Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Schönen Freitagmorgen zusammen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 22 abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Sie widersprechen nicht. Dann ist das so beschlossen.
So rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Globalisierung gestalten - Partnerschaften
ausbauen - Verantwortung teilen
- Drucksache 17/8600 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Sie
widersprechen nicht. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Debatte ist - so ist mir das gerade gesagt worden - unser
Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.
Herr Bundesminister, ich gebe Ihnen das Wort. Bitte
schön, Kollege Dr. Westerwelle.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich
zunächst beim Deutschen Bundestag dafür bedanken,
dass wir seit einiger Zeit und aus Anlass des Konzeptes,
das die Bundesregierung am Mittwoch im Kabinett verabschiedet hat, eine Debatte von eher grundsätzlicher
Bedeutung und Ausrichtung führen. Ich möchte mich bei
allen Fraktionen bedanken; denn dieser Gedanke ist bei
allen Fraktionen gewachsen. Ich möchte auch zum Ausdruck bringen, dass ich diese Debatte für notwendig
halte; denn bei allem, was wir in Deutschland diskutieren, bei allen wichtigen innenpolitischen Debatten, die
wir zu führen haben, bei allen europäischen Problemen,
die wir derzeit lösen müssen - wir tragen eine große Verantwortung -, dürfen wir den Blick auf die Welt nicht
verlieren.
Wir dürfen nicht ignorieren, dass sich die Welt in einem rasanten Tempo verändert, dass sich die Gewichte
in der Welt verschieben, dass neue Kraftzentren gewachsen sind und neue Gestaltungsmächte auf die politische
Bühne kommen, die nicht nur wirtschaftlichen Erfolg
haben, sondern auch politischen Einfluss. Das ist ganz
augenscheinlich eine große Veränderung.
Wir leben in einer Zeit der Veränderung. Das, was als
Wort Globalisierung in den letzten 15 Jahren in aller
Munde war, ist in Wahrheit weit mehr als ein wirtschaftlicher Prozess. Die Globalisierung ist eine Vernetzung
der Welt. Die Globalisierung vernetzt nicht nur Wirtschaften und bringt nicht nur Handelspartner zueinander,
sondern es werden auch Werte globalisiert, es werden
Lebensstile globalisiert. Es ist eine große Chance für
uns, eine werteorientierte und interessengeleitete Außenpolitik zu formulieren und auch umzusetzen. Wir betrachten die Globalisierung als eine Chance, als eine
Chance nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg, sondern
ausdrücklich auch als eine Chance für unsere freiheitlichen Werte. Für diese treten wir weltweit ein.
({0})
Meine Damen und Herren, viele sind aufmerksam geworden auf die Debatte in den Vereinigten Staaten von
Amerika, als die amerikanische Außenministerin erklärt
hat, es sei notwendig, den asiatisch-pazifischen Raum
stärker zu beachten und die amerikanische Außenpolitik
stärker auf den asiatisch-pazifischen Raum zu konzentrieren. In Wahrheit vollzieht sich hier nur eine reale Entwicklung nach. Wir leben in einer Welt mit 7 Milliarden
Menschen, und wir spüren, auch wenn wir im Westen
immer noch glauben, den Taktstock fest in den Händen
zu halten, dass in Wahrheit immer mehr Gestaltungsmächte ebenfalls nach diesem Taktstock greifen.
Was sind die drei Merkmale dieser Gestaltungsmächte, von denen ich hier spreche?
Erstens. Es ist eine atemberaubende wirtschaftliche
Erfolgsgeschichte, die diese Gestaltungsmächte vorweisen können.
Zweitens. Aus dem großen wirtschaftlichen Erfolg
dieser Mächte resultiert auch der Anspruch auf mehr
politische Mitwirkung und mehr politischen Einfluss.
Drittens. Diese neuen Gestaltungsmächte wollen mindestens regional Ordnungskräfte sein, das heißt sich
auch als Ordnungsmächte, mindestens regional, verstehen.
