Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/10/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Schönen Freitagmorgen zusammen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 22 abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Sie widersprechen nicht. Dann ist das so beschlossen. So rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Globalisierung gestalten - Partnerschaften ausbauen - Verantwortung teilen - Drucksache 17/8600 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Sie widersprechen nicht. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer Debatte ist - so ist mir das gerade gesagt worden - unser Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle. Herr Bundesminister, ich gebe Ihnen das Wort. Bitte schön, Kollege Dr. Westerwelle. ({1})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst beim Deutschen Bundestag dafür bedanken, dass wir seit einiger Zeit und aus Anlass des Konzeptes, das die Bundesregierung am Mittwoch im Kabinett verabschiedet hat, eine Debatte von eher grundsätzlicher Bedeutung und Ausrichtung führen. Ich möchte mich bei allen Fraktionen bedanken; denn dieser Gedanke ist bei allen Fraktionen gewachsen. Ich möchte auch zum Ausdruck bringen, dass ich diese Debatte für notwendig halte; denn bei allem, was wir in Deutschland diskutieren, bei allen wichtigen innenpolitischen Debatten, die wir zu führen haben, bei allen europäischen Problemen, die wir derzeit lösen müssen - wir tragen eine große Verantwortung -, dürfen wir den Blick auf die Welt nicht verlieren. Wir dürfen nicht ignorieren, dass sich die Welt in einem rasanten Tempo verändert, dass sich die Gewichte in der Welt verschieben, dass neue Kraftzentren gewachsen sind und neue Gestaltungsmächte auf die politische Bühne kommen, die nicht nur wirtschaftlichen Erfolg haben, sondern auch politischen Einfluss. Das ist ganz augenscheinlich eine große Veränderung. Wir leben in einer Zeit der Veränderung. Das, was als Wort Globalisierung in den letzten 15 Jahren in aller Munde war, ist in Wahrheit weit mehr als ein wirtschaftlicher Prozess. Die Globalisierung ist eine Vernetzung der Welt. Die Globalisierung vernetzt nicht nur Wirtschaften und bringt nicht nur Handelspartner zueinander, sondern es werden auch Werte globalisiert, es werden Lebensstile globalisiert. Es ist eine große Chance für uns, eine werteorientierte und interessengeleitete Außenpolitik zu formulieren und auch umzusetzen. Wir betrachten die Globalisierung als eine Chance, als eine Chance nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg, sondern ausdrücklich auch als eine Chance für unsere freiheitlichen Werte. Für diese treten wir weltweit ein. ({0}) Meine Damen und Herren, viele sind aufmerksam geworden auf die Debatte in den Vereinigten Staaten von Amerika, als die amerikanische Außenministerin erklärt hat, es sei notwendig, den asiatisch-pazifischen Raum stärker zu beachten und die amerikanische Außenpolitik stärker auf den asiatisch-pazifischen Raum zu konzentrieren. In Wahrheit vollzieht sich hier nur eine reale Entwicklung nach. Wir leben in einer Welt mit 7 Milliarden Menschen, und wir spüren, auch wenn wir im Westen immer noch glauben, den Taktstock fest in den Händen zu halten, dass in Wahrheit immer mehr Gestaltungsmächte ebenfalls nach diesem Taktstock greifen. Was sind die drei Merkmale dieser Gestaltungsmächte, von denen ich hier spreche? Erstens. Es ist eine atemberaubende wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die diese Gestaltungsmächte vorweisen können. Zweitens. Aus dem großen wirtschaftlichen Erfolg dieser Mächte resultiert auch der Anspruch auf mehr politische Mitwirkung und mehr politischen Einfluss. Drittens. Diese neuen Gestaltungsmächte wollen mindestens regional Ordnungskräfte sein, das heißt sich auch als Ordnungsmächte, mindestens regional, verstehen. Es ist deshalb notwendig, dass wir jetzt rechtzeitig mit diesen neuen Gestaltungsmächten das Gespräch suchen, uns auch politisch auseinandersetzen, verstehen, dass es mehr ist als China, Indien, Brasilien, Russland oder Südafrika, also mehr ist als die BRICS-Staaten, dass längst eine lange Reihe von weiteren Staaten sich in der zweiten Reihe auf den Weg gemacht hat. Beispielhaft sind in dem Konzept, das wir in dieser Woche schon vorgestellt haben, einige Staaten genannt, etwa Kolumbien, Vietnam, Indonesien. Es wären noch viele mehr zu nennen. Aber es ist nicht möglich, eine abschließende Liste der neuen Gestaltungsmächte vorzulegen. Allein in den letzten zehn Jahren konnten wir beobachten, wie schnell sich die Dinge verändern. Plötzlich sind Länder in der ersten Liga der Weltpolitik dabei, bei denen man das vor kurzem noch nicht für möglich gehalten hat. Die Umbrüche insbesondere in der südlichen Nachbarschaft Europas belegen dies eindeutig. Ich will für die Bundesregierung klar sagen: Wir wollen die alten Freundschaften ausbauen und vertiefen, aber wir wollen gleichzeitig auch neue Partnerschaften, neue strategische Partnerschaften mit diesen neuen Gestaltungsmächten rechtzeitig eingehen und aufbauen. Das ist unsere Ausgangsposition, das ist der Kern unseres Programms. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Widerspruch daraus herauszulesen, wie es in den politischen Diskussionen gelegentlich getan wird, nämlich zu meinen, die Hinwendung zu neuen Gestaltungsmächten gehe einher mit der Abwendung von alten Partnerschaften, das ist definitiv falsch. Für uns bleiben Europa und die Europäische Union das Fundament deutscher Außenpolitik. Für uns bleibt die transatlantische Partnerschaft das Fundament deutscher Außenpolitik. Das heißt, die alten Freundschaften werden nicht dadurch infrage gestellt, dass man neue strategische Partnerschaften eingeht. So wie die neue Ostpolitik die Westintegration nicht infrage gestellt hat, so stellt das Hinwenden zu neuen strategischen Partnern, zu neuen Gestaltungsmächten alte Partnerschaften nicht infrage. Wir wissen, was wir am Westen haben. Für uns war der Westen immer mehr als eine geografische Größe. Für uns war der Westen immer auch eine Wertegemeinschaft; so verstehen wir ihn. ({1}) Die Vernetzung der Welt findet in vielen Bereichen statt. Deswegen ist es wichtig, dass wir verstehen, dass wir, vom Umweltschutz bis hin zur Bekämpfung des Hungers in der Welt und zur präventiven Diplomatie, also zur Konfliktvermeidung, alle Partner brauchen. Herzstück unserer Politik sind dabei die Vereinten Nationen. Aber ich sage hier auch klar: Die Vereinten Nationen werden nur dann auch in Zukunft eine entscheidende Rolle in der Weltinnenpolitik spielen, wenn sie sich den neuen Entwicklungen in unserer Zeit anpassen. So wie die Gewichte in den Vereinten Nationen derzeit verteilt sind, spiegeln sie das Ergebnis einer Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wider. Es ist aus unserer Sicht nicht das erste Ziel, dass Deutschland als einer der größten Beitragszahler mit einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat vertreten ist. Ja, das wollen wir, aber das ist nicht das Eigentliche, worum es geht, sondern es geht darum, dass die Gewichte der Welt sich auch entsprechend widerspiegeln müssen. Dass Lateinamerika überhaupt nicht ständig im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten ist, dass der gesamte asiatische Raum im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen so unterrepräsentiert ist, dass Afrika überhaupt nicht ständig im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten ist, das ist aus unserer Sicht falsch. Wir sind der Überzeugung: Das spiegelt die Verhältnisse der Vergangenheit wider, aber nicht die Gegenwart und erst recht nicht die Zukunft. Deswegen liegt es im Interesse der Vereinten Nationen, dass wir alle gemeinsam die Reform der Vereinten Nationen voranbringen und vorantreiben. ({2}) Dabei wissen wir natürlich, dass es in vielen Bereichen Unzulänglichkeiten und unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten. Es gibt schon viele Bereiche, wo wir international zusammenarbeiten; dort erkennt man, dass es Lichtblicke gibt. Aber es ist zum Beispiel nicht ausreichend, wenn man die Entscheidung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom vergangenen Samstag ausschließlich auf das doppelte Veto von Russland und China reduziert. Sosehr wir kritisieren, dass es diese beiden Vetos von Russland und China gegeben hat, so sehr sollten wir, wenn wir uns außenpolitisch wirklich ernsthaft damit auseinandersetzen, anerkennen, dass alle anderen 13 Länder bei der Syrien-Resolution mit Ja gestimmt haben, darunter Länder wie Indien, Pakistan und Südafrika. Das zeigt, dass sehr wohl auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind. Ich betrachte es als eine positive Entwicklung, dass im Hinblick auf Syrien, aber auch im Hinblick auf andere Konflikte, die wir im Nahen und Mittleren Osten derzeit verzeichnen müssen und auch bewältigen wollen, die Arabische Liga eine zunehmende Rolle spielt. Es ist bemerkenswert, dass die Arabische Liga sich in den letzten zwölf Monaten stärker als politische Einheit versteht und stärker politischen Einfluss nimmt. Wir werden als deutsche Bundesregierung darauf reagieren. Ich beabsichtige, unsere diplomatischen Beziehungen zur Arabischen Liga formell aufzuwerten. ({3}) Denn wir erkennen, dass es neue regionale Kräfte gibt, mit denen wir bestens kooperieren können.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wieczorek-Zeul?

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Bitte sehr.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Zwischenbemerkung: Sie haben das Veto von Russland und China im UN-Sicherheitsrat erwähnt und zu Recht kritisiert. Gerade weil Sie sagen, die UN sind besonders wichtig, möchte ich Sie auffordern, dazu beizutragen, dass Deutschland, die Europäische Union und die Arabische Liga vor die UN-Generalversammlung gehen, um dort eine Verurteilung Syriens wegen der anhaltenden Gewalt gegenüber der eigenen Bevölkerung zu bewirken. Das ist der nächste Schritt, der schneller möglich ist als die Einrichtung einer Kontaktgruppe. Deshalb fordere ich Sie nachdrücklich dazu auf, vor die UN-Generalversammlung zu gehen, um dort ein Votum gegen Syrien zu erreichen. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Frau Kollegin, ich habe vorgestern ein langes Gespräch mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow nach seinem Besuch in Damaskus geführt. Ich habe gestern ein intensives und auch operatives Gespräch mit dem Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, geführt. Ich muss Ihnen sagen: Ich hielte es für klüger, wenn wir das, was wir tun, nicht nur unter nationalen Gesichtspunkten diskutieren, sondern auch engstens abstimmen, und zwar nicht nur mit den 13 Staaten, die im Sicherheitsrat mit Ja gestimmt haben, sondern ausdrücklich auch mit der Arabischen Liga und übrigens auch mit der Türkei. In diese Richtung arbeiten wir. Ich glaube, entscheidend ist, dass wir das gemeinsam tun und gemeinsam in dieser Richtung weiterarbeiten. Es sind mehrere konkrete Dinge verabredet worden, und mehrere konkrete Dinge werden derzeit diskutiert. Ich begrüße den Vorschlag einer gemeinsamen Beobachtermission der Arabischen Liga und der Vereinten Nationen. Ich halte das für wichtig. Ich begrüße auch den Vorschlag der Arabischen Liga in Bezug auf die Einsetzung eines eigenen Sondergesandten der Vereinten Nationen. Ich halte es für unbedingt notwendig, dass wir eine Kontaktgruppe der Freunde eines demokratischen Syriens gründen. Ich halte es für unbedingt erforderlich, dass wir in Europa auch den politischen Druck auf das Assad-Regime erhöhen, indem wir die Sanktionen verschärfen. Auch kann ich ausdrücklich nicht ausschließen, dass wir gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, dass es klug ist, die Vereinten Nationen erneut damit zu befassen, sei es im Sicherheitsrat, sei es in der Vollversammlung der Vereinten Nationen. ({0}) Beides wird derzeit nicht ausgeschlossen; beides wird derzeit auch mit den Partnern erörtert und diskutiert. Da Sie ungeduldig mit den Händen gestikulieren - ({1}) - Ich bitte Sie, hinsichtlich des Schicksals der Menschen in Syrien hat hier jeder dieselbe Betroffenheit wie Sie. ({2}) Ich glaube, davon kann man fest ausgehen. ({3}) Das gilt für jeden, Frau Kollegin, für absolut jeden. Der Unterschied ist, dass wir handeln und wirklich etwas verändern wollen. ({4}) Deswegen ist es in meinen Augen ganz dringend notwendig, Frau Kollegin - es geht nicht darum, dass ich hier als deutscher Außenminister etwas auf nationaler Ebene ankündige -, dass wir zunächst einmal akzeptieren, dass die Arabische Liga hierbei eine ganz zentrale Rolle spielt. In meinen Augen spielt die Arabische Liga eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Konfliktes. Deswegen möchte ich auch, dass Initiativen von der Arabischen Liga ausgehen und mit der Arabischen Liga besprochen werden. Das verstehe ich unter kooperativer Außenpolitik, Frau Kollegin. ({5}) Nachdem wir einen Ausflug zu einem ganz ernsten und wichtigen Problem gemacht haben, will ich noch eine Schlussbemerkung zu dem machen, was uns als Antwort bevorsteht. Als Antwort ist nicht ausreichend, neue Partnerschaften anzustreben und zu finden, uns mit den aufstrebenden Gestaltungsmächten zusammenzutun und engstens mit ihnen abzustimmen. Notwendig ist ausdrücklich auch die Erkenntnis, dass wir uns in Europa gegenseitig brauchen. Ich glaube, die Antwort auf die Umbrüche in der Welt ist eine stärkere Integration Europas. Deutschland ist in der Welt viel kleiner, als Deutschland in Europa ist. In Europa ist Deutschland relativ groß; in der Welt ist Deutschland relativ klein. Wir haben heute Morgen in den Fraktionen über die Fragen beraten, was das finanziell bedeutet, welche Fiskalpakete verabredet werden müssen. Ich rate uns aber dazu, auch die politische Debatte über die nächsten Integrationsschritte in Europa in einen Zusammenhang mit den neuen Veränderungen in der Welt zu stellen. Ich bin der festen Überzeugung, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es unbedingt erforderlich ist, uns in Europa zu versichern, dass niemand zurückbleibt, ein Angebot an alle europäischen Partner zu machen, auch an diejenigen, die derzeit noch zögern, die im Dezember noch nicht mitgestimmt haben, die derzeit noch an anderen Stellen arbeiten, dass wir zusammenbleiben. Ich denke, dass es als Antwort auf die Veränderungen in der Welt auch an der Zeit ist, in Deutschland für Europa zu werben. Ich bin aber auch dafür, dass wir in Europa für Deutschland werben. Wir befinden uns in einer wirklichen Prägephase, was Europa angeht - in einer Prägephase, in der sich für viele Jahre nicht nur entscheiden wird, wie das Bild Europas in Deutschland und das Bild Deutschlands in Europa sein wird, sondern auch, wie das Bild Europas in der Welt sein wird. Deswegen werbe ich dafür, dass wir uns in Europa kooperativ verabreden, dass wir gemeinsam vorgehen und dass wir gemeinsam daran arbeiten, dass wir kein deutsches Europa bekommen, sondern ein europäisches Deutschland bleiben. Das sollte in meinen Augen auch Teil unserer Überlegungen sein. Wir müssen aufpassen, dass wir es mit unserem eigenen Auftritt in Europa nicht überziehen, sondern es ist klug und sinnvoll, immer zu verstehen: Wir sind Teil Europas, Teil der Europäischen Union - nicht nur wegen der Geschichte, sondern ausdrücklich auch, weil wir in Zeiten der Globalisierung nur so die Zukunft gemeinsam meistern können. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Der nächste Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege Gernot Erler für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Kollege Erler. ({0})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es muss etwas Wichtiges in der deutschen Außenpolitik passiert sein, ({0}) wenn am Mittwoch dieser Woche das Bundeskabinett eine reich bebilderte Broschüre von 64 Seiten als Konzept der Bundesregierung beschließt, das in der Hausgebrauchsversion für Abgeordnete - DIN A4 ohne Bilder auch schon circa 30 Seiten umfasst, dieses dann einen Tag später im prall gefüllten Weltsaal des Auswärtigen Amtes mit großem Tamtam der Öffentlichkeit vorgestellt wird und sich heute im Bundestag - man beachte die Reihenfolge - eine Unterrichtung durch die Bundesregierung und eine anderthalbstündige Debatte anschließen. ({1}) Inzwischen wissen wir, dass diese Arbeit 18 Monate gedauert hat und dass alle 14 Bundesministerien an ihr beteiligt waren. Unter diesen Umständen kommt einem der Titel „Globalisierung gestalten - Partnerschaften ausbauen - Verantwortung teilen“ schon fast bescheiden vor. Da greift man lieber zu dem idiomatisch innovativen Titel „Gestaltungsmächtekonzept“. Das macht neugierig, das verführt zum Lesen. Je mehr man allerdings liest, desto mehr stößt man auf einige Auffälligkeiten dieses Konzepts der Bundesregierung. Schon die erste Kapitelüberschrift lautet: „Neue Gestaltungsmächte als Partner“. Zu gern wüsste man natürlich, welche Länder das namentlich sind. Man erwartet, dass sie alsbald aufgezählt werden. Aber Fehlanzeige. Weder auf den 68 Seiten noch auf den knapp 30 Seiten - je nach Version - erfährt man, was es denn für Länder sind, mit denen so viel gemacht werden soll. Am weitesten haben Sie sich, Herr Außenminister, noch bei der Vorstellungsrede im Weltsaal vorgewagt und dies heute zum Teil wiederholt. Sie haben zum Schluss Ihrer Rede gesagt, es seien nicht nur die BRICSStaaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Sie sind dann fortgefahren - ich zitiere -: Eine Vielzahl anderer Länder hat sich auf den gleichen Weg gemacht, ob Mexiko, Indonesien, Vietnam, Kolumbien oder viele andere mehr. Das Gestaltungsmächtekonzept ist also eine Strategie für neun genannte Länder oder „viele andere mehr“. Das hinterlässt einen ein bisschen ratlos, ({2}) obwohl man ahnt, dass diese Vagheit etwas mit geopolitischer Höflichkeit zu tun haben könnte. Warum sollte man ein Land, das sich selbst als Gestaltungsmacht einordnet, durch eine allzu geizige Aufzählung womöglich vor den Kopf stoßen? Es ist nun leider so, dass diese Vagheit nicht nur an dieser Stelle besteht, sondern in dem ganzen Konzept zu finden ist. Hier wird buchstäblich über alles gesprochen: internationale Zusammenarbeit und Global Governance, Kultur, Bildung, Wissenschaft, Frieden, Sicherheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Finanzen, Ressourcen, Ernährung, Energie, Arbeit, Soziales, Gesundheit, Entwicklung und Nachhaltigkeit. Jedes Mal lesen wir einige unstrittige Sätze über Ziele, die wir uns insgesamt in diesen Arbeitsbereichen vorgenommen haben. Dann kommt wie ein ceterum censeo, dass wir diese Ziele im Dialog mit den neuen Gestaltungsmächten ein Stückchen weiterbringen wollen. Diese Methode führt zu einem Produkt des unangreifbaren guten Willens und der jeden Widerspruch entmutigenden Schlichtheit. Ich widerspreche deswegen auch keinem einzigen Satz dieses Konzepts, stelle aber doch die Frage, ob es überhaupt eines ist. ({3}) Die Antwort auf diese Frage findet sich auf Seite 26 der Version ohne Bilder. Ich zitiere: Die Bundesregierung ist dem Ziel verpflichtet, die einzelnen Fachpolitiken zielgerichtet zu einem übergreifenden und umfassenden Globalisierungskonzept für die Zusammenarbeit mit den neuen Gestaltungsmächten zu verzahnen. „Ist dem Ziel verpflichtet“ heißt doch wohl: Da kommt erst noch die Arbeit; sie muss erst noch geleistet werden. Das ist wieder ein Satz, dem man nur zustimmen kann. Es gibt also dieses Gestaltungsmächtekonzept noch gar nicht, sondern eher eine Art Materialsammlung, aus der man künftig ein Konzept machen könnte. Dann fragt man sich aber, warum es dann diesen enormen Aufwand gibt. Hier stößt man auf eine ziemlich persönliche Motivationskette von Außenminister Westerwelle, wenn man noch einmal in seine Vorstellungsrede für das Gestaltungsmächtekonzept schaut. Gleich am Anfang finden wir da ein Bekenntnis zu Deutschlands Partnerschaften in Europa und über den Atlantik. Das haben Sie eben auch noch einmal betont. Dann jedoch kommt ein lautes Aber. Das lautet so: Aber die Welt befindet sich auch im Wandel: Es entstehen neue Kraftzentren in der Welt, in Asien, in Lateinamerika und anderswo. Der Topos „Neue Kraftzentren“ kommt uns bekannt vor. Wir erinnern uns: Er stammt aus einer mit harten Bandagen geführten Kontroverse über Grundausrichtungen und Prinzipien der deutschen Außenpolitik, die ihren Ausgangspunkt in der Entscheidung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in der Nacht vom 17. auf den 18. März letzten Jahres hatte, wo Deutschland bekanntlich eben nicht mit Frankreich und den Vereinigten Staaten, sondern gemeinsam mit Russland und China gestimmt hat. ({4}) In diese Debatte hat dann hinterher Altbundeskanzler Helmut Kohl mit mahnenden Worten eingegriffen. Er hat davor gewarnt, sich von den wichtigsten Partnern Frankreich und den Vereinigten Staaten abzuwenden. ({5}) Damals haben Sie, Herr Außenminister, proaktiv gegengehalten. Ich zitiere aus Zeit Online vom 25. August 2011: Es sei nicht nur entscheidend, „alte Partnerschaften“ zu pflegen, sondern auch „die neuen Kraftzentren der Welt ernst zu nehmen und neue strategische Partnerschaften aufzubauen“. Das haben Sie eben noch einmal wiederholt. Das war damals Ihre Legitimation. Das war Ihre Antwort auf die Sorgen und die Kritik vom Altbundeskanzler und anderen. Jetzt taucht dieses Thema wieder auf. Die neuen Kraftzentren der Welt sind unbegreiflicherweise immer noch - ich habe das zitiert - das große Aber zu unseren historisch gewachsenen, nicht aufgebbaren Partnerschaften. Ich sage Ihnen: Daraus kann nichts Gutes entstehen. Ich sage Ihnen aber auch: Kompliment, dass Sie das ganze Bundeskabinett in dieses Konzept mit eingespannt haben. Mit uns wird Ihnen das nicht gelingen. Wir diskutieren gerne mit Ihnen über eine Welt im Wandel, in der es unbestritten Länder und Regionen gibt, deren Bedeutung zunimmt. ({6}) Es gibt aber auch Länder und Regionen, die an Bedeutung verlieren. ({7}) Wir diskutieren aber nicht auf so einer unverbindlichen, geradezu beliebigen und von der Entstehungsgeschichte ideologisch infizierten Grundlage. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Gernot Erler. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/ CSU unser Kollege Philipp Mißfelder. Bitte schön, Kollege Philipp Mißfelder. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Geschätzter Kollege Erler, in erster Linie wollte ich eigentlich zur Sache reden, aber ich kann es mir und Ihnen nicht ersparen, etwas zu Ihren Ausführungen zu sagen. Wenn Sie sich anschauen, wie die Besuche ausländischer Gäste in Berlin momentan verlaufen, die nicht immer unproblematisch sind, wenn Sie die Taktfrequenz sehen, mit der europäische Partner Hilfe und Orientierung suchend nach Deutschland kommen, ({0}) die Bundeskanzlerin und den Außenminister um Rat bitten, wenn Sie sehen, wie die Diskussionen bei nahezu allen wichtigen internationalen Konferenzen ablaufen, ob auf der UNO-Woche in New York, ob in Davos in der Schweiz oder zuletzt auf der Münchener Sicherheitskonferenz, dann werden Sie feststellen, dass sich momentan alles um Deutschland dreht. ({1}) Deshalb hat Minister Westerwelle zu Recht gesagt: Wir müssen mit dieser Verantwortung auch verantwortungsbewusst umgehen und an dieser Stelle Orientierung bieten. Deshalb fand ich Ihren Beitrag heute - ich hoffe, Sie wissen, dass ich Ihre Beiträge sonst schätze - unpassend und falsch. Sie sind auf das Thema Globalisierung, wie Sie sich das vorstellen, inhaltlich nicht eingegangen. Ihre Kritik, welcher Motivation sie auch entstammen mag, war einfach falsch. Wie denn anders als im Dialog mit den neuen sich herausbildenden Kraftzentren soll diese Globalisierung gestaltet werden? Herr Erler, diese Frage haben Sie auch nicht beantwortet. Ich finde das Konzept, wie es Minister Westerwelle auf den Weg gebracht hat, ambitioniert und auch richtig. ({2}) Ich glaube, die Alternative zum Dialog mit den neuen Kraftzentren wäre Konfrontation. So habe ich Ihre Schriften und Ihre Beiträge jedoch noch nie verstanden, auch jetzt nicht, selbst wenn ich mir gewünscht habe, an dieser Stelle von Ihnen etwas dazu zu hören. Insofern weise ich das zurück und kann nur sagen, dass wir das ambitionierte Konzept unterstützen. Hier möchte ich den Häusern, die sich daran beteiligt haben, herzlich danken und vor allem den Beamten, die sehr viel Herzblut, Engagement und zähes Ringen investiert haben. Das war nicht immer ganz einfach. Einen Punkt möchte ich herausgreifen, Herr Minister. Die zukünftige Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird ein historischer Quantensprung sein; ich möchte sogar sagen, eine historische Befreiung. Herzlichen Dank an Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich durchgesetzt haben und damit für die Bundesregierung in Zukunft einen ganz neuen Schwerpunkt herausbilden. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Raabe?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, er ist Experte für dieses Thema.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Mißfelder, Sie sprachen das Entwicklungsministerium an. In dem Konzept gibt es einige Stellen, in denen sich dazu bekannt wird, Entwicklungsziele erreichen und Verantwortung partnerschaftlich übernehmen zu wollen. Hierzu möchte ich zunächst kurz anmerken, dass Deutschland seine internationalen Verpflichtungen verfehlt und seine Versprechen nicht eingelöst hat, nämlich die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit gemäß des sogenannten ODA-Stufenplans zu steigern. Obwohl mehr als 370 Abgeordnete des Hauses einen Aufwuchs von über 1 Milliarde Euro gefordert haben, wurde nur ein ganz kläglicher Betrag zustande gebracht. In Ihrem Konzept nimmt die Passage zur Rechtsstaatlichkeit und guten Regierungsführung einen großen Raum ein. Hierzu möchte ich von Ihnen wissen: Wenn Sie Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung einfordern, dann ist es gut, mit gutem Beispiel voranzugehen. Wenn Sie, Herr Mißfelder, in einem Entwicklungsland, in dem Tourismus eine große Rolle spielt, beobachten würden, dass ein Wirtschaftsunternehmen, das im Tourismusbereich intensiv tätig ist, einer Partei eine große Spende - vielleicht in Höhe von 1 Million Euro - macht, ({0}) und Sie weiterhin beobachten, dass danach ein Gesetz erlassen wird, das der entsprechenden Branche hilft, über 1 Milliarde Euro einzusparen, wäre das dann für Sie Korruption und schlechte Regierungsführung? Zweite Frage. Sie haben ja gerade die Beamten gelobt: Wenn in einem Entwicklungsland eine Regierung die Beamtenstellen nur mit Parteifreunden besetzt und nicht nach Fachlichkeit und Eignung, ({1}) wäre das für Sie schlechte Regierungsführung? Wäre dann - jetzt konkret auf diese Regierung bezogen - nicht das, was die FDP mit der Senkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers gemacht hat, genauso zu bewerten? ({2}) Im Hinblick auf das, was Minister Niebel in seinem Haus betreibt, ({3}) dass er nämlich neue Stellen schafft, den Apparat aufbläht, eine neue Abteilung bildet - die der Personalrat als Wahlkampfabteilung bezeichnet -, um für die nächste Wahl Steuermittel und Personal zweckzuentfremden, ({4}) frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, dass das von Ihnen gelobte Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mittlerweile zu einem Ministerium für Vetternwirtschaft und Abwicklung verkommen ist? ({5})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke Ihnen für diese Fragen, weil sie Ihre Nichtregierungsfähigkeit zeigen. ({0}) Das muss man so sagen. Ich weiß nicht, wie man in so kurzer Zeit in der Opposition so schnell die Regierungsfähigkeit verlieren kann. Ich hoffe, dass es in Ihrer Fraktion noch andere Leute gibt, die im Blick haben, was beim strukturellen Umbau eines Ministeriums notwendig ist. Nehmen Sie einmal eine Nachhilfestunde bei Franz Müntefering. Er hat 2005 in der Großen Koalition seinen Personalapparat neu strukturiert, um den Anforderungen der Großen Koalition gerecht werden zu können. Das wäre der Erörterung an einer anderen Stelle sicherlich noch einmal wert; es zeigt aber vor allem, dass die Interessen der Hausleitung nicht außer Acht gelassen werden können, wenn politische Programme durchgesetzt werden. Das haben Sie so gemacht, und das haben Vorgängerregierungen so gemacht, ({1}) und das werden Sie, wenn Sie irgendwann einmal wieder Regierungsverantwortung tragen sollten, ebenso machen. Wir sind beide jung genug, dass wir das vielleicht erleben werden. Dann werde ich Sie daran erinnern. Ansonsten muss ich zum Thema „Schlechte Regierungsführung“ sagen: Ich stimme Ihnen nicht zu und halte Ihre Einlassung für falsch. ({2}) Ich hoffe, dass ich damit Ihre Frage zur Zufriedenheit beantwortet habe. Jetzt zum Thema: Wir wollen die Globalisierung gestalten. Wenn ich kurz das bilanzieren darf, was diese Bundesregierung und wir als die sie tragenden Fraktionen bisher als unsere Schwerpunkte herausgebildet haben, dann muss man sagen, dass wir uns den Herausforderungen der Globalisierung sehr konkret stellen. Das gilt zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit Ländern, die auf der Weltbühne neu auftrumpfen, nämlich China, Indien, Südafrika oder Brasilien. Alleine dieser kleine Überblick zeigt, wie schwierig das Spannungsfeld zwischen unserer wertegebundenen und gleichzeitig interessengeleiteten Außenpolitik an manchen Stellen sein kann. Denken Sie in dem Zusammenhang beispielsweise an China und die Menschenrechtsverletzungen. Gleichzeitig muss man die großen historischen wirtschaftlichen Herausforderungen bedenken, die die neuen Emerging Markets uns bieten. Diese dürfen wir als Exportnation natürlich nicht außer Acht lassen. Gleichzeitig müssen wir in diesen Regionen mit dem Export unserer politischen Ideen wirken. Minister Westerwelle hat zu Recht gesagt: Die Welt wartet doch gar nicht darauf, dass wir sie belehren und ihr erklären, was wir für den besten Weg halten; vielmehr müssen wir aus unserer wirtschaftlichen Stärke heraus unsere politische Konzeption so glaubwürdig vertreten, dass sie als das attraktivste Lebensmodell der Welt erscheint und damit nachahmenswert wird. ({3}) Um dieses Engagement geht es im Kern. Wenn wir in den besagten Regionen oberlehrerhaft auftreten, werden wir nichts erreichen. Wir schöpfen aus der Zeit von 1989, als die Zeitenwende in Deutschland unser Leben nachhaltig beeinflusst hat. In sehr kurzer Zeit mussten wir verantwortungsbewusst einen sehr schweren Transformationsprozess bewältigen, und zwar sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Natur. Deshalb sind wir gefragter Gesprächspartner, wenn es darum geht, jetzt denjenigen behilflich zu sein, die selber die Chancen ihres Landes identifizieren, die Konflikte in ihrem Land sehen, die wirtschaftlichen Herausforderungen im Blick haben und verantwortungsbewusst versuchen, ihr Land in eine neue, bessere Zukunft zu führen. Wir leben in einer Zeit, die nicht sicherer geworden ist, trotz des Endes des Kalten Krieges und den damit zunehmenden partnerschaftlichen Verbindungen beispielsweise mit Russland, auf der Basis unserer stabilen transatlantischen Partnerschaft, die wir fortsetzen und intensivieren wollen. Die Welt vor unserer Haustür ist nach wie vor unsicher. Denken Sie an die Verbrechen von Srebrenica im Jahr 1995, an die zuletzt aufgekommenen Fragen um Libyen, an den Irak-Krieg, an die aktuellen Fragen um Syrien und - das will ich besonders hervorheben - an die Großkonflikte in Afrika, etwa im Kongo oder in Somalia, die das Chaos fest im Griff hat und die wir deshalb nicht bei den Fragen, die uns wichtig sind, vernachlässigen dürfen. Deshalb möchte ich ausdrücklich das Streben unserer Regierung unterstützen, dass Afrika eine eigene Repräsentanz in den ständigen Gremien der Vereinten Nationen bekommt. Anders wird eine internationale Einbindung nicht möglich sein. Deshalb unterstütze ich unsere Regierung ausdrücklich. ({4}) Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie gelingt es uns, Asien nicht nur in eine wirtschaftliche Kooperation, sondern auch in Sicherheitsstrukturen und in politische Transformation einzubinden? Dort sind unsere Aktivitäten, die Aktivitäten vieler einzelner Parlamentarier, sehr weit gediehen. Wenn man sich anschaut, mit welcher Expertise dieses Haus dazu beiträgt, dass der Austausch mit zentralasiatischen Ländern, aber auch mit den Großmächten in Asien gelingt, dann muss man sagen: Das ist wirklich bemerkenswert. Vergleichen Sie das einmal mit anderen Parlamenten. Das ist etwas, wo wir auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen können, wo wir ein sehr gefragter Gesprächspartner sind, wenn es darum geht, zu zeigen, wie wir - ich habe es vorhin schon erwähnt - unsere Herausforderungen nach 1989 gemeistert haben und wie wir momentan unserer führenden Rolle in Europa gerecht werden. ({5}) Ich setze beispielsweise auch im Zusammenhang mit China eindeutig in erster Linie auf Dialog statt auf Konfrontation. Ich glaube, dieses Alleinstellungsmerkmal sollte ganz Europa im Blick haben. Dort mit dem erhobenen Zeigefinger aufzutreten, wird wenig bringen. Ich glaube, die Strahlkraft unseres Modells muss so groß und so positiv sein und der Erfolg muss einfach so überzeugend sein, dass sich der Reformprozess, der sich in den vergangenen Jahrzehnten in China entwickelt hat, weiter stabilisiert. Es geht darum, diesen Prozess zu unterstützen, damit auf lange Sicht tatsächlich weitere notwendige Reformen eingeleitet werden. Dahin gehend hat sich unsere politische Arbeit schon massiv verändert, meine Damen und Herren. Es ist nicht mehr so, dass in erster Linie der Austausch von Depeschen eine große Rolle spielt. Vielmehr spielt eine multimediale Dauerpräsenz eine große Rolle. Das, was sich heute aus einzelnen Unterausschüssen des Deutschen Bundestages über Facebook und Twitter verbreitet, kann für die außenpolitische Darstellung relevant sein. Deshalb hat das Gewicht des außenpolitischen Diskurses hier im Parlament eine neue Stufe erreicht; das müssen wir sehr ernst nehmen. Dieser Entwicklung wird die Bundesregierung dankenswerterweise gerecht. Ich kann mich nicht erinnern - auch nicht in Bezug auf die Vorgängerregierung, an der meine Partei beteiligt war -, dass uns das Auswärtige Amt und die Bundesregierung so umfassend über jeden einzelnen Schritt informiert haben, der gegangen wird. Das gilt auch für das vorliegende Konzept. Deshalb geht mein herzlicher Dank an Sie, Herr Minister, ({6}) dass Sie sich nicht nur die Mühe gemacht und die Zeit genommen haben, sich mit uns darüber auszutauschen, sondern auch viele Anregungen unsererseits aufgenommen haben. