muss man hinweisen.
Ich kann mich an eine Rede des ehemaligen Kollegen
Scholz - jetzt Erster Bürgermeister in Hamburg - erinnern, der gesagt hat, die bestehenden Voraussetzungen
reichten völlig aus, um den Wettbewerb um die besten
Köpfe weltweit zu bestehen. Es gebe gar keinen Handlungsbedarf auf gesetzlicher Ebene. Sie sagen heute etwas anderes. Irgendwie müssen Sie da in Ihrer Fraktion
zu einer einheitlichen Meinung kommen.
({0})
Ja, Deutschland braucht Zuwanderung. Es ist rechnerisch abenteuerlich, wenn behauptet wird, dem demografischen Wandel und dem Fachkräftebedarf könnten wir
auch ohne eine solche begegnen. Natürlich müssen wir
auch im Inland etwas tun. Natürlich müssen wir Arbeitslose weiterqualifizieren, uns um Mütter kümmern und
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass einerseits die
Entscheidung für die Familie gelebt werden kann, andererseits aber eine Frau auch ihren Beruf ausüben kann.
Natürlich müssen wir auch Ältere aktivieren. Wir brauchen eine Bildungsoffensive auch für ältere Generationen.
Aber es ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch gefährlich, die Alternativen gegeneinander auszuspielen.
Wir brauchen eben auch Zuwanderung von qualifizierten und hochqualifizierten Menschen aus dem Ausland.
Das müssen wir den Bürgern auch offen sagen. Dies ist
eine besondere und wichtige Verantwortung gerade in
diesen Zeiten; denn es geht um nichts Geringeres als um
das gesellschaftliche Klima und - ein anderer Kollege
hat das auch gesagt - um die Willkommenskultur. Es ist
schlichtweg eine Illusion, zu glauben: Alle gut ausgebildeten Fachkräfte warten nur darauf, in Deutschland leben und arbeiten zu können, hier Steuern zahlen und ihre
Kinder in die Schule schicken zu können. Das zeigen
nicht zuletzt die Zahlen, die uns über die zugewanderten
Arbeitskräfte aus Osteuropa seit dem 1. Mai 2011 vorliegen.
({1})
Wir reden seit längerer Zeit von der sogenannten
Willkommenskultur. Das ist ein wunderbarer Begriff,
wie ich finde, aber jetzt muss er auch mit Leben erfüllt
werden. Die Bluecard ist ein wichtiger Schritt, die neuen
Realitäten anzuerkennen und Deutschland als modernes
und offenes Land zu präsentieren. So ermöglicht es die
Bluecard auch den Ehepartnern, direkt und ohne Vorrangprüfung ebenfalls in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen. Das entspricht den Ansprüchen und heutigen
Realitäten von vielen Akademikern weltweit.
Auch in Bezug auf ausländische Absolventen deutscher Hochschulen wollen wir im Rahmen der BluecardUmsetzung etwas tun. Die Zahl der ausländischen Studierenden ist erfreulich hoch, allerdings verlassen uns
die meisten nach dem Abschluss wieder. Das sind Menschen, die hier studiert haben, die die Sprache beherrschen und gerne in Deutschland leben und arbeiten
möchten. Mit Verlaub, diese jungen Menschen wieder
ziehen zu lassen und nicht mit allen Mitteln im Land zu
halten, ist mehr als unklug. Künftig sollen diese Hochschulabsolventen im ersten Jahr der Arbeitsplatzsuche
unbeschränkt arbeiten und so leichter in das Berufsleben
starten können.
Für uns Liberale geht es bei einer Willkommenskultur
um Unvoreingenommenheit gegenüber Kultur und Religion. Das ist für eine offene und intakte Gesellschaft genauso essenziell wie Verantwortungsübernahme, Leistungsbereitschaft und Rechtstreue.
({2})
Die Menschen, die über die Bluecard zu uns kommen,
werden einen wichtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrag für Deutschland leisten.
Die wesentliche Herausforderung wird darin bestehen, für Deutschland als lebenswertes und weltoffenes
Land zu werben und das Wort „Willkommenskultur“ mit
Leben zu erfüllen. Nur dann werden wir im Wettbewerb
um die klügsten Köpfe erfolgreich sein.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt hat das Wort Tankred Schipanski für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Vertreter des Bildungs- und Forschungsausschusses in dieser Debatte gilt als Erstes mein Dank unseren Innenpolitikern; denn wir haben gemeinsam dieses
wichtige Themenfeld bearbeitet und einen guten Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Die Forschungspolitiker
hatten sich seinerzeit an unseren innenpolitischen Sprecher Hans-Peter Uhl gewandt und ihm Vorschläge zur
Etablierung einer Willkommenskultur für Hochqualifizierte unterbreitet; das ist übrigens ein Begriff, den unsere Bundesministerin Annette Schavan geprägt hat. In
einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit Innenpolitikern
und Wirtschafts-, Sozial- und Forschungspolitikern haben wir uns in der Koalition auf Eckpunkte geeinigt, von
denen sich zahlreiche im heute vorliegenden Gesetzentwurf wiederfinden. Das ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie wir in der parlamentarischen Arbeit große Themenkomplexe wie den Fachkräftebedarf in Deutschland
ganz zielgerichtet bearbeiten.
Der vorliegende Gesetzentwurf gilt nicht nur der Umsetzung der EU-Richtlinien, sondern er setzt wesentlich
breiter an. Da wir einen breiteren Ansatz gewählt haben,
darf man die abgelaufene Frist zur Umsetzung dieser
Richtlinie auch nicht ständig überbewerten, lieber Herr
Schulz und liebe Frau Kolbe; denn wir alle in diesem
Haus kennen die Rechtsprechung zu nicht fristgerecht
umgesetzten Richtlinien. Den Bürgern sind hier keine
Nachteile entstanden.
Zunächst haben wir die Auswirkung der vollen Freizügigkeit für osteuropäische Arbeitnehmer auf den deutschen Arbeitsmarkt, welche seit dem 1. Mai 2011 gilt, abgewartet, um dann zu entscheiden, in welchen Bereichen
und in welchem Maß Erleichterungen bei der Zuwanderung notwendig sind. „Qualifizierung vor Zuwanderung“
und „Schaffung einer Willkommenskultur“ - das sind die
Schlüsselbereiche, von denen wir uns in dieser Debatte
über den Fachkräftebedarf in Deutschland leiten lassen.
({0})
Ziel der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie sind ein
erleichtertes Verfahren für die Zulassung hochqualifizierter Drittstaatsangehöriger sowie die Schaffung attraktiver Aufenthaltsbedingungen für hochqualifizierte
Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. Mit dem
Gesetz wollen wir einen neuen Aufenthaltstitel schaffen
und die sogenannte Bluecard einführen; die detaillierten
Regelungen hat unser Staatssekretär Ole Schröder beschrieben.
Darüber hinaus senken wir die Einkommensgrenze
von 66 000 Euro auf 48 000 Euro im Jahr für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis speziell an hochqualifizierte Spezialisten und leitende Angestellte. Aber wir
verlangen - das ist richtigerweise angesprochen worden -,
dass man innerhalb der ersten drei Jahre nicht arbeitslos
werden darf. Ich finde es unverantwortlich, dass Frau
Kolbe wegen dieser Regelung, wegen dieser Absenkung
Ängste schürt. Ich nenne noch einmal unser Motto: Qualifizierung vor Zuwanderung und Schaffung einer Willkommenskultur.
Über diese Richtlinie hinaus verbessern wir die Aufenthaltsbedingungen für ausländische Studenten an deutschen Hochschulen. Das ist ein Herzensanliegen der
Forschungspolitiker der Koalition.
({1})
So haben diese Studenten während ihrer einjährigen Suche nach einem angemessenen Arbeitsplatz einen uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das
heißt, sie können neben der Jobsuche arbeiten. Das ist
eine ganz wichtige Neuerung. Die Studenten erhalten
bereits nach zwei Jahren in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung ihre Niederlassungserlaubnis und
nicht erst nach fünf Jahren. Außerdem erhalten die Familienangehörigen der ausländischen Absolventen von
Anfang an einen uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang.
Dieser Gesetzentwurf enthält weitere ganz entscheidende Vereinfachungen hinsichtlich des Aufenthaltstitels
der Forscher, § 20 Aufenthaltsgesetz. Eine ganz wichtige
Neuerung nehmen wir zudem in § 27 der Beschäftigungsverordnung vor: Künftig können ausländische
Fachkräfte, die in Deutschland eine Berufsausbildung in
einem staatlich anerkannten Beruf absolviert haben, im
Anschluss daran einen Aufenthaltstitel erhalten, um in
diesem Beruf zu arbeiten.
({2})
Aus Sicht der Bildungspolitiker unserer Koalition ist es
wünschenswert, diesbezüglich ebenfalls eine einjährige
Suchphase nach Abschluss einer Ausbildung einzuräumen, damit ein angemessener Arbeitsplatz gefunden
werden kann. Ich freue mich, dass der Kollege Schulz
von der SPD diesen Punkt aufgegriffen hat. In dieser Sache sind wir uns anscheinend einig.
Wir Bildungspolitiker wünschen uns ferner, dass in
den nun anstehenden Beratungen noch einmal ein Blick
auf § 16 Abs. 3 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes geworfen
wird. Das hat Kollege Uhl bereits angesprochen. Es geht
dabei um die Nebenerwerbsmöglichkeiten von ausländischen Studierenden. Wir denken, man sollte diese ausweiten. Nach gegenwärtiger Regelung kann eine Beschäftigung an 90 Tagen bzw. 180 halben Tagen ausgeübt
werden. Wir können uns sehr gut vorstellen, dies auf
120 Tage bzw. 240 halbe Tage zu erweitern.
Das so geänderte Gesetz bietet ausländischen hochqualifizierten Fachkräften attraktive Zuwanderungs- und
Aufenthaltsbedingungen und eine bessere Perspektive
für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland.
Lassen Sie mich feststellen, dass wir der Problematik
des Fachkräftebedarfs in Deutschland nicht nur mit diesem Gesetz begegnen. Das Hohe Haus hat unter Federführung des Forschungsausschusses am 29. September
2011 das Berufsanerkennungsgesetz beschlossen. Mit
diesem Gesetz erhalten Zugewanderte ab dem 1. April
dieses Jahres einen Rechtsanspruch darauf, dass ihre im
Ausland erworbene Berufsqualifikation auf Gleichwertigkeit zur deutschen Referenzqualifikation überprüft
wird. Dieses Gesetz ist ein Meilenstein und ein wichtiges Signal für viele Migranten.
({3})
Da unsere föderale Ordnung es nun einmal so will, gilt
dieses Gesetz aber nur für Berufe, die der Bund regeln
darf. Viele Berufe fallen aber in den Regelungsbereich
der Länder. So darf ich an dieser Stelle nochmals an die
Länder appellieren, endlich nachzuziehen und auch im
Landesrecht die Berufsanerkennung zu regeln.
Das Gesetz, über dessen Entwurf wir in erster Lesung
beraten, aber auch das Berufsanerkennungsgesetz sind
Grundsteine dafür, dass wir die Potenziale ausländischer
Fachkräfte für unsere Bildungsrepublik Deutschland sowie für unsere Volkswirtschaft besser nutzen können.
Diese Gesetze sind Ausdruck der gelebten Willkommenskultur, die die christlich-liberale Koalition in
Deutschland verwirklicht.
Vielen Dank.
({4})
Als letzte Rednerin zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Kollegin Aydan Özoğuz für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich befürchte, dass in dieser Debatte eine Sache nicht
verstanden worden ist - leider habe ich nur wenige Minuten, um dies zu verdeutlichen -: Wir haben es im Moment mit einer Situation zu tun - die FDP hat darauf hingewiesen -, in der wir Menschen brauchen, die unser
Land attraktiv finden, die den Weg in unser Land suchen
und eine gute Ausbildung haben. Diese Menschen sollen
sagen: Von allen Ländern, die es gibt und die mir mitunter tolle Angebote machen, suche ich mir Deutschland
aus. Ich gehe dorthin und will dort arbeiten.
Laut der Konsensgruppe „Fachkräftebedarf und Zuwanderung“ gibt es bei konstanter Erwerbsquote einen
prognostizierten demografisch bedingten Rückgang des
Erwerbspersonenpotenzials um 6,7 Millionen bis 2025.
Man kann sicherlich mit Zahlen spielen. Aber wir befinden uns in dieser Situation. Daher kann ich nicht verstehen, dass Staatssekretär Schröder sich hier hinstellt und
viele Fragen stellt, etwa die Frage, ob es einem Hochqualifizierten ermöglicht werden soll, seine Frau mitzubringen, oder ob es vielleicht auch wichtig wäre, dass er
hier mit seinen Kindern gut leben kann. Das ist in der
heutigen Welt für hochqualifizierte Menschen selbstverständlich.
({0})
Die Konkurrenz ist riesengroß. Wir haben ein fundamentales Interesse. Ich glaube, diesen Perspektivwechsel
müssen wir endlich vollziehen.
({1})
- Ich kann viele Menschen zitieren, die hier Ängste
schüren.
Das ist ein gutes Stichwort, Herr Schipanski; denn ich
glaube, dass einige in der Union und insbesondere in der
CSU - die Zeit reichte nicht, um alle Zitate aufzuzählen tatsächlich ein Problem haben. Immer dann, wenn Sie
über die Zuwanderung qualifizierter Kräfte sprechen, sagen sie ganz schnell: Wir wollen keine Menschen, die in
unsere Sozialsysteme eindringen.
({2})
Dann mischen sich sofort zwei Mythen miteinander. Es
ist wichtig, damit aufzuräumen. Es war Deutschland, das
ungelernte Arbeitskräfte als sogenannte Gastarbeiter angeworben und hierher geholt hat. Es war gewollt, dass
sie keine Hochschulabschlüsse haben; denn Hochschulabsolventen hätten die Arbeit, die damals gemacht werden sollte, auch nicht verrichtet.
({3})
Wir waren diejenigen, die irgendwann einmal - das hat
erst mit Rot-Grün begonnen - gesagt haben: Wir müssen
dem Ganzen Regeln geben. Wir brauchen Sprachkurse
und ein Zuwanderungsgesetz. Ich erinnere mich noch
gut, dass Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, damals Schreckensbilder an die Wand gemalt haben.
({4})
Ich finde, das gehört ein bisschen zum Geschichtsbewusstsein dazu.
({5})
Wir sprechen heute über Studierende. Ich kann mich
an Debatten erinnern, in denen gesagt wurde, es stimme
doch gar nicht, dass Studierende das Land verlassen
müssten, wenn sie fertig seien. Das war Realität in diesem Land. Menschen durften hierher kommen, um zu
studieren oder eine Ausbildung zu machen. Aber an dem
Tag, an dem sie exmatrikuliert wurden, mussten sie gehen. Es war die linke Seite des Hauses, die das geändert
hat und gesagt hat: Gebt denen doch einmal eine
Chance, bei uns zu arbeiten und einen Job zu finden.
({6})
Es ist richtig - das hat das Hamburg Welcome Center
herausgefunden -, die Zeiten auszuweiten, weil mitunter
ein Jahr nicht reicht. Die nun vorgesehenen 18 Monate
stellen einen wichtigen Schritt dar. Das hat der Bundesrat zu Recht unterstrichen. Wir brauchen eine richtige
Willkommenskultur in diesem Land und einen anderen
Blick auf das Thema Zuwanderung, die eine große Bereicherung bedeuten kann, wenn man es denn mit Herz
macht.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Das bin ich jetzt.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8682 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Franz Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Der demografische Wandel in Deutschland Handlungskonzepte für Sicherheit und Fortschritt im Wandel
- Drucksachen 17/6377, 17/8372 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Christoph Bergner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vor diesem Hohen Hause ist
es eigentlich nicht erforderlich, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der demografische Wandel, dem wir uns
zu stellen haben, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten
wahrscheinlich eine der zentralen gesellschaftlichen und
politischen Herausforderungen sein wird. Dabei sind aus
meiner Sicht zwei Aufgabenfelder zu unterscheiden.
Zum einen müssen wir angesichts der veränderten
Alterspyramide, der sinkenden Bevölkerungszahl und
der damit verbundenen Auswirkungen auf die Siedlungsstruktur die Frage beantworten, wie wir Daseinsvorsorge, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglichen und stabilisieren können. Zum
anderen müssen wir die Frage beantworten, wie wir eine
nachhaltige Bevölkerungsentwicklung sicherstellen können. Das heißt, all die Fragen, die mit politischen Rahmensetzungen und gesellschaftlichen Einstellungen zu
tun haben, münden in der Frage, wie wir die für eine
nachhaltige Bevölkerungsentwicklung erforderlichen
Geburten- und Kinderzahlen in unserem Land erreichen
können. Beide zuvor genannten Fragen haben ihr eigenes Gewicht. Der Fragesteller hat sich vor allem auf die
erste konzentriert.
Die Bundesregierung stellt mit Blick auf den ersten
Aspekt fest, dass kein Anlass besteht, Katastrophenstimmung zu verbreiten; dies wäre angesichts der demografischen Herausforderungen auch problematisch. Die
Bundesregierung möchte diesen Herausforderungen mit
einer konstruktiven Haltung begegnen. Sie möchte die
anstehenden Veränderungen als einen Modernisierungsauftrag für unsere Gesellschaft, für die politischen Strukturen und für die politischen Rahmensetzungen verstanden wissen. Die Bundesregierung hat bereits in diesem
Sinne gehandelt und verschiedene Initiativen ergriffen,
gesetzliche und untergesetzliche Instrumente umgebaut
sowie Programme aufgelegt. Ich will hier drei Beispiele
nennen.
Das erste Beispiel ist das Konzept zur Fachkräftesicherung vom Juni letzten Jahres. In diesem hat die Bundesregierung wesentliche Ansatzpunkte und Maßnahmen zur Fachkräftesicherung - von der Erstausbildung
bis hin zur Aktivierung und Integration Arbeitsloser in
den Arbeitsmarkt - dargelegt und sich darüber mit Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften in einer gemeinsamen Erklärung verständigt.
Das zweite Beispiel für die Bemühungen der Bundesregierung ist das Handlungskonzept „Daseinsvorsorge
im demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten“, das
zusammen mit den neuen Bundesländern erarbeitet
wurde. Es wurde auf der Ministerpräsidentenkonferenz
Ost am 5. Oktober letzten Jahres verabschiedet. Für
mich als Beauftragter für die neuen Länder ist dies ein
Beispiel für die gute Zusammenarbeit der Bundesregierung mit den neuen Bundesländern.
Das dritte Beispiel - dies war vor nicht allzu langer
Zeit auch Gegenstand der Befragung der Bundesregierung - ist die Forschungsagenda „Das Alter hat Zukunft“. Sie wurde im November 2011 verabschiedet und
zielt auf Forschungsprogramme, die sich zentralen offenen Fragen des demografischen Wandels widmen, Erkenntnisbedarf decken und unserer Demografiepolitik
eine wissenschaftlich fundierte Basis geben wollen.
Hier ist auch auf den Demografiebericht der Bundesregierung zu verweisen, der im Oktober letzten Jahres
verabschiedet wurde. In diesem werden die Aktivitäten
der Bundesregierung und die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über die relevanten demografischen
Daten und Zusammenhänge umfassend dargestellt.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,
haben wir die heute auf der Tagesordnung stehende
Große Anfrage der SPD zum demografischen Wandel
gerne beantwortet. Wie Sie sich selbst überzeugen können, sind die Antworten ausführlich und detailliert ausgefallen. Ich hoffe, Sie würdigen das in der nachfolgenden Debatte.
Nunmehr geht es der Bundesregierung um einen weiteren wichtigen Schritt. Ende dieses Monats, also Ende
März, werden wir eine Demografiestrategie vorlegen.
({0})
Diese Strategie legt die wichtigsten Handlungsfelder
fest, auf denen sich die politische Gestaltung des demografischen Wandels in den nächsten Jahren bewähren
soll. Im Mittelpunkt stehen die Lebensbereiche, in denen
die Menschen die Veränderungen ganz unmittelbar und
am stärksten erfahren: die Familie, das Arbeitsleben, das
selbstbestimmte und unterstützte Leben im Alter, die
ländlichen Räume und die integrative Stadtpolitik.
Außerdem sollen in dieser Demografiestrategie die
entscheidenden Faktoren, um langfristig Wachstum,
Wohlstand und Zusammenhalt in unserem Land zu
sichern, angesprochen werden: Bildung, Fachkräfte,
qualifizierte Zuwanderung - ich verweise auf den letzten
Tagesordnungspunkt vor dieser Debatte -, Mittelstand
und Unternehmertum, Forschung, Infrastruktur, solide
Finanzen und eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung. In all diesen Bereichen wird die Bundesregierung
ihre Zielsetzungen beschreiben und die wichtigsten Initiativen aufzeigen, die sie noch in dieser Legislatur19266
periode, aber auch längerfristig für notwendig hält und
umsetzen will.
Ein Punkt ist mir dabei besonders wichtig: Die Gestaltung des Wandels kann nur gelingen, wenn alle staatlichen Ebenen und gesellschaftlichen Akteure zusammenwirken. Eine ressort- und ebenenübergreifende
Politik, wie sie die von uns geplante Strategie anstrebt,
kann also nicht verordnet, sondern muss gemeinsam getragen werden. Mehr noch: Wir brauchen die Kreativität
vor Ort. Es geht um Entscheidungen, die nicht allein am
grünen Tisch getroffen werden können. Eine Demografiestrategie muss auch die zentralen Felder beschreiben,
auf denen die Bundesregierung mit Ländern und Kommunen, den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft gemeinsame Antworten entwickeln und umsetzen will.
Es ist klar, dass die föderale Ebene in diesem Dialogprozess besonders gefordert ist. Deshalb bin ich sehr
froh, dass es mit dem Handlungskonzept für die neuen
Bundesländer im letzten Jahr gelungen ist, in dieser Hinsicht ein erstes Beispiel zu geben. Maßnahmen und Programme können nur wirken, wenn sie auf die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger treffen, sich auf
Veränderungen einzulassen. Es geht also auch um einen
Bewusstseinswandel. Die notwendigen Veränderungen
können sonst nicht gelingen.
In den letzten Jahren hat dieser Bewusstseinswandel
an vielen Stellen begonnen; das sollte uns ermutigen.
Vor Ort werden zahlreiche neue Lösungen gefunden. Ich
erwähne ein Beispiel, das aus meiner Sicht bisher viel zu
wenig gewürdigt wurde: den Tarifvertrag der chemischen Industrie in den neuen Bundesländern, in dem
zum Thema „lebensphasengerechte Arbeitszeitgestaltung“ Festlegungen getroffen wurden. Als Beauftragter
für die neuen Bundesländer blicke ich mit großer Genugtuung auf diesen Tarifvertrag, weil die besonderen
Herausforderungen, die die neuen Bundesländer in
puncto Demografie zu bewältigen haben, darin beispielhaft aufgenommen und sehr konstruktive Lösungen gefunden wurden.
Ich könnte viele weitere Beispiele nennen: Junge
Menschen entscheiden sich für höhere Qualifikation und
stellen sich auf veränderte Lebensläufe ein. Arbeitnehmer beginnen, sich auf das längere Leben in Beruf und
Alter vorzubereiten. Ältere Menschen wollen ihre Lebenserfahrungen über die eigene Familie hinaus einbringen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Wir sind also schon auf dem Weg, uns neu zu organisieren. All dies gilt es zu unterstützen und als Quelle der
Motivation und des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft zu nutzen. Alles in allem gilt es, die Innovationskraft und die Dynamik unseres Landes zu nutzen. Dann
brauchen wir vor den Veränderungen, die uns bevorstehen, keine Angst zu haben. Deutschland ist als ein entwickeltes Land in der Lage, diese Veränderungen zu
meistern. Gehen wir sie gemeinsam an! In diesem Sinne
würde ich die Antwort auf die Große Anfrage der SPDFraktion gerne diskutiert sehen wollen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Sabine Bätzing-Lichtenthäler für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner
Teile.“ Das wusste schon Aristoteles vor knapp
2 500 Jahren. Diese Erkenntnis des berühmten Griechen
hatte die Bundesregierung bei der Beantwortung unserer
Großen Anfrage zum demografischen Wandel aber
offensichtlich nicht; denn sie verfängt sich in ihrer Antwort in einer Projektitis und einer Menge unabgestimmter Einzelteile und Ideen. Oft weiß das eine Ministerium
überhaupt nicht, was das andere tut.
({0})
Einerseits will sie mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt,
mehr Zuwanderung und will die Städte umgestalten.
Andererseits will sie ein Betreuungsgeld, hält sie am
Ehegattensplitting fest, um Frauen vom Arbeitsmarkt
fernzuhalten, scheut sie ein offensive Zuwanderungsgesetz wie der Teufel das Weihwasser und kürzt sie eifrig
die Mittel für die Städtebauförderung.
({1})
Das nenne ich „links blinken und rechts abbiegen“. Herr
Ramsauer hätte das einmal in seinen neuen Strafpunktekatalog aufnehmen sollen.
({2})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
keine Idee und keinen ressortübergreifenden Ansatz, aus
dem hervorgeht, wie sie sich Deutschland 2050 vorstellt.
Diese Meinung teilt übrigens auch das Kanzleramt,
wenn es sagt: Der Bundesinnenminister hat erkennbar
noch keinen Zugang zum Thema demografischer
Wandel gefunden. - Sie können das in der Zeit vom
26. Januar 2012 nachlesen.
({3})
Besonders deutlich werden diese Ideenlosigkeit und
der fehlende Zugang in der Antwort auf unsere Frage 3
nach dem Gesellschaftsentwurf.
({4})
Dort schreibt die Bundesregierung,
dass die freiheitliche demokratische Grundordnung
sowie die im Grundgesetz festgelegten Werte und
grundlegenden Prinzipien auch im Jahr 2050 die
Grundlage der bundesdeutschen Gesellschaft bilden
werden.
({5})
Ich frage Sie ernsthaft: Ist das Ihre Strategie für 2050?
Das ist Ihr Gesellschaftsentwurf? Es soll sich an unserem System nichts ändern?
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch.
({6})
Ich wünsche mir auch, dass unser Grundgesetz 2050
noch Bestand hat und dass wir in Deutschland in Freiheit
leben können.
({7})
Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, hier
kann die Planung doch nicht aufhören; da muss die
Planung doch erst beginnen.
({8})
Wo sind Ihre Ideen für mehr erfüllte Kinderwünsche,
für gutes Wohnen, für mehr Bildungschancen, für den
Arbeitsmarkt der Zukunft und für die Gesundheitsförderung? Welche Vorstellungen haben Sie für mehr Miteinander und Füreinander in Familien, zwischen den
Generationen, in der Nachbarschaft, in der Region, in
Deutschland und in Europa? In der Antwort auf die
Große Anfrage sucht man diese Ideen vergeblich. Ich
frage mich: Wollen oder können Sie diese Antworten
nicht geben?
({9})
Ohne Antworten ist die Bundesregierung jedenfalls bei
der Gestaltung des demografischen Wandels ein Totalausfall.
({10})
Dass ausgerechnet jetzt - wir haben es ja gerade gehört - das Thema Demografie den Koalitionsfrieden retten und die Einigkeit der Koalitionäre dokumentieren
soll, wie es heute die Rheinische Post berichtet, lässt
nichts Gutes erahnen; denn eine machtpolitisch motivierte Demografiestrategie ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
({11})
Für uns ist klar: Wir wollen ein alle Lebensbereiche
umfassendes fortschrittliches, soziales und demokratisches Gesellschaftsmodell. Es geht uns nicht darum, den
Menschen vorzuschreiben, wie sie 2050 zu leben haben.
({12})
Wir wollen uns anhören, wie sie 2050 leben wollen, und
dann die Weichenstellungen vornehmen.
({13})
Wir setzen daher mit unserem Zukunftsdialog darauf,
dass wir alle gemeinsam in Deutschland die Richtung
bestimmen. Wir freuen uns, dass sich die Bundesregierung nun auch mit ihrem Dialog auf den Weg gemacht
hat. Nachahmen ist hier ausdrücklich erwünscht. Immer
wenn Sie das getan haben, ist etwas Gutes dabei herausgekommen, wie beim Atomausstieg oder auch beim
Elterngeld.
Die Frage, die wir den Menschen stellen, ist einfach:
Wie wollt ihr miteinander leben? Uns als Sozialdemokraten ist gutes Leben wichtig.
({14})
Wir sehen den demografischen Wandel nicht als Gefahr,
der wir noch entkommen können, wenn wir alle Einschnitte hinnehmen. Wir wollen und wir werden erreichen, dass es den Menschen durch den demografischen
Wandel nicht schlechter, sondern möglichst besser geht.
Für unsere Politik bedeutet das, dass wir frühkindliche Bildung und Betreuung nicht einschränken. Für
unsere Politik bedeutet das, dass wir gute Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitmodelle schaffen und für einen
Mindestlohn eintreten, von dem jeder leben kann,
({15})
dass wir bezahlbare und bedarfsgerechte Wohnungen
vorhalten und die Städtebauprogramme nicht kürzen,
dass wir die Vielfalt von Menschen und Kulturen in der
Gemeinschaft integrieren,
({16})
und schließlich - damit komme ich zum Schluss -, dass
wir das Miteinander organisieren: das Miteinander der
Generationen, aber auch das Miteinander von Bund,
Ländern und Kommunen.
Meine Damen und Herren, wir werden den demografischen Wandel nur dann gestalten, wenn wir im Bund
das Notwendige tun und Ländern und Kommunen unsere Hilfe und Koordination anbieten. Es ist an der Zeit,
klarzustellen, wer bei dieser Thematik den Hosenanzug
anhat und wer das Steuer in die Hand nimmt. Es ist auch
höchste Zeit, dass die Richtlinien von dort kommen, wo
sie herzukommen haben: Richtlinien sind Chefsache,
und Regieren ist mehr als Krisenmanagement.
Danke.
({17})
Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir beim letzten Mal auf
den dringenden Wunsch der SPD-Fraktion hin ihren eigenen Fragenkatalog diskutiert haben, freue ich mich,
dass wir heute eine stärker inhaltlich fokussierte Debatte
über die Antworten der Bundesregierung zu ihrer Großen Anfrage im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel in Deutschland führen können.
Der demografische Wandel ist - daran besteht, glaube
ich, kein Zweifel - eine zentrale Herausforderung unserer Zeit. Deswegen hat sich die christlich-liberale Koalition für die laufende Legislaturperiode vorgenommen,
dieses Thema mit besonderer Sorgfalt zu bearbeiten.
Dies wurde mit dem Kabinettsbeschluss vom November
2009 deutlich zum Ausdruck gebracht. Heute, gut zwei
Jahre später, können wir mit einiger Zufriedenheit auf
die ersten Ergebnisse der damaligen Vereinbarung zurückblicken.
Der Bundesminister des Innern hat, wie vereinbart,
im November des vergangenen Jahres einen Bericht zur
demografischen Lage und künftigen Entwicklung des
Landes vorgelegt. Zudem wird das Thema im Rahmen
der Demografiestrategie des Bundes berücksichtigt, die
noch in diesem Frühjahr - eine Vereinbarung steht kurz
bevor - vom Kabinett verabschiedet wird. Ich bin mir
sicher, dass wir uns als Parlament in diesem Zusammenhang noch einmal sehr ausführlich mit dem Thema beschäftigen werden.
({0})
- Wir können es dann steuern, wie oft wir uns damit beschäftigen.
Neben diesen Maßnahmen hat das Bundesministerium des Innern in Zusammenarbeit mit den Bundesländern das „Handlungskonzept: Daseinsvorsorge im
demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten“ vorgelegt. Die christlich-liberale Koalition hat damit für eine
solide Datenbasis für den Umgang mit dem demografischen Wandel gesorgt, anhand derer wir zahlreiche Maßnahmen angehen können und bereits angegangen sind.
Wichtig ist, dass wir aufhören sollten, die durch den
demografischen Wandel bedingten Veränderungen ständig als Bedrohung zu sehen.
({1})
Der demografische Wandel stellt vielmehr die Veränderung der Rahmenbedingungen dar, vor deren Hintergrund die Gestaltung gesellschaftlicher, politischer und
wirtschaftlicher Aspekte erfolgt. Wir sollten diesen
Wandel annehmen; denn er stellt die Summe vieler individueller Lebensentscheidungen dar. Das sollten wir respektieren. Kleinreden sollten wir die Herausforderungen, die der demografische Wandel mit sich bringt,
allerdings nicht; denn - das zeigen die Antworten der
Bundesregierung ebenso wie der Demografiebericht - er
erfordert unser Handeln.
Die christlich-liberale Koalition hat auch schon ohne
die Demografiestrategie gehandelt. So beruht zum Beispiel unsere Daseinsvorsorge im Alter, die gesetzliche
Rente, seit ihrer Einführung im 19. Jahrhundert auf der
Annahme, dass die jüngere Generation die ältere mitfinanziert. Bis dato war das nie ein Problem, da die jüngere Generation zahlenmäßig und produktiv immer die
vorherige Generation überboten hat. Heute ist das ganz
offensichtlich nicht mehr so. Immer mehr Menschen erreichen glücklicherweise ein hohes Alter, sind auch im
fortgeschrittenen Alter noch aktiv und wollen am
Erwerbsleben gerne teilhaben. Daher ist mit der schrittweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre
ein erster Schritt getan, der älteren Menschen die Teilnahme am Arbeitsmarkt ermöglicht und die Sozialkassen entlastet.
Damit allein wird es allerdings nicht getan sein; denn
ältere Menschen werden mit ihrer Erfahrung und ihren
Fähigkeiten nicht unbedingt immer an denselben Arbeitsstellen eingesetzt werden können. Daher möchte die
FDP-Fraktion weiterhin das Altersmanagement in Unternehmen sowie Umschulungsprogramme fördern und
günstige Rahmenbedingungen hierfür schaffen. Eine zusätzliche Flexibilisierung des Renteneintrittsalters halten
wir vor diesem Hintergrund ebenfalls für sinnvoll.
Die Weiterentwicklung der Mobilität auf regionaler
und kommunaler Ebene ist dabei ebenso zentral. Auch
die bevorstehenden Initiativen im Bereich E-Government zählen beispielsweise zu den Maßnahmen, mit
denen wir auf den demografischen Wandel reagieren;
denn damit kann eine flächendeckende Verwaltung
sichergestellt werden.
Doch auch diese Anstrengungen allein werden nicht
ausreichen. In einer schrumpfenden Gesellschaft werden
wir uns auch stärker mit dem Thema Zuwanderung
befassen müssen. Sie ist Quell neuer Ideen, die unsere
Gesellschaft bereichern und voranbringen werden, und
sie stellt sicher, dass der bevorstehende Mangel an Fachkräften in der Wirtschaft und in den sozialen Diensten
abgefedert wird.
Daher weise ich gerne noch einmal darauf hin, dass
die christlich-liberale Koalition sich gerade vorhin im
Parlament mit der Bluecard beschäftigt hat. Das ist ein
wichtiger Baustein der künftigen deutschen Zuwanderungspolitik.
Sie sehen, dass die christlich-liberale Koalition die
Herausforderungen des demografischen Wandels ernst
nimmt.
({2})
Sie handelt auch und stellt nicht nur Fragen.
Die Bundesregierung wird noch in diesem Frühjahr,
also sehr bald, ihre Strategie zum demografischen Wandel vorlegen. Die FDP-Fraktion wird diese Strategie
selbstverständlich weiterhin konstruktiv, aber auch kritisch begleiten. Ich denke, liebe Frau Kollegin Rößner,
dass wir uns hier im Parlament mehr als einmal damit
beschäftigen werden.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt zwei Begriffe, die oft in einen Zusammenhang gebracht werden: der demografische Wandel
auf der einen Seite und die Generationengerechtigkeit
auf der anderen Seite. Der demografische Wandel wird
immer als Ursache beschrieben. Dabei ist auch dieser
nicht einfach so über uns gekommen. Er hat Ursachen,
die auch politisch gemacht sind.
({0})
Generationengerechtigkeit wird als moralisches Ziel bei
der Bearbeitung der Folgen des demografischen Wandels beschrieben.
Das Problem, das ich damit habe, sind die Instrumente, die von der Politik in den letzten Jahren und Jahrzehnten daraus abgeleitet worden sind. Denn diese
Instrumente heißen: Privatisierung, Kürzung von Leistungen und nicht zuletzt Schuldenbremse. Diese führen
aber aus meiner Sicht zu einer weiteren Verschärfung der
Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaft. Ich möchte
Ihnen das an einigen Beispielen verdeutlichen.
({1})
Mein erstes Beispiel ist die Rente. Die Namen Rürup
und Riester stehen für die Privatisierung der Rente. Die
Namen Müntefering und von der Leyen stehen für die
Kürzung der Rente durch die Anhebung des Renteneintrittsalters. Beide Maßnahmen - Privatisierung und Kürzung - führen aber gerade nicht zu einer dauerhaften
Entlastung der Rentenkassen und zu mehr Gerechtigkeit,
sondern sie verlagern das Armutsrisiko auf die Menschen, die sich private Vorsorge aufgrund ihrer geringen
Löhne nicht leisten können, und auf diejenigen, die aus
Erwerbslosigkeit in Rente gehen und deshalb mit Abschlägen leben müssen. Beides ist für mich kein Weg zu
mehr Generationengerechtigkeit.
({2})
Die Linke hat hier heute Vormittag ihr Konzept für
eine solidarische Rentenversicherung vorgestellt, in die
alle einzahlen und bei der im Alter niemand von weniger
als 900 Euro pro Monat leben soll. Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt. Zweites Beispiel: die Gesundheitspolitik. Womit haben wir es hier zu tun? Mit Kürzungen
im Leistungskatalog der Krankenkassen, Zuzahlungen
zu medizinisch notwendigen Untersuchungen und Medikamenten, Eintrittsgebühren für die Praxen der Ärzte,
Aushöhlung der paritätischen Finanzierung durch
Arbeitnehmer und Arbeitgeber, weil nun die Versicherten einseitig Zusatzbeiträge leisten müssen. Auch hier
öffnet sich also die Schere nicht zwischen Alt und Jung,
sondern zwischen Arm und Reich. Das ist eine weitere
Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaft, der wir
nicht zuschauen dürfen, die aber politisch gemacht ist.
({3})
Die Linke hat auch hierzu ein Konzept vorgelegt. Wir
fordern eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in die mehr Menschen als jetzt einzahlen, zum
Beispiel auch Bundestagsabgeordnete, und die eine
Zweiklassenmedizin verhindern soll. Auch hier bin ich
auf Ihre Vorschläge gespannt.
({4})
Drittes Beispiel: das Elterngeld. Auch das ist schon
angesprochen worden, ein breites Thema in der Großen
Anfrage. Ja, meine Fraktion hat den Grundgedanken des
Elterngeldes unterstützt. Junge Familien sollen gefördert
werden, und wir wollen sicherstellen, dass beide Elternteile sich der Betreuung ihrer Kinder widmen können,
ohne allzu große Einkommensverluste hinnehmen zu
müssen. Aber das Elterngeld für besserverdienende Mütter und Väter wird durch die Streichung der Leistungen
für einkommensschwache Eltern gegenfinanziert. Das
Mindestelterngeld von 300 Euro wurde nur noch für
zwölf, maximal 14 Monate eingeführt. Das Erziehungsgeld vorher wurde für zwei Jahre gezahlt. Nun aber wird
das Mindestelterngeld vollständig auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Das heißt, erwerbslose Eltern bekommen nicht einen einzigen Cent als Anerkennung der
Erziehungsleistung. Auch hier kommt es zu einer Polarisierung zwischen Arm und Reich und nicht zwischen Alt
und Jung. Auch hierzu hat die Linke eigene Vorschläge
vorgelegt.
Ich möchte noch ein viertes, kurzes Beispiel anführen: die Einkommen. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die der Linken nicht gerade nahesteht, kommt zu
der Einschätzung, dass die Ungleichverteilung der Einkommen in Deutschland innerhalb der letzten rund zwei
Jahrzehnte so stark zugenommen hat wie in kaum einem
anderen OECD-Mitgliedsland. Sie kommentiert dieses
Ergebnis, dass mit Blick auf den Zusammenhalt einer
Gesellschaft eine solche Polarisierungstendenz bedenklich sei.
Ich glaube nicht, dass es das ist, was Sie, Herr Staatssekretär, unter Modernisierung verstehen. Ich hoffe zumindest, dass es nicht das ist, was Sie unter Modernisierung der gesellschaftlichen Strukturen verstehen, um den
demografischen Wandel in den Griff zu bekommen. Das
würde uns nämlich in den Abgrund führen.
({5})
In wenigen Tagen, am 8. März, feiern wir den Internationalen Frauentag. Im vergangenen Jahr wurde er
zum 100. Mal begangen. Es gibt einen Verein der in der
DDR geschiedenen Frauen, der vor allem in Ostdeutschland aktiv ist. Diese Frauen gehen jedes Jahr auf die
Straße, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Sie sagen,
dass sie bei der Rente ungerecht behandelt werden. Wir
haben dieses Thema hier im Bundestag schon mehrfach
behandelt und dazu Vorschläge gemacht. Die Vorsitzende dieses Vereins hat im Rahmen der letztjährigen
Demonstration gesagt: Wir sind zwar alt, aber wir verstecken uns nicht. Wir bitten nicht. Wir wollen auch
keine Armutslösung. Wir wollen Gerechtigkeit. - Darum
geht es. Es geht um die Herstellung von Generationengerechtigkeit, und darum muss es auch gehen, wenn wir
den demografischen Wandel gestalten wollen.
({6})
Ich bin in einem Dreiweiberhaushalt groß geworden.
Er bestand aus meiner Oma, meiner Mutter und mir.
Meine Oma ist am Montag dieser Woche 92 Jahre alt geworden.
({7})
Genauso wie ich nicht möchte, dass es Menschen und
sogar Abgeordnete in diesem Haus gibt, die ihr das Hüftgelenk nicht gönnen,
({8})
genauso möchte meine Oma nicht, dass meine Kinder
sich nicht das Studium leisten können. Es muss also
darum gehen, mehr Verteilung und Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu erreichen. Aber es muss auch
darum gehen, mehr Verteilung und mehr Gerechtigkeit
innerhalb der Generationen zu erreichen. Wir dürfen die
eine Generation nicht gegen die andere ausspielen, sondern wir müssen für mehr Gerechtigkeit auch innerhalb
der Generationen kämpfen.
({9})
Am 20. Februar war der Welttag der sozialen Gerechtigkeit. Das ist einigen von Ihnen vielleicht gar nicht aufgefallen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Zitat
von Stefan Heym bringen. Er hat zur Eröffnung des
13. Deutschen Bundestags im Jahr 1994 gesagt:
Benutzen wir die Macht, die wir haben, vor allem
die finanzielle, weise und mit sensibler Hand.
Diese Weisheit und Sensibilität habe ich auch an dem
diesjährigen Welttag der sozialen Gerechtigkeit vermisst. Ich hoffe, dass sich dies bald ändert.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Tabea Rößner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
der ersten Hälfte der Legislaturperiode konnte man fast
den Eindruck gewinnen, der demografische Wandel habe
sich in Luft aufgelöst. So wenig Aktivitäten gab es vonseiten der Bundesregierung.
({0})
Die Regierung wollte partout nicht das Mammut erlegen, das vor der Höhle stand. Stattdessen musste die Opposition sie immer wieder zum Jagen tragen.
Jetzt kommt das Thema langsam wieder in Fahrt; und
das ist auch höchste Zeit. Dieses Mal treten wir Ihnen
dank der Großen Anfrage der SPD auf die Füße. Doch
was sagt uns die Antwort? - Alles in Ordnung. Die Bundesregierung singt sich selbst eine Lobeshymne, wie toll
sie den demografischen Wandel gestaltet. Die Hymne
stellt sich aber bei genauerem Hinsehen eher als ein Abgesang heraus. Und schiefe Töne gibt es zudem auch
noch.
({1})
Spielen wir etwa das Lied des Freiwilligendienstes aller Generationen, den die Bundesregierung vorbildlich
und besonders effektiv nennt. Das war er auch. Nur leider hat genau diese Bundesregierung den Dienst sterben
lassen, und das, obwohl sie weiß, dass der Freiwilligendienst aller Generationen besonders die Menschen angesprochen hat, die sich nie zuvor engagiert haben. Jetzt
werden Sie bestimmt den Refrain anstimmen, dass es die
Mehrgenerationenhäuser richten sollen. Aber diese ersetzen den Freiwilligendienst aller Generationen nicht;
denn er hat es mit seinen mobilen Kompetenzteams den
Leuten leicht gemacht, anzudocken. Sieht so Ihr Konzept aus: in der Vergangenheit schwelgen, Fehler aber
nicht korrigieren?
({2})
Der Lapsus mit dem abgeschafften Freiwilligendienst
ist zwar bezeichnend für Ihre planlose Arbeit, aber er ist
eine Petitesse gegen das, was sich durch alle Antworten
zieht. Es fehlt etwas. Es fehlt das, was die Grundlage Ihrer Pläne zur Bewältigung des demografischen Wandels
sein sollte. Es fehlt eine Vision, wie unsere Gesellschaft
in Zukunft aussehen soll.
({3})
Der demografische Wandel wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unsere Gesellschaft komplett verändern. Da geht es nicht darum, Herr Staatssekretär, ob die
Bürger mitgenommen werden oder sich darauf einlassen.
Die Menschen leben doch schon mit dem Wandel. In der
Antwort zeigen Sie auch Handlungsbedarf auf, nur die
logischen Schlüsse daraus ziehen sie nicht.
Wir müssen jetzt in eine breite gesellschaftliche Debatte darüber eintreten, wie wir in Zukunft leben wollen.
Jetzt müssen wir die Leitplanken ausrichten. Aber vorher sollten wir doch wissen, wohin der Weg überhaupt
führen soll.
({4})
Eine einzige Positionierung konnte ich in Ihrer Antwort finden, wie unser Land im Jahr 2050 aussehen
wird. In der Antwort 3 heißt es - diesen Zusatz, liebe
Sabine Bätzing, hast du leider vergessen -:
Besonderer Schutz gebührt dabei weiterhin Ehe und
Familie.
Besonderer Schutz der Ehe: eine so rückwärtsgewandte
Vorstellung der Zukunft ist wirklich sensationell.
({5})
Mit Ihren altmodischen und lebensfremden Familienvorstellungen machen Sie sich ja heute schon lächerlich,
wie der Beitrag von Ihrem Sittenwächter Norbert Geis
zeigt. Meinen Sie, die Menschen in diesem Land haben
keine andere Sorge als die, ob der zukünftige Bundespräsident verheiratet ist oder nicht?
({6})
Nein, die Menschen sorgen sich eher darum, ob sie nach
der Elternzeit eine Kinderbetreuung haben und ob es
eine gute Schule in der Nähe gibt - und das besonders,
wenn sie in Mecklenburg-Vorpommern leben - und wie
sie Arbeit und Familie unter einen Hut bekommen. Das
sind die wichtigen familienpolitischen Fragen, und nicht
die Frage nach irgendeinem Trauschein.
({7})
Da passt es ganz gut, dass einige Ihrer Abgeordneten
jüngst eine Strafabgabe für Kinderlose einführen wollten. Erst die Herdprämie, jetzt die Demografiestrafe Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger mit aller Gewalt
in das Korsett Ihres Gesellschaftsbildes hineinzwängen.
Wer überhaupt noch Lust hat, in diesem Land Kinder zu
kriegen, dem muss sie bei solchen Ansagen wirklich vergehen.
({8})
Sie sind nicht bereit, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu akzeptieren. Also verharren Sie auch bei der
Gestaltung des demografischen Wandels im Gestern.
Beispiel Fachkräftemangel: Alle sind sich einig, wir
müssen drei Ressourcen mobilisieren, nämlich Frauen,
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ausländische Fachkräfte. Wir bräuchten dringend Zuwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern. Dafür müsste
man aber das System reformieren. Stattdessen: klitzekleine Miniänderungen.
({9})
Es gilt bei der Zuwanderung - zwar mit Ausnahmen noch immer ein Anwerbestopp. Das versprüht so viel
Willkommenskultur wie eine zugenagelte Haustür.
({10})
Wir brauchen mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
Stattdessen wollen Sie Müttern etwas zahlen, wenn sie
länger zu Hause bleiben. Was ist denn das für eine kurzsichtige Politik? Investieren Sie das Geld doch endlich in
den Ausbau von Kindertagesstätten. Sorgen Sie für Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen, und geben
Sie den jungen Frauen ein Signal, dass sie gebraucht
werden. Installieren Sie endlich eine echte Quote und
„flexiquoten“ Sie nicht rum.
({11})
Wir brauchen auch die älteren Arbeitnehmer; das ist
beileibe kein Selbstläufer. Wir brauchen eine neue Kultur der Arbeit. Gute Ausbildung, lebenslanges Lernen,
gesunde alterns- und altersgerechte Arbeitsplätze und
flexible Arbeitsplatzmodelle - das alles gehört dazu.
({12})
Darüber hinaus brauchen wir eine bessere Integration älterer Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt. Solch eine Potenzialverschwendung, wie wir sie heute betreiben, werden
wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können, meine Damen und Herren.
({13})
In der Pflegepolitik stellen Sie zu Recht dringenden
Handlungsbedarf fest. Wir brauchen mehr und besser bezahlte Pflegekräfte, die gut ausgebildet sind und deren
Beruf breite Anerkennung findet. Aber wie sieht Ihre
Lösung aus? Es gibt den kurzen Verweis auf die Pflegereform Ihres glücklosen Gesundheitsministers. Diese hat
das Bundesfinanzministerium mittlerweile wieder einkassiert. Kein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff! Kein
Fahrplan! Keine Vision! Auch hier gilt: Planlosigkeit,
wohin man schaut.
Wir benötigen eine Pflegereform aus einem Guss, die
ehrlich formuliert, was für eine Pflege wir uns zukünftig
leisten wollen und was diese auch kosten wird. Das Modell dazu gibt es. Es ist die grüne Pflege-Bürgerversicherung.
({14})
Noch eine letzte Sache, bei der Erkenntnis und Konsequenz weit auseinanderliegen: Sie sagen, die Lösungen für den demografischen Wandel müssten hauptsächlich vor Ort gefunden werden. Doch wie, bitte schön,
soll eine Kommune, die in dem Teufelskreis aus weniger
Einwohnern, weniger Einnahmen, aber nicht weniger
Kosten gefangen ist, ihre Infrastruktur gestalten? Auch
der Rückbau wird Geld kosten. Wir brauchen handlungsfähige und finanzkräftige Kommunen, damit vor Ort
überhaupt erst die Möglichkeit besteht, die Zukunft zu
gestalten. Diesen gedanklichen Bogen zur Bundespolitik
haben Sie offensichtlich noch nicht gespannt.
Demnächst wird also - Sie haben es eben angekündigt - die Bundesregierung ihre Strategie für den demografischen Wandel vorstellen. Ich fürchte nur, dass wir
nichts Großes erwarten können. Denn die schwarz-gelbe
Regierung hat, wie sie mit ihrer Antwort beweist,
({15})
kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem, und das ist ziemlich eklatant.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Günter Krings für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie sehen, meine Damen und Herren von der
SPD: Ein wenig Geduld lohnt sich. Wir haben über diese
Große Anfrage debattiert. Inzwischen ist nicht nur die
Große Anfrage beantwortet, sondern es gibt auch einen
Demografiebericht, und in wenigen Wochen wird es
auch eine Demografiestrategie der Bundesregierung geben. Ich wünsche mir auch trotz mancher Wortmeldungen und Aussagen heute, dass wir der Versuchung widerstehen, dem Thema Demografischer Wandel mit
parteipolitischen und oppositionellen Reflexen zu begegnen.
Es geht hier um langfristige und nachhaltige Strategien, die wir als Antwort auf den demografischen Wandel gemeinsam suchen müssen. Natürlich brauchen wir
Strategien, die für eine Mehrzahl von Wahlperioden und
für viele verschiedene Bundesregierungen gültig sind.
Aber wenn wir das von vornherein nur im parteipolitischen Streit tun - dieser ist ansonsten manchmal ganz
gut, und ich bin eigentlich auch nicht dagegen, parteipolitisch zu streiten -, dann werden wir bei dem Thema
nicht wirklich weiterkommen. Ich appelliere also an Ihre
Bereitschaft zu konstruktiver Zusammenarbeit in den
nächsten Wochen und Monaten; das klang eben nicht in
allen Redebeiträgen durch. Manche Stimmen und Aussagen hätte ich mir zumindest ein wenig weniger schrill
gewünscht, meine Damen und Herren.
({0})
Demografischer Wandel bedeutet zum einen, dass wir
eine Entwicklung - das hat der Kollege Müntefering
beim letzten Mal sehr gut dargestellt - auch langfristig
vorhersehen können. Das ist in unserem parlamentarischen Alltag, in dem wir oft sehr kurzfristig - ich denke
an den vergangenen Montag - Entscheidungen treffen
müssen, fast Luxus. Hier können wir endlich langfristig
abschätzen, in welche Richtung sich Entwicklungen
vollziehen.
Zum anderen verlangt der demografische Wandel,
dass wir umgekehrt vorausschauend planen müssen. Genau daran arbeiten wir zurzeit.
({1})
- Ich möchte gerne die Zwischenfrage des Kollegen
Müntefering zulassen, falls der Präsident nichts dagegen
hat.
({2})
Bitte schön, Kollege Müntefering.
Herr Kollege, ich kann Ihren Appell, dass wir dieses
Thema nicht parteipolitisch wenden, sondern eine offene
Diskussion darüber führen sollten, verstehen. Was erwarten Sie aber von der Opposition angesichts der Tatsache, dass bei dieser Debatte das Ministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, das Bau- und Verkehrsministerium, das Bildungsministerium, das Gesundheitsministerium sowie das Finanzministerium auf der Regierungsbank nicht vertreten sind?
({0})
Herr Kollege Müntefering, herzlichen Dank für Ihre
Zwischenfrage. Auch ich vermisse bei dieser Debatte in
der Tat einiges. Das sage ich ganz offen. Ich könnte mir
die Regierungsbank besser besetzt vorstellen. Allerdings
weise ich darauf hin, dass hier das Innenministerium federführend ist. Das ist auch gut so, weil es das Ministerium des sozialen Zusammenhalts ist und eine wichtige
Querschnittsaufgabe wahrnimmt.
Ich vermisse aber noch andere Dinge. Zum Beispiel
bedauere ich, dass Sie nicht auf der Rednerliste Ihrer
Fraktion stehen. Ihr Redebeitrag hätte zur Qualität der
Debatte beigetragen. Aber ich versichere Ihnen, dass sowohl der Dialog innerhalb der Regierungskoalition und
der Regierung als auch der Dialog mit der Opposition
nicht ausschließlich in dieser Form stattfinden müssen.
Wenn es bei Ihnen Bedarf für ein Gespräch mit mir gibt
- ich leite in meiner Fraktion die Projektgruppe „Demografischer Wandel“ -, dann stehe ich jederzeit gerne zur
Verfügung. Wir können, wenn wir es beide wünschen,
Vertreter der Ministerien hinzuziehen. Das sollten wir
alsbald einmal machen, Herr Kollege Müntefering.
({0})
Wir brauchen hier die Fähigkeit und die Bereitschaft
zu langfristigen Weichenstellungen. Man muss in der Tat
Rechenschaft darüber abliefern, welche langfristigen
Ziele wir politisch verfolgen. Aber heißt das - das ist der
Unterschied zwischen unserer Position und dem, was die
Kollegin Bätzing-Lichtenthäler vorgestellt hat und was
aus der grünen Fraktion in Person von Frau Rößner anklang -, dass wir jetzt schon sagen sollten, wie unsere
Vision der Gesellschaft im Jahre 2050 aussieht? Ich will
jetzt gar nicht den Satz von Helmut Schmidt, der bekanntlich nicht aus meiner Partei kommt, bemühen, der
einmal gesagt hat: Wer Visionen hat, der soll zum Arzt
gehen.
Der wahre Kern dahinter ist, dass wir sehr wohl bestimmte Grundwerte erhalten wollen. Das klang auch in
der Antwort auf die Frage 3 an, in der davon ausgegangen wird, dass die freiheitlich demokratische Grundordnung erhalten bleibt. In dieser Antwort kommt weiterhin
zum Ausdruck, dass wir die Ehe im Gegensatz zu Ihnen
nicht für antiquiert halten und dass wir an dem besonderen Schutz für Ehe und Familie festhalten wollen.
Eine Fortschreibung bestehender Werte in die Zukunft - ja. Aber genau zu sagen, wie eine Gesellschaft
2050 aussehen soll, halte ich für anmaßend. Ich möchte
eine Politik der Nachhaltigkeit und als Reaktion auf den
demografischen Wandel. Dabei sollten wir zukünftigen
Generationen möglichst viele Handlungsoptionen und
Entscheidungsmöglichkeiten offenhalten. Das bedeutet,
dass wir unsere Ressourcen schonen müssen. Dazu gehört in der Tat die Schuldenbremse und auch - ich sage
nachher noch einige Sätze dazu - die Nachhaltigkeit der
sozialen Sicherungssysteme. Legen wir also zukünftige
Generationen nicht auf bestimmte Visionen fest, sondern
geben wir ihnen möglichst viel Handlungsspielraum in
der Zukunft. Das ist meine Vorstellung von nachhaltiger,
generationengerechter Politik.
({1})
Im Übrigen weise ich darauf hin - ich habe es schon
gesagt -, dass die Strategie der Bundesregierung bald
vorgelegt wird. Dass die Bundesregierung nicht mit einem Male das gesamte Pulver verschießen will, halte ich
für nachvollziehbar.
Um dieses Ziel einer gewissen Verstetigung von
Grundwerten zu erreichen, brauchen wir natürlich Akteure. Herr Staatssekretär Bergner hat darauf hingewiesen, dass es diese Akteure in der Gesellschaft, in der
Wirtschaft und im privaten Bereich gibt. Aber auch der
Staat muss als Akteur hier sehr ernst genommen werden.
Ich will das an zwei Bereichen exemplifizieren.
Viele erwarten vom Staat - das erkenne ich an den
Zuschriften -, dass er etwas gegen den demografischen
Wandel unternimmt. Es wird gefragt, warum dieser
Wandel nicht gestoppt werden kann. Eben klang es sogar
bei den Linken an, der demografische Wandel sei eigentlich ein Produkt der Politik. Es ist ein merkwürdiges
Menschen- und Gesellschaftsbild, dass die Politik den
demografischen Wandel herbeigeführt hätte.
({2})
Ich glaube, das wird außer Ihnen in diesem Haus niemand als eine echte Erklärung ansehen.
Der demografische Wandel beruht im Wesentlichen
auf einer Summe von persönlichen Lebensentscheidungen. Es ist auch gut so, dass die Menschen individuell
entscheiden können und wir ihnen keine politischen Vorgaben machen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Golze?
Aber sehr gerne.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen,
Herr Kollege. - Ich frage Sie: Ist es keine politische
Maßnahme, wenn eine Landesregierung eine Prämie an
junge Leute, aber auch an erwerbslose ältere Menschen
dafür zahlt, dass sie das Bundesland verlassen und in
eine andere Region ziehen, nur damit die eigene Statistik
stimmt? Meinen Sie nicht auch, dass diese politische
Maßnahme zur Folge hat, dass gerade aus Regionen, die
sowieso schon durch Geburtenmangel gekennzeichnet
sind, junge Leute abwandern, die höchstwahrscheinlich
nicht mehr zurückkommen werden? Glauben Sie nicht
auch, dass eine solche Maßnahme den demografischen
Wandel zumindest verstärkt?
Ich bestreite nicht, dass es politische Maßnahmen
gibt, die sowohl stärkend als auch schwächend auf den
Effekt einwirken können. Ich habe nur die Kausalität im
Kern bezweifelt. Die Menschen wollen Arbeit. Es mag
vielleicht Anreize geben, damit sie dahin gehen, wo es
Arbeit gibt. Ich glaube, dass die Politik nicht den Versuch machen sollte, jegliche Wanderungsbewegungen in
Deutschland um jeden Preis zu verhindern. Ich komme
aus dem Rheinland. Das ist nicht weit entfernt vom
Ruhrgebiet. Wenn es im 19. Jahrhundert beispielsweise
keine Wanderungsbewegungen aus den damaligen östlichen Gebieten Deutschlands in das Ruhrgebiet gegeben
hätte, hätte es weder vor dem Zweiten Weltkrieg noch
danach einen wirtschaftlichen Aufschwung an der Ruhr
gegeben. Insofern gibt es immer Wanderungsbewegungen. Wir können uns darüber unterhalten, ob die eine
oder andere staatliche Maßnahme zu weit geht oder kontraproduktiv ist, aber so zu tun, als ob der demografische
Wandel im Kern auf staatlichen Entscheidungen beruht
- so haben Sie es dargestellt -,
({0})
ist schlichtweg falsch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kollegin Scharfenberg von den Grünen?
Gern. Beim nächsten Male wäre es einfacher, die Redezeit zu verdoppeln, aber mit einer Zwischenfrage erreichen wir dies auch.
Manchmal kommt es mehr auf den Inhalt an. Vielen
Dank. - Im Hinblick auf den demografischen Wandel
haben Sie von einer Summe persönlicher Entscheidungen gesprochen. Ich frage Sie zum Thema Pflegebedürftigkeit. Dies ist nicht unbedingt eine persönliche Entscheidung, die getroffen wird; es ist ein Schicksal, das
einen ereilen kann. Der demografische Wandel, wie er
sich im Moment vollzieht, zeigt uns ganz klar, dass wir
in naher Zukunft mit einer erhöhten Zahl an Hochaltrigen rechnen müssen, die einen erhöhten Pflegebedarf
haben können. Das ist nichts, was wir erst sehen könnten; das sehen wir bereits. Meine Frage, die ich Ihnen in
diesem Zusammenhang stelle, ist: Warum weigert sich
diese Regierung, eine umfassende und strukturell und finanziell richtige Pflegereform auf die Beine zu stellen,
um dem entgegenzuwirken?
In der Tat haben wir bereits eine Pflegeversicherungsreform auf den Weg gebracht. Hier wollen wir neue
Leistungstatbestände, etwa bei Demenzkranken, schaffen. Insofern reagieren wir auf Veränderungen in der Gesellschaft, zum Beispiel beim Gesundheitszustand und
bei der Pflegebedürftigkeit. Ich glaube, dies ist ein Prozess, der weitergehen muss. Insofern bin ich gar nicht so
weit weg von Ihnen. Ich glaube aber, dass wir dieses
Problem nicht nur auf der Leistungsseite angehen können. Wenn wir sagen: „Es gibt mehr Leistungsempfänger
und mehr Bedarf im Bereich der Pflege“, so müssen wir
ebenfalls schauen: Ist die Finanzierung, wie wir sie gestaltet haben, nachhaltig? Ich mache keinen Hehl daraus,
dass wir in diesem Bereich auch das Stichwort „Demografierücklage“ beachten müssen. Im Bereich der Pflegeversicherung haben wir noch etwas zu tun. Das ist
aber ein schrittweiser, ein evolutiver Prozess. Wir haben
erste richtige und wichtige Schritte gemacht. Aus meiner
Sicht wird dieser Prozess sowohl auf der Leistungsseite
als auch auf der Finanzierungsseite weitergehen müssen.
Deswegen fände ich es gut, wenn die Grünen zu ihrer alten Beschlusslage zurückkehren und einer Demografierücklage, wie sie ursprünglich von ihnen gefordert
wurde, wieder etwas abgewinnen könnten. Vielleicht
könnten wir an dieser Stelle Skeptiker in unseren beiden
Fraktionen überzeugen. - Vielen Dank.
Zuwanderung, Abwanderung, Geburtenrate, Sterberate - das sind die vier Faktoren, die den demografischen
Wandel bestimmen. Wir können nur an wenigen Punkten
etwas ändern oder wesentlich verändern. Insofern warne
ich davor, zu meinen, man könnte das ganze Phänomen
stoppen. Bei der Zuwanderung - gerade haben wir eine
Debatte dazu geführt - haben wir gesetzliche Handlungsmöglichkeiten. Wenn wir es richtig verstehen, beschränken sie sich auf qualitative Zuwanderung. Wenn
wir - das ist quantitativ - die Zahl der Arbeitnehmer und
Ruheständler im jetzigen Gleichgewicht halten wollen,
hieße das: jährliche Zuwanderung jenseits der Millionengrenze. Ich glaube, niemand glaubt ernsthaft, dass
wir solche Zuwanderungszahlen in der Gesellschaft integrativ sinnvoll verkraften können.
Beim Thema Abwanderung gibt es naturgemäß keine
Steuerungsmöglichkeiten. Dazu hätten allenfalls die Linken etwas aus ihrer Geschichte im Angebot, aber ich
verzichte, darauf einzugehen.
Beim Thema Geburtenrate haben wir die Pflicht, zu
schauen: Was hindert Menschen daran, einen Kinderwunsch, den sie als Paar haben, zu realisieren? Aber
auch da müssen wir bescheiden sein. Wir haben gute und
sinnvolle Maßnahmen eingeführt, etwa das Elterngeld.
Es hat nicht wesentlich zu einer Erhöhung der Geburtenrate geführt. Wir können ein wenig tun, aber wir können
leider nicht allzu viel tun. Ich finde es an dieser Stelle
wiederum beruhigend, dass die Frage, ob man sich für
oder gegen Kinder entscheidet, im Wesentlichen eine
persönliche und nicht in erster Linie eine finanzielle Entscheidung ist. Ich fände eine Gesellschaft problematisch,
in der dieses Thema nur auf eine rein finanzielle Frage
reduziert wird.
({0})
Ich will den letzten Faktor für einen demografischen
Wandel nennen: die Lebenserwartung. Ich hoffe, dass
wir an diesem Punkt gemeinsam etwas zur Verschärfung
des demografischen Wandels beitragen; denn ich möchte
eine Gesundheitspolitik - die betreiben wir -, die die Lebenserwartung erhöht.
Ist also der Staat als Akteur im Wesentlichen auf die
Anpassung an den demografischen Wandel reduziert?
Ich will dazu nur einige Stichworte nennen.
Ich glaube, dass wir in der Tat - das haben wir beim
Thema Pflege schon angesprochen - bei den sozialen Sicherungssystemen agieren müssen. Die Politik muss sich
insgesamt, und zwar unabhängig von Parteigrenzen, vorwerfen lassen, dass sie vor dem demografischen Wandel
im Hinblick auf die soziale Sicherung jahrzehntelang
fest die Augen verschlossen hat. Wir haben die Augen in
den letzten Jahren jedoch gemeinsam geöffnet und haben beispielsweise die Rente mit 67 als Ziel eingeführt.
Das ist wichtig, wenn wir nicht entweder Beiträge erhöhen oder Rentenzahlungen senken wollen. Ich halte
alle Vorschläge - egal von welcher Fraktion in diesem
Hause sie kommen -, die die Rente mit 67 infrage stellen, für ein echtes Sicherheitsrisiko im Hinblick auf die
langfristige Sicherung unserer Renten. Aus diesem
Grunde müssen wir den Weg weitergehen, die Konsequenzen aus dem demografischen Wandel zu ziehen.
Das Thema Pflegeversicherung und Demografierücklage habe ich bereits angesprochen.
Ein zweiter großer Bereich, wo wir tätig werden müssen - das wird sicher einer der Schwerpunkte in der Strategie werden -, ist die Bildung. In einer schrumpfenden
Gesellschaft können wir es uns immer weniger leisten,
dass Talente ungenutzt bleiben. Das heißt nicht, dass wir
für jeden die Habilitation anstreben sollten. Ich glaube
aber, dass wir viel stärker mit dem Pfund der dualen
Ausbildung in Deutschland, worum uns die halbe Welt
beneidet, wuchern können. Vor allem müssen wir das
Bildungsniveau und die Bildungschancen von Menschen
mit Migrationshintergrund verbessern.
Schließlich: Die Chance und die Notwendigkeit zum
Lernen hören nicht im Alter von 30 Jahren auf. Wir
brauchen eine kulturelle Entwicklung hin zum lebenslangen Lernen, die wir vonseiten des Staates auf verschiedenen Ebenen anstoßen können. Ich habe das Gefühl - wenn ich diesen Gedanken noch äußern darf -,
dass lebenslanges Lernen von vielen Menschen eher als
Bedrohung denn als Chance wahrgenommen wird. Wir
müssen dahin kommen, dass alle Generationen und alle
Altersgruppen wieder einen gewissen Wissensdurst, einen Lernhunger verspüren. Damit können wir einen wesentlichen Beitrag zur Anpassung an den demografischen Wandel leisten.
Ich könnte noch eine Reihe von weiteren Punkten
nennen, unter anderem konkrete Beispiele aus den neuen
Ländern zum Thema Infrastrukturentwicklung. In dieser
Beziehung können die alten Länder viel von den neuen
Ländern lernen. Wir brauchen hier keine Sorge zu haben.
Es gibt durchaus hochentwickelte und wohlhabende
Länder mit viel geringerer Bevölkerungsdichte, die das
sehr gut schaffen: Kanada ist ein Beispiel, des Weiteren
Finnland oder Länder in Osteuropa.
Es gibt also keinen Grund zur Sorge, aber Grund zum
Arbeiten. Wir müssen das Thema nicht nur über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg angehen, sondern es
auch über die Grenzen der staatlichen Ebenen hinaus anpacken. Bund, Länder und Kommunen müssen hier gemeinsam arbeiten. Die nationale Strategie ist der erste
Schritt. Wir werden weitere Schritte hoffentlich mit Ihnen gemeinsam gehen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Ulrike Gottschalck für die SPDFraktion.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Ein halbes Jahr haben wir auf die Antworten der
Bundesregierung gewartet. Wir wollten erfahren, welche
Handlungsperspektiven und welche nachhaltigen Antworten die Bundesregierung gibt.
Ich will Herrn Dr. Bergner, den ich jetzt nicht mehr
sehe, gerne zubilligen: Danke schön, es war eine ordentliche Fleißarbeit. Aber ansonsten muss ich sagen, dass
sich das Warten leider nicht gelohnt hat. Es gibt in dieser
Antwort viele warme Worte und heiße Luft, aber keine
Konzepte.
({0})
Insbesondere die Antworten der Bundesregierung zur
Rolle der Kommunen und Regionen grenzen schon fast
an Ignoranz. Allein optisch sieht man schon, dass die
Kommunen bei der Bundesregierung offensichtlich
keine prioritäre Rolle genießen; denn die Kommunen
sind der Regierung gerade einmal einige wenige Zeilen
wert. Schaut man sich dann diese wenigen Zeilen inhaltlich an, wird es erst richtig gruselig.
Meine sehr geehrten Herren auf der Regierungsbank
- ich sehe nur noch Herrn Ferlemann und Herrn Fuchtel -:
Haben Sie eigentlich realisiert, dass die demografische
Entwicklung insbesondere die Kommunen trifft, weil ihnen die Gesamtverantwortung für die Daseinsvorsorge
vor Ort obliegt? Haben Sie realisiert, dass die Kommunen für die Aufrechterhaltung einer reibungslos funktionierenden Infrastruktur und Mobilität zuständig sind und
dass der Druck auf die Kommunen im Hinblick auf die
Sicherstellung der Grundversorgung - Kindergärten, Gesundheitsversorgung, ÖPNV, Nahversorgung und vieles
mehr - immer stärker wird? Meine sehr geehrten Damen
und Herren, Herr Dr. Bergner - Sie sind jetzt wieder da -,
haben Sie realisiert, dass die Kommunen dafür die Unterstützung des Bundes brauchen? Wo sind Ihre Strategien und Konzepte?