Es ist deshalb notwendig, dass wir jetzt rechtzeitig
mit diesen neuen Gestaltungsmächten das Gespräch suchen, uns auch politisch auseinandersetzen, verstehen,
dass es mehr ist als China, Indien, Brasilien, Russland
oder Südafrika, also mehr ist als die BRICS-Staaten,
dass längst eine lange Reihe von weiteren Staaten sich in
der zweiten Reihe auf den Weg gemacht hat. Beispielhaft sind in dem Konzept, das wir in dieser Woche schon
vorgestellt haben, einige Staaten genannt, etwa Kolumbien, Vietnam, Indonesien. Es wären noch viele mehr zu
nennen. Aber es ist nicht möglich, eine abschließende
Liste der neuen Gestaltungsmächte vorzulegen. Allein in
den letzten zehn Jahren konnten wir beobachten, wie
schnell sich die Dinge verändern. Plötzlich sind Länder
in der ersten Liga der Weltpolitik dabei, bei denen man
das vor kurzem noch nicht für möglich gehalten hat. Die
Umbrüche insbesondere in der südlichen Nachbarschaft
Europas belegen dies eindeutig.
Ich will für die Bundesregierung klar sagen: Wir wollen die alten Freundschaften ausbauen und vertiefen,
aber wir wollen gleichzeitig auch neue Partnerschaften,
neue strategische Partnerschaften mit diesen neuen Gestaltungsmächten rechtzeitig eingehen und aufbauen.
Das ist unsere Ausgangsposition, das ist der Kern unseres Programms.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Widerspruch daraus herauszulesen, wie es in den politischen Diskussionen gelegentlich getan wird, nämlich zu meinen, die Hinwendung zu
neuen Gestaltungsmächten gehe einher mit der Abwendung von alten Partnerschaften, das ist definitiv falsch.
Für uns bleiben Europa und die Europäische Union das
Fundament deutscher Außenpolitik. Für uns bleibt die
transatlantische Partnerschaft das Fundament deutscher
Außenpolitik. Das heißt, die alten Freundschaften werden
nicht dadurch infrage gestellt, dass man neue strategische
Partnerschaften eingeht. So wie die neue Ostpolitik die
Westintegration nicht infrage gestellt hat, so stellt das
Hinwenden zu neuen strategischen Partnern, zu neuen
Gestaltungsmächten alte Partnerschaften nicht infrage.
Wir wissen, was wir am Westen haben. Für uns war der
Westen immer mehr als eine geografische Größe. Für uns
war der Westen immer auch eine Wertegemeinschaft; so
verstehen wir ihn.
({1})
Die Vernetzung der Welt findet in vielen Bereichen
statt. Deswegen ist es wichtig, dass wir verstehen, dass
wir, vom Umweltschutz bis hin zur Bekämpfung des
Hungers in der Welt und zur präventiven Diplomatie,
also zur Konfliktvermeidung, alle Partner brauchen.
Herzstück unserer Politik sind dabei die Vereinten Nationen. Aber ich sage hier auch klar: Die Vereinten Nationen werden nur dann auch in Zukunft eine entscheidende
Rolle in der Weltinnenpolitik spielen, wenn sie sich den
neuen Entwicklungen in unserer Zeit anpassen. So wie
die Gewichte in den Vereinten Nationen derzeit verteilt
sind, spiegeln sie das Ergebnis einer Weltordnung nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs wider.
Es ist aus unserer Sicht nicht das erste Ziel, dass
Deutschland als einer der größten Beitragszahler mit einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat vertreten ist. Ja, das
wollen wir, aber das ist nicht das Eigentliche, worum es
geht, sondern es geht darum, dass die Gewichte der Welt
sich auch entsprechend widerspiegeln müssen. Dass Lateinamerika überhaupt nicht ständig im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen vertreten ist, dass der gesamte
asiatische Raum im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen so unterrepräsentiert ist, dass Afrika überhaupt nicht
ständig im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten ist, das ist aus unserer Sicht falsch. Wir sind der
Überzeugung: Das spiegelt die Verhältnisse der Vergangenheit wider, aber nicht die Gegenwart und erst recht
nicht die Zukunft. Deswegen liegt es im Interesse der
Vereinten Nationen, dass wir alle gemeinsam die Reform
der Vereinten Nationen voranbringen und vorantreiben.