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, glauben, dass wir mit dem vorliegenden Konzept unserer Verantwortung gerecht werden. Wir glauben, dass wir gerade in Zeiten der Sparsamkeit, in denen wir jeden Euro, den wir ausgeben wollen, hinterfragen und gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern rechtfertigen müssen, gezielt auf effizientere und schlankere Strukturen setzen sollten. Deshalb haben wir Doppelstrukturen infrage gestellt und damit einen Beitrag zu einer effizienten und innovativen Außenpolitik geleistet. Herzlichen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Philipp Mißfelder. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. Bitte schön, Kollege Wolfgang Gehrcke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke sehr, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Außenminister hat eine außenpolitische Grundsatzdebatte angekündigt. Ich finde, sie ist schon lange überfällig. Ich will sie führen, die Fraktion Die Linke auch; also müssen wir sie führen. Anders als der Kollege Erler stoße ich mich nicht an einzelnen Sätzen des Konzeptes. Die interessieren mich nicht, das Ambiente finde ich nebensächlich. Ich bin der Auffassung, dass das ganze Wesen des Konzeptes falsch ist und in die falsche Richtung geht. ({0}) Deswegen muss man das Wesen des Konzeptes angreifen. Es geht um die inhaltlichen Differenzen und nicht darum, wie Sie das Konzept vorgestellt haben. Ich habe den Eindruck, dass Ihr Konzept dem Wesen nach kein Gestaltungskonzept, sondern ein Zerstörungskonzept ist. ({1}) Das nehme ich sehr ernst. Ich bin der Meinung: Wer heute auf solche Art und Weise mit anderen europäischen Ländern, zum Beispiel Griechenland, umgeht, wer diktiert, dass Löhne und Renten sinken sollen, wer diktiert, welches Steuersystem in den jeweiligen europäischen Ländern durchgesetzt werden soll, ({2}) wer den Sparkommissar schicken will, der zerstört die Strahlkraft von Europa und die europäische Idee. Das ist keine Gestaltung, das ist Zerstörung. ({3}) Herr Westerwelle, Sie werden es schwer haben, neue strategische Partner in der Welt zu finden, wenn Sie alte Partner so schlecht behandeln. Wie die Bundesregierung in Europa derzeit vorgeht, das ist Zerstörung pur. In Ihrem Konzept wird deutlich - darin scheiden sich die Geister, das gebe ich zu; ich sage: mit uns nicht! -, dass Ihre außenpolitische Philosophie die des freien Welthandels ist. Dem wird alles untergeordnet, auch in dem vorliegenden politischen Konzept. Ich werfe Ihnen das gar nicht vor. Aber man darf es doch wohl sagen. Ihre Werte sind die Werte einer weltweiten, kapitalistischen Gesellschaft: Bereicherung, Konkurrenz, Aneignung fremder Arbeit. Um es zugespitzt zu formulieren: Ihre wichtigste Gestaltungskraft ist die Macht und die Kraft des Geldes. Das durchzieht Ihr ganzes Konzept. Die Globalisierungskritiker und auch wir wollen den sozialen Ausgleich, wir wollen Solidarität statt Konkurrenz, Gerechtigkeit statt Vorteilsnahme. ({4}) - Und Sozialismus. ({5}) Danke sehr, Herr Kollege Mißfelder, wie konnte ich das vergessen. Das ist das Wesen des Sozialismus. ({6}) Um es deutlich zu sagen: Unsere Wege gehen völlig auseinander. Das, was Sie vorgelegt haben, ist nicht Ausdruck neuen Denkens - das war ein Begriff, der die Außenpolitik früher einmal geprägt hat -, sondern es ist im Kern altes Denken. Sie beschäftigen sich in Ihrem Konzept nicht mit der Frage, wie das Überleben der Menschen zu sichern ist: ({7}) Stopp der Rüstungsspirale, Abrüstung, Stopp der Umweltzerstörung, Kampf gegen Armut und Hunger und vor allen Dingen - das muss in ein solches Konzept hinein - konsequentes Nein zu allen Kriegen. ({8}) Ohne eine Antwort auf die großen Fragen der Menschheit ist jedes Konzept ein Konzept von gestern. Sie hätten schon bei Herrn Gorbatschow nachlesen können, was neues Denken ist; was immer man von Gorbatschow hält. ({9}) Sie müssen gründlicher darüber nachdenken, auf welche Art und Weise Sie Deutschland präsentieren. Ihr Kollege, der Verteidigungsminister, hat auf der Münchner Konferenz einen weltweiten Führungsanspruch für Deutschland reklamiert. Auch beim Kollegen Mißfelder konnte man eben hören: Wir sind wieder wer, wir bestimmen, wir müssen mit der gewachsenen Verantwortung umgehen. ({10}) Thomas de Maizière hat in München gesagt, Deutschland sei in der Lage, zu kämpfen und zu führen. Ich finde, das ist ein markanter Satz, der meinen Eindruck verstärkt. Ich sage in aller Deutlichkeit: Deutsche Großmachtallüren und deutsche Großmachtpolitik waren weder für die Welt noch für unser Land noch für Europa irgendwann gut. ({11}) In Europa und in der Welt werden viele Sprachen gesprochen. Ich möchte, dass das so bleibt. Wir leben den Gedanken einer vielfältigen Welt mit unterschiedlichsten Akteuren. Eine Welt, in der nur Deutsch gesprochen wird, ist schändlich, eine solche Welt lehnen wir ab. Das wäre eine einfältige Welt, das wollen wir doch nicht ernsthaft anstreben. Vielmehr geht es darum, für Partnerschaft und Gleichberechtigung zu sorgen. Ich denke, wenn man Globalisierung gestalten will, muss man auch einmal darüber nachdenken, wie man verhindern kann, dass auf pflanzliche und menschliche Gene Patente erhoben werden, wie man verhindern kann, dass Nahrungsmittel zu Spekulationsobjekten werden, wie man weltweit Bodenreform befördern kann, wie man die Privatisierung von Wasser und anderen Gemeinschaftsgütern verhindern kann. Das sind heute globale Aufgaben. ({12}) Sie sprechen in Ihrem Konzept an - ich sage das, um fair zu bleiben -, welche Staaten vor allen Dingen Ihre Gestaltungspartner sein sollen. Allerdings nehmen Sie da eine andere Gewichtung als ich vor. Ich habe mich gestern mit Studierenden, die in Chile protestieren, getroffen. Diese jungen Frauen sind für mich die Gestaltungspartner in einer neuen Welt wie auch die Indios in Bolivien, die Wanderarbeiter in China, die Jugendlichen auf dem Tahrir-Platz, die Frauen in Afrika, die sich zu Produktionsgenossenschaften zusammenschließen und - ich will das noch einmal wiederholen - die Streikenden in Griechenland, Spanien und Frankreich. ({13}) Gestaltungspartner in dieser Welt sind die Kräfte, die die Welt tatsächlich verändern. Wenn Sie schauen, wer in den letzten Monaten und Jahren die Welt wirklich verändert hat, stellen Sie fest, dass das am wenigsten Staaten waren, sondern solche Kräfte. Mit ihnen müssen wir kooperieren, mit ihnen müssen wir eine neue Form der Zusammenarbeit finden. Deswegen sage ich: Ihr Aufschlag ist gut. Eine scharfe Debatte ist notwendig. Sie aufzurufen, sich vom Weg des Geldes abzuwenden, ist verschwendete Kraft. ({14}) Ich möchte, dass wir einen Grundsatzstreit über das Wesen des Konzeptes führen. Ich möchte nicht, dass es so bleibt, wie es vorgestellt wurde. Schönen Dank. ({15})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Frithjof Schmidt. Bitte schön, Kollege Dr. Schmidt.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag bezieht keine Position zu der Frage, wie die deutsche Außenpolitik auf den Aufstieg neuer Akteure reagieren soll. Das war eine Leerstelle in Ihrer Politik. Es hat jetzt zwei Jahre gedau19030 ert, bis Sie Ihre politischen Hausaufgaben gemacht haben. Aber immerhin, Sie haben jetzt etwas vorgelegt. Sie listen viele Grundsätze und Ziele auf, die wir teilen. Doch eines ist auffällig: Das Wort Gerechtigkeit kommt in diesem Konzept nicht ein Mal vor. ({0}) Das kann bei einem FDP-Minister kein Versehen sein. ({1}) Wer über die Gestaltung der Globalisierung redet und dabei internationale Gerechtigkeit außen vor lässt, der hat die Größe der Aufgabe nicht wirklich verstanden. ({2}) Es geht dabei um einen gerechten globalen Interessenausgleich. Dazu gehört auch politische Selbstverpflichtung. Ganz deutlich wird das beim Thema Klima. Sie bekennen sich zur Reduzierung der globalen Emissionen von Klimagas bis 2050 um mindestens 50 Prozent. Nur, Sie verschweigen, dass, um dieses Ziel zu erreichen, die Industriestaaten ihre Emissionen um mindestens 80 Prozent reduzieren müssen. Ihr Konzept enthält kein Wort zur deutschen Selbstverpflichtung. Sie werden keine Erfolge im Dialog haben, wenn Sie vor den notwendigen Selbstverpflichtungen zurückschrecken. Genau das tun Sie aber. ({3}) Ich hätte mir gewünscht, heute zu hören, welche Länder Sie zu den neuen Gestaltungsmächten zählen wollen und welche nicht. ({4}) Sie wollen das offenlassen. Der Grund liegt auf der Hand. Sie würden damit vielen Ländern de facto die Gestaltungsfähigkeit absprechen und sie regierungsoffiziell in die zweite Klasse der internationalen Politik einordnen. Das zeigt, dass dieser Begriff ein diplomatischer Fehlgriff ist. ({5}) Wir haben in den vergangenen Jahren einen deutlichen Machtzuwachs der G 20 erlebt. Die G 20 stehen offensichtlich zunehmend in Konkurrenz zu den Vereinten Nationen; denn circa 170 Länder sind eben nicht Mitglied der G 20 und dabei dann außen vor. Wir hätten Vorschläge erwartet, wie Sie die G 20 in die Vereinten Nationen einbinden wollen. Doch darüber ist in diesem Konzept nichts zu lesen. Ähnliches gilt für zentrale Politikfelder, zum Beispiel für die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sie sehen in einer Politik der konsequenten Marktöffnung eine Lösung für fast alle Probleme. Dass in diesem Zusammenhang aber auch Umwelt- und Sozialstandards eine zentrale Rolle einnehmen müssen, verfällt bei Ihnen zu einer Randnotiz. Dabei ist das aber das zentrale Problem, gerade auch im internationalen Wettbewerb. So richtig es ist, dass es guter Beziehungen zu den aufstrebenden Mächten in allen Weltregionen bedarf, so falsch ist es, Außenpolitik auf Außenwirtschaftspolitik zu reduzieren. ({6}) Leider bekommt man bei diesem Konzept schnell den Eindruck, Außenpolitik ist bei Ihnen vor allem die Vorhut für deutsche Wirtschaftsinteressen; denn konkrete Vorschläge für eine Bindung der Außenwirtschaftsförderung an Menschenrechtskriterien sucht man vergebens. Wer über einen neuen Dialog redet, der muss auch zu seinen internationalen Verpflichtungen stehen. Es ist unglaubwürdig, in einem solchen Konzept kein Wort darüber zu verlieren, dass Deutschland seiner internationalen Verpflichtung zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels bei der Hunger- und Armutsbekämpfung ebenso wenig nachkommt wie bei der Bereitstellung der Mittel für die Anpassung an den internationalen Klimawandel. ({7}) Auch wenn Sie es immer wieder ignorieren: Das sind zentrale Fragen der Globalisierung. Sie haben den europäischen Stufenplan zur Entwicklungsfinanzierung politisch aufgekündigt. Das war und ist ein Affront gegen zentrale Vereinbarungen der UNO und der Europäischen Union. Wer global gestalten will, muss wenigstens seine internationalen Verpflichtungen erfüllen. So aber präsentieren Sie uns hier ein Konzept von 67 Seiten mit vielen leeren Versprechungen und wenig Substanz. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schmidt - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Rainer Stinner. Bitte schön, Kollege Dr. Stinner. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurz zwei Sätze zu den Einlassungen der Kollegen der SPD; denn sie haben sich ein weiteres Mal von ernsthaften Diskussionen verabschiedet. Herr Erler, Sie können doch die Libyen-Entscheidung nicht in den Mittelpunkt Ihrer Argumentation stellen. Wir kommen gerne darauf zurück und halten Ihnen in diesem Zusammenhang vor, dass Ihr Fraktionsvorsitzender an dem Abend der Entscheidung die Entscheidung ausdrücklich begrüßt hat. Herr Raabe, wir können uns nur wünschen, dass Ihre Einlassungen in dieser wichtigen außenpolitischen DeDr. Rainer Stinner batte im deutschen Fernsehen Tag und Nacht in einer Endlosschleife gezeigt werden, um zu dokumentieren, was die SPD auf der Pfanne hat. Sie sind nicht satisfaktionsfähig. ({0}) - Herr Mützenich, Sie kommen nach mir. Sie können das noch richtigstellen. Da ist mir Herr Gehrcke noch lieber. Er hat wenigstens eine Meinung und sagt sie auch. Die ist zwar völlig falsch; denn er hat ein völlig anderes Weltbild als wir. Er kann aber seine Meinung wenigstens erklären. Herr Gehrcke, da sind Sie mir zehnmal lieber als die Kameraden, die nichts zu sagen haben. Gleichwohl ist Ihre Ansicht konsequent falsch. ({1}) Das Konzept der Bundesregierung geht von einem Weltbild aus, das vor einigen Jahren nicht unumstritten war. Es geht nämlich von einer multipolaren Welt aus, nicht davon, dass wir in Zukunft einen Hegemon haben. ({2}) Es geht auch nicht von einer G-2-Welt mit Amerika und China aus, sondern von einer multipolaren Welt. In dieser multipolaren Welt wollen wir unseren Platz finden. ({3}) Es ist sehr wichtig, zu bestätigen, was auch in dem Konzept steht: Diesen Platz finden wir nur im Rahmen Europas. Das ist eine ganz wichtige Determinante, die in diesem Konzept nochmals vorgestellt wird. ({4}) Im Prinzip haben wir jetzt eigentlich „nur“ zwei Aufgaben: Erstens müssen wir versuchen, mit der sich ändernden Welt fertigzuwerden. Zweitens müssen wir definieren, wie Deutschland seinen Platz darin findet. Zum ersten Punkt: Die Welt ändert sich. Das brauche ich hier nicht im Detail zu erläutern. Ich habe das Gefühl, dass wir vor einem großen Lernprozess stehen. Wir - Deutsche, Europäer, der Westen, Gesellschaft und Politik - müssen lernen, mit der neuen Welt umzugehen. Wir müssen lernen, dass die bisherige Annahme bzw. der Gedanke, dass sich die Welt in einer gewissen Zwangsläufigkeit zu europäischen Werten, zu europäischen Systemen hin entwickeln wird, falsch ist. Wir müssen lernen, in Zukunft mit Systemen zu leben, die eine eigene Legitimität entwickeln und diese aus der Sicht der Bevölkerung auch haben, die aber anders ticken als wir und zum Beispiel nicht von dem Modell eines laizistischen Staates ausgehen. Das müssen wir lernen. Ich glaube, dieser Lernprozess hat erst begonnen. In dem Konzept steht völlig zu Recht: Wir erwarten und befördern, dass auch andere Verantwortung übernehmen. Dann müssen wir aber auch akzeptieren, dass sie diese Verantwortung vielleicht in einer Weise übernehmen, die uns nicht hundertprozentig recht ist. Auch das ist ein Lernprozess, den wir entsprechend vollziehen müssen. ({5}) Zum Thema Globale Governance. Ich habe die Frage der deutschen Beteiligung am UN-Sicherheitsrat immer ganz locker gesehen. Historisch zeigt sich: Wenn in einer Organisation die Kluft zwischen dem Beitrag, den sie zum Weltgeschehen liefern muss, und dem, was sie zu sagen hat, auf Dauer nicht geschlossen wird, dann wird die Organisation als solche delegitimiert und verliert ihre Schlagkraft. Von daher ist völlig richtig, was hier angesprochen worden ist: Wir müssen dafür sorgen, globale Governance den heutigen Bedingungen anzupassen. Die zweite Frage lautet: Wie kann sich Deutschland positionieren? Hier ist von Herrn Gehrcke angesprochen worden - das war völlig unsäglich -, wir hätten Großmannssucht. Nein, das stimmt nicht. Auch Sie merken, wenn Sie in Israel, in Ägypten, im Iran, in Pakistan oder wo auch immer sind, dass viele auf der Welt uns als ein wichtiges Land wahrnehmen und von uns erwarten, dass wir uns wie ein großes, wichtiges Land in Europa benehmen. Das ist ein Lernprozess, den wir in Deutschland vollziehen müssen. ({6}) Der deutsche Ohnemichel ist ja nicht grundlos ein Symbol deutschen Selbstverständnisses. Dieses müssen wir gemeinsam, Gesellschaft und Politik, in den nächsten Jahren deutlich verändern. Herr Gehrcke, wir haben in vielen Teilen der Welt - das wissen Sie genauso wie ich; denn Sie reisen ähnlich viel herum - zum Glück das Image eines ehrlichen Maklers. Das ist ein Pfund, mit dem wir als Deutsche durchaus unseren Einfluss in der Europäischen Union einbringen. ({7}) Dieses Konzept ist deshalb darauf angelegt, die deutschen Instrumente auf breiter Basis einzuführen. Ich will nur zwei nennen. Das eine ist die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, die wir als FDP-Fraktion und als Koalition für ganz wichtig halten. Das hat dazu geführt, dass der Etat für die AKBP, für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, im Haushalt 2012 so hoch ist wie noch nie zuvor in dieser schönen Bundesrepublik Deutschland. Das ist Ausdruck eines bewussten politischen Entscheidungsprozesses dieser Koalition, den wir ausdrücklich begrüßen. ({8}) Es wurde dann oft gesagt, zum Beispiel von Herrn Gehrcke und von Herrn Schmidt, wir würden uns nur auf die Wirtschaft konzentrieren. Herr Schmidt, im Zusammenhang mit der deutschen Handlungsfähigkeit, den Handlungsmöglichkeiten und dem Handlungswillen kann man über vieles reden, aber wir wissen doch - auch Sie, Herr Schmidt, wissen das -, dass die Handlungsfähigkeit auf internationaler Ebene in einem ganz großen Maße von der wirtschaftlichen Potenz eines Landes abhängig ist. Das mag man lieben oder hassen - Herr Gehrcke findet das wahrscheinlich furchtbar -, aber es ist doch Tatsache, dass wir deshalb wahrgenommen werden, dass unser Wort deshalb gehört wird, weil wir eine gesunde wirtschaftliche Basis haben. Somit wird dieses Thema zu Recht in diesem Konzept angesprochen. Trotz all des Streites im Deutschen Bundestag finde ich es gut, dass es hier - vielleicht mit Ausnahme der Linken, die ein anderes Weltbild haben - hinsichtlich der großen Linien nach wie vor einen außenpolitischen Konsens gibt. Da gehe ich über manche Nickligkeiten der Opposition hinweg, die ich innenpolitisch verstehe, außenpolitisch aber nicht. Wir glauben, dass die Bundesregierung einen wichtigen Aufschlag gemacht hat. Wir alle wissen - der Außenminister weiß das, und wir wissen das -, dass das natürlich nicht das Ende des Prozesses ist, sondern dass das der Beginn eines Diskussionsprozesses, den wir in Deutschland dringend brauchen, ist. Wir, die FDP, werden die Bundesregierung dabei nach vollen Kräften unterstützen. Vielen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Stinner. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Dr. Rolf Mützenich. Bitte schön, Kollege Dr. Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesaußenminister, ich glaube, das, was Sie aufgeschrieben haben, stellt teilweise eigentlich eine Binsenweisheit dar. Für die Erkenntnis, dass neue Länder, dass neue Gestaltungsmächte auch einen Gestaltungsanspruch haben, ist kein umfangreiches Papier notwendig; ({0}) denn im Grunde genommen ist dies der Kern der Geschichte internationaler Politik. Ich hätte als Anstoß für eine grundsätzliche Debatte über Außenpolitik viel interessanter gefunden, zu lesen, was Sie in den kommenden wenigen Monaten überhaupt noch erreichen wollen, was den Kern der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik da ausmachen soll. Dazu findet man in diesem Konzept nichts. ({1}) Eine weitere interessante Frage wäre: Bei der Bewältigung welcher Probleme werden Ihnen die neuen Gestaltungsmächte - gesetzt den Fall, dass Sie auf diesem Konzept beharren - behilflich sein? Bei denen, vor denen wir stehen, bei denen, vor denen Europa steht, oder bei denen, vor denen sozusagen die internationale Politik steht? Auf diese Fragen gehen Sie überhaupt nicht ein. ({2}) Meiner Meinung nach müssen wir insbesondere auf folgende Punkte hinweisen: Erstens. Wir nähern uns in Europa wieder einem neuen Sicherheitsdilemma; das haben wir alle, die wir in München auf der Sicherheitskonferenz waren, auch atmosphärisch gespürt. Eine neue Eiszeit beginnt, wenn uns ein russischer Außenminister nicht nur die SyrienFrage, sondern insbesondere auch das Problem der Raketenabwehr, das möglicherweise eine neue Grenzziehung in Europa zur Folge hat, vor Augen führt. Ich frage mich: Wo ist da die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik? Wollen Sie uns wirklich sagen, dass uns neue Gestaltungsmächte in der Welt bei der Lösung dieses Sicherheitsdilemmas helfen werden? Nein, dafür braucht es Tatkraft, und zwar in Kooperation mit den alten Partnern. Wir müssen den USA, insbesondere den Senatoren im Kongress, deutlich machen, um was es letztlich geht, dass wir nämlich vertragsbasiert versuchen wollen, das Thema Raketenabwehr wieder einzufangen. Darüber wäre es in der Tat notwendig gewesen eine außenpolitische Debatte zu führen, statt wolkig von Gestaltungsmächten, die irgendwo am Horizont auftauchen, zu sprechen. Zweiter Punkt. Von einem Sicherheitsdilemma ist auch eine andere Weltregion betroffen. Wir wissen, dass im pazifischen Raum ein Sicherheitsdilemma entsteht, weil es dort Fehlwahrnehmungen gibt. Die USA behaupten, sie seien eine pazifische Macht, und China rüstet maritim auf. Beide Staaten handeln aufgrund unterschiedlicher Erwägungen. Die Chinesen etwa sagen: Wir müssen diese Wege aufgrund der Situation, in der wir uns befinden, und aus nationalem Interesse beschreiten. - Deutschlands Beitrag als Mitglied der NATO sollte angesichts dessen darin bestehen, endlich die Debatte darüber, ob wir eine globale NATO brauchen, zu beenden. Doch selbst die Bundeskanzlerin spricht immer wieder von der globalen NATO. Indem wir dieses Thema, das in China ganz anders wahrgenommen wird, ansprechen, befördern wir allerdings eher ein Sicherheitsdilemma, als dass wir zu seiner Lösung beitragen. Solche außenpolitischen Debatten brauchen wir also. Eine dritte Frage lautet: Glauben Sie wirklich, dass uns neue Gestaltungsmächte dabei unterstützen, die Normen und Regeln des Völkerrechts besser zu verankern oder unsere Partner davon zu überzeugen, das Völkerrecht besser zu beachten? Den Mut, eine Debatte darüber zu führen, müssen Sie gegenüber den jetzigen, den alten Partnern aufbringen. Die Frage des Völkerrechts, auch der Einsatz von Drohnen, betrifft nicht die Gestaltungsmächte; sie betrifft die alten Partner. Das in der Außenpolitik anzusprechen, dazu gehört nach meinem Dafürhalten Mut; aber was das betrifft, ist in diesem Konzept überhaupt nichts zu finden. Viertens. Ich sagte, es werden keine großen, neuen Antworten gegeben; deshalb verweise ich auf alte Konzepte. Der Ansatz von Frank-Walter Steinmeier, die Bearbeitung des Wasserkonflikts in Zentralasien als gemeinsame europäische Herausforderung in die Debatte einfließen zu lassen, war richtig. Auch in Zukunft wird die Wasserfrage - auch Sie haben sie ja angesprochen wahrscheinlich eine große Herausforderung sein. Vor diesem Hintergrund wäre es besser gewesen, heute der Frage nachzugehen: „War das Konzept von FrankWalter Steinmeier richtig, und sind wir da vorangekommen?“, statt von sogenannten Gestaltungsmächten zu sprechen und damit neue Schauplätze zu betreten. ({3}) Fünfte Frage: Werden Sie gemeinsam mit neuen Gestaltungsmächten die Herausforderungen im Bereich der Rüstungsexporte bewältigen: ja oder nein? Nein, ich glaube nicht. Sie führen die Gestaltungsmächte ja gerade deswegen an, um Rüstungsexporte zu legitimieren. Saudi-Arabien ist für Sie eine Gestaltungsmacht. Die Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien wurde damit begründet, dass am Persischen Golf eine Gestaltungsmacht entsteht und dies möglicherweise in Konflikte ausartet. Also: Wollen Sie wirklich sagen, dass uns Gestaltungsmächte bei der Lösung dieses Problems und beim Umgang mit solchen falschen Entscheidungen helfen werden? Ich sage Ihnen: Nein. Das, was Sie aufgeschrieben haben, führt also in die Irre. Es verlagert Ihre Verantwortung auf ein anderes Feld. Dazu kann man zwar ein paar schöne Sätze formulieren; aber hier muss es um konkretes Handeln gehen. Sie führen mit uns aber keine Debatte über konkretes Handeln. Dieser notwendigen Diskussion würde ich mich gerne stellen. Dazu haben Sie in Ihren zwölf Minuten Redezeit am Anfang dieser Debatte aber überhaupt nichts gesagt. ({4}) Herr Bundesaußenminister, ich will zum Schluss auf einen weiteren Aspekt eingehen. Ich glaube, dass dieses Papier bei unseren alten Partnern möglicherweise - ich will nicht sagen: verheerend - falsch ankommt. Das wäre fatal und nicht hilfreich. Ich glaube, man bläst die Backen wieder einmal etwas zu stark auf. Wenn ein deutscher Außenminister gewissermaßen sagt: „Ich alleine werde darüber bestimmen, welche Staaten Gestaltungsmächte sind und welche nicht und mit wem sich Deutschland zusammentut und mit wem nicht“, halte ich das für ein großes Problem. Dies gilt insbesondere angesichts der Debatte auf europäischer Ebene, in der Deutschland nicht mehr das Bild abgibt, das es sich wirklich schwer erarbeitet hat, insbesondere während des Kalten Krieges, aber auch während der Zeit der Entspannungspolitik. Damals hat sozusagen ein anderes Deutschland das Bild abgegeben. Ich glaube, dass diese schön bebilderte Broschüre, die Sie uns vorgelegt haben, möglicherweise zu einer ganz anderen Wahrnehmung führt als zu der, die Sie beabsichtigt hatten. Das Papier ist wie Ihre Außenpolitik: etwas dick aufgetragen, dennoch an vielen Stellen vage und immer wieder sprunghaft. Das ist keine Grundlage für eine bessere Außenpolitik, die wir dringend brauchen. Deswegen glaube ich, dass weitere Debatten über die konkreten Herausforderungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik notwendig sind. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Mützenich. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Ruprecht Polenz. Bitte schön, Kollege Polenz. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Mützenich, es geht nicht in erster Linie um Antworten auf aktuelle Krisen oder Fragen, die wir dauernd im Auswärtigen Ausschuss und anderswo diskutieren; es geht um unsere Rolle in der Welt und darum, welche Verantwortung wir haben; es geht um die strategische Orientierung der deutschen Außenpolitik in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts, in der 1,3 Milliarden Chinesen und 1,2 Milliarden Inder leben und in der Brasilien, Südafrika, Mexiko, die USA und, wie wir durch das Veto im Sicherheitsrat gemerkt haben, natürlich auch Russland, das sich immer noch als Großmacht fühlt, eine wichtige Rolle spielen. Diese Welt ist unübersichtlicher als die geteilte, bipolare Welt des Kalten Krieges. Angesichts dessen ist es schon richtig, dass die Bundesregierung den Kompass justiert. Ich möchte Außenminister Westerwelle sehr dafür danken, dass wir diese Debatte über die strategische Orientierung der deutschen Außenpolitik auf der Grundlage eines breit angelegten Positionspapiers der Bundesregierung führen können. Ich finde, es ist ein Verdienst dieses Papiers, dass mit dem irreführenden Begriff des Schwellenlandes aufgeräumt wird. Es ist falsch, Länder wie China, Indien, Brasilien oder Mexiko als Schwellenländer zu bezeichnen und so zu tun, als ob sie knapp über dem Niveau eines Entwicklungslandes wären. Das Positionspapier der Bundesregierung nimmt das regionale und internationale Gestaltungspotenzial und vor allen Dingen den Gestaltungsanspruch dieser Länder in den Blick und versucht, Schlussfolgerungen für die deutsche Außenpolitik zu ziehen. Das ist ein Verdienst dieses Papiers. ({0}) Wie verhindern wir Blockademacht? Wie fördern wir verantwortliche Mitgestaltung? Wo liegen die Möglichkeiten einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit, und wo liegen die Grenzen? Dazu verhält sich das Papier. Insofern ist ein Teil der Kritik ein bisschen preiswert, weil wohlfeil. Dem einen fehlt etwas, dem anderen ist an einer Stelle etwas zu viel. Das war keine besonders faire Kritik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. ({1}) Die Bundesregierung formuliert als anspruchsvolles Ziel: Die Bundesregierung will mit Partnern zusammenarbeiten, um die globalisierte, interdependente und multipolare Welt durch eine regelbasierte sowie multilateral und global ausgerichtete Ordnungspolitik über legitime und effektive internationale Institutionen zu prägen. Das klingt nicht nur anspruchsvoll, das ist anspruchsvoll. ({2}) Man kann es auf folgende Kurzformel - das steht auch im Konzept - bringen: Es geht um eine faire Globalisierung. Wenn Sie John Rawls gelesen haben, dann wissen Sie, dass Gerechtigkeit als Fairness eine philosophische Grundhaltung ist, und das steht in diesem Papier. ({3}) Allein wären wir sicher hoffnungslos überfordert, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb wird in diesem Papier richtigerweise die Frage gestellt, wie Deutschland in dieser veränderten Welt seine Interessen am besten durchsetzen kann und wie wir unseren Werten Geltung verschaffen können. Dazu gibt es einen Schlüsselsatz in diesem Konzept: „Deutschland wirkt mit und durch Europa.