In den wenigen Passagen, die Ihnen die Kommunen
wert sind, spielen Sie Schwarzer Peter, schieben die
Verantwortung den Ländern und Kommunen zu. Auf
Seite 33 führen Sie aus:
Die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft um
die Belange der benachteiligten Stadtteile kümmern
und die Städte und Gemeinden darin unterstützen
…
Und wie sieht die Realität aus? Die Mittel für die Städtebauförderung, insbesondere für das Programm „Soziale
Stadt“, wurden 2010 und 2011 drastisch gekürzt, 2012
auf niedrigem Niveau verstetigt.
Auf Seite 18 teilen Sie mit:
Das Wohnen im Alter ist und bleibt ein Schwerpunkt der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik.
Wenige Sätze weiter feiern Sie sich für das gute KfWProgramm „Altersgerecht Umbauen“. Richtig so; denn
es war wirklich ein gutes Programm. Nur wurde die Bereitstellung der Mittel im Haushalt leider nicht verlängert, das Programm ist ausgelaufen. Meine sehr geehrten
Damen und Herren, die Betonung liegt auf „war“: Es
war ein gutes Programm. Altersgerechtes Umbauen ist
einfach wichtig. Wie kurzsichtig ist es denn, das Programm auslaufen zu lassen?
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe hat im Auftrag
des Verkehrsministeriums den Bedarf an altersgerechten
Wohnungen errechnet. Danach müssen bis 2020 mindestens 2,5 Millionen Wohnungen barrierefrei bzw. barrierearm sein. Und was macht die Bundesregierung? Sie
lässt das Programm auslaufen.
Der Gipfel der Ignoranz, meine sehr geehrten Damen
und Herren, ist jedoch die Aussage der Bundesregierung,
dass die Kommunen durch „die Übernahme der kommunalen Ausgaben für die Grundsicherung … finanzielle
Spielräume“ erhalten, die sie „für die Gestaltung des demografischen Wandels nutzen können.“
({1})
Zudem würden „die Haushalte der Kommunen … durch
den demografischen Wandel weniger belastet“, es werde
„sogar Einsparpotenzial gesehen.“ Ich persönlich finde
das nicht nur frech, sondern auch realitätsfern. Die Kommunen haben angesichts der ständig zunehmenden
Pflichtaufgaben keinerlei Spielräume und stehen vor riesigen Herausforderungen: Außer dem demografischen
Wandel gibt es da die Umsetzung des Rechtsanspruchs
auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren sowie
die Kosten der Inklusion.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr
Dr. Bergner, dass Sie sich in der Antwort auf unsere
Frage nach der finanziellen Unterstützung der Kommunen ausgerechnet auf die kommunale Selbstverwaltung
berufen, ist schon perfide.
({2})
- Ich würde mir wünschen, dass Sie bei vielen anderen
Gesetzen, zum Beispiel beim Wachstumsbeschleunigungsgesetz, an die kommunale Selbstverwaltung gedacht hätten. Denn Sie schnüren den Menschen in den
Kommunen und den Kommunen selber, den Gemeinden
und Städten, die Luft ab.
({3})
Deswegen finde ich das perfide. - Sie von der Koalition
wollen offensichtlich eher Ihre Klientel hofieren und die
Kommunen belasten.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind
jetzt gespannt auf Ihre Demografiestrategie und hoffen,
dass wir darin bessere Antworten erhalten. Wir haben
auf jeden Fall kein großes Zutrauen und arbeiten deshalb
mit Hochdruck an handfesten Konzepten für ein gutes
Miteinander der Generationen. Vor allen Dingen wollen
wir nicht die Kommunen im Regen stehen lassen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von der Trauerstrophe hin zum Zukunftsthema.
Demografieentwicklung: Wie steht Deutschland in 30,
40 oder 50 Jahren da? Die demografische Entwicklung
geht alle an. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Es ist
nicht angemessen, das aktuelle Wahlprogramm mit dem
Demografieproblem zu untersetzen. Vielmehr muss man
auf die eigentlichen Herausforderungen eingehen.
Die demografische Entwicklung betrifft natürlich die
Kinder, die in die zukünftige Gesellschaft hineingeboren
werden, diejenigen, die im Arbeitsleben stehen, und die
ältere Generation, die viel mehr an die Zukunft denkt, als
wir Jüngeren manchmal glauben.
Viele haben nämlich durchaus auch Sorgen oder Probleme, wie es ihren Kindern eigentlich ergehen wird, ob
sie es besser haben werden als sie selbst oder - das ist
mittlerweile neu - ob es den Kindern mindestens genauso gut wie ihnen selbst gehen wird. Die demografische Entwicklung wirkt sich auf alle Bereiche aus. Die
Bevölkerung schrumpft. In 50 Jahren wird es - wenn
man es umrechnet - die Bevölkerung des Landes Nordrhein-Westfalen in Deutschland nicht mehr geben. Wenn
man so möchte, ist die gesamte nordrhein-westfälische
Bevölkerung abgewandert - wenn man den Zahlen
Glauben schenken mag.
Die Bevölkerung wird älter. 30 Prozent der Menschen
in der Gesellschaft sind im Rentenalter. Daraus folgt natürlich auch, dass die Erwerbstätigenzahlen zurückgehen. Das hat Auswirkungen auf die Produktivität und damit natürlich auch darauf, wer die Werte in dieser Gesellschaft schafft, die so dringend gebraucht werden.
Wenn das alles eintritt, wirkt es sich auf alle Lebensbereiche aus: auf Schule, Infrastruktur, Nachwuchs, Arbeit, Pflege, Rente. Jedes Ressort hier und jedes Ressort
in den Ländern ist betroffen. Ganz entscheidend ist: Der
demografische Wandel ist nicht nur in den Statistiken
oder in der Politik, sondern im konkreten Leben der
Menschen angekommen: Schulnetzplanungen, Arbeitnehmer, die immer älter werden und sich fragen, wo die
Azubis in dem Betrieb sind, oder auch Vereine oder
Kreisvorstände, in denen der Altersdurchschnitt deutlich
gestiegen ist und noch steigen wird. In der Politik ist dieses Thema leider - insbesondere bei den Vorgängerregierungen - weitgehend unterbelichtet geblieben. Die
SPD hat elf Jahre regiert. 2007 hat Tiefensee eine Studie
für viel Geld in Auftrag gegeben, veröffentlicht und
gleich wieder zurückgezogen. Die Projekte von
Tiefensee wurden als nutzlos eingestuft.
Schwarz-Gelb hat mit dieser Politik Schluss gemacht.
Im Koalitionsvertrag ist die Demografieproblematik als
Herausforderung deutlich benannt worden. Die erste Koalitionsklausur damals in Meseberg hat die Demografiestrategie in Auftrag gegeben. Das Haus - zunächst von
de Maizière, dann von Friedrich -, also das Innenministerium, hat hierzu sehr wichtige Daten gesammelt. An
der Stelle sagen wir: Das Innenministerium soll diese
Daten sehr gern sammeln. Wir als Liberale finden das
Datensammeln an der Stelle richtig.
({0})
Dieses Datensammeln - das will ich eindeutig sagen - ist
notwendig.
Wir haben dann, nachdem diese Demografiestrategie
in Auftrag gegeben worden ist, im letzten Jahr - am
3. Oktober - das Handlungskonzept veröffentlicht. Nicht
wir haben das gemacht, sondern die Bundeskanzlerin
mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten. Wir haben da
Patrick Kurth ({1})
den Aufbau Ost umgestellt und auch auf die Demografie
abgestellt. Wann hat es das je gegeben, dass die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten gemeinsam ein
Handlungskonzept herausgibt?
Das Verkehrsministerium hat sich um die ländlichen
Räume gekümmert, das Gesundheitsministerium um den
Landärztemangel, das Wirtschaftsministerium um die
Innovationen in kleinen Betrieben, die vor allen Dingen
in den Regionen angesiedelt sind. Im November 2011
kam dann der Demografiebericht, an dem alle Ministerien beteiligt waren. Auch das ist etwas ganz Neues und
Innovatives. Im Frühjahr 2012 wird dann die Demografiestrategie mit direkten, konkreten Forderungen kommen.
({2})
- Da gibt es Gelächter. Ihnen fiel es damals schwer, das
rote Entwicklungshilfeministerium und das rote Außenministerium zu gemeinsamem Handeln zu veranlassen.
Jetzt arbeitet die gesamte Bundesregierung zusammen
am Demografieproblem. Das muss man einmal hervorheben.
({3})
In der Demografiestrategie, die demnächst herauskommen wird, werden wir darüber reden, inwieweit wir
innovative Firmen unterstützen können, Konzentration
statt Rückbau schaffen.
Das will ich zum Abschluss sagen: Da stellen Sie insgesamt 63 Fragen, und in keiner einzigen Frage wird
konkret darauf eingegangen, wie wir Einwanderung
wirklich gestalten und sie nutzen können.
({4})
Zur auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, dazu, wo
deutsche Schulen im Ausland sind, zu deutschen Universitäten, wo wir Leute im Ausland nach Deutschland einladen, gibt es keine einzige Frage. Diese Bundesregierung hat als erste Bundesregierung eine Staatsministerin
im Auswärtigen Amt, die ausdrücklich nur für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zuständig ist. Außenminister Westerwelle hat die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik umgestellt. Das hat viel mehr mit Zukunft zu tun als Frage Nr. 20, die lautet:
Ist die Bundesregierung bereit, mit praktischem Anschauungsmaterial ({5})
für alten- und behindertengerechten Umbau oder
Neubau zu werben?
Diese Frage zu beantworten, ist schwer; aber diese Frage
zu stellen, ist noch viel schwerer.
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Michael Frieser für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Wir wollen die Heiterkeit nicht unterbinden, um Gottes willen.
({0})
Sehr verehrte Kollegen! Zunächst einmal möchte ich
dem Präsidium in Bezug auf die Gestaltung der Tagesordnung ein Kompliment machen; denn die vorhergehende Debatte zum Thema Hochqualifizierten-Richtlinie
hatte einen ähnlichen Kontext. Dadurch ergibt sich eine
Schwerpunktbildung am heutigen parlamentarischen
Nachmittag. Das schadet sicherlich nicht.
Zu Beginn will ich deutlich machen: Es handelt sich
nicht etwa um einen Gesetzentwurf, den wir heute diskutieren, es handelt sich auch nicht um einen Antrag, sondern es handelt sich um Antworten der Regierung auf
gestellte Fragen. Ich kann nur so viel sagen: Wenn Sie
die Antworten auf die gestellten Fragen nicht hören wollen, müssen Sie andere Fragen stellen. Das ist meine
erste Feststellung.
({1})
Meine zweite Feststellung. Ich habe manchmal den
Eindruck: Es ist so etwas wie ein Hase-und-Igel-Spiel.
Lassen Sie uns den ganzen Ablauf Revue passieren. Die
Bundesregierung arbeitet an einem Demografiebericht
({2})
- vielleicht warten Sie einmal das Ende des Satzes ab; es
kann vielleicht auch ein Lerninhalt folgen -, und zwei
Wochen vor der Veröffentlichung hieven Sie das Thema
auf die Tagesordnung, damit Sie sagen können: Ihr
müsst den Bericht vorlegen! Dabei weiß die ganze Welt,
dass der Bericht in zwei Wochen veröffentlicht wird. Sie
wissen, dass demnächst die Demografiestrategie veröffentlicht wird. Nun wollen Sie schnell noch über die Beantwortung der Großen Anfrage diskutieren - die übrigens schon länger vorliegt -, nur um sagen zu können:
Jetzt brauchen wir eine Strategie.
({3})
Das ist ein bisschen eine Haltet-den-Dieb-Manier.
Aber sei es drum. Egal wer in unserem Land als
Handlungsreisender zum Thema Demografie unterwegs
ist, eines ist klar: Es ist ein wichtiger Themenkomplex,
({4})
und ich glaube, wir müssen die Menschen tatsächlich
noch mehr dafür sensibilisieren. Es geht darum, dass alle
Bereiche ineinandergreifen müssen - das ist sicherlich
wahr -, aber wenn ich mir die Heterogenität des Fragenkomplexes der SPD anschaue, dann stelle ich fest, dass
das auch für Ihre Fraktion gilt. Für zukünftige Diskussionen wäre es durchaus hilfreich, den Themenkomplex
zu bündeln.
Ich bin dem Kollegen Kurth dankbar, dass er auf Folgendes hingewiesen hat. Mich hat bei Ihrer Großen Anfrage zum Beispiel gestört - ich habe es im Oktober
schon formuliert -, dass die Migrations- bzw. die Integrationspolitik bis auf die Wörter „Zuwanderung“ und
„Zuwanderungssaldo“ keine Rolle spielen. Nun kann
man sagen: Das ist inzidenter; darin ist bereits die volle
Zustimmung der SPD-Fraktion zur Integrations- und Migrationspolitik der Bundesregierung eingeschlossen.
Ich bin gerne geneigt, das tatsächlich so zu sehen,
halte aber den Komplex Migration und Integration für so
wichtig, dass ich mich noch einmal kurz damit befassen
möchte. Mit der Erkenntnis „weniger und älter“ können
wir die Zukunft beschreiben. Dadurch wissen wir, worauf wir uns konzentrieren müssen. Die Entwicklung in
den Großstädten zeigt einen anderen Weg. Dort ist klar,
dass es nicht um weniger geht; denn es ist eindeutig,
dass wir in den Metropolen und in den Großstädten
durchaus noch Wachstumspotenziale haben. Warum haben wir die? Weil sich Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt dort ansiedeln und so verstärkt ihren Beitrag leisten können.
Erst jüngst hat der Freistaat Bayern das Ergebnis einer in Auftrag gegebenen Sinus-Studie zum Thema Migration veröffentlicht. In diesem Bundesland Bayern,
aus dem ich zufälligerweise stamme, gibt es zum Beispiel Städte wie Schweinfurt, wo 53 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund haben. Das zeigt uns,
dass das Thema auch im Zusammenhang mit der Frage
des demografischen Wandels von immer größerer Bedeutung sein wird. Daher gilt es, die Menschen mit einer
gewissen Sensibilität auf diese Entwicklung vorzubereiten. Aber wir dürfen nicht glauben - ich bin dem Kollegen Krings dankbar, dass er darauf hingewiesen hat -,
dass wir das alleine durch Zuwanderung werden lösen
können; manchmal hat das den Anschein. Es braucht ein
modernes, zeitgemäßes und steuerndes Zuwanderungsrecht. Aber klar ist, dass wir die Probleme damit allein
nicht lösen können. Wir müssten theoretisch einen Zuwanderungssaldo von gigantischen Ausmaßen haben,
um alles im Lot zu halten. Da befinden wir uns tatsächlich am Rand unserer Belastbarkeit.
Worum geht es also? Es geht um das Heben der
Potenziale, die es in unserem Land gibt. Es geht darum,
dass das, was bereits in unserem Land an Potenzial vorhanden ist, einen optimalen Beitrag leisten kann. Diese
Dinge sind zum größten Teil auch schon angesprochen
worden. Es geht letztendlich um die Menschen, die draußen sind. Ich habe manchmal den Eindruck, manche
denken, vor unseren Türen stünden Schlangen von hochqualifizierten Arbeitnehmern. Aber dem ist nicht mehr
so. Aufgrund der Sprache haben wir ohnehin einen wirtschaftlichen Standortnachteil; denn mittlerweile ist die
angelsächsische Sprache international der Normalfall.
Letztendlich müssen wir sagen: Wer nach Deutschland
kommen möchte, ist herzlich willkommen, wenn er
hochqualifiziert ist. Aber es muss klar sein, dass wir uns
wirklich auf die Qualifikation stützen können.
Worum geht es? Die Aufgabe, die sich für uns aus
dem demografischen Wandel ergibt, ist, unsere Systeme
zu stabilisieren. Es geht darum, dass wir Menschen in
unserem Land haben, die einen Beitrag leisten können,
und zwar sowohl einen persönlichen Beitrag zur Gesellschaft als auch einen stabilisierenden finanziellen Beitrag, dass sie also Steuern und Beiträge zu den Sozialversicherungen zahlen. Deshalb kann eine unkontrollierte Zuwanderung in Sozialsysteme sicherlich nicht die
Zukunft sein.
Letztendlich muss es uns um Teilhabe und Teilnahme
an dieser Gesellschaft gehen. Ich glaube, dass es darum
geht, den Menschen Folgendes deutlich zu machen: Es
geht um die Qualifizierten, die sich schon im Land befinden. Das heißt: Wer da ist, soll - Stichwort „Anerkennungsgesetz“ - optimal vorbereitet werden. Dazu lädt
man ein. Lassen wir bitte jenen marktschreierischen Parlamentarismus und jene Parteiendiskussion heraus. Dieses Thema wird uns in der Tat noch sehr lange beschäftigen.
Als nächsten Akt freue ich mich sehr auf die Strategie
der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({5})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir reden über die Große Anfrage der
SPD-Fraktion zum demografischen Wandel in Deutschland. Nach Lektüre der 63 Fragen und 63 Antworten
kann man eines festhalten: Es wurde viel von dem beschrieben, was bisher getan wurde, auch von den vorangegangenen Regierungen. Es ist aber nicht einmal ein
Spurenelement von Perspektive und Strategie in dieser
Antwort zu finden.
({0})
Um auch dem Publikum die Komplexität dieser Antworten zu verdeutlichen und um zu zeigen, welch schöne
Worte gefunden wurden, denen aber leider keine Taten
folgen, will ich etwas vorlesen. Das steht auf Seite 10 unter der Frage „Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der sinkenden Zahl von Menschen im Erwerbsalter bis 2030 und bis 2050/60?“ Ich
zitiere:
Die mit der künftig regional unterschiedlich sinkenden Zahl von Menschen im Erwerbsalter verbundenen Herausforderungen für die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere die Sicherung der Fachkräftebasis und eines hohen Produktivitätswachstums, erfordern es, diesen Prozess zu gestalten.
({1})
Wer diesen Satz auf Anhieb versteht, der weiß, warum wir schnell über diese Antwort diskutieren müssen.
Alle Sätze sind von dieser Qualität. Ich bin der festen
Überzeugung: Wer Sätze wählt, die man nicht auf Anhieb versteht, der will etwas verschleiern.
({2})
Genau das ist bei der Antwort auf unsere Große Anfrage
der Fall.
Wir werden im Jahr 2020 und erst recht im Jahr 2050
- das ist jetzt schon mehrfach erwähnt worden - einen
Fachkräftebedarf in Deutschland haben; das ist klar.
Nach Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden wir bis 2025 aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland 6,5 Millionen Erwerbsfähige verlieren. Bis 2025 sind entsprechend der gleichen
Studie - je nachdem, welche Maßnahmen erfolgen 1,85 Millionen, maximal 5,2 Millionen mobilisierbar.
Das heißt, wir werden durch Mobilisierung des inländischen Potenzials nicht genug Erwerbspersonen bekommen.
Weil ich so viele junge Leute auf der Tribüne sehe,
will ich sagen, was zur Mobilisierung des inländischen
Potenzials gehört: dass alle Jugendlichen gut ausgebildet
werden können.
({3})
Dazu gehört, dass alle Frauen - meistens sind es ja
Frauen, die Teilzeit arbeiten oder Minijobs haben - Vollzeit erwerbstätig sein können. Dazu gehört, dass auch
Menschen mit Migrationshintergrund, die heute am
stärksten unter der Spaltung am Arbeitsmarkt leiden,
ihre Chance und ihr Recht auf gute Arbeit bekommen.
Und dazu gehört, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mit 55 aus dem Arbeitsmarkt ausgesteuert werden, sondern mit 55, sogar mit 60 noch einmal neu anfangen können.
({4})
Allein in Baden-Württemberg fehlen bis 2020
250 000 Arbeitskräfte. Da stellt sich die Frage: Wie können wir für ein Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräften sorgen, das wir brauchen, um wirtschaftlich stark zu
sein? Dazu schreibt die Regierung wirklich viel, sowohl
zur Situation als auch zur Analyse. Aber es fehlt der
Hauch einer Antwort auf die Frage: Wie gehen wir damit
in den kommenden Jahren um? Es ist wichtig, dass diesen schönen warmen Worten Taten folgen. Die sind aber
nicht ersichtlich.
Wenn ich durch das Brennglas schaue, stelle ich fest:
Wir haben im Haushalt der Arbeitsministerin im Bildungsbereich Kürzungen von 26,5 Milliarden Euro.
Diese Mittel können nicht mehr verwendet werden, um
lebenslanges und lebensbegleitendes Lernen zu organisieren. Für Jugendliche, die ein bisschen schwächer sind,
gibt es das Programm „Jugend stärken“, das es ihnen ermöglicht, im Anschluss an die Schule einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder die Ausbildungsreife zu
erwerben. Die Mittel dafür haben Sie um 28 Prozent gekürzt. Das heißt, Sie nehmen Perspektiven. Wenn ich mir
die Berufseinstiegsbegleitung ansehe, dann stelle ich
fest, dass Sie für 1 000 Schulen in Deutschland die Situation verschlechtert haben; denn diese müssen jetzt
50 Prozent kofinanzieren. Da fehlt mir die Perspektive
nach vorne. Da fehlt mir die Strategie für lebenslanges
Lernen.
({5})
Da fehlt mir die Strategie für die Gestaltung des demografischen Wandels.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Deshalb diskutieren wir heute diese Große Anfrage
der SPD-Fraktion mit so viel Leidenschaft. Das gilt
zumindest für die Rednerinnen und Redner meiner
Fraktion. Auf der Seite der Regierungskoalition und insbesondere beim Staatssekretär ist diese Leidenschaft jedoch etwas geringer. Ich glaube, wir brauchen Leidenschaft in der Debatte. Wir müssen den demografischen
Wandel gestalten; denn wir müssen den Menschen Perspektiven eröffnen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU und zur Änderung des Börsengesetzes
- Drucksache 17/8684 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu gibt
es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Peter
Aumer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wachstum und
Beschäftigung sind ein großes Ziel der christlich-liberalen Koalition. Dieses Ziel zu erreichen, ist uns trotz der
großen Krisen in Europa durch harte und zuverlässige
Arbeit für die Bürger und Bürgerinnen unseres Landes
und für Europa gelungen.
Die Strategie für Wachstum und Beschäftigung der
Europäischen Union ist Anlass unserer heutigen Debatte. Mit dieser Strategie setzt sich die Europäische
Kommission mit dem Thema der besseren Rechtsetzung
und vor allem dem Bürokratieabbau auseinander. Der
Europäische Rat hat sich im März 2007 darauf geeinigt,
bis zum Jahr 2012 25 Prozent der Verwaltungslasten in
den Mitgliedsländern der Europäischen Union zu senken
und damit die Wettbewerbsfähigkeit in der EU zu
stärken.
Die von der EU-Kommission eingesetzte hochrangige
Gruppe unabhängiger Interessenträger im Bereich Verwaltungslasten hat bis heute Maßnahmen vorgeschlagen,
die von der Kommission umgesetzt worden sind und ein
Bürokratieabbaupotenzial von 22 Prozent in sich bergen.
Der Vorsitzende dieser Gruppe, der ehemalige bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber, leistet hier
hervorragende Arbeit
({0})
und hat dabei das Ziel „mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa“ im Auge. Durch seine Arbeit trägt er
wesentlich zu einer effektiveren und effizienteren Europäischen Union bei und gestaltet damit eine nachhaltige
Zukunft Europas.
Die Kommission hat die Prospektrichtlinie, über deren Umsetzung wir heute reden, als „für Unternehmen
mit übermäßigem Aufwand verbunden“ eingestuft. Deswegen und auch, weil die Evaluierungsvereinbarung in
der Richtlinie selber niedergelegt war, musste sie überarbeitet werden. Die Richtlinie zur Änderung der Prospektrichtlinie vom 24. November 2010, über die wir
heute sprechen, setzen wir in dem Gesetzentwurf um,
der heute eingebracht wird.
Im Wesentlichen werden mit diesem Gesetzentwurf
zwei grundlegende Punkte verbessert:
Erstens sollen die Verwaltungslasten für Emittenten
und Finanzintermediäre gesenkt und damit Bürokratie
abgebaut werden. So kommt es beispielsweise durch die
Richtlinie zu einer rechtlichen Gleichstellung und zu einer Anpassung der Definitionen der Begriffe „qualifizierter Anleger“ in der Prospektrichtlinie und „professioneller Kunde“ in der MiFID. Mit den neuen Vorschriften
machen wir Wertpapieremissionen effizienter, da die
Vorschriften verständlicher sind und mehr rechtliche
Klarheit besitzen. Der Gesetzentwurf birgt insgesamt
eine erhebliche Vereinfachung in sich. Laut Schätzungen
der Kommission können jährlich bis zu 302 Millionen
Euro an Verwaltungs- und Bürokratiekosten in der EU
eingespart werden.
Zweitens soll durch das Gesetz mehr Klarheit geschaffen und die Effizienz bestimmter Regelungen verbessert werden. Vor allem der Anlegerschutz ist ein
wichtiges Anliegen dieser Richtlinie bzw. des Gesetzentwurfs, den wir heute einbringen.
Trotz der positiven Auswirkungen auf die Qualität
und Angemessenheit der Informationen für Anleger
durch die Prospektrichtlinie hat die Finanz- und Wirtschaftskrise bei vielen Anlegern aufgrund nicht angemessener Informationen zu finanziellen Verlusten geführt. Durch die Richtlinie sollen die Informationen für
die Anlegerinnen und Anleger und der Schutz ihres Vermögens verbessert werden. Die Umsetzung der Richtlinie stellt einen wesentlichen Teil des Gesetzentwurfs
dar; wir tragen dem Anlegerschutz dadurch verstärkt
Rechnung.
Außerdem ist in diesem Gesetzentwurf vorgesehen,
das Börsengesetz zu ändern. Die Förderkredite der Fördereinrichtungen des Bundes und der Länder sowie der
Europäischen Investitionsbank werden vollständig von
der Bemessungsgrundlage für die Bankenangabe ausgenommen. Gemeinsam mit den Bundesländern wurde
hier eine gute Lösung gefunden, um dem wirtschaftspolitischen Zweck der Förderkreditgeschäfte, zum Beispiel Innovationsförderung oder Gründungsförderung,
gerecht zu werden. Durch diese Entscheidung kann das
Hausbankprinzip, eine Säule unseres dreigliedrigen
Bankensystems, beibehalten werden.
Der Gesetzentwurf, den wir einbringen, ist der Zustimmung wert. Durch ihn werden drei wesentliche
Beiträge geleistet: zum Bürokratieabbau, zum Anlegerschutz und zur Sicherstellung der Förderkreditgeschäfte
des Bundes, der Länder und der Europäischen Investitionsbank. Ich denke, dass man diesem Gesetzentwurf
zustimmen kann;
({1})
denn er führt zu mehr Finanzstabilität in Europa, indem
wir dem Anlegerschutz Rechnung tragen und das Förderkreditgeschäft untermauern. Deswegen bitte ich Sie
um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Anfang Januar dieses Jahres haben wir als SPDFraktion einen Antrag zur Honorarberatung im Plenum
des Deutschen Bundestages eingebracht. Wir wollten
und wollen damit erreichen, dass der Vertrieb von Wertpapieren und Geldanlagen auf eine neue Grundlage gestellt wird, um den Verbraucherschutz zu stärken und die
Transparenz zu erhöhen. Die Koalition hatte sich in der
Debatte verhalten gezeigt. Jetzt aber müssen Sie reagieDr. Carsten Sieling
ren - mein Vorredner hat es gesagt -, weil Ihnen die EUKommission mit ihrem Vorschlag zur europäischen Prospektrichtlinie Dampf macht. Das ist auch notwendig.
({0})
Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie in Deutschland steht der Anlegerschutz wieder einmal auf der Tagesordnung. Das ist
auch notwendig, weil in der Vergangenheit zu wenig getan worden ist und es zu wenige Fortschritte gegeben
hat. Jetzt kommt es zu Verbesserungen, insbesondere
dahin gehend, dass es nicht nur um die Qualität der
Produkte, sondern insbesondere um die Aufklärung der
Anlegerinnen und Anleger geht. Dabei ist Information
ein zentraler Punkt. Hierum geht es bei den Verkaufsprospekten, die Inhalt dieses Umsetzungsgesetzes sind.
Dazu kam es auf Druck der Europäischen Union.
Ich muss an dieser Stelle deutlich sagen, dass in den
Anlegerschutzregelungen, die die schwarz-gelbe Koalition getroffen hat, Prospekte vorgesehen sind, die teilweise Hunderte von Seiten umfassen. Seien wir doch
einmal ganz ehrlich: Welcher Anleger liest denn diese
Konvolute,
({1})
erst recht angesichts der Tatsache, dass sie mit Fachbegriffen gespickt sind? Es ist notwendig, die Prospekte
transparenter zu gestalten und sie verständlicher zu
formulieren. Schließlich geht es dabei um teilweise
komplizierte Angelegenheiten und komplizierte Produkte. Die Gratwanderung zwischen größtmöglicher
Transparenz und notwendigem Inhalt ist durchaus
schwierig.
Die EU-Kommission überprüft und evaluiert die Prospektrichtlinie regelmäßig. Ich finde das gut. Diesem
Beispiel müssen wir folgen. Ich habe die bisherige Situation immer bedauert, und die SPD hat ihre Auffassung
zu diesem Thema mehrfach deutlich gemacht. Als Sie
Ihre Anlegerschutzgesetze eingebracht haben, haben wir
gesagt: Wir brauchen eine verpflichtende regelmäßige
Evaluierung, auch eine Evaluierung der gesetzlichen
Regelungen in Deutschland, und zwar durch externe
Experten.
({2})
- Das ist nicht in hinreichendem Maße drin. Wir haben
dazu weitergehende Vorschläge gemacht.
({3})
Ich hoffe, dass die Evaluierung und die Überprüfung
durch dieses Gesetz deutlich verbessert werden.
({4})
Im vorliegenden Gesetzentwurf setzen Sie im Bereich
des Prospektrechts an. Ich will zwei wesentliche Punkte
nennen, an denen aus unserer Sicht Entwicklungen angeschoben worden sind und mit denen wir uns in den weiteren Beratungen - wir führen heute ja die erste Lesung
durch - werden befassen müssen. Der erste Aspekt betrifft die Prospektzusammenfassungen, in denen zukünftig Schlüsselinformationen enthalten sein müssen und
eine stärkere Konzentration auf das Wesentliche erfolgen muss. Der zweite Punkt betrifft die Gültigkeit von
Prospekten. Es ist richtig, dass Prospekte weiterhin
zwölf Monate gültig sein sollen, allerdings nicht mehr ab
dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, sondern erst ab
ihrer Billigung durch die Aufsicht. Dieses Mehr an
Kontrolle und Überprüfung ist wichtig. Auch die Veränderung der Frist geht in die richtige Richtung.
({5})
Es werden weitere Themen angegangen. Ich will auf
die Erhöhung der Bußgelder bei öffentlichen Angeboten
ohne Prospekt hinweisen. Bisher betragen diese Bußgelder 50 000 Euro. Nach den vorliegenden Vorschlägen
sollen sie auf 500 000 Euro erhöht werden. Das ist eine
drastische Erhöhung. Sie geht aber in die richtige Richtung, auch in dieser Größenordnung.
Etwas skeptisch bin ich, was die Schwellenwerte betrifft. Diese sollen erhöht werden. Wir müssen aufpassen, dass es hier nicht zu Deregulierungen - mein Vorredner hat sie als Entbürokratisierung bezeichnet zugunsten der Wirtschaft und zulasten der Anleger
kommt. Hier werden wir Sozialdemokraten sehr sensibel
sein und sehr genau hinsehen, meine Damen und Herren.
({6})
In den Diskussionen über den Anlegerschutz gibt es
weitere wichtige Baustellen. Diese sind zu thematisieren, da manche Bereiche nach wie vor unzureichend geregelt sind. Ich will nur die Produktinformationsblätter
ansprechen. Ich stelle fest - auch vor dem Hintergrund
dessen, was die BaFin dazu an verschiedenen Stellen
deutlich gemacht hat -: Sie sind nicht hinreichend standardisiert. Sie müssen einheitlicher werden. Vor allem
müssen sie übersichtlicher werden, um wirklich Schutz
und Hilfe bieten zu können.
Angesprochen worden ist ein weiteres Thema, welches allerdings nichts mit dieser EU-Richtlinie zu tun hat
und in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der
Änderung des Börsengesetzes steht: die Bankenabgabe.
Dieses Thema nimmt die Koalition im Gesetzentwurf
auf, packt es quasi mit in den Omnibus und sorgt so für
eine Änderung des vor geraumer Zeit beschlossenen Restrukturierungsfondsgesetzes.
Man muss an dieser Stelle einmal festhalten, dass die
von Ihnen beschlossene Bankenabgabe eine viel zu geringe Wirkung hat. Die Kanzlerin hat uns hier im Hause
versprochen, dass durch die Bankenabgabe bei zukünftigen Krisen nicht die Steuerzahler, sondern die Verursacher der Krisen herangezogen werden.
({7})
Das ist mit dieser Bankenabgabe nicht gegeben. Das
wissen Sie auch; denn schon das angesetzte Zielvolumen
von 1,2 Milliarden Euro ist lächerlich. Ich darf einmal
auf die Wirklichkeit zu sprechen kommen: Nur 600 Millionen Euro, also gerade einmal die Hälfte des ursprünglich anvisierten Aufkommens, werden durch die Abgabe
erreicht. Das, was Sie als schwarz-gelbe Koalition der
deutschen Öffentlichkeit gegenüber prognostiziert und
im Gesetzbuch verankert haben, ist nicht hinreichend; es
wird gerade einmal die Hälfte erreicht.
({8})
Sie wissen auch, dass gerade die Großen der Branche
verschont werden. Ich darf zwei Zahlen nennen: Die
Deutsche Bank hat im letzten Jahr einen Gewinn von
4,3 Milliarden Euro gemacht.
({9})
Die Bankenabgabe beträgt 124 Millionen Euro. Das sind
gerade einmal 3 Prozent dieses gewaltigen Gewinns.
Das ist zu wenig für ein solch systemrelevantes und bedeutendes Unternehmen. Hier hätte man mehr machen
müssen.
({10})
Allerdings ist es hochinteressant, dass Sie eine wichtige Korrektur vornehmen, und zwar im Bereich der Institute für wirtschaftliche Entwicklung. Endlich folgen
Sie dem, was wir als Sozialdemokraten schon in diese
Debatte eingebracht haben und was auch die Länder
über den Bundesrat gefordert haben.
({11})
Dort ist nämlich gefordert worden, die Förderbanken
von der Bankenabgabe auszunehmen. So weit gehen Sie
nicht; aber Sie nehmen die Förderkredite aus der Berechnung für die Bankenabgabe heraus. Das ist zwar nur ein
kleiner Schritt, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
({12})
Das hätten Sie aber schon lange haben können. Damals
haben Sie gezögert und gezaudert und nicht beachtet,
dass die Förderbanken in den Ländern, im Bund und
auch in Europa davon ausgenommen werden müssen,
weil sie strukturpolitisch eine wichtige Funktion haben.
({13})
Ich darf zusammenfassen: Sie machen mit diesem
Gesetzentwurf eine Reihe von Vorschlägen und korrigieren - teils auf Druck der Europäischen Kommission,
teils offensichtlich aus verspäteter Einsicht - einen Teil
Ihrer eigenen Gesetze.
({14})
- Das scheint bei der Bankenabgabe ja so zu sein. - Ich
sage Ihnen aber: Sie ziehen den Finanzsektor nach wie
vor nicht wirksam und nachhaltig zur Bewältigung der
Krisenlasten heran.
({15})
Man kann nur sagen: CDU/CSU und FDP halten an
ihrer Politik fest, mit der die wirklichen Verursacher verschont werden, die hier zugunsten der Steuerzahler in
die Verantwortung genommen werden müssen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Björn Sänger für FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist gut. Die
vorliegende Richtlinie kann man allerdings als gut bezeichnen; denn sie ist in der Tat ein wichtiger und wertvoller Beitrag zum Bürokratieabbau.
Es werden zwei ganz wesentliche Ziele erreicht: Zum
einen gibt es Vereinfachungen für die Emittenten von
Wertpapieren, zum anderen wird der Anlegerschutz verbessert. Es ist im Übrigen gut und richtig, dass das europaweit geschieht und dass man sich, wenn man weiß,
dass bestimmte Dinge in Brüssel in der Pipeline sind,
nicht durch nationales Vorauspreschen in der Diskussion
isoliert.
Mit den Regelungen haben wir für den deutschen
Mittelstand Positives zu vermelden. Der deutsche Mittelstand beschafft sich sein Kapital ja noch sehr oft in
Form von Krediten. Wenn man sich überlegt, welche
Entwicklungen es im Bereich der Finanzmarktregulierung gibt, dann kann man davon ausgehen, dass sich die
Kosten der Kreditfinanzierung nach oben entwickeln
werden. So gesehen ist es außerordentlich günstig, dass
kleineren und mittleren Unternehmen durch die Ausnahmetatbestände, die durch die Anpassung der Schwellenwerte geschaffen werden, ein direkter Zugang zum Kapitalmarkt ermöglicht wird. Es gibt einige Börsenplätze,
die damit schon gute Erfahrungen machen und die im
Übrigen auch sehr auf die Qualität der Anleihen achten.
Insofern findet auch dort ein gewisser Anlegerschutz
statt. Das ist eine weitere gute Maßnahme, um kleineren
und mittleren Unternehmen direkten Zugang zum Kapitalmarkt zu ermöglichen.
Es gibt des Weiteren Verbesserungen bei den Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen. Das ist ebenfalls ein
wichtiger Punkt auch für die kleinen und mittleren Unternehmen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am
Unternehmenserfolg und damit auch ein Stück weit an
der Verantwortung für das Unternehmen zu beteiligen
und sie zu motivieren. Hierzu sind in der Richtlinie sehr
wichtige und segensreiche Änderungen enthalten.
Ein zweites großes Ziel ist der Anlegerschutz. Auch
hierzu sind wichtige Neuerungen eingeführt worden.
Wenn beispielsweise ein bestimmter Nachtrag in den
Prospekt aufgenommen wird, der sich auf einen Sachverhalt vor der Zeichnung des entsprechenden Wertpapiers durch einen Anleger bezieht, dann kann der Anleger seine Zeichnung entsprechend widerrufen, weil sich
quasi die Geschäftsgrundlage geändert hat. Das ist neu.
Auch das ist wichtig.
Als wichtigster Punkt erscheint mir, dass die Schlüsselinformationen und insbesondere die haftenden Personen in die Zusammenfassung der Prospekte aufgenommen werden. Das ist meines Erachtens eine Anpassung
an die Lebenswirklichkeit. Der Kollege Sieling hat zu
Recht darauf hingewiesen: Man bekommt Hunderte von
Seiten an Papier. Wer liest das letzten Endes? - Das kann
man sich übrigens bei allem fragen, was wir in Bezug
auf Anleger- und Verbraucherschutz machen.
({0})
Das endet in einem Wust von Papier. Wenn man mit den
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den Banken
spricht, dann besagt die Lebenswirklichkeit: Der Anleger heftet das ab. Die Bank hat ihre Schuldigkeit getan
und ist damit aus der Haftung heraus. Deswegen ist es
umso wichtiger, dass die Informationen in der Zusammenfassung herausgestellt werden. Der Anleger weiß
dann gleich, was für ihn wichtig ist. Er weiß auch, mit
welchen Haftungsbeschränkungen er zu rechnen hat und
wer am Ende des Tages für das haftet, was im Prospekt
aufgeführt ist. Ich halte das für einen sehr wichtigen Teil.
Der zweite Teil des Gesetzentwurfs beschäftigt sich
mit der Bankenabgabe. Die Förderkredite werden bei der
Berechnung ausgenommen. Das kann man machen; man
muss es nicht unbedingt machen.
({1})
- Das hätte man in der Tat schon lange machen können;
({2})
dann hätte man aber möglicherweise die Bankenabgabe
anders strukturieren müssen. Denn faktisch bedeutet das
eine weitere Förderung der beiden Säulen am Kapitalmarkt, der Volksbanken und Sparkassen.
Letztens fand das Fachgespräch zu Basel III statt.
Frau Professor Buch, Mitglied des Sachverständigenrates, der sogenannten Wirtschaftsweisen, sagte in diesem
Zusammenhang, dass sich ein systemisches Risiko in
diesen beiden Säulen nicht ausschließen lässt. Diese beiden Säulen tragen nunmehr nahezu keine Last mehr an
der Bankenabgabe, würden aber logischerweise im Falle
des Falles von ihr profitieren. Angesichts der Landesbankenproblematik ist das möglicherweise gar nicht so
abwegig.
Verantwortung dafür trägt - das hat der Kollege
Sieling zu Recht gesagt - der Bundesrat. Man muss den
entsprechenden Verbänden zu ihrer Lobbyarbeit gratulieren. Das erinnert mich ein bisschen an Probleme, die
möglicherweise in der Kindererziehung auftreten. Es
gibt Elternteile - ich formuliere das geschlechtsneutral -,
die möglicherweise etwas näher am Kind sind.
({3})
Andere Elternteile sind beispielsweise beruflich bedingt
nicht ganz so nah am Kind. Wenn das Kind eine Süßigkeit haben möchte, und der Elternteil, der näher am Kind
ist, sagt: „Nein, du hast heute schon genug Süßigkeiten
gehabt“, dann fragt das Kind den Elternteil, der nicht
ganz so nah am Kind ist, und schon bekommt es die Süßigkeit.
Unter dem Strich gibt es in diesem Gesetzentwurf
Licht und Schatten. Er ist gleichwohl zustimmungsfähig.
({4})
Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Mit diesem Gesetzentwurf soll der,
wie es heißt, „bürokratische Aufwand für Emittenten
und Finanzintermediäre verringert werden“. Daneben
sollen „Klarheit und Effizienz bestimmter Regelungen
erhöht“ werden. Der Anlegerschutz taucht wieder einmal nur an letzter Stelle auf. Ich wünsche mir eine andere Prioritätensetzung. Der Anlegerschutz muss ganz
klar vor Bürokratieabbau kommen und darf nicht dem
Kostenargument geopfert werden.
({0})
Es ist gleichfalls aberwitzig, dass in Zeiten der Finanzkrise Kapazitäten in Brüssel und Berlin eingesetzt
werden, um Wertpapierunternehmen die Arbeit zu erleichtern. Wenn überhaupt, dann wäre es ratsam, die bestehenden Richtlinien gründlich auf Mängel hinsichtlich
des Verbraucherschutzes, der Transparenz und Informations- und Beratungsdefiziten zu durchforsten.
Insgesamt gibt es durchaus einige sinnvolle Regelungen in dem Gesetzentwurf. Zum Beispiel ist die Aufnahme der Schlüsselinformationen in die Prospektzusammenfassung richtig. Auch wird eine unmittelbare
Aktualisierung des Registrierungsformulars durch Nachtrag erleichtert. Außerdem begrüßen wir, dass nach diesem Gesetzentwurf grundsätzlich auch Anleger im Börsenrat vertreten sein müssen.
Jedoch sehe ich auch einiges kritisch. In den Schlüsselinformationen sollen die Kosten geschätzt werden,
die dem Anleger vom Emittenten in Rechnung gestellt
werden. Das ist zu unpräzise und lässt einen zu großen
verbraucherfeindlichen Spielraum.
Es gilt gleichfalls zu prüfen, ob mit der Vereinheitlichung der Definition des „qualifizierten Anlegers“ und
des „professionellen Kunden“ nicht doch eine weniger
strenge Auslegung im Sinne des Verbraucherschutzes
etabliert wird. Schließlich besteht durchaus ein Unterschied darin, ob jemand professionell oder nur qualifiziert und ob jemand Kunde oder gleich Anleger ist.
Ferner stoßen mir die erweiterten Ausnahmen von der
Prospektpflicht bei Belegschaftsaktienprogrammen übel
auf. Sie unterstellen damit indirekt, dass eine Prospektpflicht keinen zusätzlichen Anlegerschutz gewährleistet. Niemand kann aber davon ausgehen, dass Belegschaftsmitglieder per se besser informiert sind als
außenstehende Anleger. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen ausnahmslos geschützt werden.
({1})
So ganz nebenbei wird mit diesem Gesetzentwurf
auch das Restrukturierungsfondsgesetz, also die Bankenabgabe, geändert. Es wird bei ihrer Bemessungsgrundlage ein zusätzlicher Abzugsposten für Verbindlichkeiten eingeführt. Das mag für sich betrachtet
sinnvoll sein. Das von den Banken zu zahlende Geld
fließt aber nach wie vor nicht in den Bundeshaushalt, obwohl die Banken mit Steuergeldern gerettet wurden.
Auch ist die Abgabenhöhe der einzelnen Banken lächerlich niedrig; das wurde schon angesprochen. Selbst
wenn der Fonds seine Zielgröße erreicht, wäre die angesammelte Summe viel zu gering, um eine systemrelevante Bank aufzufangen.
Ich komme zum Schluss.
({2})
Wirksamer Verbraucherschutz darf sich nicht auf Prospekte und Infoblätter beschränken, und Verbraucherschutz kommt vor Emittentenschutz. Wir fordern daher
unter anderem eine eigenständige staatliche Verbraucherschutzbehörde, die Einführung eines Finanz-TÜV
sowie die Stärkung der Verbraucherzentralen als Finanzmarktwächter.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will aus der Vielzahl der Aspekte, die in diesem Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie und zur
Änderung des Börsengesetzes enthalten sind, drei herausgreifen, die für unsere Fraktion in der Beratung
wichtig sind.
Der erste Aspekt betrifft die Frage, welche Informationen der Kunde eigentlich bekommt. Informationsunterlagen für Finanzprodukte haben nur dann einen
Sinn, wenn sie kundengerecht ausgestaltet sind, wenn
also Anlegerinnen und Anleger auf den ersten Blick erfassen können, ob eine Kapitalanlage den persönlichen
Anlagezielen entspricht oder nicht. Da die Verkaufsprospekte oft mehrere Hundert Seiten umfassen, ist es gut,
dass es jetzt eine Zusammenfassung in einem einheitlichen, standardisierten Format geben soll, die kürzer ist
und Schlüsselinformationen enthalten soll.
Das Problem ist allerdings, dass wir jetzt in den unterschiedlichen Produktbereichen sehr unterschiedliche Informationsvorgaben haben und daraus eine neue Unübersichtlichkeit entsteht. So haben wir etwa im
Fondsbereich die wesentliche Anlegerinformation, also
das sogenannte Key Investor Information Document, im
Wertpapierbereich wird nun die neue Prospektzusammenfassung samt Schlüsselinformation kommen, im
Versicherungsbereich haben wir das Produktinformationsblatt bei Versicherungsverträgen und die Informationspflicht der Vermittler über ihren Status, und seit
dem 1. Juli 2011 müssen Wertpapierdienstleistungsunternehmen Kundinnen und Kunden bei der Anlageberatung ein Produktinformationsblatt zu den Finanzinstrumenten zur Verfügung stellen, die Gegenstand einer
Kaufempfehlung sind. Im Bereich der geschlossenen
Fonds und anderer Vermögensanlagen wurde kürzlich
das Vermögensanlageninformationsblatt eingeführt.
Genau diese Vielfalt ist unübersichtlich; denn die einzelnen Informationsblätter unterscheiden sich hinsichtlich Transparenz, Umfang und Reihenfolge der
Pflichtangaben. Das ist nicht nur unbefriedigend, das ist
auch vermeidbar, natürlich nicht in Bezug auf die Sachen, die abschließend in Brüssel geregelt sind, aber in
Bezug auf die Sachen, bei denen wir nationale Handlungsspielräume haben. Ich muss sagen: Es ist schon ein
Problem, dass hier keine Anstrengungen unternommen
werden, vorvertragliche Informationsgrundlagen so zu
gestalten, dass sie optischen und inhaltlichen Standards
folgen.
Ich frage mich, warum die Bundesregierung weder
bei der Umsetzung des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes noch bei den Beratungen zum
Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittlerund Vermögensanlagenrechts unserem Vorschlag gefolgt
ist, die wesentlichen Vorgaben für ein jederzeit zugängliches Kurzinformationsblatt hinsichtlich Inhalt und
Struktur als standardisiertes Muster gesetzlich vorzuschreiben. Sie überlassen die Umsetzung der Finanzbranche und setzen auf Selbstverpflichtungserklärungen.
Wir meinen, dass die konkrete Ausgestaltung nicht dem
Verordnungsgeber überlassen werden darf, sondern dass
man konkretere gesetzliche Vorgaben machen muss, um
eine Vereinheitlichung hinzubekommen. Das wäre wirklich effizient im Sinne der Verbraucher.
Mein zweiter Punkt. Wenn man sich anschaut, was
diese Informationen bringen, dann muss man sagen, dass
man damit den Eigenheiten des Zertifikatemarktes nicht
Herr werden wird. Häufig stellen die Informationsblätter
zu diesen Produkten nur die Intransparenz dieser Produkte noch einmal dar, schaffen aber keine wirkliche
Transparenz. Hinzu kommt - Sie haben es vielleicht mitbekommen -: Die Prüfung der endgültigen Bedingungen
dauert offensichtlich sehr kurz. Sie kostet 1,55 Euro,
weil die Dauer so kurz ist. Es entstehen nur ganz geringe
Kosten, um neue Produkte auf den Markt zu bringen.
Das führt zu einer Riesenvielfalt. Es wird geschätzt, dass
wir bis 2013 in Deutschland 1 Million Anlagezertifikate
haben werden. Das ist keine gesunde Entwicklung.
Diese Vielfalt nutzt niemandem. Ich glaube, wir werden
mit der alleinigen Prospektpflicht, über die wir jetzt diskutieren, dem nicht Herr werden. Wir brauchen vielmehr
eine Produktregulierung bei den Anlegerzertifikaten.
({0})
Abschließend möchte ich in aller Kürze noch einen
dritten Punkt nennen. Kollege Sieling hat die Bankenabgabe schon angesprochen. Man muss sich fragen, woher
der Sinneswandel bei den Förderkrediten kommt. Es
wird zu einem Minderaufkommen kommen. Das wird
dazu führen, dass es noch länger dauert, mit der Bankenabgabe den Fonds so aufzubauen, dass er ein notwendiges Volumen erreicht. Also werden wir uns über das
Aufkommen unterhalten müssen; denn eines darf nicht
sein, nämlich dass durch das Entgegenkommen bei der
Bemessungsgrundlage letztlich die Sicherheit, die mit
der Bankenabgabe und dem Fonds erreicht werden soll,
nicht erzielt wird.
Vielen Dank.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein
sperriges Thema, und das ist eine sperrige Debatte. Wir
setzen eine EU-Richtlinie auf einem Feld um, das nicht
ganz einfach ist. Die Kollegen haben es vorgestellt. Es
geht um Bürokratieabbau und um mehr Transparenz. Die
Bundesregierung hat das Ganze zusammen mit den Koalitionsfraktionen zum Anlass genommen, auch im nationalen Bereich einige Änderungen, beispielsweise im
Börsengesetz, vorzunehmen. Der Kompromiss, der mit
dem Bundesrat im Rahmen der Bankenrestrukturierung
und der Bankenabgabe gefunden worden ist, wird
gleichzeitig mit abgearbeitet.
Das alles ist nicht sonderlich spektakulär. Ich möchte
meine Ausführungen in zwei Teile teilen und zwei Dinge
betonen. Zuerst zu der Kritik, die geäußert worden ist;
das war ja recht interessant. Da ist von Herrn Koch von
der Linken gesagt worden: Uns ist Anlegerschutz wichtiger als Bürokratieabbau. Das habe ich, ehrlich gesagt,
nicht ganz verstanden, weil Bürokratieabbau, wie ich
glaube, ein ganz toller Anlegerschutz ist.
({0})
Wenn ich heute bei einer Beratung 130 Seiten oder,
wie Herr Sieling gesagt hat, einen Prospekt vorgelegt bekomme, werde ich mir den sinnigerweise nicht durchlesen. Die Prospektpflicht ist übrigens 2005 umgesetzt
worden; da war die SPD ja noch federführend. Nichtsdestotrotz, wenn ich solche Monsterpapiere bekomme,
lese ich sie mir nicht mehr durch. Wenn also solche Prospekte nun nicht mehr durchgelesen werden, wird der
Anlegerschutz konterkariert. Deswegen hängen Bürokratieabbau und Anlegerschutz ganz genuin zusammen.
An dieser Stelle müssen wir also etwas machen. Das ist
auch ganz gut so.
({1})
Ich nehme auch gerne die Botschaft auf, die sowohl
von der SPD wie auch von den Grünen gekommen ist,
dass wir uns dabei noch ein bisschen mehr bemühen
müssen. Sie, Herr Sieling, haben gesagt, solche Prospekte seien unübersichtlich. Herr Schick hat das Wirrwarr bei den Produktinformationsblättern angesprochen. Wir sind da sofort bei Ihnen. Aber lassen Sie uns
zum Beispiel auch das Beratungsprotokoll dazunehmen
und auch in Ihrem Sinne evaluieren. Auch hier haben
wir nämlich ein bürokratisches Monstrum geschaffen,
wodurch in vielen Fällen Anleger nicht geschützt, sondern verärgert werden. Wenn wir uns hier und heute darauf einigen könnten, dass wir einmal schauen, wie wir
den Anlegerschutz so gestalten können, dass er so
schlank ausgestaltet wird, dass die Menschen in diesem
Land auch etwas davon haben, wäre das schon ein tolles
Ergebnis dieser Debatte.
({2})
Des Weiteren haben Sie die Bankenabgabe kritisiert.
Wir können uns trefflich darüber unterhalten, ob man bei
der Einführung gewisse Dinge hätte besser machen können. Eines muss man aber berücksichtigen, meine Damen und Herren: Wir waren die Ersten in Europa, die so
etwas überhaupt auf den Weg gebracht haben.
({3})
Dass es da das eine oder andere Abstimmungsproblem
gibt, im Übrigen auch mit dem Bundesrat, ist doch ganz
klar. Ich bin immer noch der Meinung, dass das, was wir
auf den Weg gebracht haben, dann, wenn wir es erweitern, dazu führen wird, dass zumindest ein Teil, wenn
auch nicht alle Risiken aus einem Default bzw. einem
Scheitern von Banken vom Steuerzahler ferngehalten
werden können. Daran sollten wir arbeiten.
Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle der Finanzmarktstabilisierungsanstalt ein dickes Lob aussprechen.
Sie hat in vorbildlicher Weise innerhalb weniger Monate
ein sehr kompliziertes Erhebungsverfahren aus dem Boden gestampft, ohne dass es große Probleme gegeben
hat. Daran sollte sich vielleicht die eine oder andere europäische Behörde durchaus ein Beispiel nehmen. So gut
und so schlank kann das gehen.
({4})
Das war der erste Teil meiner Rede. Dieses Thema ist,
wie gerade schon gesagt, für die Schülergruppen, die
hier heute auf der Tribüne sitzen, und für den einen oder
anderen, der vor dem Fernseher sitzt, nicht sehr dankbar.
Man fragt sich: Muss man denn eigentlich darüber reden, wenn man eine europäische Richtlinie umsetzt? Ich
sage: Ja, man muss darüber reden. Überlegen Sie sich
einfach einmal: Die christlich-liberale Koalition hat mit
diesem Gesetz in den letzten 24 Monaten 13 Gesetze zur
Bankenregulierung auf den Weg gebracht.
({5})
Jetzt kommt traditionell von der einen Seite des Hauses
immer der Einwand: Ja, aber das ist nicht genug - oder
wie auch immer. Das sagen Sie deswegen, weil Sie natürlich versuchen, die Legende aufzubauen, dass wir gar
nichts gemacht hätten. Das fängt bei Steinbrück an und
hört bei Sieling auf. Das ist nicht wahr. Wir haben ziemlich viel auf den Weg gebracht.
In einem Punkt haben Sie aber recht, nämlich wenn
Sie sagen, ein erheblicher Teil dieser Maßnahmen stellt
eine Umsetzung von europäischem Recht dar. Mehr als
die Hälfte der Gesetze betraf die Umsetzung von europäischem Recht. Das trifft ja auch auf das Projekt, das
wir heute beraten, zu. Wenn Sie sich die anderen Gesetze, die wir national umgesetzt haben, anschauen, werden Sie feststellen, dass wir uns ganz oft strecken mussten, damit wir nicht irgendwo an europäisches Recht
angestoßen sind.
Schauen Sie sich auch einmal an, welche Projekte wir
in diesem Jahr vor der Brust haben: Ob das die Eigenkapital- bzw. Liquiditätsregeln für Banken sind, ob das die
Hedgefonds-Regulierung ist, ob das das Vorhaben der
Regulierung der OTC-Derivate ist, ob das die Schaffung
eines Versicherungsaufsichtsgesetzes ist oder die Neuordnung der nationalen Finanzaufsicht, all diese Bereiche sind oftmals stark europäisch bestimmt. Auch bei
der genuinen Neuordnung der nationalen Finanzmarktaufsicht, die wir jetzt anpacken werden, lassen wir
uns auf europäische Mechanismen ein.
Deshalb müssen wir ganz klar feststellen, meine Damen und Herren: Finanzmarktpolitik ist nicht länger
deutsche nationale Politik, sondern Finanzmarktpolitik
ist europäische Politik. Darüber wird zuvorderst nicht in
Berlin oder London entschieden, sondern in Brüssel und
Straßburg. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns als Parlament darauf entsprechend eingestellt haben. Viele Leute,
nicht nur in diesem Haus, sondern auch in den Medien
und in der Öffentlichkeit glauben immer noch, man
könne hier in Deutschland alles regeln. Sie glauben immer noch, dass wir hier den Stein der Weisen haben und
dass der Deutsche Bundestag das zentrale Gremium sei,
in dem Politik gemacht wird. Das ist - ich sage es einmal
etwas pathetisch - die Lebenslüge dieses Parlaments.
Wir müssen akzeptieren, dass ganz, ganz viel auf europäischer Ebene geregelt wird. Darauf müssen wir reagieren. Das tun wir nicht in angemessener Weise.
({6})
Wir geben viel zu wenig Impulse nach Brüssel, was dort
geregelt werden soll und was die Kommission aufarbeiten soll. Wir gestalten nur bei den wirklich großen Dingen wie zum Beispiel Eigenkapitalregeln für Banken
oder Einlagensicherungen den Prozess in Brüssel aktiv
mit. Wir geben der Regierung viel zu wenig mit auf den
Weg. Wir positionieren uns als Deutscher Bundestag in
viel zu wenigen Feldern.
Insofern glaube ich, dass wir eine Menge Nachholbedarf haben. Wir sollten uns wirklich überlegen, wie wir
uns aktiver in diese europäischen Prozesse einbringen
können, und dazu gehört es, dass wir uns auch mit so einem Gesetz, das - das tut mir auch leid - leider etwas
langweilig ist, ausführlich beschäftigen. Wir tun dies
heute in der ersten Lesung. Wir werden die Ausschussberatung und die zweite und dritte Lesung nachfolgen
lassen. Lassen Sie uns daran arbeiten. Lassen Sie uns die
europäischen Angelegenheiten ernst nehmen; denn sie
sind es wert.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8684 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({0}), Thilo Hoppe, Volker Beck ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Juristische Aufarbeitung der Gewalt und politischer Neuanfang für den Jemen
- Drucksache 17/8587 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Kerstin Müller von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Wahl von Mansur Hadi zum neuen Präsidenten des
Jemen am Dienstag der letzten Woche wurde die
33 Jahre dauernde Herrschaft von Ali Abdullah Salih
endlich beendet. Das Land zieht damit einen ersten
Schlussstrich nach einem Jahr wirklich schwerer Unruhen. Präsident Salih hatte am 23. November - man muss
wieder „endlich“ sagen - nach Monaten blutiger Kämpfe
auf Vermittlung der UN schließlich dem Abkommen des
Golfkooperationsrates zugestimmt, die Macht abzugeben.
Sicherlich, von einer echten Wahl Hadis kann man eigentlich nicht sprechen. Nur ein Name stand auf dem
Wahlzettel, und ein Nein war nicht vorgesehen. Aber es
ist eben so, dass die Mehrheit der politischen Akteure
mit dem Kompromisskandidaten Hadi einverstanden
war. Auch die Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul
Karman rief zur Teilnahme auf und sprach gar von einem historischen Tag für das Land, weil es endlich gelungen sei, Salih zu vertreiben.
Trotz des Aufrufes der Separatisten im Süden sowie
schiitischer Rebellengruppen im Norden, die Wahl zu
boykottieren, haben immerhin etwa - das waren weit
Kerstin Müller ({0})
mehr als erwartet - 65 Prozent der Bevölkerung teilgenommen. Auch wenn die Zukunft in vielerlei Hinsicht
unklar ist, kann man meiner Meinung nach schon sagen:
Die hohe Wahlbeteiligung zeigt, dass große Teile der Bevölkerung das Signal setzen wollten: Die Ära Salih ist
vorbei. Dazu kann man dem jemenitischen Volk von hier
aus wirklich nur gratulieren.
({1})
Obwohl die Wahl Hadis keine echte Wahl war, könnte
sie der Beginn einer neuen Ära sein. Sie könnte der Beginn dringend notwendiger Reformen, für die die Protestbewegung seit über einem Jahr auf die Straße gegangen ist, sein.
Hadi hat nun zwei Jahre Zeit dafür. Er muss eine Regierung der nationalen Einheit bilden, eine Verfassungsreform durchführen und eine Armee neu strukturieren.
Nach dieser Übergangszeit soll dann in einer richtigen
Wahl ein neues Parlament gewählt werden.
Es wird nun darauf ankommen, dass dieser politische
Neuanfang auch gelingt. Dafür muss Hadi zum einen
- das ist ganz wichtig - den Dialog mit allen politischen
und gesellschaftlichen Akteuren, der Jugendbewegung,
der Demokratiebewegung, den Huthi-Rebellen im Norden sowie der Sezessionsbewegung im Süden, führen.
Denn nur so kann vermutlich langfristig ein Bürgerkrieg
oder gar eine Spaltung des Landes verhindert werden,
und das wird sicherlich die schwierigste Aufgabe sein.
Zum anderen muss die internationale Staatengemeinschaft die Übergangsregierung bei diesen Reformen mit
allen Kräften unterstützen. Denn wir haben beispielsweise in Afghanistan bitter erfahren, was passiert, wenn
wir solche Staaten alleinlassen und sie dann zerfallen.
Deshalb ist neben der Demokratie die wirtschaftliche
Entwicklung die zentrale Frage. Das Land war schon immer das Armenhaus der Region. Die humanitäre Lage
hat sich im letzten Jahr noch einmal dramatisch verschärft. Die Forderung der Opposition, ausländische
Konten Salihs und seiner Familie einzufrieren und dem
Staat für den Aufbau des Landes zur Verfügung zu stellen, ist meiner Meinung nach nicht nur aus moralischen
Gründen gerechtfertigt. Noch entscheidender wird sein,
dass wir die humanitäre Hilfe ausweiten und den Jemen
beim Wirtschaftsaufbau unterstützen.
({2})
Entscheidend ist, dass die Ära Salih auch tatsächlich
beendet wird. Allerdings ist zu befürchten, dass sich
Salih wieder einmischt. Nachdem er am Freitag aus den
USA zurückkam, hat er sogleich mit einem öffentlichen
Auftritt bei der Machtübergabe Öl ins Feuer gegossen.
Hinzu kommt, dass die Familie Salih beispielsweise bei
den Sicherheitskräften die Fäden noch fest in der Hand
hält. Das heißt, die Umstrukturierung der Armee ist sehr
wichtig. Salih muss klargemacht werden, dass es für ihn
im Jemen keine politische Zukunft mehr gibt.
Ich möchte zum Schluss auf eine weitere Forderung
der Opposition eingehen. Sie fordert, dass sich Salih für
seine Verbrechen, die er während seiner Amtszeit und
während des Aufstandes begangen hat, vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten muss. Das ist
eine schwierige Frage; denn durch die Einigung der
UNO mit dem Golfkooperationsrat ist Salih Immunität
gewährt worden. Damit ist der Transformationsprozess
eingeleitet worden. Ich finde aber, wir können nicht einfach ignorieren, dass die jemenitische Gesellschaft mit
diesem Deal nicht einverstanden ist und ein Strafverfahren fordert.
Es zeigt sich immer wieder: Nach großen Kriegen
und schweren Menschenrechtsverbrechen ist Gerechtigkeit für einen nachhaltigen Frieden in der Gesellschaft
von zentraler Bedeutung. Gerade wir, der Westen, die
wir den Internationalen Strafgerichtshof aus der Taufe
gehoben haben, dürfen das nicht ignorieren.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Philipp
Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal mit Blick auf
den arabischen Frühling kurz eine Einteilung der betroffenen Länder vornehmen und daraus dann zu Ableitungen kommen. Man kann grob vier Gruppen von Ländern
unterscheiden, die verschiedene Wege einschlagen.
Erstens. Länder wie Marokko und Jordanien haben
sich anscheinend für die friedliche Transformation entschieden. Zweitens. In Tunesien und teilweise auch in
Ägypten können wir eine Konsolidierung nach den
Ereignissen im Zusammenhang mit dem arabischen
Frühling feststellen. Drittens. Länder wie Saudi-Arabien, Katar und Oman haben sich von Anfang an dafür
entschieden - das sage ich jetzt ohne Wertung -, den
Status quo zu erhalten. Viertens. Es gibt Länder, die
einer Fragmentierung anheimfallen und die kurz vor einem Bürgerkrieg stehen bzw. schon mittendrin sind.
Dazu zählen Länder wie Libyen, der Iran, Sudan, Syrien
und eben der Jemen, über den wir heute sprechen.
Wir sehen im Jemen eine humanitäre Notlage, ein
Flüchtlingsproblem und eine dramatische Verschlechterung der Versorgungslage der Bevölkerung. Die Zahlen
sind erschreckend. Mit einem katastrophalen Wert von
unter 0,462 liegt der Jemen beim Human Development
Index auf Platz 154. Vor diesem Hintergrund müssen wir
uns mit der Notlage, die die gesamte Bevölkerung betrifft, ernsthaft auseinandersetzen, auch wenn dies kein
Thema ist, welches die Menschen in Deutschland elektrisiert bzw. dazu bringt, auf die Straße zu gehen.
Es ist tatsächlich so: Der Jemen ist in viele Teile fragmentiert. Es gibt Sezessionsbewegungen, die zum Teil
von al-Qaida und zum Teil durch andere Länder unter19288
stützt werden. Die Familie Salih - meine Vorrednerin hat
es bereits erwähnt - spielt dort eine sehr ungute Rolle.
Wer glaubt, die Problematik sei dadurch behoben, dass
Salih nicht mehr im Amt des Staatspräsidenten ist, der
irrt. Denn die wichtigsten Schlüsselfunktionen in diesem
Land, auch über weite Teile der öffentlichen Verwaltung
hinaus, befinden sich in den Händen der Familie Salih.
Deshalb wird sie dieses Land nicht aus ihrem Würgegriff
herauslassen.
Wir Außenpolitiker haben kürzlich Gelegenheit gehabt, uns ausführlich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Mit der Tatsache, dass das Oberhaupt der Familie
keine politische Rolle mehr spielen wird, ist es allein
einfach nicht getan. Man muss den Prozess zur Modernisierung des Landes breit unterstützen und vor allem dafür sorgen, dass sich die humanitäre Situation verbessert.
({0})
Frau Müller, ich teile in weiten Teilen Ihre Analyse.
An einer Stelle haben Sie unrecht bzw. überschätzen den
Einfluss und die Motive Saudi-Arabiens. Darüber kann
man sich natürlich streiten. Bei Saudi-Arabien sind wir
uns meistens relativ einig. Ich glaube aber nicht, dass
Saudi-Arabien der Hauptakteur in Bezug auf Bestrebungen ist, im Jemen eine Demokratie zu verhindern. Diesen Punkt Ihres Antrags sehe ich kritisch. Zu erwähnen
bleibt, dass wir mit einem instabilen Jemen nicht leben
sollten; denn ein instabiler Jemen ist nicht nur eine Gefahr für Saudi-Arabien und für die Region, sondern ein
instabiler Jemen ist eine Gefahr für die Welt. Erinnern
wir uns an das Jahr 2010. Im Oktober 2010 gingen Paketbomben aus dem Jemen nach Köln, die wiederum
weiter in die USA geschickt werden sollten, um gezielt
Menschen zu töten. Vor diesem Hintergrund sage ich:
Was für ein Glück, dass diese Paketbomben in Köln
nicht explodiert sind! Eines steht fest: Der Jemen ist
Schutzort für Terroristen und daher auch eine Bedrohung
für den Weltfrieden. Deshalb müssen wir dieses Problem
ernster nehmen und ihm mehr Aufmerksamkeit schenken.
({1})
Die Nachbarn Jemens reagieren auch. Saudi-Arabien
baut ein Grenzsicherungssystem auf, um sich zu schützen. Die saudischen Probleme sind an anderer Stelle ausführlicher zu diskutieren.
Was kann die Bundesregierung tun? Was tut die Bundesregierung bisher? Ich glaube, die Bundesregierung
leistet erstens zu Recht mit 29,6 Millionen Euro einen
wichtigen Beitrag zur humanitären Hilfe. Zweitens.
Deutschland hat sich 2011 gemeinsam mit anderen internationalen Partnern für eine politische Lösung der
Jemen-Krise eingesetzt und vor allem mit dem Golfkooperationsrat die Verhandlungen in Schwung gebracht.
Ich glaube, dass die Vereinten Nationen ihrer Verantwortung an dieser Stelle gerecht werden müssen. Das gilt
sowieso für Syrien. Wenn die UNO als Weltpolizei
ernstgenommen werden will, muss sie die Fragen des
Jemen und die Fragen von Syrien lösen können. Wenn
die Lösungskompetenz nicht gegeben ist, wird sie auf
Dauer obsolet und damit viel Vertrauen verlieren.
Wir haben die Bewegung „Friends of Yemen“ unterstützt. Wir sind der Meinung, dass der festgelegte Übergangsfahrplan weiter politisch begleitet werden sollte,
auch über die ersten Initiativen und Anstöße hinaus.
In einem dritten Punkt komme ich zur Entwicklungszusammenarbeit. Deutschland ist seit über 40 Jahren im
Jemen engagiert. Wir sollten uns überlegen, ob wir bei
der Evaluierung der Aktivitäten der Entwicklungszusammenarbeit den Fokus nicht stärker darauf richten,
wie zielgerichtet, wirkungsvoll und effizient dieses Engagement war, wenn es über einen so langen Zeitraum
läuft. Gerade habe ich den Development Index zitiert.
Jemen hat alles Zeug, ein gescheiterter Staat zu sein,
dauerhaft gegen die Menschenrechte zu verstoßen und
damit Demokratisierungsbewegungen im Ansatz zu verhindern. Vor diesem Hintergrund steht dem Jemen noch
ein langer Weg bevor. Wir wollen die vernünftigen
Kräfte unterstützen. Allein die Identifizierung der vernünftigen Kräfte dürfte uns schon sehr, sehr schwerfallen, sodass wir genau überlegen müssen, welche politischen Maßnahmen wir ergreifen, um das nicht nur in
Worthülsen zu kleiden. Wir müssen genau überlegen,
was wir mit dem Geld machen wollen, das wir zur Verfügung stellen, und welche weiteren außenpolitischen
Aktivitäten wir ergreifen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Günter Gloser von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Situation im Jemen ist meines Erachtens
nicht mit der in anderen arabischen Ländern vergleichbar. Aus meiner Sicht wird der Protest im Jemen zu
schnell in die Reihe der arabischen Rebellionen eingereiht. Hat es in den letzten Jahrzehnten im Jemen jemals
Ruhe gegeben? Die Antwort ist leider: nein. Die meisten
Konflikte sind sehr alt.