({2})
Dabei wissen wir natürlich, dass es in vielen Bereichen Unzulänglichkeiten und unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der
aktuellen Debatten. Es gibt schon viele Bereiche, wo wir
international zusammenarbeiten; dort erkennt man, dass
es Lichtblicke gibt. Aber es ist zum Beispiel nicht ausreichend, wenn man die Entscheidung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom vergangenen Samstag
ausschließlich auf das doppelte Veto von Russland und
China reduziert. Sosehr wir kritisieren, dass es diese beiden Vetos von Russland und China gegeben hat, so sehr
sollten wir, wenn wir uns außenpolitisch wirklich ernsthaft damit auseinandersetzen, anerkennen, dass alle anderen 13 Länder bei der Syrien-Resolution mit Ja gestimmt haben, darunter Länder wie Indien, Pakistan und
Südafrika. Das zeigt, dass sehr wohl auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind.
Ich betrachte es als eine positive Entwicklung, dass
im Hinblick auf Syrien, aber auch im Hinblick auf andere Konflikte, die wir im Nahen und Mittleren Osten
derzeit verzeichnen müssen und auch bewältigen wollen,
die Arabische Liga eine zunehmende Rolle spielt. Es ist
bemerkenswert, dass die Arabische Liga sich in den letzten zwölf Monaten stärker als politische Einheit versteht
und stärker politischen Einfluss nimmt. Wir werden als
deutsche Bundesregierung darauf reagieren. Ich beabsichtige, unsere diplomatischen Beziehungen zur Arabischen Liga formell aufzuwerten.
({3})
Denn wir erkennen, dass es neue regionale Kräfte gibt,
mit denen wir bestens kooperieren können.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wieczorek-Zeul?
Bitte sehr.
Eine Zwischenbemerkung: Sie haben das Veto von
Russland und China im UN-Sicherheitsrat erwähnt und
zu Recht kritisiert. Gerade weil Sie sagen, die UN sind
besonders wichtig, möchte ich Sie auffordern, dazu beizutragen, dass Deutschland, die Europäische Union und
die Arabische Liga vor die UN-Generalversammlung gehen, um dort eine Verurteilung Syriens wegen der anhaltenden Gewalt gegenüber der eigenen Bevölkerung zu
bewirken. Das ist der nächste Schritt, der schneller möglich ist als die Einrichtung einer Kontaktgruppe. Deshalb
fordere ich Sie nachdrücklich dazu auf, vor die UN-Generalversammlung zu gehen, um dort ein Votum gegen
Syrien zu erreichen.
({0})
Frau Kollegin, ich habe vorgestern ein langes Gespräch mit dem russischen Außenminister Sergej
Lawrow nach seinem Besuch in Damaskus geführt. Ich
habe gestern ein intensives und auch operatives Gespräch mit dem Generalsekretär der Arabischen Liga,
Nabil al-Arabi, geführt. Ich muss Ihnen sagen: Ich hielte
es für klüger, wenn wir das, was wir tun, nicht nur unter
nationalen Gesichtspunkten diskutieren, sondern auch
engstens abstimmen, und zwar nicht nur mit den
13 Staaten, die im Sicherheitsrat mit Ja gestimmt haben,
sondern ausdrücklich auch mit der Arabischen Liga und
übrigens auch mit der Türkei. In diese Richtung arbeiten
wir. Ich glaube, entscheidend ist, dass wir das gemeinsam tun und gemeinsam in dieser Richtung weiterarbeiten.
Es sind mehrere konkrete Dinge verabredet worden,
und mehrere konkrete Dinge werden derzeit diskutiert.
Ich begrüße den Vorschlag einer gemeinsamen Beobachtermission der Arabischen Liga und der Vereinten Nationen. Ich halte das für wichtig. Ich begrüße auch den Vorschlag der Arabischen Liga in Bezug auf die Einsetzung
eines eigenen Sondergesandten der Vereinten Nationen.
Ich halte es für unbedingt notwendig, dass wir eine Kontaktgruppe der Freunde eines demokratischen Syriens
gründen. Ich halte es für unbedingt erforderlich, dass wir
in Europa auch den politischen Druck auf das Assad-Regime erhöhen, indem wir die Sanktionen verschärfen.
Auch kann ich ausdrücklich nicht ausschließen, dass wir
gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, dass es klug ist,
die Vereinten Nationen erneut damit zu befassen, sei es
im Sicherheitsrat, sei es in der Vollversammlung der
Vereinten Nationen.
({0})
Beides wird derzeit nicht ausgeschlossen; beides wird
derzeit auch mit den Partnern erörtert und diskutiert.
Da Sie ungeduldig mit den Händen gestikulieren - ({1})
- Ich bitte Sie, hinsichtlich des Schicksals der Menschen
in Syrien hat hier jeder dieselbe Betroffenheit wie Sie.