“ Über die Europäische Union hebeln wir unser politisches Gewicht. Das ist wie in der Physik. Die Europäische Union ist ein politischer Kraftwandler, übrigens nicht nur für Deutschland, sondern für alle 27 EU-Mitglieder. Wir alle verstärken unsere politische Kraft. Voraussetzung ist allerdings, dass alle ihre Hebel gleichgerichtet ansetzen, etwa wie beim Rudern; denn sonst dreht man sich im Kreis, kommt nicht vom Fleck und wirkt auch noch relativ komisch dabei. ({4}) Aber man kommt vorwärts. ({5}) Dass das politische Gewicht Deutschlands ganz wesentlich von diesem Wirken in der und durch die Europäische Union abhängt, zeigt ein Vergleich mit Japan. Japan ist vom Potenzial her durchaus mit Deutschland vergleichbar, verfügt aber international über weitaus weniger Mitgestaltungsmöglichkeiten als wir, die wir in der Europäischen Union verankert sind. Das entspricht im Übrigen auch unserer Wahrnehmung von außen. Als Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses haben wir viele Delegationen als Gesprächspartner zu Gast, die Berlin besuchen. Ganz oft fällt dabei der Satz: „Ihr seid das stärkste Land in der EU“, und dann werden Erwartungen und Wünsche formuliert. Das Konzeptionspapier beinhaltet also keine abgehobene Theorie, auch wenn es natürlich generalisierende Formulierungen beinhalten muss, sondern es ist außerordentlich praktisch und relevant. Denken Sie beispielsweise an unsere Diskussionen über die Staatsschuldenkrise. Wir dürfen eben nicht in erster Linie fragen: „Was kostet uns Europa?“, sondern: „Was ist uns Europa wert?“. Hier haben wir dann auch entsprechende Erwartungen. An die Adresse derjenigen, Herr Mützenich und Herr Gehrcke, die hier Dominanzstreben kritisiert haben, sage ich: Was erwarten denn die anderen von uns? Ich erinnere an die Rede des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski, der hier in Berlin gesagt hat: Sie - damit meinte er Deutschland sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen bei der Führung nicht versagen. Nicht dominieren, sondern bei Reformen führen. Wenn wir dieser Bitte nicht entsprechen, werden wir unserer Verantwortung nicht gerecht. ({6}) Die Bundeskanzlerin, der Finanzminister und der Außenminister zeigen jeden Tag - gerade jetzt, in dieser schwierigen Phase der europäischen Geschichte -, dass sie mit einer klugen Einbindung anderer und gemeinsam mit Frankreich diesem Führungsanspruch, den andere an uns haben, gerecht werden. Das Risiko dieser Krise für Europa und die Europäische Union als politisches Projekt dürfen wir nicht unterschätzen. Manchmal hat man den Eindruck und glaubt, etwas Stagnation und ein paar Rückschritte bei der Integration seien nicht so schlimm. Europa ist aber keine Insel. Andere Akteure in der multipolaren Welt werden handeln, ohne auf Europa zu warten. Europa hat in dieser multipolaren Welt nur die Wahl, entweder als Mitspieler zu agieren oder Spielfeld zu sein, das sich die anderen untereinander aufteilen. Ein wachsender chinesischer Einfluss auf einzelne EU-Mitglieder im Zuge der jetzigen Staatsschuldenkrise kann beispielsweise dazu führen, dass damit die Forderung verbunden wird, bei Menschenrechtsverletzungen demnächst ein Auge zuzudrücken, und Russland ist ja immer dabei, die Energiepolitik auch als politischen Einflusshebel zu nutzen, um die Europäische Union ein Stück auseinanderzutreiben. ({7}) Ich darf noch einmal den polnischen Außenminister zitieren. Er hat in seiner Rede gesagt: Wenn wir unsere jetzige Malaise überwinden, dann haben wir die nötigen Fähigkeiten und die Kraft, um die uns die Welt beneidet. Wir haben nicht nur die größte Wirtschaftsmacht, Europa steht wie keine andere Region dieser Welt für Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Für unsere Nachbarn im Osten und Süden sind wir eine Inspiration. Das sagt ein Pole, der die Europäische Union natürlich noch nicht als selbstverständlich wahrnimmt und deshalb vielleicht auch den Wert etwas mehr schätzt als der eine oder andere von uns. Never again, never alone: Mit diesem alten außenpolitischen Grundsatz sind wir gut gefahren. In dem Konzept der deutschen Bundesregierung heißt es: „In der globalisierten Welt wirkt Deutschland mit und durch Europa.“ Das ist der gleiche Inhalt, nur anders formuliert. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Ruprecht Polenz. - Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Jan van Aken. Bitte schön, Kollege Jan van Aken. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle, ich muss ehrlich sagen: Ich habe das neue außenpolitische Konzept mit Spannung und natürlich einer gewissen Skepsis erwartet. Jetzt lese ich das Papier und stelle fest, dass die Skepsis leider berechtigt war. Ich möchte das an fünf Punkten zeigen. Das sind die Punkte Frieden, Nahrungsmittelsicherheit, Menschenrechte, gute Arbeitsbedingungen und Abrüstung. Fangen wir mit dem Frieden an. Da schreiben Sie zum Beispiel, dass die neuen Gestaltungsmächte einen wichtigen Beitrag zur Vorbeugung von Konflikten leisten können. Das ist natürlich richtig. Aber welches konkrete Beispiel nennen Sie dafür in dieser Hochglanzbroschüre? Die militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Südafrika. Warum, Herr Westerwelle, fällt Ihnen beim Thema Konfliktlösung immer nur die Bundeswehr ein? ({0}) Ich finde, ein Außenminister, dem beim Thema Konflikt immer nur Militär einfällt, der hat seinen Job komplett verfehlt. Zweiter Punkt: die Nahrungsmittelsicherheit. In dem Papier ist sehr viel von Hungerbekämpfung die Rede. All das ist wunderbar. Aber an einer anderen Stelle fordern Sie den ungehinderten Zugang zu Ackerland für sich und die Gestaltungsmächte. Heißt das: einen ungehinderten Zugang zu landwirtschaftlicher Nutzfläche auch in allen anderen Ländern, also weltweit? Heißt das denn: Nahrungsmittelsicherheit nur für die Starken und Reichen? So werden Sie den Hunger in der Welt nicht bekämpfen, Herr Westerwelle. ({1}) Dritter Punkt: die Menschenrechte. An dem gleichen Tag, an dem Sie das hier veröffentlichten - darin steht gefühlte 500-mal das Wort Menschenrechte -, empfingen Sie hier in Berlin den kasachischen Präsidenten Nasarbajew und schlossen mit ihm einen Rohstoffvertrag ab. ({2}) Falls Sie es vergessen haben, Herr Westerwelle: Nasarbajew ist der Mann, der gerade mit 80 Prozent der Stimmen in Kasachstan gewählt worden ist, und alle Wahlbeobachter gehen davon aus: Die Wahl war gefälscht. Nasarbajew, das ist genau der Mann, der im Dezember einen Streik von Ölarbeitern blutig zusammengeschossen hat. Aber Nasarbajew ist eben auch der Mann, in dessen Land es Öl, Gold und viele andere Rohstoffe gibt. Deswegen gab es hier für ihn einen Fototermin mit der Kanzlerin und einen Fototermin im Schloss Bellevue, damit er weiter exklusiv an Deutschland liefert. Das sind die traurigen Realitäten eines Konzepts, das aus sehr vielen schönen Worten, aber wenig Substanz besteht. ({3}) Vierter Punkt: gute Arbeitsbedingungen. In dem Papier wird von dem Ziel gesprochen, weltweit menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu gestalten. Das ist ein sehr schönes Ziel. Ich habe Ihnen eine Tafel Schokolade mitgebracht, ein nachträgliches Geschenk zu Ihrem runden Geburtstag. Das hier ist eine fair gehandelte Bioschokolade. ({4}) - Nein, sie ist relativ frisch, die habe ich nicht seit Dezember in der Tasche. Aber ich habe Ihren Geburtstag im Kopf, weil auch ich im letzten Jahr 50 Jahre alt geworden bin. ({5}) Da haben wir etwas gemeinsam. - Wissen Sie eigentlich, wenn Sie über menschenwürdige Arbeitsbedingungen reden, wie viel ein Kakaobauer in Ghana verdient, wenn er nicht vom fairen Handel profitiert? ({6}) Einen halben Euro am Tag. Wissen Sie eigentlich, dass in der Elfenbeinküste 2 Millionen Kinder in der Kakaoernte arbeiten? Diese Kinder helfen nicht ihren Eltern einmal bei der Ernte, sondern das ist verbotene Kinderarbeit. Wissen Sie, dass es in Westafrika und vielen Ländern noch Sklavenarbeit in der Kakaoernte gibt? Um das zu ändern, um hier menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, brauchen Sie keine Hochglanzbroschüre. Dafür brauchen Sie auch nicht auf die UNO, die ILO oder andere Regierungen zu warten. Das könnten Sie ganz einfach mit einem Gesetz in Deutschland regeln, indem Sie einen Herkunftsnachweis für den Kakao verlangen. Wenn auf der Rückseite einer Tafel Schokolade immer stehen müsste, aus welcher Provinz, aus welchem Land der Kakao kommt, dann wird kein einziger deutscher Produzent mehr Kakao aus Kinder- oder Sklavenarbeit kaufen. Deswegen haben Sie die Verantwortung hier in Deutschland, für menschenwürdige Bedingungen anderswo auf der Welt zu sorgen. ({7}) Wenn ich also all die politisch korrekten und hohlen Phrasen aus diesem Papier herausstreiche, dann bleibt von Ihrem außenpolitischen Konzept sehr wenig übrig. Es bleibt vielleicht ein Konzept für eine knallharte Außen- und Wirtschaftspolitik übrig. Das, Herr Westerwelle, finde ich ein Armutszeugnis. ({8}) Fünfter und letzter Punkt: die Abrüstung. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte; denn eines muss man bedenken: Jede einzelne Waffe, die Sie an ein anderes Land verkaufen, rüstet dieses Land auf und nicht ab. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass auf diesen ganzen 68 Seiten nicht ein einziges Mal das Wort Abrüstung vorkommt. Das muss man erst einmal schaffen. Bei einem außenpolitischen Konzept nicht über Abrüstung zu reden, muss man erst mal schaffen. Das ist natürlich konsequent, wenn man nur an Wirtschaftspolitik denkt. Das ist aber auch grundfalsch. ({9}) Trotzdem wünsche ich Ihnen guten Appetit beim Verzehr der fair gehandelten Schokolade! ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Kerstin Müller. Bitte schön, Frau Kollegin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Westerwelle, eine Tafel Schokolade habe ich zwar nicht anzubieten, aber auch ich bin der Meinung, dass das Konzept, das Sie am Mittwoch mit viel Tamtam und Öffentlichkeit vorgestellt haben, nicht viel Neues enthält; es bezieht sich vielmehr auf etwas, das schon lange bekannt ist, nämlich dass sich die Kraftzentren der internationalen Politik verschieben, weg vom starren Blick auf Europa und die USA hin zu Ländern, die man gemeinhin - Herr Polenz hat es angesprochen - als Entwicklungs- und Schwellenländer bezeichnete, die aber inzwischen schon längst die Schwelle machtpolitischer Irrelevanz überschritten haben, zum Beispiel weil sie ökonomisch gewachsen sind wie Südafrika oder Brasilien - davon sprechen Sie überwiegend - oder weil sie regionale Hegemonialmacht anstreben wie der Iran. Ja, es ist richtig: Die Welt hat sich verändert, hin zu einer multipolaren Welt. Viele Länder wollen heute die globale Ordnung mitgestalten. Deshalb ist auch richtig: Auf diese Veränderungen brauchen wir eine Antwort. Welche Rolle will und soll Deutschland dabei einnehmen? Ihren Versuch, die Außenpolitik der Bundesregierung kohärenter als bisher zu gestalten, kann man durchaus honorieren. Man könnte sagen: Mit der Vorlage des Konzeptes wird zumindest auf dem Papier der Versuch unternommen, den realen Einflussverlust des Außenministers aufzuhalten. Denn noch nie wurde von einem Außenminister so viel Papier produziert - Lateinamerikakonzept, Afrikakonzept und jetzt das Globalisierungskonzept -, aber in der Realität so wenig Einfluss in der Weltpolitik ausgeübt. ({0}) Ich kann Ihnen auch jetzt das Beispiel Libyen nicht ersparen. Damit hat die Bundesregierung Deutschland ins weltpolitische Abseits katapultiert. Das wird bei der UNO und der EU immer noch so gesehen, und das hat auch Nachwirkungen. ({1}) Leider bleibt der Versuch einer neuen Strategieentwicklung, von der Sie gesprochen haben, Herr Polenz, schon im Ansatz stecken. Denn auf 67 Seiten wird leider mit vielen Worten wenig gesagt: Frieden, Menschenrechte, Wirtschaft, Ressourcen, Soziales und Nachhaltigkeit - alles kommt irgendwie vor. Aber wo setzen Sie Ihre Prioritäten, Herr Westerwelle? Das geht aus dem Papier nicht hervor. So bleibt das Ganze ein Versuch, Ihre „wurschtelig wirkende“ Außenpolitik, wie es in der Presse hieß, schick zu verpacken. Inszenierung allein macht aber noch keine Außenpolitik und keinen Außenminister. Man muss vielmehr klare Prioritäten setzen. ({2}) Wo Ihre eigentliche Priorität liegt, wurde bei der Vorstellung klarer: „Wandel durch Handel“ ist - das haben Sie mehrfach betont - Ihr neues und man sollte vielleicht auch sagen altes Credo. Damit wird klar: Ihre eigentliche Priorität ist die deutsche Wirtschaft. Es geht darum, einen politischen Rahmen zu schaffen, um Türen für neue Märkte zu öffnen. Gestaltungsmächte sind - das haben Sie noch einmal gesagt - für Sie in erster Linie Länder mit hohen Wachstumsraten und seltenen Rohstoffen. Aber was das im Hinblick auf die Gestaltungsmächte heißt, bleibt unklar. Wollen Sie wirklich behaupten, dass Handel automatisch mehr Demokratie und Freiheit bringt, zum Beispiel in China oder Russland? Ist denn jeder, der wirtschaftlich stark ist, in Zukunft automatisch Ihr Partner, und für was eigentlich? In der Syrien-Frage zum Beispiel sind die Gestaltungsmächte China und Russland keine Partner. Sie stehen auf der anderen Seite und haben in dieser Frage eine völlig andere Position. Unklar ist auch - meine Vorredner haben es schon angesprochen -: Ist diese Zusammenarbeit an irgendwelche Kriterien, zum Beispiel an Kerstin Müller ({3}) menschenrechtliche Standards oder Umwelt- und Sozialstandards, gebunden? Aber wie Sie selbst gesagt haben: Es kommt auf den Praxistest an.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus der Fraktion der FDP. Unser Kollege Spatz will Sie etwas fragen. Gestatten Sie das?

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Wie könnte ich das einem Kollegen verwehren?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön. ({0})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Müller, könnten Sie uns wenigstens zugestehen, dass die Maxime „Wandel durch Handel“ bzw. „Wandel durch Annäherung“, also der Prozess, mit denjenigen zu sprechen, die unsere Ideale vielleicht noch nicht teilen, mindestens zur Überwindung der Spaltung Europas einen wichtigen Beitrag geleistet hat und vielleicht auch als Rezept für die Welt taugt?

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Spatz, ich glaube nicht, dass dies als Rezept für die Welt taugt. Sie berufen sich hier auf die Ostpolitik Brandts. ({0}) Ich finde, diese Schuhe sind wirklich viel zu groß. ({1}) Schauen Sie sich das an. Russland ist ein Beispiel dafür. Keiner hier kann sagen wollen, dass es durch eine Öffnung der Märkte, durch zum Teil Manchesterkapitalismus und kapitalistische Verhältnisse in Russland mehr Demokratie gibt. Im Gegenteil: Beides prallt völlig aufeinander. Auch in China stehen wir vor dieser Situation. China ist ein wichtiger Partner, aber wir sehen, dass Menschenrechte und Demokratie dort zum Teil mit Füßen getreten werden. Daher glaube ich, dass diese These nicht stimmt. Es braucht zusätzliche Anstrengungen, und es muss klar definiert werden, was wir für eine Art der Handelspolitik wollen. Wollen wir sie an Umwelt- und Sozialstandards binden? Wollen wir sie an Menschenrechtskriterien binden? Dazu steht in dem Papier nichts. Hier spricht Ihre reale Politik Bände. ({2}) Der Praxistest ist entscheidend: The proof of the pudding is in the eating. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, die Inszenierung zu kritisieren: Sie stellen das Konzept vor, nachdem vor ein paar Tagen im wenige Kilometer entfernten Bundeskanzleramt ein Rohstoffabkommen mit Kasachstan abgeschlossen wurde. Daran können wir erkennen, was das Konzept konkret bedeutet. Wir verstehen uns gut mit der neuen Gestaltungsmacht Kasachstan. Auf meine Frage gestern haben Sie geantwortet, Kasachstan sei auch eine Gestaltungsmacht; ganz gleich, ob ihr Präsident Nasarbajew auf demonstrierende Ölarbeiter schießen lässt oder bei den letzten Wahlen von der OSZE das Siegel des Antidemokraten erhalten hat. Der Praxistest zeigt: Hier fehlt der Bundesregierung der politische Kompass; denn Kompass müssen meiner Meinung nach ganz klar die Menschenrechte sein. Sie müssen die Leitlinie der deutschen Außenpolitik sein und klar Priorität haben. Das ist bei Ihnen nicht der Fall. ({3}) Auch die Außenwirtschaftspolitik muss eine klare Bindung an Menschenrechtskriterien haben. Hier passiert nichts, was wie ein Dialog mit der Industrie zum Thema Menschenrechte aussehen könnte. Nichts passiert in der Frage, wie industrielle Entscheidungen an Sozial- und Umweltstandards gebunden werden können. Herr Heraeus gibt freimütig zu, dass das Thema Menschenrechte der Industrie immer Schwierigkeiten macht. Was passiert, wenn der Kompass fehlt, zeigt sich auch, wenn Deutschland trotz der schwierigen Menschenrechtslage Panzer nach Saudi-Arabien liefert. Wenn die Wirtschaft vor den Menschenrechten steht, dann gehen Rüstungsmärkte vor. Ich sage Ihnen: So verkommt jeder Menschenrechtsdialog zu einer reinen Feigenblattpolitik. ({4}) Wir sind der Meinung, die außenpolitischen Prioritäten müssen ganz andere sein. Wir wollen die UN stärken und keine Parallelstrukturen wie die G 20. Für uns müssen die Menschenrechte Leitlinie jeder Außenpolitik sein, und wir wollen eine verantwortungsvolle Ressourcen- und Handelspolitik, die nur dann gerecht und nachhaltig ist, wenn sie an die Menschenrechte und den Rechtsstaat gebunden ist und Korruption bekämpft. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Christian Ruck. Bitte schön, Kollege Dr. Ruck. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin sehr froh über die Gelegenheit zu dieser Debatte. Herr Westerwelle, ich fand es gut, dass Sie eingangs gesagt haben, dass wir trotz der EuroKrise und trotz unserer anderen heimischen Krisen den Blick auf die Welt nicht vergessen dürfen. Das ist völlig richtig, sage ich als Entwicklungspolitiker. Ab und zu sind wir als Entwicklungspolitiker mit den Außenpolitikern in einem fruchtbaren und heftigen Dialog, daher finde ich es ein bisschen schade, dass viele Redner der Opposition die Gelegenheit haben verstreichen lassen, in der Sache zu diskutieren. ({0}) - Frau Müller, Sie habe ich nicht gemeint. Es ist doch vollkommen klar, dass es sich bei dem, was Herr Westerwelle in dieser Woche vorgestellt hat, um ein Gerüst handelt, das man noch ausfüllen und ausarbeiten muss. ({1}) Alles andere ist eine völlige Illusion. Ich glaube, hier haben Verschwörungstheorien keinen Platz. Für uns Entwicklungspolitiker ist der Umgang mit den Gestaltungsländern oder Schwellenländern, wie sie früher genannt wurden, von ausschlaggebender Bedeutung; denn aus der Sicht der Entwicklungspolitiker hat sich die Welt durch die Globalisierung fundamental verändert. Die klassische Einteilung in Industrieländer und Entwicklungsländer stimmt nicht mehr. Auch das, was früher weit weg von uns war, am Hindukusch oder im Innern Afrikas, ist plötzlich ganz nah, auch für unsere Bevölkerung, für unseren Wohlstand und für unsere Sicherheit. Die großen Herausforderungen zeichnen sich ab. Das ist die Klima- und Energiefrage. Das ist die Frage der Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen. Das ist die demografische Entwicklung mit all den Konsequenzen für die Ernährungslage und für die Wasserversorgung. Das ist aber auch die Frage von politischen Umbrüchen, Instabilitäten, ökonomischen Ungleichgewichten und daraus folgender politischer Radikalisierung. Das alles zwingt uns in unserem ureigenen Interesse zu einer Entwicklungspolitik, die gleichzeitig hoch flexibel, konsequent und langfristig angelegt sowie - das ist gerade der Punkt dieses Konzepts - kohärent ist, das heißt, dass alle Bereiche des Außenhandels erfasst werden, dass sie international abgestimmt sind, vor allem unter denen, die die gleichen Sicherheitsinteressen haben wie wir. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass sich die Entwicklungspolitik in Zeiten der Globalisierung längst nicht mehr nur als Straßen- und Brunnenbauer versteht, sondern sie versteht sich als eine Politik, die mithilft, dass die Welt tragfähige Strukturen entwickelt, mit denen sie die Herausforderungen, die ich genannt habe, in Zukunft meistern kann. Damit sind die Entwicklungspolitiker natürlich auch von der Kohärenz mit der Gesamtpolitik abhängig. Wir begrüßen es, dass ein solches kohärentes Grundgerüst von der Bundesregierung vorgelegt worden ist, in dem es vor allem um diese Gestaltungsmächte geht; denn auf Schritt und Tritt merken wir, dass diese Gestaltungsmächte Schlüsselakteure für die globale Entwicklung und für die Lösung der Zukunftsprobleme sind. Dafür gibt es viele Beispiele. Ich nenne nur drei: Erstes Stichwort: Klimawandel. Ohne einen substanziellen Beitrag von Ländern wie China, Brasilien, Indien oder auch Saudi-Arabien können wir das 2-Grad-Ziel auch dann nicht mehr erreichen, wenn wir in Europa alle Emissionen einstellen; das ist völlig unmöglich. ({2}) Wenn zum Beispiel die Rio-Konferenz irgendeinen Fortschritt bringen soll, dann müssen wir gerade mit diesen Gestaltungsmächten zusammenarbeiten und ihnen natürlich auch etwas bieten im Sinne von entwicklungspolitischer Zusammenarbeit. ({3}) Das ist nicht immer unumstritten gewesen. Das tun wir jetzt. Zweites Stichwort: Instabilität. Natürlich bewundern alle die Fortschritte der Brasilianer, Chinesen und Inder in Dimensionen wie Bruttosozialprodukt und Fähigkeiten in technologischer Hinsicht. Die Wahrheit ist aber auch, dass zwei Drittel der Armen in diesen Ländern leben, dass diese Länder nach wie vor von großen politischen Instabilitäten bedroht sein können und dass es in unserem Interesse ist, auch mit unserer Entwicklungspolitik, zumindest mit Beratungsleistungen, dem entgegenzuwirken. Drittes Stichwort: Rohstoffe. Was sich in weiten Teilen der Welt, gerade in Afrika, in Sachen Rohstoffausbeutung abspielt, ist schlichtweg ein Desaster. Wenn wir das in bessere Bahnen leiten wollen, dann müssen wir uns vor allem mit den Gestaltungsmächten, die da besonders beteiligt sind, vor allem mit China, irgendwie auf einen Code of Conduct, auf einen Ehrenkodex, verständigen. Verständigen müssen wir uns nicht nur unter uns - das ist ebenfalls nötig -, sondern auch mit diesen Ländern und vor allem mit China; denn ohne eine solche Absprache ist eine vernünftige Entwicklung in ärmeren, aber rohstoffreichen Ländern nicht möglich. Wir brauchen deswegen diese Zusammenarbeit mit China und mit anderen Ländern, und wir brauchen sie auch in Gestalt von Dreieckskooperationen. ({4}) Diese Beispiele, glaube ich, zeigen, wie man die Grundgedanken des von Herrn Westerwelle vorgestellten Konzepts mit Leben und auch mit Details erfüllen kann. Aber wir müssen in vielen Punkten natürlich auch noch bei uns selbst weiter voranschreiten. Dazu nenne ich ebenfalls drei Punkte: Erstens. Wir müssen auf dem Weg weiter voranschreiten, die eigenen Kräfte zu bündeln, zum Beispiel durch schlagkräftige Durchführungsorganisationen - dabei sind wir -, ({5}) zum Beispiel durch Ressortabstimmung. Dabei ist es wichtig, auf die wertvolle Arbeit der Kirchen und Stiftungen auf diesem Gebiet hinzuweisen. Zweitens. Wir müssen die internationalen Organisationen so gestalten, dass sie effizienter und effektiver arbeiten können, und zwar nicht nur die UNO - das wurde schon angesprochen -, sondern auch die vielen anderen Organisationen, die immer wichtiger werden, vor allem die regionalen Organisationen wie die Arabische Liga oder die Afrikanische Union. Drittens. Wir müssen - es wurde von einer Prägephase in Europa gesprochen - für einen schlüssigeren und kompakteren Außenauftritt der EU und der westlichen Wertegemeinschaft sorgen. Denn wir als Deutsche sind allein nicht in der Lage, die Welt grundsätzlich zu ändern. Aus diesem Grunde begrüßen wir das vorliegende Konzept der Bundesregierung, das strategische Ziele richtig definiert. Wir alle sind aufgefordert, diese Ziele umzusetzen. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Christian Ruck. - Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Edelgard Bulmahn. Bitte schön, Frau Kollegin Bulmahn. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorstellung des Konzepts der Bundesregierung zur Zusammenarbeit mit den sogenannten neuen Gestaltungsmächten haben Sie, Herr Bundesaußenminister, immer wieder betont, dass die neuen globalen Fragen nur im Zusammenspiel mit mehr und neuen Partnern zu beantworten sind. Das ist richtig; keine Frage. Dass die Welt aber multipolar und nicht mehr bipolar ist, ist keine neue Erkenntnis. Diese Entwicklung gibt es seit 20 Jahren. Die Frage, die sich daraus ableitet, ist: Was bedeutet es für die deutsche Außenpolitik, dass wir heute in einer multipolaren Welt leben? Auf diese Frage, Herr Außenminister, geben Sie keine Antwort. Eine strategische Orientierung der deutschen Außenpolitik bietet dieses Papier gerade nicht. Welche außenpolitischen Ziele verfolgt die Bundesregierung? Welche Interessen hat sie? Welche Leitlinien für außenpolitisches Handeln formulieren Sie? Welche Strategie leiten Sie daraus ab? Wo setzen Sie Schwerpunkte? Das sind Fragen, auf die ich in diesem Papier eine Antwort erwartet hätte. Herr Ruck, wenn Sie sagen, dass das, was hier vorgelegt wurde, ein Gerüst sei, dann finde ich das nach zwei Jahren zu wenig. Zwei Jahre hatte diese Bundesregierung Zeit, ein außenpolitisches Konzept vorzulegen. Das wäre gut gewesen, denn dann hätten wir über die Inhalte, Zielsetzungen, Strategien, Schwerpunkte miteinander diskutieren können. Das ist auch notwendig. Aber über ein Gerüst kann man nicht diskutieren. ({0}) In dem Konzept wird angerissen, dass - auch dem stimme ich ausdrücklich zu - Außenpolitik heute mehr ist, als es die traditionelle Außenpolitik war, mehr als Diplomatie. Heute spielen Klimaschutz, der verantwortliche Umgang mit natürlichen Ressourcen, die weltweite Sicherung der Nahrungsmittelversorgung, die Globalisierung der Wirtschaft, die Verletzung von Menschenrechten oder auch die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus eine wichtige Rolle. All das sind Herausforderungen, die sich der klassischen Machtpolitik und damit den traditionellen Formen der Außenpolitik entziehen. Dem werden wir wohl alle zustimmen. Aber wenn man feststellt, dass diese Beschreibung richtig ist, dass Außenpolitik heute viele Dimensionen hat, dass sie eine Querschnittsaufgabe geworden ist und dass sich mit ihr heute immer auch Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik, der Menschenrechte, der Umweltund Klimaschutzpolitik, der Zusammenarbeit in Bildung, Wissenschaft und Forschung, der Wirtschaftspolitik und vieler anderer Felder verbinden, dann bedeutet das eben auch, dass man Außenpolitik so konzipieren muss, dass die Verbindung dieser Dimensionen klar benannt und verstanden wird. Das bedeutet dann auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu respektieren, dass sich in dieser neuen multipolaren Welt neue regionale Strukturen entwickeln, die sich in den klassischen Formaten der internationalen Zusammenarbeit bisher nicht ausreichend abbilden. Auch diese Wahrnehmung habe ich in dem Konzept der Bundesregierung vermisst. Ich hatte gehofft, dass wir in der Rede des Bundesaußenministers hierzu etwas Genaueres erfahren, welche konkreten Auswirkungen diese Entwicklungen auf die deutsche Außenpolitik haben. Aber auch hierzu habe ich nicht viel Neues gehört. Was bedeutet zum Beispiel diese Herausbildung neuer regionaler Strukturen in Asien, Afrika und Südamerika für die deutsche Politik? Herr Außenminister Westerwelle, Sie haben zwar angesprochen, dass diese neuen regionalen Strukturen existieren, aber welche Schlussfolgerungen ziehen Sie denn daraus? Welche Konsequenzen hat das für die weitere Entwicklung der VN? Wie soll ein neuer Sicherheitsrat aussehen? Wie soll er zusammengesetzt sein? Das sind doch Fragen, auf die wir Antworten geben müssen. Dazu müssen wir Vorschläge machen, über die wir dann natürlich auch mit unseren Partnern verhandeln müssen. Eigene Vorstellungen muss man aber schon haben, erst dann kann man sie miteinander erörtern. Welche Rolle sollen zukünftig regionale Sicherheitsund Wirtschaftsbündnisse in der deutschen Außenpolitik haben? Ich nenne zum Beispiel die Afrikanische Union, die Arabische Liga und ASEAN. All diese neuen regionalen Strukturen spielen inzwischen in der internationalen Politik eine wichtige Rolle, und zwar in vielen Dimensionen. Wie spiegelt sich das in der deutschen Außenpolitik wider? Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Was bedeutet das - das wurde von einigen angesprochen - zum Beispiel für die Armutsbekämp19040 fung? Wenn wir konkrete politische Zielsetzungen in der Armutsbekämpfung oder in der Klimapolitik verfolgen, mit welchen Strategien geht das dann einher? Welche Rolle spielen dabei die regionalen Strukturen? Das alles wird in diesem Konzept nicht angesprochen. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich leider einfach feststellen, dass das Papier, über das wir hier diskutieren, eben kein strategisches Konzept ist. Es ist nur eine Aneinanderreihung von Handlungsfeldern. Genau das löst auch die Kritik aus. Eine positiv verstandene, konkrete Beschreibung deutscher Interessen und Zielsetzungen findet nicht statt. Genauso wenig gibt es eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln. Man gewinnt den Eindruck, dass sehr viel Zeit darauf verwendet worden ist, die bisherige schwarz-gelbe Außenpolitik in ein positives Licht zu rücken - auch das ist Ihnen jedoch nicht so richtig gelungen -, während die Herausforderung, tatsächlich eine Strategie zu beschreiben, nicht aufgegriffen worden ist. Ich will einen letzten Aspekt nennen. Sie haben in Ihrem Konzept die Zusammenarbeit mit neuen Gestaltungsmächten im Bereich der Krisenprävention, der Konfliktlösung und der Friedenskonsolidierung vor allem in deren Rolle als Truppensteller für Friedensmissionen der Vereinten Nationen gesehen. Dazu sage ich: Deren Rolle darauf zu beschränken, ist wirklich fahrlässig und bei weitem nicht ausreichend. ({1}) Bangladesch und Jordanien stellen derzeit jeweils mehr als 2 000 Polizeikräfte für UN-Missionen zur Verfügung, Deutschland gerade einmal 18. Das heißt, dass Deutschland noch nicht einmal bei dem, was Sie als Aufgabe beschreiben, annähernd seiner Verantwortung gerecht wird. Das, Herr Außenminister, ist eben keine Grundlage für eine zukunftsfähige Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Es erstaunt mich schon, dass die Bundesregierung in ihrem Konzept zu diesem wichtigen Themenfeld nicht mehr sagt. Nur zu behaupten, dass zivile Krisen- und Konfliktprävention ein Schwerpunkt der Außenpolitik sein soll, reicht nicht. Die konkreten Vorschläge - das muss ich leider einfach einmal feststellen - kommen nicht von der Regierung, sie kommen aus dem zuständigen Unterausschuss im Deutschen Bundestag, und zwar fraktionsübergreifend. Ich finde das auch gut. Von der Bundesregierung ist da leider nichts gekommen. ({2}) Da finde ich nur eine leere Stelle.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie denken an Ihre Redezeit?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist notwendig und wichtig, dass wir uns mit der außenpolitischen Strategie Deutschlands in einer multipolaren Welt auseinandersetzen. Aber am Ende der heutigen Debatte möchte ich sagen: Das sollten wir im Parlament tun. Hoffentlich hört die Bundesregierung dann auch auf das Parlament. Vielen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Bulmahn. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/ CSU unser Kollege Karl-Georg Wellmann. Bitte schön, Kollege Wellmann.