Da ist zum einen die nie gelungene Vereinigung der
beiden Landesteile zu nennen, die schon vor und während des Kalten Krieges getrennt waren. Dann dominieren Volksgruppen und Clans weiterhin das politische
Denken und Handeln. Schlimmer noch, es droht das
Auseinanderdriften des Landes in tribale Strukturen und
der Zerfall der zentralen Fassadenstaatlichkeit, wie ich
es einmal bezeichnen will.
Wir sehen im Jemen also einige historische Vorbedingungen, die es in anderen arabischen Ländern so nicht
gegeben hat. Ich will aber auch nicht zu pessimistisch
sein und die neuen positiven Entwicklungen im Jemen
erwähnen. Inspiriert durch die Ereignisse des arabischen
Frühlings hat der langjährige Machtkampf im Jemen im
letzten Jahr tatsächlich eine neue Dynamik gewonnen. In
Sanaa und anderen Städten des Landes standen weite
Teile der Bevölkerung gegen das korrupte Regime Salihs
auf, und dabei sind auch - das möchte ich betonen Tausende von Frauen auf die Straße gegangen, um die
Herrschaft des Regimes Salih zu beenden.
Nach langem Hin und Her war es, auch auf Initiative
des Golfkooperationsrats, zu einem Abkommen für die
Gestaltung des Machtübergangs gekommen. Der Preis
für den damit vereinbarten Abtritt des bisherigen Präsidenten war allerdings hoch. Viele Menschen verloren ihr
Leben. Weder die demokratische Opposition auf den
Straßen noch die zum Teil separatistische Opposition im
Süden des Landes noch die schiitischen Huthi-Rebellen,
die Teile des Landes kontrollieren, erkennen die jetzt gefundene Lösung an. Dabei könnte sie doch zumindest
den Boden für einen geregelten Übergang und eine künftige Stabilität bereiten.
Wie schwierig die Situation ist, zeigt ja auch das
Fernbleiben der Abgeordneten der Opposition bei der
Zeremonie zur Amtseinführung des neugewählten Präsidenten Hadi. Mit der Wahl des Präsidenten ist die erste
Phase der Vereinbarung an ihr Ende gekommen. Nun
soll eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, Parlaments- und Präsidentenwahlen sollen innerhalb von zwei
Jahren stattfinden - so der Plan, der hoffentlich eingehalten werden kann.
Unmittelbar nach dem Amtseid gab es vor dem Präsidentenpalast einen Selbstmordanschlag, bei dem
26 Menschen starben. Al-Qaida hat sich zu diesem Anschlag bekannt. Es gibt leider noch mehr Gründe, die
momentan Zweifel daran aufkommen lassen, ob das
Übergangsabkommen wirklich umgesetzt werden kann.
Der Auftritt des bisherigen Präsidenten Salih bei der
Amtseinführung seines Nachfolgers wirft ein Schlaglicht
auf die aktuelle Situation. In einem provozierenden Auftritt spielte Salih denjenigen, der die Macht übergibt als hätte es nie einen blutigen Aufstand gegen ihn und
die Wahlen gegeben. Dabei spricht er noch den Satz:
Ich gebe das Banner der Revolution, der Freiheit,
der Sicherheit und der Stabilität in zuverlässige
Hände.
Nichts ist wahr in diesem Satz. Er ist allein zynisch.
Denn wo war die Sicherheit, wo war die Freiheit, wo war
die Stabilität im Jemen?
({0})
Dieser Auftritt erst vor wenigen Tagen war auf jeden
Fall für viele im Jemen eine Farce und ein Schlag in das
Gesicht der Menschen, die für ein Ende des bisherigen
Systems gekämpft haben. Dabei wäre dem Jemen und
seiner leidgeprüften Bevölkerung ein echter politischer
Neuanfang nur zu wünschen. Um die Basis dafür geht es
in dem hier debattierten Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen.
Ich betone es ausdrücklich noch einmal: Die Bundesregierung hat sich seit Jahrzehnten in der Entwicklungszusammenarbeit dafür eingesetzt, dass sich die Situation
im Jemen verbessert. Ich danke ausdrücklich den vielen
Organisationen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
sowie den Ministerien, die dafür verantwortlich waren,
dass dort unter schwierigen Bedingungen eine Entwicklungszusammenarbeit ausgeführt worden ist, die projektorientiert war und bei der das Geld nicht in verschiedenen staatlichen Kanälen versickert ist, sondern wo in
Bereichen der Infrastruktur etwas erreicht worden ist.
Daran müssen wir anknüpfen, wohl wissend, dass die
Sicherheitslage in dem Land noch nicht so ist, wie es für
diese Arbeit erforderlich wäre.
Noch ein Wort an die Adresse der Bundesregierung
- das hat sich in verschiedenen Aussagen bereits gezeigt,
und hier gibt es eine Übereinstimmung hinsichtlich der
Forderungen, die im Antrag stehen und die ich nur unterstreichen kann -: Es braucht eine juristische Aufarbeitung der Gewalt und des Machtmissbrauchs beim System Salih. Ich weiß, wie heikel es ist, das aus einer
geschützten Situation heraus zu fordern, auch vor dem
Hintergrund - Frau Müller, Sie haben das erwähnt - dieses Abkommens.
Eines sage ich aber ganz bewusst: Ich habe noch in
Erinnerung, dass im Jahr 2007 - damals durch das Auswärtige Amt organisiert - eine große Konferenz mit
Finnland, mit Jordanien, mit NGOs aus allen Ländern
stattfand, bei der es um die alte spannende Frage ging:
„Frieden oder Gerechtigkeit?“ oder „Frieden und Gerechtigkeit?“. Das eindeutige Zeichen muss lauten: Frieden und Gerechtigkeit. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die als Machthaber oder an verantwortlichen Stellen
in Militär und Verwaltung tätig waren, die Menschen als
Opfer auserkoren und Befehle gegeben haben, diese
Menschen zu töten, in einer neuen Gesellschaft frei herumlaufen können und nicht bestraft werden.
({1})
Es geht aber auch - das war schon mehrfach die Adresse an die Bundesregierung; das sage ich jetzt gar nicht
vorwurfsvoll - um das Fluchtkapital der jemenitischen
Machthaber, das sich auch in Deutschland befindet. Ich
bin mir bewusst, dass ein Rechtshilfeersuchen aus dem
Jemen vorliegen muss, um die Gelder einzufrieren. Insofern richtet sich mein Appell an die jemenitische Regierung, so schnell wie möglich um diese Hilfe zu ersuchen.
Das entwendete Eigentum muss nämlich, jedenfalls nach
meiner Überzeugung, an das jemenitische Volk zurückübertragen werden; denn diesem ist es entwendet worden.
({2})
Meine Damen und Herren, wir unterstützen die Forderung dieses Antrages. Vielleicht darf ich einen Bereich
ansprechen, in dem ich eine Wertung vornehme, die anders als die im Antrag ist. Ich will schon zum Ausdruck
bringen, dass die Mitgliedsländer des Golfkooperationsrates - bei allen innenpolitischen Spannungen in diesen
Ländern - eine wesentliche Rolle dabei gespielt haben,
dass es zur ersten und zweiten Phase dieses Übergangs
gekommen ist. Ich glaube, wir werden im Jemen ohne
die Mitgliedsländer des Golfkooperationsrates, allein als
EU oder bilateral, nichts bewegen können. Deshalb ist es
wichtig, dass wir die Initiative aufgreifen, die es schon
Anfang des Jahres 2011 gegeben hat - Herr Mißfelder,
Sie haben es erwähnt -, dass die Friends of Yemen wieder aktiv werden und entsprechende Beiträge zu einem
wirklichen Neuanfang im Jemen leisten können.
Es geht um einen Neuanfang in der politischen Kultur. Es geht also um mehr als nur Verteilungsfragen. Es
geht darum, dass auch der wirtschaftliche Neuanfang in
diesem Land gelingt. Ich denke, dass Deutschland und
die Europäische Union einen wesentlichen Anteil an diesem Neuanfang haben können. Deshalb unterstützen wir
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rainer Stinner von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Fall Jemen erleben wir Abgeordnete ein klassisches Dilemma, nämlich das Dilemma zwischen dem eigentlich
Sinnvollen, politisch Korrekten und Guten, das der politischen Ästhetik folgt sowie wünschenswert und richtig
ist, und der Not, pragmatische Politik zu betreiben.
Natürlich enthält das Transitionsabkommen, das geschlossen worden ist, eine ganze Reihe problematischer
Positionen. Aber die Frage ist, wie wir den Abwägungsprozess vornehmen.
Es wird völlig zu Recht kritisiert, dass Herrn Salih in
diesem Transitionsabkommen eine Immunität gewährt
wird. Das heißt, dass er vor zukünftiger Bestrafung sicher ist. Das kann jedem, der an Recht und Billigkeit
glaubt, natürlich nicht recht sein. Aber die Frage ist: Was
haben wir ausgehandelt? Ich möchte dieses Dilemma,
das wir täglich haben und mit dem wir zurechtkommen
müssen, sehr deutlich vor uns ausbreiten. Beim Transitionsabkommen ist eine entsprechende Abwägung getroffen worden. Natürlich kann uns die Immunität von
Herrn Salih nicht recht sein. Wir alle wissen, welche
Verbrechen begangen worden sind. Wir alle wissen
auch, welche wirtschaftliche Bereicherung stattgefunden
hat. Damit müssen wir entsprechend umgehen.
Ein zweiter Punkt der Kritik am Transitionsabkommen bezieht sich auf die zweijährige Übergangsphase.
An der Dauer der Übergangsphase übe ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, wiederum keine Kritik. Denn bei
der Abwägung, ob man für einen schnellen Übergang,
schnelle Neuwahlen und die möglichst schnelle Verabschiedung einer neuen Verfassung, meinetwegen innerhalb von sechs Wochen, sein sollte oder man sich angesichts der Erfahrungen, die wir anderswo gemacht
haben, dafür mehr Zeit nehmen sollte, komme ich zu
dem Schluss: Ich persönlich kann sehr gut mit der Übergangsfrist von zwei Jahren leben, wenn der Übergang einigermaßen vernünftig abläuft.
Der dritte Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass mit
Herrn Hadi der ehemalige Vizepräsident - er war über
Jahrzehnte hinweg mit Salih verbunden - jetzt Präsident
geworden ist. Das kann man mit Fug und Recht kritisieren. Es wird auch kritisiert, dass sich die Parteien auf
einen Kandidaten und auf keinen Gegenkandidaten verständigt haben. Es soll ja auch in manchen westeuropäischen Ländern vorkommen, dass sich die Parteien vor
großen Wahlentscheidungen vorher auf einen Kandidaten einigen; das würde ich auch im Falle Jemen nicht unbedingt kritisch beurteilen.
Natürlich sind das Kröten, die man hier schlucken
muss. Die Abwägung lautet: Ist uns die Vereinbarung,
die getroffen worden ist, diesen Preis wert? Ich sage
nach Abwägung von Pros und Cons: Für mich und
meine Fraktion ist es diesen Preis wert. Denn wir haben
mit dieser Vereinbarung wirklich die Chance, dass wir
ohne einen Bürgerkrieg eine Veränderung der politischen Situation im Jemen erreichen. Wir haben täglich
vor Augen, was gegenwärtig in Syrien passiert. Wenn es
mit dieser Vereinbarung gelingt, ähnliche Verhältnisse
im Jemen zu verhindern, dann haben wir, glaube ich, den
richtigen Weg eingeschlagen.
Diese Vereinbarung ist, wie wir alle wissen, zum
Glück auf Druck eines Teils der Opposition im Jemen,
der Vereinten Nationen und des Golfkooperationsrates
im Konsens mit uns Europäern getroffen worden. Ich
halte es für ein sehr gutes Zeichen, dass diese vier zusammenhalten. Das sollte auch in Zukunft wichtig und
richtig sein. Ich betone hier wieder, wie wichtig es für
uns ist, dass der Golfkooperationsrat als regionale Organisation selber Verantwortung übernimmt und einbezogen wird. Wir alle kennen die Historie des Verhältnisses
zwischen Golfkooperationsrat und dem Jemen. Keine
Frage: Der Jemen war in der Vergangenheit aufgrund eines anderen Systems der Outcast. Es ist wichtig, dass
sich der Golfkooperationsrat hier einmischt und Verantwortung übernimmt.
Wir alle wissen - die Kolleginnen und Kollegen haben es gesagt -: Die Sicherheitslage ist nach wie vor kritisch. Es gibt die Huthi-Miliz; außerdem kämpfen dort
Salafisten. Das ist alles andere als berauschend und alles
andere als ermunternd. Es führt kein Weg daran vorbei,
dass wir schrittweise eine Stabilisierung dieses Landes
vornehmen.
Jedenfalls bisher hat dieses Abkommen funktioniert.
Die bislang vorgeschriebenen Schritte sind alle so, wie
es in dem Abkommen vom letzten Jahr beschrieben worden ist, unternommen worden. Das gibt uns Hoffnung,
dass es auch in den kommenden Jahren so ist. In zwei
Jahren sollen - so ist es in der Verfassung festgeschrieben worden - ein neues Parlament gewählt werden und
ein neuer Präsident ins Amt kommen.
Ich glaube, dass es bis dahin wichtig ist, dass wir
- Golfkooperationsrat, Vereinte Nationen, Europa und
damit Deutschland - zusammenhalten und versuchen,
die Entwicklung im Jemen in die richtige Richtung zu
lenken; das tut Deutschland ja auch schon. Herr Gloser,
ich erinnere mich an unsere legendäre gemeinsame
Reise im Jahr 2005 in den Jemen, wo uns etwas passiert
ist, was jedenfalls mir zuvor noch nie passiert war, nämlich dass die Bevölkerung einem Abgeordneten zugejubelt hat. Das kann nicht nur an mir gelegen haben, Herr
Gloser; es hat vielmehr daran gelegen, dass im Jemen
traditionell eine intensive Verbindung zu Deutschland
besteht. Die Jemeniten wussten, wie stark sich Deutschland in ihrem Land engagiert hat, auch durch Entwicklungshilfe, durch archäologische Ausgrabungen etc. Insofern können wir davon ausgehen, Herr Gloser, dass
dieser Beifall Ausdruck des Erinnerns im Jemen war und
dass wir Deutsche tatsächlich bestimmte Einflussmöglichkeiten - die wir allerdings nicht überschätzen
sollten - haben.
Nach Abwägung aller Pros und Cons sage ich: Wir
stehen zum Transitionsabkommen. Liebe Frau Müller,
da ist Ihr Antrag und da war Ihre Rede meiner Ansicht
nach nicht ganz klar. Einerseits sagen Sie, es sei richtig,
was dort gemacht worden ist, andererseits schreiben Sie
in Ihrem Antrag unter Punkt 5, es müsse dafür gesorgt
werden, dass Herr Salih vor Gericht kommt. Das ist ein
Widerspruch. Entweder akzeptieren wir dieses Abkommen - was wir tun; wir schlucken die Kröte -, oder wir
tun es nicht. Ich glaube, dazu müssen wir Stellung nehmen.
Ich komme zum Schluss. Ich persönlich sage Ihnen
hier und heute ganz offen: Wenn es uns gelingen würde,
einen ähnlichen Deal in Syrien mit Herrn Assad zustande zu bringen, wäre ich bereit, ihn einzugehen. Wenn
es dadurch gelingen würde, das tausendfache Sterben,
das in Syrien täglich vor unseren Augen stattfindet, zu
verhindern, wäre ich bereit, auf das politisch nicht
schöne, politisch nicht korrekte, politisch unästhetische
und ganz üble Machwerk einzugehen und diesen
Trade-off hinzunehmen, das heißt, die Kröte zu schlucken. So könnte das Töten tatsächlich verhindert werden. Diese Abwägung müssen wir treffen. Ich treffe sie
und sage Ihnen, dass ich dafür wäre, einen solchen Deal
einzugehen.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einem
Jahr demonstrieren im Jemen Hunderttausende für Freiheit, für Demokratie und für ein Ende des Regimes. Dass
der alte Präsident Salih jetzt gegangen ist, ist ein Anfang.
Aber machen wir uns nichts vor: Das System des alten
Präsidenten lebt fort. Seine Söhne kontrollieren den Militär- und Polizeiapparat, seine Partei ist auch in der
Übergangsregierung vertreten. Der Übergangspräsident
ist sein früherer Stellvertreter.
Nur zur Erinnerung: Jemen ist das ärmste Land der
Arabischen Halbinsel. 45 Prozent der Menschen, fast die
Hälfte, leben unter der Armutsgrenze, und über die
Hälfte der Menschen ist arbeitslos. Schon in wenigen
Jahren werden die letzten Ölquellen im Jemen versiegen,
und dann fallen noch einmal 70 Prozent des Staatshaushaltes weg. Dieses Land wird dann endgültig im Chaos
versinken, wenn jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt werden.
({0})
Gleichzeitig ist die Menschenrechtssituation katastrophal. Im Norden kommt es mit den Huthi immer wieder
zu ganz schweren Kämpfen, genauso wie im Süden, wo
immer mehr Menschen eine Abspaltung anstreben. Bis
zu freien und fairen Wahlen - ich denke, da sind wir uns
alle einig - ist es noch ein langer, steiniger Weg. Wer
sich am Ende durchsetzt und welches System dann
kommt, das hängt maßgeblich von der internationalen
Politik ab.
An diesem Punkt möchte ich gerne konkret fragen:
Was tut die Bundesregierung im Moment, und was sollte
sie eigentlich tun? Es nützt doch relativ wenig, immer
wieder mit vielen schönen Worten die friedlichen Proteste in Sanaa und anderswo zu unterstützen und gleichzeitig den wichtigsten Unterstützern des alten Regimes
Panzer und eine Waffenfabrik zu liefern. - Ja, ich spreche von Saudi-Arabien. Was glauben Sie denn, was
Saudi-Arabien macht, sobald die von Deutschland gelieferte Waffenfabrik in die Produktion geht? Man wird in
Zukunft, wie in den letzten Jahren, die unterdrückerischen Teile des Regimes mit deutscher Waffentechnologie unterstützen. Das finde ich einfach falsch.
({1})
Die Antwort auf die Frage, warum die Bundesregierung so etwas liefert, ist relativ einfach: weil Saudi-Arabien ein geschätzter Wirtschaftspartner ist. Jedes Jahr
verkauft Deutschland dorthin Waren im Wert von rund
5 Milliarden Euro. Das nimmt man in Kauf, obwohl
Saudi-Arabien nicht nur die eigene Bevölkerung unterdrückt, sondern in den letzten Jahren immer wieder auch
massiv in den Nachbarländern, auch im Jemen, eingegriffen hat und die unterdrückerischen Regime dort unterstützt hat. Damit muss Schluss sein.
({2})
Wenn Sie wirklich eine friedliche Entwicklung im Jemen unterstützen wollen, dann tun Sie vor allem eines:
Sorgen Sie dafür, dass der Dialog im Jemen innerhalb
Jemens bleibt! Sorgen Sie dafür, dass die Eigeninteressen anderer Länder herausgehalten werden! Sorgen Sie
dafür, dass die Interessen des Golfkooperationsrates, der
hier so gelobt wird, dass die Eigeninteressen Saudi-Arabiens, der Amerikaner und auch der deutschen Wirtschaft aus der Region und aus der jemenitischen Politik
herausgehalten werden! Das bedeutet ganz konkret, die
Gewalt im Jemen nicht noch dadurch zu befeuern, dass
man weiterhin Waffen in die Region liefert. Damit können Sie aufhören.
({3})
Das heißt auch, dass die Bundesregierung endlich ihre
Stimme dagegen erhebt, dass die USA ihren Terrorkrieg
auch in den Jemen tragen und dort Menschen durch
Drohnen gezielt töten. Auch das befeuert die Gewalt;
auch das verhindert einen friedlichen Dialog im Jemen.
Das bedeutet, auf Saudi-Arabien dahin gehend einzuwirken, dass es mit der Einmischung im Jemen endlich aufhört.
Ich kann die lobenden Worte, die von allen Seiten für
den Golfkooperationsrat zu hören sind, nicht verstehen.
({4})
- Ja. Sie kommen nicht von allen Seiten, etwa nicht von
den Grünen. - Dahinter stehen massive Interessen - die
Führung dabei hat Saudi-Arabien -, durch die gerade das
alte Regime stabilisiert worden ist. Mich würde wirklich
interessieren, wie das Abkommen ausgesehen hätte,
wenn der Golfkooperationsrat nicht mitgewirkt hätte.
Vielleicht wären wir dann ein ganzes Stück weitergekommen.
Die Menschen im Jemen wollen den gesellschaftlichen Wandel; aber den können sie nur selber herbeiführen. Ich finde es völlig richtig, alles zu unterstützen, was
den Dialog unterstützen kann. Man kann zum Beispiel
die Wahlen finanziell oder organisatorisch unterstützen,
insbesondere dort, wo es Sinn macht und wo es gewollt
ist, Friedensfachkräfte einzusetzen oder vor Ort auszubilden. Das alles sind Dinge, die Sie von hier aus machen können, solange Sie die Eigeninteressen ausblenden.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, nicht in den Jemen, nicht nach Saudi-Arabien und auch in kein anderes
Land der Welt.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Thomas Silberhorn von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sicherheitslage im Jemen ist nach wie vor ausgesprochen angespannt. Das war sie bereits vor den Demonstrationen für Demokratie und gegen Salih im April
2010. Auch nach der Umsetzung des Übergangsabkommens vom November 2011 bleibt die Sicherheitslage extrem schwierig. Weite Teile des Landes sind nicht unter
staatlicher Kontrolle. Al-Qaida hat im Jemen Fuß gefasst. Im Süden droht eine Rezession, und im Norden
kämpfen schiitische Rebellen gegen sunnitische Radikale. Die Luftwaffe meutert. Mitarbeiter der Vereinten
Nationen werden verschleppt. Das Land kommt nicht
wirklich zur Ruhe. Nur wenige Stunden nachdem Präsident Hadi am 25. Februar seinen Amtseid abgelegt hat,
kam es zu dem bisher schwersten Selbstmordanschlag
seit Monaten, zu dem sich al-Qaida mittlerweile bekannt
hat. Es gab 26 Tote und 30 Verletzte.
Trotz dieser ernüchternden Bilanz muss man feststellen, dass es im Jemen durch Druck der internationalen
Gemeinschaft immerhin gelungen ist - anders als beispielsweise in Libyen -, den Autokraten, in diesem Falle
Salih, durch Verhandlungen zu einer geordneten Übergabe seiner Macht zu bewegen. Dabei spielt in der Tat
auch der Golfkooperationsrat eine wichtige Rolle. Sie
sollten die regionale Verantwortung nicht unterschätzen.
Auch die Vereinten Nationen, die USA und der internationale Druck insgesamt haben dazu beigetragen, dass
diese Entwicklung überhaupt möglich geworden ist.
Nach dem Übergangsabkommen ist der von der
Opposition benannte Vorsitzende des Nationalrats für
die friedliche Revolution zum Ministerpräsidenten der
Übergangsregierung ernannt worden. Die Übergangsregierung ist paritätisch besetzt - 17 Mitglieder der Partei
Salihs und 17 Mitglieder des Oppositionsbündnisses -,
und es gibt eine Vereinbarung über den Abzug der regulären und der oppositionellen bewaffneten Kräfte. All
das sind wichtige Voraussetzungen, um Gewalt zu vermeiden.
Das jemenitische Parlament hat im Januar den Weg
für die formale Ablösung Salihs freigemacht. Die Präsidentschaftswahlen am 21. Februar 2012 sind ordnungsgemäß abgelaufen. Nun muss Präsident Hadi als
Kompromisskandidat die zweite Phase des Transformationsprozesses einleiten. Sicherlich muss die internationale Gemeinschaft mit hoher Aufmerksamkeit weiter auf
die Entwicklung im Jemen achten. Wir brauchen den
Druck, den beispielsweise die Hochkommissarin für
Menschenrechte einbringt. Auch der Internationale
Strafgerichtshof kann von sich aus tätig werden, wenn er
Verbrechen gegen die Menschlichkeit feststellt.
Es wird wichtig sein, dass tatsächlich alle Armeeteile
unter ein zentrales Kommando gestellt werden. Dann
wird man zusehen, dass der Verfassungsprozess in Gang
kommt. Er soll ja innerhalb von zwei Jahren zu Parlaments- und Präsidentschaftswahlen führen; das ist auch
für die tief gespaltene Opposition Zeit, sich zu sortieren.
Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass diese
Wahlen frei und fair stattfinden können. Darauf sollten
wir unsere Aufmerksamkeit richten. Deswegen wird der
Jemen weiter im Fokus der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft stehen.
Der Friends-of-Yemen-Prozess ist angesprochen worden. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
wird sich immer wieder damit beschäftigen müssen.
Außerdem wird der Golfkooperationsrat weiterhin eine
konstruktive Rolle spielen müssen, genauso wie die
Europäische Union ihre Rolle als politischer Akteur und
als Geber von humanitärer und rechtsstaatlicher Hilfe
wahrnehmen muss.
Der Beginn des arabischen Frühlings ist jetzt mehr als
ein Jahr her. Man könnte versucht sein, die weitere Entwicklung mit Skepsis zu betrachten. Wir sehen, dass im
Jemen die Familie von Salih weiterhin einflussreiche
Posten besetzt. In Syrien richtet das Regime Assad
gerade ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung an. In
Tunesien und Ägypten haben die Islamisten die Wahlen
gewonnen. Insbesondere in Ägypten stagniert die Entwicklung: Die Arbeitslosigkeit ist unverändert hoch, und
der Oberste Militärrat macht keine Anstalten, die Zügel
aus der Hand zu geben.
So unbefriedigend diese Lage im Einzelnen auch sein
mag: Sie ist dennoch kein Grund, die Hoffnung fahren
zu lassen, ganz im Gegenteil. Die Länder haben natürlich noch eine weite Wegstrecke vor sich, um ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen. Wir sollten diesen
historischen Umbruch nutzen und sie dabei unterstützen.
In Tunesien, Ägypten und in Libyen hat die Bevölkerung
ihre Autokraten zum Rücktritt gedrängt. Im Jemen hat
Salih nach mehr als 30 Jahren Alleinherrschaft die
Macht weitgehend friedlich übergeben, und auch das
Regime in Syrien ist gehörig unter Druck.
Meines Erachtens dürfen wir in diesem Prozess nur
zwei Fehler nicht begehen: Wir dürfen die Menschen vor
Ort nicht mit unseren Erwartungen überfrachten - wir
sollten im Blick haben, wie lange solche Umwälzungsprozesse in Europa gedauert haben -, und wir sollten
nicht der Versuchung erliegen, diese Entwicklung an
westlichen Maßstäben zu messen. Die Länder des arabischen Raums haben ein Recht auf eine eigene Entwicklung. Wir müssen darauf achten, dass rechtsstaatliche
und menschenrechtliche Standards eingehalten werden.
Wir sollten die Menschen nach unseren Kräften unterstützen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8587 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a bis c auf:
a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({0}) gemäß § 56 a GO-BT
Technikfolgenabschätzung ({1})
TA-Projekt: Gefährdung und Verletzbarkeit
moderner Gesellschaften - am Beispiel eines
großräumigen und langandauernden Ausfalls
der Stromversorgung
- Drucksache 17/5672 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2011
- Drucksache 17/8250 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Methode zur Risikoanalyse
im Bevölkerungsschutz 2010
- Drucksache 17/4178 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr
geehrte Kollegen! Wir debattieren heute ein Thema, das
auf den ersten Blick relativ unattraktiv, wenig bewegend
klingt.
({0})
Es geht um die beiden Berichte der Bundesregierung zur
Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz für die Jahre 2010
und 2011 und um einen Technikfolgenabschätzungsbericht des Ausschusses für Bildung und Forschung, der
am Beispiel eines langandauernden und flächendeckenden Stromausfalls die Frage behandelt, wie gefährdet
und verletzbar moderne Gesellschaften sind.
Es geht aus meiner Sicht bei dieser Debatte um ein
zentrales Thema - vielleicht gibt es sogar nur wenige
Aufgaben, die für einen Staat essenzieller sind -, es geht
nämlich um die simple Frage: Wie kann der Staat eine
bedarfs- und risikoorientierte Vorsorge- und Abwehrplanung im Zivil- und Katastrophenschutz gewährleisten?
Um diese Frage wirklich ausreichend beantworten zu
können, ist als Grundlage zunächst einmal eine detaillierte und substanziierte Risikoanalyse erforderlich.
Dafür gibt es im Bereich der Bundesregierung zwei Gremien: den Lenkungsausschuss und den Arbeitskreis „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz Bund“. Ich bin den
Stephan Mayer ({1})
Mitarbeitern und den Vertretern in beiden Gremien sehr
dankbar dafür, dass sie in steter Regelmäßigkeit eine
meines Erachtens außerordentlich wichtige und wertvolle Arbeit ausüben, indem sie sehr detailliert und substanziiert die unterschiedlichen Risiken, die der deutschen Bevölkerung und der deutschen Gesellschaft
drohen, analysieren, bestimmte Eintrittswahrscheinlichkeiten unter die Lupe nehmen und, darauf aufbauend,
konkrete potenzielle Schadensberechnungen vornehmen.
Ich möchte auch den Mitarbeitern des Bundesamtes
für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe für diese
sehr wichtige Arbeit ganz herzlich danken. Ich bin der
festen Überzeugung, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, dass wir es unserer Bevölkerung schuldig
sind, dass wir uns vorausschauend mit möglichen Gefahren und einem damit verbundenen potenziellen bundesrelevanten Schadensausmaß beschäftigen. Die Naturkatastrophen bleiben nicht aus. Schneekatastrophen,
Sturmschäden, Hochwassersituationen gibt es fast jedes
Jahr. Uns bedrohen leider nach wie vor Gefahren durch
chemische, biologische, radioaktive und nukleare Stoffe.
Ausfälle kritischer Infrastrukturen oder von Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind keine Horrorszenarien, sondern können, wie andere Länder leidvoll erfahren mussten, durchaus blanke Realität werden.
Auch vor terroristischen Angriffen bleibt Deutschland
nicht verschont. Wir haben das im letzten Jahr erstmals
erlebt, als ein islamistischer Terrorist am Frankfurter
Flughafen zwei US-Soldaten ermordet hat. Es bedarf
also angepasster Konzepte für eine effektive und effiziente Gefahrenabwehr. Ich bin sehr dankbar, dass der
Ausschuss für Bildung und Forschung ein Szenario aufgegriffen hat, das das Grünbuch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit bereits im Jahr 2008 behandelt hat,
nämlich: Welche Auswirkungen hätte ein großflächiger
und langandauernder Stromausfall in Deutschland?
Ich möchte ebenfalls in aller Deutlichkeit sagen:
Durch die sogenannte Energiewende, durch den schnelleren Fortschritt in das Zeitalter der erneuerbaren
Energien, verbunden mit einer dezentraleren Energieversorgung, ist dieses Szenario mit Sicherheit nicht unwahrscheinlicher geworden.
({2})
Das zeigt sehr deutlich, wie verwundbar unsere moderne
Gesellschaft und wie verwundbar auch unsere deutsche
Volkswirtschaft ist.
Man kann in dem erwähnten Bericht sehr detailliert
nachlesen, welche ganz konkreten Auswirkungen ein
derartiger langandauernder Stromausfall für unsere
Kommunikation, für das Transportwesen, für den Verkehr, aber vor allem auch für die Versorgung mit Wasser
und mit lebenswichtigen Lebensmitteln hätte. Aber auch
der Zugang zum Gesundheitswesen wäre deutlich beeinträchtigt, wenn über mehrere Stunden, vielleicht sogar
über Tage kein Strom in Deutschland verfügbar wäre.
Angesichts dessen ist es wichtig, sich frühzeitig und
ernsthaft mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Es
drohen durchaus Schäden in Milliardenhöhe, ganz zu
schweigen von den Auswirkungen auf die deutsche
Gesellschaft. Meine vorsichtige Prognose ist, dass die
deutsche Bevölkerung, unsere Bundesbürger in diesem
Fall nicht sehr belastbar wären. Ich glaube, es ist umso
wichtiger, dass wir uns frühzeitig mit diesem Thema
auseinandersetzen und - ich sage das hier in aller Ernsthaftigkeit - auch die deutsche Bevölkerung damit konfrontieren.
Ich persönlich habe den Eindruck, dass insbesondere
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs für viele Bundesbürger das Bedrohungsszenario weggefallen ist.
({3})
Die innere Sicherheit war gewährleistet, und von außen
drohte kein Feind mehr. Dies wurde an dem massenhaften Abbau von Sirenen zur Warnung der Bevölkerung
sichtbar. Umso wichtiger ist es, die Diskrepanz zwischen
den objektiv drohenden Schäden und den Bedrohungsszenarien auf der einen Seite und der meines Erachtens
durchaus etwas bedächtigen und naiven Haltung der
Bevölkerung zu diesem Thema auf der anderen Seite abzubauen.
Ich glaube, Deutschland ist hinsichtlich des Bevölkerungsschutzes gut aufgestellt. Wir haben sehr gut ausgestattete, sehr motivierte Bevölkerungsschutz- und Katastrophenschutzorganisationen. Diese werden durch eine
wissenschaftlich hochstehende Expertise beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe begleitet. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen,
dass wir insbesondere in Form des Technischen Hilfswerks eine dezentrale Bevölkerungsschutzorganisation
haben, die hervorragend ausgestattet - natürlich kann
man immer noch mehr machen - und jeden Euro wert
ist, der in sie investiert wird. Ich möchte das gesamte
Haus im Hinblick auf zukünftige Haushaltsberatungen
ermuntern, hier nicht zu sparen. Es mag auf den ersten
Blick einfach erscheinen, im Bereich des Bevölkerungsund Katastrophenschutzes Einsparungen vorzunehmen;
im Endeffekt könnte sich so etwas aber als sehr kostspielig und gefährlich herausstellen.
Das THW ist eine sehr günstige Einheit. Jeder aktive
THW-Helfer kostet den deutschen Steuerzahler pro Jahr
im Durchschnitt 4 500 Euro; da sind alle Kosten einberechnet. Insoweit kann Deutschland froh darüber sein,
dass es 80 000 Helferinnen und Helfer hat, die jeden
Tag, die jede Stunde bereit sind, ihr Leben, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen.
({4})
Sie haben es verdient, dass sie mit entsprechenden Mitteln ausgestattet werden. Daher lautet mein Appell an
uns alle, hier nicht nachzulassen und das Technische
Hilfswerk bei zukünftigen Haushaltsberatungen sehr
wohlwollend zu behandeln.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir erleben gerade ein kleines historisches Ereignis
- ich habe nachgeschaut -: Es ist das erste Mal, dass sich
der Deutsche Bundestag zu einem Tagesordnungspunkt
ausschließlich mit Fragen der zivilen Sicherheit in diesem Lande beschäftigt; bisher geschah dies meist im
Zusammenhang mit Polizei, Militär und Aspekten der
äußeren Sicherheit. Das halte ich für einen ganz wichtigen Schritt. Dies ist übrigens auch im Interesse der vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Technischen
Hilfswerks - einer Bundesanstalt -, des BBK, des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, aber auch der vielen Feuerwehren in diesem
Lande, die wir bei den Haushaltsberatungen - darauf
möchte ich hinweisen - auch nicht vergessen dürfen. Es
kann nicht sein, dass wir auf der einen Seite dem THW
helfen - das ist völlig richtig; das haben wir gemeinsam
beschlossen -, aber auf der anderen Seite das BBK und
die Feuerwehren als Sparbüchse betrachten.
Ich glaube, bezüglich des Bevölkerungsschutzes und
der dafür notwendigen Anstrengungen liegen unsere
Meinungen als Berichterstatter gar nicht so weit auseinander. Vieles, was wir auf den Weg gebracht haben
und worüber wir jetzt auch im Parlament debattieren,
kam zustande, weil alle, CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne
und Linksfraktion, im Interesse der zivilen Sicherheit
unseres Landes fraktionsübergreifend zusammengearbeitet haben. Das ist bei diesem Thema auch angemessen.
({0})
Der Technikfolgenabschätzungsbericht, das Grünbuch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, aber
auch die vielen länderübergreifenden Katastrophenschutzübungen, kurz LÜKEX genannt, die seit Jahren
vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe durchgeführt werden, wurden angesprochen.
Übrigens, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe, das unter einer rot-grünen Regierung
gegründet wurde, hat diese Übungen angestoßen. Dies
geschah aufgrund der Erfahrungen des 11. September
und der Elbe- und Oderflut. Es ist eine sinnvolle Einrichtung, führt uns aber auch jeden Tag vor Augen, wie verwundbar unsere moderne Industriegesellschaft geworden ist, nämlich in einem Ausmaß, wie wir es uns früher
nur im Kriegsfall hätten vorstellen können.
Ich sage in Gesprächen immer etwas flapsig: Wenn
man abends nicht einschlafen kann, dann zählt man ja
üblicherweise Schäfchen. Man kann sich einmal Gedanken darüber machen, was in unserem Lande alles nicht
mehr funktioniert - einige Beispiele sind genannt worden -, wenn der Strom ausfällt. Ich gebe Ihnen die Garantie: Danach können Sie nicht mehr einschlafen. Weil
das so ist, ist es wichtig, dass sich das Parlament, der
Deutsche Bundestag, mit diesen Themen beschäftigt.
Die Ursachen von Katastrophen sind, wie wir wissen,
vielfältig. Das können Naturereignisse sein, wie wir sie
im Münsterland erlebt haben. Das kann technisches Versagen sein, wie wir es damals bei dem Abschaltfehler an
der Ems erlebt haben. Das können auch Terroranschläge
sein. In den letzten Wochen und Monaten haben wir erfahren, dass es auch menschliche Absichten geben kann,
die im wahrsten Sinne katastrophenauslösend werden
können. Bei den Vorgängen an der Strombörse Leipzig,
die fast dazu geführt hätten, dass das bundesdeutsche
Stromnetz kollabiert wäre, war der Auslöser die Profitgier.
({1})
Auch sie ist in einer komplexen, modernen Industriegesellschaft inzwischen durchaus zu einer möglichen Katastrophenursache geworden.
({2})
Umso wichtiger ist, dafür zu sorgen, dass nichts anbrennt - das gilt übrigens nicht nur für diesen Bereich -,
und sich auf mögliche Katastrophen vorzubereiten.
({3})
Weil Katastrophen nicht vor Ländergrenzen haltmachen, ist es wichtig, im europäischen Konzert zu handeln. Dabei müssen wir zwar den Rahmen unseres Föderalismus beachten, aber so vorgehen, dass es zu einem
möglichst hohen Grad an länderübergreifender Zusammenarbeit und Kooperation zwischen Bund und Ländern
kommt.
Hier haben wir einige Schritte nach vorne gemacht,
etwa im letzten Zivilschutzgesetzänderungsgesetz. Auch
wenn die Länder nicht bereit waren, mehr zu geben, erkennen sie jetzt zumindest an, dass dem Bundesamt für
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und dem
Bund bei entsprechenden Lagen eine koordinierende und
stärker organisierende Funktion zukommen kann; das
gilt übrigens nicht nur in einer Lage, sondern auch in der
Vorbereitung. Das halte ich für extrem wichtig.
Vielleicht am Rande: Dass dem Bundestag über die
Risikoanalysen, die erst am Anfang stehen, zu berichten
ist - momentan geht es ja erst einmal darum, dass gemeinsam mit den Ländern die Methode vereinbart wurde -,
haben wir diesem Gesetz zu verdanken. Darüber möchte
ich zwar nicht unbedingt stolz berichten - das war nämlich eine gemeinsame Leistung der Großen Koalition,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen -, aber doch darauf hinweisen, dass diese Berichtspflicht gegen den erheblichen Widerstand der damaligen Berichterstatterin
der Union ins Gesetz geschrieben worden ist. Dem haben wir es zu verdanken, dass wir heute im Bundestag
über dieses Thema diskutieren. Auch das muss man in
dieser Stunde, in der wir diese Debatte führen, einmal
stolz sagen können.
({4})
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Weil das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe inzwischen eine so
zentrale Funktion übernommen hat, ist es ganz wichtig
- Herr Kollege Mayer, ich nehme Ihr Angebot gerne an -,
interfraktionell dafür zu streiten, dass für den Bevölkerungsschutz in Zukunft Geld in die Hand genommen und
an dieser Stelle nicht gespart wird. Aber ich sage ganz
offen: Das darf nicht nur für das THW gelten - ich weiß,
dass wir beide dort sehr stark engagiert sind -, sondern
muss auch für das BBK gelten, das beim letzten Mal leider ein bisschen bluten musste und nicht, wie das THW,
in die Reihe der Sicherheitsbehörden aufgenommen
wurde. Leider ist beim letzten Mal auch bei der Ausstattung der Feuerwehren und der Hilfsorganisationen, die
wir den Ländern zur Verfügung stellen, gespart worden.
Ich glaube, ein Teil unserer gemeinsamen Anstrengung muss sein, dass wir uns auf künftige Herausforderungen und Gefährdungen vorbereiten. Dabei geht es
nicht mehr nur um die klassischen Hilfsorganisationen.
Ich möchte zitieren, was Major General Michael
Charlton-Weedy vom britischen EPC anlässlich einer
großen internationalen Katastrophenschutzkonferenz in
China zum Katastrophenschutz der Zukunft und zu den
Herausforderungen, die zu bewältigen sind, gesagt hat:
We need new guys with new skills. - Wir brauchen neben den klassischen Katastrophenschutzorganisationen
also auch neue Kräfte mit neuen und anderen Fähigkeiten. Ich glaube, er hat den Nagel auf den Kopf getroffen.
Teile und integrale Bestandteile unseres Katastrophenschutzes sind nicht nur Feuerwehren, Sanitätsorganisationen, das THW und andere, sondern auch solche
Organisationen wie der Deutsche Wetterdienst und die
Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt, die zum
Beispiel bei dem Einsatz in Japan, dessen Beginn sich
jetzt jährt, erhebliche Unterstützungsleistungen für das
THW erbringen konnten, Organisationen, die stärker in
den Bereichen Wissenschaft und Vorbereitung tätig sind,
und Organisationen wie das Deutsche GeoForschungsZentrum. Das alles sind inzwischen Teile unseres Bevölkerungsschutzes. Ich glaube, wir müssen sie auch als integrale Bestandteile dessen verstehen.
Ich bin ganz froh, dass es uns gelungen ist - ich
glaube, der Kollege Notz als jetzt amtierender Vorsitzender des Beirates wird auch darauf eingehen -, aus dem
Parlament heraus eine ganze Reihe von Einrichtungen zu
schaffen, mit denen wir uns überparteilich und über die
Fraktionen hinweg zum Ziel gesetzt haben, die Vorbereitung auf schwierige Lagen und auf die zunehmende Verwundbarkeit unserer Gesellschaft voranzutreiben. In diesem Sinne begreife ich die heutige Debatte als einen sehr
guten Auftakt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere
globalisierte Welt bietet viele Chancen, birgt aber gleichzeitig durchaus auch Risiken. Deshalb gilt es, nicht mit
Angst Politik zu machen, sondern mit kühlem Kopf die
Herausforderungen zu analysieren.
Bedrohungen sind ständigen Wandlungen unterworfen. Regionale Katastrophen können globale Wirkungen
haben, wie sie zum Beispiel Pandemien, Extremwetterlagen und Großschadensereignisse wie Hochwasserfluten und Erdbeben zeigen. Entsprechend steigen die Anforderungen an eine weitsichtige Politik und an einen
effektiven Bevölkerungsschutz. Unsere Gesellschaft ist
vielfältig vernetzt. Gesellschaftspolitische Änderungen
und neue Techniken führen zu einem zunehmenden
Druck auf Sicherheitsstandards und die Verlässlichkeit
der Systeme. Das Krisenmanagement steht vor neuen
Herausforderungen.
Durch die Veränderungen unterliegen wir weiteren
Verwundbarkeiten, insbesondere im Bereich der kritischen Infrastrukturen. Unternehmen mit Versorgungsnetzwerken aus der Energie-, IT- und Telekommunikationsbranche als Lebensnerven unserer heutigen
modernen Gesellschaft können durch kleinste Störungen
ausfallen.
Der TAB-Bericht zum Projekt „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften - am Beispiel eines
großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung“, der von meiner Fraktion angeregt wurde,
legt erstmals wissenschaftlich fundiert die möglichen
Folgen eines solchen Ereignisses im heutigen Deutschland dar. Er schafft eine Diskussionsgrundlage, um sich
neue Gedanken zur Sicherheit unserer Bevölkerung zu
machen - in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
Gerold Reichenbach sprach es schon an: Gerade in diesem Zusammenhang gab es hier einige Initiativen. Herr
von Notz wird sicherlich auch noch darauf eingehen.
Der mehrtägige regionale Stromausfall im Münsterland im Jahr 2005 hat uns zwar in etwa die Folgen erahnen lassen, jedoch hatten die wenigsten die Vorstellung
davon, dass aus einem großräumigen Stromausfall eine
nationale Katastrophe erwachsen kann. Andere Großschadenslagen im In- und Ausland zeigen Ähnliches.
Die Analysen des TAB zeigen, dass der Stromausfall
ein besonders wichtiges Beispiel für kaskadierende
Schadenswirkungen sein kann. Auch aufgrund aktueller
Entwicklungen im Bereich der Energieversorgung erscheint das Risiko von massiven Versorgungsstörungen
der Haushalte, Beeinträchtigungen der Industrieproduktion sowie Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit
nicht gänzlich unwahrscheinlich.
Hartfrid Wolff ({0})
Die verschiedenen Sektoren kritischer Infrastrukturen
sind umfassend von einer kontinuierlichen Stromversorgung abhängig. Es bedürfte einer Mobilisierung aller internen und externen Kräfte des Bevölkerungsschutzes,
um die Auswirkungen zumindest zu mildern. Vollständig beherrschbar sind sie laut TAB-Bericht nicht.
Meine Damen und Herren, der TAB-Bericht ist deshalb so wichtig, weil er uns zeigt, wie verletzlich unsere
Gesellschaft aufgrund unserer Vernetzung und der
Stromabhängigkeit sein kann. Er stellt wichtige Folgenanalysen vor und gibt Hinweise zur Stärkung der Resilienz kritischer Infrastrukturen und zur Optimierung des
Katastrophenmanagements.
Politisch heißt dies, dass wir auch die Präventionsstrategien und die Reaktionsmöglichkeiten deutlich den
neuen Herausforderungen anpassen müssen. So sind wir
dazu aufgerufen, stets neue sicherheitsrelevante Bereiche zu identifizieren und uns immer wieder die Frage
nach einem gesellschaftlich akzeptierten Verhältnis von
Freiheit und Sicherheit zu stellen.
({1})
Es war deshalb richtig, dass der Bund in seinem Zuständigkeitsbereich bereits erste Weichenstellungen unternommen hat; der Kollege Stephan Mayer hat schon
darauf hingewiesen. So hat diese Koalition dafür gesorgt, dass zum Beispiel das Technische Hilfswerk als
Sicherheitsbehörde anerkannt wurde und dass in Zukunft
gerade der Einsatz von einer Vielzahl von ehrenamtlichen Kräften eine bessere Unterstützung erhält.
({2})
Das Engagement aller Ehrenamtlichen im Bevölkerungsschutz für unser aller Sicherheit ist beispielhaft in
Deutschland.
Für den Katastrophenschutz sind grundsätzlich allein
die Länder zuständig; nur für den Zivilschutz im Verteidigungsfall hat der Bund eine Kompetenz. Großschadenslagen wie ein flächendeckender Stromausfall machen aber nicht vor Ländergrenzen halt. Zuständigkeiten
und Ressortdenken helfen nicht, wenn es um schnelle
Entscheidungen im Notfall und um den Aufbau moderner Reaktionskräfte geht.
Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion mit dem Inspekteur für den Bevölkerungsschutz eine Koordinationsinstanz der Länder vorgeschlagen. Der Idee liegt
zugrunde, dass wir - gegebenenfalls über einen Staatsvertrag zwischen Ländern und Bund - zum Beispiel in
der Ausstattung oder Ausbildung auch für die vielen ehrenamtlichen Kräfte im Bevölkerungsschutz bessere Voraussetzungen schaffen können.
({3})
Bessere Koordination statt Ressortegoismen, schnellere
Reaktionen statt langes Warten auf Entscheidungen, vernetztes Denken über Ländergrenzen hinweg statt Eindimensionalität in einer vernetzten Welt, das ist meines
Erachtens die Zukunft im Bevölkerungsschutz.
({4})
Die Bevorratung mit Medikamenten, die Aufklärung
der Bevölkerung, die Katastrophenschutzforschung, eine
gezielte Alarmierung der Bevölkerung oder die einheitliche Beschaffung sowie auch die Ausbildung und Fortbildung vielfach ehrenamtlicher Kräfte brauchen effektive
und effiziente Strukturen. Kommunen, Länder und Bund
müssen enger zusammenarbeiten, um den Menschen im
Ernstfall mehr Sicherheit geben zu können. Wir haben
heute Morgen in einem anderen Zusammenhang über Sicherheit diskutiert. Aber auch hier brauchen wir eine
neue Sicherheitsarchitektur.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Auch ich möchte mich zunächst bei den Autoren der vorliegenden Studie wie auch bei den Praktikern bedanken, die uns ständig beraten. Spätestens jetzt
wissen wir, dass wir für Großschadenslagen wie einem
großflächigen Ausfall der Stromversorgung noch nicht
ausreichend vorbereitet sind. Das gilt es zu ändern, und
zwar, wie wir gehört haben, gemeinsam.
({0})
Fakt ist, dass ein langanhaltender Stromausfall für die
Bundesrepublik eine menschliche und wirtschaftliche
Katastrophe wäre. Denn die Stromversorgung ist Voraussetzung für Internet, Wirtschaft, Handel, Bankwesen
usw. Fällt die Stromversorgung aus, hat das - darüber
muss man sich im Klaren sein - gravierende Folgen unter anderem für die Wasserversorgung und -entsorgung,
die Lebensmittelversorgung und die gesamte elektronische Kommunikation. Manches fällt innerhalb weniger
Stunden aus, anderes spätestens nach wenigen Tagen.
Auch der Katastrophenschutz selbst - das ist sehr wichtig - wäre von einem Stromausfall direkt betroffen.
Diesen hohen Vernetzungsgrad gab es vor 20 Jahren
noch nicht. Darauf müssen wir nun - das haben wir erkannt - schnellstmöglich reagieren. Nicht zuletzt durch
die Studie wissen wir, dass es aktuell erhebliche Defizite
bei der Bewältigung einer solchen Katastrophe gibt.
Ein Beispiel sind die ungeklärten Zuständigkeiten.
Herr Wolff von der FDP hat recht: Die 16 Ländergesetzgebungen bilden einen Flickenteppich, den es zu koordinieren gilt.
Ein zweites Beispiel sind die Rettungskräfte. Es muss
geklärt werden, wie Rettungskräfte in der Zeit eines
Stromausfalls kommunizieren sollen, wenn Handys und
Funk ausgefallen sind. Sehr wichtig sind auch die Ausrüstung und Einsatzbereitschaft des Katastrophenschutzes.
Es ist richtig: Aktuell ist der Katastrophenschutz auf
klassische Unglücke wie Überschwemmungen gut vorbereitet. Aber die Vorsorge für eine atomare Katastrophe, ein großes Chemieunglück oder eben für einen
langanhaltenden, großflächigen Stromausfall ist absolut
unzureichend. Lange hat die Regierung komplexe Szenarien als unwahrscheinlich vom Tisch gewischt. Spätestens seit Fukushima ist aber offensichtlich, dass solche Unglücke auch in Deutschland möglich sind.
Bei uns und unseren Nachbarn gibt es weiter Atomkraftwerke. Sie dürfen daher das Bedrohungspotenzial,
das auch darin liegt, nicht ignorieren.
({1})
Katastrophenschutzpläne und technische Ausrüstung
müssen schnellstmöglich dieser Bedrohungslage angepasst werden. Alles andere wäre fahrlässig.
Ein weiteres Problem: Der Katastrophenschutz in der
Bundesrepublik ist richtigerweise auf Ehrenamtlichkeit
und ziviles Engagement aufgebaut. Auf 100 Ehrenamtliche kommt zum Beispiel bei der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, also dem THW, ein hauptamtlicher
Mitarbeiter. Aber das Ehrenamt ist jetzt zunehmend gefährdet. Gründe sind zum Beispiel hohe berufliche Inanspruchnahme, zu geringe gesellschaftliche Anerkennung
und die Überalterung der Bevölkerung. Das stellt das
Ehrenamt infrage und führt zu Nachwuchssorgen. Auch
das sind Probleme, derer wir uns annehmen müssen.
Durch die Abschaffung der Wehrpflicht zum Beispiel
wurde dem THW eine wichtige Möglichkeit genommen,
junge Menschen langfristig für den Katastrophenschutz
zu begeistern. Denn früher konnten sich junge Menschen, statt Wehrdienst zu leisten, beim THW verpflichten, und viele blieben dann aus Verbundenheit auch
dabei. Das heißt, wir brauchen heute dringender denn je
ein langfristiges Konzept, um den Nachwuchs für den
Katastrophenschutz zu sichern.
({2})
Die Selbsthilfe ist ein ganz entscheidender Faktor im
Katastrophenschutz. Zusammenhalt und gegenseitige
Hilfe der Menschen sind von entscheidender Bedeutung.
Zunehmende soziale Unterschiede und vorhandene Ausgrenzung können im Krisenfall Folgen haben. Stattdessen brauchen wir eine hohe soziale Mobilität, das
Wissen über das richtige Verhalten im Katastrophenfall
auch beim Einzelnen, das man durch das Ehrenamt erlangt, und ein Mindestmaß an materiellen Reserven im
Haushalt. Man muss sich genügend Wasser- und Lebensmittelvorräte im Haus auch leisten können.
Gerade im Katastrophenfall zeigt sich der Zusammenhalt der Gesellschaft. Entsolidarisierung und Egoismus müssen überwunden werden, damit alle Menschen
eine Chance haben. Dabei machen wir gerne mit.
Danke.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konstantin von
Notz von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es hier im
Hause um Katastrophen- und Bevölkerungsschutz geht,
gibt es - das merkt man auch dieser Debatte an - immer
wieder einen sehr bemerkenswerten Konsens zwischen
den Fraktionen, und das ist gut so.
Deswegen treffen wir uns auch mit allen Fraktionen
regelmäßig in dem gemeinsam geschaffenen Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit, dem ZOES, um zusammen
mit Verbänden, Behörden, Wissenschaft und Wirtschaft
genau das zu tun, was auf diesem Feld so wichtig ist,
nämlich mit externem Sachverstand mögliche Risiken
für die Bevölkerung zu identifizieren, Strategien für
Gegenmaßnahmen zu entwerfen oder, am besten, Katastrophen präventiv zu verhindern oder zumindest ihre
Auswirkungen zu minimieren.
({0})
Zugleich geht von FOES und ZOES auch ein Signal
an Millionen von Freiwilligen und Ehrenamtlichen aus,
nämlich das Signal, dass der Bundestag ihnen und ihrer
Arbeit den Rücken stärkt und sich der Bedeutung ihres
Einsatzes für unsere Gesellschaft sehr bewusst ist.
({1})
Gerade beim Bevölkerungsschutz stehen wir als Fraktionen dieses Parlaments gemeinsam in der Verantwortung, laufend kritisch zu hinterfragen, ob wir die richtigen Konzepte verfolgen, ob unsere Behörden optimal
aufgestellt sind und an welchen Stellen nachgebessert
werden muss. Denn es geht unmittelbar um den Schutz
von Menschenleben.
Weil es oft um die Frage von Leben und Tod geht,
werden Gefahren, Defizite, bestimmte Szenarien und
problematische Entwicklungen gerne verdrängt. Deswegen müssen wir als Parlamentarier auch Stachel gegen
diese Verdrängungsmechanismen sein. Bestehende Widerstände gegen beängstigende Szenarien und Ignoranz
aufgrund einer tendenziellen Nichtvorhersagbarkeit von
Ereignissen müssen identifiziert, angesprochen und
überwunden werden.
Das gilt auch und gerade, wenn eine Bundesregierung
allzu bereitwillig den Satz verbreitet: Wir sind im Bevölkerungsschutz gut aufgestellt.
({2})
Das ist grundsätzlich nicht verkehrt,
({3})
aber die Analyse muss darüber hinausgehen. Denn ist
ein solch selbstzufriedenes Zurücklehnen im Politischen
schon generell gefährlich: Im Katastrophenschutz ist es
höchstgefährlich.
Eine schwarz-gelbe Koalition, die nicht eingreift,
sondern auch noch Flankenschutz gewährt, wenn die
Länder mit Zähnen und Klauen ihre Zuständigkeiten
verteidigen, verweigert sich sträflich.
({4})
Wir befinden uns in einem epochalen Wandel, der
auch die Risikobewertung des Bevölkerungsschutzes
erfasst. Das ist hier angesprochen worden. Wir leben
heute in vielerlei Infrastrukturen, weltweit vernetzt, und
werden direkt von dem betroffen, was anderswo geschieht. Katastrophen orientieren sich eben weder an
Bundes- noch an Landesgrenzen. Wir brauchen deshalb
weitere Anstrengungen zu einer sinnvollen Vereinheitlichung und Koordination.
({5})
Ein weiteres grünes Credo im Umgang mit dem Katastrophenschutz wird stets die Frage nach den Ursachen
sein. Die richtige Prävention setzt dann in ganz anderen
Politikfeldern an, zum Beispiel beim Klimaschutz. Hier
bei uns wird glücklicherweise nicht ernsthaft bestritten,
dass ein von Menschen verursachter Klimawandel eine
reale Bedrohung darstellt, auch für Europa und Deutschland. Hier gilt es, sowohl vorzusorgen als auch die Ursachen noch entschiedener zu bekämpfen.
({6})
Das eindringliche Stromausfallszenario des Büros für
Technikfolgenabschätzung stellt in dieser Hinsicht einen
Meilenstein dar. Es stützt die grüne Forderung nach einer Dezentralisierung in der Energiewende. Herr Mayer,
es geht nicht in die Richtung, die von Ihnen angesprochen worden ist, sondern genau in die andere Richtung.
Ich zitiere aus der Studie:
Energieautarkie durch Eigenenergieproduktion sowie Inselnetztauglichkeit der dezentralen Stromerzeuger würden im Katastrophenfall einen Beitrag
- einen Beitrag! zur Versorgung nach einem Stromausfall leisten.
Deswegen ist die Energiewende gut für die Versorgungssicherheit.
({7})
Nachhaltigkeitskonzepte in den unterschiedlichsten
Bereichen bringen viel mehr für den Bevölkerungsschutz, als unser immer noch primär auf Nachsorge angelegter Schutzapparat tatsächlich leisten kann.
Denken Sie bitte an die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - Unser Handeln systematisch von den möglichen katastrophalen Folgen her zu bedenken - auch das zählt zu den zentralen Aufgaben des
Bevölkerungsschutzes, wie wir Grünen ihn verstehen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. Thomas Feist von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Haben Sie eine Taschenlampe,
({0})
Einweckgläser, Konserven im Keller
({1})
oder ein batteriebetriebenes Radio?
({2})
Wenn ja, dann sind Sie die Glücklichen; denn wenn es
zu einem langanhaltenden und großflächigen Stromausfall kommt - das steht in dem Bericht, über den wir
heute reden -, dann wäre es gut, wenn man so etwas hat,
um miteinander kommunizieren zu können.
Dieser Bericht macht auf jeden Fall deutlich - nachdem er auch öffentlich zur Kenntnis genommen worden
ist -, dass wir hier in Deutschland leben, im sicheren
Schoße Europas und nicht in Amerika; denn in Amerika
- da bin ich mir hundertprozentig sicher - hätte die Veröffentlichung eines solchen Berichts dazu geführt, dass
Baumärkte leergekauft und Batterien und Transistorradios aufgekauft worden wären. Einweckgläser hätte man
woanders hergenommen.
Die elektrifizierte Gesellschaft - in der bewegen wir
uns - stellt die Voraussetzungen für alles andere. Freiheit
durch Technik - das hat der Bericht sehr deutlich gezeigt heißt aber auch Abhängigkeit von Technik. Ich finde gerade an diesem Bericht sehr gut, dass Technikfolgenabschätzung, wie sie sein sollte, hier zum Ausdruck
kommt. Es ist keine Technikfeindlichkeit, aber auch
keine Technikgläubigkeit zu finden. Es wird vielmehr
genau geschaut, wo die Risiken unserer Freiheit und wo
die Verantwortung, die wir haben, liegen.
({3})
Die Klimaverträglichkeit ist ein wichtiges Kriterium
bei der Stromerzeugung.
({4})
Allerdings muss ich sagen: Wir sollten die Bezahlbarkeit
nicht vergessen. Grundlage von allem ist die Versorgungssicherheit. Die Versorgungssicherheit - das zeigt
dieser Bericht - ist etwas, was wir in dieser Trias nicht
gleichwertig behandeln sollten, sondern was darüberstehen müsste. Zumindest ist das meine Meinung.
({5})
- Sie haben mir etwas vorgelesen. Der Bericht ist aber
etwas umfangreicher.
({6})
Die Insellösung ist - da haben Sie völlig recht - im
Katastrophenfall wichtig. Aber normalerweise leben wir
nicht im Katastrophenfall.
({7})
Es gibt Städte in Deutschland, die auf diesen Katastrophenfall hervorragend vorbereitet sind,
({8})
zum Beispiel Willich - von dort kommt mein Kollege
Schummer ({9})
mit Geothermie und einem hervorragenden Stadtwerkekonzept. Das muss man durchaus einmal erwähnen;
denn so etwas hilft uns.
({10})
Die Abhängigkeit der Gesellschaft von kritischen Infrastrukturen hat sich anhand verschiedener Katastrophen und technischer Störungen in den letzten Jahren
immer wieder gezeigt. Das ist deutlich geworden; Vorredner sind darauf eingegangen. Die erhöhte Gefahr von
Stromausfällen wurde - und das ist zu bedenken - in den
letzten Wochen und Monaten nicht nur von den Medien
thematisiert, sondern vor allen Dingen auch von den
Netzbetreibern, die uns eindringlich davor gewarnt haben, dass wir es nicht dazu kommen lassen dürfen, dass
die Netze durch Spannungsspitzen überlastet werden
und dadurch großflächige und eventuell langanhaltende
Stromausfälle resultieren.
Von daher - da bin ich als Mitglied des Bildungs- und
Forschungsausschusses ganz uneitel - lobe ich an dieser
Stelle die Weitsicht des Innenausschusses. Er hat nämlich diesen Bericht in Auftrag gegeben. Das ist einen besonderen Applaus wert für den Innenausschuss und seine
Weisheit.
({11})
Der Bericht hat deutlich gemacht, dass noch erheblicher Forschungsbedarf besteht, aber eben nicht nur in
technischer Hinsicht, sondern vor allen Dingen auch in
den Geistes- und Sozialwissenschaften. Wir müssen
nämlich nicht nur sagen, was technisch möglich ist, sondern auch, was für die Bevölkerung akzeptabel ist. Hier
brauchen wir mehr Sozialforschung. Wir müssen mehr
darüber lernen, wie unsere Leute ticken.
Aber eines - das fand ich sehr beruhigend in diesem
Bericht - steht auch fest: Die Leute reagieren im Katastrophenfall doch nicht so unüberlegt, wie man es sich
vorstellen würde. Der Bericht stellt nämlich auch fest:
Menschen sind in Katastrophen eben nicht nur Opfer,
sondern sie sind auch Helfer. Genau darin zeigt sich
auch die gesellschaftliche Solidarität in unserem Land.
Auch das ist ein sehr hohes und beklatschenswertes Gut.
({12})
Weil ich hier vorne gerade unseren Parlamentarischen
Staatssekretär Thomas Rachel sehe, möchte ich es nicht
versäumen, darauf hinzuweisen, dass unter anderem genau solche Fragestellungen, wie sie im Bericht formuliert worden sind, in das Rahmenprogramm „Forschung
für die zivile Sicherheit“ aufgenommen worden sind.
Um einfach einmal eine Zahl zu nennen: In den letzten
fünf Jahren - so lange gibt es das Programm ja schon wurden immerhin 250 Millionen Euro in diesen Bereich
investiert.
Wir haben diesen Bericht nicht nur gelesen, sondern
nehmen ihn ernst. Wir beschäftigen uns mit einer ganzen
Reihe von Sicherheitsszenarien, in denen es um Versorgungssicherheit geht. In der zweiten Programmphase
werden wir uns vor allem mit den Fragen von Prävention
und Reaktion beschäftigen.
Abschließend möchte ich noch hinzufügen: Für viele
Bürger des Landes, aus dem unter anderem auch ich
komme, wäre angesichts der elektrisch gesicherten
Grenze und der Selbstschussanlagen ein langanhaltender
und großflächiger Stromausfall ein Segen gewesen. Ich
bin froh, dass wir heute darüber anders diskutieren.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5672, 17/8250 und 17/4178 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutsches Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in internationalen
Friedensmissionen stärken und ausbauen
- Drucksache 17/8603 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mehr Mitsprache des Parlaments bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei
- Drucksache 17/8381 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Edelgard Bulmahn von der
SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Vor wenigen Minuten haben wir
hier im Deutschen Bundestag über den Neuanfang im Jemen nach einer wirklich furchtbaren Zeit der Unterdrückung und blutiger Auseinandersetzungen diskutiert.
Wie gefährdet der Friede ist, haben wir nicht nur in dieser Debatte wieder miteinander erörtert und diskutiert,
sondern das wird auch im aktuellen Conflict Barometer
2011 des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung unterstrichen, in dem darauf hingewiesen
wird, dass es im letzten Jahr 388 gewaltsame Konflikte
weltweit gegeben hat. Davon kann man 20 sogar als
kriegerische Auseinandersetzungen bezeichnen.
Dieses Konfliktbarometer zeigt noch ein Zweites,
nämlich die Vielfalt der gewaltsamen Konflikte. Ethnische und religiöse Spannungen, Hunger und Armut, ein
Mangel an Freiheit, Verteilungsgerechtigkeit und Demokratie sowie das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit sind genauso Ursachen für diese Konflikte wie zum Beispiel der
Raubbau an Ressourcen oder die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. All das zeigt, wie gefährdet der
Friede in vielen Regionen unserer Welt ist.
Deshalb ist das Thema, das wir heute diskutieren,
nämlich der Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in
internationalen Friedensmissionen, sehr wichtig. Denn
eine Vielzahl dieser Konflikte kann gar nicht anders gelöst werden. Hier sind Polizeieinsätze sehr wichtig, um
wieder friedensähnliche Verhältnisse und friedensähnliche
Zustände herzustellen.
Die globale und regionale Sicherheitslage wird heute
eben nicht mehr durch den Antagonismus zweier sich
feindlich gegenüberstehender Blöcke bedroht, wie wir
das noch in den 70er- und 80er- und teilweise sogar noch
in den 90er-Jahren erlebt haben, sondern durch Antagonismen innerhalb von Staaten und Regionen. Vor diesem
Hintergrund spielt der Dienst von Polizistinnen und Polizisten in internationalen Friedensmissionen eine große
Rolle.
Gerade in den Krisenländern werden nämlich immer
wieder die Menschenrechte verletzt. Rechtsstaatlichkeit
wiederherzustellen, ist eine große Herausforderung. Wir
brauchen also gut ausgebildete Polizisten, um den Staatsaufbau zu unterstützen, den Schutz der Menschenrechte
zu gewährleisten und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen.
Beim Einsatz der Polizei - das sage ich gerade in
Richtung der Linken - geht es nicht darum, dass von den
Polizisten militärische Aufgaben übernommen werden.
Das ist nicht das Ziel, und das darf auch nicht geschehen. Vielmehr geht es darum, Sicherheit für die Zivilbevölkerung zu schaffen
({0})
und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.
Die deutsche Polizei genießt international eine sehr
hohe Anerkennung. Die Kolleginnen und Kollegen von
der Polizei sind - das erfahren wir immer wieder - bestens vorbereitet und hervorragend ausgebildet. Das sind
Stärken, die sowohl von den internationalen Organisationen als auch von den Ländern, in die die Polizisten entsandt werden, außerordentlich geschätzt werden. Darüber hinaus - das ist mir wichtig, und das ist auch für
die internationale Anerkennung sehr wichtig - ist die
deutsche Polizei aufgrund ihres Selbstverständnisses und
ihrer gesellschaftlichen Einbindung in einer besonderen
Weise geeignet, wichtige Unterstützung für eine demokratische Entwicklung in Krisenländern zu geben. Das
ist uns ein sehr wichtiges Anliegen.
({1})
Es gibt einen weiteren Aspekt, warum es so wichtig
ist, dass wir genügend Polizisten zur Verfügung stellen.
Die Nachfrage nach Experten wie Forensikern und Spezialisten für Datensicherheit oder für die Bekämpfung
der organisierten Kriminalität ist gerade in diesen Krisenländern besonders groß.
Deutschland beteiligt sich seit 1989 an internationalen Friedensmissionen und hat seitdem 5 000 Polizistinnen und Polizisten entsandt. Wenn wir uns die Daten genauer anschauen, müssen wir feststellen, dass die Zahl
der entsandten Polizistinnen und Polizisten über die
Jahre kontinuierlich abgenommen und nicht zugenommen hat, was eigentlich dem Bedarf entsprechen würde.
Sie hat kontinuierlich abgenommen. Wenn man es sich
dann noch einmal genauer anschaut, stellt man fest, dass
Deutschland zurzeit gerade einmal 11 der 14 495 Polizistinnen und Polizisten in den Einsätzen der UN stellt.
Die anderen europäischen Länder sind da im Übrigen
nicht viel besser. Großbritannien stellt nur 2, Frankreich
stellt 35 Beamte. Die europäischen Länder sind also
nicht wirklich ein Vorbild. Die meisten Polizistinnen und
Polizisten kommen aus Ländern wie Bangladesch und
Jordanien.
Das macht eines deutlich: Deutschland tritt zwar international als Geldgeber auf. Es wird aber seiner konkreten Verantwortung in den Missionen nur unzureichend gerecht.
Wenn man nach den Gründen fragt, dann zeigt sich
eines sehr deutlich: Das Prinzip, sich freiwillig für einen
Einsatz im Ausland zu entscheiden, ist richtig und muss
auch beibehalten werden. Darin sind wir uns - das ist
ganz wichtig - mit den Innenpolitikern einig. Die Ursache liegt auch nicht, wie viele vielleicht glauben, darin,
dass zu wenig Interesse und zu wenig Bereitschaft aufseiten der Polizei vorhanden sind. Auch das ist nicht der
Fall. Deshalb will ich den Polizistinnen und Polizisten
ausdrücklich für die Erfüllung ihrer wichtigen Aufgaben
danken.
({2})
Es liegt auch nicht daran, wie vielleicht einige denken,
dass es an finanziellen Anreizen mangelt und dass nicht
genug Geld gezahlt wird. Das ist für die Polizistinnen
und Polizisten kein Grund.
Was fehlt, sind verlässliche Karriereperspektiven
nach ihrer Rückkehr. Dieser wesentliche Punkt wird immer wieder genannt. Was fehlt, ist die fachliche und vor
allen Dingen auch die öffentliche Anerkennung ihrer Arbeit. Was fehlt, ist eine bessere Vereinbarkeit von Beruf
und Familie unter den besonderen Bedingungen eines
Auslandseinsatzes. Das sind die Punkte, bei denen es
Probleme gibt und wo wir zu Verbesserungen bzw. zu
Veränderungen kommen müssen.