({2})
Ich glaube, davon kann man fest ausgehen.
({3})
Das gilt für jeden, Frau Kollegin, für absolut jeden. Der
Unterschied ist, dass wir handeln und wirklich etwas
verändern wollen.
({4})
Deswegen ist es in meinen Augen ganz dringend notwendig, Frau Kollegin - es geht nicht darum, dass ich
hier als deutscher Außenminister etwas auf nationaler
Ebene ankündige -, dass wir zunächst einmal akzeptieren, dass die Arabische Liga hierbei eine ganz zentrale
Rolle spielt. In meinen Augen spielt die Arabische Liga
eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Konfliktes. Deswegen möchte ich auch, dass Initiativen von der Arabischen Liga ausgehen und mit der Arabischen Liga besprochen werden. Das verstehe ich unter kooperativer
Außenpolitik, Frau Kollegin.
({5})
Nachdem wir einen Ausflug zu einem ganz ernsten
und wichtigen Problem gemacht haben, will ich noch
eine Schlussbemerkung zu dem machen, was uns als
Antwort bevorsteht. Als Antwort ist nicht ausreichend,
neue Partnerschaften anzustreben und zu finden, uns mit
den aufstrebenden Gestaltungsmächten zusammenzutun
und engstens mit ihnen abzustimmen. Notwendig ist
ausdrücklich auch die Erkenntnis, dass wir uns in
Europa gegenseitig brauchen. Ich glaube, die Antwort
auf die Umbrüche in der Welt ist eine stärkere Integration Europas. Deutschland ist in der Welt viel kleiner, als
Deutschland in Europa ist. In Europa ist Deutschland relativ groß; in der Welt ist Deutschland relativ klein. Wir
haben heute Morgen in den Fraktionen über die Fragen
beraten, was das finanziell bedeutet, welche Fiskalpakete verabredet werden müssen. Ich rate uns aber dazu,
auch die politische Debatte über die nächsten Integrationsschritte in Europa in einen Zusammenhang mit den
neuen Veränderungen in der Welt zu stellen.
Ich bin der festen Überzeugung, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dass es unbedingt erforderlich ist, uns in
Europa zu versichern, dass niemand zurückbleibt, ein
Angebot an alle europäischen Partner zu machen, auch
an diejenigen, die derzeit noch zögern, die im Dezember
noch nicht mitgestimmt haben, die derzeit noch an anderen Stellen arbeiten, dass wir zusammenbleiben.
Ich denke, dass es als Antwort auf die Veränderungen
in der Welt auch an der Zeit ist, in Deutschland für
Europa zu werben. Ich bin aber auch dafür, dass wir in
Europa für Deutschland werben. Wir befinden uns in einer wirklichen Prägephase, was Europa angeht - in einer
Prägephase, in der sich für viele Jahre nicht nur entscheiden wird, wie das Bild Europas in Deutschland und das
Bild Deutschlands in Europa sein wird, sondern auch,
wie das Bild Europas in der Welt sein wird. Deswegen
werbe ich dafür, dass wir uns in Europa kooperativ verabreden, dass wir gemeinsam vorgehen und dass wir gemeinsam daran arbeiten, dass wir kein deutsches Europa
bekommen, sondern ein europäisches Deutschland bleiben. Das sollte in meinen Augen auch Teil unserer Überlegungen sein.
Wir müssen aufpassen, dass wir es mit unserem eigenen Auftritt in Europa nicht überziehen, sondern es ist
klug und sinnvoll, immer zu verstehen: Wir sind Teil
Europas, Teil der Europäischen Union - nicht nur wegen
der Geschichte, sondern ausdrücklich auch, weil wir in
Zeiten der Globalisierung nur so die Zukunft gemeinsam
meistern können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Der nächste
Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege Gernot
Erler für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön,
Kollege Erler.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
muss etwas Wichtiges in der deutschen Außenpolitik
passiert sein,
({0})
wenn am Mittwoch dieser Woche das Bundeskabinett
eine reich bebilderte Broschüre von 64 Seiten als Konzept der Bundesregierung beschließt, das in der Hausgebrauchsversion für Abgeordnete - DIN A4 ohne Bilder auch schon circa 30 Seiten umfasst, dieses dann einen
Tag später im prall gefüllten Weltsaal des Auswärtigen
Amtes mit großem Tamtam der Öffentlichkeit vorgestellt
wird und sich heute im Bundestag - man beachte die
Reihenfolge - eine Unterrichtung durch die Bundesregierung und eine anderthalbstündige Debatte anschließen.