Karl Georg Wellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bulmahn, Ihre Rede war bezeichnend: Sie haben kein Konzept, und Sie haben wie Herr Erler nur Fragen gestellt. Aber Sie haben keine Antwort auf die Globalisierungsprobleme in dieser Welt. ({0}) Anders Herr Gehrcke: Er hat auf Basis seines festen Weltbildes und im Geiste des proletarischen Internationalismus eine Antwort gegeben - vorgestrig, aber immerhin. ({1}) - Das wäre eine Alternative, über die wir diskutieren könnten. Wir begrüßen das neue Konzept. Es ist gut, dass es nicht nur unsere Werteordnung, sondern vor allem auch unsere Interessen benennt. Es gibt ein Spannungsfeld zwischen Werten und Interessen. Dieses Spannungsfeld muss aufgelöst werden. Wir müssen allerdings in der Praxis kohärent agieren und dürfen hinsichtlich der Menschenrechtslage schwierige Länder nicht unterschiedlich - abhängig von unseren Handelsinteressen behandeln. Wir können Länder, mit denen uns keine Handelsinteressen verbinden, nicht mit einer Bestrafungsrhetorik und mit Sanktionen belegen, während wir dies bei anderen Ländern nicht tun. Das würde uns unglaubwürdig und unberechenbar machen. Unsere Interessen - lassen Sie mich das noch einmal betonen - sind natürlich auch Handelsinteressen und betreffen auch Handelswege. Deshalb sind wir am Horn von Afrika. Wir wollen die Partner von unseren Werten überzeugen. So steht es im Konzept. Wir sollten unseren Partnerländern deutlich machen, dass es auch ganz handfeste Gründe dafür gibt, diese Werte zu beachten; denn ohne Rechtssicherheit und mit Behördenwillkür und Korruption würde die Entwicklung des so notwendigen freien Unternehmertums in diesen Ländern - ich denke an Russland - erstickt. Der Fall Chodorkowski ist nicht nur deshalb so bemerkenswert, weil hier rechtsstaatliche Grundsätze verletzt werden. Er ist auch deshalb bemerkenswert, weil er für Russland selbstschädigend ist; denn potenzielle Investoren werden von Russland abgehalten. Der Mittelständler aus Deutschland oder der EU, der sich fragt: „Soll ich in Russland mehrere Millionen Euro investieren?“, sagt sich: Auch ich gerate vielleicht eines Tages in die Mühlen dieser Willkürjustiz. - Deshalb geht er nicht nach Russland, und deshalb ist es für Russland selbstschädigend, so zu handeln. Diesen Dialog müssen wir mit unseren Partnern führen. ({2}) Herr Außenminister, ich darf bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass das Konzept richtigerweise die Bedeutung des Austausches mit den Zivilgesellschaften und die Förderung von Stipendien und Besuchsprogrammen erwähnt. Da haben wir im Bereich der Visapolitik noch ein gutes Stück zu tun. ({3}) Wir haben gemeinsam noch einen langen Weg vor uns, bevor wir zu einer echten Willkommenskultur, die wir aus Eigeninteresse bitter nötig haben, kommen. Der Machtverlust des Westens ist erkennbar. Der Außenminister hat es schon gesagt: Als Einzelstaaten haben wir in der globalisierten Welt kaum noch Einfluss und spielen eine untergeordnete Rolle. - Das neue Konzept will eine Antwort darauf geben. Das setzt natürlich eine weitere europäische Integration voraus. Das braucht aber nach meiner Auffassung noch mehr. Damit meine ich die Beziehungen zu Russland. Die Bedeutung Russlands ist uns allen bewusst. Sicherheit kann nicht gegen, sondern nur mit Russland erreicht werden. Das gilt für Drogenbekämpfung, Terrorbekämpfung, für die Frage der Verkehrswege und vieles mehr. Es ist evident, welche Bedeutung die Rohstoffbasis Russland für die westlichen Industrienationen hat. Ich freue mich, Herr Außenminister, dass Sie an dieser Stelle gestern und auch heute sehr klargestellt haben, welche Bedeutung Russland für uns hat. Wenn man das Papier genau liest, wird man erkennen, dass die G-8Länder nicht von diesem Papier erfasst werden. Russland gehört aber zu den G 8. Dieser Sachverhalt sollte bei einer zukünftigen Fortschreibung des Konzepts berücksichtigt werden. Nach der Präsidentenwahl in Russland - ich glaube, niemand erwartet eine Überraschung - sollten wir versuchen, mit Russland in einen neuen strategischen Dialog zu treten und Russland und die EU enger zu verzahnen. Ich denke dabei an eine echte Energiepartnerschaft. Meine ganz persönliche Meinung ist, dass wir im Rahmen einer solchen Partnerschaft nicht primär die Rolle des politischen Oberlehrers spielen, sondern in der Tat mehr auf den Außenminister hören sollten, der die alte Erfahrung vom „Wandel durch Handel“ angeführt hat. Lassen Sie mich zum Schluss, bevor hier die Atommüllfässer rollen, noch etwas zu Amerika sagen. Amerika und wir haben eine echte Wertepartnerschaft. Europa bzw. Westeuropa, Amerika und einige andere Länder repräsentieren das, was wir als Westen bezeichnen. Nach 1945 hätte es ohne Amerika den europäischen Westen vermutlich nicht mehr gegeben. Nun ist viel die Rede von einer pazifischen Orientierung Amerikas. Der Verteidigungsminister - der Staatssekretär ist nicht mehr da - hat in München etwas Kluges gesagt, nämlich: Lassen Sie uns nicht auf die angebliche pazifische Orientierung fixieren; denn es gibt mit Amerika hier bei uns noch viel Gemeinsames zu tun. - Ich finde, die globale Strategie des Konzeptes ist richtig. Es muss aber völlig unstreitig sein, dass die transatlantischen Beziehungen immer eine unverzichtbare Grundlage unserer deutschen Außenpolitik bleiben. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Karl-Georg Wellmann. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8600 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke. Interfraktionell ist vereinbart, über den Entschließungsantrag auf Wunsch der einbringenden Fraktion abweichend von der Geschäftsordnung sofort abzustimmen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist mit der erforderlichen Mehrheit der Fall. Dann verfahren wir so. Wir kommen also jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8624. Wer stimmt dafür? - Das ist die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Das ist die Koalition. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten und des Bündnisses 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- ordnungspunkt 21 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Rückholung des Atommülls aus der Asse be- schleunigen - Drucksache 17/8497 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord- Vizepräsident Eduard Oswald neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Beteiligung der Energiekonzerne an den Kos- ten für das Atommülllager Asse - Drucksachen 17/1599, 17/4487 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Angelika Brunkhorst Dorothée Menzner c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sigmar Gabriel, Ute Vogt, Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rückholung der Atommüllfässer aus der Asse II beschleunigen - Drucksachen 17/8351, 17/8588 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Angelika Brunkhorst Dorothée Menzner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Sylvia Kotting-Uhl. Bitte schön, Frau Kollegin Kotting-Uhl, Sie haben das Wort.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Entsorgungskatastrophe Asse. Ich will nicht noch einmal die Gesamtgeschichte der Asse referieren, obwohl sie ein gutes Lehrbeispiel dafür ist, was man mit mangelnder Sorgfalt und Transparenz bei der Auswahl eines Standortes für die Endlagerung von Atommüll anrichten kann. Im Jahr 2007 habe ich hier zum ersten Mal gefordert, den Atommüll aus der Asse zurückzuholen. Die Zustimmung im Haus war gering. Ein Jahr später wurden die kontaminierten Laugen bekannt. Nach dem Optionenvergleich des inzwischen zuständigen Bundesamtes für Strahlenschutz war klar, dass um der Langzeitsicherheit willen der Müll aus der Asse raus muss. Wer sich mit der Asse beschäftigt hat und weiß, auf welch fahrlässige Weise welche Mengen von Atommüll dort eingelagert wurden, dem ist klar, dass die Rückholung nicht einfach wird. Dass man vor einer solchen Aufgabe auch verzagen kann, ist für mich nachvollziehbar. Ich bin den Verantwortlichen im Bundesamt für Strahlenschutz, im niedersächsischen und im Bundesumweltministerium ausdrücklich dankbar, dass sie sich nach dem Hilferuf aus dem BfS und dem anschließenden Workshop der Fachleute noch einmal klar zur Rückholung des Atommülls bekannt haben. ({0}) Nichts anderes wäre den zukünftigen Generationen rund um die Asse zumutbar. Die Lage erfordert ein klar erkennbares gemeinsames Vorgehen der drei verantwortlichen Häuser BfS, NMU und BMU. Störfeuer im Sinn von besorgten Nachfragen kann hilfreich sein; Störfeuer mit dem Ziel der Verzögerung oder Diskreditierung handelnder Personen kann sich in dieser Situation niemand leisten. Was ist zu tun? Wir brauchen Beschleunigung in der Asse, Beschleunigung bei einem Verfahren, das sowohl dem Bergrecht wie dem Atomrecht genügen muss und das in diesem Szenario ohne Lehrbeispiele ist - Neuland. Es geht darum, ein sich potenzierendes Regelwerk auszudünnen, ohne die Grundschutzstandards zu gefährden weder die Sicherheit der dort arbeitenden Bergleute noch die Langzeitsicherheit. Braucht es beispielsweise in einem Salzbergwerk wirklich einen Hochglanzklinikboden, um jedes beim anstehenden Öffnen einer Kammer eventuell auslaufende Tröpfchen rückstandslos aufwischen zu können? Man kann Sicherheit, die in einem solchen Fall jahrzehntelanger Vernachlässigung niemals zu 100 Prozent erreichbar ist, natürlich ohne Ende zu erhöhen versuchen. Der Preis ist allerdings irgendwann die Aufgabe des höchsten Schutzziels: der Langzeitsicherheit. Der prognostizierte Zeitraum für das Erreichen dieses höchsten Schutzziels, allein machbar durch die Rückholung der 126 000 mehr oder weniger aufgelösten Fässer, umfasst zwei bis fünf Jahrzehnte. Das ist lang, aber nicht unmöglich. Die Stabilität der Grube, die lange als großes Risiko galt, ist nach Einschätzung offenbar aller Fachleute nicht mehr das Problem. Ein spontanes Zusammenbrechen ist schon gar nicht zu befürchten. Die Stabilität des Bergwerks wird durch die seit Jahren durchgeführten Notfallmaßnahmen ständig erhöht. Das eigentliche Damoklesschwert, das seit Jahrzehnten über der Asse schwebt und auch weiterhin dort schweben wird, ist die spontane Zunahme des Wasserzutritts. Da man nicht weiß, woher die seit vielen Jahren gleichbleibenden täglichen 12 Kubikmeter Wasser kommen, kann es keine Prognose geben, ob und wann sich das ändert - vielleicht morgen, vielleicht nie. Auch für diesen Fall werden seit der Zuständigkeit des BfS Notfallmaßnahmen ausgeführt, die die mit Atommüll gefüllten Kammern so gut wie möglich sichern. Diese Notfallmaßnahmen wurden von Anfang an als Gefahrenabwehr betrachtet und entsprechend gesetzlich behandelt. Um der Lage in der Asse gerecht zu werden, müssen jetzt auch die Vorbereitungen zur Rückholung als Gefahrenabwehr betrachtet werden. Ja, auch die Rückholung ist Gefahrenabwehr, nicht nur Stabilisierungsmaßnahmen. ({1}) In der Asse ist der Eintritt der Gefahr im Grundsatz längst realisiert. Die Situation dort bedeutet eine permanente Störung des Rechtszustands. Darüber hinaus braucht der Sonderfall Asse ein eigenes Regelwerk. Ein solches Regelwerk darf die Grundschutzstandards des Atomrechts nicht unterlaufen und das lange unterdrückte Recht der Öffentlichkeit auf Beteiligung nicht beschneiden. Wenn aber selbst die Begleitgruppe Asse, die die betroffene Öffentlichkeit vertritt, eine Lex Asse zur Beschleunigung des Verfahrens fordert, dann ist genau diese Begleitgruppe der richtige Partner, um eine hinreichende Öffentlichkeitsbeteiligung in einem beschleunigten Verfahren zu entwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der SPD, der eine dezidierte Änderung des Atomgesetzes vorschlägt, wurde im Umweltausschuss von der Mehrheit abgelehnt. Wir müssen vielleicht wirklich noch nicht beschließen, mit welchen Worten wir die Lex Asse im Atomgesetz verankern wollen, auch wenn der Vorschlag der SPD klug war, wovon ich mich inzwischen überzeugen konnte. Heute steht der Antrag von uns Grünen zur Beratung an. Wir fordern, der Rückholung des Atommülls durch eine Änderung des Atomgesetzes eine höhere Priorität beizumessen und bis zur Gültigkeit dieser Änderung alle Maßnahmen zur Rückholung nach Gefahrenabwehr gemäß Atomrecht vorzunehmen. Wir müssen uns auch nicht auf den Wortlaut dieses Antrags einigen. Aber ich appelliere an Sie alle, dass wir uns auf dieser Grundlage fraktionsübergreifend verständigen. ({2}) Es wäre die angemessene Art, mit einem falsch ausgewählten und fatal gescheiterten Endlager umzugehen. Sie alle wissen: Derzeit wird ein Endlagersuchgesetz erarbeitet. Wir wollen eine vergleichende Endlagersuche mit dem Ziel auf den Weg bringen, den bestgeeigneten Standort in Deutschland für die Endlagerung hochradioaktiven Mülls für die nächste Million Jahre zu finden. Das ist eine Aufgabe, die, wenn sie tragfähig sein und Regierungswechsel überstehen soll, nur im Konsens gelöst werden kann, weshalb man bei der Entwicklung des Gesetzes auf alle Besorgnisse achten muss. Lassen Sie uns mit der Erarbeitung der Lex Asse ein Zeichen setzen, dass wir zum Konsens in Endlagerfragen fähig sind. Es wäre ein Vertrauen schaffendes Zeichen. Ich danke Ihnen. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Sylvia Kotting-Uhl. Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die außerordentlich problematische Lage im Endlager Asse wird heute von niemandem mehr infrage gestellt. In den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts sind 126 000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktivem Müll in das ehemalige Salzbergwerk eingelagert worden, ohne dass heute sicher bekannt wäre, welche Nuklide in welchen Mengen verbracht wurden. Zum Teil geschah das mit der sogenannten Versturztechnik, die dazu geführt hat, dass die Fässer beschädigt wurden und sich deren Inhalt mit Salzgrus vermischt hat. Aus heutiger Sicht ist das jenseits jeglichen angemessenen Umgangs mit atomaren Abfällen. Zur damaligen Zeit war es ein Schritt in die richtige Richtung; denn damals war es der Stand des Verfahrens, atomare Abfälle im Meer zu versenken. Über viele Jahre hinweg haben verschiedene Bundesund Landesregierungen die Problematik in der Asse nicht wahrhaben wollen. Das hat das Vertrauen der Menschen vor Ort in Politik und Wissenschaft in hohem Maße gestört. Politische Schuldzuweisungen sind deshalb nicht angebracht. Der sachliche Ton in der Sitzung des Umweltausschusses am vergangenen Mittwoch war sehr wohltuend. Ich erhoffe mir diesen Ton auch für die heutige Debatte. In der vergangenen Legislaturperiode hat der Bundestag die Verantwortung für die Asse auf das BfS bzw. damit auch auf das BMU übertragen. Eine Asse-Begleitgruppe und ein Koordinationskreis sind eingerichtet worden. Das BMU hat die Sanierung der Asse ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Die Staatssekretärin ist regelmäßig vor Ort, um mit der betroffenen Bevölkerung einen vernünftigen Weg zu suchen. 2009 hat das BfS die Ergebnisse des sogenannten Optionenvergleichs Asse vorgelegt, der gezeigt hat, dass die einzige Möglichkeit des Nachweises der Langzeitsicherheit tatsächlich die Rückholung der Abfälle ist. Ein Gutachten von DMT und TÜV Nord hat damals besagt, dass die reine Rückholung acht Jahre dauern würde und man mit dem Ganzen bis zum Jahre 2020 oder 2025 fertig sei. Dann hat ein Sachstandsbericht der zuständigen Abteilung des BfS aufgeschreckt, der angesichts der in bergrechtlicher und atomrechtlicher Hinsicht problematischen Situation Zweifel an der Realisierbarkeit der Planungen ausgedrückt hat. Deshalb gab es im Januar den Workshop, den Frau Kollegin Kotting-Uhl eben schon angesprochen hat. Da haben 100 Expertinnen und Experten darüber gesprochen. Den Bericht, den das BfS dann erstellt hat, hat die Entsorgungskommission hinsichtlich der Möglichkeiten der Beschleunigung der Realisierung der Rückholung ohne Abstriche bei der Sicherheit sowie der Beschleunigung der Realisierung der Planung bzw. Durchführung von Notfall- und Vorsorgemaßnahmen bewertet. BfS und BMU haben dies am vergangenen Mittwoch im Umweltausschuss umfangreich vorgetragen. Diese Ergebnisse - so bin ich überzeugt - bieten nun ein realistischeres Bild für dieses weltweit beispiellose Vorhaben, ein Endlager zu räumen. Die gute Nachricht ist: Das Bergwerk ist nicht akut einsturzgefährdet. Aber es besteht jederzeit das Risiko eines unkontrollierten Laugeneinbruchs. Die Zeitdauer der Rückholung war viel zu optimistisch geschätzt: Es wird mehrere Jahrzehnte dauern, vermutlich 35 bis 40 Jahre. Weil es noch so lange dauert, ist es jetzt notwendig, die Notfall- und Vorsorgemaßnahmen zu forcieren. Nach Einschätzung der ESK und des BfS stehen die Notfallmaßnahmen erst ab 2016, die Vorsorgemaßnahmen erst ab 2019 vollständig zur Verfügung. Das muss aber jetzt forciert werden. Außerdem muss das Bergwerk, bei dem man eigentlich vorhatte, es bis zum Jahr 2015 aufzugeben, umfangreich saniert und modernisiert werden: Die Schächte müssen modernisiert und saniert werden. Es muss ein neuer Schacht gebaut werden, um die Rückholung überhaupt zu ermöglichen. Es muss neue Infrastrukturräume geben; alte müssen aufgegeben werden, weil der Berg dort drückt bzw. weil sie verfüllt werden müssen; denn die Stabilisierung des Berges steht im Vordergrund. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der technische Ablauf der Sanierung gliedert sich in drei, eigentlich in fünf Schritte: die Bergung der Abfälle, der Transport der Abfälle, die Pufferlagerung und Konditionierung, später die Zwischenlagerung, anschließend die Endlagerung. Es handelt sich also tatsächlich um ein riesiges Projekt; ich glaube, das steht außer Frage. Die ESK führt aus, dass es bislang für keinen dieser Schritte eine antragsfähige Planung gebe. Die Planung ist im Moment die vordringliche Aufgabe des BfS. Doch zunächst ist eine Faktenerhebung notwendig, das heißt das Anbohren von ausgewählten Einlagerungskammern sowie deren Öffnung und testweise Bergung, einfach um zu wissen, womit man eigentlich umgeht. Den Gesprächen, die wir als Ausschuss bei unserem Besuch im September in der Asse, aber auch am vergangenen Montag gemeinsam mit der Staatssekretärin und der Frau Kollegin Brunkhorst mit Anwohnerinnen und Anwohnern geführt haben, ist zu entnehmen: Die Menschen sind ungeduldig. Sie wollen, dass endlich etwas passiert, sie wollen, dass es endlich Fortschritte gibt, und sie haben Sorge, dass das Verfahren verzögert werden könnte. Das BfS konnte diese Bedenken ausweislich des Berichtes der ESK aber nicht bestätigen. Auch Präsident König hat am Mittwoch im Umweltausschuss bestätigt, dass die Genehmigung, gemessen am Umfang des Projektes, auch durch das niedersächsische Umweltministerium zügig erfolgt sei. Dennoch begrüße ich für meine Fraktion ausdrücklich, dass auf Initiative des BMU ab sofort zu einer regelmäßigen Gesprächsrunde eingeladen werden soll, der der Landrat des Landkreises Wolfenbüttel, die beiden Staatssekretärinnen aus BMU und NMU sowie der Präsident des BfS angehören sollen, um Reibungsverluste zwischen den beteiligten Institutionen zu vermeiden und pragmatische Entscheidungen auf dem kurzen Dienstweg treffen zu können. Ich freue mich sehr, dass der neue niedersächsische Umweltminister Birkner die Sanierung der Asse ganz oben auf seine politische Agenda gesetzt hat und auch heute bei dieser Debatte das Wort ergreifen wird. ({0}) Bei allem Wunsch nach Beschleunigung gibt es den Konsens unter allen Beteiligten, dass es auf gar keinen Fall Abstriche bei der Sicherheit geben darf, weder für die Anwohner noch für die Mitarbeiter noch für die Umwelt. Dieses darf selbstverständlich auch nicht im Rahmen der Gefahrenabwehr stattfinden. Wir haben im Ausschuss gehört: Auch wenn man das ganze Verfahren im Rahmen der Gefahrenabwehr betreiben würde, wäre fraglich, ob es dadurch tatsächlich zu einer wesentlichen Beschleunigung kommen könnte. Das BfS hat uns immer wieder mitgeteilt, dass es zur Faktenerhebung nötig ist, dass die Kammern geöffnet werden. Das große Risiko ist, dass es gerade in diesem Zeitraum, in dem die Kammern geöffnet worden sind, zu einem unkontrollierbaren Wassereinbruch kommen könnte. Was soll dann geschehen? Wie soll man mit diesem Risiko umgehen? Ehrlich gesagt: Auf diese Fragen habe auch ich keine Antwort. Ich will damit nur deutlich machen, dass es nicht etwa so lange dauert, Lösungen zu finden, weil man etwas verzögern will, sondern weil die Probleme tatsächlich riesengroß sind. Der vorliegende ESK-Bericht spricht diese Fragen mit schonungsloser Offenheit an. Das ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Die ESK rät zudem ganz konkret, für die Beschleunigung des Verfahrens seien die Einrichtung einer leistungsstärkeren Elektroversorgung, die Vereinfachung im Beschaffungswesen durch Verzicht auf umfangreiche Ausschreibungen und zusätzliches Personal erforderlich. Ich bitte insbesondere unsere Haushälter, diese Bitte wohlwollend zu prüfen. Ob allerdings die Änderung von § 57 b des Atomgesetzes, der in der letzten Legislaturperiode unter der Federführung des damaligen Umweltministers Sigmar Gabriel in das Atomgesetz eingefügt wurde, wirklich hilft, ist aus meiner Sicht vor dem Hintergrund der nicht anzutastenden Sicherheitsstandards zumindest fraglich. Zum Schluss möchte ich noch auf den zweiten Antrag der Grünen eingehen, in dem gefordert wird, die Energiekonzerne an der Sanierung der Asse zu beteiligen. Das ist längst umgesetzt. Das stand auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. In der Begründung des Kernbrennstoffsteuergesetzes ist explizit nachzulesen, dass die Einkünfte aus dieser Steuer auch für die Stilllegung verwendet werden sollen. Ich habe den Eindruck, dass sich alle Beteiligten der riesigen Dimension dieses Projektes bewusst sind und die Problematik lösen wollen, und zwar durch Rückholung der Abfälle aus der Asse. Ich sage klar: Endlich! Gut, dass wir so weit sind. Die Menschen in der Region haben einen Anspruch darauf, dass man ihre Sorgen ernst nimmt und so zügig wie nur eben möglich unter Berücksichtigung der Sicherheitsstandards angemessen handelt. Herzlichen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Dr. Matthias Miersch. Bitte schön, Kollege Dr. Miersch. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Flachsbarth, die Fakten, die Sie hier vorgetragen haben, kennen wir alle, sowohl wir hier als auch die Menschen, die von der Asse unmittelbar betroffen sind. Die entscheidende Frage ist doch: Wie verhindern wir die Tatenlosigkeit und die organisierte Unverantwortlichkeit, die wir die letzten zwei Jahre beobachten konnten? ({0}) SPD und Grüne haben Ihnen in ihren Anträgen Vorschläge unterbreitet. In den letzten Wochen haben wir aber in keiner Weise feststellen können, dass man sich dezidiert mit diesen Vorschlägen auseinandersetzt. Es ist symptomatisch, dass der Bundesumweltminister auf einer hinteren Bank Platz genommen hat und dieser Debatte nur indirekt folgt. Er hat es auch in den vergangenen Sitzungen des Umweltausschusses nicht für nötig gehalten, sich bei diesem Thema in irgendeiner Form einzubringen. Ja, er hat es in den Jahren seiner Amtszeit nicht einmal für nötig gehalten, sich die Situation vor Ort anzuschauen. Wenn er einmal in den Schacht eingefahren wäre, hätte er vielleicht eine andere Motivation, dieser Debatte zu folgen. ({1}) Ich glaube, den Menschen ist mit salbungsvollen Worten von uns nicht geholfen. Die Leute vor Ort verlangen von uns, dass wir ein Instrumentarium bereitstellen, das diesen Herausforderungen, die sicherlich einmalig sind, gerecht wird. Lieber Herr Birkner, ich finde, dass das, was Sie angekündigt haben, in die richtige Richtung geht. Sie verlassen damit den unseligen Pfad Ihres Vorgängers, Heinrich Sander, der durch Tatenlosigkeit geglänzt und das Thema Asse immer beiseitegeschoben hat. Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie es ernst meinen. ({2}) Bei unzähligen Besuchen vor Ort, aber auch in den Debatten im Umweltausschuss wurde deutlich, was wir brauchen: ein klares Bekenntnis der Hausspitzen des Bundesumweltministeriums und des niedersächsischen Umweltministeriums. Man darf die Beamten nicht im Regen stehen lassen und ihnen - voller Sorge - Genehmigungsverfahren auferlegen und sie Tausende von Seiten schreiben lassen. Es kann nicht sein, dass monatelang darüber philosophiert wird, welche Fliesen an einer Bohrstelle angebracht werden müssen, mit der man feststellen will, in welchem Zustand die Fässer sind. Diese Beispiele sind mehrere Monate alt, aber es gibt bei dieser Bundesregierung null Bewegung, um endlich den gesetzlichen Rahmen anzupassen. ({3}) Herr Meierhofer, ich glaube, wir kommen so nicht weiter. Sie sagen, dass das, was wir hier vorlegen, nicht weiterführt, aber dabei bleiben Sie stehen; Sie unterbreiten keinen einzigen Gegenvorschlag. Sie unterbreiten keinen einzigen Kompromissvorschlag. Sie machen Folgendes - das ist der Hauptvorwurf, den ich auch dem Bundesumweltminister mache -: In der ersten Sitzung des Umweltausschusses in diesem Jahr ließen Sie Abteilungsleiter Hennenhöfer, den Cheflobbyisten der Atomindustrie a. D., eine Hasstirade auf das Bundesamt für Strahlenschutz halten. Das ist kein Weg, um eine Lösung für die Asse zu finden. Das ist kein Weg der Verantwortungsübernahme. ({4}) Deswegen brauchen wir tatsächlich so etwas wie eine Taskforce. Die Hausspitzen müssen Verantwortung übernehmen. ({5}) - Genau die haben wir, Herr Paul. Diese organisierte Unverantwortlichkeit könnten Sie heute beenden, wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden. ({6}) Was wir brauchen, ist Verantwortungsübernahme und kein Herumlavieren und kein Abschieben von Verantwortlichkeiten. ({7}) Wir sehen, dass das bisherige Genehmigungsrecht nicht den Beschleunigungseffekt hat, den wir brauchen. Auf Gefahrenabwehr kann man bestimmt einiges stützen, liebe Kollegin Flachsbarth, aber das reicht nicht. Deswegen schlagen wir vor, § 57 b des Atomgesetzes zu verändern. Wenn Sie eine Alternative haben, bringen Sie sie ein! Frau Staatssekretärin Reiche hat vor zweieinhalb Wochen im Umweltausschuss gesagt, dass uns in dieser Woche ein dezidierter Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgelegt wird. Was haben wir? Nichts. Wir haben nichts! Das wird der Situation in der Asse nicht gerecht. Insofern: Bitte überlegen Sie noch einmal, ob Sie unsere Anträge hier einfach abbürsten oder endlich in die Pötte kommen wollen. Die Leute in bzw. an der Asse haben es verdient. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Matthias Miersch. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Minister für Umwelt des Landes Niedersachsen, Dr. Stefan Birkner. Bitte schön, Herr Minister Dr. Stefan Birkner. ({0}) Dr. Stefan Birkner, Minister ({1}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als niedersächsischer Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz freue ich mich darüber, hier heute zu diesem Thema sprechen zu können. Die sichere Stilllegung der Schachtanlage Asse II ist aus niedersächsischer Sicht eine der größten Herausforderungen in der Umweltpolitik. Dabei geht es darum, die Folgen von Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit zu beheben und daraus die notwendigen Lehren zu ziehen. Die sichere Stilllegung - ein technisch einmaliges und komplexes Projekt - kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen, und zwar in dieselbe Richtung. Die notwendige Akzeptanz bei den Menschen in der Region wird nur durch Aufrichtigkeit, echte Beteiligungsmöglichkeiten und Transparenz erreicht werden können. ({2}) Der Auftrag des Atomgesetzes ist eindeutig: Die Asse ist unverzüglich stillzulegen. Der für die Stilllegung von Endlagern zuständige Bund war und ist folglich zum unverzüglichen Handeln aufgefordert. Das Bundesamt für Strahlenschutz - wir haben es heute schon gehört - hatte vor zwei Jahren als Ergebnis des sogenannten Optionenvergleichs erklärt, dass die Rückholung der radioaktiven Abfälle gegenüber einer Umlagerung oder Vollverfüllung als anderer Variante als die langfristig sicherste Option für die Stilllegung der Schachtanlage Asse II gilt. Es hatte aber zugleich betont, dass die Durchführbarkeit der Rückholung aufgrund von Unwägbarkeiten zunächst im Rahmen einer sogenannten Faktenerhebung geprüft werden müsse. Um die grundlegende Haltung Niedersachsens vor diesem Hohen Haus zum Ausdruck zu bringen: Die Landesregierung verfolgt das Ziel der Rückholung aller Abfälle aus der Asse. ({3}) Ob und inwieweit dies tatsächlich möglich ist, muss schnellstmöglich geklärt werden. Dabei wird es neben den technischen Fragestellungen insbesondere darauf ankommen, dass die Rückholung für die Bevölkerung wie auch für die Beschäftigten aus radiologischen und anderen sicherheitsrelevanten Gründen vertretbar ist. Die Niedersächsische Landesregierung wird auch weiterhin alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um die Rückholung voranzubringen und die Klärung offener Fragen zu beschleunigen. Wir werden weiterhin in fachlich fundierter Abstimmung mit den zuständigen Bundesbehörden konstruktiv und zielorientiert zusammenarbeiten. Mit dem Betreiberwechsel der Asse hin zum Bundesamt für Strahlenschutz im Jahre 2009 wurde zugleich der hier schon erwähnte sogenannte Asse-Paragraf in das Atomgesetz eingebracht. Seitdem steht die Asse nicht mehr unter Bergrecht, sondern unter Atomrecht und wird somit wie eine kerntechnische Anlage behandelt, also wie ein Kernkraftwerk. Dies war damals die gemeinsam getragene Konsequenz aus den festgestellten Missständen in der Anlage. In den letzten beiden Jahren hat mein Haus, also das niedersächsische Umweltministerium, als zuständige Behörde verschiedene Genehmigungen nach Atom- und Strahlenschutzrecht aufgrund dieser neuen Grundlage für die Asse erteilt. Besonders hinweisen möchte ich dabei auf die Genehmigung für den ersten und wesentlichen Schritt der sogenannten Faktenerhebung. Das hierbei anstehende Anbohren von mit radioaktiven Abfällen gefüllten Kammern, die auch Kernbrennstoffe enthalten können, ist zweifelsohne technisch sehr komplex und daher genehmigungsrechtlich anspruchsvoll. Trotzdem ist es uns gelungen, die Genehmigung in einer Rekordzeit von weniger als einem halben Jahr - was für ein atomrechtliches Verfahren sehr schnell ist - zu erteilen. Dabei haben wir immer im Auge gehabt, dass in der Asse kein neues Endlager gebaut wird, sondern dass es sich um eine bestehende Anlage handelt, die unter ganz anderen Rahmenbedingungen entstanden ist. Aus rechtlicher Sicht sind damit seit der Erteilung der Genehmigung im April 2011 alle Voraussetzungen für das Anbohren der ersten Kammer gegeben. Nichtsdestotrotz bin ich der Überzeugung, dass eine Beschleunigung der Abläufe im Stilllegungsverfahren bezüglich der Asse dringend geboten und auch möglich ist. Die Rückholung wird nicht gelingen, wenn das bisherige Tempo beibehalten wird, ({4}) zumal die Standfestigkeit des Grubengebäudes und insbesondere die hier bereits genannte Gefahr eines unkontrollierten Laugenzuflusses zeitlich begrenzende Faktoren sind. Aus diesem Grund müssen wir alle Beschleunigungsmöglichkeiten konsequent nutzen. Bezüglich der Faktenerhebung ist die Arbeit bei uns zunächst einmal getan. Wir haben, wie bereits gesagt, die genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen. Alles Weitere liegt nun beim Betreiber der Asse, wobei wir aus niedersächsischer Sicht deutlich machen - wir verstehen uns selbstverständlich als Anwalt der Menschen in der Region -, dass wir nun endlich Taten Minister Dr. Stefan Birkner ({5}) sehen wollen, dass es mit der Faktenerhebung vorangehen muss. Es gibt neben den Genehmigungsverfahren, die möglichst zu beschleunigen sind, weitere Aspekte, bei denen eine Beschleunigung möglich ist. Wir haben als Niedersächsische Landesregierung ein spezielles „Asse-Gesetz“ vorgeschlagen, um auch in materiell-rechtlicher Hinsicht Beschleunigungen zu bewirken. Im Atomgesetz sollte zum Beispiel klargestellt werden, dass die Rückholung der Fässer von der atomrechtlichen Planfeststellungspflicht ausgenommen wird. Damit würde sichergestellt, dass das notwendige Abteufen eines Schachtes und die Einrichtung von Infrastrukturbereichen bergrechtlich genehmigt werden können und nicht ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren durchlaufen müssen. Außerdem müssen wir Voraussetzungen schaffen, dass bereits vor Genehmigungserteilung mit der Ausführung der genehmigungsbedürftigen Maßnahmen begonnen werden kann, wenn mit einer Entscheidung zugunsten des Antragstellers zu rechnen ist. Damit würden wir eine Parallelisierung von Genehmigungsverfahren und Ausführung erreichen. ({6}) Auch die Ausschreibungsbedürftigkeit und die Ausschreibungsfristen müssen unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung hinterfragt werden. Schließlich ist zu klären, ob und inwieweit es unter Wahrung des Schutzes der Bevölkerung und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über und unter Tage - das ist selbstverständlich - vertretbar ist, auf Anforderungen des Atomrechts, die für Kernkraftwerke gelten, aber in der Asse möglicherweise nicht notwendig sind, zu verzichten. Es ist erforderlich, dass die Politik hier Verantwortung übernimmt und diese nicht auf die Verwaltung verlagert. Deshalb wollen wir erreichen, dass eine entsprechende gesetzliche Änderung vorgenommen wird. Ich danke Herrn Bundesminister Dr. Röttgen ausdrücklich dafür, dass er unsere Anregung aufgenommen hat, eine Lenkungsgruppe auf Leitungsebene einzurichten, was konkret zu einer Beschleunigung führen kann, indem Abstimmungsprobleme gelöst werden und im Hause deutlich gemacht wird, dass dieses Thema hohe Priorität hat und man hier vorankommen muss. Lassen Sie mich noch kurz etwas zu der Forderung sagen, in der Asse nach Gefahrenabwehrrecht vorzugehen. Wir glauben nicht, dass so eine entscheidende Beschleunigung erreicht werden kann; denn auch im Gefahrenabwehrrecht müssen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen eingehalten werden. Auch hier sind die entsprechenden Unterlagen vorzulegen und die entsprechenden Gutachten und Prüfungen vorzunehmen. Deshalb denken wir, dass dies nicht der richtige Weg ist, um Beschleunigung zu erreichen. Die Landesregierung vertritt die Interessen der Menschen in der Region. Wir wollen, dass die Abfälle aus der Asse herauskommen. Wir werden alles daransetzen, schnellstmöglich Klarheit darüber zu erlangen, ob und inwieweit dies tatsächlich möglich ist. Wir erwarten aber auch, dass auch alle anderen Beteiligten alles daransetzen, diese Klärung herbeizuführen und alle Beschleunigungspotenziale konsequent zu nutzen. Bei allen Schritten, die wir gehen, ist es unabdingbar, ein Höchstmaß an Transparenz und Beteiligung sicherzustellen. Nur so kann vor Ort das notwendige Vertrauen in Politik und Verwaltung wiederhergestellt werden. Hierbei kommt der Asse-II-Begleitgruppe unter der Leitung des Landrates Herrn Röhmann große Bedeutung zu, gerade wenn es um die Abwägung zwischen Beschleunigung und öffentlicher Beteiligung geht. Von diesem Prozess können wir, wie ich meine, auch für das Endlagersuchgesetz lernen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Ich habe das Geschenk, das ich im Umweltausschuss dabei hatte, auch jetzt mitgebracht. Dieses Geschenk haben uns Bürgerinitiativen im September letzten Jahres, als wir bei der Asse waren, gegeben. Es handelt sich um Asse-Wasser; dies ist natürlich nur symbolisch. Ich lese Ihnen einmal vor, was auf der Wasserflasche steht: Strahlendes Wasser aus der Region für die Region. Nach Flutung des Atommülllagers Asse II bald auch in Ihren Gewässern. Inhalt: Radioaktivität aus Kernkraftwerksanlagen von Eon, RWE, EnBW und Vattenfall 67 Prozent, aus Kernforschung 23 Prozent, aus kerntechnischer Industrie 8 Prozent, sonstiger Strahlungsmüll 2 Prozent. ({0}) Dies zeigt, welche Probleme die Menschen vor Ort haben und welche Ängste sie plagen. ({1}) In der Asse lagern 126 000 Fässer Atommüll, davon 1 293 Fässer mittelradioaktiver Müll - er stammt größtenteils aus der Wiederaufarbeitung in Karlsruhe - mit insgesamt 28 Kilo Plutonium, 102 Tonnen Uran, 87 Tonnen Thorium und circa 500 Kilo Arsen, nicht zu vergessen die Leichenteile der zwei Mitarbeiter, die damals bei dem Unfall in Gundremmingen gestorben sind. Hinzu kommen 14 000 undeklarierte Fässer. Der Müll stammt zum Teil aus illegaler Einlagerung durch die AKW-Betreiber. Was heißt das für uns? Natürlich müssen wir handeln; das haben wir gehört. Aber ich sage es noch einmal: Atomkraft ist nicht beherrschbar. Dieser Müll wird kommenden Generationen vor die Füße fallen, und natürlich haben sie auch die Kosten zu tragen. Spätestens seit 1993, also seit fast 20 Jahren, ist bekannt, dass es in der Asse zu Gebirgsbewegungen und Laugenzuflüssen kommt. Ich wiederhole: seit fast 20 Jahren! Erst 2008 wurde dem Helmholtz-Zentrum die Zuständigkeit entzogen, und es wurde durch das BfS ersetzt. Jetzt findet ein Optionenvergleich statt: Vollverfüllung und alle Fässer in der Asse belassen oder Rückholung. Die Mehrheit ist für eine Rückholung. Die Menschen vor Ort wünschen sich eine Rückholung; sie sehen keine andere Chance. Sie sagen uns aber auch - am Montag waren die Bürgerinitiativen hier in Berlin -, dass sie zurzeit den Eindruck haben, dass die Arbeiten zur Grubensicherung und zur Vorbereitung auf Notfallmaßnahmen - dass das Ganze also geflutet wird - Priorität haben. Es ist Ihre Aufgabe, ihnen zu sagen: Nein, dem ist nicht so. - Wenn man sich den Bundeshaushalt anschaut, dann stellt man fest, dass der größte Teil der Mittel für die Notfallvorsorge und nicht für die Vorbereitung auf die Rückholung zur Verfügung gestellt wird. Daran müssen Sie natürlich etwas ändern, wenn Sie Vertrauen schaffen wollen. ({2}) Wir brauchen hier eine Chefsache, die da heißt: Mission Rückholung und Vertrauen schaffen. Wir brauchen eine Chefsache von Umweltminister Röttgen, aber auch von Frau Merkel. ({3}) - Der Chef spricht gerade. Er hört nicht zu. ({4}) Die Menschen vor Ort haben das Gefühl, dass es zu Verzögerungen kommt. Man glaubt, dass diese Verzögerungen entstehen, weil es kein konkretes Konzept für die Rückholung gibt. Sie sagen uns, Mitarbeiter in den zuständigen Ministerien nutzten den Dienstweg bei Anfragen und Genehmigungsverfahren in der ganzen zeitlichen Länge aus, weil sich keiner aus dem Fenster lehnen will. Hinzu kommt, dass die Landessammelstelle in Niedersachsen das Wasser aus der Asse nicht mehr annimmt, wie wir am Mittwoch im Umweltausschuss gehört haben. So viel zum Thema Verantwortung. Es gibt also viele verschiedene Aspekte. Wir brauchen ein Asse-Begleitgesetz; den entsprechenden Anträgen werden wir zustimmen. Wir brauchen eine Lex Asse. Die Asse ist ein Sonderfall. Hier müssen wir neu lernen. Wir sind der Meinung, dass dieses Thema atomrechtlich behandelt werden sollte. Es gibt viele Forderungen kluger Menschen vor Ort. So hat zum Beispiel die Asse-Begleitgruppe deutlich gemacht: Dieses Thema muss ganz oben auf die Tagesordnung. Die Schutzziele im Hinblick auf Bevölkerung und Mitarbeiter dürfen nicht abgesenkt werden. Wir brauchen eine Personalaufstockung, weil Strahlung vorhanden ist und die Menschen nicht so lange in der Asse bleiben dürfen. Eine Aufstockung kostet natürlich Geld. Darüber hinaus muss es sich um vernünftige Arbeitsplätze handeln. Es dürfen keine Leiharbeiter eingesetzt werden. Natürlich brauchen wir auch ein Projektmanagement. Das ist in den Amtsstuben vielleicht noch nicht ganz durchgedrungen; aber ich denke, hier kann man von der Industrie lernen. Außerdem brauchen wir Rechtssicherheit für die Mitarbeiter, wenn es um die Nutzung von Ermessensspielräumen geht; hier ist die Situation nicht ganz klar. Ich sage Ihnen, was die Bürgerinitiativen fordern. Bewusste Verzögerungen bei der Rückholung sollen zum strafrechtlich relevanten Tatbestand der Unterlassung erklärt werden. Den Bürgerinitiativen ist es also wirklich sehr ernst. Sie fordern auch, unverzüglich Bergtechnik anzuschaffen. Gibt es ein Problem mit der Ausschreibung, wird es, wie ich denke, einige Möglichkeiten geben, es zu lösen. Ich denke, vor uns liegen große Aufgaben. In der Asse lagern 100 000 Kubikmeter eingelagerter Stoffe. Wir wissen nicht, in welchem Zustand sie sich befinden. Ich nenne Ihnen zum Vergleich eine Zahl: Wenn alle AKW abgeschaltet sind, werden es - und zwar die ganzen Fässer, der ganze Atommüll, der ganze Schrott 280 000 Kubikmeter sein. Große Aufgaben kommen auf uns zu. Die Menschen vor Ort erwarten, dass wir sie lösen. Diese Erwartung sollten wir alle erfüllen. Dabei sind in erster Linie Sie von der Koalition gefragt - Chefsache. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser. ({0})

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eines vorausschicken, weil es ein Stück weit Irritationen und Diskussionen gegeben hat, auch nach dem Vermerk des Bundesamts für Strahlenschutz: Für uns - das ist die Haltung des Bundesumweltministers - hat die Rückholung der radioaktiven Abfälle aus der Asse oberste Priorität. Wir haben uns dazu mehrfach positioniert. Ich sage das hier noch einmal klipp und klar im Deutschen Bundestag. ({0}) Aber so einfach, wie sich das anhört, ist die Sache eben nicht. Die Wege, wie wir das bewerkstelligen können, müssen sehr sorgfältig ausgelotet werden. Ich glaube, über eines sind wir uns hier auch einig, nämlich dass es keinerlei Abstriche an den materiellen Anforderungen des Strahlenschutzes und der Arbeitssicherheit geben darf. Das haben alle Rednerinnen und Redner vor mir deutlich gesagt. Vorrangig geht es jetzt um drei Dinge. Es geht zum Ersten darum, die Grube selbst zu sichern, damit wir zum Zweiten die Faktenerhebung weiter durchführen und sehen können, was sich tatsächlich hinter den Kammern - wir haben zwei Kammern ausgewählt - verbirgt, und es geht zum Dritten darum, die Rückholung vorzubereiten. Dazu gehört - ich komme gleich darauf zu sprechen -, beispielsweise den Schacht 5 zu bauen oder ein Zwischenlager zu planen, was heute Nachmittag in der Asse-Begleitgruppe besprochen wird. Erst dann kann endgültig gesagt werden, wie wir das alles managen werden. Die Stabilitätsprobleme des alten Grubengebäudes, eingeschränkte Betriebsmöglichkeiten, die Vielzahl der technischen Herausforderungen und die ständige Gefahr - Frau Kotting-Uhl und Maria Flachsbarth hatten schon darauf hingewiesen - eines unbeherrschbaren Laugenzutritts sind wesentliche Gründe für die aktuellen Verzögerungen, die wir zu benennen haben. Im Augenblick ist es nicht so, dass uns die rechtliche Situation behindert hätte. Wir haben in einem relativ zügigen Verfahren unter Beteiligung des Bundesamtes für Strahlenschutz und des Landes Niedersachsen die Genehmigung für den ersten Schritt erreicht, die Faktenerhebung. Es sind aber Auflagen erteilt worden - die eine oder andere ist schon aufgezählt worden -, die im praktischen Prozess sehr schwer zu erfüllen sind. Weil sie so schwer zu erfüllen sind, bedeutet das in der Tat, dass wir für die weiteren Schritte der Faktenerhebung, aber auch für die Rückholung darauf hinwirken müssen, dass wir noch andere Instrumente, rechtliche Instrumente, an die Hand bekommen, mit denen wir diese Probleme lösen können. Vielleicht ist es eine Lösung, die Rückholung nicht an eine Planfeststellung zu binden. Einen solchen Passus können wir in das Atomgesetz einfügen, um ein schnelleres Verfahren zu gewährleisten. Das ist ein Vorschlag, den wir unterbreiten werden. Ich gebe dabei aber zwei Dinge zu bedenken und komme damit zu einem Vorschlag, den die Grünen in ihrem Antrag formuliert haben. Es handelt sich um die Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir sind uns, glaube ich, alle darüber einig, dass wir exzellente Erfahrungen mit der Asse-Begleitgruppe gemacht haben und dass wir die Öffentlichkeit auch weiter so intensiv bei allen Schritten beteiligen wollen, wie wir es bisher getan haben. Der zweite Punkt, der eine Rolle spielt, ist - das habe ich vorhin schon gesagt -, dass es nicht zu einer Absenkung der Standards kommen darf. Das klingt ein bisschen, wenn ich es salopp ausdrücken darf, wie die Quadratur des Kreises. Wir werden auch noch sehr viel Arbeit darauf verwenden müssen, dies rechtlich so zu fassen, dass alles abgewickelt werden kann. Wir wollen mit dem niedersächsischen Umweltministerium und mit dem Bundesamt für Strahlenschutz sowie - das sage ich explizit - mit allen Fraktionen besprechen, wie wir das Problem rechtlich lösen können. Das habe ich auch im Ausschuss angekündigt. Sie haben uns in Ihren Anträgen schon Hinweise gegeben. Dabei möchte ich Folgendes zu der Forderung zu bedenken geben, die in Ihrem Antrag, Frau Kotting-Uhl, steht, nämlich alle Arbeiten und Maßnahmen zur Rückholung durch Gefahrenabwehr gemäß dem Atomrecht vorzunehmen: Das kann man machen; aber wir müssen natürlich sehen, dass dann ein Mitspieler außen vor wäre, nämlich das niedersächsische Umweltministerium, das wir hier gerne mit im Boot hätten, weil es als oberste Aufsichtsbehörde über viel mehr praktische Expertise verfügt als wir und eher sagen kann, ob der eingeschlagene Weg richtig ist oder nicht. Ein weiterer Punkt bei der Gefahrenabwehr - das wissen wir alle; ich habe es vorhin schon gesagt - ist die öffentliche Beteiligung. Das alles kann man natürlich über ein Sondergesetz Asse regeln, und das werden wir auch tun. Darüber hinaus müssen wir die Planungen für die Rückholung schnell vorantreiben; da haben Sie recht. Wir stehen kurz vor dem ersten Schritt der Faktenerhebung, nämlich der Anbohrung der Kammern. Wir brauchen aber auch die Schritte zwei und drei. Das heißt, wir müssen die Kammern öffnen und exemplarisch Abfall herausholen, um festlegen zu können, mit welchem Verfahren wir die Rückholung bewerkstelligen. Das sind im Übrigen Schritte, für die nach Aussage des Bundesamtes für Strahlenschutz - das kann man hier offen sagen -, das jetzige Rechtsregime nicht ausreicht. Wir brauchen für diese beiden Schritte vermutlich eine entsprechende Änderung der Gesetze, die wir jetzt erarbeiten werden. So viel vielleicht noch kurz zur Technik: Die Rückholung der Abfälle unter alleiniger Nutzung der vorhandenen Bergwerksanlagen ist schlicht nicht möglich. Der Schacht ist über 100 Jahre alt; wir benötigen einen neuen Schacht. Diesen Schacht - das ist eine Überlegung könnten wir nach Bergrecht bauen; wir könnten damit zumindest auf der Grundlage des Bergrechts beginnen. Bis zur Rückholung dauert es ohnehin noch eine gewisse Zeit. Ich glaube, das ist ein Vorschlag, Herr Dr. Birkner, der aus Niedersachsen gekommen ist. Wenn wir uns darauf einigen können, dann glaube ich, dass wir einen großen Schritt weiterkommen. Als zuständiger Abgeordneter weiß Herr Gabriel, dass die eigentliche Herausforderung noch vor ihm steht, nämlich der Bau eines großen Zwischenlagers in der Region, das mehrere Fußballfelder groß sein wird. Wir brauchen dort eine große Konditionierungsanlage, weil wir unter Tage nicht in der Lage sind, den Abfall zu konditionieren; wir wissen auch nicht, in welchem Zustand er ist und ob er überhaupt noch in den Fässern ist. Wir sind zurzeit dabei, dieses Zwischenlager zu planen. Wenn ich richtig informiert bin, werden heute Nachmittag die ersten Vorstellungen veröffentlicht und in der Asse-Begleitgruppe diskutiert. Darüber hinaus benötigen wir - auch das dürfen wir nicht unterschätzen - Stabilisierungsmaßnahmen. Wir können keinen Mitarbeiter hinunterschicken, um Abfälle herauszuholen, ohne Stabilisierungsmaßnahmen, Vorsorgemaßnahmen und Notfallmaßnahmen getroffen zu haben. Ich bitte alle darum, für diese Maßnahmen zu werben, um eine gute und sichere Rückholung vorzubereiten. In diesem Sinne lade ich Sie zu weiteren Diskussionen ein. In der nächsten Sitzungswoche werden wir die Gesetzesvorschläge mit Ihnen besprechen. Heute Nachmittag werden wir in der Begleitgruppe Asse über Gesetzesvorschläge diskutieren. Ich hoffe, dass wir die Asse nicht zum Gegenstand einer parteipolitischen Auseinandersetzung machen, sondern alle gemeinsam daran arbeiten, dieses Problem, das wir sonst nirgendwo in Deutschland haben, zu lösen. Danke schön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. ({0})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Heinen-Esser, machen Sie sich keine Sorgen, was meine Fähigkeiten angeht, solche Zwischenlager zu genehmigen. Ich habe das bislang einzige Endlager in Deutschland im eigenen Wahlkreis genehmigt. Eine Herausforderung wird es übrigens sein, den Menschen zu erklären, dass nach der Zwischenlagerung die Wahrscheinlichkeit relativ hoch ist, dass schwach- und mittelradioaktiver Abfall in Richtung Konrad transportiert wird. Ich sage das seit Monaten, auch im Wahlkampf. Machen Sie sich also um meine Fähigkeiten keine Sorgen. Ich habe mir bis zur heutigen Debatte zugegebenermaßen eher ein bisschen Sorgen darüber gemacht, ob eigentlich die notwendige politische Führung für die Bewältigung des Problems vorhanden ist. Ich glaube aber, dass die Debatte der letzten Wochen und auch die heutige Debatte optimistisch stimmen können; denn das, was wir in den letzten zwei Jahren erleben mussten, scheint sich jetzt ein bisschen aufzulösen. Herr Birkner, zwei Jahre lang geschah in Niedersachsen das Gegenteil dessen, was Sie jetzt tun. Zwei Jahre lang hat Ihr Amtsvorgänger alles getan, um die Rückholung zu verhindern. Er hat auch öffentlich erklärt, dass er die Rückholung für falsch hält. So hat er sich auch verhalten. Entsprechend sind die Genehmigungsverfahren in Niedersachsen betrieben worden. Ich bin froh darüber, dass Sie direkt nach Ihrem Amtsantritt eine 180-Grad-Wende vollzogen haben. Das war auch dringend erforderlich. Aber zwei Jahre lang ist Niedersachsen der große Bremser bei der Rückholung gewesen. ({0}) Mein Eindruck ist, dass der öffentliche Druck in den letzten Wochen dazu geführt hat, dass auch im Hause von Herrn Röttgen klar ist, dass nicht Herr Hennenhöfer die Politik bestimmt. ({1}) Die vorletzte Umweltausschusssitzung verlief nicht ganz so freundlich; ich glaube, Frau Flachsbarth hat das so ausgedrückt. Es ist natürlich auch klar, dass sich jemand, der in seiner ganzen beruflichen Existenz damit zu tun hatte, das Abkippen von Atommüll in der Asse zu rechtfertigen, schwer damit tut, am Ende dafür zu sorgen, dass das Zeug wieder rausgeholt wird - obwohl das, ehrlich gesagt, eine gelungene Form des Täter-Opfer-Ausgleichs ist. ({2}) Dass Sie jetzt tun, was in der Region seit über einem Jahr gefordert wird, begrüße ich ausdrücklich. Seit über einem Jahr sagen wir in der Region: Sie müssen eine Taskforce einsetzen, mindestens auf Staatssekretärebene, wenn nötig auf Ministerebene. Das ist jetzt endlich passiert. Sie nennen das Lenkungsgruppe; es ist egal, wie man das nennt. Bei der Asse passiert nämlich Folgendes - und das ist ganz menschlich -: Keine der Lösungen, die wir debattieren - da hat Frau Heinen-Esser völlig recht -, ist risikolos. Nichts, was wir da in Gang setzen, beinhaltet kein Risiko. Daher besteht natürlich die Gefahr, dass, wenn die Öffentlichkeit einmal nicht so genau hinschaut, die Beteiligten versuchen, die Risiken hin- und herzuschieben. Genau das ist in den letzten zwei Jahren passiert. Die Menschen in der Region sind entsetzt und zornig, nicht nur über das, was die Atomwirtschaft dort gemacht hat, sondern auch über das Zuschauen des Staates; denn er hat 40 Jahre lang nichts gemacht. Das hat dazu geführt, dass die Menschen dieser Region in dieser Frage sehr geringes Vertrauen in staatliches Handeln haben. In den letzten Jahren der Großen Koalition haben wir viel dafür getan, wieder Vertrauen aufzubauen, indem wir die Asse dem Atomrecht unterworfen haben, indem das Schutzniveau an den Strahlenschutz im Atomrecht angepasst wurde, indem Transparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung hergestellt wurden. Dann ist das Engagement zwei Jahre lang abgesackt, ausdrücklich nicht wegen mangelnden Engagements von Ihnen, Frau HeinenEsser. Es ist in der Region bekannt, dass Sie sich kümmern. Aber bei den zu lösenden Problemen hat immer einer auf den anderen gezeigt: der Bund und das BfS auf das Land Niedersachsen und Niedersachsen auf das BfS. So ging das hin und her. Ich muss Ihnen offen sagen: Wenn Sie Jurist sind, könnte es sein, dass Sie eine Begründung dafür finden, warum es innerhalb von zwei Jahren nicht möglich war, 20 oder 30 Container mit kontaminierter Lauge aus der Asse zu holen. Das kann nur ein Jurist erklären. ({3}) Jeder mit normalem Menschenverstand sagt: Wenn Ihr vorhabt, 126 000 Fässer radioaktiven Müll aus dem Bergwerk zu holen, und noch nicht einmal in der Lage seid, ein paar Container kontaminiertes Laugenwasser herauszubringen, dann hört doch mit dieser öffentlichen Debatte über den radioaktiven Müll auf. Dieser Eindruck ist dort entstanden. Dieses Schwarze-Peter-Spiel kann man nur durch eine einzige Maßnahme beenden: indem man politische Verantwortung für Entscheidungen übernimmt, weil die Beamtinnen und Beamten das von sich heraus nur begrenzt tun werden. Sie brauchen eine politische Führung. Deswegen ist dieser Lenkungsausschuss bzw. diese Taskforce genau das Richtige. Dort muss entschieden werden, und im Zweifel muss abgestuft entschieden werden. Deswegen schlage ich vor: Lassen Sie uns doch nicht über die Frage reden, was wir brauchen, eine Lex Asse oder ein Gefahrenabwehrrecht, oder darüber, dass alles so bleiben soll! Wir sollten uns vielmehr mit der Frage befassen, welches Problem mit welchem Instrument am besten behoben werden kann. ({4}) Wenn Sie dem zustimmen, Frau Heinen-Esser, dann muss ich Ihnen allerdings Folgendes sagen: Das Bundesamt für Strahlenschutz hat Ihnen am 4. August 2010 empfohlen, bei der Faktenerhebung, die Herr Birkner eingeführt hat, nach dem Gefahrenabwehrrecht vorzugehen, damit Sie die Maßnahmen durchführen können und alle Auflagen erst im Anschluss erfüllen müssen. Das haben Sie mit Erlass des Bundesumweltministeriums von Anfang Oktober 2010 abgelehnt. Jetzt hat Ihr beamteter Staatssekretär nachgefragt, ob das Bundesamt für Strahlenschutz immer noch der gleichen Meinung sei. Überraschenderweise ist das der Fall. Das Bundesamt hat Ihnen vorgeschlagen, Ihre Ablehnung der Anwendung des Gefahrenabwehrrechts aus dem Jahr 2010 im Bundesumweltministerium neu zu bewerten. Meine herzliche Bitte ist: Tun Sie das! ({5}) Hier wird der Eindruck erweckt, die Faktenerhebung sei in vollem Gange. Nein, meine Damen und Herren, die Faktenerhebung ist nicht in vollem Gange, weil die Kammern nicht angebohrt werden können. Selbst wenn wir jetzt alles hinbekommen, wird es vermutlich noch ein halbes Jahr dauern, bis es losgehen kann. Lassen Sie uns deshalb lieber nicht zu viele Versprechungen machen. Die Haltung, die Sie damals eingenommen haben, entspringt auch der Angst. Das verstehe ich. Ich habe den Akten des BMU entnehmen können, dass das eine gepflegte Übung des Hauses war, nach dem Motto: Lasst uns jetzt kein Risiko eingehen; wenn wir das Gefahrenabwehrrecht anwenden und dann etwas passiert, bin ich als Minister oder bist du als Staatssekretärin dran. - Das ist doch die Sorge, die dort existiert. Das Problem Asse wird aber ohne die Übernahme einer solchen Verantwortung nicht zu klären sein. Wir werden nicht jedes Risiko ausschalten können, bevor wir loslegen. Dann ist der Berg in der Tat irgendwann instabil, und wir können die 126 Fässer nicht mehr herausholen. Darauf hat Herr Sander immer gesetzt. Er hat darauf gesetzt, dass die Lage irgendwann so instabil ist, dass wir die Abfälle nicht mehr herausholen können. Das wäre dann billiger, allerdings auch deutlich gefährlicher. Ich glaube, dass es jetzt darum gehen muss, zu klären, erstens welche Maßnahmen nach dem Gefahrenabwehrrecht des Atomgesetzes möglich sind und zweitens welche Maßnahmen mit anderen Rechtsformen vorzuschalten sind, die man in das Atomrecht überführen muss, wenn es zur Rückholung kommt. Wenn der fünfte Schacht abgeteuft und der Atommüll herausgeholt werden soll, dann werden Sie es überführen müssen. ({6}) Drittens ist es notwendig - wir sind sofort bereit, darüber zu reden; wir haben selbst einen Vorschlag eingebracht -, § 57 b des Atomgesetzes zu ändern, um zu einer klareren und schnelleren Vollzugsmaßnahme zu kommen. Wir sind sofort dafür, eine solche Lex Asse zu machen. Wenn Sie unseren Gesetzesvorschlag nicht ausreichend finden, ist das kein Problem. Legen Sie selber einen vor; dann beraten wir darüber. Bei der Frage der Formulierung geht es nicht um Parteipolitik, sondern sozusagen um juristische Sicherheit. Übrigens wird die Asse-Begleitgruppe vor Ort selbst einen Gesetzentwurf formulieren. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, sich gründlich damit zu befassen. Wenn er vor Ort klug erarbeitet worden ist, dann kann man ihn auch übernehmen. Der Kollege Röttgen ist zwar anwesend, hat aber bislang offensichtlich nicht die Absicht, zu reden. Ich halte das, ehrlich gesagt, für einen einmaligen Vorgang, dass der zuständige Minister zu dem Problem nichts sagt. ({7}) Wenn er hier sitzt, um etwas zu lernen, dann ist das aber auch okay. Es war schwierig für mich. Ich habe mich zwei Jahre lang gar nicht zu diesem Thema geäußert, weil man als ehemaliger zuständiger Minister nach dem Komment des Hauses üblicherweise nicht feststellt, dass der Nachfolger alles schlechter macht. Ich habe zwei Jahre nichts dazu gesagt. Aber jetzt möchte ich auf etwas hinweisen, das Sie nachdenklich machen sollte. Sie waren noch nie in der Asse, haben nur ein einziges Mal die Asse-Begleitgruppe für eine Stunde besucht und haben sich nie der Öffentlichkeit gestellt. Die Menschen wollen, dass man vor Ort ist und ihnen Rede und Antwort steht. Sie hören seit Jahren solche Sprüche wie „volle Transparenz“ und „Wir ziehen alle an einem Strang“, erleben aber seit zwei Jahren das Gegenteil. Deswegen kommt es zu Aussagen wie der des Bürgermeisters der Stadt Wolfenbüttel, Thomas Pink, dass das Ganze, was er dort erlebt habe, eine Riesensauerei sei. Das Verhalten des Bundesumweltministers sei - so Herr Pink - „unwürdig“ und dessen abwartende Haltung „völlig inakzeptabel“. Herr Pink gehört bekanntermaßen nicht der SPD, sondern der CDU an. Herr Röttgen, ich sage Ihnen: Gar keine Frage, das ist ein schwieriges Thema. Das ist aber das größte nukleare Problem, das wir in diesem Land und vermutlich weit über Deutschland hinaus haben. Als zuständiger Minister müssen Sie Führung zeigen und Verantwortung übernehmen. Das kann niemand anders. Im Zweifel ist man Minister, um existierende Risiken einzugehen. Sonst geht die Glaubwürdigkeit vor Ort verloren, die wir in den letzten Jahren erarbeitet haben. Mein Eindruck ist, dass wir in der heutigen Debatte ein gutes Stück vorangekommen sind. Herr Röttgen, ich habe die dringende Bitte, dass Sie sich als Person dieser Aufgabe annehmen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Angelika Brunkhorst hat nun für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie ist eigentlich die Gefühlslage? Wir sprechen über normalen Menschenverstand und viel über das, was wir wissen und nicht wissen. Wie aber ist die Gefühlslage? Ich denke, alle Beteiligten, die an einer Lösung zur Bergung der Abfälle aus der Asse arbeiten, befinden sich in einem Fadenkreuz aus Hoffen und Bangen und in einem Wettlauf mit der Zeit. Wir haben gerade gehört, dass sich alle Experten inzwischen darin einig sind, dass die Rückholung deutlich länger dauern wird, als bisher angenommen wurde. Ebenso ist klar festzustellen: Die Bergung kann nur über eine neu zu bauende Schachtanlage geschehen. In Bezug auf diesen neuen Schacht sage ich als Sprecherin für Naturschutz: Hier hat der Mensch Vorrang, hier hat die Bevölkerung vor Ort Vorrang. Wenn die Rückholung durch ein FFH-Gebiet gehen muss, weil es nicht anders geht, dann muss das Naturschutzrecht in diesem Fall einmal zurückstehen. Das ist dann so. ({0}) Wir brauchen dringend Möglichkeiten der Beschleunigung; alle Vorredner haben darauf hingewiesen. Es ist zu überprüfen und sehr schnell zu entscheiden, ob dies zum Beispiel durch die Konkretisierung bei Vergabeverfahren, durch eine parallele Bewerkstelligung von Aufgaben, wie es teilweise schon geschieht, oder - wie vom niedersächsischen Umweltminister, Herrn Dr. Birkner, vorgeschlagen - durch ein Asse-Gesetz geschehen soll. Herr Dr. Birkner, an dieser Stelle sage ich: Vielen Dank, dass Sie heute bei uns sind und zu uns gesprochen haben. ({1}) In diesem Arbeitsprozess der Faktenerhebung generieren die Experten ständig neues Wissen. Gute, aber auch problematische Erkenntnisse kommen zutage, mit denen sich die Politik, die Begleitgruppe, das niedersächsische Bergamt, das BfS und die Asse GmbH konfrontiert sehen. Sie müssen sich damit auseinandersetzen, neue Ideen entwickeln und einen konstruktiven Dialog führen, den wir vonseiten der FDP-Fraktion unterstützen. Herr Gabriel, Sie kennen wahrscheinlich die Akteure vor Ort aus Ihrem Wahlkreis. Der niedersächsische FDPLandtagsabgeordnete Björn Försterling setzt sich sehr stark für diese Sache ein. Er ist auch Mitglied der Begleitgruppe. Diesen Beitrag von uns Liberalen möchte ich als positiven Aspekt diesem Plenum zur Kenntnis geben. ({2}) Ich denke, wir alle sind uns einig in dem Wunsch nach Beschleunigung. Es gibt aber auch konkurrierende Ziele. Eine Beschleunigung darf nicht zulasten der Sicherheit gehen. Die Sicherheit der Bevölkerung in der Region und der Mitarbeiter in der Asse wird nach wie vor oberste Priorität haben. Es gibt eine Reihe neuer Erkenntnisse. Eine gute Nachricht ist, dass das Grubengebäude nicht durch einen spontanen Einsturz gefährdet ist. Machen wir uns aber nichts vor: Das Bergwerk Asse ist 100 Jahre alt. Es ist weiterhin in Bewegung. Durch den Gebirgsdruck könnten neue Risse und somit neue Wasserwegsamkeiten entstehen. Beim Punkt Lösungszutritte bzw. der Wasserzuläufe wissen wir bis heute fast nichts über deren genauen Ursprung. Bisher wissen wir nur, dass die Lösungszutritte - zum Glück - zuhauf nur oberhalb der Einlagerungskammern und nicht in Masse auf der Höhe der eigentlichen Einlagerungssohle, der 750er-Sohle, vorkommen. Unsere größte Sorge gilt einem spontanen Wassereinbruch. Wir hoffen, dass das nicht eintritt; denn das machte unser Konzept zur Bergung zunichte. Das wäre auch fatal für die Bevölkerung vor Ort; denn die Bevölkerung vor Ort weiß - das ist auch klar -, dass nur die Option der Rückholung Langzeitsicherheit für die kommenden Generationen in dieser Region gewährleistet. Jetzt komme ich noch zu den Anträgen. Die SPD will das Atomgesetz ändern. Ich habe aus Herrn Gabriels Ausführungen schon eine etwas andere Richtung herausgehört. ({3}) Für den Fall, dass die Genehmigung für Stilllegungsmaßnahmen nicht rechtzeitig erfolgen kann, wollen Sie, dass das NMU die Maßnahmen sozusagen selbst anordnen kann. Ich glaube, das ist ein Misstrauensvotum in Richtung BfS. ({4}) - Doch, ich habe es gelesen. ({5}) Das BfS ist dabei, alles zu tun, die Auflagen abzuarbeiten. Es ist auch die Aufgabe des BfS - das BfS hat im Ausschuss berichtet -, einen konkreten Plan für die Rückholung vorzulegen. Für meine Fraktion sichere ich Ihnen zu, dass wir weiter den intensiven Dialog mit der Bevölkerung vor Ort führen werden. Sachverstand, Technik, kluge Entscheidungen und letztlich auch Glück werden hoffentlich zu einem guten Ende führen. Wir sind trotz der schwierigen Lage ganz hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass uns das am Ende gelingen kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ralph Lenkert das Wort. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Seit 1965 ist die Asse Versuchsbergwerk. Vor 45 Jahren wurde der erste Atommüll eingelagert, und seitdem leben die Menschen an der Asse mit der Angst vor dem strahlenden Müll. Bis 2009 wurden die Probleme und Gefahren der Asse vertuscht und geleugnet. Mit dem Betreiberwechsel 2009 wurde das Ausmaß des verantwortungslosen Vorgehens in der Asse offen sichtbar. Seitdem wird versucht, eine Umweltkatastrophe zu verhindern. Trotz der Erfolge bei der Stabilisierung des Bergwerks - nur die Rückholung des Atommülls bannt die Gefahr. Aber es geht einfach nicht vorwärts in der Asse. Deshalb debattieren wir heute. Deshalb fand ein Zusammentreffen zur Asse-Situation letzten Monat in Braunschweig statt. Erstmals trafen Geologen, Strahlenforscher, Beamte aus verschiedenen Behörden und Ministerien sowie Mitglieder von Bürgerinitiativen zusammen - mit ernüchterndem Ergebnis: Wenn man so weitermacht wie seit 2009, sind Tests und Vorbereitungen zur Rückholung des Atommülls frühestens 2025 abgeschlossen, die komplette Rückholung gar erst im Jahr 2040. Gleichzeitig wurde klar herausgestellt, dass es im Bergwerk jederzeit einen Wassereinbruch geben kann. Dann ist eine Rückholung des Atommülls unmöglich, und dann kann man eine zukünftige Verstrahlung des Grundwassers der Braunschweiger Region nur noch verzögern, vielleicht abschwächen. Massiv wird deshalb derzeit an der Schadensbegrenzung für den Fall des Wassereinbruchs gearbeitet. Das ist richtig. Aber die Linke will, dass die Rückholung mit dem gleichen Aufwand vorangetrieben wird. Der Müll muss raus aus der Asse! ({0}) Konkret heißt das: Erstens. Bundestag und Landtag Niedersachsen beschließen: Der Atommüll muss raus aus der Asse - ohne Kompromisse. ({1}) Der Bundesumweltminister bekennt sich nach dem Landesminister zu diesem Ziel, und zwar hier am Rednerpult. ({2}) Zweitens. Wenn man weiß, wie es in zwei Kammern aussieht, weiß man immer noch nicht, wie es in den anderen elf aussieht. Aber nach zwei Jahren gibt es noch nicht einmal Erkenntnisse zur ersten Kammer. Deshalb muss man vom schlimmsten anzunehmenden Fall in den Kammern ausgehen. Man muss diesen Fall zur Grundlage der Entwicklung von Technik zur Bergung nehmen. ({3}) Drittens. Weder die derzeitige Luftzufuhr noch die Transportmöglichkeiten reichen für eine zügige Bergung des Atommülls aus. Es muss deshalb sofort mit dem Planen und anschließenden Bau eines neuen Schachtes, der diese Probleme löst, begonnen werden. Viertens. Für den Atommüll wird ein Zwischenlager in Asse-Nähe benötigt. Um späteren Zeitverzug zu vermeiden, müssen die Suche und Vorbereitung bereits jetzt starten. Fünftens. Behälter oder Verpackungssysteme, die das vermutlich undefinierte Gemisch aus verstrahltem Salz, kontaminierter Salzlauge, alten Behälterresten und dem eigentlichen Atommüll sicher aufnehmen, müssen sofort entwickelt bzw. beschafft werden. ({4}) Sechstens. Fülltechnik für das unterirdische Einfüllen der verstrahlten Masse in die Behälter muss passend zum Verpackungssystem und zu den Behältern entwickelt werden. Damit muss jetzt begonnen werden, parallel zu allen anderen Aufgaben. ({5}) Siebtens. Es darf keine Aushöhlung von Sicherheitsstandards geben. Aber bei der Beschaffung und der Auftragsvergabe müssen die Kriterien lauten: beste technische Lösung von einem zuverlässigen Partner in kürzester Zeit. Der Kaufpreis und die Ausschreibungsprozeduren sind zweitrangig. ({6}) Bei allen Punkten fordert die Linke, das Fachwissen der Bürgerinitiativen in die Entscheidungen einzubeziehen und maximale Transparenz herzustellen. ({7}) Das kostet Geld. Aber wenn man bedenkt, dass für die Sanierung des Uranbergbaus in Sachsen und Thüringen mehr als 7 Milliarden Euro notwendig waren, dann kann man auch abschätzen, dass eine Verseuchung des Grundwassers um Braunschweig ein Vielfaches an Geld verschlingen würde. ({8}) 86 Prozent des Atommülls der Asse stammen direkt oder indirekt aus Atomkraftwerken. Deshalb fordert die Linke, dass die Atomkonzerne mindestens 86 Prozent aller entstehenden Kosten tragen müssen. ({9}) Kolleginnen und Kollegen, scheitert die Rückholung des Atommülls aus der Asse, dann haben wir nicht nur ein Problem um Braunschweig; dann wird die Suche nach sicheren Atommülllagern in der Bundesrepublik unendlich erschwert. Der Worte sind genug gewechselt. Fangen wir an, das Asse-Problem zu lösen! Wir stehen als Bundestag in der Pflicht. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Dorothea Steiner das Wort.

Dorothea Steiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004166, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass alle Fraktionen hier die Rückholung des radioaktiven Inventars aus der Asse unterstützen. Ich möchte aber unterstreichen, dass wir nicht an diesem Punkt angelangt wären, wenn nicht Bürgerinnen und Bürger in Remlingen im Landkreis Wolfenbüttel und rund um die Region jahrzehntelang den Skandal in die Öffentlichkeit gebracht und die Politik unter Druck gesetzt hätten. ({0}) Die Elemente dieses Skandals sind lange Zeit geleugnet worden. Denken Sie einmal zurück: Wie lange hat es gedauert, bis die massiven Laugenzuflüsse öffentlich diskutiert werden konnten, obwohl es sie schon seit 1988 in großem Umfang gab? Noch 2007/2008 sollte die Lösung der Probleme sein, die Schachtanlage zu verfüllen, die Sünden der Vergangenheit in Magnesiumchlorid zu ertränken und die Asse abzuschließen. Es bedurfte eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Niedersachsen und hartnäckiger, langandauernder Bürgerproteste, um die Bereitschaft zur Rückholung des radioaktiven Inventars zu erhöhen. Deshalb zollen wir dem Bundesumweltministerium Anerkennung für seine Entscheidung und sein Engagement. Aber ich glaube, das geht nicht so sehr an die Adresse des Umweltministers, sondern eher an die Adresse der Staatssekretärin. Diejenigen, die die strahlenschutzrechtlichen Missstände zu verantworten haben, sitzen nach wie vor in entscheidenden Positionen und können sich als Bremser betätigen. Herr Birkner, es war das niedersächsische Umweltministerium unter Ihrem Vorgänger, dem „Kettensägenminister“, das im Verbund mit dem TÜV ein komplexes System von Auflagen ersonnen hat - 38 an der Zahl mit 1 000 Seiten Erfüllungsbedingungen -, deren teilweise Erfüllung allein schon dazu führen musste, dass nach fast zwei Jahren noch nicht einmal eine Kammer angebohrt werden konnte, um bei der Faktenerhebung weiterzukommen. Von der Rolle des Landesbergamtes in dieser Auseinandersetzung brauchen wir hier gar nicht zu reden. ({1}) Also Respekt, Herr Birkner, dass Sie die Position fundiert und kompetent geändert haben. Aber ein Birkner macht noch keinen Sommer. ({2}) Die Zustimmung hier im Parlament sollte BMU und den Betreiber BfS ermutigen, die Faktenerhebung zu beschleunigen und die vorbereitenden Maßnahmen zur Rückholung unwiderruflich einzuleiten. Wir sollten nicht auf eine Lex Asse warten, die wir brauchen und auch nutzen müssen, sondern bereits jetzt im Rahmen der Gefahrenabwehr auch außerhalb des § 19 des Atomgesetzes eine Beschleunigung der Maßnahmen erreichen. Das geht sehr wohl, obwohl Frau Flachsbarth und Herr Birkner das Gegenteil ausgeführt haben. Das ist auch notwendig, damit wir jetzt weiterkommen, die beiden Kammern bis zum Sommer angebohrt werden können und die Glaubwürdigkeit des ganzen Vorhabens erhalten bleibt. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Michael Paul spricht nun für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man die Rednerinnen und Redner der Opposition hört, glaubt man, der Blick gehe zurück. Notwendig ist aber, dass wir nach vorne blicken. Deshalb sage ich direkt zu Beginn meiner Rede: Bei allem, was das Problem Asse angeht, gilt: Die Sicherheit der Bevölkerung und der dort Tätigen hat für uns oberste Priorität. ({0}) Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen und mich zu Beginn meiner Ausführungen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort und bei denen, die in den zuständigen Behörden täglich mit großem Engagement an der sicheren Stilllegung der Asse arbeiten, bedanken. Weil die Sicherheit vorgeht, ist es Ziel, die radioaktiven Abfälle aus dem Bergwerk zurückzuholen. Denn die Rückholung - das hat der sogenannten Optionenvergleich des BfS aus dem Jahr 2009 gezeigt - ist die sicherheitstechnisch vorteilhafteste Lösung, was die Langzeitsicherheit angeht. Dieser Weg nach vorne in Richtung Rückholung stellt uns aber vor große Herausforderungen. Das hat auch der vor wenigen Wochen in Braunschweig durchgeführte Fachworkshop des BfS klargemacht. Zwar kann nach derzeitigen Erkenntnissen davon ausgegangen werden, dass es nicht zu einem plötzlichen Zusammenbrechen der Grube kommt. Aber ein unkontrolliertes Eindringen von Salzwasser, also von Laugen, ist in dem alten Salzbergwerk jederzeit möglich. Deswegen steht an erster Stelle - das möchte ich hier betonen -, vorsorglich Notfallmaßnahmen vorzubereiten, damit auch in einem solchen Fall die Beschäftigten vor Ort und die Bevölkerung geschützt werden. Die unbequeme Wahrheit an dieser Stelle ist: Die Verfüllung von Resthohlräumen in den Einlagerungskammern ist eine solche Notfall- und Vorsorgemaßnahme. Aber durch eine solche Verfüllung - das sagt die Entsorgungskommission, die sicherlich unverdächtig ist, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen - kann die mögliche Strahlenbelastung der Bevölkerung auf ein Zehntel verringert werden. Im Übrigen ist das keine Abkehr vom Ziel der Rückholung; denn die Abfälle können auch danach geborgen werden. Zur Rückholung sind drei große Schritte notwendig. Erstens müssen die Abfälle aus den Einlagerungskammern geborgen werden. Zweitens müssen sie aus dem Bergwerk an die Tagesoberfläche gebracht werden. Drittens müssen sie in lagerfähige Behälter verpackt und zwischengelagert werden. Aber keiner dieser drei Schritte - darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen - ist unproblematisch. Für die Beförderung der Abfälle an die Tagesoberfläche ist ein weiterer Schacht erforderlich. Nach Aussage des Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz - auch er ist, denke ich, unverdächtig in dieser Debatte, wie die gestrige Sitzung des Umweltausschusses gezeigt hat ({1}) kann wegen der komplizierten Geologie der neue Schacht wahrscheinlich nur in einem Gefrierbohrverfahren errichtet werden. Was das heißt, haben wir in Gorleben gesehen. Da hat die Errichtung ungefähr zehn Jahre gedauert. Auch das eigentliche Zurückholen dauert wesentlich länger, als man es sich wohl vor zwei Jahren vorgestellt hat. Beim Workshop des BfS wurde eine Dauer von bis zu 50 Jahren genannt. Grund dafür ist, dass es sich um ein enormes Volumen handelt. Denn die Abfälle sind wahrscheinlich in Salz eingewachsen; lagerfähige Behälter gibt es dort nicht. Das Volumen beträgt mindestens 100 000 Kubikmeter. Schätzungen von Gutachtern des BfS gehen sogar von bis zu 275 000 Kubikmetern aus. Das entspricht ziemlich genau dem Volumen aller Abfälle, die beim Rückbau der deutschen Kernkraftwerke zusammenkommen. Wegen dieses riesigen Volumens wird man auch obertage große Einrichtungen für Behandlung und Zwischenlagerung brauchen. Hier gehen die Gutachten von einer Größenordnung von bis zu 25 Hektar aus. Im Übrigen - auch das müssen wir ganz klar sagen ist es für die örtliche Bevölkerung auf Dauer sicherlich unzumutbar, neben einem Zwischenlager für radioaktive Abfälle zu wohnen. Deshalb hat die Endlagerung der radioaktiven Abfälle Priorität. Es wurde heute schon angesprochen: Das genehmigte Endlager für leicht- und mittelradioaktive Abfälle, Schacht Konrad, hat eine genehmigte Abfallmenge von 303 000 Kubikmetern. Davon werden 280 000 Kubikmeter für den Abfall aus dem Rückbau der Kernkraftwerke gebraucht. Sie sehen also: Die Herausforderungen sind sehr groß. Sie müssen sehr schnell angegangen werden. Denkverbote darf es dabei nicht geben. Realitäten müssen wahrgenommen werden. Das ÖkoInstitut - sicherlich unverdächtig, Dinge zu verharmlosen - prognostiziert, dass die Strahlenbelastung der Arbeiter während der Rückholung 50- bis 1 000-mal höher sein wird als die maximal denkbare Strahlenbelastung künftiger Generationen. Das gilt selbst für den schlimmsten Fall, dass die Asse unkontrolliert „absäuft“. Solche Fakten darf man nicht ignorieren, sondern man muss sie eingehend prüfen. ({2}) Für eine abschließende Bewertung ist es sicherlich zu früh. Da gebe ich Ihnen recht, Frau Steiner. Dazu müssen wir insbesondere die Faktenerhebung abwarten. Das BfS hat für den Fall, dass es bei der Bergung zu unvertretbaren Strahlenbelastungen der Beschäftigten kommt, als Konsequenz gefordert, die Präferenz für die Rückholung neu zu bewerten. Das ist nachzulesen in der Pressemitteilung des BfS zum Optionenvergleich vom 15. Januar 2010. Bevor ich nun auf die Anträge von SPD und Grünen im Einzelnen zu sprechen komme, gestatten Sie mir, dass ich auf einen bemerkenswerten Umstand im Zusammenhang mit dem Vorschlag der SPD, das Atomgesetz zu ändern, hinweise. Beim Workshop des BfS haben Vertreter einer Anwaltskanzlei im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz einen Vorschlag zur Änderung des Atomgesetzes vorgelegt, einen Vorschlag, der letztlich auf Kosten des Steuerzahlers erarbeitet wurde. Das findet sich auch in den Unterlagen des Fachworkshops. Diesen Vorschlag wiederum findet man nun wortwörtlich im Antragstext der SPD wieder. Das lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder haben Sie mit Zustimmung der Autoren abgeschrieben ({3}) dann haben Sie ein vom Geld der Steuerzahler finanziertes Gutachten des Bundesamtes für Strahlenschutz zu Fraktionszwecken verwandt -, ({4}) oder Sie haben ohne Einverständnis der Autoren abgeschrieben; dann handelt es sich hier schlicht und ergreifend um ein Plagiat. ({5}) So oder so, abgeschrieben haben Sie auf jeden Fall. Das spricht nicht für Ihre juristische Kreativität. Auch die Rolle der Anwaltskanzlei sollten wir noch einmal hinterfragen. ({6}) Deren namensgebender Partner war übrigens Staatssekretär im ersten rot-grünen Berliner Senat. Diese Kanzlei berät und vertritt auf der einen Seite den Bund und das Bundesamt für Strahlenschutz in zahlreichen atomrechtlichen Verfahren. ({7}) - Ich weiß gar nicht, worüber Sie sich aufregen. Das scheint ja wirklich wehgetan zu haben. ({8}) Gleichzeitig vertritt sie SPD-regierte Länder gegen den Bund bei Verfassungsklagen gegen die Laufzeitverlängerung. ({9}) Schließlich, wie man heute sieht, schreibt sie womöglich auch Antragstexte für die SPD-Bundestagsfraktion. Das ist aus meiner Sicht eine sehr eigenwillige Interpretation anwaltlicher Unabhängigkeit.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Paul, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung des Kollegen Gabriel?

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, er wird uns heute auch nicht weiterbringen. ({0}) Nein, ich möchte weiter ausführen. ({1}) Zum Schluss möchte ich auf die Anträge von Grünen und von SPD ganz konkret eingehen. ({2}) Ein Sondergesetz, eine Lex Asse - das hat die Entsorgungskommission am 2. Februar eindeutig gesagt -, bringt uns nicht weiter; denn es handelt sich im Kern darum, wie das kerntechnische Regelwerk ausgelegt werden soll.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Paul, da Sie die Hilfe des Kollegen Gabriel zur Verlängerung Ihrer Redezeit nicht angenommen haben, muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie jetzt einen Punkt setzen müssen.