Es gibt einen zweiten großen Problembereich, nämlich die strukturellen Hürden in der Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern. Für Polizeieinsätze im
Ausland werden kaum zusätzliche Ressourcen bereitgestellt. Das müssen wir ändern, wenn wir unseren internationalen Verpflichtungen wirklich ernsthaft nachkommen wollen.
({3})
Solange Auslandseinsätze immer nur eine Zusatzbelastung darstellen und mit einer vermehrten Belastung der
Kolleginnen und Kollegen einhergehen, die hier vor Ort
ihren Dienst tun, wird es keine zufriedenstellenden Lösungen geben.
Die Bundesregierung ist daher aufgefordert - genau
diese Forderung erheben wir in unserem Antrag -, auf
die Länder zuzugehen und in einer umfassenden BundLänder-Vereinbarung geeignete finanzielle wie organisatorische Strukturen zu schaffen, die sicherstellen, dass
die Bundesrepublik ihren internationalen Verpflichtungen im ausreichenden Maße gerecht werden kann. Solche Bund-Länder-Vereinbarungen sind im Übrigen im
Wissenschaftsbereich gang und gäbe. Genau so etwas
brauchen wir auch an dieser Stelle. Das ist eine Möglichkeit, in unserem föderalen System einen vernünftigen
und richtigen Weg einzuschlagen, ohne die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten des Bundes und der Länder
infrage zu stellen und trotzdem zu guten gesamtstaatlichen Lösungen zu kommen.
Wir haben in unserem Antrag beschrieben, was eine
solche Vereinbarung enthalten soll, damit sie den bestehenden Problemen gerecht wird. Dazu gehören die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel, aber auch
zum Beispiel die Schaffung eines Pools von virtuellen
Planstellen, die Entwicklung gemeinsamer Ausbildungsformate und -inhalte und entsprechende Änderungen im
Dienstrecht, um Karriereperspektiven zu verbessern, wie
ich es eben beschrieben habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend feststellen: Ich hoffe sehr, dass die Gemeinsamkeit im Deutschen Bundestag hinsichtlich internationaler Polizeieinsätze auch dann vorhanden ist, wenn es
darum geht, die konkreten Grundlagen zu verbessern,
damit wir nicht nur Vereinbarungen unterzeichnen, sondern sie auch ausfüllen können. Damit können wir den
berechtigten Wünschen und Anliegen der Polizistinnen
und Polizisten, die für uns im Ausland diese wichtige
Aufgabe erfüllen, auch endlich gerecht werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Armin Schuster von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Vor drei Wochen haben wir hier über einen
Antrag der Linken debattiert, in dem der Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan gefordert wurde.
({0})
Ich habe diesen Antrag nicht nur abgelehnt, sondern ich
habe schon damals das Gegenteil gefordert. Ich trete
nämlich für eine Ausweitung des deutschen Engagements bei internationalen Friedensmissionen ein. Der
heute zu beratende Antrag der SPD ist daher nichts fulminant Neues, weist aber gedanklich in die richtige
Richtung. Das möchte ich deutlich sagen.
Ein verstärktes deutsches Engagement wäre allerdings eine politisch nicht unerheblich neue Weichenstellung. Immerhin wären wir dann bereit, mehr zivile deutArmin Schuster ({1})
sche Experten auch in Krisengebiete wie zum Beispiel
den Jemen - Frau Bulmahn hat es angesprochen - oder
auch nach Afghanistan oder Libyen zu entsenden. Nach
den Erfahrungen der letzten Jahre sehe ich dafür noch
keine stabile parlamentarische Zustimmung bei der Opposition und auch nicht in allen Ländern.
Deshalb sollten wir aus meiner Sicht zwei zentrale
Fragen beantworten: Wohin wollen wir sicherheitspolitisch und warum? Es geht mir also vor den operativen
Umsetzungsdetails, die Frau Bulmahn genannt hat, zunächst einmal um das Ziel und den politischen Auftrag.
Hier sehe ich sogar weiter reichende Perspektiven als
die, die im Antrag der SPD stehen.
Verteidigungsminister Thomas de Maizière betonte in
der vergangenen Woche in einer Grundsatzrede an der
Harvard-Universität, dass ein ökonomisch starkes, jedoch sicherheitspolitisch schwaches Deutschland nur bis
1990 von seinen Partnern gewünscht war. Viel nehmen
und wenig geben, das war gestern. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde die zunehmende Selbstbeschäftigung der wichtigsten Mitgliedsländer Europas,
vor allem auch Deutschlands, international kritisiert. Wir
sind längst zum gleichberechtigten Bündnispartner geworden, ob uns das gefällt oder nicht. In einem Bündnis
heißt „gleichberechtigt“ auch „gleichverpflichtet“. Uns
muss bewusst sein, dass die USA ihr sicherheitspolitisches Engagement aus politischen, vor allem aber aus
wirtschaftlichen Gründen neu ausrichten und konzentrieren werden. Auch deshalb wird Deutschland als stärkste
Volkswirtschaft in Europa höhere Erwartungen der
NATO erfüllen und mehr Verantwortung übernehmen
müssen. Zusammengefasst heißt das für mich: Entweder
gestalten wir unsere künftige Sicherheitspolitik selbst,
oder wir werden zunehmend gestaltet.
({2})
- Herr Wieland, das ist jetzt zu viel der Ehre für mich.
Beim Thema Friedensmissionen bieten sich aus meiner Sicht dafür drei Aufgabenbereiche: erstens der militärische, zweitens der zivil-militärische, drittens der zivile Aufgabenbereich. Die militärischen Perspektiven
sind heute nicht unser Thema. Beim zivil-militärischen
Bereich sehe ich erhebliche deutsche Potenziale. Das ist
aber ein Thema für eine eigene Debatte, die ich sehr interessant finden würde. Wir bleiben beim zivilen Aufbau.
Friedensmissionen sollten meines Erachtens von Anfang an strategisch dreistufig geplant werden: militärisch
Frieden schaffen, zivil-militärisch stabilisieren und in
der zivilen Phase demokratische Strukturen aufbauen.
An dieser Schnittstelle sehe ich die große Chance
Deutschlands. Hier gehe ich über Ihren Antrag hinaus.
Natürlich ist die Aufbauhilfe durch deutsche Polizisten,
also die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen und innerer Sicherheit, ein Löwenanteil bei einer Mission. Aber
- Sie haben es selbst genannt - Infrastrukturunterstützung, Good Governance und der Aufbau moderner Verwaltungs- und Rechtsstrukturen in einem Land gehören
für mich systematisch zu einem Gesamtpaket. Nach den
Erfahrungen, die wir sammeln, betrifft dies nicht nur die
Polizei.
Auf diese dritte Phase muss man bei einem Einsatz
von vornherein strategisch vorbereitet sein. In der Vergangenheit waren wir es für diese dritte Phase fast nie
und schon gar nicht so integrativ, wie ich es gerade beschrieben habe. Das ist für mich die große Chance
Deutschlands - es geht dabei nicht nur um die Polizei -:
Mit unserer Kompetenz und unserem international hohen Renommee sollten wir der NATO, den Vereinten
Nationen oder der EU integrative Lösungskonzepte für
diese dritte Phase anbieten sowie ständig rekrutierbare
Expertenpools, einheitlich geführt und interdisziplinär
aus allen Ressorts zusammengestellt. Das muss das Angebot sein, das wir unseren Bündnispartnern - die Polizei hat dabei den Löwenanteil zu leisten - bieten. Ich
glaube, damit hätten wir ein Alleinstellungsmerkmal in
Europa, vielleicht sogar weltweit, und könnten damit
eine Art Bündnisverpflichtung erfüllen, die zu unserer
historischen Verantwortung sehr gut passt.
Ich habe bei meiner letzten Rede - das ist jetzt nicht
Thomas de Maizière, Herr Wieland; das bin ich ({3})
von „German Quick Stabilisation Force“ gesprochen.
Ich will mich nicht selbst überhöhen, sondern Ihnen einfach nur einen Slogan bieten. Er lässt sich leicht einprägen. Im Militärischen kennen wir solche Begriffe. Aber
was ist mit der zivilen Komponente? Sollten wir nicht in
der Lage sein, mit Ministern wie Herrn Niebel, Herrn
de Maizière, Herrn Westerwelle oder Herrn Friedrich im
Rahmen deren Strategie und Einstellung ein solches systematisches Gesamtpaket zu schnüren?
({4})
Die Regierung bietet dafür die richtigen Leute.
Wer diese Vision hat, dem geht der Antrag der SPD
nicht weit genug. Frau Bulmahn, ich möchte Ihnen sagen: Sie haben vieles beschrieben, mit dessen Umsetzung wir in der Großen Koalition - Ihr Antrag klingt da
ein bisschen alt - schon begonnen haben.
({5})
Ich dekliniere Ihnen jetzt nicht sämtliche Punkte durch,
wo wir schon etwas getan haben. In dieser Legislaturperiode haben wir in unserer Koalition unter anderem
den Personalgewinnungszuschlag und die Auslandsverpflichtungsprämie eingeführt. Wir arbeiten an einer ganzen Reihe ähnlicher Ideen.
({6})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Nehmen Sie sich Zeit,
und besprechen Sie sich mit den Kollegen der SPD aus
dem Innenausschuss.
Armin Schuster ({7})
({8})
Dort höre ich teilweise sehr zweifelhafte Kommentare
über den Afghanistan-Einsatz. Ich glaube, Sie haben
diesbezüglich noch genügend in der eigenen Fraktion zu
tun. Wir wollen solche Ziele durchsetzen. Wenn Sie dabei sind - gut.
Frau Jelpke, zu Ihrem Antrag: Sie wollen im Parlament über Polizeimissionen sprechen. Sie wollen einen
Parlamentsvorbehalt. Das haben Sie zum wiederholten
Male vorgetragen. Wir aber bleiben bei unserer Meinung: Nein, wir werden Ihrem Antrag wieder nicht zustimmen. Das Parlament kann seine Kontrollfunktion
auch heute schon ausüben. Wir werden über jeden Einsatz unterrichtet. Wir können jeden Einsatz von hier aus
beenden. Was soll das Ganze also?
Ich werte in allem immer das Positive. Dass Sie heute
über diese Einsätze reden wollen, ist ein deutlicher Fortschritt zur letzten Debatte. Da wollten Sie nicht einmal,
dass wir über solche Einsätze reden.
Jetzt schließe ich
Ja, bitte.
- mit einem Zitat des Verteidigungsministers, Herr
Wieland:
Angst vor der eigenen Stärke zu haben, ist keine
Leitlinie deutscher Politik. … Verantwortung … im
Bündnis, ohne unsere Geschichte zu vergessen, das
eignet sich eher als Leitlinie.
Genau dafür habe ich Ihnen einen Konzeptvorschlag gemacht.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Antrag mehr Mitsprache
im Parlament bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei.
({0})
Notwendig ist das aus zwei Gründen - das haben wir
heute schon von den Vorrednern gehört -: zum einen,
weil die Bedeutung solcher Einsätze der Bundespolizei
immer mehr zunimmt - das ist übrigens eine Tatsache,
die wir politisch und verfassungsrechtlich höchst problematisch finden -,
({1})
zum anderen, weil der Bundestag kaum Kontrollbefugnisse über diese Polizeieinsätze hat. So wie ich das im
SPD-Antrag gelesen habe, will die SPD das auch gar
nicht ändern. Die Linke aber sagt: Parlament und Öffentlichkeit müssen über diese Einsätze informiert werden.
Vor allen Dingen muss das Parlament eine Möglichkeit
haben, einzugreifen, wenn es meint, die Polizei zurückholen zu müssen.
({2})
Im Moment kann die Bundesregierung nach Belieben
Polizisten hinschicken, wohin sie will. Nur bei Missionen im Zusammenhang mit der UNO oder der OSZE
muss sie das Parlament informieren, und nur dann haben
wir ein Rückholrecht. Das gilt aber schon nicht mehr für
bilaterale Missionen, wenn etwa die Bundespolizei in
Straßburg mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgeht oder wenn deutsche Polizisten für menschenrechtsfeindliche Regime Ausbildungsbeihilfe leisten.
Beispielsweise haben wir im Parlament nur zufällig
erfahren, dass die Bundespolizei seit 2008 Ausbildungsbeihilfe für das diktatorische Regime von Saudi-Arabien
an den dortigen Grenzen leistet. Das Parlament wurde
aber erst 2011 darüber informiert, und zwar über die Medien und nicht über das Ministerium. Das kann einfach
nicht sein. Solche Einsätze müssen einer klaren parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Denn sonst wird
meiner Meinung nach das Regierungshandeln zu einem
reinen Papiertiger degradiert.
Die Gewerkschaft der Polizei fordert - das ist auch
für die SPD sehr interessant; denn ich denke, Sie fallen
mit Ihrem Antrag weit dahinter zurück -:
Für alle Polizeimissionen und -einsätze, seien sie
bilateral oder international, muss der Deutsche
Bundestag ein Rückholrecht … und … jederzeit das
Recht zur Beendigung … haben.
In diesem Zusammenhang finde ich es schon interessant, dass die SPD in ihrem Antrag weit dahinter zurückbleibt und sich nur mit einer besseren Einbindung des
Parlaments begnügt. Wir dagegen, meine Damen und
Herren von der SPD, wollen Entscheidungsbefugnisse
des Parlamentes, und das ist ein wesentlicher Unterschied.
({3})
Die Linke lehnt die Zunahme deutscher Polizeieinsätze bzw. deutscher Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe
ab. Auch darin unterscheiden wir uns von der SPD, die
offenbar eine Expansion solcher Einsätze anstrebt; das
werden wir im Ausschuss weiter diskutieren.
Unsere Skepsis gründet sich auf der Erfahrung, dass
Polizeieinsätze häufig nach Kriegseinsätzen zur Sicherung prowestlicher Regime erfolgen. Deshalb sind Polizisten zum Beispiel in Afghanistan. Deshalb sind Polizisten zum Beispiel nach dem Irak-Krieg in den Irak
geschickt worden. Sie werden wohl in der nächsten Zeit
auch nach Libyen geschickt.
Ich will darauf hinweisen, dass gerade die beratende
Stiftung Wissenschaft und Politik, also eine halbstaatliche Denkfabrik, immer wieder einfordert, dass die
Übungen der Bundespolizei auch zusammen mit ausländischen Paramilitärs stattfinden dürfen.
Frau Bulmahn, in Bezug auf das von Ihnen angeführte
Argument, diese Einsätze dienten gleichsam dem Export
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, möchte ich Sie
darauf hinweisen, dass die Bundespolizei beispielsweise
beim Einsatz in Saudi-Arabien - ich kann Ihnen gern das
entsprechende Papier zukommen lassen - die Themen
Demokratie und Frauenrechte explizit aus dem Schulungsprogramm herausgenommen hat, um keine Konfrontation mit dem dortigen Regime herauszufordern.
Ich halte es schon für einen Skandal,
({4})
wenn dann davon geredet wird, dass diese Einsätze der
Förderung von Demokratie und Menschenrechten dienen.
Wer sich unserem Antrag entgegenstellt, hat wahrscheinlich Angst, dass solche Einsätze, wenn sie publik
werden, auf Widerstand bzw. Ablehnung in der Bevölkerung stoßen. Wir sind der Meinung: Die Geheimniskrämerei um Auslandseinsätze der Polizei muss endlich beendet werden. Deswegen freuen wir uns auf eine Debatte
im Ausschuss, vielleicht auch auf eine Anhörung.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Spatz von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir, die wir im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ schon lange über
dieses Thema nachdenken, haben die Erkenntnis gemeinsam, dass sich der Charakter der Konflikte maßgeblich geändert hat - Frau Bulmahn hat das schon angesprochen - und sich diese Andersartigkeit mit einem
nicht verträgt: mit einer ideologischen Herangehensweise. Deshalb ist die Position der Linken an dieser
Stelle intellektuell schlicht nicht satisfaktionsfähig. Genauso wenig, wie es zutrifft, dass man Konflikte mit militärischen Mitteln lösen kann, genauso falsch ist es, dass
Sie die Polizeieinsätze, die wir mit der klaren Zielstellung, der Rule of Law zur Geltung zu verhelfen, im Ausland durchführen, als Konservierung von Regimen in
den entsprechenden Zielländern diffamieren. Das ist
schlicht nicht angemessen. Es entspricht nicht der Wahrheit.
({0})
Ihr letzter Afghanistan-Antrag hat Ihre diesbezügliche
Position wieder einmal deutlich gemacht.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor der Herausforderung, dass wir angesichts der Erfordernisse im Zusammenhang mit den neuen Konflikten - Herr Schuster,
Sie haben recht damit, dass mehr Herausforderungen auf
uns zukommen - entsprechende Ressourcen bereitstellen
müssen. Wir halten es allerdings für nicht sehr sinnvoll,
eine stehende Kapazität bei der Bundespolizei einzurichten, sondern halten es auch hier für sinnvoll, einen Personalpool zu organisieren, so wie er, Herr Kollege
Schuster, mit dem beim Außenamt angesiedelten Zentrum für Internationale Friedenseinsätze schon längst
existiert. Dort wird nämlich Zivilpersonal verschiedenster Ausbildungsrichtungen identifiziert und vorgehalten;
im Falle eines Einsatzes ist es zügig abrufbar.
Eine solche Konstruktion können wir uns auch im Bereich der Polizei vorstellen und, wenn Sie den Weg mit
uns gehen, natürlich auch in anderen Fachbereichen. Die
Menschen, die sich dafür identifizieren lassen, sind natürlich freiwillig dabei. Sie können in einem allgemeinen
Ansatz gut vorausgebildet werden und können dann relativ zügig für ein spezielles Einsatzland trainiert werden.
Man kann für eine entsendende Dienststelle, zum Beispiel bei der Polizei, entsprechende Ersatzregelungen
vorsehen.
({1})
Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Qualität des Personals sichergestellt werden kann, gleichzeitig
aber die entsendenden Dienststellen auch die Möglichkeit haben, zu reagieren.
Das ist natürlich noch ein langer Weg, bis das im Bereich der Polizei verwirklicht werden kann. Auch hier
stimmt, was Kollegin Bulmahn schon gesagt hat: Es
mangelt nicht an Freiwilligen. Aber wenn Sie dann mit
den Dienststellenleitern oder deren Vorgesetzten reden,
sagen die, dass es immer Missmut erzeugt, wenn die
Kollegen hier dann mehr Arbeit leisten müssen und
Ähnliches. Wenn Sie das Gleiche dann auch von den Innenministern der Länder hören, ahnen Sie schon, dass
wir mit den Ländern einen schwierigen Verhandlungsweg vor uns haben,
({2})
bei dem natürlich im Endeffekt auch klar sein muss, wer
bezahlt. Da kann man schon ahnen, dass am Bund entsprechend hohe Kosten hängen bleiben werden. Aber
auch hier gilt: Wer in der zivilen Krisenprävention, Krisenbegleitung und auch in der Nachsorge Schwerpunkte
setzen will, der wird auch die Mittel dafür bereitstellen
müssen. Das ist völlig klar.
Wir erachten es aber trotzdem als gute Lösung, eine
Poollösung anzustreben, auch wenn das auf schwierigem
Verhandlungswege erfolgt. Gegen eine zentrale Bundespolizeilösung spricht,
({3})
dass alle Experten sagen, dass die Kräfte, die man vor
Ort braucht, die Expertise aus ihrer täglichen Arbeit im
Polizeidienst, egal welcher Fachbereich gemeint ist,
auch einbringen müssen. Deshalb sind wir für einen entsprechenden Polizeipool.
Ich finde die Diskussion an dieser Stelle symptomatisch für eine neue Zeit in der Sicherheitspolitik.
Herr Kollege Spatz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Bulmahn?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Spatz, stimmen Sie mir zu, dass unser
Vorschlag, einen virtuellen Stellenpool zu schaffen, der
Polizeikräfte aus den Ländern umfassen soll und der
nicht allein ein Stellenpool bei der Bundespolizei ist,
sondern ein virtueller Stellenpool, über den man genau
das schaffen könnte, was Sie beschrieben haben, nämlich dass man die Situation beendet, dass die Länder zu
wenig Polizeikräfte haben und nicht bereit sind, Polizeikräfte zur Verfügung zu stellen, obwohl die Polizistinnen
und Polizisten selbst zu einem Einsatz bereit wären, ein
Weg wäre, um Polizisten einsetzen zu können, die wir
dringend für die zivilen Krisenpräventionseinsätze brauchen?
Ja, ich stimme Ihnen zu, dass das ein Weg wäre. Nur,
ich finde, es ist eine vielleicht etwas voreilige Festlegung, wenn man die Lösung, wie man den Ersatz
schafft, schon jetzt in einem Modell festschreibt. Ich
glaube, in Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
wird es eine Lösung geben müssen. Ob es dann eine
Poollösung ist, wie Sie es vorschlagen, oder ob dies über
Geldleistungen gelöst wird, würde ich schlicht und ergreifend nicht vorgeben wollen. Das Problem ist aber erkannt. Ich denke, es wird einen adäquaten Ansatz dafür
geben.
Ich will nur noch auf das eingehen, was Kollege
Schuster angesprochen hat, nämlich dass sich unser Ansatz und die verschiedenen Wirkmittel der Außen- und
Sicherheitspolitik - die reichen vom militärischen über
den polizeilichen bis hin zum zivilen und diplomatischen
Bereich -, dieser ganze Instrumentenkasten, bei dem wir
vielleicht eher die zivilen, polizeilichen und entwicklungsbasierten Methoden betonen, ein Stück weit von
dem unterscheiden, was bisher in der NATO dominant
gewesen ist. Ja, wir als Europäer haben da etwas beizutragen - vielleicht auch als Alleinstellungsmerkmal -,
und ja, wir als Bundesrepublik Deutschland sind hier bereits jetzt Vorbild. Alles das, was dazu dient, diesen
Ansatz zu stärken und um innerhalb des Bündnisses entsprechende Schwerpunkte zu setzen, die unserer Geschichte angemessen sind, werden wir unterstützen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
Dienstag haben wir uns noch darüber gestritten, welcher
Ausschuss hierfür die Federführung erhalten soll: Auswärtiger Ausschuss oder Innenausschuss. Da ich nun die
unverhoffte Ehre habe, den erkrankten Kollegen Omid
Nouripour vertreten zu dürfen, wird es um innenpolitische Aspekte gehen. Die gute Nachricht ist: Ich kann
hier nicht wie Professor Schuster eine Harvard-Bewerbungsrede halten,
({0})
sondern nur einige Schlaglichter werfen.
Das Problem ist erörtert, Herr Kollege Spatz. Es gibt
einen Unterschied zum Militär. Ich will nicht bösartig
werden, aber die Bundeswehr hat in Friedenszeiten im
Inland nur Abschreckungsfunktion und ist ansonsten in
Kasernen und auf dem Übungsgelände anzutreffen. Der
Polizist bzw. die Polizistin hat im Grunde täglich etwas
zu tun. Wir haben im Inland keinen einzigen Polizisten
zu viel, gerade in den Ländern nicht. Jeder Polizist, der
sich zu einer Auslandsverwendung bereit erklärt, fehlt
im Inland.
({1})
Das ist der Istzustand. Das gilt für die Landespolizeien
in noch sehr viel stärkerem Maße als für die Bundespolizei. Wir brauchen eine gute Lösung; das haben Sie richtig gesagt, Frau Bulmahn. Das darf man nicht vergessen
für den Fall, dass man wieder regieren sollte.
({2})
Dann geht es um das Umsetzen.
So wie wir es bisher gemacht haben, muss man sagen
- das sage ich als Alt-68er gar nicht gerne -: Die Welt
mit Ausnahme von Ulla Jelpke ruft nach deutscher Polizei,
({3})
weil sie - auch das hat Frau Bulmahn richtig gesagt viel zu bieten hat.
({4})
- Ja, Sie auch nicht, Frau Wawzyniak, das haben wir
heute Morgen gehört. Nach Ihrer Meinung wird geschnüffelt, mit Rechtsextremisten gekungelt und mit
Wasserwerfern nach Frankreich gegangen. Sie nehme
ich da aus. Aber der Rest sieht es anders und schätzt die
Verbindung von Professionalität und demokratischer,
rechtsstaatlicher Ausbildungskapazität.
({5})
Das sollten wir als Kompliment verstehen. Wir sollten organisatorische Vorbereitungen treffen. Aber die
Auslandseinheit in Gifhorn zum Beispiel ist gescheitert.
Viele Polizistinnen und Polizisten müssen sich nach einer Auslandsverwendung oft die Begrüßung anhören:
Schönen Urlaub gehabt? - Das ist immer noch gang und
gäbe.
({6})
Die Kollegen, die zu Hause geblieben sind, mussten für
die Betreffenden mitarbeiten und akzeptieren das nicht.
Es gibt zwar materielle Verbesserungen, aber die Anerkennung fehlt noch. Nun gibt es ein großes Problem. Natürlich könnte man eine Auslandsverwendung bei der
Beförderung berücksichtigen. Nur das Gros wird nie befördert werden, Frau Bulmahn. Wir sind hier leider nicht
im Wissenschaftsbereich.
({7})
Die Beförderungsstellen bei der Polizei können Sie mit
der Lupe suchen. Derjenige, der zurückkommt, wird
auch die nächsten zehn Jahre seinen Dienstrang behalten. Wir können nicht alle hinter den Schreibtisch setzen.
Es gibt also eine Menge Dinge, die geklärt werden müssen. Ein virtueller Pool ist eine richtige Idee. Man muss
es aber auf den Weg bringen und finanziell ausstatten.
Eine Bemerkung zur Parlamentsbeteiligung. Diese
muss verbessert werden; das ist gar keine Frage. An dieser Stelle hat Frau Jelpke sogar recht.
({8})
Was bei Saudi-Arabien hinter dem Rücken des Parlamentes geschehen ist, ist unglaublich. Wir wurden absichtlich falsch informiert. Das kann man nicht anders
sagen. Staatssekretär Ole Schröder wird sich daran erinnern, wie die Information des Parlaments erfolgt ist. Nun
wird man nicht für jeden Verbindungsbeamten, den wir
irgendwohin entsenden, eine Parlamentsbeteiligung wie
bei Auslandsmissionen des Militärs bemühen können.
Wir müssen in den Ausschussberatungen einen Weg finden, der die vorherige Zustimmung des Parlaments bei
entscheidenden Dingen sicherstellt; das ist notwendig.
Wenn wir beides machen, kommen wir einen Schritt
weiter.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Günter Baumann für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich komme auf die beiden Anträge zurück, über
die wir heute eigentlich diskutieren wollten. Ich möchte
noch einmal auf das Engagement der deutschen Polizei
eingehen. Zurzeit sind 339 deutsche Polizisten von Bund
und Ländern im Auslandseinsatz. Es handelt sich dabei
um elf verschiedene internationale Friedenseinsätze der
EU oder der Vereinten Nationen oder um das bilaterale
Polizeiprojekt in Afghanistan. Ich möchte eindeutig sagen: Damit leistet Deutschland einen aktiven und von
vielen anerkannten Beitrag zum Krisenmanagement
weltweit.
({0})
Unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten leisten
ihr Bestes in gefährlichen Regionen unter schwierigen
Bedingungen und Einflüssen; das ist eindeutig festzustellen. Sie helfen mit ihrer Arbeit, Regionen zu stabilisieren und demokratische Werte zu vermitteln. Das Ziel
ist eindeutig: Es geht darum, Freiheit und Sicherheit für
die Menschen vor Ort sicherzustellen und den Menschen
in den Regionen ganz konkret zu helfen. Ich möchte an
dieser Stelle ganz herzlich allen Polizistinnen und Polizisten danken, die sich dieser Aufgabe weltweit stellen.
({1})
In der Öffentlichkeit steht immer Afghanistan im Mittelpunkt, vielleicht noch der Südsudan. Deswegen habe
ich betont, dass unsere Polizisten in elf verschiedenen
Regionen im Einsatz sind. Wir sprechen oft gar nicht
mehr über Bosnien-Herzegowina oder Georgien, wo unsere Polizei ebenfalls Arbeit leistet. Alle Einsätze stehen
unter dem Mandat der Vereinten Nationen oder der EU.
Sie bedürfen natürlich eines starken Durchhaltewillens.
Vor Ort ist ein langer Atem notwendig. Es dauert lange,
bis man Erfolge erzielt. Ein Beispiel ist der Kosovo, wo
wir uns seit über zehn Jahren im Rahmen von UNMIKoder EULEX-Missionen engagieren. Zurzeit helfen
mehr als 70 Polizisten, davon 18 Bundespolizisten,
durch intensive Beratung der Ministerien, bei der Sicherung der Grenzen - sie leisten also grenzpolizeiliche Arbeit - oder bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität.
Wir helfen Staaten auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Frau Jelpke, was die Linken hier verlangen, ist einfach skandalös. Wir helfen in den Ländern, damit die
Menschen selbstständig werden und sich auf demokratische Werte besinnen. Das müsste eigentlich anerkannt
werden.
({2})
Zu dem Antrag der SPD hat der Kollege Schuster
schon einiges gesagt. Ich glaube, für ein nationales Führungs- und Einsatzzentrum, das gefordert wurde, haben
wir keinen fachlichen Bedarf. Die Bund-Länder-Arbeits19308
gruppe wird in zunehmendem Maße aktiv, und die Geschäftsstelle „Internationale Polizeimissionen“ koordiniert die Einzelaufgaben. Also haben wir das, was Sie
fordern, eigentlich schon umgesetzt. Die Bund-LänderArbeitsgruppe hat sich auch mit dem Thema Beurteilung
und Beförderung nach Auslandsverwendungen beschäftigt. Wir sind also auf einem guten Weg, die Tätigkeit
der Kollegen im Ausland angemessen zu berücksichtigen.
Ich möchte auf das Thema Auslandsverwendung näher eingehen. Im Bundeskriminalamt wird derzeit ein
Leitfaden „Aufwertung von Auslandsverwendungen“ erarbeitet, der auch Themen, die Sie angesprochen haben,
enthält. Ich denke, diesbezüglich stimmen wir überein.
Wir sind auf einem guten Weg. Auslandsverwendungen
ohne Statusverlust, das ist entscheidend. Die Kolleginnen und Kollegen dürfen dadurch, dass sie im Ausland
waren, keine Nachteile haben.
Gewiss gibt es an vielen Punkten noch einiges zu verbessern. Das machen wir gegenwärtig. Ich will nicht sagen, dass schon alles optimal läuft; das hat auch der Kollege Schuster angesprochen. Einige Punkte im SPDAntrag, Frau Bulmahn, kann man durchaus positiv sehen
und einbeziehen.
Zur Forderung der Linksfraktion, einen Parlamentsvorbehalt einzuführen, haben wir eine eindeutige Position.
({3})
Dies ist nicht erforderlich. Es gibt die Möglichkeit, das
Parlament zu informieren,
({4})
genauso wie die Möglichkeit, jederzeit Polizisten aus
dem Ausland zurückzuholen.
Zum Parlamentsvorbehalt gibt es eine Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts von 1994.
({5})
- Frau Jelpke, Sie können sich ja melden. Dann antworte
ich Ihnen.
Im Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1994 steht
deutlich, Gegenstand einer Parlamentsbeteiligung seien
die Einsätze bewaffneter Streitkräfte. Somit ist der Einsatz unserer Polizisten im Ausland als Ausbilder und
Mentoren beim Staatsaufbau nicht Gegenstand einer
Parlamentsbeteiligung. Ich denke, wir sind hier auf dem
richtigen Weg. Wir halten die Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils ein und brauchen hier nicht nachzubessern.
Die Bundespolizei kann zur Mitwirkung an polizeilichen und anderen nicht militärischen Aufgaben im Rahmen von internationalen Maßnahmen auf Ersuchen und
unter Verantwortung der Vereinten Nationen, der EU
und der Westeuropäischen Union im Ausland verwendet
werden; da gibt es keine Beeinträchtigungen. Demnach
müssen wir den Antrag der Linken kategorisch ablehnen, den der SPD leider auch; aber einige Punkte darin
sind durchaus überdenkenswert.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8603 und 17/8381 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/8603 soll federführend
beim Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Tourismus als Chance für die Einhaltung
der Menschenrechte nutzen
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Menschenrechte in der Tourismuswirt-
schaft achten, schützen und gewährleisten
- Drucksachen 17/8347, 17/6458, 17/8736 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Serkan Tören
Tom Koenigs
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Kornelia Möller, Katrin Werner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte in der Tourismuspolitik konsequent durchsetzen
- Drucksache 17/8762 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Serkan Tören für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auf der weltgrößten Reisemesse, der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin, präsentieren sich ab
dem 7. März 2012 über 10 000 Aussteller aus etwa
180 Ländern. Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wir
uns sehr, kurz vor Beginn der ITB einen so überzeugenden und gelungenen Antrag zur Schlussberatung vorlegen zu können. Grundsätzlich haben sowohl unser Antrag als auch der der SPD das gleiche Ziel, nämlich das
Thema Unternehmensverantwortung stärker auf die Tourismuswirtschaft zu übertragen. Wir als FDP setzen allerdings mehr auf die Freiwilligkeit und Sensibilisierung
sowie die Stärkung positiver Ansätze. Außerdem möchten wir vor allem mehr Aktivitäten hinsichtlich der Unternehmensverantwortung auf internationaler Ebene,
unter anderem durch die Welttourismusorganisation
UNWTO.
Ziel des Koalitionsantrages ist es: Die Tourismusbranche soll sich stärker mit ihrer sozialen und menschenrechtlichen Verantwortung auseinandersetzen.
Dazu bieten die sogenannten Corporate-Social-Responsibility-Aktivitäten einen guten Ansatzpunkt. Auch die
Übernahme der UN- sowie der OECD-Leitlinien durch
die Tourismuswirtschaft sind aus unserer Sicht der richtige Weg. Insgesamt sehen wir als FDP-Bundestagsfraktion grundlegende Fragen der Unternehmensverantwortung als ausschlaggebend für die Tourismusbranche an.
Der Antrag der SPD enthält ebenfalls eine Fülle von
zielführenden Forderungen, so etwa die Forderungen an
die Regierungen der Zielländer oder auch die Förderung
von nachhaltigem Tourismus durch entwicklungspolitische Maßnahmen, die wir auch in unseren Antrag aufgenommen haben. Einen Teil der SPD-Forderungen sehen
wir allerdings als problematisch an und lehnen den Antrag der SPD daher ab. Die Sorgfaltspflicht von Unternehmen in Deutschland gesetzlich zu verankern, wie unter Punkt II. 8 im SPD-Antrag gefordert wird, entspricht
nicht unserem Ansatz. Wir wollen vielmehr: Verstöße
gegen Menschenrechte sollen in den Reiseländern geahndet werden. Die Kontrolle eines solchen Gesetzes
könnte sowieso nur von den Regierungen der Reiseländer geleistet werden.
Auch die Forderung unter II. 9 des SPD-Antrages zur
Unternehmensstrafbarkeit ist wenig sinnvoll. Verstöße
sollen vor Ort geahndet werden. Wir wollen aber nicht
die Rechtsgrundsätze umkehren.
Die Forderung unter II. 10 ist ebenfalls problematisch. Es kann nicht unser Ziel sein, dass Opfer von
Menschenrechtsverletzungen im Ausland ein Verfahren
in Deutschland herbeiführen. Es gilt vielmehr, Entwicklungsländer im Sinne guter Regierungsführung und der
Stärkung der Justiz zu unterstützen. Opfer sollen dort zu
ihrem Recht kommen.
Die Forderung unter Punkt II. 15, Armutsbekämpfung
in Tourismuszielländern zu unterstützen, macht ebenfalls keinen Sinn. Armutsbekämpfung sollte dort geleistet werden, wo die Not am größten ist.
({0})
Länder mit einer entwickelten Tourismuswirtschaft gehören eher selten dazu. Zudem trägt der Tourismus
selbst zur Reduzierung der Armut bei. Hier plädieren wir
für mehr Wertschöpfung im Land durch entsprechende
Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit.
Als FDP sehen wir es nicht als unsere Aufgabe an
- dies fordern Sie unter Punkt II. 18 Ihres Antrages -,
Gewerkschaften für Beschäftigte im Tourismusbereich
im Ausland zu fördern, also letztlich auch finanziell zu
unterstützen. Bei der Tourismusentwicklung sollte vielmehr die Einbeziehung von NGOs und Akteuren der Zivilgesellschaft durch deutsche Unternehmen angeregt
werden.
Insgesamt überträgt der SPD-Antrag die Verantwortung zu sehr auf die Unternehmen und entlastet damit die
Regierungen der Zielländer. Deren Hauptaufgabe ist die
Sicherung der Menschenrechte im eigenen Land. Die
Möglichkeiten, vor deutschen Gerichten zu klagen, und
weitere Alleingänge auf nationaler Ebene würden deutsche Unternehmen im Wettbewerb benachteiligen. Zusätzlich würden die Bürokratiekosten für die Wirtschaft
deutlich erhöht.
Es ist wirklich sehr schade: Während der sieben Jahre
unter Rot-Grün kamen selten solche Initiativen von Ihnen. Sie hatten damals die parlamentarische Mehrheit
und hätten all diese Forderungen durchsetzen können.
Erst unsere christlich-liberale Koalition hat es geschafft,
einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung zu
machen.
({1})
Es ist aus Sicht der FDP nun einmal Fakt: Während der
sieben Jahre unter Rot-Grün haben sich der damalige
Außenminister Joschka Fischer und die damalige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
permanent gegenseitig in der Außen-, Entwicklungsund Menschenrechtspolitik blockiert.
({2})
Dieses Trauerspiel wurde in der Großen Koalition zwischen dem damaligen Außenminister Steinmeier und
Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul fortgesetzt. Erst unter dieser schwarz-gelben Koalition ist es
gelungen, eine beeindruckende Kohärenz zwischen
BMZ und Auswärtigem Amt herzustellen und Synergieeffekte zu erzielen.
({3})
Hier gilt mein besonderer Dank Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle.
Beide ziehen an einem Strang und haben die lähmende
Blockade der Vergangenheit sowie die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ressorts überwunden.
({4})
Gerade in dem heute abschließend zu beratenden
Koalitionsantrag haben wir erneut gezeigt: Wir als
christlich-liberale Koalition wollen einen menschenrechtlich verantwortungsvollen und nachhaltigen Tourismus weltweit stärken. Ich danke ausdrücklich unserer
Bundesregierung, welche auf internationaler und bilate19310
raler Ebene die Einhaltung von Menschenrechten insbesondere im Tourismussektor einfordert. Gerade das
BMZ koppelt die Einhaltung menschenrechtlicher Standards eng an Entwicklungshilfe. Dementsprechend werden bei Verletzungen von Menschenrechten Mittel gekürzt.
Ebenfalls hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die vom Studienkreis für Tourismus und Entwicklung herausgegebenen Sympathie Magazine; dies
wird durch das BMZ gefördert. Auf informative Weise
wird in diesen Magazinen über den Alltag in den Reiseländern, über die politische Lage dort, aber auch über
Menschenrechtsverletzungen sowie über die problematischen Folgen für den Tourismus berichtet. Vor kurzem
ist das Sympathie Magazin zum Reiseland Sri Lanka erschienen. Ich denke, dies ist ein sehr guter Weg, um Verbraucher für ihr Reiseziel zu sensibilisieren.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Tören, ich
bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie die fundamentalen Unterschiede zwischen unseren Anträgen auf den Punkt gebracht haben. Diese ergeben sich aus meiner Sicht schon
aus den Überschriften der beiden Anträge. Bei Ihnen ist
Tourismus eine Chance für die Einhaltung der Menschenrechte. Wir wollen Menschenrechte gewährleisten.
Ich denke, das zeigt, dass unsere Politikansätze komplett
unterschiedlich sind.
({0})
Ich möchte nur ganz kurz Vergangenheitsbewältigung
betreiben und dann lieber auf die Gegenwart eingehen.
Dass sich im Moment das Auswärtige Amt und das
BMZ nicht wirklich über die Ausrichtung der Politikfelder streiten, hat damit zu tun, dass beide im wesentlichen
das Ziel verfolgen, die Außenwirtschaftsförderung zu
stärken. Dass ausgerechnet das seit einigen Jahren im
BMZ Vorrang vor allem anderen hat, ist der eigentliche
Skandal dieser Bundesregierung in den letzten Jahren.
({1})
Aus meiner Sicht ist wichtig - darüber sollten wir in
der Sache streiten und keinen Popanz aufbauen -: Wie
schaffen wir es, den Menschen in den Zielländern des
Tourismus - es geht nicht um die Unternehmen in
Deutschland, die zu Recht profitieren - zum Beispiel
eine angemessene Arbeit und eine angemessene Entlohnung zu geben? Wie können wir verhindern, dass in den
Zielländern, um die es geht, ein Golfplatz gebaut wird,
der jeden Tag mit Wasser berieselt wird, während das
Wasser für die Menschen in den betreffenden Regionen
rationiert wird? Ich habe von Ihrer Regierung noch kein
Wort dazu gehört. Sie haben bisher nicht gesagt: Wir unterstützen solche Projekte, die einen solchen Tourismus
fördern, nicht mehr.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Es gibt auch
positive Entwicklungen in der Tourismuspolitik. Aber
diese Entwicklungen haben nicht Sie zu verantworten,
sondern - ihr danke ich dafür ganz ausdrücklich - eine
Nichtregierungsorganisation wie Tourism Watch. Sie haben zu Recht die ITB angesprochen. Ich frage Sie: Wer
ist auf die Idee gekommen, auf der ITB das Thema
„Menschenrechte und Tourismus“ zu problematisieren?
Nicht Sie, auch nicht wir, sondern diese Nichtregierungsorganisation, die vor Ort ihre Arbeit macht und
Projekte durchführt. Frau Kollegin Schuster und Frau
Kollegin Granold waren dabei, als wir uns das in Kambodscha angesehen haben. Nichtregierungsorganisationen machen genau die Arbeit, für die wir gesetzliche Regelungen und Rahmenbedingungen schaffen müssen,
damit die Menschenrechte für die Betroffenen nicht nur
eine Chance darstellen, sondern auch durchgesetzt werden.
Ich möchte zwei weitere Punkte ansprechen, weil ich
glaube, dass Sie hier einen fundamentalen Denkfehler
machen. Ich gehe noch einmal auf die Situation in Kambodscha ein. Wer in Kambodscha Tourismusprojekte ins
Leben ruft, dafür Menschen, die nach kambodschanischem Recht Landtitel haben, enteignet und ihnen dann
den Vorschlag macht: „Geht doch bitte zu einem kambodschanischen Gericht und klagt eure Rechte ein“, lieber
Kollege Tören, der ist mehr als zynisch.
({2})
Das ist eine weitere Menschenrechtsverletzung. Das ist
nämlich Verweigerung des Rechtsschutzes; das kann
man aufgrund der Erfahrung aus vielen Delegationsreisen, die wir gemeinsam gemacht haben, sagen. Das geht
aus meiner Sicht überhaupt nicht.
Wir haben im letzten Jahr sehr intensiv über die Entwicklungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und über die menschenrechtliche Verantwortung
von Unternehmen diskutiert. Es gibt Fortschritte im Bereich der OECD. In den OECD-Leitlinien wird zum ersten Mal ein menschenrechtlicher Ansatz verfolgt. Außerdem gibt es den Bericht von John Ruggie, der im Juni
letzten Jahres im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verabschiedet worden ist. Er formuliert darin mitnichten unverbindliche Richtlinien - nach dem Motto,
man möge sich bitte überall auf der Welt daran halten,
keine Menschenrechtsverletzungen zu begehen, nicht in
der Wirtschaft und nicht im Tourismus -, sondern er
stellt Forderungen auf.
Diese Forderungen betreffen unterschiedliche Bereiche. Er fordert die Politik auf, die Menschenrechte zu
schützen, im Zweifel auch durch Normen, die die Unternehmen binden. Außerdem sagt er ganz deutlich: Wir
brauchen, auch mit Blick auf die Unternehmen, Respekt
vor den Menschenrechten. - Den Respekt vor den Menschenrechten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte
man aus meiner Sicht nicht nur formulieren, sondern
dem muss man auch einen eindeutigen gesetzlichen Rahmen geben, damit Sanktionen verhängt werden können;
dazu stehe ich. Ich will, dass Unternehmen, die die Menschenrechte missachten und in den jeweiligen Herkunftsländern massive Menschenrechtsverletzungen begehen, zur Rechenschaft gezogen werden.
({3})
Wenn diese Unternehmen ihren Hauptsitz in Deutschland haben, dann muss das in Deutschland geschehen.
Ich sage noch einmal: Ich verweise keinen Menschen
an ein Zielland des Tourismus mit nicht vorhandener
Rechtsstaatlichkeit und nicht vorhandenem Justizwesen.
Hier brauchen wir klare Regeln. Ich glaube, die Unternehmen wären gut beraten, sich daran zu halten. Ein Siegel oder Zertifikat, das man - entgegen Ihrer Meinung ohne großen bürokratischen Aufwand einführen könnte,
kann für deutsche bzw. europäische Touristikunternehmen ein Wettbewerbsvorteil sein. Darauf sollten wir gemeinsam hinarbeiten. Das würde den Unternehmen, den
Menschen und insbesondere den Menschenrechten nutzen und wäre für die Betroffenen nicht nur eine Chance.
Herzlichen Dank.
({4})
Nun hat der Kollege Professor Dr. Egon Jüttner für
die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Tourismus kann verbinden, den interkulturellen
Dialog fördern und die Wirtschaft weniger entwickelter
Staaten ankurbeln. Tourismus hat aber auch Auswirkungen auf die Zielgebiete, die Menschen und die Gesellschaften vor Ort. Diese Auswirkungen betreffen nicht
nur die Ökologie, sondern sind auch menschenrechtsrelevant. Ein Aspekt sind die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten vor Ort, sowohl in den Hotels als auch in den
Unternehmen im Umfeld. Ein weiterer Punkt sind die
Folgen des Tourismus für die einheimischen Bewohner.
Diese Folgen können von einer schlichten Überforderung durch den Massentourismus über das Fehlen von
Trinkwasser aufgrund des hohen touristischen Verbrauchs bis hin zu gesellschaftlichen Folgen reichen. Die
Menschenrechte sind auch bei der Realisierung touristischer Projekte von Belang. Themen sind hier Zwangsumsiedlungen und auch die Frage, ob durch touristische
Vorhaben in Staaten mit einem Mangel an Good Governance korrupte Eliten mitfinanziert werden.
Grundsätzlich ist die Einhaltung der Menschenrechte
eine staatliche Aufgabe. Die Regierungen der Zielländer
von Tourismus müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechte eingehalten werden und dass der Tourismus keine
negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte hat.
Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, dass wir
Regierungen immer wieder auf die Einhaltung der Menschenrechte hinweisen und dass wir auch mit unserer
Entwicklungspolitik zu Good Governance und zur Einhaltung der Menschenrechte beitragen.
({0})
Das Menschenrechtskonzept des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
stellt dafür eine neue Qualität dar, auch weil es für alle
Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit verbindlich ist. In deren Monitoring und Evaluierung werden jetzt Menschenrechte einbezogen.
Ziel unseres Antrags ist unter anderem, die Verantwortung der Unternehmen der Tourismusbranche hervorzuheben und sie für die bekannten internationalen
Standards wie die UN-Leitlinien oder die Leitlinien der
OECD zu sensibilisieren. Uns geht es auch darum, die
Welttourismusorganisation UNWTO verstärkt in branchenspezifische internationale Regelungen einzubeziehen. Aber auch die stärkere Aufklärung der Reisenden
liegt uns am Herzen. Es gibt in diesem Bereich gute Ansätze, etwa die Aktivitäten der Branche bei der Bekämpfung von Kinderprostitution.
Positiv ist auch die Arbeit des Studienkreises für Tourismus, der sich für ein nachhaltigeres Reisen und für
mehr Beschäftigung mit Land und Leuten sowie mit den
Kulturen der Reiseländer einsetzt und die hervorragenden Sympathie Magazine entwickelt, die mit ihren Informationen zur Sensibilisierung der Reisenden und zum
Verständnis fremder Gesellschaften beitragen. Deshalb
wollen wir, dass die Förderung des Entwicklungsministeriums für die Magazine fortgeführt wird. Wir würden
uns freuen, wenn die Veranstalter diese Magazine in
noch größerem Umfang an die Reisenden verteilen würden.
({1})
Meine Damen und Herren, bei allen Eigenheiten des
Tourismus lässt sich das Ziel unseres Antrags unter dem
Aspekt der Stärkung der Unternehmensverantwortung
subsumieren. Hier ist im vergangenen Jahr viel geschehen. So wurden die Leitlinien der Vereinten Nationen für
menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches
Handeln als Global Compact durch den UN-Sonderbeauftragten John Ruggie weiterentwickelt. Sie beinhalten
zehn Gebote zu Menschenrechten, Arbeit, Umwelt und
Korruptionsbekämpfung. Inzwischen verpflichten sich
rund 5 300 Unternehmen aus 130 Ländern zur Umsetzung dieser Prinzipien.
Fast gleichzeitig wurden auch die OECD-Leitsätze
für multinationale Unternehmen überarbeitet und Ende
Mai vergangenen Jahres vorgestellt. Hier hat es deutliche Verbesserungen gegeben, weil jetzt auch der Finanzsektor einbezogen wurde. Außerdem ist der Aspekt der
Menschenrechte hier mit einem eigenen Artikel aufgewertet worden. Darin werden wichtige Kriterien genannt, mit denen Unternehmen ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nachkommen können.
Ferner sind die Vorschläge der EU-Kommission zu
Transparenzpflichten von Rohstoffunternehmen sowie
die Neudefinition von Corporate Social Responsibility
zu erwähnen. Hier erwarten wir in den nächsten Jahren
strengere Vorgaben für die Unternehmen - von der Freiwilligkeit hin zur Pflicht.
({2})
Diese neuen Entwicklungen werden nicht an der Tourismuswirtschaft vorbeigehen. Deshalb ist es wichtig,
dass sich die Branche bereits jetzt ihrer menschenrechtlichen Verantwortung stärker bewusst und in dieser Hinsicht aktiver wird. Das kann sowohl durch die Selbstverpflichtung zur Einhaltung internationaler Standards als
auch durch konkrete Corporate-Social-ResponsibilityMaßnahmen geschehen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir wollen, dass Verstöße
gegen die Menschenrechte in den Reiseländern, vor allem in den Entwicklungsländern, vor Ort geahndet werden. Dafür ist eine international verbindliche Lösung anzustreben. Dies betrifft vor allem den Rechtsschutz der
Opfer. Es gilt dabei, die Entwicklungsländer im Sinne
von guter Regierungsführung und Stärkung der Justiz zu
unterstützen, damit Opfer dort zu ihrem Recht kommen.
({4})
Wir wollen, dass die Unternehmen der Tourismusbranche künftig für die menschenrechtlichen Auswirkungen ihrer Aktivitäten in den touristischen Zielländern
verstärkt in die Verantwortung genommen werden.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Annette Groth für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Tourismusindustrie ist einer der weltweit größten
Wirtschaftszweige. Während es 1950 nur 25 Millionen
Touristinnen und Touristen gab, lag die Zahl 2010 bei
mehr als 935 Millionen. Ganze Regionen wie die Küsten
in Spanien, Portugal und der Türkei sind durch Bettenburgen verschandelt. Wasser wird knapp und auf einigen
Kanareninseln bereits vom Festland angeliefert.
Etwa 240 Millionen Menschen sind im Tourismus beschäftigt. Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden schlecht bezahlt und müssen lange, teilweise unter entsetzlichen Bedingungen, arbeiten. Auch
Kinderarbeit ist häufig anzutreffen. Weltweit sind zwischen 13 Millionen und 19 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in der Tourismusindustrie beschäftigt.
Ich selbst habe in den 90er-Jahren für eine internationale kirchliche Organisation auf der Karibikinsel Barbados gearbeitet und die Auswirkungen des Golf- und
Kreuzfahrttourismus erlebt: Durch Golfplätze wird das
Menschenrecht auf Nahrung und Wasser in vielen Regionen verletzt, weil sie oft auf fruchtbarem Ackerland
gebaut werden, große Mengen an Wasser verbrauchen
und somit der lokalen Bevölkerung Anbaufläche für
Nahrungsmittel und Wasser entziehen. Der tägliche
Wasserbedarf eines einzigen Golfplatzes beträgt bis zu
2 000 Kubikmeter Wasser. Das ist der Tagesverbrauch
eines deutschen Ortes mit 8 000 Einwohnern. Damit der
Rasen schön grün bleibt, werden ebenfalls große Mengen an Pestiziden verbraucht, die Land und Grundwasser
verseuchen.
({0})
Ein tunesischer Manager, der ein Hotel auf der Ferieninsel Djerba betreibt, kommentierte kürzlich, dass
viele Angebote im Internet sich für niemanden mehr rentieren. Eine Woche Urlaub auf Djerba all-inclusive für
199 Euro inklusive Flug kann nicht kostendeckend sein.
Das ist pure Ausbeutung von Mensch und Natur und sicherlich keine Hilfe für den arabischen Frühling in Tunesien.
({1})
Die All-inclusive-Anlagen sind für kleine Restaurants
und lokale Tourismusunternehmen eine Katastrophe.
Dramatisch ist auch die Situation in Marokko. Pro Tag
und pro Kopf werden dort 685 Liter Wasser verbraucht.
Riesenpools in den Hotelanlagen, der Wäsche- und
Handtücherverbrauch und das exzessive Duschen der
Touristen sind dafür verantwortlich, nicht zu vergessen
auch die berühmten Golfplätze. In Deutschland dagegen
beträgt der Verbrauch pro Tag und pro Kopf nur 128 Liter Wasser.
Beispiele für die Verletzung der Menschenrechte
durch den Tourismus sind die Vertreibung von Menschen für den Bau von Hotels, die Schaffung von Nationalparks und sportliche Großveranstaltungen. Die Kommerzialisierung von Mensch und Natur für die Interessen
der Tourismusindustrie ist oft mit den Menschenrechten
nicht vereinbar.
({2})
In Tansania wurden in den letzten Jahren über
130 Jagdkonzessionen für ein Gebiet von mehr als
250 000 Quadratkilometer vergeben. Dies ist ein höchst
profitables Geschäft, weil ein Großwildjäger für eine
zehntägige Büffeljagd 25 000 US-Dollar und für eine
dreiwöchige Elefanten- oder Löwenjagd immerhin
49 000 US-Dollar zahlen muss. Dieses große Gebiet
wurde aber traditionell von den Massai genutzt, die für
den Jagdtourismus vertrieben wurden. Ihre Lebensgrundlage ist damit zerstört.
Es wurde schon darauf hingewiesen: Wir müssen die
großen Tourismuskonzerne auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichten, um zu einem menschenwürdigen Tourismus zu gelangen, von dem die Touristen und
die lokale Bevölkerung profitieren können. Deswegen
brauchen wir klare und verbindliche Regeln für die Unternehmen in der Tourismusbranche.
Danke schön.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Markus Tressel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Tourismusausschuss hat sich bereits im Zuge des
arabischen Frühlings mit dem Spannungsfeld von Tourismus und Menschenrechten beschäftigt, und es ist gut,
dass dieses Thema auf unserer Agenda oben bleibt und
dass wir heute darüber diskutieren.
Die Debatte war viele Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung auf das Thema des Sextourismus verengt. Das
ist ein wichtiges Thema, aber dennoch nur eine Dimension des Problems. Wir als Tourismuspolitiker wissen
alle, dass Tourismuspolitik ein Querschnittsthema ist,
und deshalb ist klar, dass es auch andere Probleme gibt.
Land Grabbing - die großflächige Aneignung von
Land zur touristischen Nutzung - ist eines davon; Kollege Strässer hat das schon angesprochen. Es hat gravierende Auswirkungen auf die heimische Bevölkerung,
aber auch auf die Ökosysteme; denn ein verantwortungsvoller Umgang mit den ursprünglichen Bewohnern und
Nutzern sowie den Ressourcen steht nicht immer im
Vordergrund.
({0})
Das Spannungsfeld von Tourismus und Menschenrechten betrifft aber insbesondere die Arbeitsbedingungen. Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, fehlende soziale Absicherung und mangelnde Perspektiven sind
kein Aushängeschild für die Tourismusindustrie, und das
wollen auch die Kunden nicht. Die Unternehmen wären
gut beraten, das zu beherzigen.
({1})
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Verschwendung von Ressourcen - auch das haben die Kollegen
Strässer und Groth bereits angesprochen -, insbesondere
was das Wasser angeht. Wasserknappheit und der Zugang zu Wasser sind ein großes Problem. Nicht nur eigener Wasserverbrauch, sondern auch die zunehmende
Vertrocknung von Böden sowie die Wüstenbildung bedeuten Eingriffe in die Menschenrechte anderer. Auch
dazu trägt der Tourismus leider bei. Weltweit ist der Tourismus außerdem für 12,5 Prozent des Klimagasausstoßes verantwortlich.
Das bedeutet für uns: Über die Themen Menschenrechte, Ressourcenverbrauch, Klimawandel und Tourismus muss gemeinsam debattiert werden. Das ist ein
weiterer Beweis dafür, dass der Tourismus ein einflussreiches Querschnittsthema ist.
Was können wir also tun? Menschenrechte und Nachhaltigkeit gehören zusammen. Wir müssen Ökologie,
Ökonomie und Soziales in Einklang bringen. Es kann
aber nicht darum gehen, Reisen in bestimmte Regionen
zu verbieten. Ebenso wenig wird es gelingen, Reisen immer unter einen menschenrechtlichen Vorbehalt zu stellen. Aber wir müssen sensibilisieren, und zwar nicht nur
die Reisenden. Auch die Industrie und die Politik haben
Hausaufgaben zu erledigen.
({2})
Informationen bei Reiseveranstaltern und dem Auswärtigen Amt zur Einhaltung der Menschenrechte im
Zielland müssen leichter zugänglich sein. Da fehlt mir
beim Auswärtigen Amt, aber auch bei den Veranstaltern
immer noch die Konsequenz. Außerdem brauchen wir
Regelungen und Sanktionen, die den Menschenrechten
einen höheren Stellenwert einräumen.
Die Tourismusverbände müssen selber Anreize und
Sanktionen schaffen, damit ihre Mitglieder menschenrechtliche Standards erfüllen und weiterentwickeln.
Aber auch Investoren müssen sicherstellen, dass beim
Bau von Hotelanlagen oder anderen touristischen Einrichtungen keine Zwangsvertreibungen oder Umsiedlungen stattfinden. Fördermaßnahmen müssen umfassend
und unabhängig hinsichtlich Umwelt-, Menschenrechtsund Sozialverträglichkeit geprüft werden.
({3})
Kurz zu den Anträgen: Der Koalitionsantrag ist wirklich schön geschrieben. Die Prosa liest sich gut, blendet
Kritisches aber aus. Außerdem passen Ziel und Forderungen, wie so häufig bei Ihren Anträgen, leider nicht
zusammen. Deswegen werden wir uns bei diesem Antrag enthalten, ebenso wie bei dem Antrag der Linken,
der viele gute Forderungen enthält, aber im Feststellungsteil Mängel aufweist. Dem Antrag der SPD werden
wir zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Marlene Mortler hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der 14. Januar 2011 markierte für uns alle ein
wichtiges Datum in der Geschichte. Der damalige
Staatspräsident von Tunesien, Ben Ali, dankte nach
23 Jahren ab und verließ fluchtartig sein Land. Zehn
Tage später standen die Menschen in Ägypten auf. Wir
alle haben noch die Bilder der Protestwellen im Maghreb
vor Augen.
Diese Entwicklung war für uns der Auslöser dafür,
uns mit dem Thema Menschenrechte und Tourismus viel
intensiver zu beschäftigen und dieses Thema ganz oben
auf die Agenda zu setzen. Ich danke an dieser Stelle
ganz herzlich unserem momentanen Schriftführer Klaus
Brähmig,
({0})
der zu dieser Zeit unbequeme Fragen gestellt hat: Können wir überhaupt noch in diese Länder reisen? Sollen
wir diese Regime überhaupt unterstützen? Er ist dafür
kritisiert worden. Aber ich glaube, dass er unter dem
Strich dazu beigetragen hat, dass wir heute über unseren
Antrag „Tourismus als Chance für die Einhaltung der
Menschenrechte nutzen“ reden.
Unser Antrag ist auch das Ergebnis von vielfältigen
Anhörungen und Gesprächen mit Experten auf den verschiedensten Ebenen. Wir sind überzeugt: Hier geht es
nicht nur um eine positive wirtschaftliche Entwicklung
in den jeweiligen Ländern, hier geht es nicht nur um
mehr Völkerverständigung, sondern gerade der Tourismus kann dazu beitragen, Menschenrechte zu stärken.
({1})
Ich mache an dieser Stelle klar und deutlich: Wir helfen diesen Ländern nicht, wenn wir ihnen als Urlauber
den Rücken kehren. Vielmehr können persönliche Kontakte dazu beitragen, relativ geschlossene Gesellschaften
aufzubrechen. Wo der Zugang zu Informationen begrenzt ist, können vor allem die Beschäftigten in der
Tourismusbranche wichtige Multiplikatoren sein. Wenn
sie ihre persönlichen positiven Erfahrungen weitergeben,
helfen sie, falsche Vorstellungen zu entkräften. Natürlich
sind wir nicht so blauäugig, zu glauben, der Tourismus
sei ein Allheilmittel, das, kräftig genug dosiert, allein die
Welt verbessern kann. Deshalb haben wir uns gesagt:
Wir legen einen Antrag vor, der sich an der Realität
orientiert und nicht an Wünschen, die aus meiner Sicht
nicht erfüllbar sind.
Ägyptens Wirtschaftsminister wurde vor kurzem im
Handelsblatt mit den Worten zitiert: Keine Regierung
kann in Ägypten ohne die Haupteinnahmen aus dem
Tourismus regieren. - Fakt ist: In vielen Schwellen- und
Entwicklungsländern ist der Tourismus ein wichtiger
Wirtschaftsfaktor. Er schafft und erhält nicht nur Arbeitsplätze, sondern er gibt auch Menschen mit geringer
Schulbildung eine Chance, ihren Lebensstandard zu erhöhen.
({2})
Durch den Tourismus selber gibt es auch Verbesserungen in der Infrastruktur, von denen nicht nur der Tourist, sondern auch der Einheimische profitiert. Vielen ist
auch nicht bewusst, dass erst durch Einnahmen aus dem
Tourismus der Erhalt von Nationalparks und Naturschutzgebieten finanzierbar wird.
Touristen wollen keinen Einheitsbrei. Sie wollen Authentizität, das heißt, sie wollen mit bestimmten Ländern
bestimmte Traditionen und Kulturen verbinden. Ich erinnere an ein ganz tolles Beispiel. Wer weiß schon, dass
Tunis ganz in der Nähe des früheren Karthago erbaut ist.
Das ist eine wunderbare Attraktion.
Leider gibt es auch genügend negative Beispiele. Kollegen haben die Themen Menschenrechte und Umwelt
schon angesprochen. Ich nenne noch Umsiedlungen für
Bauprojekte, die Missachtung der Rechte indigener Völker, den Raubbau zulasten der Natur und Umwelt in Hotelanlagen, etwa durch einen häufig viel zu hohen Wasserverbrauch, Sextourismus und Kinderprostitution. Ein
asiatisches Sprichwort bringt das auf den Punkt. Es lautet: „Tourismus ist wie Feuer. Man kann damit seine
Suppe kochen, aber auch sein Haus abbrennen.“ Das
heißt, die zentrale Verantwortung für die Einhaltung von
Menschenrechten liegt zuallererst bei den Regierungen
der Zielländer. Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich die Bundesregierung loben, die vor allem bei
der Vergabe von Mitteln in Entwicklungsländer Konsequenzen zieht und sagt: Stopp, so geht das nicht. - Deshalb dürfen wir nicht nachlassen, unbequeme Fragen zu
stellen und immer wieder auf die Einhaltung der Menschenrechte zu pochen.
Wir haben in der gestrigen Anhörung zum Thema
Tourismus und Entwicklungsländer gehört, dass sich die
Tourismusbranche sehr wohl ihrer Verantwortung bewusst ist und weiß, dass das eine Daueraufgabe ist und
bleiben wird.
Letztendlich sind wir Reisende, jeder Einzelne von
uns, selber gefragt, Verantwortung zu übernehmen, sich
bewusst zu machen, dass nicht nur in den Zielländern ein
gewisser - so möchte ich es einmal bezeichnen - „kultureller Analphabetismus“ herrscht, sondern dieser auch
bei uns vorhanden ist.
Kollegin Mortler, achten Sie bitte auf die Zeit.
Deswegen verweise ich immer wieder darauf, wie
wichtig es ist, dass wir auf Religion, auf Kultur, auf Sitten und auf Gebräuche Rücksicht nehmen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Stichpunktartig möchte ich noch einmal erwähnen:
Das geht jetzt wirklich nicht mehr. Das Minuszeichen
zeigt an, wie weit Sie schon über Ihre Zeit sind.
- die Länderinformationen des Auswärtigen Amtes,
die SympathieMagazine. Ich appelliere am Schluss noch
einmal an alle: Wir wollen und wir können heute das
Rad nicht noch einmal neu erfinden. Die UNWTO hat
bereits 1999 einen globalen Ethikkodex verabschiedet.
Wenn wir uns alle, die Branche, die Regierungen und die
Reisenden selber, an diesen Kodex halten, dann ist schon
viel erreicht.
Ich danke Ihnen.
({0})
Kollegin Mortler, wir mögen uns trotzdem an die Verabredungen halten. Wir haben das gerade heute Mittag
im Ältestenrat noch einmal bekräftigt. Nach einer zweiten Aufforderung könnte man dann doch einmal einen
Punkt setzen.
({0})
- Das müssen Sie jeweils beurteilen. Ich bin hier vorne
dafür zuständig, dass es gerecht zugeht.
Jetzt hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die
SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin, vielleicht darf ich auch ein bisschen
überziehen. Dann ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt.
Nein, so fangen wir heute Abend gar nicht mehr an.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich, dass wir heute hier das so wichtige Thema
„Tourismus und Menschenrechte“ debattieren. Wir sollten das viel öfter tun. Fast alle Fraktionen haben dazu
Anträge vorgelegt. Auch das finde ich gut. Das wäre
eine gute Grundlage, um parlamentarische Schlagkraft
zu entfalten. Schade nur, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen nichts weiter als ein zahnloser Tiger ist.
Schade, denn Schlagkraft, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir, wenn wir uns weltweit wirksam für
Menschenrechte einsetzen wollen. Der Tourismus ist
hierfür ein sehr guter Hebel. Denn Reisen verbindet.
Nie war es so einfach für uns, auch größte Entfernungen zu überwinden, neue Länder und Kulturen kennenzulernen. Unsere Neugier und Reiselust eröffnen vielen
Menschen in Entwicklungsländern Chancen, freier zu leben und sich lebenswichtige Einnahmequellen zu erschließen.
Es könnte alles so schön sein, wären da nicht die zerstörerischen Kräfte, mit denen wir uns schon vor
6 000 Jahren selbst aus dem Paradies herauskatapultiert
haben. Umweltzerstörung, Vertreibung und brutalste
Ausbeutung von Menschen - das sind die Schattenseiten
des Tourismus.
({0})
Wie, liebe Kolleginnen und Kollegen, vertreiben wir die
Schatten und schaffen mehr Licht? Alle haben sich in ihren Anträgen mehr oder weniger überzeugend bemüht,
Antworten zu finden. Aber wie zu erwarten war, fallen
unsere Forderungen je nach Fraktion unterschiedlich
aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich: Uns reichen Appelle und bloße Rufe nach Freiwilligkeit, wie sie in Ihrem Antrag zu finden sind, nicht aus.
({1})
Ja, wir wollen mit Ihnen eine enge freiwillige länderübergreifende Zusammenarbeit mit allen Akteuren der
Tourismusbranchen. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen
aber auch ganz klare Regeln, die Sanktionen beinhalten,
damit Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung durch den Tourismus verhindert werden.
({2})
Deshalb kämpfen wir für starke verbindliche internationale Normen. Unternehmen, die Menschenrechte und
soziale Standards verletzten, müssen bestraft werden
können.
({3})
Menschenrechte müssen immer Vorrang vor Unternehmensinteressen haben. Wir wollen auch, dass sich Reisende besser informieren können. Deshalb fordern wir
eine verbindliche Zertifizierung der Angebote.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die
Chance, gemeinsam gegen Ausbeutung und Umweltzerstörung und für Menschenrechte zu kämpfen. Wir müssen dafür an einem Strang und in die gleiche Richtung
ziehen. Ich lade Sie ein: Machen Sie das mit uns. Wir haben einen guten Antrag vorgelegt, dem Sie gerne Ihre
Unterstützung geben können. Wir würden uns sehr
freuen. Falls Sie das nicht machen, haben wir spätestens
2013 die Chance, unsere Vorstellungen dann ohne Sie
umzusetzen.
({5})
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/8736.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/8347 mit dem Titel „Tourismus als Chance für die
Einhaltung der Menschenrechte nutzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? 19316
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6458 mit dem Titel „Menschenrechte in der Tourismuswirtschaft achten, schützen und gewährleisten“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/8762 mit dem Titel „Menschenrechte
in der Tourismuspolitik konsequent durchsetzen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton
Schaaf, Silvia Schmidt ({0}), Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Den demographischen Wandel bei den Aufwendungen für Leistungen zur Teilhabe in der
gesetzlichen Rentenversicherung besser berücksichtigen
- Drucksache 17/8602 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Kollege Anton Schaaf hat bereits im September
zum Rehaantrag der Linken richtigerweise Folgendes
festgestellt:
Wir müssen daher einen neuen Anpassungsmechanismus finden, der Bedarf und Leistung besser in
Einklang bringen kann.
Er hat die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert.
Dem kann ich mich nur anschließen.
Ich kann auch Herrn Kollegen Weiß zustimmen, der
zum gleichen Punkt dargelegt hat:
Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist ein zentrales
Prinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es
entspricht dem Grundsatz der Humanität, alles zu
tun, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
durch Berufstätigkeit verursachte gesundheitliche
Beeinträchtigungen wieder überwinden können.
Ich frage mich aber, was in der Zeit von September
bis heute geschehen ist. In Ihrem Koalitionsvertrag und
auch in Ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention steht, dass die Rehabilitation
wichtig ist und gefördert werden muss und dass auch der
Rehadeckel überprüft werden muss.
({0})
Ich frage mich: Wo sind Ihre Vorschläge im Rahmen
des Rentendialogs? Wahrscheinlich handelt es sich eher
um einen Monolog hinter verschlossenen Türen. Bisher
gilt: Fehlanzeige, obwohl es einen Beschluss des Bundesrates auf Initiative von Mecklenburg-Vorpommern
und die Empfehlungen der Rentenversicherung gibt. Es
war die rot-grüne Koalition, die seit 2001 mit dem
SGB IX die Rehabilitation weiterentwickelt hat. Sie,
meine sehr verehrten Damen und Herren, haben zugestimmt. Wir wollen Erwerbsfähigkeit und nicht Erwerbsminderung fördern. Wir haben dies in unseren Positionspapieren und Anträgen deutlich gemacht.