({1})
Inzwischen wissen wir, dass diese Arbeit 18 Monate
gedauert hat und dass alle 14 Bundesministerien an ihr
beteiligt waren. Unter diesen Umständen kommt einem
der Titel „Globalisierung gestalten - Partnerschaften
ausbauen - Verantwortung teilen“ schon fast bescheiden
vor. Da greift man lieber zu dem idiomatisch innovativen Titel „Gestaltungsmächtekonzept“. Das macht neugierig, das verführt zum Lesen.
Je mehr man allerdings liest, desto mehr stößt man
auf einige Auffälligkeiten dieses Konzepts der Bundesregierung. Schon die erste Kapitelüberschrift lautet:
„Neue Gestaltungsmächte als Partner“. Zu gern wüsste
man natürlich, welche Länder das namentlich sind. Man
erwartet, dass sie alsbald aufgezählt werden. Aber Fehlanzeige. Weder auf den 68 Seiten noch auf den knapp
30 Seiten - je nach Version - erfährt man, was es denn
für Länder sind, mit denen so viel gemacht werden soll.
Am weitesten haben Sie sich, Herr Außenminister,
noch bei der Vorstellungsrede im Weltsaal vorgewagt
und dies heute zum Teil wiederholt. Sie haben zum
Schluss Ihrer Rede gesagt, es seien nicht nur die BRICSStaaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und
Südafrika. Sie sind dann fortgefahren - ich zitiere -:
Eine Vielzahl anderer Länder hat sich auf den gleichen Weg gemacht, ob Mexiko, Indonesien, Vietnam, Kolumbien oder viele andere mehr.
Das Gestaltungsmächtekonzept ist also eine Strategie für
neun genannte Länder oder „viele andere mehr“. Das
hinterlässt einen ein bisschen ratlos,
({2})
obwohl man ahnt, dass diese Vagheit etwas mit geopolitischer Höflichkeit zu tun haben könnte. Warum sollte
man ein Land, das sich selbst als Gestaltungsmacht einordnet, durch eine allzu geizige Aufzählung womöglich
vor den Kopf stoßen?
Es ist nun leider so, dass diese Vagheit nicht nur an
dieser Stelle besteht, sondern in dem ganzen Konzept zu
finden ist. Hier wird buchstäblich über alles gesprochen:
internationale Zusammenarbeit und Global Governance,
Kultur, Bildung, Wissenschaft, Frieden, Sicherheit,
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Finanzen, Ressourcen, Ernährung, Energie, Arbeit, Soziales, Gesundheit, Entwicklung und Nachhaltigkeit.
Jedes Mal lesen wir einige unstrittige Sätze über
Ziele, die wir uns insgesamt in diesen Arbeitsbereichen
vorgenommen haben. Dann kommt wie ein ceterum censeo, dass wir diese Ziele im Dialog mit den neuen Gestaltungsmächten ein Stückchen weiterbringen wollen.
Diese Methode führt zu einem Produkt des unangreifbaren guten Willens und der jeden Widerspruch entmutigenden Schlichtheit. Ich widerspreche deswegen auch
keinem einzigen Satz dieses Konzepts, stelle aber doch
die Frage, ob es überhaupt eines ist.
({3})
Die Antwort auf diese Frage findet sich auf Seite 26
der Version ohne Bilder. Ich zitiere:
Die Bundesregierung ist dem Ziel verpflichtet, die
einzelnen Fachpolitiken zielgerichtet zu einem
übergreifenden und umfassenden Globalisierungskonzept für die Zusammenarbeit mit den neuen Gestaltungsmächten zu verzahnen.
„Ist dem Ziel verpflichtet“ heißt doch wohl: Da kommt
erst noch die Arbeit; sie muss erst noch geleistet werden.
Das ist wieder ein Satz, dem man nur zustimmen kann.
Es gibt also dieses Gestaltungsmächtekonzept noch gar
nicht, sondern eher eine Art Materialsammlung, aus der
man künftig ein Konzept machen könnte.