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich will zum Schluss sagen: Eine Absenkung des Schutzniveaus, die offensichtlich Bestandteil mancher Beschleunigungsvorschläge ist, wird es mit uns jedenfalls nicht geben. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Debatte einen gemeinsamen Erfolg zu feiern. Das ist die Tatsache, dass in diesem Haus von keiner Fraktion und keinem Ministerium mehr angezweifelt wird, dass es oberste Priorität hat, den Atommüll aus der Asse zu bergen. Das war vor wenigen Wochen noch nicht selbstverständlich. Das ist ein Erfolg. Ich bedauere, Herr Dr. Paul, dass Sie wieder in einer kleinkrämerischen Art und Weise versuchen, die Behandlung dieses Themas - eigentlich beschreiten wir gerade gemeinsam einen guten Weg - zu einem parteipolitischen Hickhack werden zu lassen. ({0}) - Das mag ein Charakterproblem sein. Ich greife diesen Zwischenruf gerne auf. Ich denke, es ist gelungen, Bewegung in die Sache zu bringen - Frau Kollegin Steiner hat es gesagt -, nicht zuletzt wegen der Bürgerinnen und Bürger vor Ort, die an diesem Thema beharrlichst drangeblieben sind. Aber auch viele Angehörige der Opposition - zuletzt hat der Parteivorsitzende und Wahlkreisabgeordnete Sigmar Gabriel Anfang Januar die Asse besucht - haben den Druck verstärkt. Auch die anderen Oppositionsfraktionen haben mit ihren Initiativen dazu beigetragen, dass es jetzt vorangehen kann. Wir freuen uns, dass sich Ihr Ministerium jetzt auf den Weg macht. Es ist erfreulich, wenn sich alle bekennen. Es ist ermutigend, wenn Sie auch die Anregungen der Opposition aufgreifen und wenn jetzt die Taskforce eingesetzt wird, so wie es von der SPD beantragt wurde. Dass diese Taskforce „Lenkungsgruppe“ heißt, tut ihrer Effektivität hoffentlich keinen Abbruch. Das Thema „Rückholung der Abfälle“ ist nicht in wenigen Jahren beendet, sondern es wird uns 35 bis 40 Jahre begleiten. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier fraktionsund wahrscheinlich auch legislaturperiodenübergreifend zusammenwirken, vermutlich unter verschiedenen Regierungen. Bei einer so wichtigen Thematik finde ich es erstaunlich, dass es der Minister fertigbringt, sich nachhaltig zurückzuhalten. Es ist ein durchaus gängiges Phänomen, dass ein Minister unbequeme Themen lieber den Staatssekretären überlässt. Am Ende kann man nicht davon profitieren, dass man sich immer nur mit Wohlfühlthemen beschäftigt. Am Ende hat nur derjenige Respekt und ein solches Führungsamt verdient, der bereit ist, sich in schwierigen Zeiten der Verantwortung zu stellen. Herr Minister Röttgen wird dieser Verantwortung nicht gerecht. Er zeigt Desinteresse. Es ist für die Menschen in der betroffenen Region, aber auch für das Parlament beschämend, einen solchen Umweltminister zu haben. ({1}) In diesen Tagen ist es entscheidend, dass es politischen Rückhalt gibt. Es gab schon jede Menge Runde Tische zum Thema Asse. Es gibt die Asse-Begleitgruppe, die gute Arbeit leistet. Alle Beteiligten haben sich oft getroffen, aber es ist wenig passiert. Manches konnte nicht in Gang gesetzt werden, gerade weil der politische Rückhalt gefehlt hat. Wir haben erfreut festgestellt, dass sich jedenfalls in Niedersachsen einiges verändert hat, sodass auch von dort mit Rückendeckung zu rechnen ist. Ein bemerkenswertes Ergebnis des Workshops war, dass uns die Fachleute, die dort zusammensaßen, gesagt haben: Das war das erste Mal seit vielen Monaten, dass wir den Eindruck hatten, wir haben die politische Rückendeckung, um die Abfälle aus der Asse herauszuholen, und es wird nicht mehr auf Zeit gespielt. - Das ist eine neue Situation. Das bedeutet, dass politische Rückendeckung nicht nur durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zweiten Reihe, sondern auch von höchster Ebene gegeben wird. Das erwarte ich von einem Umweltministerium. ({2}) Jetzt geht es darum, das Verfahren zügig voranzubringen. Es müssen die rechtlichen Bedingungen geschaffen werden, schneller handeln zu können. Es geht nicht um die Einrichtung eines Endlagers, sondern um die Abwendung von Gefahren durch ein nicht genehmigungsfähiges Endlager, also durch ein Lager, das so überhaupt nicht hätte existieren dürfen. Maßnahmen auf dem Wege der Gefahrenabwehr einzuleiten und das Atomgesetz zu ändern, schließen sich möglicherweise nicht aus, sondern es müssen jeweils fallbezogene Ergänzungen vorgenommen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Sinne der Menschen in der betroffenen Region und in Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger, die rund um die Asse leben, ist es gut, wenn wir Solidarität mit ihnen zeigen. Es wäre zudem ein Zeichen von Verantwortung, wenn es gelänge, im weiteren Verfahren einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Wenn sich dieses Haus im Wesentlichen geschlossen positioniert, dann kann man es auch schaffen, gemeinsam etwas zu Papier zu bringen. Das Vertrauen der betroffenen Region in die Politik ist ziemlich erschüttert. Wenn wir gemeinsam etwas auf den Weg brächten, könnte das helfen, dieses Vertrauen wenigstens ein Stück weit zurückzugewinnen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Franz Obermeier für die Unionsfraktion. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche, die Debatte zusammenzufassen: Bei den zentralen Punkten gibt es einen breiten Konsens, eine Übereinstimmung in der Zielsetzung. Ich möchte nun einige Aspekte wiederholen, die bereits angesprochen wurden. Selbstverständlich geht es in erster Linie darum, der betroffenen Bevölkerung rund um die Asse das Vertrauen nicht nur in unsere Handlungsfähigkeit wiederzugeben, sondern auch darin, dass für uns der Schutz der Menschen, der Mitarbeiter und der Umwelt absolut prioritär ist. In diesem Zusammenhang möchte ich Folgendes anmerken: Der Präsident des BfS hat in der Sitzung des Umweltausschusses in dieser Woche bestätigt, dass der Kontaminationsgehalt der Lauge in der Asse geringer ist, als die Grenzwerte für Trinkwasser es zulassen. ({0}) Wenn es darum geht, dass man Fakten benennt und die Dinge auf den Punkt bringt, sollte man die betroffene Bevölkerung auch über eine solche Tatsache informieren. In diesem Zusammenhang bitte ich zu berücksichtigen, dass es in den zurückliegenden zwei Jahren keine nennenswerten Verzögerungen hinsichtlich der Erkundung des Salzstocks gab, zumindest keine, die gesetzgeberisch verursacht waren. ({1}) Ich bin Landesumweltminister Dr. Birkner sehr dankbar für seine ausgesprochen sachliche Bekundung der ganzen Angelegenheit. Wir müssen uns klar dazu bekennen, dass Voraussetzung für das weitere gesetzgeberische Tun die Erhebung der Faktenlage ist. Wenn wir die Faktenlage nicht voranstellen, besteht die große Gefahr, dass wir im Wege eines Asse-Gesetzes in eine falsche Richtung gehen und uns dann seitens der Bevölkerung der Vorwurf gemacht wird, dass wir nur auf gesetzgeberischem Gebiet schnell handeln. Ich teile die Auffassung, dass das BfS in diesem Fall richtig vorgeht, indem es Fakten erhebt und dann aufgrund seiner wissenschaftlichen Erkundungen Konzepte entwickelt, wie wir unter Berücksichtigung der genannten Prioritäten an die Rückholung der Fässer aus der Grube Asse gehen können. Man muss berücksichtigen, dass es sich hier um eine extrem komplizierte Arbeit handelt, vor allem im Hinblick darauf, dass das Bergwerk, in dem dann neue Schächte angelegt werden sollen, schon 100 Jahre alt ist. Dafür ist eine umfangreiche Erkundung des Materials zwingende Voraussetzung. Ich bin der Staatssekretärin sehr dankbar, dass sie die Beschleunigungsmöglichkeiten angesprochen hat. Ich bin dankbar, dass wir in diesem Hause willens sind, die Beschleunigungsmöglichkeiten zu nutzen, also das Asse-Gesetz nach einer möglichst raschen Faktenerhebung zu verabschieden. Da ist es die eine Geschichte, dass Sie die Lenkungsgruppe einsetzen, die Probleme beim Management des gesamten Prozedere tatsächlich bereinigen kann, und wir uns Gedanken machen, wie wir die Beteiligung der Öffentlichkeit vor Ort so gestalten können, dass die Bürger über das gesamte Vorgehen informiert sind. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch ein Wort zur Finanzierung der ganzen Angelegenheit sagen. Natürlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass diese Angelegenheit sehr teuer wird. Deswegen haben wir die Brennelementesteuer eingeführt; sie wird ihren Sinn und Zweck erfüllen. Ich will hier vor der Öffentlichkeit sagen, dass das Finanzgericht Baden-Württemberg vor wenigen Wochen eine Entscheidung gefällt hat, mit der die Klage der EnBW zurückgewiesen wurde. Gemäß der gerichtlichen Entscheidung hat die EnBW keinen Anspruch auf Rückzahlung der Brennelementesteuer. Auch das ist eine vertrauensbildende Maßnahme: Wir stellen nicht ständig geltende Gesetze infrage, weil das zu Misstrauen in der Bevölkerung führen würde. ({3}) Zum Abschluss ein Wort an Sie, Frau Kollegin Vogt. Sie haben versucht, dem Bundesumweltministerium hinsichtlich der Behandlung dieses Falles Vorwürfe zu machen. Ich habe allerdings genau aufgepasst und festgestellt, dass Sie bei den Vorwürfen, genauso wie eine ganze Reihe Ihrer Vorredner aus der Opposition, im Ungefähren geblieben sind. Das bringt uns auch nicht weiter. Sie haben keinen einzigen konkreten Fall benannt, in dem das Bundesumweltministerium zur Verzögerung der Erkundung der Asse beigetragen hätte. Noch einmal: Das bringt uns nicht weiter. Das sollten wir unterlassen, wenn wir im Konsens beispielsweise ein Asse-Gesetz verabschieden wollen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8497 an den Ausschuss für Umwelt, Na- turschutz und Reaktorsicherheit vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Beteiligung der Energiekonzerne an den Kosten für das Atommülllager Asse“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/4487, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1599 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak- tion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD- Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Rückholung der Atommüllfässer aus der Asse II be- schleunigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/8588, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8351 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen Neubeginn der deutschen und europäischen Mittelmeerpolitik - Drucksachen 17/5487, 17/6421 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Hörster Marina Schuster Kerstin Müller ({1}) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema Movassat, Heike Hänsel, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Selbstständige Entwicklung fördern - Faire Handelsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien aufbauen - Drucksache 17/8582 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen jährt sich zum ersten Mal der Tag, an dem Präsident Mubarak vom ägyptischen Volk vom Throne gestoßen worden ist. Wir erinnern uns alle an die Hoffnungen, die wir mit diesem Tag verbunden hatten, nicht nur für Ägypten, sondern für die gesamte Region. Nun sind wir ein Jahr weiter. Viele unserer Erwartungen sind enttäuscht worden. Wir stellen fest: Uns haben, was die Entwicklung in dieser Region angeht, die Mühen der Ebene erreicht. Vieles ist unklar. Eines aber ist klar - damit komme ich auf das zurück, was wir vor einer Stunde diskutiert haben -: Es gibt deutliche Signale, auch von liberalen Kräften. Man sagt: Es ist zwar schön, dass ihr uns unterstützt, aber geht nicht davon aus, dass wir euer System eins zu eins übernehmen werden. Man sagt uns auch: Ihr müsst davon ausgehen, dass die Religion in unserem Staatswesen in Zukunft eine größere Rolle spielt, ob euch das passt oder nicht. - Damit müssen wir hier fertigwerden. Ich sage trotz all der Anstrengungen, die wir unternehmen müssen, ganz bewusst: Seien wir bescheiden in dem, was wir erreichen wollen. In diesem Zusammenhang stelle ich einen gewissen Widerspruch zu der vorigen Debatte fest. Vorhin ist der Bundesregierung vorgeworfen worden, sie betreibe Großmannssucht nach dem Motto: An deutschem Wesen soll die Welt genesen. Und: Alle sollten sich nach Deutschland richten. ({0}) Nun werden wir vorwurfsvoll gefragt: Warum habt ihr dieses oder jenes noch nicht erreicht? Das ist ein gewisser Widerspruch. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen sich einmal Gedanken machen, in welche Richtung Sie eigentlich gehen wollen. Wenn Sie von Deutschland verlangen, tatkräftig zu sein, dann können Sie uns auf der anderen Seite nicht vorwerfen, Großmannssucht zu betreiben und wieder mehr in der Welt sein zu wollen. Das passt irgendwie nicht zusammen. ({1}) Ich hatte im April vorigen Jahres die Freude, eine Rede zu diesem Thema zu halten. Wir haben schon damals gesagt - das ist heute noch richtig -: Wir müssen uns fokussieren und die Instrumente, die uns für diese Region zur Verfügung stehen, in stärkerem Maße anpassen - zum Beispiel bei den Themen Union für das Mittelmeer, Barcelona-Prozess und Europäische Nachbarschaftspolitik -; denn in diese Bereiche fließen enorme Geldmengen. Ich will in Erinnerung rufen, dass zwischen den Jahren 2007 und 2012 allein im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik 8 Milliarden Euro in diese Region geflossen sind; das ist nicht wenig Geld. Wir müssen gemeinsam eine Antwort auf die Frage finden, ob dieses Geld richtig angelegt ist. Ich glaube, nicht nur Deutschland, sondern vor allen Dingen Europa muss in dieser Hinsicht einfach noch besser werden. Die Union für das Mittelmeer hat zwar einige neue Programme aufgelegt, aber sie ist nicht schlagkräftig genug. Es wurde die „Euro-Mediterranean Sustainable Urban Strategy“ entwickelt; eine Arbeitsgruppe trifft sich zum ersten Mal im März dieses Jahres. Mit dem Projekt LOGISMED wird ein Logistikverbund angestrebt. All diese Projekte sind vom Prinzip her gut und richtig, haben aber noch nicht die Schlagkraft erreicht, die wir eigentlich brauchen. In der Europäischen Nachbarschaftspolitik haben wir uns entschieden - wie ich finde, zu Recht -, uns auf einige Länder stärker zu fokussieren, weil wir den Unterschieden gerecht werden müssen. Wir können Marokko, Tunesien, Ägypten, Libyen usw. zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in einen Topf werfen, weil die Situation in diesen Ländern sehr unterschiedlich ist. Darauf müssen wir eingehen. Unser Ziel ist die wirtschaftliche Integration. Beispielsweise planen wir mit einigen Ländern, innerhalb von 15 Jahren einen gemeinsamen Wirtschaftsraum aufzubauen. Um das zu erreichen, muss nach Fähigkeiten und Bedarf vorgegangen werden. Wir haben eine sogenannte Transformationspartnerschaft mit Ägypten annonciert. Natürlich müssen wir auch in der heutigen Debatte sehr deutlich sagen, dass das, was in Ägypten gegenwärtig passiert, und zwar sowohl auf der Straße als auch in den Gefängnissen als auch bei der Polizei als auch im Justizwesen, was zum Beispiel die Konrad-Adenauer-Stiftung angeht, alles andere ist als das, was wir uns unter einer Transformationspartnerschaft vorgestellt haben. Deshalb müssen wir von hier aus sehr deutlich sagen: Liebe Leute in Ägypten, wir wollen euch gerne helfen; aber dafür müsst ihr viel mehr tun, als ihr bisher getan habt. ({2}) So haben wir uns die Zusammenarbeit jedenfalls nicht vorgestellt. Die Europäische Union hat am 14. Dezember des letzten Jahres angekündigt, umfassende Freihandelsabkommen mit Tunesien, Ägypten, Marokko und Jordanien abzuschließen. Das ist richtig. Tunesien hat den Status eines privilegierten Partners. Hier wird also eine ganze Reihe von Dingen gemacht. Gerade an diesen Punkten setzt der Antrag der Linken an. Die Linken schreiben in ihrem Antrag, dass man das alles nicht machen sollte, dass man keine Freihandelsabkommen schließen sollte; denn sie dienten nur dazu, dass wir, der böse Westen, die armen Leute noch mehr ausbeuten. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich kann Ihnen - das habe ich auch vorhin schon gesagt - eine gewisse Konsequenz nicht absprechen. Mit Ihrer Politik verfolgen Sie eine ganz konsequente Strategie der Verelendung in diesen Ländern. Sie sagen: Es ist schlecht, dass wir unsere Märkte für diese Länder öffnen, weil Handel schlecht ist. Liebe Kollegen der Linken, das haben Sie erfolgreich in der DDR praktiziert, und das praktiziert man in Kuba bis zum heutigen Tage. ({4}) Wir können nur sagen: Wir möchten den Leuten in Nordafrika nicht zumuten, dass Ihre Rezepte auf ihre Länder angewendet werden. Wir werden das - das sage ich sehr deutlich - verhindern. ({5}) Uns liegt heute ein Antrag der SPD vor, der viel Richtiges enthält. Ich darf aber bemerken: Dieser Antrag ist schon ein bisschen älter. Ich glaube, dass es problematisch ist, in der Politik mit Anträgen umzugehen, die ein gewissermaßen antiquarisches Format haben. Viele der Forderungen, die Sie im letzten April gestellt haben, sind realisiert worden. Daher möchte ich Sie ermuntern, sich in die Debatte einzubringen und an der aktuellen Diskussion teilzunehmen. Wie gesagt, will ich gar nicht bestreiten, dass viele Dinge, die Sie angesprochen haben, völlig richtig sind. Vieles ist aber auch schon realisiert. Wir werden auf diesem Entwicklungspfad voranschreiten. Wir wissen, wie schwer das ist. In Deutschland und in der Europäischen Union haben wir ein Commitment: Wir wollen den gesellschaftlichen Prozess, die Entwicklung in Richtung Rechtsstaat und die wirtschaftliche Entwicklung in der Region durch Transformationspartnerschaften fördern, weil das im Interesse der Region und im Interesse unseres eigenen Landes ist. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Günter Gloser hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In einer Debatte zur Mittelmeerpolitik können die gegenwärtig dramatischen Ereignisse in Syrien nicht ausgeblendet werden. Wir alle sind über das kaltblütige Verhalten des syrischen Regimes entsetzt. Doch wir sind nicht nur darüber entsetzt. Auch das Verhalten Russlands und Chinas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist falsch und unverständlich. Ich appelliere daher nochmals in Richtung Moskau und Peking: Setzen Sie sich für eine Konfliktlösung bei den Vereinten Nationen ein und nehmen Sie Einfluss auf das Assad-Regime - für einen Weg der Deeskalation. ({0}) Von der Bundesregierung fordern wir seitens der SPD-Fraktion in diesem Zusammenhang - wir haben darüber schon mehrfach diskutiert -: Setzen Sie sich in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union für einen kompletten Stopp der Abschiebungen nach Syrien ein. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit. ({1}) Der Antrag, über den wir heute debattieren, ist - das ist richtig - bereits zehn Monate alt. Seither ist die arabische Welt eine andere geworden. Die Region befindet sich gegenwärtig immer noch in einer epochalen Veränderungsphase. Das bedeutet, dass sich vor allem in den Köpfen der Menschen eine Revolution vollzogen hat. Das mutige Beispiel der Tunesier, aber auch das der Ägypter haben den Menschen gezeigt, dass sie die Macht und das Recht haben, Veränderungen zu fordern und auch durchzusetzen. Das ist eine wahre Revolution. Selbst in den Ländern, in denen es keine Umstürze gab, versuchen Regierungen, den Menschen durch Reformen entgegenzukommen. Mit den positiven Veränderungen geht es weiter. Ich möchte einige aufführen: Erstens. In Marokko wurde vom König ein Verfassungsprozess angestoßen, der zu einem ersten Kompetenzgewinn des Parlaments führte. Zweitens. Zu begrüßen ist auch die in den letzten Tagen festzustellende Annäherung zwischen Algerien und Marokko. Auch das war in den letzten Jahren Thema. Drittens. Die angekündigte Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung ist ebenfalls ein positives Signal. Damit wird eine wichtige Vorbedingung für ein Vorankommen im Nahostfriedensprozess erfüllt. Viertens. Die Arabische Liga vertrat in der Vergangenheit eher die Interessen der Machthaber als der Bevölkerung ihrer Mitgliedstaaten. Auch sie definiert ihre Rolle derzeit neu und sucht den Anschluss an die Vereinten Nationen, wie das aktuelle Beispiel ihres Vorschlags für eine gemeinsame Beobachtermission mit der UNO in Syrien zeigt. Bei aller Schmerzhaftigkeit der aktuellen Entwicklung in Syrien: Die Gesamtentwicklung der Region bedeutet für uns einen großen Gewinn; denn sie gibt uns erstmals Hoffnung auf eine nachhaltige Sicherheit in unserer südlichen Nachbarschaft, und das angesichts all der Dinge, Herr Kollege Stinner, die Sie angesprochen haben; manchmal haben wir vielleicht andere Entwicklungen erwartet. Diese Hoffnung ist aber auch eine Verpflichtung, das Unsrige zu tun, um den Menschen in dieser Region zu helfen, und zwar beim Aufbau ihrer Institutionen und ihrer Demokratien, aber auch bei der Lösung der drängenden Probleme, bei der wirtschaftlichen Entwicklung, bei der Schaffung sozialer Sicherheit und zum Teil auch bei der Verbesserung der Infrastruktur. Was genau kann Europa anbieten? Frank-Walter Steinmeier und ich haben im Februar 2011 ein - zugegeben - kurzes Papier vorgelegt, in dem wir die Umrisse eines Marshallplans für die arabische Welt gefordert haben. Das mag in manchen Ohren nach Einmischung klingen. Aber unser Ansatz bedeutet partnerschaftliche Kooperation auf gleicher Augenhöhe. Dieser Ansatz beruht auf gegenseitigem Vertrauen zwischen Nord und Süd. Einiges, was wir im letzten Februar gefordert haben, ist umgesetzt worden. Ich will gar nicht damit hinter dem Berg halten, dass einige Dinge in die Transformationspartnerschaft eingeflossen sind. Aber die historischen Ereignisse von 2011 fordern uns nicht zu Einzelmaßnahmen auf. Wir müssen die europäische Mittelmeerpolitik neu ausrichten. Dabei müssen wir die eigenständige Entwicklung der jungen Zivilgesellschaften der arabischen Welt respektieren, aber auch auf Gemeinsamkeiten hinarbeiten. Die Idee vom Mittelmeer als dem Mare Nostrum ist nicht neu. Bereits die Römer sprachen von „unser Meer“, aber gewiss mit Vorstellungen und Absichten verbunden, die anders sind als die, die wir heute haben. Wir wollen heute die um das Mittelmeer liegenden Staaten als einen gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Raum gestalten. Doch die Flüchtlingskatastrophen mit ihren vielen Opfern im Mittelmeer zeigen auf dramatische Weise, dass wir von diesem gemeinsamen Raum noch weit entfernt sind. Daran muss Europa unbedingt etwas ändern. Abschottung allein wird auf Dauer nicht die Lösung sein können. Wir wollen, ja wir müssen andere Wege gehen. ({2}) Die von der SPD in diesem Antrag geforderte Bildungsmigration ist sicherlich - dies weiß ich - ein umstrittener Punkt. Aber ich möchte ihn hier dennoch ausdrücklich erwähnen. Hier setzt unsere wichtigste Verantwortung an. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit einer neuen Mittelmeerpolitik und mit der Unterstützung für die Länder, die den Weg der Demokratie, der Veränderung und der Rechtsstaatlichkeit gehen, dann müssen wir eine größere Zahl von gut qualifizierten Menschen aus diesen Ländern für eine längere Zeit in der Europäische Union willkommen heißen. Wir müssen sie in unseren Arbeitsmarkt integrieren. Wir müssen sie nach drei oder fünf Jahren, wenn sie zurückwollen, mit Risikokapital ausstatten, damit sie in ihrer Heimat Arbeitsplätze schaffen können. Die Konzepte dafür liegen vor. Wie ich höre, bereitet auch die Bundesregierung solche Programme vor. Aber bislang konnten sich die zuständigen Ministerien noch nicht auf die Einzelheiten einigen. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, diese administrativen Fragen schnell zu klären und dem Bundestag zu berichten, wie sie sich Lösungen für diese drängenden Probleme vorstellt. Wie schon vor einem Jahr fordern wir den Abbau von Handelshemmnissen, die Errichtung von Freihandelszonen und den weiteren Ausbau der Zusammenarbeit mit der Region, vor allem in den Bereichen Landwirtschaft und Fischerei. Das sage ich ganz bewusst mit Blick auf die Interessen der südlichen Länder. Nicht nur unsere Güter sollen von einer Freihandelszone profitieren und in den Süden exportiert werden können; vielmehr sollen auch die im Süden produzierten Güter leichter in den Norden exportiert werden können. Ich glaube, da sind noch einige Hausaufgaben zu machen. Lassen Sie mich abschließend noch etwas grundsätzlicher werden. In der Vergangenheit schien es in der Europäischen Union eine Arbeitsteilung zu geben: Deutschland, Polen, Österreich und noch einige andere Länder waren für Osteuropa zuständig, Frankreich, aber auch Spanien und Italien für die südliche Nachbarschaft. Durch die arabischen Revolutionen ist diese Arbeitsteilung obsolet geworden, nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich. Wir alle merken dies nicht zuletzt an den zahlreichen Veranstaltungen zum arabischen Frühling, zu den Umbrüchen in der arabischen Welt. Dieses Interesse und der Mut der Menschen in der Region sind für uns ein Auftrag. Um ihn zu erfüllen, müssen wir, finde ich, unsere Kräfte bündeln; vor allem müssen wir auf politischer Ebene die Kraft der Europäischen Union nutzen. Ich rege an - Staatsminister Link ist ja anwesend -, jetzt einmal ein klares Zeichen im Rahmen der EU und der Arabischen Liga zu setzen; dies ist aufgrund der Veränderung notwendig. Ich finde, ein entsprechendes Treffen - wir haben uns schon zu ganz anderen, weniger bedeutsamen Anlässen getroffen - wäre sinnvoll, auch um deutlich zu machen, dass wir die Region stärken. Lassen Sie mich eine zweite Anregung geben. Vielleicht wäre es sinnvoll, in Deutschland - in anderen Ländern ist dies schon geschehen - eine nationale Forschungs- und Beratungsstelle für Mittelmeerpolitik einzurichten, welche die vorliegenden und die neu zu entwickelnden Konzepte bündelt und der Öffentlichkeit und der Politik präsentiert. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Der Vorsitzende der tunesischen Verfassungsversammlung, Dr. Ben Jaffar, hat am Mittwoch auf einer gut besuchten Konferenz der SPD-Fraktion zum Ausdruck gebracht, was für die Menschen vor Ort von Bedeutung ist. Zitat: Wir brauchen unsere Freunde in Deutschland. Wir haben uns befreien können von unserem Diktator, aber das hat Spuren hinterlassen, mit eurer Unterstützung schaffen wir es. Die Botschaft an die Menschen muss sein: Es gibt Hoffnung! Diese Hoffnung sollten wir nicht enttäuschen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Joachim Hörster für die Unionsfraktion. ({0})

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor knapp zehn Monaten, am 14. April 2011, haben wir hier in diesem Hohen Hause über den Antrag der SPD-Frak19062 tion diskutiert, der, wenn wir ihn heute lesen, in weiten Teilen zumindest ergänzungsbedürftig ist, wenn nicht sogar in die falsche Richtung weist. Ich hatte die Hoffnung, dass zum Beispiel im Auswärtigen Ausschuss die Gelegenheit genutzt wird, diesen Antrag auf Initiative der SPD zu erneuern und à jour zu bringen. Wenn wir genau hinhören - wir haben die Reden von Herrn Stinner und Herrn Gloser gehört; auch in meiner Rede wird dies deutlich -, stellen wir fest, dass wir hinsichtlich des Umgangs mit den Problemen im Mittelmeerraum politisch nicht sehr weit auseinanderliegen. Ein Unterschied besteht vermutlich darin, dass die Sozialdemokraten glauben, es könnte ein allgemeingültiges Konzept geben, wie wir als Europäer, aber auch als Deutsche mit den Mittelmeeranrainern umgehen, während wir von der Koalition der Auffassung sind, dass wir uns Land für Land anschauen und für jedes Land eigene Konzepte entwickeln müssen. Ich möchte unterstreichen, was der Bundesaußenminister gesagt hat: Es kommt entscheidend darauf an, welche Art von Hilfen die Mittelmeeranrainer von uns wollen. Das, was wir jetzt in Ägypten erleben, ist skandalös. Wir gehen viel zu vornehm damit um. Es kann doch nicht sein, dass wir unsere Hilfe zur Installation der Demokratie und zur Förderung des Parlamentarismus anbieten, wir die Vorbereitungen von Wahlen erklären und vieles andere mehr machen und dass dann die Stiftungen, die seit 30 Jahren unbehelligt in Ägypten arbeiten, mit rückwirkender Verfügung auf einmal sozusagen kriminalisiert werden. Dadurch wird einem gewissermaßen der Stuhl vor die Tür gestellt. Dies ist keine Einladung, zusammen etwas zu unternehmen, um die Demokratie in Ägypten zu fördern. Das ist für mich Anlass, noch einmal darauf hinzuweisen, dass wir von Land zu Land unterscheiden sollten. Das einzige Land, bei dem ich die Hoffnung habe, dass der arabische Frühling zu einem Erfolg der Demokratie wird, ist Tunesien. Alle anderen Länder haben eine ganze Reihe von kleinen Schritten gemacht, die wir begrüßen sollten. Wir müssen uns allerdings auch einigen, ob wir, wenn zum Beispiel in Marokko ein bisschen mehr Parlamentarismus und Demokratie betrieben wird, lauthals schreien, dass dies nicht genug ist, oder ob wir sagen: Ihr seid auf dem richtigen Weg, lasst uns zusammenarbeiten, um dies zu vertiefen. Wir müssen auch mit solchen Entwicklungen umgehen, wie sie sich zum Beispiel bei den Monarchien in den arabischen Ländern zeigen. Es muss Aufmerksamkeit erwecken, wenn die Mitgliedstaaten des Golfkooperationsrates darüber nachdenken, Jordanien und Marokko aufzunehmen; denn damit wären im Golfkooperationsrat alle arabischen Monarchien vereinigt. Dann könnten sie eine gemeinsame Politik betreiben. Es wäre spannend, zu untersuchen, wie wir uns dazu verhalten würden. Es wäre gut, wir würden uns dazu verhalten; denn es können auch andere als revolutionäre Entwicklungen, die zur Förderung der Demokratie beitragen, stattfinden. Die Situation in Ägypten - ich glaube, das brauchen wir nicht weiter zu erörtern - ist außerordentlich kritisch. Ich weiß nicht, ob es - gewissermaßen subkutan ein Agreement zwischen den Moslembrüdern und der Armee gibt. Mir erscheint das, was dort vor sich geht, sehr merkwürdig, auch was den Umgang mit konkurrierenden Parteien und konkurrierenden Kandidaten betrifft. Wir werden mit großer Aufmerksamkeit verfolgen müssen, was in Ägypten geschieht. Wir müssen auf jeden Fall immer bereitstehen, wenn es darum geht, die Demokratie zu fördern und zu helfen. Die Situation in Syrien ist schrecklich; die Kollegen Gloser und Stinner haben das angesprochen. Wir haben keine Möglichkeiten, dort in größerem Umfang einzugreifen; im Auswärtigen Ausschuss haben wir intensiv darüber diskutiert. Ich glaube, jetzt müssen wir folgenden Weg beschreiten: Wir müssen Russland in die Pflicht nehmen - nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer UN-Resolution, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Zulassung humanitärer Hilfe -, um in dem schrecklichen Chaos, das zurzeit in Syrien herrscht, tätig werden zu können. Russland muss seinen Verbündeten Syrien zwingen, dafür zu sorgen, dass zumindest humanitäre Hilfe durch den Roten Halbmond und das Rote Kreuz gewährleistet werden kann und die bewaffneten Auseinandersetzungen so schnell wie möglich eingestellt werden. Ich denke, man muss die Russen, die im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Führungsverantwortung wahrnehmen, beim Portepee fassen und sagen: Es ist jetzt eure Pflicht, das auf die Reihe zu bekommen, um den europäischen Standards Genüge zu tun. ({0}) Die Russen wollen schließlich Teil Europas sein, und auch wir wollen, dass sie es sind. Ich glaube, wenn wir jedes Land für sich betrachten und mit offenen Augen die Besonderheiten wahrnehmen, dann wird es uns gelingen, eine vernünftige Politik zu betreiben. Ich glaube nicht, dass wir eine neue Mittelmeerpolitik mit festen Programmen, die überall in gleicher Form angewendet werden, brauchen. Vielmehr sollten wir das tun, was der Bundesaußenminister gesagt hat: Land für Land und Kooperationsmöglichkeit für Kooperationsmöglichkeit untersuchen und dann geeignete Maßnahmen ergreifen. Das hilft uns weiter. Wir alle wissen: Das größte Problem in den betreffenden Ländern ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Ich glaube nicht, dass dieses Problem dadurch gelöst wird, dass man für Visafreiheit sorgt. ({1}) Ich glaube, es wird dadurch gelöst, dass man den jungen Leuten Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, das duale Ausbildungssystem exportiert und die mittelständische Wirtschaft, sofern sie in den arabischen Ländern vorhanden ist, ermutigt, junge Leute auszubilden und sie als Arbeitskräfte zu übernehmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Sevim Dağdelen das Wort. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Situation in Syrien wurde angesprochen. Die gegenwärtigen Kriegsdrohungen gegenüber Syrien und der vorangegangene völkerrechtswidrige Überfall der NATO auf Libyen zeigen eindrücklich, dass europäische Mittelmeerpolitik zurzeit nichts weiter ist als Außenpolitik, die das Recht des Stärkeren durchsetzt. ({0}) Mit welch schlimmen Folgen: Mehr als 50 000 Tote im Libyen-Krieg! Jetzt werden in den Lagern in Libyen sogenannte Gaddafi-Anhänger zu Tode gefoltert. Erst Ende Januar dieses Jahres wurde der ehemalige libysche Botschafter in Paris tot aufgefunden. Es kann einem schlecht werden, wenn man sich die Ergebnisse dieser Ihrer humanitären Interventionen ansieht. ({1}) Deshalb steht die Linke, auch mit Blick auf die Mittelmeerregion, ohne Wenn und Aber für Verhandlungen statt Eskalation und - auch über die Mittelmeerregion hinaus - für Sicherheitsgarantien statt Förderung von Gewaltspiralen. ({2}) Ich möchte Sie daran erinnern - weil Sie so tun, als sei das alles nicht geschehen -, dass Staatspräsidenten wie Assad vor nicht allzu langer Zeit bei der Gründung der Mittelmeerunion in Paris - auch Sie haben sie unterstützt - noch auf der Ehrentribüne sitzen durften. ({3}) Unter Rot-Grün wurden Häftlinge mit BKA-Begleitung nach Syrien zum Foltern geflogen. Als einzige Partei hat die Partei Die Linke dies immer wieder verurteilt und kritisiert. Daran sollten Sie sich erinnern, wenn Sie jetzt über einen sogenannten Neubeginn sprechen. Die SPD beruft sich in ihrem Antrag auf die Ziele der europäischen Sicherheitsstrategie, nach der - ich zitiere - „an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten“ entstehen soll. Sie verschweigen, dass „verantwortungsvoll“ für die EU auch der libysche Diktator Gaddafi und bis vor kurzem eben auch Assad gewesen sind, solange der eine Migration bekämpft hat und der andere bereit war, durch outgesourcte Folter auch deutsche Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den sogenannten Terrorismus mit Informationen zu beliefern. Im Grunde handelt es sich bei den Forderungen der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion um die üblichen Zutaten des EU-Gesamtansatzes, das heißt um Grenzsicherung, Migrationsbekämpfung, den Abbau von Handelshemmnissen und die Einrichtung von Freihandelszonen. Herr Gloser hat das alles hier heruntergebetet. Sprich: Es ist die alte falsche Strategie. Sie wollen jemandem eine Medizin verabreichen, die zu einer schlimmen Krankheit geführt hat, und jetzt wollen Sie auch noch die Dosis dieser falschen Medizin weiter erhöhen. ({4}) Allein die Linke will den Mittelmeerraum nicht weiter mit Migrationsabwehr und Neoliberalismus beglücken. Die Menschen rund um das Mittelmeer haben wirklich etwas Besseres verdient als Frontex und andere Abschottungsinstrumente. ({5}) Erschreckend ist an Ihrem Antrag auch, dass nicht einmal mit einem Wort die Tausenden von Toten an den Mittelmeergrenzen als Preis des gegenwärtigen Abschottungsregimes erwähnt werden. Sie strengen sich auch gar nicht an. Es gibt keine ernsthaften Überlegungen in Ihrem Antrag, wie man Menschenleben durch Lockerungen der Migrations- und Asylpolitik retten könnte. ({6}) Stattdessen sprechen Sie von Rückübernahmeabkommen und Resettlement. Das ist einfach erbärmlich. Der UNHCR hat erst letzte Woche die neuesten Zahlen für das Jahr 2011 bekanntgegeben. Noch nie war eine so große Zahl von Menschen auf dem Weg nach Europa zu verzeichnen, die entweder noch als vermisst gelten oder ertrunken sind. Über 1 500 Tote - und Sie sprechen hier von Resettlement und Rückübernahmeabkommen. Ich finde, Sie sollten umkehren und Ihre Migrationsabwehrpolitik ändern. Dass Sie das nicht tun, haben Sie letztens bewiesen, als Sie sich bei der Abstimmung über den Antrag der Linken zum Stopp der Abschiebungen nach Syrien enthalten haben. Ich frage Sie, warum ein Weiter-so in Sachen Freihandelspolitik der EU und Migrationsbekämpfung gelten soll. Hier wäre doch die Möglichkeit für einen wirklichen Neubeginn gewesen. Die Linke findet, der wahre Maßstab für einen wirklichen Neubeginn ist die Einlösung des Versprechens von Freiheit, Gleichheit und Solidarität auch gegenüber den Menschen im Mittelmeerraum. Die Linke will diesen Neubeginn. Wir finden - ich bitte Sie, lassen Sie uns das einmal gemeinsam versuchen -, dass man hier mit ganz konkreten Schritten beginnen könnte, nämlich indem man einfach beschließt, keine Rüstungsexporte in den Mittelmeerraum und keine Abschiebungen von Migranten und Flüchtlingen aus dem Mittelmeerraum zuzulassen. ({7}) Solidarität statt Krieg und Ausbeutung - das sollte unser Motto sein. Dafür steht jedenfalls die Linke. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel.