Heute geht es um den sogenannten Rehadeckel, der in
§ 220 des SGB VI geregelt ist. Mit ihm wird die Höhe
der Ausgaben für Rehabilitation der Rentenversicherung
begrenzt. Das wissen wir. Die Anpassung des Budgets
richtet sich seither nach der Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter. Der Rehabilitationsbedarf steigt,
aber aus verschiedenen Gründen. Nicht nur die verhaltene Entwicklung der Bruttolöhne lässt die notwendige
Anpassung des Budgets nicht zu. Deshalb muss der Mechanismus so angepasst werden, dass die demografische
Struktur der Versicherten in die Bemessung des Budgets
einfließen kann.
Lassen Sie mich noch näher auf die Hintergründe eingehen, warum die Entwicklung der Bruttolöhne so verhalten ist. Prekäre Beschäftigung im Niedriglohnbereich,
Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung und der geringfügigen Beschäftigung bremsen die Entwicklung der
Löhne. Hier fehlt uns einfach der Mindestlohn. Im Niedriglohnbereich arbeiten mittlerweile 22 Prozent der Beschäftigten. Das sind mehr als 6,5 Millionen Menschen.
In Ostdeutschland arbeiten immer noch 40 Prozent der
Beschäftigten im Niedriglohnbereich, viele davon ohne
Tarifbindung.
Die Rentenkasse weist zwar Überschüsse auf, aber
diese könnten noch höher sein. Im Jahr 2011 betrug der
Überschuss 4,4 Milliarden Euro, und die Rücklagen belaufen sich auf insgesamt 24 Milliarden Euro. Das ist
gut. Aber dieser Betrag könnte, wie gesagt, noch höher
liegen, wenn wir Mindestlöhne hätten.
({1})
Silvia Schmidt ({2})
Gleichzeitig steigen die Ausgaben für Rehabilitation
und sprengen mittlerweile das Budget. Das wissen wir.
Die Deutsche Rentenversicherung hat im Jahr 2010
Leistungen der medizinischen Rehabilitation und zur
Teilhabe am Arbeitsleben sowie sonstige Leistungen in
Höhe von 5,5 Milliarden Euro erbracht. Das sind gut
800 Millionen Euro mehr als 2005 und 1 Milliarde Euro
mehr als im Jahre 2000.
Obwohl die Rentenversicherung ihre Hausaufgaben
gemacht hat - ich nenne die ambulante Reha und die Verringerung der Verwaltungsausgaben -, gehen viele Antragsteller leer aus. Wir wissen das; denn betroffene
Bürgerinnen und Bürger beschweren sich in unseren
Sprechstunden über Ablehnungen von Rehaleistungen,
die dringend nötig wären. Nach Ansicht der Rentenversicherung ist es nicht mehr länger möglich, die Kosten der
Rehabilitation mit den verfügbaren Mitteln zu bestreiten.
Dr. Axel Reimann, ein Direktor der Deutschen Rentenversicherung, erklärte, dass die angespannte Situation im
Rehabilitationsbereich auf die demografischen Veränderungen im Versicherungsbestand zurückzuführen ist, die
bisher bei der Anpassung nicht berücksichtigt wurden.
Wir fordern deshalb die Überprüfung des Rehadeckels.
Das hatten Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, bereits angekündigt. Der Aktionsplan der UN-Behindertenrechtskonvention liegt bereits ein Jahr vor. Der Bundesrat hat seine
Entschließung verabschiedet, die Rentenversicherungen
haben ihre Modelle eingebracht und Vorschläge unterbreitet. Doch Sie tun nichts.
Franz Müntefering hat einmal gesagt: Wenn die Bevölkerung älter wird, kann die Belegschaft nicht jünger
werden. - Die demografische Entwicklung führt dazu,
dass wir mehr Arbeitnehmer mit einem Alter von über
55 Jahren haben werden. Der Rehabilitationsbedarf wird
steigen. Die Unternehmen haben erkannt, dass medizinische Rehabilitation einen wesentlichen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten kann. Vonseiten der Unternehmen wird auf Sie auch noch mehr Druck ausgeübt. Sie
werden Ihr Konzept zur Fachkräftesicherung in diesem
Zusammenhang nicht umsetzen können. Das PrognosGutachten geht davon aus, dass mindestens 150 000 zusätzliche Rehabilitationsmaßnahmen bis 2025 benötigt
werden und dass auch ihre Komplexität zunehmen wird.
Nicht nur die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt,
sondern auch die Zahl der chronischen und multiplen Erkrankungen nimmt ständig zu. Die Inanspruchnahme im
medizinischen Bereich wächst, nicht nur weil wir seit
1991 eine Absenkung der Verweildauer im Krankenhaus
von durchschnittlich 14 Tagen auf 8 Tage feststellen
konnten. Gleichzeitig hat sich die Zahl der rehabilitativen Anschlussheilbehandlungen von 85 000 auf
290 000 mehr als verdreifacht. Somit wächst der Druck
auf die Rehabilitation stetig, der Akutversorgung zu entsprechen. Das ist gut so; denn die Rehabilitation ist ein
Erfolgsmodell. Sie kostet im Vergleich zur Erwerbsminderung und zur Frühberentung relativ wenig. Die durchschnittlichen Fallkosten von circa 4 000 Euro rechnen
sich schon nach vier Monaten, wenn eine Wiederaufnahme in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mündet. Das ist bei mindestens 70 Prozent der Fall.
Die Menschen brauchen die Rehabilitation; denn in Zukunft wird jeder Einzelne so lange wie möglich im Arbeitsleben gebraucht. Wenn wir von der Rente mit 67
sprechen, dürfen wir das nicht aus dem Auge verlieren.
Wir haben ebenso wie die Selbstverwaltung der Deutschen Rentenversicherung Bund vorgeschlagen, die
demografische Entwicklung und die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit zukünftig bei der Bemessung des
Rehadeckels mit zu berücksichtigen - und nicht mehr allein die Bruttolöhne. Dies ist eine moderate Forderung
und verfolgt nicht das Ziel, durch überhöhte Anpassungen des Budgets den Beitragssatz zu belasten, im Gegenteil: Die Rentenversicherung hat uns bestätigt, dass diese
Lösung beitragsneutral erfolgen kann. Wir fordern Sie
auf, hier zu handeln, endlich etwas zu tun; denn es ist bereits fünf Minuten nach zwölf.
Danke schön.
({3})
Der Kollege Peter Weiß spricht nun für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Qualifizierte medizinische Rehabilitation ist eine
wichtige Voraussetzung zur Integration von Kranken in Beruf und Gesellschaft und nimmt im Gesundheitswesen einen immer höheren Stellenwert
ein.
So heißt es in der Koalitionsvereinbarung von CDU/
CSU und FDP. An diesem Anspruch wollen wir unser
Handeln messen lassen.
({0})
Die Leistungen zur Rehabilitation in der gesetzlichen
Rentenversicherung in Deutschland sind wichtige Beiträge, die oftmals gar nicht richtig gewürdigt und wahrgenommen werden. Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist
ein zentrales Prinzip unserer Rentenversicherung; denn
dieser Grundsatz gewährleistet, dass trotz drohender
oder bestehender Einschränkungen eine Teilhabe am Erwerbs- und Arbeitsleben und damit eine Unabhängigkeit
von Sozialleistungen möglich wird. Nach dem jüngsten
Rehabericht der Deutschen Rentenversicherung sind für
Rehabilitationsmaßnahmen im Jahr 2010 insgesamt
5,38 Milliarden Euro aus Mitteln der Rentenversicherung zur Verfügung gestellt worden. Das ist eine beachtliche Summe. Damit konnten 996 154 Leistungen zur
Rehabilitation durchgeführt werden.
Richtig ist: Rehabilitation lohnt sich für die Rentenversicherung. 86 Prozent der betroffenen Rehabilitanden
sind im Verlauf von zwei Jahren nach einer Rehamaßnahme wieder voll erwerbsfähig. Deswegen wundert es
Peter Weiß ({1})
auch nicht, dass in der schon erwähnten Prognos-Studie
festgestellt wurde, dass wir für 1 in die medizinische
Rehabilitation investierten Euro 5 Euro an neuen Einnahmen in Steuer- und Sozialversicherungskassen zurückerhalten.
({2})
Was man ebenfalls festhalten sollte: Deutschland gehört zusammen mit gerade noch vier weiteren OECDLändern zu denjenigen Staaten, die die höchsten Ausgaben für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aufweisen. Die finanziellen Mittel, die der gesetzlichen
Rentenversicherung für Leistungen zur Teilhabe zur
Verfügung stehen - das sind insbesondere medizinische
Rehabilitationen und berufsfördernde Maßnahmen werden gemäß der geltenden gesetzlichen Regelung jedes Jahr prozentual um den Beitrag erhöht, um den auch
die Bruttolöhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steigen.
Das ist eigentlich keine dumme Regelung; denn auch
die Einnahmen der Rentenversicherung entwickeln sich
ja gemäß den steigenden Löhnen. Deswegen ist diese im
Gesetz vorgesehene Koppelung an und für sich eine sehr
kluge Regelung. Dennoch - das müssen wir heute feststellen - stößt die Rentenversicherung bei ihren Bemühungen, mit den bereitgestellten Mitteln für Rehabilitationsleistungen auszukommen, allmählich an die
Grenzen des Machbaren.
Das sieht man sehr deutlich zum Beispiel daran, dass
die Zahl der Anträge bis 2010 um knapp 30 Prozent gestiegen ist, die der Rentenversicherung für Rehamaßnahmen zur Verfügung stehenden Mittel aber nur um
22 Prozent angehoben wurden. In der Tat ist es so, dass
gerade die Entwicklung im Altersaufbau unserer Gesellschaft mehr Rehaleistungen notwendig macht. Etwa drei
Viertel der Rehaleistungen werden für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgegeben, die bereits
über 45 Jahre alt sind. Das ist logisch; die Jüngeren sind
gesund und munter und brauchen noch keine Rehamaßnahmen.
Wenn man sieht, dass die geburtenstarken Jahrgänge
vor allem der 60er-Jahre sich jetzt im Alter über 45 befinden, dass also die Zahl derer, die, wie man so schön
sagt, in der zweiten Lebenshälfte stehen, deutlich stärker
wird, dann erkennt man, dass natürlich auch der Bedarf
an Rehamaßnahmen steigt. Denn diese Menschen müssen, insbesondere wenn sie länger arbeiten sollen, weiterhin gesund arbeiten können und deshalb, wenn es notwendig ist, auf eine Rehamaßnahme der gesetzlichen
Rentenversicherung zurückgreifen können. Allein in den
nächsten zehn Jahren - mit einer Spitze im Jahr 2016, so
wird prognostiziert - wird deswegen ein finanzieller
Mehrbedarf von rund 200 Millionen Euro bestehen.
Die Deutsche Rentenversicherung, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände haben gemeinsam - das
finde ich durchaus bemerkenswert - einen Vorschlag
vorgelegt. Dieser sieht vor, dass in Anlehnung daran,
wie sich die Altersstruktur bei den Beschäftigten in
Deutschland verändert, der Rehadeckel nicht nur um die
prozentuale Steigerung nach den Löhnen, sondern eben
auch nach der Entwicklung im Altersaufbau der Gesellschaft angehoben werden soll.
Es war ein Anliegen meiner Fraktion, diese Idee eines
demografischen Faktors in der Rehaleistung der Rentenversicherung mit in den von Frau Bundesministerin
Ursula von der Leyen initiierten Rentendialog aufzunehmen. Ich habe bereits heute Morgen in meiner Rede gesagt: Die Koalitionsfraktionen sind derzeit dabei, diesen
Rentendialog auszuwerten, und wollen möglichst bald in
die konkrete Gesetzgebung einsteigen. Dieser gemeinsame Vorschlag von Deutscher Rentenversicherung,
BDA und DGB zur Anhebung des sogenannten Rehadeckels wird dabei ein wichtiger Bestandteil sein, weil wir
die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung für
die Rehabilitation stärken wollen. Gerade in Zeiten drohenden Fachkräftemangels sollten wir, meine Damen
und Herren, alle Möglichkeiten ausschöpfen, um eine
konsequente und funktionierende Rehabilitation zu ermöglichen. Die Erfolge, die eine zielgerichtete und effiziente Rehabilitation und berufliche Integration bereits
jetzt schon bringen, zeigen uns, dass wir mit diesem Vorschlag auf dem richtigen Weg sind.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Matthias W. Birkwald das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Menschen, die aufgrund einer Krankheit für ihre
Arbeit spezielle Computerbildschirme und Tastaturen
oder einen orthopädischen Bürostuhl brauchen, die nach
einem Bandscheibenvorfall oder nach Depressionen
wieder in ihren Beruf zurückkehren wollen, all diese
Menschen können sich auf die gesetzliche Rentenversicherung verlassen. Die Rentenversicherung bietet ihnen
die notwendige Hilfe, finanziell, medizinisch und beratend. An diesem einen Punkt sind sich alle hier im Hause
einig: Rehabilitation geht vor Rente, und das ist auch
richtig so.
({0})
Meine Damen und Herren, wer die Voraussetzungen
erfüllt und eine Rehamaßnahme braucht, der oder die
soll sie auch erhalten. Daraus folgt eigentlich logisch,
dass sich auch die Menge des Geldes, das für Rehamaßnahmen ausgegeben werden kann, am tatsächlichen Bedarf orientieren muss: Wenn mehr Menschen Rehaleistungen brauchen, um wieder arbeiten zu können, na,
dann muss auch mehr Geld ausgegeben werden.
({1})
Das findet aber nicht statt. Denn vor gut 15 Jahren hat
die damalige schwarz-gelbe Regierung festgelegt, dass
die gesetzliche Rentenversicherung nur einen politisch
willkürlich festgesetzten Betrag für Rehaleistungen ausgeben darf. Das ist der sogenannte Rehadeckel: Das verfügbare Rehabudget orientiert sich nicht am vorhandenen Bedarf derer, die wieder gesund werden oder auch
mit Behinderung arbeiten wollen, sondern - das ist
schon gesagt worden - an der durchschnittlichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist doch nun wirklich
absurd.
({2})
Werden die Menschen etwa gesünder, wenn die
Löhne und Gehälter sinken? Nein, ganz im Gegenteil.
Deswegen will die Linke keine Reha nach Kassenlage,
sondern eine Reha nach Bedarf.
({3})
Danach muss sich die Finanzierung richten. Leistungen
zur Teilhabe dürfen sich im Interesse der Betroffenen
nur am medizinisch Notwendigen ausrichten. Das ist
auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Deshalb muss
der Rehadeckel komplett abgeschafft werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zu
Recht und völlig richtig schreiben Sie in Ihrem Antrag,
dass sich die Situation in der Reha immer mehr zuspitzt.
Der finanzielle Rahmen ist nahezu ausgeschöpft. Im Jahr
2005 sind knapp 92 Prozent des Rehabudgets ausgeschöpft worden. Fünf Jahre später, also im Jahr 2010,
waren es bereits 99,4 Prozent. Sie stellen in Ihrem Antrag ebenfalls sehr richtig fest, dass es nicht sachgerecht
ist, die Rehamittel an die Entwicklung der Bruttolöhne
und -gehälter zu koppeln. Sie kritisieren diesen Deckel,
fordern aber gleichzeitig die Regierung auf, sich über
einen neuen Deckel Gedanken zu machen. Da sage ich
Ihnen: Das ist der falsche Weg.
({4})
Die Alternative lautet: entweder Deckel oder Bedarf. Da
ist die Position der Linken eindeutig. Wir sagen: Wer
Rehaleistungen braucht, soll sie auch erhalten. Reha
muss nach dem Bedarf geleistet werden. Alle anderen
Maßstäbe haben hier nichts zu suchen.
({5})
Ich sehe einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag kritisch: Sie nutzen die Diskussion um den Rehadeckel aus,
um Ihr Bekenntnis zur Rente erst ab 67 aufzufrischen. Ist
denn der Rehadeckel nicht auch schon ohne die Rente
erst ab 67 falsch? Auch hier ist die Linke eindeutig. Wir
sagen: Wer kann und will, darf länger als bis 65 arbeiten,
und wer nicht mehr kann, muss auch nicht bis 65 arbeiten. So muss der Grundsatz lauten.
({6})
Damit die, die arbeiten wollen, trotz gesundheitlicher
Einschränkungen oder Behinderung tatsächlich weiter
arbeiten können, brauchen wir die Reha nach Bedarf und
nicht nach Kassenlage. Darum muss der Rehadeckel
weg.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Beste ist natürlich, wenn Beeinträchtigungen der
Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
überhaupt nicht erst entstehen. Prävention ist der Königsweg, da sind wir uns einig.
({0})
Es ist insbesondere in den Unternehmen die Aufgabe,
durch Arbeitsbedingungen dafür zu sorgen, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt wird. Wo
dies nicht gelingt, ist Rehabilitation angesagt. „Reha vor
Rente“ - das ist richtig, wir bekennen uns dazu. Rehabilitation ist ein zentrales Ziel unserer Sozialpolitik. Rehabilitation hilft den betroffenen Menschen, aber sie hilft
eben auch, Kosten für das Sozialsystem zu vermeiden.
Dabei ist - das unterscheidet uns mit Sicherheit, Herr
Kollege Birkwald - eine ständige Abwägung notwendig
zwischen den Interessen der Betroffenen, der Beitragszahler und der Leistungsanbieter. Insgesamt geben wir in
diesem Bereich erhebliche Beträge aus, das muss man
feststellen: 5,56 Milliarden Euro im Jahr 2010 - das ist
kein Pappenstiel, das ist eine ordentliche Summe Geld 4 Milliarden Euro für medizinische Reha, 1,4 Milliarden
Euro für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Also:
Wir lassen uns das Prinzip „Reha vor Rente“ schon etwas kosten. Immerhin fallen für eine stationäre Rehamaßnahme durchschnittlich knapp 2 450 Euro Kosten
an, die jeweils abgewogen werden müssen - so will ich
das sagen, Herr Kollege Birkwald.
Ich glaube, der Rehadeckel macht Sinn. Wir sind bereit - das hat der Kollege Weiß schon gesagt -, im Rahmen der Rentengespräche über eine Anhebung des Deckels nachzudenken. Dabei will ich nicht verhehlen, dass
für uns die Beitragsentwicklung und insbesondere die
Einhaltung der Beitragsziele, die gesetzlich festgeschrieben sind, eine wichtige Rolle spielen. Aber ich glaube
zudem, dass ein Deckel eine gewisse Funktion hat, weil
er auch für einen wirtschaftlichen Einsatz der Mittel
sorgt und die Beteiligten zwingt, darüber nachzudenken,
wie man neue Wege in der Rehabilitation gehen kann.
So stelle ich fest, dass es mittlerweile auch einen klaren
Trend zu ambulanten Rehaleistungen gibt. Deren Anteil
ist 2010 auf 12 Prozent der Rehaaufwendungen gestiegen und hat sich damit innerhalb von acht Jahren vervierfacht. Ich gehe auch davon aus, dass sich dieser
Trend weiter fortsetzen wird. Das ist gut so, das begrenzt
die Ausgaben. Ich will an diesem Beispiel nur deutlich
machen, Herr Kollege Birkwald: Der Deckel macht
Sinn. Wenn Sie keinen Deckel haben, wenn Sie die Ausgaben einfach so laufen lassen, werden solche Innovationsimpulse eben nicht gesetzt.
Also: Wir prüfen im Rahmen unserer Rentengespräche, wie wir diesen Deckel verändern können. Wir ha19320
ben - der Kollege Weiß hat es gesagt - den Vorschlag
von BDA und anderen zur Kenntnis genommen. Das ist
etwas, worüber wir sehr ernsthaft nachdenken. Deswegen kann ich hier ankündigen, dass wir nach dem Ende
der Rentengespräche, wenn die Koalition ihre Beratungen abgeschlossen hat, sicherlich im Gesamtpaket auch
an dieser Stelle etwas tun werden. Bis dahin bitte ich
noch um Ihre Geduld. Aber ich glaube, Warten kann sich
in diesem Fall tatsächlich auch lohnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Markus Kurth das Wort.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Selten haben wir hier im Plenum eine solche
Einigkeit wie bei diesem Tagesordnungspunkt des heutigen Abends. Praktisch alle Redner betonen die Wichtigkeit des Grundsatzes „Reha vor Rente“. Alle haben ihre
Rechenbeispiele dabei - auch ich -, wie viel jeder investierte Euro nachher an eingesparten Erwerbsminderungsrentenzahlungen und zusätzlichen Beitragseinnahmen
bringt. Bei so viel Einigkeit frage ich mich nur - und ich
richte die Frage an die Regierungsfraktionen -: Warum
haben Sie nicht schon gehandelt, oder warum legen Sie
keinen Vorschlag vor?
({0})
Man hätte doch gern einen Zeitpunkt genannt bekommen, wann Sie etwas machen. Stattdessen verweisen Sie
wieder einmal - wie schon heute Morgen in der Rentendebatte - auf den Rentendialog. Sie denken nach und
diskutieren. Ihr Rentendialog kommt mir im Prinzip wie
ein schwarzes Loch vor, in dem alle Vorschläge nicht nur
zur Alterssicherung, sondern auch zum Thema Rehabilitation verschwinden.
({1})
Wenn sich eine durchschnittliche medizinische Rehamaßnahme schon nach vier Monaten einer Vermeidung
der Zahlung von Erwerbsminderungsrente rechnet, dann
sollte man an dieser Stelle wahrlich keine Zeit verlieren.
Die entsprechenden Einrichtungen, zum Beispiel die Berufsförderungswerke, berichten, dass die Zahl der Belegungen durch die Deutsche Rentenversicherung in den
zurückliegenden Monaten und im letzten Jahr erheblich
zurückgegangen ist.
Nachdem die besonderen Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation durch die sinkende Zahl von Bewilligungen durch die Bundesagentur für Arbeit geschwächt worden sind, wird auch noch das zweite
Standbein, die Rentenversicherung, geschwächt, sodass
wir uns ernsthaft die Frage stellen müssen, ob in unserer
Netzplanstruktur die Berufsförderungswerke überhaupt
noch eine Zukunft haben.
({2})
Hier zu sparen, ist volkswirtschaftlich widersinnig.
Insbesondere Rehaausgaben sind investive Sozialausgaben. Wir investieren in die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Menschen, länger zu arbeiten. In einer älter werdenden Gesellschaft wird der Rehabedarf eindeutig
weiter steigen. Ganz offensichtlich steht hier die Rentenversicherung vor einem Problem. Deshalb müssen wir
entsprechende Anpassungen vornehmen. Der Vorschlag
von Deutscher Rentenversicherung, BDA und Gewerkschaften liegt ja vor und wird in dem SPD-Antrag, den
wir unterstützen, aufgegriffen.
Herr Birkwald, ich muss noch einige Sätze dazu sagen, dass Sie den Rehadeckel komplett abschaffen wollen. Ohne eine gewisse Rahmensteuerung der Kosten
setzt man keine Anreize, innovative und wirtschaftliche
Mittelverwendungsmöglichkeiten zu suchen; zum Beispiel kann man hier die ambulante Reha nennen. Die berufliche Reha hat sich bisher sehr stark am stationären
Bereich orientiert - ich finde das in bestimmten Bereichen sinnvoll; die Berufsförderungswerke habe ich genannt -, aber die ambulante Reha bzw. andere Formen
der medizinischen Rehabilitation können durch einen
gewissen Kostenrahmen, den man im Extremfall anpassen muss, Anreize für wirtschaftliches Verhalten und für
neue Formen der Leistungserbringungen schaffen.
({3})
Wir brauchen zusätzlich neue Verfahren zur Ermittlung und zur Klassifizierung des Rehabedarfes. Wir dürfen uns nicht nur auf den Rehadeckel und die Kostensteuerung konzentrieren; denn wir müssen es - auch das
ist ein Anliegen, das wir hier im Hause weitestgehend
teilen - angesichts der demografischen Herausforderung
schaffen, den notwendigen Rehabilitationsbedarf zielgerichtet und effizient zu organisieren.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Paul Lehrieder spricht nun für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Gegenstand der heutigen Debatte ist der
Antrag der SPD-Fraktion „Den demographischen Wandel bei den Aufwendungen für Leistungen zur Teilhabe
in der gesetzlichen Rentenversicherung besser berücksichtigen“, in dem Sie neben einer Ausrichtung der Ausgaben der Rentenversicherung für die medizinische
Rehabilitation am tatsächlichen Bedarf auch die Weiterentwicklung von Präventionsleistungen fordern. Kollege
Kolb hat auf die Bedeutung von Präventionsleistungen
in diesem Bereich mit zutreffenden Worten hingewiesen;
er ist ein guter Mann.
({0})
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die Rehabilitation neben der Prävention eines der zentralen Anliegen unserer Sozialpolitik ist; denn von einer raschen
Reintegration in Arbeit bzw. einer frühzeitigen und
nachhaltigen Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit
durch Präventionsleistungen profitieren nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern das gesamte Sozialsystem. Gerade in Zeiten eines beginnenden
Fachkräftemangels ist dieser Weg essenziell wichtig.
({1})
Fakt ist auch: Das Rehabilitationsbudget der Rentenversicherung wird aufgrund des demografischen Wandels und der Erhöhung des Renteneintrittsalters zunehmend stärker ausgeschöpft. Für das Jahr 2011 stand der
Rentenversicherung ein Betrag in Höhe von 5,528 Milliarden Euro für Leistungen zur Teilhabe zur Verfügung,
der aller Voraussicht nach auch ausgeschöpft worden ist.
Im Jahr 2012 wird das Rehabilitationbudget auf Basis
der geltenden Regelung vorläufig 5,678 Milliarden Euro
betragen. Dies bedeutet aber auch - ich sage dies, um die
Schwarzmalerei der Opposition ein wenig zu bremsen -,
dass der sogenannte Rehadeckel vor allem unter Berücksichtigung der aktuell zu verzeichnenden Lohnsteigerungen noch nicht ganz erreicht bzw. überschritten ist.
Im Rahmen des sogenannten Rentendialogs sind wir
derzeit dabei - darauf haben meine Vorredner bereits
hingewiesen -, die Fortentwicklung des Rehadeckels zu
gestalten. Lieber Kollege Kurth, bei uns gilt das Prinzip
„Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. Wir haben in dieser
Legislaturperiode schon genug Sozialgesetze aus der rotgrünen Zeit nachbessern müssen, was uns das Verfassungsgericht aufgegeben hat.
({2})
Sicherlich ist eine strukturelle Anpassung des Rehabudgets aufgrund der demografischen Entwicklung sowie aufgrund der Regelaltersgrenze aus fachpolitischer
Sicht zu befürworten, da gerade in den nächsten Jahren
die geburtenstarken 1960er-Jahrgänge in das rehaintensive Alter von 45 bis 65 bzw. 67 Jahren kommen - Kollege Weiß hat darauf bereits hingewiesen - und die
Regelaltersgrenze schrittweise richtigerweise auf 67 angehoben wird. Diese beiden Faktoren waren bei der Einführung und Festlegung des Rehabudgets Ende der 90erJahre noch nicht gegeben. Sie wurden daher nicht explizit berücksichtigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, seien
Sie beruhigt. Wir von der christlich-liberalen Koalition
werden eine zufriedenstellende Regelung zur Deckung
eines möglichen temporären Mehrbedarfs selbstverständlich unter Sicherung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung und vor allem - das
möchte ich besonders hervorheben - mit Blick auf die
gesetzlichen Beitragsziele im gemeinsamen Rentendialog erörtern.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hinsichtlich der von Ihnen geforderten Weiterentwicklung
der Präventionsmaßnahmen möchte ich Sie gerne ausdrücklich auf die Norm des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
SGB VI hinweisen. Demnach können seit dem 1. Januar
2009 „medizinische Leistungen … für Versicherte, die
eine besonders gesundheitsgefährdende, ihre Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflussende Beschäftigung
ausüben“, zur Sicherung ihrer Erwerbsfähigkeit auch
ambulant durchgeführt werden. Die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Deutsche Rentenversicherung
Westfalen und die Deutsche Rentenversicherung BadenWürttemberg haben diese gesetzliche Änderung bereits
zum Anlass genommen, das Rahmenkonzept „Betsi“ übersetzt heißt das: Beschäftigungsfähigkeit teilhabeorientiert sichern - zur Erprobung von Präventionsleistungen zu entwickeln. Zielgruppe dieser Präventionsleistungen sind Beschäftigte, bei denen erste, die
Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflussende gesundheitliche Beeinträchtigungen vorliegen, ohne dass bereits ein
Bedarf für medizinische Rehabilitationsleistungen besteht. Mit den Präventionsleistungen wird dabei das Ziel
verfolgt, die Beschäftigungsfähigkeit der Teilnehmer
frühzeitig und nachhaltig zu sichern. Die in diesem Rahmen entwickelten Präventionsleistungen werden demnächst von den beteiligten Rentenversicherungsträgern
in den Katalog der Regelleistungen aufgenommen. Des
Weiteren entwickeln viele andere Rentenversicherungsträger Konzepte für Präventionsleistungen für ihre Versicherten.
Sie sehen: Wir haben bereits gehandelt. Ihr dahin gehender Antrag ist zwar gut gemeint, aber leider unnötig;
denn eine über § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI hinausgehende gesetzgeberische Regelung für Präventionsleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung ist nicht
notwendig. Dennoch lade ich Sie, meinen Damen und
Herren von der SPD und von den übrigen Fraktionen in
diesem Hohen Hause, ganz herzlich ein, mit uns gemeinsam im Ausschuss konstruktiv zu diskutieren
({4})
und mit dafür Sorge zu tragen, dass ein Konzept zur Sicherung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung, das die veränderten Bedingungen berücksichtigt, auf den Weg gebracht wird.
Herr Kollege Kurth, die Notwendigkeit, den Rehadeckel fortzuentwickeln - in diesem Punkt kann ich Ihnen
recht geben -, ist hier von fast allen Parteien, Herr
Birkwald, anerkannt worden. Wir werden gemeinsam
daran arbeiten. Der Applaus fast des ganzen Hauses für
den Kollegen Kurth hat gezeigt, dass wir uns gemeinsam
auf den Weg machen können.
Ich bedanke mich und lade Sie ein, mitzudiskutieren.
({5})
Kollege Lehrieder, ich würdige ausdrücklich, dass Sie
die Redezeit eingehalten haben.
Der Kollege Pascal Kober hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist in der Tat eine besondere Situation, wenn sich in
einer sozialpolitischen Debatte alle Fraktionen hier im
Bundestag einig sind. Wir sind uns alle darin einig, dass
Reha vor Rente geht. Wahrscheinlich sind wir uns auch
alle darin einig, dass Prävention noch besser als Rehabilitation ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, schon nicht mehr einig sind wir uns bei der Frage,
ob es einen Rehadeckel geben darf oder muss oder nicht.
({1})
Wir haben da eine ganz klare Position. Alle Rednerinnen
und Redner, die bisher zu diesem Thema gesprochen haben, haben betont: Aufgrund der Wirtschaftlichkeit, zu
der wir verpflichtet sind, wird es ohne einen Rehadeckel
nicht gehen. Auch der Bundesrechnungshof hat sich entsprechend geäußert, dass wir im Bereich der Rehabilitation auf Effizienz schauen müssen. Aber das sind ja Themen, die Sie nicht so sehr interessieren.
Heute Morgen haben wir mit Ihnen über die Rente
diskutiert. Da haben Sie die Einführung einer solidarischen Mindestrente von 900 Euro gefordert. Sie haben
allerdings offen gelassen, wie Sie das finanzieren wollen. Genauso lassen Sie heute Abend offen, wie Sie es finanzieren wollen, bei der Reha keinen Deckel vorzusehen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich habe
heute Morgen schon gesagt: Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit gehört eben
auch, dass die finanziellen Ressourcen eines Sozialstaats
begrenzt sind. Sie müssen zunächst erwirtschaftet werden. Wir schießen schon heute im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung 81 Milliarden Euro zu.
Jetzt können Sie sagen: Einige Millionen hin oder her,
das kann doch keine Rolle spielen. - Aber so einfach
dürfen wir es uns nicht machen. Wenn wir beim Thema
Haushaltskonsolidierung weiter voranschreiten wollen,
dann müssen wir jeden einzelnen Euro zweimal umdrehen. Deshalb ist es gut, dass wir uns als Regierungskoalition Zeit nehmen, hier eine Gesetzgebung auf den
Weg zu bringen, die nachhaltig ist und Bestand hat.
Peter Weiß hat darauf hingewiesen, dass wir im Bereich des Rentendialogs auch die Thematik der Rehabilitation angehen werden. Ich glaube, wir können alle zuversichtlich sein, dass wir, wie es auch in den vergangenen
zwei Jahren Kennzeichen dieser Regierungskoalition
war, ein sehr ordentliches Ergebnis werden präsentieren
können.
({3})
Darauf sollten Sie gespannt sein. Wir sind zuversichtlich, dass wir zumindest die Bürgerinnen und Bürger von
unserem Gesetz werden überzeugen können, wenn auch
vielleicht nicht Sie; aber die Menschen in unserem Land
gehen in dieser Frage immer vor.
({4})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 17/8364 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/8787 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
({1})
- Ich wäre dankbar, wenn auf der Seite der FDP-Fraktion etwas Ruhe einkehren könnte, damit wir nach dem
Verlesen der Namen der Redner, die ihre Rede zu Protokoll geben, die Abstimmung durchführen können. - Es
handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Vizepräsidentin Petra Pau
Ulrich Lange und Thomas Jarzombek für die Unionsfraktion, Martin Burkert für die SPD-Fraktion, Patrick
Döring für die FDP-Fraktion, Sabine Leidig für die
Fraktion Die Linke und Dr. Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Der Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung
des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG, enthält
grundlegende Neuerungen im Eisenbahngesetz. In ihm
werden sowohl EU-rechtliche Veränderungen eingearbeitet als auch dessen zentrales Anliegen, die Sicherheit
und die Kontrolle der Sicherheit zu verbessern. Im Zentrum steht die Einführung der Herstellerverantwortung.
In der bisherigen Praxis wurden Fahrzeuge nur auf
Bestellung der Eisenbahnverkehrsunternehmen oder
Halter auf der Grundlage von Lasten und Pflichten der
Besteller, also der Betreiber, gebaut. Anschließend
wurde von den Betreibern die Zulassung bzw. Abnahme
des Fahrzeugs beantragt. Zwar können die Hersteller
auch heute schon die Genehmigung zur Inbetriebnahme
eines Fahrzeuges beantragen, im AEG sind aber die Sicherheitspflichten eindeutig den Eisenbahnverkehrsunternehmen und Haltern von Eisenbahnfahrzeugen zugewiesen. Das ändern wir jetzt.
Wir geben den Herstellern von Bahnfahrzeugen im
Rahmen der Liberalisierung des europäischen Eisenbahnmarktes die Möglichkeit, eigenverantwortlich ohne
Beteiligung eines Betreibers Fahrzeuge zu erstellen und
die Genehmigung zur Inbetriebnahme zu beantragen.
Damit geben wir den Herstellern mehr Möglichkeiten
für eine bessere Positionierung am Markt. Auf der anderen Seite müssen die Produzenten aber auch mehr
Verantwortung für ihre Fahrzeuge übernehmen. Dies
entspricht den Regeln unserer Marktwirtschaft.
Mit der Gesetzesnovelle werden wir aber auch die
Grundlagen dafür schaffen, dass Genehmigungen für
Bahnfahrzeuge schneller als bisher erteilt werden
können. Die DB AG hat große Probleme, genügend
Fahrzeuge für den Personennah- und -fernverkehr zu
erhalten. Eine Ursache ist auch die lange Dauer von Genehmigungen und das Gezerre um Verantwortlichkeiten.
Diesem Umstand werden wir Rechnung tragen, indem wir eine Ermächtigungsgrundlage schaffen werden,
durch die dem Eisenbahn-Bundesamt die Festlegung
von technischen Einzelheiten für Planung, Bemessung
und Konstruktion von Betriebsanlagen der Eisenbahnen
des Bundes übertragen werden kann.
Im Rahmen dieser Gesetzesänderung werden aber
auch EU-rechtliche Korrekturen vorgenommen, die aufgrund des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft notwendig
wurden.
Der Entwurf des Fünften Gesetzes zum AEG ist insgesamt ein sehr gutes und dringend benötigtes Gesetz. Unnötig finde ich die Verknüpfung des AEG in Bezug auf
den Schienenlärm mit dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, BImSchG, die aufgrund von Einwänden des Bundesrates eingefügt wurde. In der Novelle des 5. AEG
geht es primär um Sicherheitsaspekte. Aus meiner Sicht
ist das Thema Schienenlärm heute so wichtig, insbesondere für die Akzeptanz des Güterschienenverkehrs durch
die Bevölkerung, dass wir ein gesondertes „Schienenlärmpaket“ im BImSchG schnüren sollten. Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat mit Bahnchef
Dr. Rüdiger Grube die Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems mit dem Fahrplanwechsel
2012 vereinbart. Dies ist richtungsweisend für die Reduzierung des Schienenlärms in Deutschland.
Bei der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gab es ein seltenes Bild
der Geschlossenheit: Einstimmig haben sich die Mitglieder dafür ausgesprochen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes anzunehmen. Auch der dazugehörige
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wurde einstimmig angenommen.
Dies zeigt: Die Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ist fachlich unumstritten; denn sie ist ein
weiterer wichtiger Schritt, um für mehr Qualität und Sicherheit im Bahnverkehr zu sorgen. Daher gilt der Bundesregierung unser Dank für die Vorlage dieser gelungenen Gesetzesänderung.
Uns allen sind sicher noch die technischen Probleme
bei den ICE-Zügen der DB AG und auch bei der Flotte
der Berliner S-Bahn in Erinnerung. Die Beseitigung dieser Mängel hat vor allem aufgrund des erheblichen Ausmaßes einen enormen Arbeits- und damit Zeitaufwand
bedeutet. An mehreren hundert Fahrzeugen mussten
Bremsen repariert oder gar komplette Achsen ausgetauscht werden. Teilweise waren die zeitlichen Verzögerungen bei der Beseitigung jedoch auch dem Umstand
geschuldet, dass die Haftungsfrage bei Zugmängeln im
Gesetz - wie sich gezeigt hat - leider nicht eindeutig genug geregelt war. So haben sich Bahn und Hersteller
monatelang gegenseitig die Zuständigkeit für die Probleme zugeschoben.
Nach der bisherigen Rechtslage ist es so: Die Sicherheitspflichten liegen aufseiten der Eisenbahnen und
Halter von Eisenbahnfahrzeugen. Die Hersteller können
allerdings die Genehmigung zur Inbetriebnahme eines
Fahrzeuges beantragen. Diese Aufteilung rührt noch
aus den früheren Abläufen her, die vor der Bahnprivatisierung und der damit einhergehenden Öffnung des
Wettbewerbes üblich waren. Damals wurden Fahrzeuge
nur auf Bestellung der Eisenbahnen oder Halter und auf
der Grundlage von Lasten- und Pflichtenheften der Betreiber gefertigt. Lediglich der Betreiber konnte die Zulassung bzw. Abnahme eines Fahrzeuges beantragen.
Inzwischen dürfen allerdings Hersteller eigenverantwortlich, also ohne Beteiligung eines Betreibers, Fahrzeuge herstellen. Dies ist eine Folge der Liberalisierung
des europäischen Eisenbahnmarktes. Dadurch haben
die Hersteller mehr Möglichkeiten für eine bessere Positionierung am Markt erhalten. Insbesondere ist es ihnen
nunmehr möglich, eine Genehmigung zur Inbetriebnahme zu beantragen.
An diese veränderte Situation soll das Allgemeine Eisenbahngesetz jetzt angepasst werden. Wesentlicher Inhalt der Novellierung ist die Einführung der Herstellerverantwortung. So soll neben den Eisenbahnen und den
Haltern von Eisenbahnfahrzeugen nun auch den Herstellern die Verantwortung dafür zugewiesen werden,
dass Fahrzeuge den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit an den Bau genügen. Maßgeblich ist dabei der
Zeitpunkt der Inbetriebnahme. Die Verantwortung bezieht sich somit nicht auf den Ablauf des Bauprozesses
an sich. Entscheidend ist vielmehr das fertiggestellte
Bauprodukt. Durch die Novellierung wird die Verantwortung eindeutig demjenigen zugewiesen, der den Antrag auf Genehmigung stellt.
Zweiter Kernpunkt der Gesetzesänderung ist eine
Stärkung der Position des Eisenbahn-Bundesamtes. So
wird die Ermächtigungsgrundlage dafür geschaffen,
dem Eisenbahn-Bundesamt durch Rechtsverordnung die
Kompetenz für die Festlegung von technischen Einzelheiten für Planung, Bemessung und Konstruktion von
Betriebsanlagen zu übertragen.
Darüber hinaus sind in dem Gesetzentwurf einige redaktionelle Änderungen, insbesondere vor dem Hintergrund des Vertrages von Lissabon, sowie unstrittige
Klarstellungen enthalten. Mit dem Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen werden zudem Empfehlungen aufgenommen, die der Bundesrat im Rahmen seiner Befassung mit dem Gesetzentwurf beschlossen hat. Hierbei
geht es vor allem um eine Klarstellung, dass die Bahnunternehmen bei der Erstellung von Lärmkarten und
Lärmaktionsplänen mitzuwirken haben. Auch hinsichtlich dieses Änderungsantrages bestand im Verkehrsausschuss - wie erwähnt - gestern Einvernehmen.
Die Gesetzesänderung ist also ein richtiger und wichtiger Schritt. Die Anpassung wird zu einer Verbesserung
von Sicherheit und Qualität im Bahnverkehr beitragen.
Im Interesse aller Bahnreisenden wünschen wir uns,
dass neues Zugmaterial künftig rascher zugelassen werden kann und technische Probleme - die natürlich immer auftreten können - ohne Streit über die Zuständigkeitsfrage schneller behoben werden können.
Wir brauchen im Schienenverkehr leistungsstarke
Züge; denn störanfällige Züge, die aus dem Verkehr gezogen werden müssen, führen zu Verspätungen und Ärger bei den Bahnkunden. Außerdem gilt es, die Herstellungsprozesse zu beschleunigen. In Nürnberg warten
wir bei der S-Bahn beispielsweise seit eineinviertel Jahren auf neue Triebwagen von Bombardier, die immer
noch nicht komplett ausgeliefert wurden.
Wir brauchen also mehr Sicherheit beim Betrieb der
Fahrzeuge und eine schnellere Beschaffung!
Die Voraussetzung dafür schafft eine Neuerung im
Allgemeinen Eisenbahngesetz: Zentrale und wesentliche
Änderung wird hier sein, dass eine Verantwortung der
Hersteller für Eisenbahnmaterial eingeführt werden
soll. Wenn man im juristischen Sinne von Verantwortung
spricht, dann geht es ganz konkret um Fragen der Haftung. Wer muss also dafür geradestehen, wenn Materialien im Eisenbahnverkehr mangelhaft sind und es dadurch beispielsweise zu einem Unfall kommt?
Bei Verantwortung und Haftung geht es aber vor allem auch um Sicherheit sowie die Kontrolle der Sicherheit.
Bisher war es so: Die Eisenbahnen waren verpflichtet, nicht nur den Betrieb sicher zu führen, sondern auch
Fahrzeuge und das Zubehör sicher zu bauen. Die DB
AG trug im Falle eines Falles die volle alleinige - öffentlich-rechtliche - Sicherheitsverantwortung, da der
eigentliche Eisenbahnhersteller im juristischen Sinne lediglich ein sogenannter - privatrechtlicher - Erfüllungsgehilfe war. Die Krux dabei ist: Eine öffentlichrechtliche Sicherheitsverantwortung kann nicht vertraglich auf den Hersteller verlagert werden.
Diese Regelung im AEG wird nun in Anpassung an
eine EU-Sicherheitsrichtlinie geändert: Das Eisenbahnunternehmen wird aus der Pflicht entlassen, vor der Inbetriebnahme eines Fahrzeugs eine Genehmigung beantragen zu müssen und somit alleine die Haftung für
dieses Fahrzeug zu übernehmen.
Schwierigkeiten mit neuen Zügen gab es in der Vergangenheit leider immer wieder, ob mit ausgefallenen
Klimaanlagen im Hochsommer oder nicht funktionierender Neigetechnik, zum Beispiel zwischen Berlin und
Nürnberg. Viele Konstruktionsmängel zeigen sich erst
im Betrieb.
Die Bundesregierung wollte aber bei der Bearbeitung
und Modifizierung des Gesetzes noch einen Schritt weiter gehen und den Herstellern allein die Haftung übertragen. Diesen groben Unfug konnte die SPD zusammen
mit der Bahnindustrie zum Glück noch verhindern!
Denn die Folge wäre schlichtweg, dass kein Unternehmen in Deutschland mehr ein Angebot für den Bau eines
Zuges abgeben würde.
Die - im Übrigen einzig gangbare - Lösung, die gefunden wurde, sieht vor, dass die Eisenbahnen von der
alleinigen Verpflichtung befreit werden, Fahrzeuge und
Zubehör sicher zu bauen. Der entscheidende § 4 regelt
nun, dass es Eisenbahnen oder Halter sind, die die
Fahrzeuge und deren Zubehör in einem betriebssicheren
Zustand zu halten haben. Und so ist es auch richtig!
Denn so lange ein Fahrzeug auf der Schiene in Betrieb
ist, muss die Sicherheitsverantwortung dafür jederzeit
genau zugeordnet werden können.
Die Änderung im Allgemeinen Eisenbahngesetz war
aber nicht nur deshalb längst überfällig. Sie musste
auch angepasst werden, weil die Bahn schlichtweg kein
Eisenbahnmaterial mehr selbst herstellt. Die Regelung
stammt aus einer Zeit, als die Bahn noch nicht im Wettbewerb stand und somit am Markt automatisch selbst für
die Kontrolle verantwortlich war. Dies hat sich, wie wir
wissen, geändert. Wenn man sich also die Historie des
Gesetzes anschaut, ist eine Änderung des AEG grundsätzlich zu begrüßen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zu begrüßen ist dies auch aus Gründen eines fairen
Wettbewerbes: Denn bislang war die DB AG bei der Bestellung eines Fahrzeuges auch für die Genehmigung
beim Eisenbahn-Bundesamt, EBA, verantwortlich. Mittlerweile kann sie aber bei einem Hersteller ein Fahrzeug in Auftrag geben mit der Maßgabe, dass dieser
auch die Genehmigung einholen muss. Das heißt: Erst
durch die Entlassung der Eisenbahnunternehmen aus
der Genehmigungspflicht entsteht zum ersten Mal ein
fairer Wettbewerb zwischen Eisenbahnbesteller und -hersteller. Denn nun können Hersteller in eigener Verantwortung und ohne Beteiligung der Betreiber Fahrzeuge
produzieren.
Allerdings sind im AEG noch einige Punkte offen, für
die vernünftige Lösungen gefunden werden müssen!
Das EBA soll mit der Änderung des AEG gestärkt
werden, um besser kontrollieren zu können, wer eine Genehmigung bekommt. Dann muss das EBA aber auch gestärkt werden. Das heißt im Klartext: Es muss mehr Personal bewilligt werden.
Die Änderung des AEG bietet eine wichtige und
längst überfällige Regelung, um für eine schnellere Beschaffung von Zügen und einen sicheren Betrieb zu sorgen. Wichtig ist nur, dass die Rahmenbedingungen, wie
die personelle Ausstattung der Genehmigungsbehörden,
stimmen.
In den vergangenen Jahren kam es im Bereich des
Eisenbahnverkehrs immer wieder zu gravierenden Qualitätsproblemen, häufig hervorgerufen durch technische
Mängel an den Fahrzeugen. In den daran anschließenden Diskussionen zeigte sich, dass die Frage der Verantwortlichkeitsbereiche von Fahrzeugherstellern einerseits und Eisenbahnverkehrsunternehmen andererseits
nicht befriedigend geklärt ist. Kern des uns vorliegenden Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des
Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG, ist somit die
Einführung der Herstellerverantwortung für den Bereich des Schienenverkehrs; ein Vorhaben, bei dem wir
als FDP-Fraktion die Bundesregierung ausdrücklich
unterstützen.
Bislang ist es so, dass die Hersteller zwar eine
Genehmigung zur Inbetriebnahme ihrer Eisenbahnfahrzeuge beantragen können, das Allgemeine Eisenbahngesetz Sicherheitspflichten aber nur den Eisenbahnen
und den Haltern von Eisenbahnfahrzeugen zuweist. Mit
den angestrebten Änderungen des Gesetzes soll zukünftig nun auch den Herstellern die Verantwortung dafür
zugewiesen werden, dass die von ihnen gelieferten Fahrzeuge den angegebenen Anforderungen und Einsatzbedingungen entsprechen, sodass sie von den Verkehrsunternehmen im Betrieb sicher eingesetzt werden
können. Diese Änderung sorgt zudem dafür, dass das
Allgemeine Eisenbahngesetz die bereits seit 2004 im
Eisenbahnsektor gültige Verantwortungsverteilung der
Europäischen Union widerspiegelt.
Darüber hinaus schafft der Gesetzentwurf eine
Ermächtigungsgrundlage, durch die dem EisenbahnBundesamt die Festlegung von technischen Einzelheiten
für Planung, Bemessung und Konstruktion von Betriebsanlagen der Eisenbahn des Bundes übertragen werden
kann.
Der vom Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig angenommene Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen greift die Stellungnahme des Bundesrates vom Oktober des vergangenen Jahres auf und
fügt sinnvolle Ergänzungen insbesondere bezüglich der
Lärmkartierung ein.
Zusammenfassend begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion die angestrebten Änderungen, speziell die Klarstellung der Verantwortlichkeiten im Verhältnis zwischen
Hersteller und Bahnunternehmen. Zu versuchen, in
diese Novelle weitere gesetzliche Regelungen zu pressen, wie etwa die von SPD geforderten Bestimmungen zu
Lenk- und Ruhezeiten, lehnen wir allerdings ab. Weder
sollten wir das AEG mit Einzelregelungen überfrachten,
noch ist es rechtssystematisch der richtige Regelungskreis.
Vor gut einem Jahr hatten Verkehrsminister
Ramsauer und die Deutsche Bahn AG getönt, die Fahrzeugindustrie habe der Bahn „Schrott“ geliefert. Sie allein oder zumindest sie in erster Linie sei haftbar für
nicht dauerfeste Achsen und für eine S-Bahn-Baureihe
in Berlin, die das zweimalige Winterchaos und einen
Dauer-Notfahrplan herbeigeführt hätten. Als sich dann
im April 2010 noch eine ICE-Tür bei hoher Geschwindigkeit löste, durch die Luft flog und sechs Menschen
verletzte, hieß es erneut wie bei einem Pawlowschen Reflex: Es handle sich hier um einen Konstruktionsfehler.
Inzwischen ist bei diesem Thema Besinnung eingekehrt. Wir wissen:
Bei der ICE-Tür gab es einen Wartungsfehler, den die
Bahn und nicht der Hersteller zu verantworten hat.
Die nicht dauerfesten Achsen wurden auch aufgrund
der Vorgaben der Deutschen Bahn AG, Gewicht zu sparen, eingebaut. Gleichzeitig wurden die Ultraschallprüfungen bei diesen Radsatzwellen massiv „gespreizt“,
also reduziert.
Die S-Bahn in Berlin geriet nachweislich in die Krise
aufgrund der massiv reduzierten Wartungsintervalle,
wegen ausgebliebener Instandhaltung und weil drei
Werkstätten komplett geschlossen und das Wartungsund Instandhaltungspersonal mehr als halbiert wurde.
Die entscheidende S-Bahnbaureihe 481/482 funktionierte seit ihrer ersten Auslieferung 1995 und bis 2005
weitgehend tadellos - was ja bei neuen Bahnfahrzeugen
heute nicht mehr die Regel ist. Zu den massiven Ausfällen kam es genau dann, als das Programm OSB - „Optimierung S-Bahn“ - zu greifen begann, als also die Instandhaltung derart massiv zurückgefahren wurde.
Damit soll die Bahnindustrie nicht komplett freigesprochen werden. Sie ist jedoch Bestandteil in einem
Gesamtsystem, das falschen Vorgaben folgt: niedrige
Preise, schnellere Entwicklung und hohe Gewinne bei
Zu Protokoll gegebene Reden
Herstellern und Deutsche Bahn AG. Richtig wären aber
stattdessen die Ziele Solidität, Zuverlässigkeit und Kundenkomfort!
Jetzt haben wir also den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG,
vorliegen, der weitgehend einvernehmlich von Regierung, Bundesrat, Deutscher Bahn AG und den Schienenfahrzeugherstellern getragen wird. Es liegt sogar ein
ebenfalls gemeinsam entwickeltes „Handbuch Eisenbahnfahrzeuge“, ein Leitfaden zur Herstellung und
Zulassung vor.
Mit alldem sind wir einverstanden und stimmen diesem Gesetzentwurf zu.
Wir würden es allerdings auch für eine angemessene
Geste halten, wenn der Bundesverkehrsminister in der
gleichen Öffentlichkeit, in der er die Bahnindustrie
- und damit ja auch die Kolleginnen und Kollegen in
dieser Branche - herabgesetzt hat, diesen falschen Eindruck geraderücken würde!
Nun möchte ich aber noch auf drei Probleme hinweisen, die ich in diesem Zusammenhang sehe:
Erstens ein paar Worte zum „Ausweg“, wonach
- nach der Gesetzesnovellierung - die Bahnindustrie
selbst als Hersteller die Zulassung beantragen und sogar - ich zitiere - „als Halter in das Fahrzeugeinstellungsregister eingetragen werden ({0}), wenn zum
Zeitpunkt der Zulassung noch kein Abnehmer gefunden
wurde“; so die entsprechende Passage aus der Begründung der AEG-Änderung. Das heißt ja eigentlich, dass
die Schienenfahrzeugindustrie selbst als Eisenbahnverkehrsunternehmen auftreten kann. Ich wurde darauf aufmerksam, weil in Italien der Autohersteller Ferrari im
Bündnis mit anderen privaten Unternehmern erste
Hochgeschwindigkeitsstrecken betreiben will.
Wir haben es ja in Deutschland bereits mit einer zunehmend zerklüfteten Landschaft der Schienenverkehrsunternehmen zu tun. Im Fernverkehr soll im nächsten
Jahr mit locomore rail ein erster privater Anbieter aktiv
werden. Künftig könnten auch Siemens, Bombardier
oder Alstom selbst als Eisenbahnbetreiber auf den Plan
und ins Netz treten.
Wir sehen diese Entwicklung bekanntlich kritisch.
Wir treten für ein möglichst einheitliches Schienenverkehrsangebot mit durchgängigem integralem Taktfahrplan ein, bei dem Nah-, Regional- und Fernverkehr
vernetzt werden. Die Liberalisierungs- und Konkurrenzmodelle stehen allerdings einer solchen Perspektive entgegen.
Zweitens wird zwar dem Thema Sicherheit im Schienenverkehr jetzt vom Gesetzgeber größere Beachtung
geschenkt. Das ist gut so. Doch wie sieht es in der Praxis
aus? Vor zwei Jahren war das Thema der nicht dauerfesten ICE-Achsen in aller Munde. Nachdem die Deutsche
Bahn AG eineinhalb Jahre lang - nach dem Achsbruch
im Juli 2008 in Köln - geleugnet hatte, dass es da ein
Problem geben würde, gestand sie schließlich kleinlaut
ein, dass alle ICE-3-Achsen und die Achsen der ICEDieseltriebfahrzeuge ausgetauscht werden müssten. Es
dauerte dann aber nochmals gut eineinhalb Jahre, bis
ab Herbst 2011 mit dem Austausch der Achsen begonnen
wurde. Dieser Austausch soll sich, so wird uns mitgeteilt, noch bis ins Jahr 2014 hinziehen! Dass es
auch schneller gehen kann, zeigt das Beispiel der Berliner S-Bahn, wo ein weitgehend kompletter Achsenaustausch bei einem Großteil der S-Bahn-Fahrzeuge binnen
eines Jahres vollzogen wurde. Hier stellt sich die Frage,
ob es erst mehrere Unfälle und massiven Druck geben
muss, bis die Deutsche Bahn AG diesen elementaren
Sicherheitsanforderungen entspricht?
Drittens ist mit der Novellierung des AEG das Thema
Eisenbahnsicherheit auch für den Bundestag noch nicht
erledigt. Die wichtigste Frage bleibt, wie wir zu einer
überzeugenden und effizienten Überwachung des Schienenverkehrs kommen können: In den vergangenen zehn
Jahren wurden beim Eisenbahn-Bundesamt 20 Prozent
Personal abgebaut, aber die Aufgaben sind ausgeweitet
worden. Dazu kommt, dass das EBA offenbar weitgehend den Weisungen aus dem Hause Ramsauer folgt.
Das jüngste und eklatanteste Beispiel dafür ist die Genehmigung des Tiefbahnhofes Stuttgart 21, wo die
Gleise ein Gefälle haben werden, das fünfmal größer ist,
als in der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung zugelassen. Kurz: Wir fordern, dass das EBA personell gestärkt und zu einer wirklich unabhängigen Institution
wird, die diesbezüglich dem Bundesrechnungshof vergleichbar sein könnte.
Zum vorliegenden Gesetzentwurf herrscht breites
Einvernehmen im Bundestag, nachdem die Koalition bereit war, die Änderungsvorschläge des Bundesrates aufzugreifen. Darüber freuen wir uns und stimmen deswegen dem Gesetzentwurf zu. Das Gesetz schafft mehr
Klarheit und schreibt die Verantwortung der Hersteller
von Bahnfahrzeugen stärker fest. Es ist richtig, diejenigen stärker in die Verantwortung zu ziehen, die die
Fahrzeuge konstruieren; denn die Hersteller kennen
sich am besten damit aus. Es ist vollkommen konsequent, den Herstellern eine stärkere Verantwortung für
die Sicherheit und Funktionstüchtigkeit zuzuweisen. Wir
können uns vor allem die Frage stellen, warum das bisher anders war. Mit dieser stärkeren Klarheit des Gesetzes sollte es insgesamt zu Verbesserungen kommen, da
zivilrechtliche Auseinandersetzungen zwischen Herstellern und Käufern von Bahnfahrzeugen zukünftig eher vermieden werden. Fälle wie beim Talent 2, als etwa 100 neue
Züge über zwei Jahre nicht fahren durften und stumm
vor sich hin rosteten, können wir so hoffentlich stärker
ausschließen. Das ist im Interesse von Herstellern und
Eisenbahnbetreibern, aber natürlich auch von Kunden,
die so schneller neue Wagen nutzen können.
Wir begrüßen, dass die Koalition die Vorschläge des
Bundesrates übernommen hat. Im Bundesrat sah das ja
noch anders aus: Hier hatte Staatssekretär Ferlemann
noch die Aufnahme des Lärmschutzes zurückgewiesen.
Wenn die Lärmschutzkartierung und die kostenfreie DaZu Protokoll gegebene Reden
tenlieferung jetzt im Bundes-Immissionsschutzgesetz
verankert werden, können wir Grüne damit gut leben.
Einmütigkeit ist in diesem Haus ja eher ungewöhnlich. Beim Eisenbahngesetz war die Problematik sehr offensichtlich, und deswegen müssen wir uns hierüber
nicht streiten. Streiten werden wir uns sicher bei anderen
Problemen, die noch ungelöst sind. Die heutige Gesetzesänderung geht ja auf die gebrochenen Radachsen an
ICEs zurück. Wir alle kennen den Bericht, der noch viel
weiter gehende Vorschläge macht als der heutige Gesetzentwurf. Ich will nur an das Thema Fahrgastrechte
erinnern. Hier warte ich weiter auf einen von der Verkehrsministerkonferenz geforderten Bericht. Der sollte
schon im Herbst vorliegen, und ich frage mich langsam,
welchen Stellenwert das Bundesverkehrsministerium
den Rechten der Fahrgäste eigentlich einräumt. Ich
hoffe, hier wird jetzt zügig nachgearbeitet.
Neben den Sicherheitsproblemen fragen viele Menschen aber auch, was wir Bundespolitiker tun, um den
Bahnverkehr leiser zu machen. Wir sind uns einig, dass
diese Problematik nicht unbedingt ins Eisenbahngesetz
gehört. Ich erwarte jetzt von der Bundesregierung konkrete Vorschläge, wann und wie der Schienenbonus fallen soll oder ob die Koalitionsfraktionen einen Antrag
dazu machen, weil ihre eigene Regierung nicht vorankommt. Wir können nicht auf den neuen Bundesverkehrswegeplan warten und bis dahin mit alten Grenzwerten planen und den Leuten die Sachen vor die Nase
setzen. Wenn es so kommt, werden wir in 15 Jahren noch
nach alten Regeln spielen!
Auch bei der Konkretisierung lärmabhängiger Trassenpreise sollte die Bundesregierung jetzt mal vorankommen. Wann wird hier die Ressortabstimmung endlich beendet sein? Die zwischen Bundesregierung und
Bahn beschlossene Eckpunktevereinbarung zur Einführung lärmabhängiger Trassenpreise vom Juli 2011 greift
zu kurz, da die leise Bremse - die LL-Sohle - noch nicht
zugelassen ist und die Umrüstkosten höher liegen. Zwar
sollen schon in diesem Jahr lärmabhängige Trassenpreise eingeführt werden, aber erst 2021/2022 sollen die
Preise dann endlich auch spürbar steigen. Damit wird
ein zu geringer Anreiz gesetzt, und wir fordern die Bundesregierung auf, hier deutlich ambitionierter zu sein.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8787, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8364 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren
und gewährleisten
- Drucksachen 17/5390, 17/6929 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Marina Schuster
Volker Beck ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute über einen Antrag der Linken, der
ein Bild der Menschenrechtslage zeichnet, das mit der
Realität wenig zu tun hat. Insofern kann ich Ihnen die
Kritik an Ihrem Antrag nicht ersparen.
Zu Beginn: Menschenrechtspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Das heißt, sie spielt in allen Politikfeldern eine Rolle. Menschenrechte haben für uns eine
ganz besondere Bedeutung; denn sie haben in Deutschland Verfassungsrang. Wir sind durch internationale
Konventionen und Verträge auch völkerrechtlich an die
Einhaltung der Menschenrechte gebunden. Ich möchte
ganz besonders das Engagement der Bundesregierung
hervorheben und vor allem Markus Löning, den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, für die
Akzente, die er bei seiner Arbeit setzt, loben. Er war gerade erst in Guantánamo. Er hat sich also eines Themas
angenommen, das nach wie vor auf der Agenda steht.
Ich möchte ihm für sein Engagement ganz herzlich Dank
sagen.
({0})
Jetzt zum Antrag der Linken. Ich habe bereits gesagt,
dass in ihm ein verzerrtes und verfälschendes Bild der
Menschenrechtssituation gezeichnet wird. Er enthält zudem handwerkliche Fehler. Ich kann Ihnen nicht ersparen, darauf hinzuweisen. Auf Seite 4 Ihres Antrags nehmen Sie Bezug auf den Staatenbericht aus dem Jahre
2001. Dieser ist mittlerweile über zehn Jahre alt. Zu dem
Zeitpunkt, als Sie den Antrag geschrieben haben, lag bereits der Staatenbericht aus 2008 vor. Warum Sie ihn
nicht erwähnt haben, weiß niemand. Wahrscheinlich haben Sie ihn übersehen, oder der neue Bericht passte nicht
zu Ihrer Argumentation. Ich plädiere dafür, dass Sie zukünftig Anträge vorlegen, die auf aktuellen Informationen basieren; das wäre dann ein konstruktiver Diskussionsbeitrag.
Da Sie den alten Bericht bevorzugt haben, stimmt Ihr
Referenzrahmen nicht. Sie weisen in Ihrem Antrag auf
Massenarbeitslosigkeit hin, obwohl wir heute glücklicherweise die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung haben. Ich finde, das sollte man anerkennen.
({1})
Manchmal frage ich mich, ob Sie aus Berlin nicht herauskommen. Zumindest kommen Sie nicht oft nach
Bayern. Dort gibt es eine Arbeitslosenquote von 3,4 Prozent. Insofern geht Ihr Antrag an der Wirklichkeit vorbei. Ich frage mich: Wie fühlt sich ein junger Spanier,
der einen Ausbildungsplatz sucht? Dort gibt es eine Arbeitslosenquote von fast 50 Prozent. Ich glaube, man
muss die Dimensionen zurechtrücken.
({2})
Natürlich gibt es in Deutschland Bereiche, um die wir
uns besonders kümmern müssen. Ich denke an die Integrationspolitik. Ich denke daran, dass es nach wie vor
Unterschiede bei den Einkommen von Männern und
Frauen gibt und dass Kinder in armen, auch bildungsarmen Verhältnissen groß werden. Es gibt auch großen
Umsetzungsbedarf bei der UN-Behindertenrechtskonvention.
({3})
Dazu gibt es in den Landtagen erste Beschlüsse. Sie aber
blenden die Realität aus und greifen einzelne Punkte aus
verschiedenen Themenbereichen auf. Das ergibt ein sehr
verzerrtes Bild. Sie vergessen dabei auch, dass viele
Aufgaben nicht allein in der Hand der Politik bzw. des
Gesetzgebers liegen, sondern dass wir alle gefordert
sind. Auch das gehört zur Debatte.
Ich komme zum Forderungsteil. In Ihrem Antrag sind
Forderungen aufgeführt, die keine finanzielle Hinterlegung haben und keine Gesetzentwürfe implizieren. Daher frage ich mich: Wie ernst meinen Sie es mit Ihrem
Antrag, wenn Sie die Mittel, die Sie fordern, nicht klar
benennen? Man sollte die Realität zur Kenntnis nehmen.
Im Titel Ihres Antrags ist von Anspruch und Wirklichkeit der Menschenrechtspolitik die Rede. Ich muss sagen: Sie sind zumindest meinem Anspruch nicht gerecht
geworden und der Wirklichkeit auch nicht.
({4})
Ganz zum Schluss möchte ich einige Bereiche exemplarisch herausgreifen; denn wir können in dieser Debatte natürlich nicht alle Politikfelder behandeln. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass wir die YogyakartaPrinzipien nicht umsetzen. Dabei hat die schwarz-gelbe
Regierung in diesem Bereich sehr viel erreicht.
Erstens. Wir haben die homosexuellen Lebenspartnerschaften bei der Erbschaftsteuer, der Grunderwerbsteuer,
beim BAföG und beim Beamten-, Richter- und Soldatenrecht mit der Ehe gleichgestellt.
Zweitens. Im Jahr 2011 haben wir endlich die
Magnus-Hirschfeld-Stiftung auf den Weg gebracht, um
durch Bildung und Forschung der Diskriminierung von
Homosexuellen entgegenzuwirken.
Drittens. Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeit
erstmals ein verbindliches Menschenrechtskonzept. Die
aktuelle Meldung aus Uganda, dass der Gesetzentwurf,
der die Todesstrafe für Homosexuelle vorsieht, erneut
eingebracht worden ist, belegt, dass dieses Konzept notwendig war und richtig ist.
Es gibt Bereiche, um die wir uns besonders kümmern
müssen. Man sollte aber auf der Grundlage von Berichten arbeiten, die der Bedeutung der Debatte gerecht werden. Davon gibt es eine ganze Reihe. Auch verschiedene
NGOs haben umfassende Berichte zur Menschenrechtslage in Deutschland vorgelegt. Diese sind für uns eine
wichtige Informationsquelle. Unsere Aufgabe ist, die Situation ständig zu überprüfen und zu verbessern. Daran
arbeitet die Bundesregierung, und diesen Weg werden
wir konsequent weitergehen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Zur Arbeit für die Menschenrechte gehört das
Fegen vor der eigenen Tür“, hat Willy Brandt im
Jahre 1987 gesagt. Ich denke, er hatte recht, als er das so
formuliert hat. Die Menschenrechte sind in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland fest verankert.
Doch wie sauber haben wir vor unserer Tür gefegt, und
wie erfolgreich sind die Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt? Diese Frage zu beantworten, ist unter anderem Aufgabe des Ausschusses für
Menschenrechte in diesem Parlament, der sich nicht nur
mit den Menschenrechten in den auswärtigen Beziehungen beschäftigt, sondern auch die Situation in der Bundesrepublik Deutschland im Fokus hat.
Der Antrag der Linksfraktion, über den wir heute
Abend diskutieren, enthält ein Sammelsurium von Themen, die eher die WSK-Rechte betreffen. Die Bundesregierung wird darin aufgefordert, die Menschenrechte zu
schützen. Daran ist an sich nichts Schlechtes. Aber ich
denke, der Antrag ist irreführend. Er ist definitiv nicht
der große Wurf.
Angelika Graf ({0})
({1})
Ich muss sagen: Ich empfinde ihn als ziemlich lieblos
zusammengeschustert.
({2})
Ich habe das Gefühl, hier wurden Texte verwertet, die
schon in anderen Anträgen zu lesen waren.
({3})
Ich habe zwar keine Textexegese betrieben, aber es liest
sich so.
Sie beschreiben Deutschland in Ihrem Antrag als ein
düsteres, ganz hinterwäldlerisches Entwicklungsland in
Sachen Umsetzung der Menschenrechte, vergleichbar
mit den Ländern, in die wir hin und wieder reisen, um im
Dialog mit den dortigen Regierungen die Einhaltung der
Menschenrechte einzufordern. Ohne überheblich wirken zu wollen - und bei aller Sympathie für einen engagierten Kampf für menschenrechtliche Belange -, muss
ich feststellen: Der Antrag atmet eine falsche, sehr subjektive Betrachtungs- und Herangehensweise. Er beschreibt die Realität in Deutschland nur unter pessimistischen Vorzeichen, und - Frau Schuster hat es schon
gesagt - er bezieht sich definitiv auf den Staatenbericht
aus dem Jahre 2001, obwohl der entsprechende Bericht
aus dem Jahre 2008 vorliegt. Wer so arbeitet, arbeitet
nicht reell.
({4})
In den Berichten internationaler Organisationen wird die
gegenwärtige Situation in Deutschland jedenfalls nicht
generell so negativ eingeschätzt, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, es in Ihrem Antrag tun.
Natürlich brauchen wir eine menschenwürdige Existenzgrundlage für sozial Schwache. Es gibt zu viele
Menschen, die - verschuldet oder unverschuldet - unter
menschenunwürdigen Bedingungen leben. Ich gebe Ihnen recht: Altersarmut ist ein ernsthaftes Problem. Die
Anmerkung sei aber erlaubt: Das Nichtvorhandensein eines bedingungslosen Grundeinkommens ist beileibe
noch keine Menschenrechtsverletzung.
({5})
Auf der anderen Seite ist richtig: Es gibt Defizite bei
den Menschenrechten - auch in Deutschland. Ein ganzheitlicher Ansatz bedeutet, besonders diejenigen zu
schützen, die am häufigsten von Benachteiligungen betroffen sind. Das sind Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Alte, Jugendliche und vor allem Menschen
mit Handicap. Hier geht es zum Beispiel um Gewalt gegen Frauen, Lohndiskriminierung, das fehlende kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer und die Ausgrenzung Älterer vom Arbeitsmarkt. Auch Transgender,
worüber wir in diesem Hohen Hause vor Kurzem eine
Debatte geführt haben, in der ich die Position der SPD
dazu dargelegt habe, ist ein solcher Punkt. In vielen Bereichen sind zudem Behinderte nicht genügend inkludiert.
Auch im Bereich der Flüchtlingspolitik gibt es definitiv noch Verbesserungsbedarf. Die Abschiebung von
Flüchtlingen, die zum Beispiel aus Syrien kommen und
bei denen die Gefahr besteht, dass sie von dort aus wieder nach Syrien abgeschoben werden, ist nicht hinnehmbar.
({6})
Unsere Aufgabe ist es, benachteiligten Menschen die
Möglichkeit zu geben, ihre legitimen Ansprüche einzufordern.