Dann fragt man sich aber, warum es dann diesen enormen Aufwand gibt. Hier stößt man auf eine ziemlich persönliche Motivationskette von Außenminister Westerwelle,
wenn man noch einmal in seine Vorstellungsrede für das
Gestaltungsmächtekonzept schaut. Gleich am Anfang
finden wir da ein Bekenntnis zu Deutschlands Partnerschaften in Europa und über den Atlantik. Das haben Sie
eben auch noch einmal betont. Dann jedoch kommt ein
lautes Aber. Das lautet so:
Aber die Welt befindet sich auch im Wandel: Es
entstehen neue Kraftzentren in der Welt, in Asien,
in Lateinamerika und anderswo.
Der Topos „Neue Kraftzentren“ kommt uns bekannt
vor. Wir erinnern uns: Er stammt aus einer mit harten
Bandagen geführten Kontroverse über Grundausrichtungen und Prinzipien der deutschen Außenpolitik, die ihren Ausgangspunkt in der Entscheidung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in der Nacht vom 17. auf
den 18. März letzten Jahres hatte, wo Deutschland bekanntlich eben nicht mit Frankreich und den Vereinigten
Staaten, sondern gemeinsam mit Russland und China gestimmt hat.
({4})
In diese Debatte hat dann hinterher Altbundeskanzler
Helmut Kohl mit mahnenden Worten eingegriffen. Er
hat davor gewarnt, sich von den wichtigsten Partnern
Frankreich und den Vereinigten Staaten abzuwenden.
({5})
Damals haben Sie, Herr Außenminister, proaktiv gegengehalten. Ich zitiere aus Zeit Online vom 25. August
2011:
Es sei nicht nur entscheidend, „alte Partnerschaften“ zu pflegen, sondern auch „die neuen Kraftzentren der Welt ernst zu nehmen und neue strategische
Partnerschaften aufzubauen“.
Das haben Sie eben noch einmal wiederholt. Das war damals Ihre Legitimation. Das war Ihre Antwort auf die
Sorgen und die Kritik vom Altbundeskanzler und anderen. Jetzt taucht dieses Thema wieder auf. Die neuen
Kraftzentren der Welt sind unbegreiflicherweise immer
noch - ich habe das zitiert - das große Aber zu unseren
historisch gewachsenen, nicht aufgebbaren Partnerschaften. Ich sage Ihnen: Daraus kann nichts Gutes entstehen.
Ich sage Ihnen aber auch: Kompliment, dass Sie das
ganze Bundeskabinett in dieses Konzept mit eingespannt
haben. Mit uns wird Ihnen das nicht gelingen. Wir diskutieren gerne mit Ihnen über eine Welt im Wandel, in der
es unbestritten Länder und Regionen gibt, deren Bedeutung zunimmt.
({6})
Es gibt aber auch Länder und Regionen, die an Bedeutung verlieren.
({7})
Wir diskutieren aber nicht auf so einer unverbindlichen,
geradezu beliebigen und von der Entstehungsgeschichte
ideologisch infizierten Grundlage.
({8})
Vielen Dank, Kollege Gernot Erler. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Philipp Mißfelder. Bitte schön, Kollege Philipp Mißfelder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Geschätzter
Kollege Erler, in erster Linie wollte ich eigentlich zur
Sache reden, aber ich kann es mir und Ihnen nicht ersparen, etwas zu Ihren Ausführungen zu sagen. Wenn Sie
sich anschauen, wie die Besuche ausländischer Gäste in
Berlin momentan verlaufen, die nicht immer unproblematisch sind, wenn Sie die Taktfrequenz sehen, mit der
europäische Partner Hilfe und Orientierung suchend
nach Deutschland kommen,
({0})
die Bundeskanzlerin und den Außenminister um Rat bitten, wenn Sie sehen, wie die Diskussionen bei nahezu allen wichtigen internationalen Konferenzen ablaufen, ob
auf der UNO-Woche in New York, ob in Davos in der
Schweiz oder zuletzt auf der Münchener Sicherheitskonferenz, dann werden Sie feststellen, dass sich momentan
alles um Deutschland dreht.
({1})
Deshalb hat Minister Westerwelle zu Recht gesagt:
Wir müssen mit dieser Verantwortung auch verantwortungsbewusst umgehen und an dieser Stelle Orientierung
bieten. Deshalb fand ich Ihren Beitrag heute - ich hoffe,
Sie wissen, dass ich Ihre Beiträge sonst schätze - unpassend und falsch. Sie sind auf das Thema Globalisierung,
wie Sie sich das vorstellen, inhaltlich nicht eingegangen.