Viola Cramon-Taubadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004025, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Jetzt blicken wir also nach einem Jahr - das haben meine Vorredner schon gemacht - auf die Region rund um das südliche Mittelmeer. Was ist von den überraschenden Aufständen in Tunesien, Ägypten, Marokko oder auch in Libyen geblieben? In den meisten Fällen ist der Ausgang - das haben auch Sie, Herr Stinner, gesagt - komplett unklar. Die Anfangseuphorie ist vielfach der Ernüchterung gewichen. In Syrien hält die Gewalt des brutalen Regimes an. Gleichzeitig müssen wir fragen - das hat wenig mit Großmannssucht zu tun, sondern mit Pragmatismus -, ob wir die notwendige Unterstützung für eine echte Transformation auf den Weg gebracht haben. Wenn ich in Richtung Bundesregierung schaue und mir die Panzerlieferungen in Erinnerung rufe, dann sage ich: Das kann sicherlich nicht die Antwort sein. Die Hoffnungen richteten sich zunächst auf Ägypten und Tunesien, wo es erstmals freie Wahlen gab. Doch nicht nur die Gewalteskalation im Stadion von Port Said in der letzten Woche zeigt, wie fragil die Situation insbesondere noch in Ägypten ist. Gestern haben wir über die Stellung der politischen Stiftungen gesprochen. Herr Hörster hat gesagt, die Situation sei skandalös. Wir wissen aber auch, dass es nicht nur die Konrad-Adenauer-Stiftung, sondern auch die nationalen Stiftungen trifft. Wir müssen natürlich versuchen, in Zusammenarbeit mit dem Militärrat zu einer Lösung zu kommen. Diese Eskalation auf diplomatischer Ebene weist aber darauf hin, dass der Militärrat seine Macht nicht teilen, sondern vielmehr verfestigen möchte. Wie lassen sich die Prozesse hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aus unserer Sicht also beschleunigen? Die Europäische Union hat hierfür im Rahmen ihrer neuen Nachbarschaftspolitik insgesamt 1,24 Milliarden Euro versprochen. Angesichts der Herausforderung ist das eine angemessene Summe; auch das wurde bereits erwähnt. Allerdings kommt das Geld viel zu langsam vor Ort an. Nur in Tunesien - das ist auch unsere Hoffnung - hat sich das Engagement der EU sichtbar erhöht. Sie haben es gesagt: Hier könnte die Hilfe wirken. Das Prinzip insgesamt, das hinter der neuen Nachbarschaftspolitik steht - „More for more“ -, konnte bisher aber in keinem dieser Staaten wirklich neue Impulse geben. Was muss unserer Meinung nach stattdessen gemacht werden? Wir sagen: Vor allem die Zivilgesellschaft muss gefördert werden. Dazu bietet sich eine europäische Stiftung für Demokratie an, um den Wandel im südlichen Mittelmeerraum dynamisch zu unterstützen. Die Kollegin von der Linken hat es richtig gesagt: ({0}) Bei der Migrationspolitik haben wir uns bisher viel zu lange und viel zu viele wohlmeindende Phrasen geleistet. - Anstatt weiter Abwehrmaßnahmen zu praktizieren, müssen wir die häufig erwähnten Mobilitäts- und Bildungsprogramme endlich auch umsetzen. Herr Hörster, die Visafreiheit ist hierfür ein wichtiger Baustein. ({1}) Ohne einen besseren Zugang für die Menschen nach Europa wird es keine echte Mobilität geben. Das müssen wir einfach anerkennen. ({2}) Für uns ist die Zeit des Mauerbaus und des Zäuneziehens vorbei. Leider wurde in Libyen mit deutscher Rückendeckung - auch das wurde erwähnt - ein sogenanntes Grenzsicherungssystem installiert und mit Marokko und Tunesien zunächst über Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge und erst dann über eine weitere Unterstützung verhandelt. Das ist leider die Realität. Was allerdings die Freihandelsfragen anbelangt - damit komme ich zum Antrag der Linken -, sprechen Sie viele wichtige Punkte an. Jeder wird den Titel „Faire Handelsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien aufbauen“ unterschreiben. Wir wollen uns allerdings erweiterten Handelsabkommen mit den südlichen Ländern auf keinen Fall komplett verschließen. Wir wollen einen echten Pakt für Ausbildung und Arbeit und nicht die nationalen Grenzen verstärken. Wir wollen hohe Umwelt- und Sozialnormen in diesen Abkommen verankern und natürlich keine bilateralen Verhandlungen, wie sie derzeit in der EU vorgesehen sind. Ich glaube, im Rahmen des Agadir-Abkommens - das war ja schon einmal angedacht - könnte man nicht nur die Handelswege Richtung EU, sondern auch die Handelsströme der Länder untereinander erleichtern. Jetzt komme ich zu dem Aspekt der echten Solidarität gegenüber den Freiheitsbewegungen. Diese können wir nur dort beweisen, wo die Staaten mit ihren Produkten bereits heute wettbewerbsfähig sind. Das ist bei sehr vielen Produkten im Agrarsektor der Fall. Wir müssen uns hierüber mit unseren Partnern in den südlichen Ländern auseinandersetzen, was wir im Moment zum Teil nicht tun. ({3}) Wir wissen, dass sie krisengeschüttelt sind. An dieser Stelle würde ich mir wünschen, dass wir innerhalb der EU etwas mehr Mut hätten und uns für einen freieren Zugang für marokkanische oder tunesische Produkte einsetzen würden. Deshalb plädieren wir für eine Öffnung der EU-Agrarmärkte - zur Not auch mit einem Mehrheitsentscheid. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Den Beitrag des Kollegen Dr. Wolfgang Götzer aus der Unionsfraktion nehmen wir zu Protokoll.1) Ich schließe die Aussprache. 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Petra Pau Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für einen Neubeginn der deutschen und europäischen Mittelmeer- politik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/6421, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5487 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Selbstständige Entwicklung fördern - Faire Handlungsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien aufbauen“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 17/8582? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stim- men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a und b auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Deutsche Polizeiarbeit in Afghanistan - Drucksachen 17/1069, 17/2878 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan - Drucksachen 17/4879, 17/8443 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({1}) Wolfgang Gunkel Gisela Piltz Wolfgang Wieland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. ({2})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Je länger wir uns mit dem Polizeiaufbau in Afghanistan befassen, desto mehr müssen wir erkennen: Er dient nicht dem Schutz der dortigen Bevölkerung, sondern ist eine Facette des Militäreinsatzes. ({0}) Viele Polizisten bedeuten nicht viel Sicherheit. Im Gegenteil: Der UN-Flüchtlingskommissar hält fest - ich zitiere -: Die wachsende Zahl bewaffneter Pro- wie Antiregierungskräfte lässt das Gefühl von Unsicherheit, Anspannung und Furcht bei den afghanischen Zivilisten ansteigen. - Auch die Pro-Kräfte schaffen Unsicherheit. Deshalb fordern wir, die deutsche Hilfe für den Polizeiaufbau endlich zu beenden. ({1}) Menschenrechtsorganisationen sind sich einig: Die afghanische Polizei ist korrupt und gewalttätig gegen die eigene Bevölkerung. Sie misshandelt und foltert Festgenommene. ({2}) Sie kassiert an Checkpoints Schmiergelder und Wegegelder. Sie raubt und vergewaltigt und mordet bei Hausdurchsuchungen. Sie steht im Dienst von Warlords. Selbst der US-Sondergeneralinspekteur stellt einen Konsens in der afghanischen Bevölkerung darüber fest, dass die Polizei hochgradig korrupt und eng mit kriminellen Machthabern verzahnt ist. ({3}) - Das kann man nachlesen, Herr Wieland. - Sogar das schwedische Militär warnt mittlerweile, das Verhalten der sogenannten Sicherheitskräfte treibe die Bevölkerung erst recht in die Arme der Aufständischen. Auch das zeigt, Herr Wieland: Die NATO-Politik ist auf ganzer Linie gescheitert. ({4}) Im deutschen Sektor in Nordafghanistan wurde vorigen Sommer General Abdul Wahid Rahman, übrigens auch als Baba Jan bekannt, zum Polizeikommandeur ernannt. Die Frauenrechtsorganisation RAWA in Afghanistan kennt ihn - Zitat - als „brutalen Menschenrechtsverletzer, der an Plünderungen und Morden beteiligt war“. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beschuldigt ihn der Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Die Bundesregierung verwies in der Antwort auf eine Anfrage von mir auf die Zuständigkeit der afghanischen Justiz. Das ist wirklich ein schlechter Witz. Schließlich beklagen Menschenrechtsorganisationen und UNO-Instanzen unisono die allgemeine Straflosigkeit. Die Bild-Zeitung hat vor zwei Monaten einen inzwischen ermordeten Polizeichef namens Daud Daud erwähnt, der nach Angaben des BND in Afghanistan ebenfalls in Drogengeschäfte verwickelt ist. In der Zeitschrift Die Bundeswehr lese ich über einen Anführer der soge19066 nannten Afghanischen Lokalen Polizei - Zitat -: „Wer nicht spurt, den peitscht er aus.“ Das sei zwar „gewöhnungsbedürftig, aber da halten wir uns raus“. So sieht der angebliche Aufbau der Demokratie bzw. des Rechtsstaats aus. Das können wir wirklich nicht mittragen. Damit muss Schluss sein. ({5}) Diese Verbrechen sind kein Einzelfall, sondern liegen in der Natur der Sache. Da werden junge Männer nach acht Wochen Kurzausbildung ohne Abschlussprüfung mit Uniform und Waffen versehen. 90 Prozent von ihnen sind im Übrigen Analphabeten und sollen Gesetze durchsetzen, die sie noch nicht einmal lesen können. Warum läuft das so? Weil die NATO das genau so haben will. Sie will keine rechtsstaatliche Kraft aufbauen, sondern bloß eine einheimische Truppe zur Intensivierung des Bürgerkrieges. ({6}) Auch die Bundesregierung - Herr Wieland, lesen Sie unsere Große Anfrage - schreibt in ihrer Antwort, dass eine Ausbildung im militärischen Sinne notwendig ist. Wir sprechen den deutschen Polizisten nicht ihre ehrlichen Absichten ab - damit das ganz klar ist -, ({7}) aber ihr Einsatz ist zum Scheitern verurteilt, weil die NATO nicht auf Demokratie, sondern auf die Stärkung eines korrupten Regimes setzt. ({8}) Es gibt nur einen einzigen Weg aus dieser Situation: Es muss eine Antikriegspolitik geben. Ziehen Sie nicht nur die Bundeswehr aus Afghanistan ab, sondern auch die Polizei! Holen Sie die Polizisten aus Afghanistan zurück! Das ist die einzige Lösung, die es zurzeit gibt. ({9}) Danke schön. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die Unionsfraktion. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linke beschäftigt sich im vorliegenden Antrag mit unseren deutschen Polizeimissionen in Afghanistan; dabei geht es weniger um die NATO. ({0}) Das begrüßen wir insbesondere deshalb, weil Sie, Frau Jelpke, noch auf Ihrem Parteitag am 15. und 16. Mai 2010 in Rostock festgestellt haben, die Bundesrepublik Deutschland müsse zivile und selbstbestimmte Strukturen in Afghanistan unterstützen und beim Aufbau helfen. Genau das ist das Ziel unseres Einsatzes. Aber warum fordern Sie dann heute genau das Gegenteil von dem, was Sie auf Parteitagen beschließen, nämlich einen vollständigen Rückzug aller Polizeibeamten? Das passt nicht zusammen, Frau Jelpke. ({1}) Meine Damen und Herren von den Linken, Ihr Parteitag hatte recht: Der afghanische Staat kann die notwendige Aufbauhilfe nicht aus eigener Kraft schaffen. Deshalb engagiert sich die internationale Staatengemeinschaft genau in diesem Sinne in diesem Land. Dabei wurde der zivile Wiederaufbau immer in den Vordergrund gestellt. Das von Deutschland verfolgte Konzept für eine zivil ausgerichtete demokratische Polizei ist geradezu beispielhaft für unser Agieren im Kontext dieser Strategie. Beteiligt sind BMI, Auswärtiges Amt und das BMZ. Dabei unterstützen die Deutschen übrigens gerade nicht afghanische Polizeieinheiten wie die ANCOP, die zugegebenermaßen eine paramilitärische Ausrichtung verfolgt, Frau Jelpke. Die Begründung, wir würden das unterstützen, geht völlig fehl. Sie behaupten weiter, unser Einsatz sei zum Scheitern verurteilt und Rechtsstaatlichkeit sei nicht erreicht worden. Das ist nicht nur grundlegend falsch, sondern es beschädigt auch das Ansehen unserer Polizistinnen und Polizisten und deren hervorragende Arbeit in Afghanistan. ({2}) Vor allem unsere bilaterale Mission genießt international und bei den Afghanen selbst hohe Wertschätzung. Der Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte schreitet ebenso planmäßig voran wie die Vorbereitungen zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung in den Distrikten. ({3}) Deutschland hat bisher rund 46 000 Polizisten ausgebildet. Die deutschen Polizeitrainingszentren in Masar-iScharif, Kunduz, Faizabad und Kabul gelten landesweit als vorbildlich und werden gezielt auf die Übergabe in afghanische Verantwortung ab 2012 vorbereitet. Die Afghanen planen sogar, diese Zentren künftig für die gesamte Ausbildung im Norden Afghanistans zu nutzen. Wer wie Sie hier von einem Misserfolg spricht, stellt die Realität völlig auf den Kopf. ({4}) Armin Schuster ({5}) Sie beklagen in Ihrem Antrag weiter, die Ausbildung der Polizei stehe unter militärischer Dominanz insbesondere der Amerikaner. Wie ist die Realität? In mehreren internationalen Gremien werden landesweit vereinheitlichte Curricula für die Ausbildung konzipiert, die nahezu alle vom deutschen bilateralen Polizeiprojekt entwickelt und vom afghanischen Innenministerium als Grundlage der Polizeiausbildung in Gesamtafghanistan festgelegt werden. Auch auf diese Weise kann man übrigens rechtsstaatliche Strukturen schaffen. Dass wir die Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten unter den Schutz der Bundeswehr stellen, ist reine Fürsorge; es ist aber kein Beleg dafür, dass wir eine paramilitärische Ausbildung gestalten. Ich empfehle Ihnen einen Besuch vor Ort. Dann können Sie live miterleben, dass die Amerikaner zu uns kommen und regelmäßig, fast täglich, um Nachhilfe bitten, wie wir das machen, weil sie wissen, dass wir die Besten sind. ({6}) Ihre Behauptung, Afghanistan würde prioritär paramilitärische Einheiten aufstellen - so kommt dies jedenfalls in Ihrem Antrag zum Ausdruck -, ist völlig falsch. Die eher paramilitärisch ausgerichtete ANCOP hat 5 000 Mann, die ANP hingegen hat 130 000 Mann. Das entspricht also einem Anteil von nicht einmal 5 Prozent. Schließlich ziehen Sie in Ihrem Antrag den Schluss, es handele sich um ein Kriegsgebiet, in dem deutsche Polizisten nichts zu suchen hätten. ({7}) Meine Damen und Herren, hier müssen wir es genau nehmen. Es handelt sich um ein Bürgerkriegsgebiet. ({8}) Wenn wir hier nicht tätig werden dürften, dann hätten wir auch niemals in Kambodscha, Bosnien-Herzegowina, im Sudan oder von mir aus auch im Kosovo einen Einsatz haben dürfen. ({9}) Diese Einsätze waren aber erfolgreich, und wir haben unsere Ziele erreicht. ({10}) Entscheidend für unseren Einsatz sind die Einstufung als Bürgerkriegsregion und die konkret zu beurteilende tatsächliche Sicherheitslage vor Ort. Diese Lage wird tagtäglich neu eingeschätzt. Unsere Beamten können deshalb seit Jahren dort erfolgreich trainieren, unterstützen und beraten, und zwar rechtlich einwandfrei auf der Grundlage der §§ 8 und 65 BPolG. Nach der Talibanherrschaft bauen wir ein für afghanische Verhältnisse beachtliches demokratisch orientiertes Polizeisystem mit auf. Wir sorgen für eine Infrastruktur und den Bau von Trainingszentren. Wir investieren in die Aus- und Fortbildung der Führungskräfte - hier gelten wir übrigens als führend -, in die politische Bildung und in Alphabetisierungskurse. All dies dient der Professionalisierung. Daher möchte ich an dieser Stelle unseren Polizistinnen und Polizisten ganz herzlich für diesen harten, aber erfolgreichen Einsatz danken. ({11}) Meine Damen und Herren von den Linken, an ihnen sollten Sie sich ein Beispiel nehmen. Sie kennen die Probleme wie Analphabetentum, zu hohe Fluktuationsraten oder technische Rückständigkeit. Jedoch sehen sie diese als Herausforderung und versuchen, jeden Tag einen kleinen Schritt weiterzukommen. Im Gesamtergebnis seit Jahren bezeichnen wir dies wirklich als einen tollen Erfolg. Jetzt dort abzuziehen, wäre ein völlig falsches Signal. ({12}) Ich würde sogar gern über das Gegenteil mit Ihnen diskutieren. Wer Afghanistan stabilisieren will, der muss insbesondere nach dem Abzug der Soldaten die zivile Aufbauhilfe verstärken. ({13}) Ob beim Aufbau der Polizei, des öffentlichen Dienstes oder einer Good Governance: Probleme wie Korruption oder instabile politische Systeme haben uns, egal in welchen Ländern wir geholfen haben, noch nie veranlasst, Reißaus zu nehmen. Wie ist die Realität? Ich glaube, dass die internationale Staatengemeinschaft in der Zukunft an Deutschland deutlich höhere Bündnisverpflichtungen stellen wird. Worüber, wenn nicht über die zivile und zivilmilitärische Aufbauhilfe, könnten wir uns politisch schneller einigen? Ich würde hier gern von einer „German Quick Stabilisation Force“ sprechen, die sich darauf konzentriert, nach Interventionen dabei zu helfen, Länder aufzubauen. ({14}) Wer diese Vision hat, der denkt nicht an Rückzug. Im Gegenteil, er denkt darüber nach, wie man neue Strategien für ein stärkeres künftiges internationales Engagement Deutschlands entwickeln könnte. Ein letzter Satz: Frau Jelpke, ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich Ihnen einmal empfehle, auf Parteitagsbeschlüsse der Linken zu hören. In diesem Fall würde ich Ihnen das aber wirklich empfehlen. ({15}) Armin Schuster ({16}) Das wäre eine tolle Sache. Dann hätten wir uns diesen Antrag erspart, und ich wäre jetzt sicher auf dem Flug zu meiner Fastnachtsveranstaltung. Danke schön. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Den Beitrag des Kollegen Wolfgang Gunkel von der SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1) Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz für die FDP-Fraktion. ({0})

Jimmy Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004148, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße natürlich auch die Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen. ({0}) - Jawohl, und an den Rundfunkempfangsgeräten. ({1}) Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Kollegen von den Linken mit ihrem Antrag bezwecken. ({2}) Scheinbar wollen Sie durch den Abzug der Polizeiausbilder erreichen, dass in Afghanistan der Aufbau ziviler Sicherheitsstrukturen dauerhaft verhindert und die Sicherheit dort grundsätzlich militarisiert wird. Aber auch die Bundeswehr hätten Sie ja lieber gestern als heute abgezogen. Wer soll Ihrer Meinung nach die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte übernehmen? Oder sind Sie der Meinung, dass das Überleben von Mädchenschulen und öffentlichen Musikaufführungen bereits ausreichend abgesichert ist? ({3}) Ich würde mich sehr freuen, wenn sich der deutsche Beitrag zur afghanischen Polizeiausbildung eines Tages auf die Ausstrahlung alter Derrick-Folgen beschränken könnte. ({4}) Dieser Tag ist aber noch lange nicht gekommen. Bis er kommt, werden wir unseren Beitrag zur afghanischen Selbsthilfe etwas konkreter gestalten müssen. Die afghanische Polizei ist ein zentraler Faktor beim Aufbau des Rechtsstaats dort. Ja, die afghanische Polizei ist alles andere als perfekt. ({5}) 1) Anlage 4 Ja, es gibt dort Korruption und Misswirtschaft. Aber die Lösung für diese Probleme kann doch nicht sein, dass wir uns zurückziehen und sagen: Schlimm, aber wenigstens haben wir nichts mehr damit zu tun. ({6}) Deutsche Polizistinnen und Polizisten leisten einen essenziellen, einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau eines Rechtsstaats, zum Aufbau geordneter Strukturen, zur langfristigen Stabilisierung des Landes und damit der ganzen Region. Die FDP-Fraktion hat seit Jahren gefordert, dass die afghanische Regierung zunehmend ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und perspektivisch selbst für die Sicherheit im Lande sorgen kann … Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte … darf nicht über Gebühr ausgedehnt werden. Von zentraler Bedeutung für die Herstellung stabiler Verhältnisse … ist der Aufbau einer funktionstüchtigen sowie den rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Polizei. So weit der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion aus der letzten Legislaturperiode. Dazu stehen wir auch heute noch. Wir haben den Abzug der Bundeswehr bereits eingeleitet. Vor diesem Hintergrund wollen Sie nun auch noch die Polizei abziehen? ({7}) Das ist verantwortungslos. Das ist menschenverachtend. Ist Ihnen eigentlich völlig egal, was dort passiert? Nach einhelliger Expertenmeinung wurde Afghanistan gerade deswegen zur Brutstätte von Instabilität, weil die internationale Gemeinschaft das Land nach dem Abzug der Sowjets alleingelassen hat. ({8}) Dieses Sicherheitsvakuum hat direkt zur Entstehung der Taliban geführt. Und jetzt wollen Sie, dass sich dieser Kreislauf des Elends wiederholt? ({9}) - Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Jelpke, war ich dort. Ich war in Faizabad, ich war in Kunduz, und ich war auch in Masar-i-Sharif. Ich habe vor Ort mit den Polizistinnen und Polizisten gesprochen. Ich habe mich vor Ort selbst davon überzeugen können, welche Erfolge sie dort feiern und wie gut die Ausbildung dort mittlerweile funktioniert. Ich habe vor Ort auch mit einem afghanischen Dolmetscher gesprochen, der uns begleitet hat, als wir in den Dörfern unterwegs waren. Er hat mich explizit auf Folgendes hingewiesen: Wir brauchen in diesem Land 20 Jahre Frieden, eine Generation, die in Frieden aufwächst, ohne Waffen, ({10}) damit diese junge Generation die Chance hat, für dieses Land Verantwortung zu übernehmen. - Bei diesem Frieden müssen wir ihnen helfen, und das tun wir zum Beispiel mit der Ausbildung einer rechtsstaatlich orientierten Polizei. ({11}) Natürlich gibt es Probleme bei der Ausbildung und beim Aufbau der Polizei - das bestreitet auch niemand -; aber die Lösung kann doch nicht sein, angesichts dieser Probleme den Kopf in den Sand zu stecken. Wir müssen vielmehr die Ausbildung besser gestalten und die Ergebnisse besser kontrollieren. Wir werden natürlich nicht an den Punkt kommen, an dem sich die Polizei von Afghanistan und die von Deutschland wirklich vergleichen lassen - das ist, glaube ich, allen klar -; aber wir werden nicht den Anspruch aufgeben, die Grundsätze eines Rechtsstaats dort zu verankern. Das gilt insbesondere für das staatliche Gewaltmonopol. Die Stabilität Afghanistans und die Sicherheit seiner Bevölkerung werden dann gesichert sein, wenn zukünftige Generationen von afghanischen Jungen nicht mehr mit der Überzeugung aufwachsen, ihre Familien mit der Kalaschnikow in der Hand verteidigen zu müssen. Wir sind uns der Sicherheitslage in Afghanistan bewusst. Aber Ihre Behauptung, wir würden deutsche Polizisten in einen Krieg schicken, ist einfach nur falsch. ({12}) Fortschritte sind durchaus messbar. Probleme werden erkannt, und in vielen Punkten werden Lösungen gefunden. Bis 2009, bis zur Londoner Konferenz, wurde viel zu oft und ohne Maß und Ziel agiert. Jetzt aber wird mit einem ordentlichen Konzept gearbeitet. Das zeigt Erfolge, und wir können mehr Verantwortung übergeben. Die Zusammenarbeit mit unseren Partnern läuft ebenfalls erheblich besser. Wir verzeichnen heute größere Erfolge als zu Beginn unseres Engagements. An dieser Stelle können und dürfen wir nicht umkehren. Wir müssen uns vielmehr dafür einsetzen, dass deutsche Polizistinnen und Polizisten nicht mehr nach 18 verschiedenen Regeln nach Afghanistan geschickt werden. Ebenso darf ein Auslandseinsatz kein Hindernis für die Karriere sein. Hier sind die Kollegen in den Ländern gefordert, sich dafür einzusetzen, dass den Polizistinnen und Polizisten, die sich für den Einsatz in Afghanistan entscheiden, kein Nachteil entsteht. Von einem Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan kann heute keine Rede sein. Die Linke will Afghanistan fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Gut, dass die Mehrheit in diesem Haus mehr Verantwortungsbewusstsein hat! Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist ja nun die letzte Debatte, bevor die närrischen Tage beginnen. Da haben Sie einen beachtlichen Vorgriff geleistet, Frau Kollegin Jelpke, ({0}) sowohl durch Ihre Rede als auch durch Ihren Antrag. Vernunft und Logik wurden da einfach suspendiert. Sie stellen sich hier allen Ernstes hin und sagen, Korruption ist ein Riesenproblem bei der afghanischen Polizei - da widerspricht Ihnen ja niemand -, und dieses Problem werde dadurch gelöst, dass wir unsere Ausbilder dort abziehen. Sie müssen mir einmal erklären, wo da die Logik sein soll. Sie sagen, die USA haben ein eher paramilitärisches Bild von der Polizei, das nicht unser Bild ist. ({1}) Nun erklären Sie einmal, warum das besser werden soll, wenn die Europäer, insbesondere die Deutschen, ihre Polizeiausbildung dort beenden! ({2}) Ihr ganzer Antrag ist schlechter Agitprop; das will ich Ihnen einmal sagen. Da war sogar der Arbeiterkampf noch vernünftiger. Ihnen wird ja immer vorgehalten, dass Sie über das Niveau nicht hinausgekommen sind. Aber Sie sind unter diesem Niveau gelandet. ({3}) Der Anfang dieser Polizeiausbildung war schwierig bis missglückt; das wissen wir alle. ({4}) - Ja, er war schwierig bis missglückt. ({5}) Man hat das unterschätzt. Aber Sie merken noch nicht einmal, dass es besser geworden ist, dass es gerade in letzter Zeit Fortschritte gibt, ({6}) denn die Antwort auf Ihre Große Anfrage ist von 2010. Die Polizeigewerkschaften, deren Statements Sie noch nicht einmal verstehen, schildern natürlich die Schwierigkeiten. Sie sagen aber: Wir als deutsche Polizei wollen nicht in den Krieg gehen. ({7}) - Nein. Sie sagen auch nicht: Wir sind drin und wollen raus. Das sagen nur Sie. Alle deutschen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sind dort freiwillig. Sie sind dort mit Unterstützung ihrer Gewerkschaften und Berufsverbände, und sie haben auch die Unterstützung des ganzen Hauses - mit Ausnahme der fünf Sektierer, die hier sitzen. ({8}) Ihre Rede ist nachgerade unglaublich. Als ob die deutsche Polizei der NATO unterstellt und Teil des Militärs wäre! ({9}) Wir haben immer um eine klare Trennung zwischen Polizei und Militär gerungen. Wir haben keine Milizen bei uns. Wir haben keine paramilitärischen Polizeieinheiten, keine Gendarmerie. Das wird so bleiben, weil wir und auch andere, zum Beispiel die Gewerkschaften, darauf achten und weil es um die schwierige Frage - der Sie sich nicht stellen - geht: ({10}) Welche Grundbefriedung muss es in den verschiedenen Regionen Afghanistans geben, damit Polizeiausbildung dort weiter möglich ist? Die Kollegen haben es gesagt: Wir werden sie quantitativ sogar noch verstärken müssen. Es wurde aus Fehlern schon gelernt, aber es kann noch weiter gelernt werden. Ihre Argumentation - rauszugehen, weil die Schwierigkeiten so groß sind - ist die Argumentation eines Autofahrers, der sagt: Ich sehe so schlecht durch meine verschmierte Scheibe; da kann ich mir auch gleich die Augen zubinden. - So argumentieren Sie. Das ist bar jeder Logik. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich gebe das Wort dem Kollegen Günter Baumann von der Unionsfraktion. ({0})

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem an diesem Freitagnachmittag vorliegenden Antrag der Linken „Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan“ beweist die Fraktion Die Linke erneut, dass sie ein Problem mit unserer demokratischen Grundordnung und mit den internationalen Verpflichtungen, die wir weltweit eingehen, hat. Ich möchte ausdrücklich betonen, Frau Jelpke: Ihr Antrag ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die bereit sind, in Auslandsmissionen Hilfe zu leisten, die für Freiheit und Demokratie stehen. ({0}) - Ich glaube daran. - Auch mit anderen Anträgen haben Sie uns in der letzten Zeit beschäftigt. Ich denke an die Kennzeichnungspflicht für Angehörige der Bundespolizei - das war eine ähnliche Aktion - und an die Begrenzung des Einsatzes von Pfefferspray. ({1}) Damit zeigen Sie immer wieder, dass Sie Probleme mit unserer Demokratie haben. In Afghanistan - das muss man deutlich sagen - geht es um eine Friedensmission, die Hilfe für die Bevölkerung bedeutet, welche seit Jahrzehnten unterdrückt wird und diese Hilfe gerne haben möchte. In dieser Mission leisten 47 Länder gemeinsam Hilfe. Das ist also keine deutsche Aktion, wie Sie das zum Teil immer darstellen. Eine breite Mehrheit dieses Parlamentes hat diese Einsätze beschlossen. ({2}) Im Jahr 2011 waren rund 770 Beamte von Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Zoll und Länderpolizeien an sieben verschiedenen Friedensmissionen der Europäischen Union, an vier Missionen der Vereinten Nationen und an drei bilateralen Projekten an den verschiedensten Krisenherden dieser Welt beteiligt. Es ist wichtig, dass wir diese Hilfe leisten. Es geht darum, demokratische Werte zu vermitteln und Freiheit und Sicherheit vor Ort zu fördern, um eine Hilfe für die Menschen unmittelbar in der Region. Dass diese Hilfe unter oft schwierigen Bedingungen geleistet wird, ist klar. Das wissen wir. Einige Beispiele, die Sie in diesem Zusammenhang genannt haben, sind durchaus richtig. Aber das ist natürlich nicht die Mehrzahl. Sicherlich gibt es Probleme, deswegen müssen wir auch - Herr Schuster hat es deutlich gesagt - ganz besonders unseren Polizistinnen und Polizisten, die diesen Einsatz im Ausland unter schweren Bedingungen leisten, von dieser Stelle aus ganz herzlich danken. ({3}) Deutschland hilft in Afghanistan seit 2002 beim Aufbau einer Polizei. Eine funktionierende und rechtsstaatliche Polizei ist die Grundlage für Demokratie, für einen funktionierenden Staat. Die Ausbildung afghanischer Polizeikräfte verläuft keineswegs so desaströs, wie Sie es darstellen. Es ist einfach eine schwierige Mission, die wir dort durchführen müssen, um dem Land zu helfen. Bisher - Stand Oktober 2011 - gibt es rund 139 000 Polizisten in Afghanistan. Ziel ist es, diese Zahl bis Oktober dieses Jahres auf 157 000 zu erhöhen. Dafür hat Deutschland gegenwärtig 200 Polizisten im Land, die dort die Ausbildung durchführen. Das ist wichtig für den Staat. Deutschland leistet damit Entwicklungshilfe beim Staatsaufbau in Afghanistan. Das muss man ganz deutlich sagen. Herr Schuster hat bereits auf die Bedeutung hingewiesen; das kann ich mir sparen. Das Train-the-Trainer-Programm, mit dem wir afghanische Polizisten zu Trainern ausbilden, damit die Afghanen ihre Polizisten selbst ausbilden können, funktioniert sehr gut. Hier erzielen wir eine ganze Reihe von Erfolgen. Meine Damen und Herren der Linksfraktion, Schwierigkeiten, die es durchaus gibt, dürfen nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass wir jetzt aufhören und die Polizeiausbilder abziehen müssen. Das wäre der falsche Weg. Wir müssen unseren internationalen Verpflichtungen gerecht werden und uns diesen Herausforderungen stellen. Das tun wir auch. Es geht langfristig um einen geordneten Übergang, den Aufbau einer afghanischen Sicherheitsarchitektur im Land, um die Souveränität des Landes Afghanistan herzustellen. Das geht nun einmal nicht ohne Polizei. Deswegen leisten wir diesen Beitrag. Konsequenz aus den Schwierigkeiten kann nicht sein, aufzuhören. Wir leisten auch eine ganze Reihe anderer Hilfen, zum Beispiel durch Alphabetisierungskurse, Ausbildungseinheiten, die die Wahrung der Menschenrechte zum Inhalt haben, sowie ein transparentes Lohnüberweisungssystem, um dem Thema Korruption entscheidend zu begegnen. Alle Maßnahmen bringen Schritt für Schritt Erfolg, aber sie reichen bei weitem noch nicht aus. Ein Rückzug wäre jetzt der absolut falsche Weg. Mit Blick auf die Geschichte dieses Landes - 30 Jahre Unterdrückung, 30 Jahre Bürgerkrieg - wird deutlich, dass wir weitermachen müssen, damit die positiven Entwicklungen fortgesetzt werden. Der Polizeieinsatz verlangt Engagement und Geduld; der Erfolg stellt sich nicht von heute auf morgen ein. Die Beispiele aus anderen Ländern dieser Welt, die Herr Schuster bereits angeführt hat, zeigen ja, dass es funktioniert. Ich denke zum Beispiel an die EULEX-Mission im Kosovo. Dort haben wir jahrelang gearbeitet und müssen auch heute noch Aufgaben erfüllen. Aber die Erfolge sind eindeutig da. Beratung, Ausbildung, Personalentwicklung sind der richtige Weg, um ein Land in die Selbstständigkeit zu führen. Auch nach der Proklamation der Unabhängigkeit von 2008 ist im Kosovo nach wie vor Unterstützungsarbeit erforderlich. Das dauert eben seine Zeit. Dies wird auch der Weg für Afghanistan sein. Auch wenn wir 2014 die Sicherheitsverantwortung an Afghanistan übergeben, werden wir und die internationale Staatengemeinschaft das Land weiter gemeinsam unterstützen müssen. Wir werden die afghanische Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, nicht im Stich lassen. Wir werden auch nicht, wie es die Linken in ihrem Antrag fordern, einfach davonrennen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8443, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4879 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktionen, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung der Fraktion Die Linke angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Montag, den 27. Februar 2012, 15 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.