Ich bin völlig bei Ihnen, wenn Sie einen aktiven
Kampf gegen den latenten und sichtbaren Rassismus
einfordern. Initiativen gegen Rechtsextremismus fehlt es
seit dieser schwarz-gelben Regierung an der Finanzierung. Das haben wir heute früh ausführlich besprochen.
({7})
Ich hoffe, dass die Erkenntnis über die Täterschaft bei
den grausamen Morden an türkischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bei Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, einen nachhaltigen Umdenkungsprozess in Gang gesetzt hat.
({8})
Kommen wir zum Thema „Konventionen und Protokolle“. Das für die Antidiskriminierungspolitik zentrale
12. Protokoll der EMRK sollte schnellstens von
Deutschland ratifiziert werden; da gebe ich Ihnen recht.
Das gilt ebenso für das ILO-Übereinkommen 169, das
die Rechte indigener Völker betrifft. Darüber haben wir
uns erst gestern im Ausschuss unterhalten. Ich denke,
hier gibt es eine ganze Reihe von Punkten, die man in
diesem Zusammenhang erwähnen könnte, zum Beispiel
die vollkommen unzureichende Umsetzung der Behindertenrechtskonvention - das erkenne ich, wenn ich
mich mit behinderten Menschen unterhalte - und den
viel zu spät vorgelegten Nationalen Aktionsplan der Regierung dazu. Ich denke, um behinderten Menschen eine
gleichberechtigte Teilhabe am Leben zu ermöglichen,
wäre hier mehr nötig gewesen.
({9})
Erfreulich ist aber, dass die Bundesfamilienministerin
in diesen Tagen endlich das Zusatzprotokoll zur UNKinderrechtskonvention unterzeichnet hat. Auf die Notwendigkeit hat die SPD bereits im vergangenen Jahr hingewiesen. Im Flüchtlingsbereich besteht aber noch im19330
Angelika Graf ({10})
mer dringender Handlungsbedarf. Wenn ich auf die
Politik schaue, dann habe ich noch immer das Gefühl,
dass das Ausländerrecht über der UN-Kinderrechtskonvention steht.
Ich denke, auch auf formaler Ebene muss die Bundesregierung noch weitere dringende Schritte unternehmen.
Wie lange muss denn noch über die Ratifizierung des
Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren beraten werden? Wenn jemand nicht selbst die notwendigen weiteren Schritte einleitet, also vor der eigenen Haustür ordentlich fegt, dann
fehlt es ihm an Glaubwürdigkeit. Ich denke, an dieser
Glaubwürdigkeit sollten wir alle arbeiten.
({11})
Fest steht: Wir müssen an einer bestmöglichen Umsetzung der Einhaltung der Menschenrechte für die in
unserem Land lebenden Menschen festhalten, also vor
der eigenen Türe gründlich fegen. Das müssen wir tun,
auch wenn wir uns über einen Antrag wie den, den wir
heute behandeln, ein bisschen ärgern, weil er den Tatsachen nicht gerecht wird und die falschen Schwerpunkte
setzt. Aber so ist das Leben.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende fünfseitige Antrag leitet mit einem wunderbaren
Zitat ein:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
({0})
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Völlig richtig: Das ist in Art. 1 des Grundgesetzes festgehalten.
Aber damit endet das Positive dieses Antrages auch
schon. Denn anschließend zeichnen Sie ein Bild von
Deutschland, das von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migranten, Behinderten, Kindern, Alten und
aufgrund sexueller Orientierung und von fehlenden sozialen Rechten geprägt ist. So war es vielleicht in der
DDR, aber so ist es in der Bundesrepublik Deutschland
von Anfang an nicht gewesen.
({1})
Der Antrag ist meine sechs Minuten Redezeit nicht
wert. Ich werde sie nicht ausschöpfen.
({2})
Das Stichwort „Massenarbeitslosigkeit“ ist schon angesprochen worden. In welchem Land leben Sie? Gehen
Sie mit verbundenen Augen durchs Land? Sehen Sie,
dass sich Arbeitslosenströme zu den Suppenküchen wälzen? Ich sehe das nicht.
({3})
Wir haben eine so niedrige Arbeitslosenquote wie seit
Jahrzehnten nicht mehr.
({4})
Mit Sicherheit gibt es auch in unserem Lande Dinge,
die wir verbessern können und sollten. Aber das alles
fällt nicht unter den Begriff „Menschenrechtsverletzungen“; es sind Punkte, die den sozialen und menschlichen
Bereich betreffen. Wir sind sicherlich kein perfektes
Land - die eine oder andere Verbesserung wünschte ich
mir auch -, aber man kann nicht sagen, dass in diesem
Land Menschenrechte verletzt werden.
({5})
Ein Blick auf den Globus zeigt, dass Deutschland zu den
wenigen Ländern gehört, in denen die Menschen ihre
Würde bewahren können und Menschenrechte einen
Stellenwert haben. Hier sind die Menschenrechte nicht
nur ein Lippenbekenntnis.
Frau Kollegin Graf, Sie haben vieles angemerkt, was
wir als Regierungskoalition noch machen könnten. Aber
auch die rot-grüne Regierungskoalition hätte einiges machen können.
({6})
Dennoch sage ich: Alle Regierungen, auch die Ihrige,
hat Menschenrechtspolitik betrieben.
({7})
Die jetzige schwarz-gelbe Koalition macht eine hervorragende Menschenrechtspolitik.
({8})
Das ist uns ein Anliegen. Wir machen das nicht halbherzig.
Aber alles hat seine guten Seiten. Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, auch Ihr Antrag muss nicht im Papierkorb landen.
({9})
Er kann eine segensreiche Wirkung entfalten. Fahren Sie
nach Kuba! Bringen Sie ihn Fidel Castro, und sagen Sie
ihm, er solle all das umsetzen!
Danke schön.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Katrin Werner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir reden heute über die Menschenrechte in
Deutschland zwischen Anspruch und Wirklichkeit, auch
wenn es einigen von Ihnen nicht passt, weil Sie meinen,
es gehe uns prächtig und wir hätten keinen Grund zum
Jammern,
({0})
unsere Wirtschaft brumme, der Aufschwung sei da, die
Arbeitslosigkeit sinke und Deutschland sei eine Wohlstandsinsel mitten im krisengeschüttelten Europa.
({1})
Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Etwa 12 Millionen Menschen gelten als armutsgefährdet.
({2})
Das entspricht etwa jedem siebten Menschen. Dies geht
aus dem Armutsbericht 2011 hervor, den der Paritätische
Wohlfahrtsverband in Berlin vorstellte.
({3})
Laut Bertelsmann-Stiftung wachsen in Deutschland fast
20 Prozent aller Kinder in Armut auf und gelten als armutsgefährdet. Das ist jedes fünfte Kind. Allein in meiner Heimatstadt Trier leben 21 Prozent der Kinder unter
drei Jahren in Armut.
({4})
In Pirmasens, 130 Kilometer von Trier entfernt, sind es
37 Prozent.
Die Ursache von Kinderarmut ist meist die Einkommensarmut der Eltern. Besonders schwer trifft es Alleinerziehende und Frauen. Wer von seiner Hände Arbeit die
eigene Familie nicht ernähren kann, wer von Hartz IV
leben muss, dem bleibt kein Geld für Bildung oder Freizeit. Obwohl sich die meisten aller Eltern mit all ihrer
Kraft und Liebe um ihre Kinder kümmern, müssen sie
ihnen oft - und zwar sehr oft - sagen: Das können wir
uns nicht leisten. Sie können ihren Kindern nur gebrauchte Kleider kaufen. An der Klassenfahrt kann der
Sohn nicht teilnehmen. An Musikunterricht für die
Tochter ist nicht zu denken, und Urlaub kommt schon
gar nicht infrage.
({5})
Verstehen Sie das unter einem würdevollen Leben für
Kinder? Was tun Sie damit den Eltern dieser Kinder an?
Kinder aus Hartz-IV-Familien - das weiß inzwischen
jeder - sind schlechter ernährt. Fest steht auch, dass ihre
Bildungschancen deutlich schlechter sind. Oft wird Kinderarmut in Deutschland in Familien von Generation zu
Generation weitergereicht. Auf Kinderarmut folgt meist
Jugendarmut, und dann kommt, wenn überhaupt, eine
prekäre Beschäftigung. Damit ist dann auch Armut im
Alter vorprogrammiert. Das alles widerspricht der
Würde von Kindern zutiefst.
({6})
Für Linke gehören Kinderrechte ins Grundgesetz. Sie
müssen unantastbar sein.
Viele Menschen sind trotz Arbeit arm. Es gibt Küchenhilfen in Trier, die knapp 5 Euro pro Stunde bekommen. Überstunden werden mit einer Gratispizza und
Bier entgolten. Wie soll man damit eine Familie ernähren?
({7})
Über 1 000 Menschen müssen in Trier pro Woche zur
Tafel gehen. Gehen Sie einfach einmal zu einer Tafel
und sehen Sie sich die Menschen an, die oft unverschuldet in die Armutsfalle geraten sind und sich für vier Äpfel, drei Bananen und vielleicht eine Zitrone in einer langen Schlange anstellen müssen. Alle Achtung vor den
freiwilligen Helfern der Tafel! Aber dass wir Tafeln in
Deutschland überhaupt brauchen, das ist ein Skandal.
({8})
Ist das ein würdevolles Leben? Die Linke sagt: Leiharbeit, unsichere Beschäftigung und Armutslöhne verletzen die Würde von Millionen Menschen in Deutschland.
({9})
Die Linke sagt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
({10})
Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von
10 Euro pro Stunde ist nötig.
({11})
Wir brauchen den Mindestlohn, um die Würde der Menschen durchzusetzen. Ohne Mindestlohn gibt es keine
sozial gerechte Teilhabe in der Gesellschaft.
({12})
Was ist außerdem mit der Würde von Migrantinnen
und Migranten?
({13})
Über 7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund
haben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Nicht-EUAusländer dürfen selbst auf kommunaler Ebene nicht
wählen, obwohl sie ihre Steuern hier zahlen. Das ist ein
Schlag gegen unsere Demokratie. Die Linke fordert: Erleichtern Sie endlich die Einbürgerung, und lassen Sie
dabei mehrfache Staatsangehörigkeiten zu! Demokratie
braucht politische Mitbestimmung. Menschenrechte sind
unteilbar.
({14})
Die Linke fordert: Soziale Grundrechte gehören ins
Grundgesetz.
Vielen Dank.
({15})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Tom Koenigs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Werner, ein solcher Rundumschlag nützt
nichts. Man könnte viel präziser sein. Die internationalen Gremien und Vertragsorgane geben Deutschland
nämlich sehr präzise Ratschläge, wie man den Menschenrechtsschutz verbessern kann. Das Problem ist nur,
dass sich die Bundesregierung beratungsresistent zeigt.
Zugleich gibt man sich betroffen, wenn andere Regierungen ebenso stur auf Kritik in Menschenrechtsbelangen nicht reagieren.
Da, wo es starke Menschenrechtsinstitutionen gibt,
verbessert sich in der Regel die Menschenrechtslage.
Das hat auch die Bundesregierung in ihrem letzten Menschenrechtsbericht festgestellt. Trotzdem haben solche
Institutionen des Menschenrechtsschutzes in Deutschland einen schweren Stand. Ich erinnere an die Bundesstelle zur Verhütung von Folter, die nach Vorgabe der
internationalen Anti-Folter-Konvention, CAT, mehr als
300 Gefängnisse und Haftanstalten überprüfen soll.
Diese Aufgabe soll sie allerdings mit drei Mitarbeitern
erfüllen. Das kann nicht funktionieren.
({0})
Zugleich hat der Anti-Folter-Ausschuss des UN-Menschenrechtsrates im November 2011 kritisiert, dass die
Bundesregierung ihren Bericht zur Einhaltung der AntiFolter-Konvention zwei Jahre zu spät eingereicht hat.
Das muss auch nicht sein. Wie soll das ein Beobachter
zum Beispiel aus China anders interpretieren, als dass
die Umsetzung des Folterverbots die Deutschen nicht interessiert?
Ein anderes Beispiel ist die schleppende Umsetzung
der internationalen Menschenrechtsabkommen in
Deutschland. Dabei geht es nicht nur um das Fakultativprotokoll zum Sozialpakt, über das wir im Plenum und
im Ausschuss schon einige Male diskutiert haben. Auch
das Zusatzprotokoll des UN-Kinderrechtsprotokolls zur
Individualbeschwerde - endlich unterzeichnet ({1})
ist noch nicht ratifiziert. Ebenfalls nicht umgesetzt oder
unterzeichnet - Frau Graf hat das schon gesagt - sind die
ILO-Konvention 169 zur Stärkung der Rechte indigener
Völker in aller Welt, die UN-Konvention gegen Korruption, die Internationale Konvention zum Schutz der
Rechte aller Wanderarbeiter und ihrer Familienangehörigen und das Internationale Übereinkommen zum Schutz
aller Personen vor dem Verschwindenlassen.
Seit 30 Jahren wird geprüft, ob das Protokoll Nr. 7 zur
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten des Europarats nun endlich unterzeichnet werden kann oder vielleicht doch nicht. In diesem
Protokoll geht es um das Recht, wegen derselben Sache
nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden, und andere Grundsätze eines fairen Verfahrens. Was
hindert eigentlich Deutschland seit Jahrzehnten an der
Ratifizierung? Warum diese unwürdige Zurückhaltung?
({2})
Deutschland muss diese Abkommen und Protokolle
nicht nur deswegen unterzeichnen, weil sie Missstände
hier beheben sollen, wir müssen vielmehr in unserer
Menschenrechtspolitik vorbildlich sein - das sagen Sie
immer wieder -, um gegenüber anderen Regierungen
glaubwürdig zu sein. Wenn wir unsere eigenen Menschenrechtsinstitutionen schwach halten, ohne Not,
wenn wir internationale Abkommen aus opportunistischen Gründen nicht unterzeichnen, ohne Not, dann
wenden wir eben Double Standards, doppelte Standards,
an und entwerten damit Deutschlands Engagement für
die Menschenrechte, auf das wir so stolz sind.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was ist dem noch hinzuzufügen? Es ist von
verschiedenen Seiten sehr deutlich gemacht worden, um
was es eigentlich in dem Antrag der Linken geht. Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier auseinander. Wenn
man die Wirklichkeit darstellen will, dann muss man sie
auch realistisch darstellen. Überhöhungen, Verzerrungen
der menschenrechtlichen Lage in Deutschland oder vernichtende Kritik sind fehl am Platz. Einer meiner Vorredner hat gesagt, Deutschland werde wie ein kleiner
Staat irgendwo am Rande behandelt.
Das trifft die Situation nicht. Ihr Antrag beginnt mit
einigen Zeilen - Frau Steinbach, Sie hatten darauf verwiesen -, die wir alle unterschreiben würden; sie stehen
aber im Gegensatz zu Ihrer folgenden Darstellung der
Wirklichkeit. Durch Ihre Einleitung wird deutlich, dass
die Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist. Das Grundgesetz
ist die Grundlage, und zwar eine gute Grundlage, unseres Staates. Dann aber reden Sie davon, als würden wir
in Sachen Menschenrechte, um einen Vergleich mit dem
Fußball herzustellen, in der Kreisklasse spielen. Wir
spielen aber zumindest in der Bundesliga oder sogar in
der Champions League. So bewerten es zumindest andere Staaten.
Wir sind vielleicht nicht auf Platz 1, 2 oder 3, und
deshalb lassen wir uns gerne kritisieren. Ich danke Ihnen, Herr Koenigs, dass Sie das klargestellt haben.
Letztlich ist dieser Antrag in sich selbst nicht schlüssig,
weil er ein vernichtendes Urteil fällt, das nicht zutreffend ist.
({0})
Sie suggerieren, dass Deutschland einen bestimmten
Status habe, der so aber weder innerhalb des Landes
noch außerhalb des Landes wahrgenommen wird.
Heute Morgen gab es eine kleine Konferenz im Auswärtigen Amt. Auf dieser Konferenz wurde sehr deutlich, wie die Bewertung der Menschenrechtslage in
Deutschland ausfällt. Sie aber listen wahllos - Kollegen
haben das als Sammelsurium bezeichnet - Menschenrechtsverletzungen auf. Wir wissen um diese Dinge, weil
wir die entsprechenden Berichte gelesen haben. Wir begreifen sie als Aufforderung, die Menschenrechtslage zu
verbessern, so wie ein Fußballverein, um im Bild zu
bleiben, der auf Platz 5 der Bundesliga steht, sich natürlich verbessern will. Das, was Sie kritisiert haben, nehmen wir als Auftrag.
Ich leugne nicht, dass es diese Fälle gibt. Ich frage
aber erneut: Wo bleibt das Maß - Frau Schuster hat gefragt: Wo bleibt die Dimension? - bei der Diskussion,
die wir heute führen. Sie malen ein Bild, das nichts, aber
auch gar nichts mit den Realitäten in der Bundesrepublik
Deutschland im Jahr 2012 zu tun hat.
({1})
Ich sage noch einmal: Ich weiß um die Dinge. Wir haben die Berichte gelesen. Sie offensichtlich nicht, weil
Sie einige der Situationen in Ihrem Antrag gar nicht aufgegriffen haben. Uns erscheint die Forderung absurd,
das Grundgesetz mit der Einfügung einer Reihe von Einzelrechten künstlich aufzublähen. Das Grundgesetz ist
eben die Grundlage auch für die Ratifizierung des Pakts
über die WSK-Rechte, die ja bereits 1973 erfolgt ist.
Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Alpers?
({0})
Bitte.
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. Sie haben gerade gesagt, das, was wir gemacht haben, habe keinen
Bezug zur Realität.
({0})
Werder Bremen steht auf Platz 5 der Bundesligatabelle.
Sie haben recht: Auch wir Bremer und Bremerinnen
möchten besser werden. Wir haben sehr genau hingeschaut, wo wir stehen. Als Bildungspolitikerin sage ich,
und dabei bleibe ich: Bildung ist ein Menschenrecht.
({1})
Gemäß UN-Konvention soll die Rate der Analphabeten
weltweit halbiert werden. Wir haben in Deutschland
7,5 Millionen strukturelle Analphabeten. Wir haben
1,5 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und
29 ohne Berufsausbildung.
({2})
Wir könnten morgen früh über 2 Millionen jungen Menschen eine Ausbildung ermöglichen. Das ist eines von
vielen Beispielen.
Ich möchte uns jetzt nicht mit der Dritten Welt vergleichen. Wir sind hier in der ersten Welt.
({3})
Ich finde, wir sollten uns genau anschauen, wo wir selber stehen.
({4})
Deshalb frage ich Sie: Stimmen Sie mit mir überein,
dass wir ganz genau hinschauen müssen, unsere Bedingungen realistisch einschätzen müssen und uns der
Schwierigkeiten und Probleme, die wir noch haben, annehmen müssen?
({5})
Sie können es nicht damit abtun, zu sagen, wir sähen die
Realität nicht. Wir alle sehen die Menschen, und wir sehen alle, welche Bildungsanstrengungen noch nötig sind,
Herr Kollege.
({6})
Liebe Frau Kollegin, meine Kritik - ich habe das
zwei- oder dreimal in meiner Rede gerade gesagt - geht
nicht dahin, dass wir die Einzelfakten, die in den Berichten dargestellt werden, leugnen. Wir haben im Übrigen
mehr Berichte gelesen als Sie. Das Maß und die Art und
Weise allerdings, wie Sie Elemente aus diesen Berichten
in Ihrem Antrag zusammengefügt haben, disqualifiziert
die Aussage Ihres Antrags. Damit kommen wir nicht
klar.
Ich habe gerade ebenfalls gesagt, dass wir bereit sind,
zu arbeiten, um von dem Platz, auf dem wir stehen, weiter nach vorne zu rücken. Das ist uns wichtig. Es geht
nicht darum, dass wir Einzelne benachteiligen; Sie haben Beispiele in Ihrem Antrag aufgezählt.
Ich finde auch die Art und Weise, in welch vermessener Form Sie das degradieren, was unseren Staat ausmacht, nicht angemessen.
({0})
Gerade weil die Menschenrechte, hier insbesondere die
WSK-Rechte, also die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechte, so eine wichtige Rolle in
unserem Land spielen, hat sich die Bundesregierung zu
einer regelmäßigen Berichterstattung verpflichtet.
Wenn man nun in der Bundesliga und möglichst auch
in der Champions League spielen will, um noch einmal
dieses Bild zu benutzen, dann muss man auf hohem Niveau überprüfbar sein. Die Prüfberichte belegen, dass
man sehr genau hinschaut. Evaluation trägt dazu bei,
dass die Einhaltung der Menschenrechte in unserem
Land gesichert ist. Dieser setzen wir uns aus. Der
5. Staatenbericht, auf den Sie sich unter anderem beziehen und der 2008 erstellt und 2011 ergänzt wurde, redet
von der hohen Qualität entsprechender Bemühungen in
unserem Land.
({1})
Unter anderem wird den Arbeitsmarktreformen in unserem Land hohe Qualität zuerkannt. Gerade zu dem,
was Sie als Menschenrechtsverletzung beschreiben,
nämlich die hohe Massenarbeitslosigkeit in unserem
Land, wird geschrieben, dass die Arbeitslosigkeit auf
dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren ist.
({2})
- Entschuldigen Sie, aber diese Aussage steht den Standards und den Tatsachen, die Sie beschreiben, diametral
gegenüber.
({3})
Das gilt auch für die Annahme von Zielen, um die wirksame Umsetzung des Nationalen Integrationsplans sicherzustellen.
Das waren nur zwei Beispiele. Darüber hinaus - das
steht nicht in dem Bericht - müsste man weitere Maßnahmen hinzufügen, wie das Bildungs- und Teilhabepaket von 2011 und die mittlerweile eingeführten Branchenmindestlöhne. Bitte halten Sie mit uns auch
Folgendes fest: Es gibt Defizite, auf die der Bericht hinweist; die räumen wir auch ein. Aber wir wollen sie
nicht überhöhen. Wir wollen sie in einem vernünftigen
Maß betrachten.
Die Verwirklichung der Menschenrechte ist nichts
einfach Gegebenes, das man hinnimmt, sondern etwas,
das man anstrebt und wofür man kämpft. In diesem
Sinne wird die Bundesregierung für eine Umsetzung der
Forderungen des Staatenberichtes bis zum nächsten
Staatenbericht 2016 weiter arbeiten. Denn wir wollen
besser werden als bis dato. Ich weise diese maßlose Verzerrung des Bildes unseres Landes allerdings entschieden zurück.
({4})
International bescheinigt man Deutschland, wie zu
Beginn erwähnt, einen hohen Stellenwert. Sie werden
verstehen, dass wir den Worten und dem Wesen eines
solchen Antrags nicht zustimmen können.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, wünsche
uns eine gute Abstimmung und einen schönen Feierabend.
Danke schön.
({5})
Bis zu Letzterem haben wir hier noch ein kleines Pensum zu bewältigen, allerdings ohne weitere Debatten.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Vom
Anspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren und gewährleisten“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6929, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/5390 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die geodätischen Referenzsysteme, -netze
und geotopographischen Referenzdaten des
Bundes ({0})
- Drucksache 17/7375 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 17/8634 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Manuel Höferlin
Dr. Konstantin von Notz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael
Vizepräsidentin Petra Pau
Frieser für die Unionsfraktion, Gerold Reichenbach für
die SPD-Fraktion, Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion, Jan Korte für die Fraktion Die Linke und
Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Bis vor 20 Jahren war es notwendig, eine gedruckte
Landkarte in die Hand zu nehmen, um geografische,
topografische, klimatische oder politische Sachverhalte
eines Gebietes auf der Erde zu veranschaulichen und zu
dokumentieren. Im Vergleich dazu haben wir eine Revolution der Nutzung von Geodaten hinter uns: Es gehört
mittlerweile zu unserem Alltag, dass Menschen mit ihrem Smartphone auf der Suche nach Restaurants, Geschäften, Kinos, Museen oder anderen Treffpunkten
durch die Straßen eilen. Viele Autofahrer können sich Ihren Wochenendausflug ohne Navigationsgerät schon
nicht mehr vorstellen.
Geodaten spielen heute aber auch beispielsweise in
den Bereichen Raumplanung, Verkehrslenkung, Umwelt- und Naturschutz, Landesverteidigung, Innere
Sicherheit, Zivilschutz, bei Versicherungen, in der Gesundheitsvorsorge sowie Land- und Forstwirtschaft eine
bedeutende Rolle.
Geoinformationen sind durch die digitale Revolution
der Kommunikationstechnologie zu einem kostbaren
Wirtschaftsgut geworden. Sie sind in ihrer digitalen
Form einfach und schnell zu transportieren, sie lassen
sich schnell verarbeiten. Unzählige Unternehmen sind
gegründet worden, um Geodaten zu erheben, zu verarbeiten und zu veredeln.
Die Digitalisierung der Geodaten bietet nicht nur
neue Formen der Nutzung, sondern fordert in erster Linie vom Gesetzgeber tätig zu werden und neue Regelungen zu schaffen. Eine vielfältige und effiziente Nutzung
von Georeferenzdaten setzt voraus, dass sie in einheitlicher und bedarfsgerechter Qualität bereitgestellt
werden. Bisher bestehen für die von Bundesbehörden
erhobenen, verarbeiteten und genutzten Geodaten unterschiedliche Standards. Dies hat zur Folge, dass die
nichtharmonisierten Daten mit unterschiedlichen Qualitätsstandards für eine fachübergreifende Nutzung mit
hohem technischem Aufwand und in personalintensiven
Verfahren harmonisiert werden müssen. Dies würde entfallen, wenn für alle Stellen einheitliche qualitative und
technische Standards gelten würden.
Mit dem von der Bundesregierung dem Bundestag
vorgelegten Bundesgeoreferenzdatengesetz unterstützen wir den Zukunftsmarkt der Geoinformationen. Damit wird die Rolle verdeutlicht, die verlässliche und aktuelle Geodaten für unsere Gesellschaft spielen.
Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie neue Geschäftsfelder erschließen können und so bessere Informationen für Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung gestellt werden. Durch die Vernetzung von Geodaten
können zudem Entscheidungsprozesse innerhalb von öffentlichen Verwaltungen effizienter und effektiver werden.
Die Bundesregierung will deshalb ein Qualitätszeichen setzen. Sie will die flächendeckende Bereitstellung
standardisierter, qualitativ hochwertiger Georeferenzdaten für den Bund sicherstellen. Der Gesetzentwurf
dient dazu, den rechtlichen Vorgaben, die sich in erster
Linie aus der Umsetzung der INSPIRE-Richtlinie der
Europäischen Union ergeben, und den Anforderungen
der Nutzer hinsichtlich der Versorgung mit Geoinformationen gerecht zu werden. Bund, Länder und Kommunen
werden angehalten, amtliche Geoinformationen in einheitlichen Datenstandards aufzubereiten und nutzerfreundlich im Internet anzubieten.
Der Gesetzentwurf gibt den betroffenen Behörden des
Bundes, die Geodaten erheben und verarbeiten, die Einhaltung bestimmter qualitativer und technischer Standards vor. Die Qualitätsstandards sollen insbesondere
Aktualität, Vollständigkeit und Homogenität sicherstellen, sodass eine breite Nutzung nachhaltig, aktuell und
bedarfsgerecht sichergestellt ist.
Der Bund will sich bei der Festlegung der Standards
eng mit den Ländern abstimmen. Eine erfolgreiche Geoinformationspolitik ist nur auf der Grundlage einer engen, konstruktiven Zusammenarbeit von Bund und Bundesländern möglich. Mit den Änderungsvorschlägen des
Innenausschusses - sie dienen in erster Linie der Klarstellung - soll die bisherige gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet des Geoinformationswesens weiter gefördert werden. Beide Seiten
- Bund und Länder - haben ein gemeinsames Interesse,
einheitliche und qualitativ hochwertige Datenstandards
anzubieten.
Die Bundesregierung unterstützt diese Änderungsvorschläge, und auch die Bundesländer haben bereits
signalisiert, dass mit den Änderungen letzte Missverständnisse ausgeräumt wurden und nun dem Gesetzentwurf zugestimmt werden kann.
Eine bessere und bedarfsgerechtere Versorgung des
Bundes mit raumbezogenen Grundinformationen wird
zudem mit dem Ausbau des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie zu einem zentralen Dienstleister des
Bundes für Geoinformationen unterstützt. Das Bundesamt stellt den Bedarf an Geodaten für den Bund fest und
stellt diese über ein Geoportal im Internet zur Verfügung. Es wird die Bundesbehörden bei der standardkonformen Entwicklung und Nutzung ihrer Geodatendienste
unterstützen.
Die verbesserte Standardisierung und Koordinierung
der Georeferenzdaten wird dazu beitragen, dass Geoinformationen zu einem Motor für die Internetwirtschaft
und für unsere Wissens- und Informationsgesellschaft
werden. So sichern wir die führende Rolle Deutschlands
auf diesem Gebiet. Ich lade Sie daher ein, mit uns den
Zukunftsmarkt Geoinformationen durch die Verabschiedung des Geodatenreferenzgesetzes zu fördern und bitte
um Zustimmung für den Gesetzentwurf.
Derzeit bestehen für die Erfassung von Geodaten in
der Bundesverwaltung unterschiedliche und in den Bun19336
desländern unverbindliche Standards. Geotopografische Referenzdaten werden aber überall benötigt. Sie
sind wichtig für die Raumplanung, für die Verkehrslenkung, für die Versorgung und Entsorgung bis hin zum
Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Leider gibt es
bislang aufgrund der föderalen Struktur keine einheitliche Standardisierung zur Erfassung und Darstellung
geotopografischer Referenzdaten des Bundes und des
amtlichen Vermessungswesens. Das kann Konsequenzen
haben, wenn beispielsweise in meiner Region die Versorgungswerke Mainz sowohl für Gebiete in RheinlandPfalz als auch in Hessen zuständig und dabei auf Daten
der Landesvermessungsämter sowohl aus RheinlandPfalz als auch aus Hessen angewiesen sind, diese aber
mit unterschiedlichen Standards geliefert werden. So
kann es zu Abweichungen und Fehlerquellen kommen,
jedenfalls führt es aber zu Mehraufwand.
Die verschiedenen Bundes- und Landesbehörden erstellen die Geodaten unter Verwendung unterschiedlicher Technik und verwenden dabei unterschiedliche
Leistungsmerkmale und Standards. Um diese dann überhaupt in Zusammenhang bringen zu können, müssen sie
im Bundesamt für Kartographie und Geodäsie mit viel
Aufwand vereinheitlicht werden. Erhebliche Abweichungen sind dabei vorprogrammiert.
Bund und Länder benötigen für ihre Aufgabenerfüllung viele aktuelle und qualitativ hochwertige Informationen. Das Potenzial aller gesammelten Daten kann
erst dann ausgeschöpft werden, wenn diese von homogener Qualität sind und mithilfe standardisierter Methoden und Verfahren zu einem leistungsfähigen Geodatenmanagement zusammengeführt werden können. Die
gleiche Forderung gibt es bei den Vereinten Nationen
und auf europäischer Ebene. Unwirtschaftliche Doppelarbeit soll und kann so vermieden werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt das Anliegen der Bundesregierung, zumindest für den Bereich des
Bundes für eine effektivere Verfahrensweise zu sorgen.
Wir haben dazu auch einen internationalen und unionsrechtlichen Auftrag. Bisher gibt es auf Bundesebene
insbesondere das Geodatenzugangsgesetz, mit dem die
INSPIRE-Richtlinie auf Bundesebene umgesetzt wurde.
Die INSPIRE-Richtlinie hat zum Ziel, eine Geodateninfrastruktur in der Europäischen Gemeinschaft zu schaffen. Durch die im Geodatenzugangsgesetz festgelegten
Standards sollen der Austausch und die gemeinsame
Nutzung von Geodaten, also damit auch von geotopografischen Referenzdaten und Daten des amtlichen
Vermessungswesens, ermöglicht werden. Das Geodatenzugangsgesetz regelt die Standardisierung geotopografischer Referenzdaten, aber nicht in gleicher Weise wie
das Georeferenzdatengesetz. Es gibt im Geodatenzugangsgesetz keine Regelungen, um die Qualität, also
Aktualität, Einheitlichkeit und Vollständigkeit, der geotopografischen Referenzdaten zu verbessern. Mit dem
heute hier vorliegenden Gesetzentwurf zu den Georeferenzdaten soll es eine verbesserte Nutzungsmöglichkeit
der allen Geodaten zugrunde liegenden geodätischen
Referenzsysteme, -netze und geotopografischen Referenzdaten geben. Das heißt, zum einen sollen auf Bundesebene verbindliche Qualitätsstandards sichergestellt
werden. Die Datenerfassung orientiert sich dabei insbesondere am eigenen Bedarf und den dem Bund im
Grundgesetz zugewiesenen Kompetenzen und Aufgaben.
Zum anderen wird das Bundesamt für Kartographie und
Geodäsie zu einem Dienstleistungszentrum des Bundes
für Geoinformationen ausgebaut und erhält für diese
Aufgabenstellung eine gesetzliche Grundlage.
Zusätzlich werden mit den im Innenausschuss beschlossenen Änderungen letzte Unsicherheiten beseitigt.
Die Länder haben während des gesamten Abstimmungsverfahrens Bedenken geäußert, ob der Bund in diesem
Bereich überhaupt eine Zuständigkeit hat. Der Gesetzentwurf beziehe sich auf Daten, die definitions- und inhaltsgleich mit denen des amtlichen Vermessungswesens
einschließlich der Geobasisinformationen seien, wofür
eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder bestehe. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
werden letzte Unklarheiten beseitigt. § 1 des Bundesgeoreferenzdatengesetzentwurfs stellt nun deutlich darauf
ab, dass Länderdaten nur im Rahmen ihrer Nutzungsrechte einbezogen sind. § 6 des Gesetzentwurfs sieht die
Festlegung der Standards so weit wie möglich im Einvernehmen mit den Ländern vor.
Wir haben heute die Gelegenheit, ein Gesetz zu verabschieden, das eine längere Vorgeschichte hat. Die einheitliche Nutzung von Geodaten wurde schon zu Zeiten
der rot-grünen Koalition von den Sozialdemokraten
befürwortet und unter Otto Schily vorangetrieben. Die
einheitliche Nutzung von Geodaten ist wichtig und notwendig, um nationale, europäische und internationale
Verpflichtungen zu erfüllen. Ich hoffe, dass wir mit
diesem Gesetz einen Schritt weiter kommen und den
Bedenken der Länder Rechnung getragen haben. Darum
wird die SPD-Bundestagsfraktion der Regierungsvorlage zustimmen, nicht zuletzt, weil es die Fortsetzung
einer von Sozialdemokraten eingeleiteten Politik ist, die
Georeferenzdaten unseres Landes besser und einheitlicher nutzen zu können.
Mit dem Bundesgeoreferenzdatengesetz schließen wir
eine wichtige Lücke bei der Handhabung von Geodaten
durch Bundesbehörden.
Bisher waren Bundesbehörden nahezu ausschließlich
auf die Daten von Ländern und deren Referenzsysteme
bei der Handhabung von Geodaten angewiesen. Auch
im Hinblick auf harmonische, bundesweit einheitliche
Datenstrukturen und Qualitätskontrolle waren nicht
ausreichend Grundlagen gegeben. Dies hat in der Vergangenheit immer wieder auf Bundesebene dazu geführt, dass Unklarheiten bezüglich der Kompetenzen bei
Bundesbehörden für die Aufbereitung bzw. Bereitstellung von Georeferenzdaten herrschten - insbesondere da diese durch die europäische INSPIRE-Richtlinie
dem Subsidiaritätsprinzip unterworfen waren und damit
vorrangig in die Zuständigkeit der Länder fielen.
Das Georeferenzdatengesetz schließt diese Lücke und
macht den Weg frei für eine gute, wohlgeordnete und
subsidiäre Geodateninfrastruktur in Deutschland. Es ermöglicht dem Bund, fachübergreifend im Rahmen seiner
Zu Protokoll gegebene Reden
Zuständigkeit erhaltene Geodaten zu harmonisieren und
zu standardisieren. Wir erhoffen uns hierdurch einen
Qualitätsgewinn bei der Verwaltung der amtlichen Geodaten.
Auch werden durch dieses Gesetz etwaige bestehende
Unklarheiten bei den Kompetenzen der verschiedenen
Behörden ausgeräumt. Das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie ist zentraler Ansprechpartner für alle
Fragen der Standardisierung amtlicher Geodaten im
Rahmen der Zuständigkeit des Bundes. Das können wir
als Erfolg für die christlich-liberale Koalition in dem
immer wichtiger werdenden Feld der Geoinformationswirtschaft, aber auch für die Wissenschaft, die Raumplanung und die öffentliche Verwaltung festhalten.
Und nicht zuletzt profitieren auch in immer stärkerem
Maße die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland durch
die hochwertigen Geodaten, durch zügigere Bereitstellung von Diensten, durch schnellere Bauvorhaben und
Planungen und durch eine verbesserte Datenbasis. Über
das Internet abrufbare Geodatenfachportale bieten
ihnen zusätzlich unmittelbar selbst Zugang zu den Geodaten und den damit verknüpften Diensten.
Gleichzeitig unterstreichen wir mit dem Georeferenzdatengesetz und vor allem mit unserem Ergänzungsantrag hierzu noch einmal, dass die Generierung von Georeferenzdaten und -systemen eine Aufgabe ist, die von
den Ländern in ihrem Zuständigkeitsbereich erfüllt wird
und deren Position wir hier als eine wichtige Leistung
für die föderale Kooperation respektieren.
Insgesamt möchte ich festhalten, dass das Georeferenzdatengesetz ein richtiger und notwendiger Schritt
war. Daher freue ich mich auch sehr darüber, dass Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus der SPD, im Innenausschuss dem Gesetzentwurf der christlich-liberalen
Koalition zugestimmt haben.
Der uns heute zur Beratung vorliegende Gesetzentwurf soll die Verfügbarkeit und den Austausch der beim
Bund erhobenen, verarbeiteten und genutzten Geodaten
durch Anwendung einheitlicher Standards verbessern.
Gleichzeitig soll damit das Bundesamt für Kartographie
und Geodäsie zum zentralen Dienstleister in Sachen
Bereitstellung solcher Daten gemacht und dem Bundesamt als selbstständiger Bundesoberbehörde die gesetzliche Grundlage gegeben werden.
Die Betonung auf „beim Bund“ verarbeitete und genutzte Daten ist der Versuch einer Antwort der Bundesregierung auf die Kritik, die der Bundesrat und seine
Ausschüsse an dem Gesetzentwurf geäußert haben.
Offenbar wurde mit heißer Nadel gestrickt und halbherzig versucht, durch Änderungsanträge der Kritik aus
den Ländern wenigstens formal die Grundlage zu entziehen und die gröbsten Bedenken verfassungsrechtlicher,
fachlicher und finanzieller Art auszuräumen. Dies ist
Ihnen jedoch nicht wirklich gelungen.
Der zentrale Vorwurf der Länder, dass dieses Gesetz
die Gefahr berge, Parallelstrukturen zu schaffen und die
bisher im Großen und Ganzen fachlich und finanziell bewährten funktionierenden Strukturen zuungunsten der
Länder aufzulösen, wurde von der Bundesregierung
nicht überzeugend widerlegt.
Die Befürchtung der Länder, angesichts des wachsenden Marktes für Geodaten aller Art und des Ausbaus des
Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie sehr
schnell ins Hintertreffen zu geraten, ist nur zu sehr verständlich. Da mag der Gesetzentwurf noch so sehr betonen, dass der Bund ja nur im Rahmen seiner bisher
schon geltenden Nutzungsrechte die Länderdaten verwenden werde. Es ist doch so: Die Länder liefern, wie
andere Behörden des Bundes auch, Daten. Der Bund
erwirbt daraufhin die Nutzungsrechte an den Länderdaten und „harmonisiert“ sie erst dann, wie es in der
Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates heißt. Dafür, so vermutet unseres Erachtens die Länderkammer zu Recht, reicht der
Rahmen der bisherigen Nutzungsvereinbarungen und
ihrer finanziellen Regelungen jedoch nicht mehr aus.
Alle weiteren Geschäfte werden vom Bund gemacht,
der sich ja auch ausdrücklich auf den Druck kommerzieller Fachanwender beruft, um die neuen Aufgaben zu
begründen. Die Sorge ist kaum von der Hand zu weisen,
dass die Konkurrenz zwischen Standards, die der Bund
jetzt entwickelt, und denen, die bisher zwischen der
Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der
Länder, AdV, und dem Bund gegolten haben, bewusst angestrebt wird. Das Ziel dabei ist, durch die vorgeschlagenen Regelungen dieses Gesetzes Druck auf die
Länder auszuüben. Durch diese Strategie der vollendeten Tatsachen sollen die Länder veranlasst werden, die
neuen vom Bund geforderten Standards vorweg zu übernehmen, und das, obwohl die bisherigen Standards nach
Ansicht der Länder funktionieren.
Weil die Frage des Geodatenzugangsgesetzes schon
im Interesse der Bundesregierung gelöst ist, glaubt sie
wohl, auf die enge Zusammenarbeit mit den Ländern im
vorliegenden Fall verzichten zu können. Logischerweise
sieht das im Gesetz selbst formulierte „Benehmen“ mit
den Ländern, das dieser Harmonisierung vorausgehen
soll, ja auch nur die schwächste Form der Kooperation
zwischen Bund und Ländern vor. Eine vertrauensvolle
und problemorientierte Kooperation zwischen Bund und
Ländern sieht nach Auffassung meiner Fraktion jedenfalls anders aus.
Zwei Anmerkungen zum Schluss:
Erstens bedeutet das vorliegende Gesetz einen weiteren großen Schritt zur Kommerzialisierung aller Geodaten. Diese Entwicklung entspricht keineswegs den
Grundsätzen von Open Data und Open Government.
Zweitens hätten angesichts der ja umfassend geplanten Nutzung der Daten auch für Zivil- und Katastrophenschutz datenschutzrechtliche Grundsätze aufgenommen werden können. Selbstverständlich bin ich
mir dessen bewusst, dass das eigentliche Problem hinsichtlich des Datenschutzes das Geodatenzugangsgesetz
und die ihr zugrunde liegende EU-INSPIRE-Richtlinie
ist. Aber: auf Letztere bezieht sich die Bundesregierung
Zu Protokoll gegebene Reden
ja ausdrücklich in den ersten Sätzen der allgemeinen
Begründung des Gesetzentwurfs.
Das BMI hat, warum auch immer, im Gesetzentwurf
auf die Formulierung datenschutzrechtlicher Rahmenbestimmungen verzichtet. Einige klarstellende Sätze und
Bezüge zu den grundsätzlich mit der ausufernden
Kommerzialisierung der Geodaten verbundenen Datenschutzfragen - der Personenbeziehbarkeit bestimmter
Geodaten also - hätten diesem Gesetzentwurf aus meiner Sicht gutgetan. Stattdessen werden auch hier in der
Praxis wieder unendliche Umwege über die Regelungen
des Bundesdatenschutzgesetzes notwendig werden. Aber
das sind wir von Gesetzentwürfen der Bundesregierung
ja auch nicht anders gewohnt.
Aus all diesen Gründen ist der Fraktion Die Linke
eine Zustimmung zu diesem Entwurf nicht möglich. Wir
werden deshalb mit Enthaltung stimmen.
Die Ziele des Entwurfes für ein Bundesgeoreferenz-
datengesetz unterstützen wir ausdrücklich. Die ange-
strebte stärkere Standardisierung der Erfassung und
Darstellung von Georeferenzdaten ist Voraussetzung für
die sinnvolle Nutzung dieser Daten durch die Behörden,
die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft.
Geodaten sind von großem Wert für die Erfüllung der
Aufgaben der Verwaltung, etwa für die Planung von mo-
dernen Transport- und Kommunikationssystemen. Die
Öffentlichkeit und Zugänglichkeit von Geodaten ist
zudem ein wichtiges Element der notwendigen Transpa-
renz im demokratischen Rechtsstaat, in dem Bürgerin-
nen und Bürger mitdiskutieren und mitentscheiden wol-
len und sollen - zum Beispiel über die Verwirklichung
von Infrastrukturprojekten. Geodaten sind außerdem ein
wichtiges Wirtschaftsgut, aus dem neue, innovative Pro-
dukte entwickelt werden können.
Voraussetzung für eine effiziente Verwertung ist
neben der öffentlichen Zugänglichkeit dieser Daten
auch eine Standardisierung von Erfassung und Darstel-
lung und eine größere Interoperabilität der technischen
Formate, in denen die Daten zur Verfügung gestellt
werden.
Natürlich ist eine solche Standardisierung auch für
den europäischen und internationalen Austausch nötig.
Da haben wir vor allem auch im Hinblick auf die EU-
Anforderungen aus der INSPIRE-Richtlinie noch eini-
gen Aufholbedarf, sowohl was die Zugänglichkeit als
auch was die Standardisierung der Veröffentlichung und
die Downloadbarkeit dieser Daten angeht.
Insofern begrüße ich das Vorhaben der Bundesregie-
rung, sich da weiterzuentwickeln. Was uns die Bundes-
regierung mit diesem Gesetzentwurf vorlegt, ist nach
dem Geodatenzugangsgesetz 2009 aber leider nur ein
weiterer Fetzen im Flickenteppich der gesetzlichen
Regelungen zu Geodaten, der die wesentlichen Fragen
und Probleme - das muss man leider an dieser Stelle
sagen - auch weiterhin offenlässt.
Dabei ist mir klar, dass die Standardisierung von
Geodaten im Gefüge unseres Bundesstaates keine ein-
fache Sache ist. Was aber nun nach jahrelanger
Verhandlung des Gesetzentwurfs herausgekommen ist,
kann aus meiner Sicht vor allem in zwei Bereichen nicht
befriedigen:
Erstens reichen die getroffenen Regelungen, die zu ei-
ner größeren Standardisierung führen sollen, in keiner
Weise aus, um eine stärkere Standardisierung und die
Weiterentwicklung zu einem modernen, offenen Staat
wirksam zu fördern. Es ist zu wenig, wie der vorliegende
Gesetzentwurf das tut, einem interministeriellen Aus-
schuss für Geoinformationswesen die Befugnis zu über-
tragen, technische Richtlinien festzulegen und das
Bundesamt für Kartographie und Geodäsie zur selbst-
ständigen Bundesoberbehörde aufzuwerten. Da müsste
sich der Gesetzgeber schon etwas weiter vorwagen und
selbst Grundprinzipien des modernen offenen Staates im
Sinne von Open-Data-Prinzipien festlegen.
Zweitens. Völlig unbefriedigend und unangemessen
ist an dem Gesetzentwurf außerdem, dass die zentralen
Interessenskonfliktpunkte, die sich bei der Bereitstellung
von Geodaten immer ergeben, in dem Gesetzentwurf
einfach ausgeklammert werden. Der schwierige Konflikt
zwischen verschiedenen öffentlichen und privaten Inte-
ressen, zwischen dem berechtigten Transparenzinteresse
der Öffentlichkeit, den wirtschaftlichen Interessen an
Geodaten und den Datenschutzinteressen der Betroffe-
nen löst sich aber nicht dadurch in Wohlgefallen auf,
dass man ihn totschweigt. Wie man den Konflikt zwi-
schen Transparenzanforderungen auf der einen Seite
und Datenschutzinteressen auf der anderen Seite löst, ist
zweifellos eine schwierige Frage in einer modernen
Demokratie. Darauf gibt es gewiss keine einfachen
Antworten, auch wir haben diese nicht. Dennoch hat
sich meine Fraktion auf den Weg gemacht, diese Fragen
anzugehen. Sie hingegen klammern diese Fragen ein-
fach aus. Ich bin sicher, dass uns diese Fragen in den
nächsten Jahren hier noch öfter beschäftigen werden,
zum Beispiel bei der Reform des Informationsfreiheits-
gesetzes.
Zwei Dinge aber liegen auf der Hand, und sie machen
den vorliegenden Gesetzentwurf ohne jegliche Behand-
lung von Datenschutzfragen so unzureichend: Geodaten
können von persönlichkeitsrechtlicher und datenschutz-
rechtlicher Relevanz sein. Das bestreitet meines Wissens
auch niemand. Diese Persönlichkeitsrechts- und Daten-
schutzrelevanz potenziert sich mit einer Standardisie-
rung der Erfassung, Darstellung und Bereitstellung, sie
potenziert sich mit der Interoperabilität und der Verein-
heitlichung technischer Richtlinien für die Bereitstel-
lung von Daten. Denn dadurch wird es viel einfacher,
Informationen mit Personenbezug zu sammeln, zu bün-
deln und weiterzuverarbeiten. Damit muss man umge-
hen, das muss datenschutzrechtlich aufgefangen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf verliert darüber jedoch
kein Wort. Meine Fraktion und ich können dem Entwurf
deshalb leider nicht zustimmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8634, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7375 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Abstimmungsergebnis wie
bei der zweiten Lesung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bildungsarmut durch Alphabetisierung und
Grundbildung entgegenwirken
- Drucksache 17/8765 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Niemanden abschreiben - Analphabetismus
wirksam entgegentreten, Grundbildung für
alle sichern
- Drucksache 17/8766 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war eine
halbe Stunde für die Debatte vorgesehen. Wir haben allerdings gerade zwischen den Fraktionen vereinbart,
dass wir die Beiträge des Kollegen Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, des Kollegen Weinberg
für die Unionsfraktion, des Kollegen Rossmann für die
SPD-Fraktion, des Kollegen Meinhardt für die FDPFraktion,
({2})
der Kollegin Hein für die Fraktion Die Linke, des Kolle-
gen Knoerig für die Unionsfraktion sowie des Kollegen
Schulz für die SPD-Fraktion zu Protokoll nehmen.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8765 und 17/8766 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Konzessionsvergabe
KOM({3}) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11
hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon
({4})
Ausschreibungspflicht bei Dienstleistungskon-
zessionen ablehnen - Kommunale Daseinsvor-
sorge sichern
- Drucksache 17/8761 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Konzessionsvergabe
KOM({5}) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11
hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon
({6})
Klares Signal zum Schutz der kommunalen
Daseinsvorsorge setzen
- Drucksache 17/8768 -
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Kol-
lege Dr. Nüßlein für die Unionsfraktion, Kollege Nink
für die SPD-Fraktion, Kollegin Dr. Reinemund für die
FDP-Fraktion, Kollegin Kunert für die Fraktion Die Linke
und Kollegin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
1) Anlage 2
Dass SPD und Grüne heute einmal Anträge auf den
Tisch legen, die ich fast 1 : 1 unterschreiben könnte, hat
wirklich Seltenheitswert. Aber wo Rot-Grün in der Sache ausnahmsweise einmal recht hat, da hat sie eben
mal recht. Besonders der Antrag der SPD bezüglich der
Subsidiaritätsrüge ist in seiner Begründung wirklich lesenswert.
Was sich übereifrige EU-Beamte aus dem Hause
Barnier da mit dem Richtlinienvorschlag über die Konzessionsvergabe wieder haben einfallen lassen, zeigt,
wie weltfremd, ja wie für die EU-Bürger gar schädlich
so manche Ergüsse aus der EU-Kommission sind. Oder
sind sie gar nur lobbygeführt? Cui bono?, heißt die
Frage, die sich hier echt aufdrängt.
An dieser Stelle darf ich auch an die Ministerialbeamten unseres Bundeswirtschaftsministeriums und an
seine politische Spitze, aber auch an unsere lieben Kollegen von der FDP-Fraktion appellieren, nicht alles in
voreiligem Gehorsam mitzumachen, was da aus Brüssel
kommt. Nur die Rücksicht auf den Koalitionspartner
hält mich persönlich davon ab, der Opposition zuzustimmen; dies, obwohl ich weiß, dass die Rücksicht eine Einbahnstraße ist.
Der jetzt vorliegende Richtlinienvorschlag ist unnötig
und falsch: Mit einem solchen Rechtsakt würde nämlich
der Gestaltungsspielraum unserer Kommunen gerade
bei der so existenziell wichtigen Wasserversorgung erheblich eingeschränkt. Dienstleistungskonzessionen im
Besonderen haben - wie die Grünen richtig schreiben lange Laufzeiten. Das liegt in der Natur der Sache. Die
Laufzeiten können die Kommunen mit dem Konzessionsnehmer nach heutigem Recht vertraglich frei bestimmen.
Mit der vorgelegten Richtlinie würden bestimmte Laufzeiten EU-rechtlich festgelegt. Dazu kommt: In einem
solchen EU-weiten Vergabeverfahren könnten alle Mitbewerber aus dem EU-Raum gegen die Vergabe dieser
oder jener Konzession klagen. Damit käme eine Flut von
möglichen Klagefällen vor den Vergabekammern auf unsere Städte und Gemeinden zu. Die Dienstleistungskonzessionen wären faktisch vollständig dem Vergaberecht
unterworfen. Unsere Kommunen wären also an enge
Ketten gelegt - und das bei so fundamentalen Aufgaben
wie der Wasserversorgung oder Abwasserentsorgung.
Das halte ich für völlig daneben.
Unser Subsidiaritätsprinzip, das nicht nur in Art. 28
unseres Grundgesetzes, sondern auch in Art. 5 des EUVertrages zu Recht verankert ist, wird hier mit Füßen getreten. Die herausragend gute Wasserversorgung bei
uns ist ein Beispiel dafür, dass hier subsidiär auf kommunaler Ebene Großartiges geleistet wird - ohne Brüssel. Natürlich argumentiert die Kommission vordergründig, mehr Transparenz und Wettbewerb auf den
öffentlichen Beschaffungsmärkten herstellen, den Binnenmarkt vorantreiben und mehr Rechtssicherheit
schaffen zu wollen. Aber nehmen wir nur die geplante
Verschärfung des Vergaberechts im Bereich der Trinkwasserversorgung her: Eine EU-weite Ausschreibungspflicht sorgt eben nicht für mehr Transparenz, sondern
durch höheren Verwaltungsaufwand für mehr Bürokratie und damit für höhere Kosten für die Verbraucher.
Schlimmer noch: Die europaweit führende Trinkwasserqualität in Deutschland wird doch nicht gerade dadurch gesichert, dass ein rumänisches Wasserunternehmen den Zuschlag für die Wasserversorgung zum
Beispiel in Neu-Ulm, in Görlitz, in Recklinghausen oder
in Flensburg erhält und dann von Bukarest aus die
Trinkwasserqualitätskriterien überwachen soll. Wer will
das denn? Gerade bei der Wasserversorgung kann man
doch nicht von grenzüberschreitendem Dienstleistungsverkehr sprechen! Gerade weil unsere Kommunen die
Gestaltungshoheit über die Trinkwasserversorgung für
ihre Einwohner vor Ort haben und damit im Sinne einer
besonderen Fürsorgepflicht für „ihre“ Bürger besonders auf ein Topniveau des Trinkwassers achten, haben
wir in Deutschland einen europaweit führenden Qualitätsstandard des Trinkwassers. Wollen wir dieses über
Jahrzehnte erarbeitete Topniveau wegen dieser fadenscheinigen Argumente der EU-Kommission wieder aufgeben?
Völlig zu Recht erkennt die SPD in der Begründung
zu der von ihr vorgelegten Subsidiaritätsrüge „das Bestreben der Kommunen an, effiziente, kundenorientierte
und wettbewerbsfähige kommunale Unternehmen und
Einrichtungen zu betreiben“. Da kommunale Unternehmen an das Örtlichkeitsprinzip gebunden sind, sind sie
tatsächlich in ihrer Existenz gefährdet, wenn finanzstarke Unternehmen oder Investoren aus dem EU-Ausland die ausschreibungspflichtigen Konzessionen übernehmen und das örtliche Unternehmen die Konzession
verlieren würden. Das kann uns doch nicht egal sein!
Hier der EU-Kommission mal mit einer Subsidiaritätsrüge einen Schuss vor den Bug zu setzen, wie die
SPD das mit ihrem Antrag für eine Subsidiaritätsrüge
vorhat, hat durchaus seinen Reiz. Art. 6 des Protokolls
Nr. 2 des Vertrags von Lissabon sieht diese Möglichkeit
ja auf den ersten Blick durchaus vor. Leider ist aber eine
Subsidiaritätsrüge ein stumpfes Schwert, das uns hier
symbolisch in die Hand gegeben ist - ein Schwert aus
Glas.
Doch zurück zur Sache: Zu Recht hat der Gemeinschaftsgesetzgeber bislang auf sekundärrechtliche Regelungen der Vergabe von Dienstleistungskonzessionen
verzichtet. Schauen wir doch einmal auf die bisherige
Rechtsprechung des EuGH: Danach gelten im Vergaberecht schon jetzt die aus den Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der EU abzuleitenden primärrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung, der
Nichtdiskriminierung und der Transparenz. Ein besonderer Regelungsbedarf für Dienstleistungskonzessionen
ist somit nicht erforderlich, so der EuGH. Dazu darf ich
aus dem Urteil des Gerichts vom 10. März 2011 zitieren.
Hier heißt es: „Es ist hinzuzufügen, dass Verträge über
Dienstleistungskonzessionen beim gegenwärtigen Stand
des Unionsrechts zwar von keiner der Richtlinien erfasst
werden, mit denen der Unionsgesetzgeber das öffentliche Auftragswesen geregelt hat, die öffentlichen Stellen,
die solche Verträge schließen, aber gleichwohl verpflichtet sind, die Grundregeln des AEU-Vertrags, insZu Protokoll gegebene Reden
besondere die Art. 49 AEUV und 56 AEUV, sowie die daraus fließende Transparenzpflicht zu beachten, wenn
[…] an dem betreffenden Vertrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht.“
Die Einschätzung, dass ein solcher Rechtsakt nicht
notwendig ist, vertritt auch das Europäische Parlament
in seinem am 18. Mai 2010 beschlossenen Initiativbericht zum Vergaberecht, dem sogenannten Rühle-Bericht. Das EP spricht sich in diesem Bericht vielmehr für
die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen nach
Maßgabe der aktuellen Rechtsprechung des EuGH aus.
Auch der Bundesrat teilt diese Auffassung und appelliert in seinem Beschluss vom 12. Februar 2010 - ich zitiere - „an die Kommission, den Gestaltungsspielraum
der Mitgliedstaaten, Regionen und lokalen Gebietseinheiten nicht durch legislative Eingriffe einzuschränken“, was „insbesondere auf Dienstleistungskonzessionen gerichtete Regulierungsbestrebungen der
Kommission“ gemünzt ist. Diese Haltung hat der Bundesrat in seinem Beschluss vom 11. Februar 2011 bekräftigt. Hier hat der Bundesrat mit Blick auf Art. 14 des
Vertrags über die Arbeitsweise der EU besonders auf
das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen verwiesen.
Ich zitiere: „Im Vertrag von Lissabon wird das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen anerkannt. Vor allem
im Interesse der Kommunen ist daher darauf zu achten,
dass die EU ihre Regelungskompetenz betreffend
Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht zu Steuerungszwecken einsetzt und versucht,
für den sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge eigene
Qualitäts- und Sozialstandards einzuführen. Die Daseinsvorsorge muss im Entscheidungsbereich der Mitgliedstaaten und dort insbesondere der Kommunen verbleiben. Nur so kann auch dem Subsidiaritätsgedanken
Rechnung getragen werden.“
Diesen und den Beschluss des Bundesrates von 2010
haben auch die Länder mitgetragen, in denen die Liberalen an der Regierung beteiligt sind. In ihren Antworten auf meine schon im vergangenen Jahr verfassten
Schreiben an den früheren Bundeswirtschaftsminister
Rainer Brüderle, an seinen Nachfolger Dr. Philipp
Rösler und an den zuständigen Staatssekretär
Dr. Bernhard Heitzer wurde mir immer wieder versichert, dass der Gestaltungsspielraum der Kommunen
auch mit einer solchen Richtlinie erhalten bliebe, denn
die Kommunen könnten ja weiterhin selbst darüber entscheiden, ob sie Leistungen der Daseinsvorsorge wie die
Wasserversorgung selbst erbringen oder Dritte - natürlich unter Beachtung des Vergaberechts - damit beauftragen. So übrigens versuchte auch EU-Kommissar
Michel Barnier mich in seinen Antworten auf meine
schriftlichen Appelle, von diesen Plänen abzulassen, zu
beschwichtigen.
Spätestens bei meiner Initiative, im Rahmen eines
Entschließungsantrags der Koalition die Bundesregierung aufzufordern, bei ihren Verhandlungen im Rat
diese unsägliche Richtlinie gänzlich zu kippen oder wenigstens für den hochsensiblen Bereich der Wasserversorgung eine Ausnahmeregelung zu schaffen, wie es seinerzeit in der EU-Dienstleistungsrichtlinie verankert
worden war, bin ich auf den Widerstand unseres Koalitionspartners gestoßen, der noch schnell Rücksprache
mit dem Bundeswirtschaftsministeriums gehalten hatte.
Die FDP-Vertreter in der Bundestagsfraktion wurden
erwartungsgemäß zurückgepfiffen. Als Ergebnis haben
wir dann im Wirtschaftsausschuss einen Entschließungsantrag vorgelegt, der die Bundesregierung „ersucht“, dass in der Richtlinie „den besonderen Belangen der Wasserversorgung angemessen Rechnung
getragen wird“. Hier wird also offenkundig nicht im
Sinne der breiten Mehrheit von Bundestag, Bundesrat
und EP verhandelt. Das ist nicht akzeptabel. Wettbewerb
nicht allein um des Wettbewerbs willen! Im Zentrum aller Wettbewerbspolitik muss letztlich immer noch der
Verbraucher stehen.
Es ist nicht alltäglich, dass der Bundestag über den
Antrag beschließen soll, eine Subsidiaritätsrüge gegen
einen Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zu erheben. Die SPD-Fraktion ist der Ansicht, dass
der von der Kommission vorgelegte Richtlinienentwurf
zur Konzessionsvergabe nicht mit den Grundsätzen der
Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
Dies betrifft vor allem die vorgesehenen Regelungen zur
Ausschreibungspflicht für Dienstleistungskonzessionen.
Die Kommission versucht hier, Recht zu schaffen, wo
von der Sache her gar keine neuen Regelungen notwendig sind. Ja, es ist richtig, dass die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen von den Vergaberichtlinien ausgenommen ist. Aber das heißt doch nicht, dass die
Vergabe überhaupt keinen Regeln unterliegt. Die allgemeinen Prinzipien Transparenz, Gleichbehandlung und
Nichtdiskriminierung gelten selbstverständlich auch
hier. Das hat der Europäische Gerichtshof erkannt. Das
hat das Europäische Parlament erkannt. Das hat der
deutsche Bundesrat erkannt und das hat der Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages erkannt.
Warum sieht die Kommission das anders, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen? Der Bereich der
Dienstleistungskonzessionen ist lukrativ. Die Kommission will einen Markt für Konzessionen schaffen. Besonders betroffen wäre unter anderem der gesamte Bereich
der Wasserwirtschaft. Die Europäische Kommission
strebt schon lange an, die Wasserwirtschaft europaweit
zu liberalisieren. Es geht dabei aber um unsere gut funktionierenden Strukturen auf kommunaler Ebene. Diese
wollen wir erhalten.
Wir Sozialdemokraten sind gegen eine weitere Liberalisierung. Und das aus guten Gründen: Die Trinkwasserversorgung ist für uns elementarer Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Eine qualitativ hochwertige
Versorgungssicherheit für alle hat für uns Priorität. Mit
unserem wichtigsten Lebensmittel kann, ja darf man
nicht handeln wie mit jeder anderen Ware. Niemand
kann abstreiten, dass die Wasserversorger in Deutschland eine sehr gute Arbeit leisten. Vor allem auch die
kommunalen Versorger bieten hervorragende Wasserqualität in einem flächendeckenden Versorgungsnetz zu
fairen Preisen an, die auch Nachhaltigkeits- und UmZu Protokoll gegebene Reden
weltkosten widerspiegeln. Wir als SPD sehen keinen
Grund, daran zu rütteln.
Ähnlich verhält es sich bei den kommunalen Rettungsdiensten. Auch diese wären massiv von einer Ausschreibungspflicht für Dienstleistungskonzessionen betroffen;
und mit ihnen der Katastrophenschutz der Länder. So
ließen sich noch einige Beispiele finden, in denen die Erbringung wichtiger Leistungen der Daseinsvorsorge
durch die öffentliche Hand und durch kommunale Unternehmen mit der vorgeschlagenen Richtlinie infrage
gestellt würde.
Erst der Vertrag von Lissabon hat das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen gestärkt. Mit diesem Vorschlag jetzt würde der garantierte Ermessensspielraum
der Kommunen ausgehebelt und direkt wieder einkassiert.
Was soll so eine Richtlinie also den Verbraucherinnen
und Verbrauchern, den Bürgerinnen und Bürgern bringen? Ich sehe keine Vorteile. Aber was noch viel schlimmer ist: Die Kommission scheint es selbst nicht zu
wissen, sonst hätte sie es doch in ihren Vorschlag reinschreiben können. Aber sie schweigt sich aus. Kein Wort
zu den Vorteilen für die Verbraucherinnen und Verbraucher und keine Erklärung, wo die Kommission Marktverzerrungen und Wettbewerbsstörungen sieht. Ohne
sachliche Gründe aber kann und darf man kein neues
Recht schaffen.
Die SPD hat diese Ansicht gemeinsam mit den anderen Oppositionsfraktionen im Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie vertreten. Wir haben in einem Entschließungsantrag gemeinsam mit den anderen Fraktionen der Opposition die Ablehnung des Richtlinienvorschlags durch die Bundesregierung im Rat gefordert.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, wenn
ich mich richtig erinnere, waren es doch die Kolleginnen
und Kollegen von der FDP und ihre Koalitionsräson, die
bei Ihnen damals die Zustimmung zu unserem Antrag
verhindert haben. Sie hatten dann selbst einen Entschließungsantrag gestrickt. Aber dieser hatte keine
Substanz mehr. Es war ein Entschließungsantrag nach
dem Motto: „Nur keinem - insbesondere den Koalitionsparteien - weh tun“. Ergebnis: Ja, so eine Richtlinie
wäre irgendwie schon gut, aber vielleicht könnte man ja
versuchen, irgendwie eine Ausnahme für die Wasserwirtschaft zu erreichen. - Das war nichts!
Stellen Sie sich das doch einmal vor: Jede Kommune
muss zukünftig in regelmäßigen Abständen europaweit
ausschreiben und Konzessionen vergeben. Viele Kommunen bei uns haben zehn- oder fünfzehntausend Einwohner. Der Bürgermeister macht vieles selbst. Soll er
in Zukunft ein Team von Mitarbeitern einstellen, dessen
einzige Aufgabe es ist, die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen zu überwachen? Was für ein Aufwand gerade für unsere kleinen Kommunen!
Sehr geehrte Damen und Herren von der Unionsfraktion, geben Sie sich einen Ruck und bringen Sie mit uns
gemeinsam heute diese Subsidiaritätsrüge auf den Weg.
Lassen Sie sich doch nicht schon wieder von der FDP
wie ein Ochse am Nasenring durch die Manege führen.
Nach meinem Wissensstand werden die CDU-geführten
Bundesländer morgen im Bundesrat ebenfalls für eine
solche Rüge votieren. Dieser Antrag, eingebracht vom
Bundesland Bayern, sieht die Problematik ähnlich wie
wir.
In einer Frage, bei der es um die öffentliche Daseinsvorsorge, das Wohl der Bürgerinnen und Bürger, das
Wohl unserer Kommunen und ihrer kommunalen Unternehmen geht, müssen Sie Verantwortung übernehmen.
Die FDP denkt auch in dieser Frage nur in alten neoliberalen Mustern, an die Prinzipien der Ordnungspolitik
und an ihre eigene Klientel. Denken Sie von der Union
mit uns gemeinsam im Gegensatz dazu an den Schutz der
kommunalen Daseinsvorsorge und das Wohl der Bürgerinnen und Bürger! Stimmen Sie für unseren Antrag!
Als kommunalpolitische Sprecherin meiner Fraktion
und vor allem als Stadträtin meiner Heimatstadt Mannheim weiß ich nur zu gut, welche negativen Folgen manche Entscheidung oder Vorgabe aus Brüssel für die
Kommunen in Deutschland haben können. Unter diesem
Gesichtspunkt ist auch die Diskussion über einzelne Aspekte des Gesetzesvorhabens zur Modernisierung des
Vergaberechts zu betrachten. Die EU-Kommission hat
am 20. Dezember 2011 im Rahmen der Binnenmarktakte
({0}) ein Legislativpaket zur Modernisierung des Vergaberechts vorgelegt, darunter einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Vergabe von Konzessionen. Die FDP unterstützt das grundlegende Anliegen
der Kommission, bestehende rechtliche und verfahrenstechnische Unsicherheiten bei der Konzessionsvergabe
zu beseitigen. Wir waren immer für eine Öffnung des
Binnenmarktes und die Schaffung gleicher Spielregeln
für alle Marktteilnehmer in Europa. So auch in diesem
Fall.
Aber ich sage auch ganz klar: Das Subsidiaritätsprinzip ist ein hohes Gut. Subsidiarität bedeutet in diesem Fall, dass die Kommunen ihre Aufgaben in Eigenverantwortung wahrnehmen. Die Bundesregierung hat
sich bei ihren Verhandlungen im Europäischen Rat stets
dafür eingesetzt, dass das Prinzip der Subsidiarität bei
allen EU-Rechtsetzungsakten gewahrt bleibt. Ich weise
an dieser Stelle auf eine Antwort der Bundesregierung
auf eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vom 19. April 2011 zu den Plänen der Europäischen
Kommission zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen hin. Dort heißt es wörtlich: „Die Bundesregierung
hält eine Einbeziehung der Dienstleistungskonzessionen
ins Vergaberecht im Sinne der uneingeschränkten Anwendbarkeit der vergaberechtlichen Regelungen nicht
für erforderlich oder sinnvoll“. Und weiter heißt es
dort: „Die Entscheidungshoheit, ob eine Aufgabe der
Daseinsvorsorge durch die Kommune selbst oder durch
Dritte erledigt wird, muss auch weiterhin der öffentlichen Hand überlassen bleiben.“ Da sind wir uns alle einig.
Wenn sich eine Kommune jedoch dafür entscheidet,
einen externen Anbieter mit der Wahrnehmung solcher
Aufgaben zu betrauen, so setzt die FDP sich dafür ein,
Zu Protokoll gegebene Reden
die entsprechenden Konzessionen in einem transparenten und von Wettbewerb geprägten Markt auszuschreiben. Hier müssen gleiche Spielregeln für alle Teilnehmer
an der Ausschreibung gelten. Im Mittelpunkt steht nicht:
Wer macht Gewinn, Kommune oder Private? Im Mittelpunkt muss der Nutzen für die Bürger stehen, im Sinne
von „beste Qualität zum bestmöglichen Preis“.
Die öffentliche Daseinsvorsorge ist unbestritten ein
höchst sensibler Bereich, in dem wir eine Qualitätsminderung zulasten der Bürgerinnen und Bürger nicht hinnehmen. Das gilt insbesondere für die Trinkwasserversorgung: Die Qualität unseres Trinkwassers ist führend
in Europa. Und das ist ein Verdienst der kommunalen
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung.
Die Bundesregierung hat dies im Blick. Das ergibt
sich eindeutig aus der Antwort auf die Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die ich gerade zitiert habe.