Ihre Kritik, welcher Motivation sie auch entstammen
mag, war einfach falsch. Wie denn anders als im Dialog
mit den neuen sich herausbildenden Kraftzentren soll
diese Globalisierung gestaltet werden? Herr Erler, diese
Frage haben Sie auch nicht beantwortet. Ich finde das
Konzept, wie es Minister Westerwelle auf den Weg gebracht hat, ambitioniert und auch richtig.
({2})
Ich glaube, die Alternative zum Dialog mit den neuen
Kraftzentren wäre Konfrontation. So habe ich Ihre
Schriften und Ihre Beiträge jedoch noch nie verstanden,
auch jetzt nicht, selbst wenn ich mir gewünscht habe, an
dieser Stelle von Ihnen etwas dazu zu hören. Insofern
weise ich das zurück und kann nur sagen, dass wir das
ambitionierte Konzept unterstützen. Hier möchte ich den
Häusern, die sich daran beteiligt haben, herzlich danken
und vor allem den Beamten, die sehr viel Herzblut,
Engagement und zähes Ringen investiert haben. Das war
nicht immer ganz einfach.
Einen Punkt möchte ich herausgreifen, Herr Minister.
Die zukünftige Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird ein historischer Quantensprung sein; ich möchte sogar sagen, eine
historische Befreiung. Herzlichen Dank an Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich durchgesetzt haben
und damit für die Bundesregierung in Zukunft einen
ganz neuen Schwerpunkt herausbilden.
({3})
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Raabe?
Ja, er ist Experte für dieses Thema.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege Mißfelder, Sie sprachen
das Entwicklungsministerium an. In dem Konzept gibt
es einige Stellen, in denen sich dazu bekannt wird, Entwicklungsziele erreichen und Verantwortung partnerschaftlich übernehmen zu wollen.
Hierzu möchte ich zunächst kurz anmerken, dass
Deutschland seine internationalen Verpflichtungen verfehlt und seine Versprechen nicht eingelöst hat, nämlich
die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit gemäß des
sogenannten ODA-Stufenplans zu steigern. Obwohl
mehr als 370 Abgeordnete des Hauses einen Aufwuchs
von über 1 Milliarde Euro gefordert haben, wurde nur
ein ganz kläglicher Betrag zustande gebracht.
In Ihrem Konzept nimmt die Passage zur Rechtsstaatlichkeit und guten Regierungsführung einen großen
Raum ein. Hierzu möchte ich von Ihnen wissen: Wenn Sie
Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung einfordern, dann ist es gut, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Wenn Sie, Herr Mißfelder, in einem Entwicklungsland, in
dem Tourismus eine große Rolle spielt, beobachten würden, dass ein Wirtschaftsunternehmen, das im Tourismusbereich intensiv tätig ist, einer Partei eine große Spende
- vielleicht in Höhe von 1 Million Euro - macht,
({0})
und Sie weiterhin beobachten, dass danach ein Gesetz
erlassen wird, das der entsprechenden Branche hilft,
über 1 Milliarde Euro einzusparen, wäre das dann für Sie
Korruption und schlechte Regierungsführung?
Zweite Frage. Sie haben ja gerade die Beamten gelobt: Wenn in einem Entwicklungsland eine Regierung
die Beamtenstellen nur mit Parteifreunden besetzt und
nicht nach Fachlichkeit und Eignung,
({1})
wäre das für Sie schlechte Regierungsführung? Wäre
dann - jetzt konkret auf diese Regierung bezogen - nicht
das, was die FDP mit der Senkung der Mehrwertsteuer
für Hoteliers gemacht hat, genauso zu bewerten?
({2})
Im Hinblick auf das, was Minister Niebel in seinem
Haus betreibt,
({3})
dass er nämlich neue Stellen schafft, den Apparat aufbläht, eine neue Abteilung bildet - die der Personalrat als
Wahlkampfabteilung bezeichnet -, um für die nächste
Wahl Steuermittel und Personal zweckzuentfremden,
({4})
frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, dass das von Ihnen
gelobte Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung mittlerweile zu einem Ministerium für
Vetternwirtschaft und Abwicklung verkommen ist?
({5})
Ich danke Ihnen für diese Fragen, weil sie Ihre Nichtregierungsfähigkeit zeigen.