Auch die Koalitionsfraktionen unterstützen die Bundesregierung durch ihren Entschließungsantrag, der am
8. Februar 2012 vom Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie angenommen wurde.
Die europäische Gesetzgebung im Sinne unserer
deutschen Interessen zu beeinflussen, ist allemal sinnvoller als eine Subsidiaritätsrüge zu fordern - wie die
SPD es in ihrem Antrag tut - oder die gesamte Gesetzesvorlage abzulehnen, wie die Grünen es fordern. Damit
würden wir das Kind mit dem Bade ausschütten.
Die Kommunen mussten in der Vergangenheit manche Brüsseler Kröte schlucken. Basis aller Entscheidungen muss das Subsidiaritätsprinzip und die Erhaltung
des Handlungsspielraumes für die Kommunen sein. Außerdem ist eine frühzeitige Einbeziehung der kommunalen Ebene bei europäischen Gesetzesvorhaben sicherzustellen. Da gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten.
Wir beschäftigen uns heute mit dem Vorschlag für
eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Konzessionsvergabe. Der Richtlinienvorschlag ist gemeinsam mit zwei Richtlinien zum Vergaberecht Bestandteil eines Gesetzespakets. Konkret geht es
darum, dass die Regelungen zur Vergabe von Bau- und
Dienstleistungskonzessionen durch die öffentliche Hand
in Europa vereinheitlicht werden sollen. Das Ziel besteht darin, ein vermeintlich höheres Maß an Rechtssicherheit herzustellen.
Dieses Vorhaben bringt mich als kommunale Mandatsträgerin natürlich besonders zum Aufhorchen, und
ich denke, dass es einer ganzen Reihe von Kolleginnen
und Kollegen in diesem Haus genauso geht. Zumindest
habe ich gehört, dass die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion im Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie eine äußerst kritische Haltung gegenüber
dem Richtlinienvorschlag eingenommen haben.
Der Kommissionsvorschlag greift in Rechte der Kommunen ein, die nicht nur durch Art. 28 des Grundgesetzes, sondern auch durch den Vertag von Lissabon garantiert werden. Dienstleistungskonzessionen betreffen die
unterschiedlichsten Bereiche kommunaler Aufgaben und
werden unter anderem im Bereich der Abfallentsorgung,
des öffentlichen Personennahverkehrs sowie der Wohnungswirtschaft vergeben. Die kommunale Gestaltungsfreiheit an dieser Stelle muss unbedingt erhalten bleiben.
Eine zunehmende Verrechtlichung in diesem Bereich
durch die europäische Ebene würde die kommunalen
Handlungsspielräume deutlich einschränken.
Besonders negative Auswirkungen wären durch den
Richtlinienvorschlag bei der Wasserver- und Abwasserentsorgung zu erwarten. Diese gehört zu den kommunalen Aufgaben und wird in der Regel auch durch die Kommune selbst oder durch kommunale Unternehmen
erfüllt. Selbst die Koalition erkennt in ihrem Entschließungsantrag im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vom 3. Februar 2012 an, dass die in Deutschland
von den Kommunen verantwortete Trinkwasserversorgung qualitativ in Europa führend ist und dass bei europaweiten Ausschreibungen in diesem Bereich eher die
Gefahr einer Verschlechterung des Qualitätsstandards
bestünde.
Soweit der Richtlinienvorschlag mit mangelnder
Rechtssicherheit bei der Vergabe von Konzessionen begründet wird, ist dies schlicht nicht nachvollziehbar.
Kommunen und andere öffentliche Stellen müssen bei der
Vergabe von Dienstleistungskonzessionen die Grundregeln des EG-Vertrages und insbesondere das Verbot der
Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
einhalten. Was das im konkreten Einzelfall bedeutet, hat
der Europäische Gerichtshof durch eine Reihe von Entscheidungen ausreichend präzisiert. Im Übrigen vertritt
er in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass für
Dienstleistungskonzessionen kein besonderer Regelungsbedarf seitens der EU besteht.
Tatsächlich dürfte die Absicht, durch eine Richtlinie
ein höheres Maß an Rechtssicherheit herzustellen, nur
vorgeschoben sein. Die Begründung des Vorschlags
macht noch eine andere Intention deutlich. Es wird erklärt, dass eine europäische Gesetzgebungsinitiative im
Bereich der Konzessionen zur Schaffung eines EU-Rahmens zur Förderung öffentlich-privater Partnerschaften
beitragen könnte. Spätestens hier wird deutlich, dass es
in Wirklichkeit darum geht, weitere Privatisierungen voranzutreiben und die Kommunen und ihre Unternehmen
in den rechtlichen Auseinandersetzungen mit Privaten
zu schwächen.
Gegen den Richtlinienvorschlag spricht auch der
Subsidiaritätsgedanke, der zu den zentralen Prinzipien
Europas zählt. Die EU darf in Bereichen, die nicht in
ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme weder auf staatlicher noch auf regionaler oder
lokaler Ebene erreicht werden können. Für etwaige
Wettbewerbsverzerrungen oder Marktabschottungen bestehen aber gerade keine Anhaltspunkte. Mit dem Subsidiaritätsprinzip lässt sich auch erklären, warum Dienstleistungskonzessionen bisher von den europäischen
Richtlinien zum Vergaberecht ausdrücklich nicht erfasst
wurden.
Die soeben von mir vorgetragenen Argumente lassen
für meine Fraktion nur einen Schluss zu: den Vorschlag
Zu Protokoll gegebene Reden
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Konzessionsvergabe abzulehnen.
Die EU-Kommission hat am 20. Dezember 2011 ihre
Vorschläge zur Modernisierung des öffentlichen Vergaberechts vorgelegt. Diese enthalten zukunftsweisende
Elemente, wie einen verbesserten Zugang und weniger
Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen bei Vergabeverfahren oder auch breitere Möglichkeiten für eine
Vergabe nach sozialen Kriterien in den Kommunen. Allerdings unterbreitet die Kommission in diesem Zusammenhang auch einen umfänglichen Richtlinienvorschlag
zur Vergabe von Konzessionen, der in das Selbstverwaltungsrecht und die Gestaltungsfreiheit der Kommunen
eingreift und nicht verhältnismäßig ist.
Dienstleistungskonzessionen haben in der Regel
lange Laufzeiten und brauchen demgemäß eine gewisse
Flexibilität. Die Gestaltungsspielräume der Kommunen
bei der Vergabe von Dienstleistungskonzessionen müssen deshalb erhalten bleiben. Diese Haltung hatte der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages bereits am 1. Dezember 2010 in einem gemeinsamen Schreiben an den Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, Michel Barnier, zum
Ausdruck gebracht und sich dafür ausgesprochen, dass
die Rechtsetzungsinitiative zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen kein Regelungstatbestand der Europäischen Union sein sollte. An dieser Forderung halten
wir Grünen auch weiterhin fest und fordern die Bundesregierung daher auf, im Europäischen Rat darauf hinzuwirken, dass der vorgelegte Richtlinienvorschlag zur
Konzessionsvergabe abgelehnt wird. In diesem Sinne
werden wir auch dem parallel vorgelegten Antrag der
SPD-Fraktion zustimmen.
Die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen ist derzeit bewusst vom Anwendungsbereich des Vergaberechtes ausgenommen. Sie sind, im Gegensatz zu der öffentlichen Beschaffung, auch nicht in den internationalen
Verträgen fixiert. Durch das bestehende Primärrecht der
Europäischen Union, also Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Transparenz, und die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hierzu, sind
Dienstleistungskonzessionsvergaben hinreichend rechtssicher geregelt. So sieht es auch der Europäische Gerichtshof selbst.
Die Kommission begründet ihren Rechtsetzungsvorschlag damit, dass die bisherige Regelungslücke
schwerwiegende Verzerrungen des EU-Binnenmarkts
zur Folge habe. Allerdings sind in den Bereichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge, auf die der Vorschlag
zielt, schwerwiegende Wettbewerbsverzerrungen oder
eine Marktabschottung, die eine solche Regulierung gegebenenfalls erfordern würden, bislang nicht erkennbar
und von der EU-Kommission auch nicht nachgewiesen
worden. Im Bereich der Dienstleistungskonzessionsvergabe besteht deshalb keine Notwendigkeit einer weiteren Verrechtlichung mit den entsprechenden bürokratischen Belastungen für öffentliche Auftraggeber und
Unternehmen. Ähnliche Bewertungen haben der Bundesrat und das Europäische Parlament sogar mehrmals,
so zum Beispiel im Bericht „Neue Entwicklungen im öffentlichen Auftragswesen“ vom 18. Mai 2010 sowie im
Bericht „Über die Modernisierung im Bereich des öffentlichen Auftragswesens“ vom 5. Oktober 2011, abgegeben und einen Richtlinienvorschlag zur Dienstleistungskonzessionsvergabe daher abgelehnt.
Der Bundesrat wird sich in seiner Sitzung am kommenden Freitag nochmals mit der Problematik beschäftigen. Der Innen- und Wirtschaftsausschuss und auch
der Ausschuss für Städtebau und Wohnungswesen empfehlen, zu dem Vorschlag eine Subsidiaritätsrüge zu erheben. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich der Bundesrat insgesamt dieser Ausschussmeinung anschließt. Die
Bundesratsausschüsse kritisieren darüber hinaus, dass
die vorgeschlagenen Regelungen zu einem unverhältnismäßigen Aufwand führen würden. Das ist ein sehr
schwerwiegender Einwand. Der vorgelegte Vorschlag
der Kommission begrenzt sich gerade nicht auf die Kodifizierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, sondern geht weit darüber hinaus. Wir meinen, dass die vorgesehenen Schwellenwerte angesichts
der langen Laufzeiten von Dienstleistungskonzessionen
deutlich zu niedrig liegen. Darüber hinaus sollen sie
auch die voraussichtlichen Einnahmen und die vom
Konzessionsgeber zu zahlenden Beiträge erfassen.
Diese Definition beschwört Rechtsunsicherheiten herauf
und öffnet Rechtsstreitigkeiten Tür und Tor. Das gilt
auch für die Definition der Laufzeit. Insgesamt würde
die Verwendung von Dienstleistungskonzessionen deutlich erschwert.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8761. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8768. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion abgelehnt, gegen die Stimmen der übrigen
Fraktionen des Hauses.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Sabine Zimmermann, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1 : 1 an Kommunen weiterreichen
- Drucksache 17/8606 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch hier die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kollege
Lange von der Unionsfraktion, Kollegin Hiller-Ohm für
die SPD-Fraktion, Kollege Kober für die FDP-Fraktion,
Kollegin Kunert für die Fraktion Die Linke und Kollegin
Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sollte uns rechtzeitig vor Drucklegung des Protokolls
der Beitrag des Kollegen Tauber von der Unionsfraktion
erreichen, nehmen wir diesen ebenfalls zu Protokoll.
Heute führen wir wieder eine der typischen Debatten,
weil die Linken verzweifelt nach einem Thema suchen
und dabei Gesetze kritisieren, die von allen, Bund, Ländern und Kommunen, positiv gewertet werden. Ich spreche vom Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen, das seit dem 1. Januar 2012 in Kraft ist.
Worum geht es? Im Jahr 2003 hat Rot-Grün die
Grundsicherung eingeführt; wie so häufig aber nicht auf
Kosten des Bundes, sondern auf Kosten der Kommunen,
ohne einen angemessenen finanziellen Ausgleich. Dies
hat sich aufgrund der steigenden Kosten zu einem der
größten Posten in den kommunalen Haushalten entwickelt, die Kommunen waren finanziell völlig überlastet.
Dennoch hat Rot-Grün in keiner Weise reagiert.
Um die Finanznot der Kommunen zu verringern, hat
die christlich-liberale Bundesregierung im Jahr 2010
die Gemeindefinanzkommission eingesetzt, zu deren
Aufgaben es gehörte, Möglichkeiten zur finanziellen
Entlastung der Kommunen bei den Ausgaben zu prüfen
und Lösungsvorschläge zu den drängenden Problemen
des kommunalen Finanzsystems zu erarbeiten. Der Vorschlag, die Kommunen bei den Aufwendungen zur
Grundsicherung finanziell zu entlasten, indem die Bundesbeteiligung bei der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung schrittweise angehoben wird, wurde
von allen Seiten begrüßt.
Wir haben ein gigantisches Paket geschnürt, und
diese Debatte gibt mir die Gelegenheit aufzuzeigen, dass
die christlich-liberale Regierungskoalition ein Maßnahmenpaket für die Kommunen verabschiedet hat, das allein bis 2015 die Kommunen um nahezu 13 Milliarden
Euro entlastet. Zusammen mit dem beschlossenen Bildungspaket hat der Bund von den Kommunen bis zum
Jahr 2020 Kosten in einer Größenordnung von mehr als
50 Milliarden Euro übernommen. Dies ist die größte
Entlastung der Städte, Gemeinden und Kreise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben damit ein Versprechen aus der Koalitionsvereinbarung erfüllt, in der es unter anderem heißt: Wir
wollen in Deutschland starke Kommunen. Zusammen
mit den kommunalen Spitzenverbänden werden wir nach
Wegen suchen, Entlastungen für die Kommunen zu identifizieren. - Wir haben nicht nur gesucht, sondern wir
haben in der Gemeindefinanzkommission auch einvernehmlich mit allen kommunalen Spitzenverbänden einen
sehr guten Weg gefunden. Jetzt haben die Kommunen
wieder mehr Geld zur Verfügung, um ihren zahlreichen
Aufgaben nachzukommen.
Und was macht die Linke? Sie kritisieren, dass die
Abrechnung vom Vorvorjahr erfolgt. Dabei wissen Sie
ganz genau, dass die Nettoausgaben nach geltendem
Recht ({0}) auf der Grundlage der Bundesstatistik für das Vierte Kapitel SGB XII erstattet werden.
Die im Jahr der Zahlung der heutigen Bundesbeteiligung am aktuellsten verfügbaren Daten beziehen sich
auf das Vorvorjahr. Ich möchte zur Verdeutlichung ein
Beispiel anführen: Die Bundesstatistik für das Jahr
2010 lag im November 2011 vor und bildete die Grundlage für die Höhe der Bundesbeteiligung 2012 bei Haushaltsaufstellung 2012 und damit für die Zahlung der
Bundesbeteiligung im Jahr 2012. Zusätzlich werden die
Korrekturmeldungen zum Stand 1. April 2012 für das
Jahr 2010 berücksichtigt.
Generell gilt, dass der Anteil des Bundes nur auf Basis statistischer Daten eines zurückliegenden Zeitraums
gezahlt werden kann. Zwangsläufige Folge ist ein „time
lag“ zwischen dem Zeitraum, der als Berechnungsgrundlage gilt, und dem oder den Auszahlungszeitpunkten.
Aufgrund der Sachargumente fordere ich die Linke
auf: Ziehen Sie Ihren populistischen Antrag zurück und
arbeiten Sie zur Abwechslung einmal konstruktiv an der
Beseitigung der zahlreichen Probleme unserer Gesellschaft, anstatt dem Bundestag mit solch unnötigen Anträgen die Zeit zu stehlen.
Wir debattieren heute erneut über die Kostenübernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund und die damit verbundene finanzielle Entlastung der Kommunen. Ich wundere mich
darüber, denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist bereits nach intensiven Debatten im Ausschuss und
hier im Plenum am 27. Oktober 2011 beschlossen worden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben dem Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen zugestimmt, allerdings mit Bauchschmerzen, die
wir, wie Sie auch, meine Kolleginnen und Kollegen von
der Linken, in entsprechenden Anträgen zum Ausdruck
gebracht haben.
Im Vermittlungssauschuss zu den Hartz-VI-Regelsätzen war den Städten und Gemeinden die Übernahme der
Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zugesagt worden. Bislang mussten die Kommunen diese Kosten fast allein tragen - eine Last, die
viele nicht mehr stemmen konnten.
Auf einen Schlag war die 100-prozentige Übernahme
durch den Bund nicht möglich, deshalb hat man sich auf
ein Stufenverfahren geeinigt. Nach langer Wartezeit lag
das Gesetz dann endlich auf dem Tisch. Doch darin
wurde lediglich die erste Entlastungsstufe gesetzlich geregelt. Ab 2012 werden Städte und Gemeinden um 45 Prozent entlastet. Für das weitere Vorgehen wurde ein Verfahrensvorschlag in der Begründung des Gesetzes dargelegt. Dieses Gesetz hat unsere Erwartungen nicht er19346
füllt. Auch die Kommunen fühlten sich über den Löffel
barbiert.
Ich fasse noch einmal zusammen: Im Gesetz wurde
nur die Steigerung der Kostenübernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für das
Jahr 2012 mit einer Bundesbeteiligung von 45 Prozent
abgesichert. Zu den weiteren Entlastungsstufen der
Jahre 2013 und 2014, in denen die Bundesbeteiligung
auf 75 Prozent bzw. 100 Prozent ansteigen soll, liegt bis
heute nichts vor. Das haben wir bereits im Oktober letzten Jahres kritisiert. Die Bundesregierung ist mit ihrem
Gesetz zu spät in die Puschen gekommen. Die Kommunen und Landkreise müssen nun unter der schwarz-gelben Bummelei leiden! Sie können zwar mit der für dieses
Jahr geplanten Entlastung von 1,2 Milliarden Euro
rechnen, jedoch fehlt ihnen für die nachfolgenden Jahre
schlicht die Planungssicherheit. In der kommunalen
Praxis bedeutet dies, dass keine Doppelhaushalte verabschiedet werden können und auch keine seriöse mittelfristige Finanzplanung möglich ist. So steht SchwarzGelb zu den Kommunen!
Ich rufe allen noch einmal in Erinnerung, über welche erheblichen Größenordnungen wir sprechen: Bei
den geplanten weiteren Entlastungsstufen handelt es
sich um ein Volumen von 2,7 Milliarden Euro im Jahr
2013, 4,1 Milliarden Euro für das Jahr 2014 und
4,4 Milliarden Euro im Jahr 2015.
Warum, Frau Ministerin von der Leyen, haben Sie
nicht frühzeitiger mit der Arbeit begonnen und Ihre
Hausaufgaben rechtzeitig gemacht? Sie hätten uns allen
diesen unbefriedigenden langwierigen Prozess ersparen
können!
Dass der Bund überhaupt schrittweise die vollen Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übernimmt, haben wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten im Rahmen der Verhandlungen über
das Hartz-IV-Paket im Februar letzten Jahres durchgesetzt. Das ist ein großer politischer Erfolg, den wir im
Vermittlungsausschuss für die klammen Kommunen ausgehandelt haben. Wir haben - im Gegensatz zu Ihnen,
meine Damen und Herren aus der Linksfraktion - unsere
Verantwortung wahrgenommen und dem Gesetzentwurf
zugestimmt, damit wenigstens die erste Entlastungsstufe
für dieses Jahr erreicht werden konnte. Denn die Kommunen und Landkreise dürfen und sollen nicht unter der
schlechten Arbeit der Bundesregierung leiden.
Deshalb haben wir auch in unserem Entschließungsantrag zur Verabschiedung des Gesetzes als einzige
Fraktion ergebnisorientiert im Sinne der Planungssicherheit der Landkreise und Kommunen eine verbindliche
Frist bis zum 1. April dieses Jahres zur Vorlage eines
weiteren Gesetzentwurfes gefordert. Nur durch eine
rechtzeitige Vorlage kann eine Wiederholung der Situation wie im vergangenen Jahr verhindert werden. Leider
scheint Ministerin von der Leyen solche Fristen zu brauchen.
Bis zum 1. April ist es heute nun noch genau einen
Monat hin. Ich appelliere an die Bundesregierung, diese
Zeit zu nutzen und dem Deutschen Bundestag bis April
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die zweite und
dritte Entlastungsstufe der Jahre 2013 und 2014 rechtsverbindlich und vernünftig umsetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, ich erinnere mich noch sehr genau an die
großspurigen Worte von Peter Götz aus der CDU-Fraktion hier im Plenum. Er sprach im September letzten
Jahres von der größten Entlastung der Kommunen seit
Bestehen der Bundesrepublik. Wenn Sie es wirklich ernst
meinen, sollte auch der Abrechnungsmodus noch einmal
überdacht werden und eine zeitnähere Abrechnung als
die bisherige eingeführt werden.
Jetzt werden die Aufwendungen der Kommunen des
Vorvorjahres für die Rückerstattung des Bundesanteils
zugrunde gelegt. Da die Kosten der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung ständig ansteigen, verlieren die Kommunen so viele Millionen Euro.
Auch dies hatten wir in unserem Entschließungsantrag zu dem Gesetzentwurf deutlich gemacht. Unser
Entschließungsantrag war und ist daher ein klares Signal an die Kommunen, dass die SPD zu ihrem Verhandlungserfolg steht und die Entlastung wie verabredet
durchsetzen will.
Genau wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion, bin auch ich ungeduldig und will wissen,
wann denn nun der nächste Gesetzentwurf kommt. Ich
habe deshalb bei der Bundesregierung nachgefragt,
wann sie beabsichtigt, den neuen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Entlastungsstufen für die Jahre 2013 und
2014 mit einer Bundesbeteiligung von 75 bzw. 100 Prozent an den Kosten der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung vorzulegen. Ich hoffe, dass ich damit
Frau Ministerin von der Leyen und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aus ihrem Winterschlaf geweckt habe.
Solche Wege hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Linksfraktion, auch gehen können. Dies
wäre zweckmäßiger gewesen, als jetzt einen Antrag
ohne neuen Inhalt einzubringen und alten Wein in neue
Schläuche zu gießen.
Die Bundesregierung ist nun in der Bringschuld. Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokarten werden der
schwarz-gelben „Bummelregierung“ Beine machen und
ihr ganz genau auf die Finger schauen. Wir sind sehr gespannt, was die Bundesregierung vorlegen wird. Die
Städte und Landkreise brauchen endlich Planungssicherheit.
Am 27. Oktober 2011 haben wir hier im Deutschen
Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der
Kommunen beschlossen. Wir kamen damit einer im
Rahmen des Vermittlungsverfahrens zur Neuberechnung
der Arbeitslosengeld-II-Regelsätze getroffenen Vereinbarung nach und haben damit die Voraussetzungen für
eine Entlastung der Kommunen geschaffen, wie es sie in
dieser Höhe in der Geschichte der Bundesrepublik noch
nie gegeben hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese christlich-liberale Koalition hat dafür gesorgt,
dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012
und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden
Euro entlastet werden. Hätten wir keine gesetzlichen
Änderungen herbeigeführt, läge die Kostenübernahme
durch den Bund im kommenden Jahr nicht bei 45 Prozent, sondern nur bei 16 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem
Antrag kritisieren Sie vor allem drei Punkte, mit denen
ich mich jetzt im Einzelnen befassen möchte.
Sie beschreiben, dass es Signale gäbe, dass einige
Länder die Mittel nicht in vollem Umfang an die Kommunen weiterleiten. Ich kann Ihnen sagen, ich habe solche Signale auch vernommen. Ich zitiere einmal aus der
Schweriner Volkszeitung vom 8. Februar dieses Jahres:
„Zwischen den neuen Großkreisen und dem Land ist ein
erster handfester Streit entbrannt: Während das Sozialministerium Mittel des Bundes in zweistelliger Höhe für
die Grundsicherung im Alter - also Gelder für arme und
ärmere Senioren - einbehalten will, fordern sie die Kommunen für sich. Allein 2012 könnte die Summe rund
20 Millionen Euro betragen, für das Jahr 2015 schätzt
sie der Landkreistag auf 77 Millionen Euro, sagte Geschäftsführer Jan Peter Schröder auf Nachfrage.“ Weiter heißt es dort: „Den Stein ins Rollen gebracht hatte
die Landes-FDP.“
Am Nachmittag des gleichen Tages hat Frau Schwesig,
die sich ja gerne als die wahre Kämpferin für die Kommunen und Schwächsten darstellt, dann dargelegt, dass
das Land nun doch die Mittel vollständig an die Kommunen weitergibt. Ein Erfolg für die Kommunen bewirkt
durch die FDP in Mecklenburg-Vorpommern.
Wir sollten uns hier alle einig sein, dass die Länder
unseren gesetzgeberischen Willen umsetzen und nicht zulasten der Kommunen tricksen sollten, um ihre eigenen
Einnahmen zu erhöhen. Daher kann ich diesem Punkt im
Antrag der Linken voll zustimmen.
Den anderen beiden Punkten jedoch nicht: Sie zweifeln an, dass der Bund die rechtlichen Grundlagen für
die Kostenübernahme ab 2013 legen wird. Hier muss ich
Ihnen entschieden widersprechen. Schon in den Debatten zum Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen haben andere Redner der Koalitionsfraktionen
und auch ich klar gemacht, weshalb bisher nur die Kostenübernahme für das Jahr 2012 gesetzlich geregelt
wurde. Ich erläutere es Ihnen aber gerne noch einmal.
Sie sollten wissen, dass mit der Kostenübernahme die
Einrichtung einer Behörde im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung zusammenhängt. Die Einrichtung dieser Behörde bedarf einiger Regelungen und Änderungen. Sie bedarf der Verankerung von Prüf- und
Weisungsrechten des Bundes und der Einführung und
Umsetzung einer ganzen Reihe von Regelungen, was
seine Zeit braucht. Wir werden aber in diesem Jahr die
Voraussetzungen für die Kostenübernahme in den kommenden Jahren schaffen.
Zudem fordern Sie, dass die Abrechnung und Erstattung auf Basis der laufenden Nettokosten erfolgen sollte.
Sie sollten jedoch auch wissen, dass die Zahlen über die
Höhe der Kosten der Grundsicherung im Alter nicht sofort zur Verfügung stehen, sondern erst mit einiger Verzögerung. So ist es auch bei den Kosten der Unterkunft
oder den Kosten für das Bildungs- und Teilhabepaket.
Daher könnte eine sofortige Abrechnung nur eine
Schätzung sein und müsste dann im Nachhinein nachjustiert werden. Dieser Aufwand ist an dieser Stelle nicht
gerechtfertigt, zumal die Kommunen ja die entstanden
Kosten vom Bund vollständig erstattet bekommen.
Ende Oktober beschloss der Deutsche Bundestag das
Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen.
Der Bund soll die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung schrittweise bis 2014
vollständig übernehmen. In der Begründung des Gesetzes wird ausdrücklich erklärt, dass mit der erhöhten Beteiligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherung
die Kommunalfinanzen gestärkt werden sollen. Als maßgebliche Höhe der Gesamtkosten der Grundsicherung
werden die Nettoausgaben der Kommunen aus dem Vorjahr herangezogen.
Eine tatsächliche Entlastung der Kommunen bei diesen Kosten wird aber nur dann erreicht, wenn die Mittel
vollständig an die Kommunen gehen und ihnen die laufenden Nettokosten erstattet werden.
Für die Linke ist das Gesetz in dieser Form eine Mogelpackung; denn die Umsetzung dieses Gesetzes verhindert eine komplette Kostenübernahme durch den
Bund. In einer Antwort bestätigt die Bundesregierung
erneut, dass sie bei den Kosten für die Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung in den nächsten
Jahren von einer kontinuierlichen Steigerung ausgeht.
Gleichzeitig soll sich die Höhe der Bundesbeteiligung
an diesen Kosten nicht an der aktuellen Entwicklung,
sondern an den Werten des jeweiligen Vorjahres orientieren. Bei der von der Bundesregierung prognostizierten steigenden Kostenentwicklung in diesem Bereich
kann also nie der Zustand erreicht werden, der die komplette Kostenübernahme durch den Bund sicherstellt.
Ein wie auch immer auszusehender Ausgleich hierfür ist
laut Antwort der Bundesregierung ausdrücklich nicht
vorgesehen.
Es liegt auf der Hand: Die hierdurch entstehenden
Fehlbeträge müssen weiterhin durch die Kommunen getragen werden.
Legt man die Zahlen zugrunde, auf die die Bundesregierung in ihrer Antwort verweist, steigen die Kosten
für die Grundsicherung im Jahr 2013 um über 860 Millionen Euro, im Jahr 2014 um knapp 510 Millionen Euro
und im Jahr 2015 um weitere 284 Millionen Euro. In Bezug auf die Vorvorjahre müssen dann die Kostensteigerungen von zwei Jahren durch die Kommunen aufgefangen werden.
Das ist aus Sicht der Linken keine kommunalfreundliche Politik, auch wenn dies der Kollege Götz gern vor
sich herträgt. Die vielfach abgegebenen Pressemitteilungen hierzu ersetzen mitnichten eine kommunalfreundliche Politik.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke will, dass der Finanzierungsmodus für die
Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung so klar gesetzlich geregelt wird, dass Abrechnung und Erstattung der Kosten auf Basis der aktuellen Nettokosten erfolgen. Es müssen die rechtlichen
Grundlagen für eine Kostenübernahme des Bundes in
Höhe von 75 Prozent ab 2013 und in Höhe von 100 Prozent ab 2014 geschaffen werden.
Nun will ich etwas zu den angepriesenen Einsparungen für die Kommunen sagen. Bereits jetzt gibt es nach
Aussagen des Deutschen Städtetages Signale aus einigen Ländern, dass sie die Mittel nicht in vollem Umfang
an ihre Kommunen weitergeben werden. Zum Teil sollen
diese Mittel für die Finanzausgleichsmasse innerhalb
des Landes mit Verweis auf die erhöhte Bundesbeteiligung gekürzt werden. Die Länder haben sich mit der Zustimmung zum Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der
Kommunen und dessen Gesetzesbegründung zu einer
tatsächlichen Entlastung der Kommunen bekannt. Kürzungen oder eine Nichtweiterleitung von entsprechenden Bundesmitteln stehen in einem eklatanten Widerspruch zu diesem Bekenntnis.
Die Linke will, dass die Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in vollem Umfang an die Kommunen weitergereicht werden. In einem Gesetzentwurf muss
insbesondere im Rahmen der Aufsicht nach Art. 84
Abs. 3 Grundgesetz dafür Sorge getragen werden, dass
die Länder die Mittel für die Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung vollständig an ihre Kommunen weiterzureichen haben.
Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen suggeriert den Willen des Bundes, die Kommunen
beim Aufgabenvollzug von Kosten zu entlasten. Dies betonte die Arbeitsministerin mehrfach. Wird es aber konkret, zieht sich die Bundesregierung gern dahinter
zurück, dass es laut Grundgesetz keine direkten Finanzbeziehungen zwischen Bund und Kommunen gibt.
Das ist zwar korrekt, aber dann tun Sie doch bitte
nicht so!
Abschließend fordere ich im Namen meiner Fraktion
- so haben wir es in unserem Antrag auch formuliert -,
dem Deutschen Bundestag ab dem Jahr 2012 jährlich
darüber Bericht zu erstatten, inwieweit die beabsichtigte
Entlastung der Kommunen tatsächlich eingetreten ist.
Die Fraktion Die Linke greift mit ihrem heute zur
Debatte stehenden Antrag ein Problem auf, das wir bereits im Oktober letzten Jahres beim Gesetz zur Stärkung
der Finanzkraft der Kommunen ({0})
verhandelt haben. Dieses Gesetz regelt - entgegen aller
Vereinbarungen in der Gemeindefinanzkommission der
Bundesregierung - nicht die vollständige Übernahme
der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund. Bereits damals kritisierte meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem
Antrag „Gemeindefinanzkommission gescheitert - Jetzt
finanzschwache Kommunen - ohne Sozialabbau - nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien“ ({1}), dass die Mittel für die Ausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht
vollständig an die Kommunen weitergegeben werden.
Die Fraktion Die Linke kritisiert dies nun ebenfalls zu
Recht.
Ich möchte heute die mangelnde Spitzabrechnung seitens der Bundesregierung gegenüber den Kommunen in
den Fokus rücken, die Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP, gerne unter den Tisch fallen lassen, wenn Sie mit Ihrer Botschaft, was Sie alles
für die Kommunen tun, durch die Lande ziehen. Auch
wir Grüne begrüßen, dass der Bund die Kosten der
Grundsicherung im Alter ab 2014 übernimmt. Allerdings dürfen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
Union und FDP, bei der gesetzlichen Umsetzung die
Städte, Gemeinden und Landkreise nicht gleich wieder
über den Tisch ziehen. Ohne Not wollen Sie den Kommunen die Kosten der Grundsicherung im Alter nur auf der
Basis der Ausgaben des Vorvorjahres erstatten. Bei
jährlichen Ausgabensteigerungen bei der Grundsicherung von 7 Prozent, wie es das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales für den Bundeshaushalt zugrunde
legt, werden den Kommunen 14 Prozent und mehr der
tatsächlichen Ausgaben nicht zugewiesen. Der Deutsche
Städtetag hat ausgerechnet, dass von den 4 Milliarden
Euro für die Grundsicherung im Alter ab 2014 bundesweit den Kommunen eine halbe Milliarde Euro vorenthalten wird. Für die Stadt Bielefeld, die heute rund
19 Millionen Euro für die Grundsicherung ausgibt, bedeutet dies zum Beispiel eine vorenthaltene Erstattung
von 2,7 Millionen Euro! Von einer hundertprozentigen
Erstattung der Grundsicherungsleistungen kann also
keine Rede sein. Deshalb verbreiten Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, bitte nicht
weiter die Mär von der vollständigen Übernahme der
Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund.
Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie die fehlende
Spitzabrechnung auf das Verhandlungsergebnis zwischen Bund und Ländern im Vermittlungsausschuss zur
Hartz-IV-Reform im Februar letzten Jahres zurückführen. Dort ist nicht festgehalten, dass auf der Basis des
Vorvorjahres abzurechnen ist, auch wenn das dort zugrunde gelegte Zahlentableau Zahlen des Statistischen
Bundesamtes aus dem Vorvorjahr als Basis nimmt, um
für die Folgejahre eine Projektion vorzunehmen. Der
Grund war schlichtweg, dass damals keine aktuelleren
Daten vorlagen. Das heißt aber nicht, dass dies für alle
Zeit so fortgeschrieben werden muss. Halten wir fest:
Der Bund verwehrt den Kommunen durch den Vorvorjahresbezug die vollständige Erstattung der Kosten der
Grundsicherung und hält sich nicht an die Vereinbarungen mit den Ländern; denn keine vier Monate nach
Abschluss des Vermittlungsverfahrens zur Reform des
SGB II beschloss die Gemeindefinanzkommission zum
Themenkomplex „Standards“ in ihrer abschließenden
Sitzung am 15. Juni 2011: „Ab dem Jahr 2014 wird der
Bund den Kommunen die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig
erstatten zu 100 Prozent. Dabei soll durch eine zeitnahe
Erstattung sichergestellt werden, dass eine möglichst
Zu Protokoll gegebene Reden
geringe Vorfinanzierung durch Länder und Kommunen
angestrebt wird.“
Diesem Beschluss hat der Bund bei der Umsetzung
des ersten Schrittes zur Übernahme der Kosten der
Grundsicherung im Alter durch das „Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen“ ({2}) nicht Rechnung getragen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage zu
Drucksache 17/8669 vom 13. Februar 2012 bereits
deutlich gemacht, dass sie beim weiteren Umsetzungsschritt wiederum keine vollständige Kostenerstattung an
die Kommunen vornehmen und von ihrer bisherigen
Praxis nicht abweichen wird.
Dabei besteht kein sachlicher Grund, den Kommunen
eine vollständige Kostenerstattung auf der Basis der tatsächlichen Ausgaben zu verwehren. Wir Grüne haben in
unserem genannten Antrag vorgeschlagen, zunächst auf
der Basis der Daten des Vorvorjahres vorschussweise
abzurechnen und den Restbetrag den Kommunen auf der
Basis einer Spitzabrechnung zukommen zu lassen, sobald die tatsächlichen Ausgaben vom Statistischen
Bundesamt ermittelt sind. Dieser Weg würde den Beschlüssen der Gemeindefinanzkommission Rechnung
tragen und würde eine hundertprozentige Entlastung der
Kommunen von den Ausgaben für die Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung sicherstellen. Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP
sind jetzt gefordert. Noch ist Zeit. Die Bundesregierung
hat angekündigt, den Gesetzentwurf für die weiteren
Entlastungsschritte im Sommer vorzulegen. Setzen Sie
sich für unsere Kommunen ein und sorgen Sie mit uns
gemeinsam dafür, dass diese die Kosten der Grundsicherung im Alter vollständig vom Bund erstattet bekommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8606 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer,
Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus Teersanden bei der Umsetzung der
Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigen
- Drucksachen 17/7956, 17/8759 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Michael Kauch
Oliver Krischer
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kollege
Dr. Paul für die Unionsfraktion, Kollege Schwabe für
die SPD-Fraktion, Kollege Kauch für die FDP-Fraktion,
Kollegin Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke
und Kollege Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in welchem gefordert
wird, dass die Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus
Teersanden bei der Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigt werden soll. Um es gleich vorweg zu sagen: Das ist für uns nicht ausreichend.
Im Jahr 2009 wurde in Art. 7 a der EU-Kraftstoffqualitätsrichtlinie ein Treibhausgasminderungsziel für
Kraftstoffe eingeführt. Diese Fuel Quality Directive der
EU soll dazu führen, dass die Treibhausgasemissionen
des Verkehrssektors sinken. Das ist aus Umweltsicht
dringend erforderlich. Im Gegensatz zu den Sektoren Industrie, private Haushalte sowie Handel und Gewerbe
ist der Verkehr der einzige Sektor, in dem der CO2-Ausstoß nach wie vor steigt. Hier muss angesetzt werden.
Die EU legte in der Kraftstoffqualitätsrichtlinie fest,
dass die Mineralölwirtschaft bis zum Jahr 2020 die
Treibhausgasemissionen der fossilen Kraftstoffe um
mindestens 6 Prozent im Vergleich zu 2010 reduzieren
muss.
Dieses Minderungsziel kann mit verschiedenen Maßnahmen erreicht werden, zum Beispiel durch den Einsatz
von Biokraftstoffen. Aber auch die differenzierte Betrachtung der Lebenszyklustreibhausgasemissionen der
unterschiedlichen Kraftstoffe ist sinnvoll. Dabei ist es
wünschenswert, langfristig die CO2-Emissionen, die bei
Förderung, Verarbeitung und Transport entstehen - also
vom Förderturm bis zum Tank -, zu betrachten. Der
damit verbundene bürokratische Aufwand der Nachverfolgung einzelner Chargen in immer wieder unterschiedlich gemischt gefüllten Transport- und Lagerbehältern ist dem gegenüberzustellen. Insofern ist es
völlig richtig, wenn in der Kraftstoffqualitätsrichtlinie
für Mineralölprodukte festgelegt wird, dass der gesamte
Lebenszyklus in den Blick genommen wird und in durchschnittlichen Werten für die CO2-Emissionen, den sogenannten Defaultwerten in Kilogramm CO2-Äquivalent
pro Gigajoule, abgebildet wird.
Die Europäische Kommission hat im Oktober 2011
einen Vorschlag für eine Methodik vorgelegt, wie die
CO2-Emissionen berechnet werden sollen. Vorgeschlagen wurde, Öl aus verschiedenen Quellen grundsätzlich
unterschiedliche Treibhausgasemissionswerte im gesamten Lebenszyklus zuzuweisen. Dabei soll Kraftstoffen auf
Basis von Ölsanden ein höherer CO2-Emissionswert angelastet werden als Kraftstoffen aus konventionellem
Rohöl. Das ist auch gerechtfertigt.
Ölschiefer- und Teersandlagerstätten sind auf der
Erde weit verbreitet. Mit steigenden Ölpreisen wird der
energieintensive Abbau dieser Rohstoffe wirtschaftlich.
Für die Verarbeitung des stückigen oder feinkörnigen
ölhaltigen Schiefers beziehungsweise zur Extraktion des
Bitumens aus Teersanden zum Beispiel durch großtechnische Heißwasserextraktion wird viel Energie verbraucht. Dies verschlechtert die Treibhausgasbilanz von
Kraftstoffen aus Teersanden signifikant. Daneben führt
der Teersandabbau zu zahlreichen weiteren Umweltproblemen, unter anderem im Wasser- und Naturschutzbereich.
Der Import von aus Teersanden hergestellten Mineralölprodukten hat zurzeit in Deutschland keine und in
der Europäischen Union nahezu keine Bedeutung. Trotzdem ist die Festlegung einheitlicher Kriterien innerhalb
der Europäischen Union richtig.
Aber nicht nur Teersande verursachen einen größeren „Klima-Fußabdruck“. Auch bei der Ölförderung
aus konventionellen Quellen können und müssen Prozesse optimiert werden. So gibt es Länder, in denen bei
Ölbohrungen mitgefördertes Gas abfackelt wird oder
Gas beim Pipelinetransport von Erdöl abgeblasen oder
auch abgefackelt wird. Eine Nutzung des Gases unterbleibt allein aus wirtschaftlichen Gründen. Die ökologischen Folgen dieser Art der Förderung sind gravierend! So hat in die Atmosphäre gelangendes Methan
eine 21-mal höhere Klimaschädlichkeit als CO2. Auch
für diese Erdölprodukte muss der Druck erhöht werden,
die Treibhausgasbilanz zu verbessern.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterscheidet zwischen konventionellen und unkonventionellen Quellen. Das ist einseitig und geht in der Sache
fehl. Wir wollen nicht einzelne Länder benachteiligen,
sondern die Erdölprodukte sollen nach ihrer spezifischen Treibhausgasbilanz differenziert werden. Nur das
ist sachgerecht. Uns geht es schließlich nicht um billige
Effekthascherei, indem ein Land wie Kanada an den
„Ökö-Pranger“ gestellt wird, wie dies teilweise von den
Grünen gemacht wird. Uns geht es vielmehr um die
Sache. Das erfordert eine ehrliche Betrachtung der ökologischen Auswirkungen bei allen fossilen Kraftstoffen.
Für den Nachweis der Lebenszyklustreibhausgasemissionen ihrer Mineralölprodukte sollten die betroffenen Unternehmen nicht mit unverhältnismäßigen Berichtspflichten und bürokratischen Anforderungen
überzogen werden. Anzustreben ist ein möglichst unbürokratisches Verfahren. Der Vorschlag der Europäischen Kommission lässt an dieser Stelle eine Reihe von
Fragen offen. Ein einfaches Berichtssystem, welches die
vielfach vorhandenen Daten und Informationen nutzt,
die bereits heute von der Ölindustrie geliefert werden,
ist kompatibel mit den Vorgaben der Richtlinie. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich in den Verhandlungen auf europäischer Ebene für solche unbürokratischen
Verfahren einzusetzen.
Zu prüfen ist aus meiner Sicht auch der Vorschlag,
EU-weite Standardwerte jeweils für Benzin und für
Diesel, die die Lebenszyklustreibhausgasemissionen
nach Herkunftsländern widerspiegeln, einzuführen.
Ziel ist und muss sein, CO2-Fußabdrücke verschiedener Kraftstoffe vergleichbar zu machen und im Zeitablauf beobachten zu können. Die Festlegung gesonderter
Defaultwerte für besonders schlechte Treibhausgasbilanzen sind sinnvoll, da dadurch Anreize geschaffen
werden, andere, umweltfreundlichere Ausgangsbrennstoffe zu verwenden und Transport- und Produktionsprozesse zu optimieren. Dazu müssen die Werte regelmäßig
überprüft und gegebenenfalls neu festgesetzt werden.
Das belohnt Anstrengungen der Liefer- und Transportländer, die Treibhausgasbilanz der Produkte zu verbessern.
Nur auf diese Weise lassen sich unsere Klimaziele für
die EU erreichen: bis 2020 den CO2-Ausstoß insgesamt
um 20 Prozent gegenüber 1990 zu senken und den Verkehrssektor hieran angemessen zu beteiligen.
Die Grünen springen zu kurz. Deshalb lehnen wir
ihren Antrag ab.
Ich fange mit der Frage an, die im Mittelpunkt der
Debatte steht: „Lassen wir es zu, dass unsere Klimaschutzpolitik durch massive Lobbyarbeit ausgehöhlt
wird?“ Bei dieser Frage steht die Bundesregierung im
Mittelpunkt der Debatte. Denn bei der Abstimmung in
Brüssel werden wir nur dann eine Mehrheit für den Klimaschutz bekommen, wenn die Bundesregierung den
Klimaschutz unterstützt. Sollte sie mal wieder keine
Meinung haben, so lässt sie den zerstörerischen Kräften
freien Lauf. Bei der Abstimmung im Umweltausschuss in
der letzten Sitzungswoche wurde klar, dass es einige
Umweltpolitiker bei den Regierungsfraktionen gibt, die
gegen eine Verwässerung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie sind. Fast hätten wir sogar eine Mehrheit im Ausschuss für einen Antrag der Opposition bekommen. Ich
kann den Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb
nur zurufen: Machen Sie sich noch einmal klar, dass die
Position Deutschlands das Zünglein an der Waage ist.
Die nächste Abstimmung in Brüssel ist entscheidend.
Machen Sie Ihren Kollegen aus dem Wirtschaftsausschuss klar, dass Europa nackt im Wind stehen würde,
wenn Kanada erst aus dem Kioto-Protokoll aussteigt
und dann auch noch den europäischen Klimaschutz torpedieren könnte. Das darf nicht passieren!
Der Vorschlag der Kommission muss auf dem Umweltministertreffen im Juni eine Mehrheit finden. Die
Kommission hat eine wissenschaftlich fundierte Berechnungsmethode vorgeschlagen. Länder wie Großbritannien oder die Niederlande sind nur dagegen, weil sie
ihre Ölkonzerne schützen wollen, die in den Abbau von
Teersand investieren wollen. Bei aller Sympathie für die
Industrie - und als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet
habe ich viel Sympathie für die Industrie - muss ich ganz
klar sagen: Der Abbau von Teersanden hinterlässt eine
trostlose Mondlandschaft, zerstört das Klima und ist
eine Art der Ölgewinnung, die so schmutzig ist, dass wir
sie nicht unterstützen können.
Der Vorschlag der Kommission setzt um, was wir
schon 2009 beschlossen haben. Auch der Verkehrsbereich soll seinen Beitrag leisten, um das Klimaziel der
Zu Protokoll gegebene Reden
EU zu erreichen. Dieses Klimaziel wurde im Jahre 2008
beschlossen und war damals auch für die Kanzlerin von
höchster Bedeutung. Heute müssten wir eher diskutieren, dass dieses Ziel zu niedrig ist. Stattdessen haben wir
die absurde Situation und müssen Angriffe abwehren,
damit dieses niedrige Ziel nicht auch noch verwässert
wird.
Diese Angriffe sind gut organisiert. In Brüssel findet
eine wahre Lobbyschlacht statt. In den letzten zwei Jahren
zählte Friends of the Earth Europe über 110 Lobbying
Events kanadischer Vertreter zur Richtlinie und dem
Thema Teersande. Ich finde es erstaunlich, wie eine ausländische Regierung unsere Politik zu beeinflussen versucht und wie massiv die kanadische Regierung gegen
die Kraftstoffqualitätsrichtlinie kämpft. Dabei exportiert
Kanada kaum Öl aus Teersanden nach Europa. Es
scheint nur darum zu gehen, dass eine Entscheidung in
Europa eine hohe symbolische Bedeutung hat, und sollten Teersande in Europa ein schlechtes Image bekommen, könnten andere Absatzmärkte deswegen auch auf
die Idee kommen, ähnliche Gesetze zu erlassen und
Teersande ebenfalls von ihren Märkten fernhalten zu
wollen.
Diese Diskussion wird nicht erst seit gestern geführt.
Schon am 23. April 2009 wurde die EU-Kraftstoffqualitätsrichtlinie verabschiedet, in der EU-weite Standards
für Kraftstoffe festgelegt wurden. Bei dieser Novelle
wurde in Art. 7 a festgelegt, dass Kraftstofflieferanten
die Emissionen ihrer Kraftstoffe um 6 Prozent bis 2020
gegenüber 2010 senken müssen. Dieses Minderungsziel
im Treibstoffsektor soll mithelfen, das europäische Klimaschutzziel von minus 20 Prozent gegenüber 1990 zu
erreichen. Der Verkehrsbereich muss seinen Beitrag zur
Zielerreichung leisten. Neben effizienteren Fahrzeugen
bieten auch die verwendeten Kraftstoffe Möglichkeiten
zur Einsparung von Treibhausgasen.
Nach Verabschiedung der Richtlinie mussten noch
wichtige Details geregelt werden. In der Kraftstoffqualitätsrichtlinie wird die EU-Kommission aufgefordert, Regelungen für technische Details vorzulegen. Dies geschieht in einem sogenannten Komitologieverfahren. Im
Oktober 2011 hat die EU-Kommission ihren Vorschlag
vorgelegt, wie die Treibhausgasemissionen fossiler
Treibstoffe berechnet werden sollen. Dabei soll die Ökobilanz von der Förderung bis zur Verbrennung berücksichtigt werden. Da die Herstellung von Kraftstoffen aus
Teersanden und Ölschiefer zu den klimaschädlichsten
Varianten der Kraftstoffherstellung gehört, entstehen
bei dieser Art der Förderung höhere CO2-Emissionen
als bei der konventionellen Ölförderung. Nach Berechnungen der Stanford University für die EU-Kommission
liegt der Standardwert für Kraftstoffe aus Teersanden
bei 107 Gramm CO2-Äquivalente je Megajoule, für
Kraftstoffe aus konventioneller Ölförderung bei
87,5 Gramm CO2-Äquivalente je Megajoule. Der Wert
für Teersande basiert auf dem Industriedurchschnitt für
die Produktion von Teersanden, die in Raffinieren in der
EU verarbeitet werden können.
Kraftstoffe aus unkonventioneller Förderung wie aus
Teersanden oder Ölschiefer haben nicht nur eine
schlechte Klimabilanz, sondern führen auch zur großflächigen Entwaldung in den Fördergebieten. In Kanada
befinden sich die größten Reserven für Teersande. Der
dortige Abbau zerstört große Flächen von borealem Primärwald. Die Förderung ist auch sehr wasserintensiv
und geht mit einer großflächigen Wasser- und Luftverschmutzung einher. Bei Abbau und Verarbeitung von
Teersanden werden durchschnittlich viermal so viele
Treibhausgase freigesetzt wie bei konventionellem
Rohöl. Deswegen ist auch der Ansatz der EU-Kommission richtig, Kraftstoffe aus Teersanden anders zu bilanzieren als Kraftstoffe aus konventioneller Förderung.
Die Debatte um die Behandlung von Teersanden wird
nicht nur in der EU geführt. In Kanada gibt es Proteste,
vor allem von indigenen Gruppen, gegen die Northern
Gateway Pipeline, die von Alberta an die kanadische
Westküste führen und den Ölexport nach Asien ermöglichen soll. Die Genehmigung dieser Pipeline verzögert
sich. Im November 2011 stoppte US-Präsident Barack
Obama vorerst den Bau der Keystone-XL-Pipeline.
Diese Pipeline soll Öl aus Teersanden aus der kanadischen Provinz Alberta bis zu den Raffinerien im USBundesstaat Texas führen. In US-Bundesstaat Kalifornien sollen Treibstoffsorten bestimmte Emissionswerte
zugeordnet werden. Der kalifornische „Low Carbon
Fuel Standard“ ähnelt dabei der europäischen Kraftstoffqualitätsrichtlinie. Gegen all diese Bemühungen gegen Öle aus Teersand geht Kanada massiv vor. Wie gerade schon dargestellt, gibt es - außer dem Profit
einiger Ölkonzerne - kein Argument für diese Art der
unkonventionellen Förderung von Öl.
Über den Vorschlag der EU-Kommission zur Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie sollte am 23. Februar 2012 im Fuel Quality Committee abgestimmt werden. Das Fuel Quality Committee setzt sich aus
Experten der Mitgliedstaaten zusammen. Jedoch kam es
zu einem Patt. Das Committee konnte sich nicht auf eine
Bewertung der Energieträger einigen. Staaten wie
Großbritannien, aber auch Deutschland enthielten sich
der Stimme. Nun müssen die EU-Umweltminister über
die Bewertung von Teersand entscheiden. Für den europäischen Klimaschutz ist es wichtig, dass der Vorschlag
der EU-Kommission nicht verwässert oder verhindert
wird. In dieser Diskussion ist die Haltung Deutschlands
entscheidend. Die Bundesregierung muss daher den
Vorschlag der EU-Kommission unterstützen und sich
auch bei anderen Mitgliedstaaten für diesen Vorschlag
einsetzen. Keine Meinung zu haben, kann für die nächste
Abstimmung keine Option sein. Ich kann den Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen nur die
Worte ihres Finanzministers ans Herz legen: Reden Sie
nicht, handeln Sie!
Die FDP-Fraktion begrüßt im Grundsatz die Überlegung der EU-Kommission, eine Differenzierung mit
Blick auf die Emissionen über den gesamten Lebenszyklus hinweg vorzunehmen. In der Folge würde Kraftstoffen auf Basis von Ölsanden ein höherer CO2-Emissionswert im gesamten Lebenszyklus zugewiesen als
Kraftstoffen aus konventionellem Rohöl. Dies wäre
Zu Protokoll gegebene Reden
sachlich richtig, da der Abbau und die Verarbeitung von
Ölsanden wesentlich mehr Energie in Anspruch nehmen,
als dies bei konventionellem Rohöl der Fall ist. Daneben
drohen insbesondere in Kanada ein Verlust an Wäldern
und Mooren und somit zusätzliche CO2-Emissionen aus
Landnutzungsänderungen.
Einige offene Fragen gibt es allerdings noch, weswegen die Bundesregierung sich in dieser Frage auch noch
nicht positioniert hat. Insbesondere ist unklar, welche
Berichterstattungspflichten auf die Mineralölwirtschaft
zukommen. Die EU-Kommission hat angekündigt, dass
ein einfaches Berichtssystem mit den Vorgaben der
Richtlinie vereinbar sei. Wie dieses Berichtssystem konkret ausgestaltet sein soll, ist bisher jedoch unklar.
Einem Land wie Kanada, das sich nicht mehr dem
Kioto-Regime unterwerfen will, sollte man bei der
Frage des Teersandabbaus eine klare Botschaft senden.
Der kanadischen Regierung muss deutlich gemacht werden, welche Auswirkungen ihre Art von Klimapolitik
hat.
Sofern die EU-Kommission ein einfaches und transparentes Berichterstattungssystem vorsieht, sollte sie
bei ihrem Vorhaben unterstützt werden. Nach der ersten
Diskussion im Umweltausschuss hat sich die Arbeitsgruppe Umwelt meiner Fraktion nochmals beraten. Wir
sind der Auffassung, dass es richtig ist, die Mineralölprodukte nach den Lebenszyklustreibhausgasemissionen
zu differenzieren.
Leider war es nicht möglich, einen Kompromiss mit
der CDU/CSU-Fraktion für einen interfraktionellen Antrag zu finden. Da wir an den Koalitionsvertrag gebunden sind, müssen wir den vorliegenden Antrag ablehnen.
Das bedeutet aber nicht, dass wir gegen dieses Anliegen
sind.
Der Ölpreis hat in den letzten Monaten wieder angezogen. Er liegt gegenwärtig bei über 100 Dollar je
Barrel. Das hat verschiedene Ursachen. Eine davon ist
sicher, dass Öl schlicht knapper wird. Der Aufwand zur
Förderung steigt - und meist auch die damit verbundenen negativen sozialen und Umweltfolgen.
Weil der Peak Oil seine Schatten voraus wirft, wird
nun die Gewinnung von Öl und Bitumen aus Teersanden
oder Ölschiefer rentabel, allerdings nur eng betriebswirtschaftlich; denn die daraus gewonnenen Kraftstoffe
haben am Ende eine bis zu dreifach schlechtere CO2-Bilanz. Das Bitumen muss schließlich mit heißem Dampf
vom Sand getrennt und zu Ölprodukten aufbereitet werden.
Das Ganze ist eine ziemliche Sauerei, von den sonstigen Folgen für die natürliche Umwelt im Fördergebiet
ganz zu schweigen. Dafür werden im kanadischen Bundesstaat Alberta und anderswo riesige Wald- und Moorflächen vernichtet. Zudem werden Unmengen an Wasser
und Gas für die Förderung benötigt.
Mit den gigantischen Teersandvorkommen sollen die
Grenzen des Wachstums beim Verbrauch von Öl herausgeschoben werden. Wie wir sehen, geht dies nicht zum
Nulltarif, und wenn wir ehrlich sind, beißt sich die Katze
sogar in den Schwanz: nicht nur ökologisch, sondern
auch sozial. Wenn wir das kohlenstoffbasierte Energiesystem noch künstlich verlängern, ja sogar mit zentralistischen Technologien die CO2-Intensität im Verkehr
noch erhöhen, ist der Klimakollaps nicht mehr zu verhindern. Das wiederum wird Hunger, Vertreibung und
sonstige Konflikte anheizen.
Interessant ist, dass sich kürzlich ausgerechnet Kanada aus dem Kioto-Vertrag verabschiedet hat. Das
Land sollte seine Emissionen eigentlich um 6 Prozent
mindern, stößt aber ein Fünftel mehr aus als 1990. Das
liegt auch an der Ausbeutung der Ölsande, die, wie gesagt, eine verheerende Treibhausbilanz hat.
Diese Bilanz muss nun auch bei der Umsetzung der
EU-Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigt werden.
Darum unterstützt die Linke an dieser Stelle den Entwurf
der EU-Kommission zur Konkretisierung des Art. 7 a,
welcher eine nach Rohstoffen differenzierte Berechnung
der Treibhausgasemissionen der Kraftstoffe vorsieht.
Wer Treibstoff auf Grundlage kanadischer Ölsande anbietet, muss die vorgesehenen CO2-Minderungsvorgaben schwerer erfüllen können, als beim Angebot von
Treibstoffen aus konventioneller Förderung. Das gebietet das Verursacherprinzip.
Wir stimmen darum auch dem Antrag der Grünen zu,
der die Bundesregierung auffordert, sich dagegen zu
wenden, dass dieses Anliegen der EU-Kommission von
Mitgliedsländern oder Lobbyorganisationen blockiert
wird.
Leider hat der Antrag bislang nicht viel genützt, obwohl sich ursprünglich alle Parteien im Umweltausschuss zumindest für den Inhalt ausgesprochen hatten.
Der zuständige Expertenausschuss der EU-Länder votierte vor einer Woche weder für noch gegen den Vorschlag der EU-Kommission, der die Kraftstoffe als klimaschädlich einstuft. Das lag auch daran, dass
Deutschland sich dort enthalten hat.
Ich finde diese deutsche Enthaltung feige und unaufrichtig. Ich frage mich, wie Deutschland jene nachhaltige Rohstoffpolitik betreiben will, die ja erst gestern
hier im Parlament beschworen wurde. Wie etwa ist die
Idee von Rohstoffpartnerschaften aus Sicht der nachhaltigen Entwicklung zu verstehen, wenn Deutschland und
Europa es sogar im Falle eines potenten Industrielandes
wie Kanada ablehnen, Vorschriften zu erlassen, die
extreme Umweltbelastungen beim Import von Rohstoffen berücksichtigen?
Auch wenn heute die Koalition den Antrag der Grünen ablehnen wird, gibt es noch eine Chance zur Besinnung; denn die EU-Umweltminister müssen sich erneut
mit dem Kommissionsvorschlag befassen. Darum appelliere ich an Norbert Röttgen: Setzen Sie sich in Brüssel
für eine nach Rohstoffen differenzierte Berechnung der
Emissionen ein. Der Dreck soll am besten bleiben, wo er
ist: unter der Erde.
Zu Protokoll gegebene Reden
In Brüssel wird gegenwärtig ein Vorschlag der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie beraten. Eines der wichtigsten Ziele dieser Richtlinie ist es, die Treibhausgasemissionen im
Verkehrssektor um 6 Prozent bis zum Jahr 2020 gegenüber 2010 zu reduzieren. Die Bundesregierung unter
Angela Merkel hat dieses Ziel bei der Erarbeitung der
Richtlinie immer unterstützt.
Die Kommission hat nun die Aufgabe, Regeln für die
Umsetzung der Richtlinie zu entwickeln, die eine Erreichung des Ziels gewährleisten. Wenn man diese Aufgabe
ernsthaft angeht, reicht es nicht, nur darauf zu gucken,
welche Emissionen bei der Verbrennung von Treibstoffen entstehen. Es müssen auch die Emissionen in den
Blick genommen werden, welche schon bei der Förderung entstehen. Es bedarf also einer Betrachtung der
Lebenszyklustreibhausgasemissionen. Diese unterscheiden sich nämlich ganz erheblich, je nach Herkunft des
Öls.
Es macht einen deutlichen Unterschied in der Klimaund Umweltbilanz, ob man Erdöl aus einer konventionellen Lagerstätte gewinnt, oder ob, wie beim Abbau
von Teersanden in Kanada, große Waldflächen vernichtet werden, unter hohem Energieaufwand das Öl aus
dem Boden gewaschen wird und die daraus entstehenden Abwässer in Giftseen gelagert werden müssen.
Diese Seen müssen sogar großflächig abgedeckt werden,
damit bloß keine Vögel darauf landen können. So vergiftet ist das Wasser! Auch in anderen Regionen der Welt,
zum Beispiel in Venezuela, Madagaskar, der Republik
Kongo und Russland gibt es Teersandprojekte bzw.
Pläne, Erdöl aus Teersanden zu fördern. Wenn wir es in
Europa wirklich ernst damit meinen, dass wir unsere
Emissionen im Verkehrssektor reduzieren wollen, dann
dürfen wir diese Auswüchse bei der Erdölförderung
nicht ignorieren und müssen jetzt ein Zeichen dagegen
setzen.
Genau hier setzt der Vorschlag der Europäischen
Kommission zur Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie an, für den wir in dem vorliegenden Antrag um
Unterstützung werben: Kraftstoffanbieter sollen in Zukunft nachweisen, aus welchem Rohstoff ihre Mineralölprodukte gewonnen wurden. Daraus folgt: Kraftstoffanbieter, die Öl aus Teersanden verkaufen, haben eine
entsprechend schlechtere CO2-Bilanz als diejenigen, die
konventionell gewonnenes Öl verkaufen. Die Kommission beschreitet damit einen konsequenten Weg zur
Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie. Wir sind
der festen Überzeugung, dass dies der richtige Weg ist,
und daher fordern wir die Bundesregierung in dem
vorliegenden Antrag auch auf, diesen Vorschlag auf EUEbene zu unterstützen.
Natürlich sind hier wirtschaftliche Interessen der Ölindustrie berührt. Unternehmen in Kanada planen zurzeit, das Teersandgeschäft deutlich auszuweiten. Bisher
geht ein Großteil der Lieferungen in die USA. Dies soll
sich in Zukunft ändern: Die Förderung soll in den kommenden Jahren verdreifacht und das gewonnene Öl
schon bald auch verstärkt nach Asien und Europa geliefert werden. Entsprechend tritt die kanadische Erdöllobby bei den europäischen Regierungen derzeit mit
Nachdruck auf. Selbst der kanadische Botschafter hat
die Mitglieder des Umweltausschusses des Bundestags
noch vor der Abstimmung im Ausschuss über unseren
Antrag angeschrieben und für eine Ablehnung des Vorschlags der EU-Kommission geworben.
Bei der Bundesregierung und großen Teilen der Koalitionsfraktionen waren die Ölindustrie und die kanadische Regierung offensichtlich auch erfolgreich: Anstatt
das Vorhaben der Kommission zu unterstützen, wie dies
immerhin zwölf andere EU-Mitgliedstaaten getan haben, enthielt sich die Bundesregierung der Stimme. Dass
der Vorschlag der Kommission keine Mehrheit gefunden
hat, ist ohne Zweifel auch die Folge der unklaren deutschen Haltung. Schwarz-Gelb hat es wieder einmal versäumt, ein wichtiges Zeichen für den internationalen
Klimaschutz zu setzen. Alle hier vertretenen Fraktionen
haben sich im vergangenen Dezember über den Austritt
Kanadas aus dem Kioto-Protokoll empört. Dies wäre die
Chance gewesen, auf den Austritt Kanadas eine politische Reaktion folgen zu lassen. Doch bisher wurde sie
vertan. Außerdem steht der Ausstieg Kanadas aus dem
Kioto-Protokoll sicherlich auch in direkten Zusammenhang mit erwartbar weiter steigenden CO2-Emissionen
des Landes aus der Teersandgewinnung und der daraus
folgenden Unmöglichkeit, die Klimaziele des Landes
einzuhalten.
Es ist offensichtlich, dass sich Wirtschaftsminister
Rösler und die Hardliner in der Bundesregierung auch
bei diesem Thema durchgesetzt haben. Wir wissen, dass
es in der Koalition durchaus Kräfte der Vernunft gab
und wohl auch gibt, die unserem Antrag inhaltlich
folgen wollen. Die Beratungen im Umweltausschuss
schienen mir zwischenzeitlich sogar auf einem guten
Weg zu sein. Am Ende setzten sich dann doch die
Freunde der Ölindustrie in den Koalitionsfraktionen
durch, und es kam nicht zu einem gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen. Immerhin erklärt die FDP, den grünen
Antrag nur aus Koalitionsräson abzulehnen, und drei
Abgeordnete der CDU enthielten sich. Damit wurde der
Antrag mit denkbar knapper Mehrheit im Umweltausschuss abgelehnt.
Nichtsdestotrotz habe ich bei den Beratungen im Umweltausschuss durchaus den Eindruck gewonnen, dass
doch inhaltlich in weiten Teilen Konsens besteht. Ich
würde mich daher freuen, wenn sich hier im Deutschen
Bundestag doch noch eine Mehrheit für unseren Antrag
finden würde und bitte Sie hiermit um Ihre Zustimmung.
Das verbinde ich mit dem Appell an die Bundesregierung: Verabschieden Sie sich von Ihrer unwürdigen
Position der Enthaltung und unterstützen Sie den Vorschlag der Kommission, wenn er im Juni diesen Jahres
auf der Tagesordnung des Umweltrats steht. Zeigen Sie
wenigstens an dieser Stelle einmal, dass Klima- und
Umweltschutz bei Ihnen nicht nur Themen für Sonntagsreden sind. Ein Land, welches sich selbst als Vorreiter in
der Klima- und Energiepolitik bezeichnet, darf bei solchen Fragen nun wirklich nicht im europäischen Bremserhäuschen sitzen. Alles andere als eine Zustimmung
Zu Protokoll gegebene Reden
zum Entwurf der Kommission wäre ein neuerlicher Tiefpunkt der deutschen Klimapolitik.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8759,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7956 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der SPDFraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Sevim Dağdelen, Stefan Liebich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord
anerkennen und wiedergutmachen
- Drucksache 17/8767 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die folgenden Kolleginnen und Kollegen: die Kollegen Fischer und Dr. Götzer für die Unionsfraktion, die
Kollegin Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion, die Kollegin Schuster für die FDP-Fraktion, der Kollege
Movassat für die Fraktion die Linke und der Kollege
Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Wir debattieren hier heute in erster Lesung den Antrag der Linken zur Anerkennung und Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen
Deutsch-Südwestafrika.
Ich muss Ihnen sagen, der Antrag reiht sich geradewegs in die Reihe von Anträgen der Linken zum Thema
Afrika ein, für die ich wenig Verständnis habe. Vielmehr
stelle ich mir die Frage, ob es nicht derzeit dringendere
afrikapolitische Themen gibt, die einer Befassung durch
den Deutschen Bundestag bedürfen. Als Beispiele nenne
ich die Unterstützung und Stabilisierung der neuen Regierung im Südsudan oder der seit 20 Jahren ungelöste
Konflikt in Somalia.
Ich spreche Sie, Herr Kollege Movassat, direkt an:
Wir waren gemeinsam auf verschiedenen Reisen in den
unterschiedlichsten Ländern des afrikanischen Kontinents. Wir haben vor Ort die Probleme, aber auch die
vielen guten Lösungsansätze der jeweiligen Regierungen und deren Partner gesehen. Dabei haben wir aber
auch gesehen, dass es für die internationale Gemeinschaft noch viel zu tun gibt. Und trotz der vielen Aufgaben, die wir auf unseren gemeinsamen Reisen vor Ort
gesehen haben, schreiben Sie so einen Antrag? Der
Antrag dient nur dazu, ihre verqueren politischen Ansichten in Bezug auf den von Ihnen so gern genannten
„Neokolonialismus“ aufzuzeigen und Ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen! Für diese Verweigerung gegenüber den außen-, entwicklungs- und menschenrechtspolitischen Bedürfnissen und Gegebenheiten auf
dem afrikanischen Kontinent fehlt mir jedes, aber wirklich jedes Verständnis.
Aber nun zu Ihrem Antrag im Einzelnen. Der Antrag
ist eine Mischung aus altbekannten Forderungen, aber
auch aus Feststellungen Ihrerseits, die rein völkerrechtlich einfach nicht erfüllbar sind. Viele Forderungen haben Sie auch schon im Rahmen einer Kleinen Anfrage an
die Deutsche Bundesregierung gestellt, die auch vollumfassend und ausführlich beantwortet wurde. Nicht zuletzt dieser Umstand lässt mich an der Ernsthaftigkeit
des Antrages und Ihrem wirklichen Interesse an der Sache zweifeln.
Sie fordern in Ihrem Antrag unter Punkt 5 des Feststellungsteils die Betonung der besonderen historischen
und moralischen „Verantwortung Deutschlands gegenüber dem heutigen Namibia und der namibischen Bevölkerung“ und unter Punkt 3, „die Nachfahren der vom
Völkermord betroffenen Herero, Nama, Damara und
San um Entschuldigung“ zu bitten. Die Bundesregierung hat sich vor dem Hintergrund der deutschen kolonialen Vergangenheit wiederholt zu dem schweren historischen Erbe und der daraus resultierenden ethischmoralischen Verantwortung Deutschlands gegenüber
Namibia bekannt und die damaligen Geschehnisse zutiefst bedauert. So bat die damalige Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul am 14. August 2004 „um Entschuldigung im Namen der gesamten deutschen
Regierung“. Auch der Deutsche Bundestag hat das Sonderverhältnis Deutschlands zu Namibia unter anderem
in seinen Entschließungen vom April 1989 und Juni
2004 bekräftigt. Können Sie mir einen Grund nennen,
warum der Deutsche Bundestag eine erneute Entschließung verabschieden sollte? Ich kann Ihnen sagen: Nein!
Die Entschließungen von 1989 und 2004 gelten weiterhin uneingeschränkt.
Weiterhin sprechen Sie auch immer wieder von einer
fälligen Anerkennung des „begangenen Völkermordes“
nach der Konvention der Vereinten Nationen von 1948
durch die Deutsche Bundesregierung. Die Konvention
vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ist für die Bundesrepublik
Deutschland am 22. Februar 1955 in Kraft getreten. Mit
dem Beitritt zu diesem wichtigen Regelwerk hat die Bundesrepublik Deutschland ihre feste Überzeugung unter
Beweis gestellt, dass Völkermord verhütet und verfolgt
werden muss. Allerdings gilt die Konvention nicht rückwirkend. Das heißt: Die damaligen Geschehnisse - so
schlimm sie aus heutiger Sicht auch erscheinen - stellten nach damals geltendem Völkerrecht keine Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen dar. Bewertungen
historischer Ereignisse nach rechtlichen Bestimmungen,
die im Zeitpunkt dieser Ereignisse für Deutschland nicht
Hartwig Fischer ({0})
in Kraft waren, werden von der Bundesregierung nicht
vorgenommen.
Auch sprechen Sie in Ihrem Antrag den Punkt an,
dass Deutschland sich seiner kolonialen Vergangenheit
in aller Klarheit und Deutlichkeit stellen muss. Die Bundesregierung wird ihrer besonderen Verantwortung für
Namibia durch eine intensive Zusammenarbeit mit diesem Land gerecht. So erhält Namibia von Deutschland
die höchsten Pro-Kopf-Entwicklungsleistungen in
Afrika. Die Höhe aller deutschen Zusagen seit 1990 an
Namibia liegt bei über 700 Millionen Euro. Die Entwicklungszusammenarbeit konzentriert sich vorwiegend
auf die ländliche Bevölkerung in dem besonders von Armut betroffenen Norden des Landes.
Die Bundesregierung hat zudem die sogenannte Sonderinitiative ins Leben gerufen, in deren Rahmen Namibia 20 Millionen Euro für Hilfsmaßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Diese Initiative beinhaltet vor
allem Projekte in den Siedlungsgebieten derjenigen namibischen Volksgruppen, welche im Kolonialkrieg besonders betroffen waren.
Besonders interessant fand ich Ihre Forderungen
nach einem Parlamentarierdialog mit der namibischen
Nationalversammlung und der Einrichtung einer
deutsch-namibischen Parlamentariergruppe. Wie Sie
wissen, dienen gerade die Parlamentariergruppen des
Deutschen Bundestages dem Kontakt mit den Parlamentariern und den Parlamenten der Partnerländer. So befindet sich zum Beispiel in der kommenden Woche eine
Delegation, bestehend aus Mitgliedern der namibischen
Nationalversammlung, zu Besuch in der Bundesrepublik
Deutschland. Neben vielen Treffen mit Abgeordneten
des Deutschen Bundestages finden auch Gespräche mit
Vertretern des Auswärtigen Ausschusses und der Parlamentariergruppe SADC-Staaten statt. Auch bei der letzten Reise der Parlamentariergruppe SADC-Staaten im
Jahre 2009 gab es einen intensiven Austausch mit der
namibischen Nationalversammlung. Wie Sie sehen, gibt
es also bereits einen intensiven beiderseitigen Austausch.
Und ich muss Ihnen sagen: Zur Errichtung einer
deutsch-namibischen Delegation kann die Linke, dem
Sprichwort „Handeln ist besser als Reden“ folgend, selber den ersten Schritt machen. Der Vorsitzende der Parlamentariergruppe SADC-Staaten ist MdB Stefan
Liebich, Mitglied der Fraktion Die Linke. Herr Liebich
kann gerne bei unserem Bundestagspräsidenten, Herrn
Dr. Norbert Lammert, den Antrag stellen, das Land Namibia aus der Parlamentariergruppe SADC-Staaten herauszulösen und dafür eine eigene deutsch-namibische
Parlamentariergruppe zu gründen. Ich selber habe in
der vergangenen Wahlperiode als Vorsitzender der Parlamentariergruppe West- und Zentralafrika bei unserem
Bundestagspräsidenten, Herrn Dr. Norbert Lammert,
den Antrag gestellt, die Parlamentariergruppe aufgrund
der zu großen Anzahl an Partnerländern in zwei Gruppen zu spalten. Diesem Antrag ist entsprochen worden,
und somit gibt es seit Beginn der 17. Wahlperiode die
Parlamentariergruppe der französischsprachigen Staaten West- und Zentralafrikas und der englisch-/portugiesisch-sprachigen Staaten West- und Zentralafrikas. Sie
sehen, einem gut begründeten Antrag Ihrerseits steht
also nichts im Wege.
Ich habe hier nur wenige Ihrer Forderungen erwähnt,
bin aber auf die Beratung und die Begründung dieses
Antrages in den Ausschüssen gespannt. Ich möchte es
aber nicht missen, zum Ende meiner Rede auch eine
Forderung an die Fraktion Die Linke zu stellen: Hören
Sie endlich auf, allein ideologisch-motivierte Anträge in
Bezug auf Afrika einzubringen. Nehmen Sie endlich die
aktuellen politischen und gesellschaftlichen Probleme
und Gegebenheiten des afrikanischen Kontinents wahr,
um dann gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
Wir lehnen den Antrag der Linken im Wesentlichen
aus zwei Gründen ab:
Erstens führt die Fraktion Die Linke für ihre Begründung des Straftatbestands „Völkermord“ die Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord ins Feld. Diese ist, wie die
Bundesregierung bereits mehrfach ausgeführt hat - so
bereits auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke
zu Umständen der Rückführung von Gebeinen von Opfern deutscher Kolonialverbrechen nach Namibia und
der Entschuldigungs- und Versöhnungsfrage -, für die
Bundesrepublik Deutschland am 22. Februar 1955 in
Kraft getreten. Sie gilt nicht rückwirkend.
Zweitens hat die namibische Regierung die Frage der
Wiedergutmachung bisher nicht im Rahmen eines offiziellen Dialogs mit der Bundesregierung thematisiert.
Sie hat sich die vom namibischen Parlament mit Entschließung vom 26. Oktober 2006 unterstützten Entschädigungsforderungen der Herero bisher nicht zu eigen gemacht. Trotz zahlreicher enger Kontakte mit
Vertretern der namibischen Regierung fand bislang
keine inhaltliche Diskussion über etwaige Entschädigungsforderungen statt.
Deutschland steht vorbehaltlos zu seiner Verantwortung als ehemalige Kolonialmacht des heutigen Namibia. Diese Verantwortung hat auch der Bundestag in
richtungweisenden Entschließungen unterstrichen: 1989,
als er die Bundesregierung aufforderte, mit dem unabhängigen Namibia eine Sonderbeziehung zu entwickeln
und zu pflegen, und 2004, als er in einer weiteren Entschließung der Opfer des Kolonialkrieges gedachte und
seinen Willen bekräftigte, die guten bilateralen Beziehungen zu Namibia zu vertiefen.
Diese sind heute, 22 Jahre nach der Unabhängigkeit
Namibias, in der Tat sehr eng. Sie gründen auf der gemeinsamen Kolonialzeit und der daraus erwachsenden
Verantwortung Deutschlands, sowie auf der engen kulturellen Verbindung mit den über 20 000 deutsch sprechenden Namibiern. Sie erwachsen auch aus der aktiven
diplomatischen Unterstützung der namibischen Unabhängigkeit durch Deutschland als Mitglied der westlichen Kontaktgruppe in den 80er-Jahren, und aus zwei
Jahrzehnten bilateraler Entwicklungspartnerschaft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese Entwicklungspartnerschaft hat ein Volumen
von bislang insgesamt circa 700 Millionen Euro. Damit
ist Namibia das Land in Afrika mit den höchsten deutschen Zuwendungen pro Einwohner.
Kennzeichnend für das deutsche Engagement ist jedoch nicht nur die staatliche Entwicklungshilfe, sondern
auch die große Vielfalt privater Initiativen und Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen.
In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere auf
die wertvolle Arbeit der Hanns-Seidel-Stiftung verweisen, die bereits seit 1978 mit eigenem Standort in Windhuk hauptsächlich Projekte zur Verbesserung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen sowie zur
wirtschaftlichen Entwicklung fördert. Auch hier sind
Personengruppen, die Benachteiligungen aus der Kolonialzeit oder der Zeit der Apartheid erfahren haben, eine
der wichtigsten Zielgruppen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen,
sind die demokratisch legitimierten Parteien im Bundestag, die Bundesregierung und private Einrichtungen darum bemüht, die privilegierten Beziehungen zu Namibia
weiter auszubauen, die den Weg in eine gemeinsame,
verantwortungsvolle Zukunft weisen.
Als ich im Jahr 2004 als Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Tag
des einhundertjährigen Gedenkens der blutigen Niederschlagung des Aufstandes der Herero, Nama und
Damara durch deutsche Kolonialtruppen nach Namibia
gereist bin, wurde mir das Ausmaß der noch immer tief
sitzenden Trauer durch viele Begegnungen eindringlich
bewusst. Die Erinnerung an die Gräueltaten der kaiserlichen Kolonialtruppen ist in Namibia und besonders in
den Generationen der Herero, Nama und Damara noch
immer präsent.
Die kaiserlichen Kolonialtruppen begingen einen
Völkermord an den Herero, der fast ihre gesamte Volksgruppe ausgelöscht hat. General von Trotha, der den
Befehl zur Erschießung auch von Kindern und Frauen
gegeben hatte, müsste sich heutzutage vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten.
Nahezu das gesamte Volk der Herero kam damals auf
der Flucht in der Omaheke-Wüste um, wurde erschossen, erschlagen, erhängt oder verdurstete. In Lagern mit
unbeschreiblichen Lebensbedingungen starben Zehntausende durch Krankheiten, durch Folgen von Zwangsarbeit - alles mit Wissen und Duldung der Reichsregierung.
Die Sozialdemokraten im Reichstag haben damals,
leider erfolglos, gegen die Gräueltaten protestiert.
August Bebel stellte in seiner Rede im Reichstag damals
fest: „Das Recht zum Aufstand, das Recht zur Revolution, hat jedes Volk und Völkerschaft, die sich in ihren
Menschenrechten aufs alleräußerte bedrückt fühlt.“
Es ist auch heute, 108 Jahre später, richtig und notwendig, an die Toten von damals zu erinnern und sich
der geschichtlichen Verantwortung Deutschlands für
den begangenen Völkermord zu stellen.
Was hat die damalige Bundesregierung aus Anlass
des 100-jährigen Gedenkens unternommen?
In meiner Rede anlässlich der Gedenkfeier in Okakarara sagte ich: „Wir Deutsche bekennen uns zu unserer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verantwortung und zu der Schuld, die Deutsche damals auf
sich geladen haben“, und ich sagte aus meiner christlichen Überzeugung heraus: „Ich bitte Sie im Sinne des
gemeinsamen ,Vater unser‘ um Vergebung unserer
Schuld.“ Diese Vergebung bekundeten gleich nach meiner Rede auch der damalige Landwirtschaftsminister
Hifikepunye Pohamba, der heutige Präsident Namibias,
sowie der Vertreter der Herero, Kuaima Riruako.
Nach meiner Reise sollten allerdings auch konkrete
Initiativen folgen, die die damalige Bundesregierung in
die Wege geleitet hat. Dazu zählte einerseits die Verdopplung der Leistungen innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit innerhalb von fünf Jahren sowie andererseits die Gründung einer Versöhnungsinitiative.
Hierfür wurden zusätzliche Mittel in Höhe von 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das Geld sollte vor
allem für die kommunale Entwicklung in Gebieten eingesetzt werden, in denen heute Nachfahren der Volksgruppen leben, die besonders unter der deutschen Herrschaft leiden mussten. Sie sollten die Lebensqualität der
Menschen in diesen Regionen und ihre beruflichen
Chancen verbessern. Hierzu zählte beispielsweise die
Errichtung von Gemeindezentren, die Förderung der
Landwirtschaft und der kleinbäuerlichen Viehzucht sowie die weitere Verbesserung der ländlichen Infrastruktur. Die Folgen von Kolonialismus, Unterdrückung und
Apartheid sollen überwunden werden.
Den meisten der Nachfahren der getöteten Herero,
Nama und Damara geht es nicht um eine finanzielle
Entschädigung oder eine materielle Wiedergutmachungsleistung. Sie wollen, dass die Ungerechtigkeit,
die sie erfahren haben, als solche anerkannt und gewürdigt wird. Wir sollten auch in Zukunft auf diesem Gebiet
nicht nachlassen und Namibia im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ausreichend unterstützen.
Wir sollten nachhaltige finanzielle Entwicklungszusammenarbeit für Namibia bereitstellen und die
damals bereits von mir geforderte Versöhnungsinitiative
endlich in die Praxis umsetzen. Dies wurde in den letzten
zwei Jahren offenbar verschleppt. Es bleibt zu hoffen,
dass nach dem Besuch des Afrikabeauftragten des Auswärtigen Amts, Walter Lindner, vor wenigen Wochen
jetzt die direkte Unterstützung für die betroffenen Regionen verwirklicht werden kann.
Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland
und Namibia verlangen nach einem angemessenen und
respektvollen Umgang mit dem Andenken an die Opfer
der deutschen Verbrechen Anfang des 20. Jahrhunderts
im heutigen Namibia. Dazu gehört ein enger Dialog
zwischen den Regierungen, aber auch ein regelmäßiger
Austausch zwischen den Abgeordneten beider Parlamente. Was möglich ist, ist ein Blick in eine gemeinsame
Zukunft, in der zusammen Projekte verwirklicht werden
können und Deutschland seiner Verpflichtung dem namibischen Volk gegenüber nachkommt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Besonderer Dank gilt Bischof Zephania Kameeta für
sein langjähriges und nachhaltiges Engagement in allen
Fragen zu diesem Thema.
Die Bundesregierung hat den Besuch einer Delegation der Herero, die im September 2011 in Berlin die Gebeine ihrer verschleppten Vorfahren aus der Charité zurückholte, völlig instinkt- und perspektivlos behandelt.
Insbesondere das Auftreten der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, hat zu einer schweren
Belastung der Beziehungen geführt. Es bleibt zu hoffen,
dass die Beziehungen, die durch die katastrophale Verhaltensweise der Bundesregierung belastet wurden,
durch den Besuch des Afrikabeauftragten im Auswärtigen Amt, Walter Lindner, wieder verbessert werden
konnten.
Es wäre an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag in
einer gemeinsamen Resolution diese von mir noch einmal dargestellten Positionen betont. Wir sind jedenfalls
zur Formulierung eines gemeinsamen Antrags bereit.
Zwischen 1904 und 1907 - vor über 100 Jahren wurden im Namen des Deutschen Kaiserreichs schreckliche Gräueltaten an den Volksstämmen der Herero,
Nama und Damara verübt. Wer die Berichte von damals
liest, ist heute noch tief erschüttert und betroffen über
die Menschenverachtung, mit der die Kolonialtruppen
gegen Teile der Bevölkerung vorgingen. Dieses Kapitel
ist ein furchtbares und beschämendes Kapitel deutscher
Vergangenheit in Afrika. Deshalb ist es richtig und so
wichtig, dass dieses Kapitel nicht in Vergessenheit gerät.
Die Erinnerung an diese Ereignisse muss wach bleiben
und das Bewusstsein dafür geschärft werden.
Aber - und das sage ich an die Adresse der Linken -,
anders als dies Ihr Antrag beschreibt, ist sich Deutschland seiner historischen und moralischen Verantwortung für Namibia sehr wohl bewusst.
Basierend auf der gemeinsamen Entschließung des
Deutschen Bundestages von 1989, wurde das Fundament gelegt für eine enge und vertrauensvolle bilaterale
Partnerschaft mit Namibia. Dies war zu einem Zeitpunkt, als der Staat Namibia noch südafrikanisches
Mandatsgebiet war. Mit der Entschließung von 2004
wurde die Bedeutung der historischen und moralischen
Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia nochmals bestätigt und bestärkt.
Mit der Unabhängigkeit Namibias von der südafrikanischen Mandatsherrschaft im Jahr 1990 wurde diese
besondere Beziehung realisiert. Die Resolution 435, die
durch die intensive Unterstützung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher zustande kam und
nach langwierigen Verhandlungen von den Vereinten
Nationen verabschiedet worden ist, hat die Grundlage
hierfür gelegt.
Deutschland leistete erhebliche finanzielle Starthilfe
und begleitet Namibia seitdem beratend als größtes
Geberland der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. In 2010 war Namibia mit 15,80 Euro pro Kopf das
Land, das weltweit die höchste Leistung pro Einwohner
erhält. Der Umfang an substanzieller und effektiver Entwicklungszusammenarbeit summiert sich mittlerweile
auf knapp 700 Millionen Euro.
Unmittelbar nach der namibischen Unabhängigkeit
1991 wurde ein deutsch-namibisches Kulturabkommen
abgeschlossen. Die bilateralen Beziehungen erfreuen
sich eines reichen aktiven Kultur-, Bildungs- und Sprachaustauschs. Die Wirtschaftsbeziehungen sind gut. Es besteht kein Zweifel: Wir haben mit Namibia sehr enge,
sehr gute bilaterale Beziehungen auf allen Ebenen.
Vor diesem Hintergrund der vertrauensvollen Verbindung mit Namibia hinterfrage ich die Motivation des
Antrags; nicht, weil ich anzweifle, dass es in unser aller
Verantwortung liegt, dass diese grausame Vergangenheit nicht vergessen wird - im Gegenteil!
Den Opfern unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus der oft blutigen und menschenverachtenden
afrikanischen Kolonialzeit, die die deutsche Geschichte
mit zu verantworten hat, gilt auch heute unser Gedenken
und unsere Trauer.
Ich frage mich deshalb, weil die Forderung nach
Reparationszahlungen bis heute nicht vonseiten der
namibischen Regierung in offiziellen Gesprächen an die
Bundesregierung herangetragen worden ist. Die namibische Regierung hat sich die Parlamentsentschließung
vom Oktober 2006, die Entschädigungsforderungen der
Herero zu unterstützen, gegenüber der Bundesregierung
nicht zu eigen gemacht.
Im Gegenteil: Bei Gesprächen mit der namibischen
Regierung im Oktober 2006, wo das Thema Reparationszahlungen zur Sprache gekommen war, bestand
darüber Einigkeit, dass die Entwicklung der bilateralen
Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit der einzig richtige Weg sei.
Denn der Kern der Debatte zum Umgang mit der
deutschen Kolonialvergangenheit konzentriert sich auf
folgende Frage: Wie können wir unserer historischen
Verantwortung am besten gerecht werden?
Mehr als 100 Jahre nach den für uns so beschämenden Vorgängen der deutsch-kaiserlichen Kolonialherrschaft kann man diese Frage nicht so beantworten, als
wäre diese Zeit erst gestern gewesen. Wir müssen für uns
heute die Frage beantworten, wie wir am besten das
heutige Namibia als Ganzes in seiner Entwicklung unterstützen. Wir wollen die Gesellschaft in Namibia nicht
spalten. Das ist der ganzheitliche Ansatz für die Zukunft,
für den sich meine Fraktion immer eingesetzt hat, und
das ist auch der geeignete Weg.
In der Frage, wie wir unserer kolonialen Vergangenheit am besten gerecht werden können, waren und sind
sich übrigens alle Bundesregierungen einig gewesen. Es
gilt Namibia in seiner ganzheitlichen Entwicklung zukunftsgerichtet und integrativ zu unterstützen. Diesen
Ansatz hat Deutschland auf allen Ebenen konsequent
verfolgt. Denn dass es gelungen ist, eine deutsch-namibische Freundschaft zu entwickeln, ist eine der großen
kulturellen und auch politischen Leistungen unserer beiden Nationen und auch der jeweiligen Regierungen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich plädiere deshalb für einen integrativen und zukunftsgerichteten Ansatz. Nur so können die aktuellen
Probleme Namibias effektiv bearbeitet werden. Laut
UNDP hat Namibia bei der Einkommensverteilung weltweit den höchsten Gini-Koeffizienten. Dies ist ein statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichheit. Fast
30 Prozent der Menschen leben am Tag von 1 Dollar
oder weniger. Die Verbreitung von HIV/Aids ist mit
13,1 Prozent mit die höchste in Subsahara-Afrika. Die
Arbeitslosenquote ist mit 37 Prozent sehr hoch und hat
sich in den letzten Jahren kaum verbessert.
Um diese gravierenden Probleme anzugehen, hat die
Nationale Planungskommission Namibias 2004 Entwicklungsziele festgelegt, die in der Vision 2030 beschrieben sind: Ziel ist es, für das namibische Volk
„Wohlstand, zwischenmenschliches Miteinander, Frieden und politische Stabilität“ zu schaffen. Dieses Ziel
unterstützt die Bundesregierung durch ihre Maßnahmen.
Den Antrag der Linken werden wir daher ablehnen.
Lassen Sie es mich klar und unmissverständlich aussprechen: Sklaverei und Kolonialismus waren und sind
in all ihren Formen und Ausprägungen ein Verbrechen!
An diesen Verbrechen von schier unvorstellbaren
Ausmaßen beteiligte sich auch Deutschland, und zwar
an zentraler Stelle. Insofern kann es in Afrika nur
zynisch anmuten, wenn die Bundesregierung heute in
vielen ihrer Reden zur Vorstellung ihres Afrika-Konzepts
von einem „relativ leichten kolonialen Gepäck“
Deutschlands zu sprechen pflegt!
Ein ganzer Kontinent wurde hier in Berlin 1884/85,
nur einen Steinwurf von diesem Hause entfernt, aufgeteilt - und das ohne die Beteiligung auch nur eines
einzigen Menschen aus Afrika. Intakte afrikanische Gemeinwesen wurden brutal zerschlagen. Es ging um Entmündigung und Erniedrigung mit dem einzigen Ziel der
Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen zum eigenen
wirtschaftlichen Nutzen.
Weiß war die Hautfarbe des Terrors, von Gewalt und
Vernichtung. Am 4. November 1904 notierte Generalleutnant von Trotha, der auch den bekannten Vernichtungsbefehl gegen die Herero in der ehemaligen Kolonie
Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, gegeben hatte - ich zitiere -: „Ich kenne genug Stämme in
Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang,
dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben
war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut.“
An den Folgen dieses kolonialen Erbes, das ja eben
nicht nur, aber doch auch von deutschem Boden ausging, und seiner Bewältigung trägt Afrika noch heute
schwer. In diesem Kontext steht unser Antrag, über den
wir heute sprechen.
Es ist absolut unbestritten, dass die deutschen Kolonialtruppen zwischen 1904 und 1908 in Deutsch-Südwestafrika einen Völkermord nicht nur planten, sondern
auch umsetzten! Es ist unbestritten, dass sie die Rückendeckung dazu von der Berliner Reichsregierung hatten.
Von der Mehrheit der Fachhistoriker über internationale Organisationen wie der UNO bis zur deutschen und
internationalen Presse: Sie alle erkennen diesen Völkermord an, sie alle kennen die historischen Fakten. Die
Bundesregierung jedoch verweigert bis heute die offizielle Anerkennung dieses Völkermords. Das ist beschämend!
Es geht also heute um nicht weniger, als um die notwendige Grundlage für echte Versöhnung zwischen
Namibia und Deutschland. Versöhnung lässt sich nicht
einseitig diktieren. Deutschland muss den ersten Schritt
tun, Verantwortung für diese Verbrechen übernehmen
und eine offizielle Entschuldigung aussprechen! Dafür
ist die Zeit mehr als reif.
Im neuen Afrika-Konzept der Bundesregierung sprechen Sie von einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“.
Aber eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ ist an Voraussetzungen gebunden. Sie lässt sich nicht einfach
proklamieren. Auch Versöhnung lässt sich nicht einseitig
diktieren. In einem einstimmigen Beschluss hat die
namibische Nationalversammlung 2006 den deutschen
Völkermord benannt. Noch heute warten wir auf den
bitter notwendigen Dialog hierüber. So wenig Sie dies
wollen - die darin angesprochene Frage der Wiedergutmachung lässt sich davon nicht ausnehmen.
Die Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft
sind in Namibia bis heute spürbar. Bis heute fehlen den
Herero, Nama, Damara und San die notwendigen Mittel,
um sich eine eigenständige wirtschaftliche Grundlage
aufbauen zu können. Wiedergutmachung muss genau
hier ansetzen und diese strukturellen Nachteile ausgleichen.
Im Herbst letzten Jahres kam es zu einem denkwürdigen Ereignis: Nach über 100 Jahren kam eine hochrangige namibische Delegation der Nachfahren der
Opfer nach Berlin, um 20 geraubte Schädel von Opfern
des deutschen Völkermords heimzubringen. Sie wurden
ursprünglich zu rassistischen Forschungszwecken nach
Deutschland verbracht.
Die Bundesregierung verhielt sich völlig respektlos:
Die Delegation und der mitreisende namibische Jugendminister wurden nicht offiziell empfangen. Staatsministerin Pieper hielt bei der Übergabe eine Rede. Es fiel
kein Wort der Entschuldigung für den begangenen
Völkermord, und gleich nach ihrer Rede verließ sie den
Saal, ohne sich den Minister Namibias anzuhören. Ich
schäme mich für das Verhalten dieser Bundesregierung.
Eine rapide Verschlechterung der Beziehungen
zwischen unseren beiden Ländern war die Folge. Im
Dezember wurde der deutsche Botschafter von Namibias Präsident Pohamba wegen dieses Vorfalls vor die
Tür gesetzt. Wir begrüßen deshalb die Reise des Afrikabeauftragten des Auswärtigen Amts von Anfang Februar. Immerhin hat er sich - wenn auch spät und unter
Druck - für dieses Verhalten der Bundesregierung entschuldigt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist höchste Zeit, dass der Bundestag dieses Thema
in die eigenen Hände nimmt. Deshalb haben wir heute
diesen Antrag eingebracht. Ich kann an Sie nur appellieren: Halten Sie diese Frage aus dem üblichen Parteiengezänk heraus! Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Der Deutsche Bundestag hat sich schon mehrfach
und immer wieder mit den Verbrechen der deutschen
Kolonialherren an den Völkern der Herero und Nama
Anfang des 20. Jahrhunderts in dem damaligen Südwestafrika, dem heutigen Namibia, befasst. Fast alles,
was im Antrag der Linken steht, war auch schon Thema
von Diskussionen und Anträgen.
Trotzdem ist es richtig und wichtig, dass sich das
deutsche Parlament erneut mit diesem dunklen Kapitel
der deutschen Geschichte beschäftigt und mit den Gräueltaten der damaligen deutschen Kolonialherrschaft
auseinandersetzt. Das wurde Ende letzten Jahres einmal
wieder deutlich anlässlich der doch sehr unwürdigen
Umstände und Vorfälle während des Besuchs einer großen hochrangigen Delegation aus Namibia, die nach
Berlin gekommen war, um die in der Kolonialzeit nach
Deutschland verschleppten Schädel von Menschen der
Herero und Nama nach Hause nach Namibia zurückzuholen. Auch die Berichterstattung in Namibia über den
Ablauf des mehrtägigen Besuchs und über die Übergabeveranstaltung in Berlin macht dies erforderlich.
Wir wollen und müssen die politische und moralische
Verantwortung übernehmen für das historische Unrecht,
den Vernichtungskrieg an den Herero, Nama und an Angehörigen anderer Volksgruppen, das in deutschem Namen in Namibia geschehen ist. Historiker haben seit langem belegt, dass der Vernichtungskrieg ein Kriegsverbrechen und Völkermord war. Das sollten wir in aller
Klarheit anerkennen. In früheren Erklärungen des Deutschen Bundestages fehlte diese Klarheit. An der letzten
Erklärung zum 100. Jahrestag dieser Verbrechen hatte
ich selber mitgewirkt, war aber mit dem Ergebnis unzufrieden.
Die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie WieczorekZeul, hatte dann bei einem Besuch in Namibia im August
2004 als Vertreterin der deutschen Regierung bei den
Gedenkfeiern für die Schlacht am Waterberg und die getöteten Menschen eine klarere Sprache gesprochen und
sich bei den Nachfahren der Herero, Nama und anderen
Volksgruppen entschuldigt. In Namibia war die Rede auf
große Zustimmung gestoßen. In Deutschland war die offizielle Reaktion verhaltener. Teilnehmer der Delegation
aus Namibia haben dies jetzt, Ende letzten Jahres, bedauert und eine eindeutigere Erklärung gefordert.
Der Antrag der Linken berücksichtigt nicht, dass es
einiges von dem, was jetzt gefordert wird, schon damals
gegeben hat.
Von der Bundesregierung wurden Mittel für die Einrichtung und den Betrieb einer Gedenkstätte am Ort des
Geschehens der Verbrechen in Namibia zur Verfügung
gestellt. Diese Gedenkstätte am Waterberg in Okakarara
wurde überwiegend auch angenommen.
Es gab auch schon den jetzt geforderten Austausch
von Parlamentsdelegationen aus Namibia und Deutschland. Ich habe an zwei solcher Treffen teilgenommen.
Auch der Dialog mit der Zivilgesellschaft wurde angestoßen. So wurde eine viertägige große Konferenz im
Überseemuseum in Bremen im November 2004 durchgeführt, bei der Vertreter aus Namibia und Deutschland
zum Teil sehr heftig und intensiv diskutierten.
Es gab sogar bereits einen Fonds für Namibia, mit
dem ein Jugend- und Kulturaustausch mit Bevölkerungsgruppen unterstützt wurde, aber mit dem auch
Landreformen im Siedlungsgebiet von Herero und Nama
einschließlich Landaufkauf zugunsten von Nachfahren
der Opfer der Verbrechen gefördert werden sollte.
Bevor nun neue Initiativen gestartet werden, sollte
zunächst mit allen Beteiligten geklärt werden, woran es
gelegen hat, dass Diskussionen, Dialoge und Kulturaustausch sich nicht erwartungsgemäß entwickelt haben
und offenbar aus der Förderung von Landreformen und
Landaufkauf wenig oder gar nichts geworden ist. Die
aufgetretenen Probleme und Schwierigkeiten müssen offengelegt und diskutiert sowie bei der Planung neuer
Initiativen und Projekte berücksichtigt werden. Dies
aber fehlt in dem Antrag der Linken. Es fehlt auch eine
Abklärung der vorgeschlagenen Vorhaben mit Regierung und Parlament in Namibia.
Es trifft zwar zu, wie in dem Antrag angeführt, dass
das gesamte Parlament in Namibia in einem Beschluss
gefordert hatte, dass die Opfer der deutschen Verbrechen entschädigt werden sollen. Aber die namibische
Regierung hat immer auch geltend gemacht, dass einzelne Volksgruppen im Land nicht bevorzugt werden
sollten.
Ohne Einbeziehung der namibischen Regierung und
der Parlamentsmehrheit ist es kaum möglich, vernünftige und machbare Lösungen für die offenen Fragen zu
finden. Namibia ist ein unabhängiger, souveräner Staat,
und seine Vertreter müssen an allen Überlegungen für
neue Stiftungen und Projekte im Land beteiligt werden,
In der nächsten Woche besucht eine namibische Delegation der Parlamentariergruppe der SADC-Staaten
den deutschen Bundestag, unter anderem, um über den
deutsch-namibischen interparlamentarischen Dialog zu
sprechen. Diesen geplanten Austausch begrüßen wir
sehr.
Ein umfassender und ergebnisoffener Dialog zur gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit kann jetzt
wieder begonnen und muss geführt werden, aus dem
dann gemeinsame Initiativen zur Versöhnung erwachsen
können. Partnerschaftlich mit der namibischen Seite ausdrücklich gemeint ist damit das gesamte Parlament
und nicht nur die Regierung - sollten wir eine neue
Agenda für Versöhnung entwickeln. Das bedeutet aber
auch, dass man Inhalte und Ergebnisse eines solchen
deutsch-namibischen Parlamentarier- und Regierungsdialogs nicht vorwegnimmt oder gar einseitig diktiert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich habe Verständnis für all diejenigen und zähle
mich selbst zu denen, die ungeduldig geworden sind und
sagen, dass den vielen Worten und jahrelangen Debatten
endlich Taten folgen müssen. Doch Aussöhnung ist offenbar ein schwieriger und langwieriger Prozess. Und
jede Stimme will gehört werden - nicht nur die, die am
lautesten ist.
In diesem Sinne beraten wir Anträge zur Anerkennung der deutschen Kolonialverbrechen als Völkermord
im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und deren Konsequenzen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8767 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einfuhr und Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten in Deutschland umfassend verbieten
- Drucksachen 17/7478, 17/8758 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Dr. Lutz Knopek
Dorothea Steiner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing für
die Unionsfraktion, Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion, Dr. Lutz Knopek und Serkan Tören für die FDPFraktion, Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke und
Dorothea Steiner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dem Ziel, Menschen und Umwelt vor Schadstoffen zu
schützen, fühlt sich die Bundesregierung in ihrem ganzen Handeln verpflichtet. Auf allen politischen Ebenen
- sei es im nationalen, europäischen oder internationalen Rahmen - orientiert sie sich auf überzeugende Weise
stets an dem Ziel, Risiken zu erkennen, zu reduzieren und
nach Möglichkeit gar nicht erst entstehen zu lassen.
Dies schließt chemische Substanzen wie chrysotilhaltigen Asbest ({0}) ausdrücklich ein - ein Stoff, der
im Mittelpunkt des vorliegenden Antrags der Grünen
steht. Gesundheit und Wohlbefinden jedes Einzelnen sowie eine intakte Natur bilden die Eckpfeiler des erfolgreichen Handelns der Regierungskoalition im Politikfeld
Umwelt und Gesundheit.
Dies ließe sich durch unzählige Beispiele belegen, an
dieser Stelle möchte ich ein aktuelles und für den zu debattierenden Antrag äußerst relevantes herausgreifen:
das Rotterdamer Übereinkommen zum internationalen
Handel mit bestimmten gefährlichen Chemikalien. Dieses listet im Anhang III sogenannte gefährliche Chemikalien auf. Das Herzstück des Übereinkommens ist, dass
ein Land, welches diese Chemikalien in ein anderes
Land einführen will, umfassende Informationen vorlegen muss. Diese Regelung ermöglicht dem Importland,
auf Basis vollständiger Informationen eine gesicherte
und begründete Entscheidung über den zu importierenden Stoff zu treffen.
Deutschland setzt sich mit Nachdruck für die Aufnahme von Chrysotil in die Liste der gefährlichen Chemikalien des Rotterdamer Übereinkommens ein. Dieses
Bemühen wird von der EU nach Kräften unterstützt, die
das Übereinkommen im Jahr 2004 umgesetzt hat. Ziel
ist, den Handel und den Einsatz von Weißasbest auf internationaler Ebene zu reglementieren - bislang scheiterte die Aufnahme an anderen Staaten.
Das Engagement der Bundesregierung ist bemerkenswert und wird zu Recht auch von der Opposition gewürdigt: So fordern die Grünen in ihrem Antrag auf
Seite 1 die Bundesregierung auf, „sich im Rahmen der
internationalen Gemeinschaft weiterhin aktiv für die
Aufnahme von Chrysotilasbest in die Rotterdamer Konvention einzusetzen“.
Unabhängig von diesen Bemühungen auf internationaler Ebene sind EU-weit im Rahmen von REACH seit
2006 und national seit 1993 krebserzeugende Asbestfasern verboten. Von diesem grundsätzlichen Asbestverbot in der EU erlauben die EU-Verordnung REACH und
die deutsche Chemikalien-Verbotsverordnung Ausnahmen: Ausgenommen sind die wenigen Anwendungen, für
die bislang weder asbestfreie Ersatzstoffe noch Alternativtechnologien existieren. Vorausgesetzt werden
allerdings strenge Arbeitsschutzvorgaben in den Produktionsprozessen.
Einige EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, machen von dieser Ausnahmemöglichkeit Gebrauch - beispielsweise für die Nutzung von asbesthaltigen Diaphragmen in Elektrolyseanlagen zur Herstellung
von Chlor. Innerhalb dieses rechtlichen Rahmens wird
der Import von Chrysotil nach Deutschland zwei Unternehmen gestattet: Solvay Chemicals GmbH in Rheinberg
und Dow Deutschland Anlagengesellschaft mbH in
Stade.
An dieser Stelle setzt der Antrag der Grünen an: Die
Fraktion verlangt den Stopp der Einfuhr von chrysotilhaltigem Asbest und asbesthaltigen Produkten, das vollständige Verbot von Asbest in Deutschland sowie die
Streichung entsprechender Ausnahmeregelungen. Diese
Forderung lehnen wir als unverhältnismäßig ab, und ich
will Ihnen erklären, warum:
Die Ausnahmeregelungen für die Verwendung von
Weißasbest in der Produktion, von der die beiden oben
genannten Unternehmen profitieren, erfolgt auf Basis
geltenden europäischen und deutschen Rechts. Die Bundesregierung hat die EU-Kommission fristgerecht über
die Gründe für die Nutzung der Ausnahmemöglichkeit
unterrichtet. Darüber hinaus erfolgt der Import von
Chrysotil nach Deutschland bereits freiwillig durch die
beiden Unternehmen entsprechend der Regelung im Rotterdamer Übereinkommen.
Beide Unternehmen arbeiten am Asbestausstieg und
an der Entwicklung von Alternativen, wobei die Produktion beider Unternehmen auf völlig unterschiedlichen
Verfahren beruht. Das Unternehmen Solvay wird ab
2013 auf asbestfreie Produktion umgestellt haben. Dow
forscht intensiv an der Substitution des Stoffes, diese ist
jedoch derzeit noch nicht möglich. Auf dem Weg zur erfolgreichen Substitution verwendet Dow den Asbest allein bei der Produktion von Chlor, es wird kein Asbest
hergestellt, und kein Asbest verlässt das Werksgelände.
Die vorgeschriebenen Schutzvorgaben im Umgang
mit Asbest werden von den Unternehmen eingehalten.
Eine konkrete Veranlassung - beispielsweise in Form eines Unfalls nach unsachgemäßem Umgang - liegt nicht
vor und dient nicht als Begründung für den vorliegenden
Antrag. Es sind auch keine Vollzugsdefizite zu beanstanden.
Der Antrag richtet sich faktisch gegen ein einzelnes
Unternehmen, gegen Dow. Dieses Unternehmen wird ab
2013 als einziges Unternehmen in Deutschland die Ausnahmeregelung zur Einfuhr und Verwendung von Asbest
nutzen ({1}). Wo, wenn nicht hier, stellt sich die
Frage der Verhältnismäßigkeit von Gesetzesänderungen?
Soweit zum geltenden Recht, der Rechtmäßigkeit der
bestehenden Ausnahmeregelungen und damit verbundener Rechtssicherheit für Unternehmen, Arbeitsplätze
und Wertschöpfung in Deutschland.
Sollte es zukünftig im Rahmen der europäischen
REACH-Verordnung zu einer Beendigung der Asbestausnahmen kommen, wird Deutschland diese in nationales Recht umsetzen. Eine entsprechende Überprüfung mit wissenschaftlicher und sozioökonomischer
Bewertung läuft derzeit bei der europäischen Chemikalienagentur ECHA. Diese Überprüfung auf EU-Ebene
gilt es aufmerksam zu verfolgen und abzuwarten. Das
ambitionierte europäische Chemikalienrecht wurde
2006 im Zuge von REACH nicht ohne Grund auf EUEbene harmonisiert und zentralisiert.
Unabhängig von der Entwicklung in Brüssel fordere
ich Dow abschließend auf, weiterhin hartnäckig an der
Substitution von Asbest zu forschen und entsprechende
Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen mit großem
Engagement fortzusetzen. Die Ausnahme vom Asbestverbot ist keine Dauerlösung.
Zusammenfassend stelle ich fest: Die Bundesregierung setzt sich national und international für einen optimalen Umwelt- und Gesundheitsschutz beim Umgang
mit Asbest ein. Sie nimmt das Thema ernst; denn von
Chemikalien dürfen keine negativen Auswirkungen auf
Mensch und Umwelt ausgehen. Deutschland wird sich
weiterhin gemeinsam mit der EU für die Aufnahme von
Chrysotil in das Rotterdamer Übereinkommen einsetzen.
Die Aufnahme von Asbest in die Gefahrstoffliste des
Übereinkommens ist richtig und wichtig.
Schnellschüsse und Panikmache machen wir uns jedoch nicht zu eigen. Wenn die Grünen dies tun wollen,
sollen sie dies gerne tun, wenn sie so ihre Rolle als Opposition verstehen. Wir setzen auf verantwortungsbewusstes sachliches Handeln. Deshalb lehnen wir den
Antrag der Grünen ab.
Der Umgang mit der Einfuhr und Verwendung von
Asbest und asbesthaltigen Produkten in Deutschland ist
ein anschauliches Beispiel dafür, dass die schwarz-gelbe
Bundesregierung leider noch immer versucht, Umweltschutz und Industriepolitik gegeneinander auszuspielen.
In solchen Fällen hilft bekanntlich nicht Panikmache auf
dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
sondern Aufklärung und Sachlichkeit.
Worum geht es? Letzte Woche Mittwoch, am 22. Februar 2012, erschien im „Stader Tageblatt“ als großer
Aufmacher ein Artikel mit der reißerischen Überschrift:
„Droht der Dow Stade das Aus?“ Die FDP-Bundestagsabgeordneten Serkan Tören und Lutz Knopek haben das
niedersächsische Chemieunternehmen Dow Chemical
besucht und dabei einen Angstwahlkampf gegen RotGrün gestartet.
Hintergrund der Aufregung ist der heute zur Debatte
stehende Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion, der
ein umfassendes Import- und Nutzungsverbot von Asbest
fordert. Es ist unverantwortlich, wie ein fachlich derart
hochkomplexes Thema instrumentalisiert wird, um parteitaktisch den Wahlkampf einzuläuten.
Richtig ist, dass bereits 1993 - also zur Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl - in Deutschland
die Herstellung und Verwendung von Asbest endgültig
untersagt wurde. Seit dem 1. Januar 2005 gilt das
Asbestverbot auch europaweit, und das aus guten Gründen. Denn Asbest zählt seit über hundert Jahren zu den
gesundheitsgefährdenden Stoffen. Bereits um 1900
wurde die Asbestose als Krankheit entdeckt. 1943 wurde
Lungenkrebs als Folge von Asbestbelastungen als Berufskrankheit anerkannt, und seit 1970 wird die Asbestfaser offiziell als krebserzeugend bewertet.
Trotz dieser Erkenntnis wird aber noch immer Asbest,
insbesondere Chrysotil, der sogenannte Weißasbest, in
Deutschland in Ausnahmefällen verwendet, und das
trotz der bekannten hohen Gesundheitsrisiken. Bereits
im Jahr 2006 wurden in der REACH-Verordnung, der
EU-Chemikalienverordnung, die EU-weit geltenden Beschränkungsmaßnahmen für die Herstellung, das InVerkehr-Bringen und die Verwendung von Asbestfasern
und asbesthaltigen Erzeugnissen beschlossen.
Der Deutsche Bundestag widmet sich diesem Thema
heute nicht zum ersten Mal. Bereits im Mai 2010 hat die
Bundesregierung eine Antwort auf eine Kleine Anfrage
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Einfuhr von
Asbestfasern und asbesthaltigen Produkten gegeben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Schon vor knapp zwei Jahren wurde die Bundesregierung vom Parlament gefragt, ob es Hinweise gäbe, dass
bei einer Nichterteilung der Ausnahmegenehmigung für
die Firma Dow Chemical mit einem Abbau von Kapazitäten und damit Arbeitsplätzen im Werk Stade zu rechnen sei. Eine Antwort genau auf diese berechtigte Frage
ist die schwarz-gelbe Bundesregierung schuldig geblieben. Auch das müssten meine Kollegen von der FDPFraktion wissen.
Deshalb ist es wichtig und richtig, erneut parlamentarisch auf das weiterhin vorhandene Problem der Verwendung von Asbest in Deutschland hinzuweisen und
diese kritisch zu hinterfragen.
Im Sinne der Sachlichkeit und Transparenz möchte
ich gerne die Hintergründe des heutigen Themas noch
einmal klarstellen. Die Ausnahmen zur Einfuhr und Nutzung von asbesthaltigen Rohstoffen beruhen auf einer
bis zum 31. Dezember 2010 bestehenden Regelung der
Chemikalien-Verbotsverordnung. Durch eine befristete
Ausnahmeregel konnte die Einfuhr von asbesthaltigen
Stoffen zur Herstellung von chrysotilhaltigen Diaphragmen für die Chlor-Alkali-Elektrolyse genehmigt werden.
Was heißt das? Als Diaphragma wird in der Elektrochemie die Trennwand zweier Halbelemente genannt. Bei
der Chlor-Alkali-Elektrolyse werden die wichtigen
Grundchemikalien Chlor, Wasserstoff und Natronlauge
aus Natriumchlorid erzeugt. Es gibt hierbei drei technische Verfahren: das Diaphragma-, das Amalgam- und
das Membranverfahren.
Die Nutzung der Ausnahmeregelung war nur zulässig, wenn asbestfreie Ersatzstoffe, Zubereitungen oder
Erzeugnisse nicht auf dem Markt angeboten wurden
oder ihre Verwendung zu einer unzumutbaren Härte
führte.
In Deutschland sind zwei Anlagen genehmigt worden: zum einen die Anlage der Firma Solvay Chemicals
GmbH in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen. Diese Ausnahmegenehmigung ist bis zum 31. Dezember 2012 befristet. Nach Angaben der Firma Solvay Chemicals
GmbH ist eine Verlängerung der Genehmigung nicht
notwendig, da Maßnahmen zur Entwicklung von Alternativen ergriffen worden sind und eine entsprechende
Umstellung bis 2012 abgeschlossen werde.
Zum anderen wurde die Anlage der Firma Dow
Chemical Company in Stade in Niedersachsen genehmigt. Diese Ausnahme wurde unbefristet genehmigt, allerdings unter der Voraussetzung des jederzeit möglichen Widerrufs. Einen Genehmigungswiderruf für Dow
Chemical macht die Bundesregierung von den Prüfergebnissen der EU-Kommission abhängig. Bis Juni
2011 musste Deutschland als EU-Mitgliedstaat einen
umfassenden Bericht an die EU-Kommission über die
Gründe der bisherigen Nutzung der Ausnahmeregelung
sowie das Datum zum Auslaufen der Ausnahmeregelung
geben.
Betrachtet man die Situation der beiden Unternehmen in Deutschland, werden die Unterschiede schnell
klar: Solvay Chemicals in Rheinberg hat Maßnahmen
zur Entwicklung von Alternativen ergriffen und befindet
sich im Umstiegsprozess, der bis 2012 abgeschlossen
sein soll.
Die Firma Dow Chemical hält eine Umstellung eventuell und frühestens im Jahr 2025 für möglich. Damit
wäre Dow Chemical ab 2013 das einzige Unternehmen
in Deutschland, das weiterhin die Notwendigkeit sieht,
den gefährlichen Asbest einzusetzen, und dem es nicht
gelungen ist, einen Ersatz für den gesundheitsgefährdenden Stoff zu finden. In der Stellungnahme, die die
Firma Dow Chemical am 9. Januar 2012 an den Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages geschickt
hat, werden die genauen technischen Unterschiede,
warum aus Sicht der Firma keine asbestfreien Diaphragmenmaterialien eingesetzt werden können, erläutert. Das habe ich mir selbstverständlich sehr genau angesehen. Es heißt dort aber auch, dass Dow Chemical
seit mehr als 40 Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeiten unternimmt, um Asbest zu ersetzen. Genau
dieses Bemühen wollen wir mit der Zustimmung zum
Antrag unterstützen. Aus umweltpolitischer Sicht muss
in Anbetracht der mit dem Einsatz von Asbest verbundenen Gefahren für die menschliche Gesundheit die Substitution Priorität haben und müssen schnellstmöglich
notwendige Maßnahmen zur Umstellung ergriffen werden. Vielleicht hat es bisher am nötigen Druck gefehlt,
Asbest als gefährlichen und gesundheitsgefährdenden
Stoff zu ersetzen.
Wenn wir auch in Zukunft auf sichere Arbeitsplätze
setzen wollen - und das ist ausdrücklich Position und
Engagement der SPD-Bundestagsfraktion; ich kann Ihnen nur unser aktuelles industriepolitisches Papier zur
Lektüre empfehlen -, dann können das nur Arbeitsplätze
sein, die auch den Erkenntnissen des Gesundheitsschutzes entsprechen. Selbstverständlich sind wir immer für
angemessene Übergangsregelungen. Aber die beiden
Firmen in Deutschland wussten und wissen doch selbst,
dass Ausnahmegenehmigungen nur für einen begrenzten
Zeitraum gelten, sonst wären es keine Ausnahmen, sondern die Regel.
Daher sehen wir keinen Grund, warum beispielsweise die Formulierung des Antrags abgelehnt werden
sollte, dass sich der Deutsche Bundestag dafür einsetzt,
dass auch innerhalb der Europäischen Union und weltweit alle Anstrengungen unternommen werden, um perspektivisch - ich betone: perspektivisch - ein komplettes
Verbot des Abbaus und der Nutzung von Asbest zu erreichen.
Leider scheiterte im Juni 2011 erneut der Versuch,
Chrysotilasbest in die Gefahrstoffliste der Rotterdamer
Konvention aufzunehmen. Verhindert wurde dies unter
anderem von Kanada, dem Hauptexporteur von Chrysotilasbest. Interessanterweise importiert auch Dow
Chemical aus Kanada. Das Rotterdamer Übereinkommen zum internationalen Handel mit bestimmten gefährlichen Chemikalien ist das erste internationale Vertragswerk zum Import und Export von Chemikalien. Es
erstreckt sich auf Industriechemikalien sowie auch auf
Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel. Die
Konvention wurde am 10. September 1998 in Rotterdam
angenommen und trat am 24. Februar 2004 in Kraft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Als wir am 8. Februar 2012 im Umweltausschuss den
Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion beraten haben,
bestätigte auch die CDU/CSU, dass die Forderung nach
einer Aufnahme von Asbest in die Gefahrstoffliste der
Rotterdamer Konvention richtig und wichtig sei. Wir
würden uns freuen, wenn diese gemeinsame Haltung
international weiter vorangebracht würde. Dementsprechend unterstützen wir die Forderung des Antrags, dass
die Bundesregierung sich im Rahmen der internationalen Gemeinschaft weiterhin aktiv für die Aufnahme von
Chrysotilasbest in die Rotterdamer Konvention einsetzen soll, auch nach dem erneuten Scheitern im Juni vergangenen Jahres.
National wie international gilt: Umweltschutz und
zukunftsorientierte Industriepolitik müssen Hand in
Hand gehen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt
werden, schon gar nicht auf dem Rücken der Menschen,
die in diesen Branchen arbeiten.
Die Industrie ist eine der tragenden Säulen der deutschen Wirtschaft. Gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich gezeigt, dass eine starke Industrie
unerlässlich ist für Wohlstand und Wachstum. Der chemischen Industrie kommt dabei eine besondere Rolle zu,
da sie die für Innovationen benötigten Werkstoffe und
Materialien produziert. Das Erfolgsgeheimnis unserer
chemischen Industrie wiederum liegt in den integrierten
Verbundstandorten, die es ermöglichen, aus relativ wenigen Grundstoffen eine ganze Bandbreite von industriellen Produkten herzustellen. Diese elementaren Zusammenhänge sollte man sich unbedingt noch einmal
vergegenwärtigen, bevor man über den vorliegenden
Antrag der Grünen diskutiert.
Ein ohne Zweifel gut funktionierender Verbundstandort ist das Werk von Dow Chemical in Stade. Grundlage
aller Produktionsprozesse dort ist die Herstellung von
Chlor und Natronlauge. Natronlauge entsteht dabei als
Koppelprodukt der Chlor-Alkali-Elektrolyse in einem
festen Verhältnis pro produzierter Tonne Chlor. Dazu
setzt Dow in Stade zwei verschiedene Verfahren ein: das
Asbestdiaphragmaverfahren und das Membranverfahren. Etwa 1 Million Tonnen Chlor werden jährlich durch
das Diaphragmaverfahren erzeugt und circa 550 000
Tonnen durch das Membranverfahren. Der Grund für
den parallelen Einsatz dieser beiden Verfahren liegt in
der dabei entstehenden unterschiedlich stark konzentrierten Natronlauge. Das Koppelprodukt des Diaphragmaverfahrens ist eine etwa 10-prozentige Lauge; das
Membranverfahren produziert eine etwa 33-prozentige
Natronlauge. Alle nachfolgenden Produktionsprozesse
sind genau auf diese beiden Laugenkonzentrationen
ausgerichtet.
Das Diaphragmaverfahren ist daher von existenzieller Bedeutung für den Standort Stade. Das Produktionsverfahren wurde von Dow eigens für die nachgeschalteten Chlorohydrinprozesse entwickelt. Diese sind nur mit
einer 10-prozentigen Natronlauge möglich. Das Membranverfahren, das kommerziell verfügbar ist und das
gerne als Beste Verfügbare Technik angeführt wird, ist
hingegen auf die Produktion von 50-prozentiger Lauge
ausgerichtet und kommt für nachgeschaltete Chlorohydrinprozesse nicht infrage.
Eine Alternative zum Einsatz von Asbest wäre der
Austausch der Asbestdiaphragmen durch Kunststoffdiaphragmen, wie dies etwa bei Solvay in Rheinberg geschieht. Eine Besonderheit des Doweigenen Verfahrens
ist jedoch die geringe Stromdichte, mit der die Elektrolyse betrieben wird. Alle Versuche seit den 70er-Jahren,
für dieses Verfahren kunststoffbasierte Substitute zu entwickeln, sind bislang gescheitert. Eine Asbestsubstitution wäre daher derzeit nur im Rahmen eines Anlagenneubaus mit geschätzten Kosten von etwa 1 Milliarde
Euro möglich. Anschließend lägen die energetischen Betriebskosten gegenüber dem derzeitigen Verfahren jedoch um 10 bis 15 Prozent höher.
Was genau beantragen nun die Grünen? Lesen wir
einmal nach: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, so der Wortlaut des Antrags, sämtliche Ausnahmeregelungen zur Einfuhr und Nutzung von
asbesthaltigen Rohstoffen im Rahmen der Chemikalienverbotsverordnung umgehend zu streichen. Bestehende
befristete Genehmigungen zur Nutzung sollen für einen
Übergangszeitraum bis Ende 2012 weiter gelten können.
Vor dem Hintergrund meiner vorherigen Ausführungen dürfte jedem hier im Hause klar sein, dass ein Erfolg
des Grünen-Antrags das sofortige Aus für den DowStandort in Stade bedeutet. Denn zum einen es ist weder
technisch noch administrativ möglich, bis Ende des Jahres die bestehende Produktion umzustellen. Allein die
behördlichen Genehmigungsverfahren würden so lange
dauern, und selbstverständlich müsste dann die Anlage
selbst noch gebaut werden. Zum anderen ist es fraglich,
ob sich eine solche Investition überhaupt betriebswirtschaftlich rechnen würde. Das Alleinstellungsmerkmal
des Standortes Stade im weltweiten Dow-Standortwettbewerb ist die energetisch günstige Herstellung von
10-prozentiger Natronlauge. Entfällt dieser Vorteil,
stellt sich automatisch die Standortfrage.
Wer einen solchen Antrag stellt, wer 1 500 Arbeitsplätze infrage stellt, sollte daher gute Gründe dafür haben. Während in der schriftlichen Antragsbegründung
ausschließlich die Rede ist von möglichen mit dem Einsatz von Asbest verbundenen Gefahren für die menschliche Gesundheit, hat man sich mündlich mittlerweile von
dieser Argumentation verabschiedet. Im „Stader Tageblatt“ war nachzulesen, dass die Grünen keine Risiken
für die Arbeiter im Werk Stade sehen. Vielmehr ginge es
den Grünen um die Arbeitsbedingungen beim Asbestabbau in Kanada. Eine Mitarbeiterin der Grünen lässt sich
im „Tageblatt“ zitieren mit der Aussage, dass es sich um
eine Abwägungsfrage handele und dass den Grünen die
Folgen des Abbaus in Kanada wichtiger seien als die
Energieeinsparungen durch das Asbestdiaphragmaverfahren in Deutschland.
Wie bereits dargestellt, ignoriert diese Argumentation
die betriebswirtschaftlichen Folgen für den Standort
Stade. Zudem wird ohne weitere Substanziierung behauptet, dass der Asbestabbau in Kanada unter widrigen Bedingungen geschehen würde. Kanada aber ist
Zu Protokoll gegebene Reden
keine Bananenrepublik, sondern ein hoch entwickeltes
Industrieland und Mitglied der OSZE, das über ein entsprechendes staatliches Arbeitsschutzregime verfügt.
Wer allein auf Verdacht und Zuruf deshalb 1 500 Arbeitsplätze und eine erhebliche regionale Wertschöpfung
zur Disposition stellt, handelt nicht verantwortlich.
Lassen sich mich daher zusammenfassen: Die Ausnahmeregelung in der europäischen Chemikalienverordnung REACH zum Einsatz von Asbest in der Chlorelektrolyse wurde in dem Bewusstsein geschaffen, dass in
der chemischen Industrie verantwortungsvoll und unter
höchsten Sicherheitsstandards mit diesem unzweifelhaft
gefährlichen Stoff umgegangen wird. Das bestreiten
auch die Antragsteller nicht länger. Ein relevantes Risiko aus dem Einsatz von Asbestdiaphragmen gibt es
also nicht. Zudem wird in regelmäßigen Zeitabständen,
wie gerade jetzt, von der Europäischen Kommission
überprüft, ob es asbestfreie Substitute gibt, die wirtschaftlich einsetzbar sind. Der Anreiz zu diesbezüglichen Forschungsanstrengungen ist also ebenfalls gegeben. Damit ist der Antrag der Grünen vollständig
entkräftet.
Was dennoch übrig bleibt, ist Folgendes: Für die
Grünen sind 1 500 Arbeitsplätze in Deutschland weniger wichtig als das moralisch erhöhende Gefühl, vermeintlich etwas für den Umwelt- und Gesundheitsschutz
am anderen Ende der Welt getan zu haben, ohne dass die
vermeintlichen Nutznießer dieser Wohltat dies überhaupt wollten oder gar gefragt wurden. Man könnte es
auch so umschreiben: Wir malen uns die Welt, wie sie
uns gefällt.
Für uns Liberale ist eine solche Geisteshaltung unverantwortlich: unverantwortlich, weil sie die berechtigten Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ignoriert; unverantwortlich aber auch, weil sie sich
um die mit einer Asbestsubstitution einhergehenden ökologischen Abwägungen drückt. Wir bekennen uns daher
ausdrücklich zum Chemiestandort Stade.
Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie und Industrie, Michael Vassiliadis, hat vor kurzem an die Politik
appelliert, mehr Loyalität zum, wie er es nannte, industriellen Netz in Deutschland zu zeigen. Mit Blick auf diesen Antrag kann man abschließend feststellen: Recht hat
er!
Sicherlich ist es ungewöhnlich, dass ich als Innenpolitiker in der Debatte zu einem umweltpolitischen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen das Wort ergreife. Allerdings hat der vorgelegte Antrag unmittelbare Auswirkungen auf meinen Wahlkreis und seine wirtschaftliche
Zukunft. Dort nutzt die Firma Dow am Produktionsstandort Stade ein Verfahren zur Produktion von Chlor für die
direkte Verarbeitung im Werk, bei dem in einem geschlossen System Asbest eingesetzt wird. Für diesen Asbesteinsatz besteht eine Sondergenehmigung, die entzogen werden müsste, sollte der heutige Antrag denn so
beschlossen werden.
Der Einsatz von Asbest, so wie er heute am Chemiestandort Stade geschieht, ist unter wirtschaftlichen und
umweltpolitischen Gesichtspunkten vernünftig und richtig. Alle treten für einen schonenden Umgang mit den
vorhandenen Ressourcen ein. Der Einsatz von Asbest im
Stader Chemiewerk hat zur Folge, dass der ohnehin
schon sehr hohe Stromverbrauch auf das Notwendigste
begrenzt wird. Zudem ist der ganze Produktionsprozess
in Stade so aufgebaut, dass bei einem Verbot von Asbest
der ganze Standort neu konzipiert werden müsste. In einem Chemiewerk ist in der Regel alles von allem abhängig. So auch in Stade. Wenn nun der Produktionsprozess
geändert wird, dann hat dies Auswirkungen auf das
ganze Werk. Für den Chemiestandort Stade würde dies
bedeuten, dass dieser komplett umgekrempelt werden
müsste. Es geht hier um die Summe von etwa 1 Milliarde
Euro. Ob Dow bereit wäre, dieses Geld in die Hand zu
nehmen, um die nötigen Umbaumaßnahmen durchzuführen, ist nicht sicher. Es ist somit nicht ausgeschlossen,
dass das Werk aufgrund des Asbestverbots geschlossen
wird. Direkt wären 1 500 Menschen von einer solchen
Schließung betroffen. Dazu kommen noch einige hundert
Menschen im Bereich der Zulieferer und natürlich die
Angehörigen. Sie sehen also, welche Bedeutung Dow für
Stade hat. Sicherlich ist dies nicht das einzige wirtschaftliche Standbein in der Region Stade. Dennoch
hätte der Wegfall der Arbeitsplätze verheerende Auswirkungen für die gesamte Region.
Auch uns Liberalen liegen der Umweltschutz und die
Sicherheit der Menschen am Herzen, und Asbest ist
zweifelsohne gefährlich. Allerdings sollte man die wirtschaftlichen Folgen seiner Entscheidungen bedenken,
zumal sich die Verantwortlichen der Firma Dow sich der
Gefahren des Asbests sehr wohl bewusst sind. Von diesem besonderen Verantwortungsbewusstsein für Mitarbeiter und Umwelt konnten sich mein Kollege Knopek
und ich uns kürzlich bei einem gemeinsamen Besuch
beim Stader Dow-Werk ein Bild machen. Dort wird alles
getan, um die möglichen Gefahren für Mensch und Natur auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Asbest
wird dort in einem geschlossenen System verwendet und
anschließend verbrannt. Die Gefahr, dass Asbest aus
dem Chemiewerk entweicht, ist somit nahezu ausgeschlossen.
Was die Reaktionen vonseiten der SPD zum Thema
Dow angeht, bin ich ein wenig erstaunt. Der Abgeordnete Klingbeil verweist darauf, dass die SPD im Bundestag für Deutschland eine erfolgreiche Industriepolitik
will und hierfür auch die Weichen stellt, so seine Äußerungen im „Stader Tageblatt“. Dennoch stimmte die
SPD im Umwelt- und im Landwirtschaftssauschuss für
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, und im Wirtschaftsausschuss enthielt sie sich der Stimme. Wenn so
also die Weichen für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik
gestellt werden, dann landet der deutsche Zug irgendwann auf dem Abstellgleis. Bündnis 90/Die Grünen sind
da wenigstens konsequent. Sie haben in allen zuständigen Ausschüssen für den Verbotsantrag gestimmt. Vielleicht sollte sich die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen mit den Parteifreunden in Stade über die
Zu Protokoll gegebene Reden
Auswirkungen ihrer in Berlin getroffenen Entscheidungen einmal austauschen.
Abschließend kann ich nur sagen, die SPD redet von
Wirtschaft und handelt wirtschaftsfeindlich und Bündnis 90/Die Grünen scheinen nicht mal ansatzweise eine
Idee von Wirtschaftspolitik zu haben.
Als Koalition mit wirtschaftspolitischem Verstand
können wir einem solch wirtschaftsfeindlichen Antrag,
der Arbeitsplätze vernichtet, nicht zustimmen. Die christlich-liberale Koalition wird den Antrag ablehnen.
Bündnis 90/Die Grünen beantragen, die Einfuhr und
die Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten in Deutschland umfassend zu verbieten. Außerdem
soll sich der Bundestag dafür einsetzen, dass europaund weltweit der Abbau und die Nutzung von Asbest verboten wird.
Sieht man sich die Folgen der durch Asbest verursachten Schäden für die Betroffenen an, so ist der Antrag aus Sicht der Fraktion Die Linke ohne Zweifel in
den allermeisten Positionen sinnvoll. Asbest ist hoch gefährlich und löst Krebs aus, wenn es in die Lunge gerät.
2005 mussten in der Bundesrepublik 1 540 Todesfälle
durch Asbest offiziell festgestellt werden. Tatsächlich
werden es noch erheblich mehr sein.
Die Asbestgewinnung liegt weltweit bei 2,2 Millionen
Tonnen jährlich. Davon wurden 2009 in die Bundesrepublik 38 Tonnen legal mit Ausnahmegenehmigungen eingeführt. Es gibt jedoch etliche Produkte ausländischer
Hersteller, mit denen unbekannte Mengen in die Bundesrepublik gelangen. Es handelt sich hier beispielweise um
Dichtungsmaterialien oder um Thermoskannen mit
Wärmedämmung aus Asbest. Es sind übliche Gebrauchsgegenstände für den Alltag von Handwerkern
und Verbrauchern. Die im Antrag genannten Vollzugsdefizite des Chemikalienrechts müssen deshalb unbedingt beseitigt werden. Diese illegalen Importe dürfen
keinen weiteren Schaden mehr anrichten.
Bei den Ausnahmeregelungen des legalen Imports besteht eine ganz andere Situation. Hier werden keine Verbraucher unbekannten Gefahren ausgesetzt, sondern es
werden zwei eng begrenzte Industrieanwendungen ermöglicht. Die zeitlich begrenzten Ausnahmegenehmigungen sind an strikte Auflagen geknüpft.
Es sind zwei Industrieunternehmen, die Asbest zur
Chlorgewinnung benötigen. Das Unternehmen der
Solvay-Gruppe sieht sich in der Lage, den Asbest durch
andere Stoffe zu ersetzen. Es wird das auch kurzfristig
umsetzen. Das Unternehmen der Dow Chemical schließt
einen Ersatz als technisch nicht möglich aus, da ihre
Produktionsmethode eine andere sei. Das Produktionsverfahren müsse beim Verzicht auf Asbest vollständig
neu aufgebaut werden. Die zulässige Arbeitsplatzbelastung liegt bei Dow Chemical um den Faktor 100 unter
dem zulässigen Grenzwert, und die Montage des Asbests
wird von Robotern vorgenommen.
Durch die Nichtverlängerung der Ausnahmegenehmigung wären im Stader Werk rund 1 500 Arbeitsplätze gefährdet. Die Sicherheit der mit dem Umgang von Asbest
betrauten Arbeitnehmer ist aber gewährleistet, und auch
die Verglasung der Asbestabfälle ist ein akzeptabler Entsorgungsweg. Ein Verbot, welches nach einer realistischen Fristsetzung von vier Jahren in Kraft tritt, würden
wir unterstützen. Ein sofortiges Verbot ist jedoch unangebracht, und daher wird sich die Fraktion Die Linke
bei diesem Antrag enthalten.
Noch immer wird Asbest in Deutschland verwendet.
Es finden sich wieder vermehrt Produkte im Handel, die
Asbest erhalten: billige Thermoskannen aus China und
Dichtungsringe, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ja
dies ist illegal, Gesetze helfen hier nicht weiter. Aber es
bedarf dringend einer Stärkung der Vollzugsbehörden.
Die sind häufig überhaupt nicht in der Lage, die notwendigen Kontrollen durchzuführen. Deshalb fordern wir
die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Ländern
Maßnahmen zu ergreifen, um diese Defizite abzubauen
und die Einfuhr von asbesthaltigen Produkten nach
Deutschland wirksam zu verhindern.
Aber Asbest kommt nicht nur im Rahmen illegaler
Einfuhren nach Deutschland, nein auch ganz legal. Im
Rahmen der Chemikalienverbotsverordnung gibt es eine
befristete Ausnahmeregel zur Einfuhr von asbesthaltigen Stoffen zur Herstellung von chrysotilhaltigen Diaphragmen für die sogenannte Chlor-Alkali-Elektrolyse.
Diese Ausnahmeregelung war damals bei der Einführung des Asbestverbotes richtig, um der chemischen Industrie die Möglichkeit zu geben, umzustellen. Denn
auch wir Grüne betreiben, anders als Sie immer gerne
behaupten, verantwortungsvolle Industriepolitik und
wollen prinzipiell den Unternehmen Möglichkeiten geben, behutsam auf neue Vorschriften umzustellen.
Was wir nicht wollen, ist, allein den Partikularinteressen eines einzigen Unternehmens gerecht zu werden.
Denn es gibt zwar mehrere Unternehmen, die Chlor-Alkali-Elektrolyse betreiben, aber nur Dow in Stade hat
nicht ausreichend Maßnahmen ergriffen, um erfolgreich
Substitutionsstrategien umzusetzen und asbestfreie Diaphragmen zu nutzen. Genau deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, nicht weiter von
der Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen.
Wenig überraschend haben Sie, werte Kollegen von
den Koalitionsfraktionen, uns vorgeworfen, wir wären
verantwortungslos, wir würden Arbeitsplätze vernichten, es gäbe doch gar keine Gefahr, alles sei so sicher,
bis hin zu kaum bekannten FDP-Abgeordneten aus
Stade, die schlankweg behaupten, wir hätten uns nicht
informiert und daher keine Ahnung.
Da kann ich Ihnen nur sagen, wir haben uns informiert und wir haben Ahnung, mehr als Sie augenscheinlich. Lassen Sie uns doch noch mal kurz die Fakten anführen:
Erstens. Asbest ist ein hochgefährlicher Stoff; das
wird hier wohl niemand bestreiten wollen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zweitens. Der Asbest, den die Firma Dow Chemical
in Stade verwendet, wird in Kanada unter katastrophalen Bedingungen mit massiven Gesundheitsschäden für
die Arbeiter vor Ort abgebaut. Ich empfehle Ihnen da
den NDR-Beitrag „Die Asbestfalle“. Asbest kann man
nämlich nicht gefahrlos abbauen, und ja, uns Grünen
bedeutet auch der Schutz von Mensch und Umwelt vor
Asbestgefahren in Kanada etwas.
Drittens. Natürlich sind die Risiken für die Arbeiterinnen und Arbeiter bei Dow in Stade vergleichsweise
gering aufgrund hoher Sicherheitsstandards, aber sie
sind weiterhin da und sollten nicht geleugnet werden.
Viertens. Es gibt Alternativen, das haben Konkurrenten von Dow wie Solvay Chemicals bewiesen. Deren
Produkte sind zwar etwas teurer und etwas energieintensiver. Aber sollte es uns das nicht wert sein, mit Blick auf
die katastrophalen Folgen von Asbest?
Jetzt sagen Sie, ja, aber in Deutschland ist es alles sicher, und wir wollen doch die Kosten- und Energievorteile nutzen. Natürlich setzt sich die Bundesregierung
für ein weltweites Asbestverbot ein, aber Kanada will ja
nicht. Da kann ich Ihnen sagen, warum Kanada nicht
will: Solange wir noch freudig für Chemiefabriken in
Deutschland den kanadischen Asbest kaufen und einfach
ignorieren, welche schweren Folgen der dortige Abbau
für Mensch und Umwelt hat, müssen wir uns nicht wundern, dass die Kanadier weiterhin in großem Umfang
den Asbest auf den Markt drücken wollen. Auch hier
gilt: Die Nachfrage bestimmt das Angebot!
Von CDU/CSU und FDP haben wir ja nichts anderes
erwartet. Aber dass auch Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, auf diesen Zug aufspringen,
hat uns schon gewundert. Sie haben doch in letzter Zeit
immer zum Ausdruck gebracht, dass Sie sich für die besseren Grünen in Sachen Umwelt- und Energiepolitik
halten. Jetzt zeigen Sie mit Ihrer Verweigerung, dem Antrag zuzustimmen, wie es wirklich um Ihre umweltpolitische Kompetenz bestellt ist. Mit dem scheinheiligen Argument, in Deutschland passiert den Arbeiterinnen und
Arbeitern ja nichts, daher wollen wir doch die Arbeitsplätze nicht gefährden, werfen Sie sämtliche Gedanken
an Umweltschutz über Bord. Umwelt- und Gesundheitsschutz außerhalb Deutschlands scheint Sie nicht zu interessieren, dabei dachte ich immer, die internationale Solidarität hätte so einen besonderen Stellenwert bei
Ihnen.
Wir Grünen haben schon immer Ökologie und Ökonomie gemeinsam gedacht. Wir wollen eine nachhaltige
Wirtschaft, die die Umwelt schont und zukunftssicher ist.
Wirklich langfristig werden die Arbeitsplätze in Stade
bei Dow nur gesichert, wenn Asbest erfolgreich substituiert wird. Dow spielt ein riskantes Spiel, wenn sie weiterhin darauf setzen, eine singuläre Ausnahmegenehmigung für die Nutzung des hoch gefährlichen Asbests zu
erhalten, nicht nur mit der Gesundheit der Menschen,
sondern auch mit dem zukünftigen Profil des Unternehmens.
Daher fordern wir: Umstieg jetzt - Einfuhr und Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten in
Deutschland müssen im Sinne des Gesundheits- und
Umweltschutzes in Deutschland und weltweit umfassend
verboten werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8758,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7478 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 2. März 2012,
9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.