({0})
Das muss man so sagen. Ich weiß nicht, wie man in so
kurzer Zeit in der Opposition so schnell die Regierungsfähigkeit verlieren kann. Ich hoffe, dass es in Ihrer Fraktion noch andere Leute gibt, die im Blick haben, was
beim strukturellen Umbau eines Ministeriums notwendig ist.
Nehmen Sie einmal eine Nachhilfestunde bei Franz
Müntefering. Er hat 2005 in der Großen Koalition seinen
Personalapparat neu strukturiert, um den Anforderungen
der Großen Koalition gerecht werden zu können. Das
wäre der Erörterung an einer anderen Stelle sicherlich
noch einmal wert; es zeigt aber vor allem, dass die Interessen der Hausleitung nicht außer Acht gelassen werden
können, wenn politische Programme durchgesetzt werden. Das haben Sie so gemacht, und das haben Vorgängerregierungen so gemacht,
({1})
und das werden Sie, wenn Sie irgendwann einmal wieder Regierungsverantwortung tragen sollten, ebenso machen. Wir sind beide jung genug, dass wir das vielleicht
erleben werden. Dann werde ich Sie daran erinnern.
Ansonsten muss ich zum Thema „Schlechte Regierungsführung“ sagen: Ich stimme Ihnen nicht zu und
halte Ihre Einlassung für falsch.
({2})
Ich hoffe, dass ich damit Ihre Frage zur Zufriedenheit
beantwortet habe.
Jetzt zum Thema: Wir wollen die Globalisierung gestalten. Wenn ich kurz das bilanzieren darf, was diese
Bundesregierung und wir als die sie tragenden Fraktionen bisher als unsere Schwerpunkte herausgebildet haben, dann muss man sagen, dass wir uns den Herausforderungen der Globalisierung sehr konkret stellen. Das
gilt zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit Ländern,
die auf der Weltbühne neu auftrumpfen, nämlich China,
Indien, Südafrika oder Brasilien.
Alleine dieser kleine Überblick zeigt, wie schwierig
das Spannungsfeld zwischen unserer wertegebundenen
und gleichzeitig interessengeleiteten Außenpolitik an
manchen Stellen sein kann. Denken Sie in dem Zusammenhang beispielsweise an China und die Menschenrechtsverletzungen. Gleichzeitig muss man die großen
historischen wirtschaftlichen Herausforderungen bedenken, die die neuen Emerging Markets uns bieten. Diese
dürfen wir als Exportnation natürlich nicht außer Acht
lassen.
Gleichzeitig müssen wir in diesen Regionen mit dem
Export unserer politischen Ideen wirken. Minister
Westerwelle hat zu Recht gesagt: Die Welt wartet doch
gar nicht darauf, dass wir sie belehren und ihr erklären,
was wir für den besten Weg halten; vielmehr müssen wir
aus unserer wirtschaftlichen Stärke heraus unsere politische Konzeption so glaubwürdig vertreten, dass sie als
das attraktivste Lebensmodell der Welt erscheint und damit nachahmenswert wird.
({3})
Um dieses Engagement geht es im Kern. Wenn wir in
den besagten Regionen oberlehrerhaft auftreten, werden
wir nichts erreichen.
Wir schöpfen aus der Zeit von 1989, als die Zeitenwende in Deutschland unser Leben nachhaltig beeinflusst
hat. In sehr kurzer Zeit mussten wir verantwortungsbewusst einen sehr schweren Transformationsprozess
bewältigen, und zwar sowohl wirtschaftlicher als auch
politischer Natur. Deshalb sind wir gefragter Gesprächspartner, wenn es darum geht, jetzt denjenigen behilflich
zu sein, die selber die Chancen ihres Landes identifizieren, die Konflikte in ihrem Land sehen, die wirtschaftlichen Herausforderungen im Blick haben und verantwortungsbewusst versuchen, ihr Land in eine neue, bessere
Zukunft zu führen.
Wir leben in einer Zeit, die nicht sicherer geworden
ist, trotz des Endes des Kalten Krieges und den damit
zunehmenden partnerschaftlichen Verbindungen beispielsweise mit Russland, auf der Basis unserer stabilen
transatlantischen Partnerschaft, die wir fortsetzen und
intensivieren wollen. Die Welt vor unserer Haustür ist
nach wie vor unsicher. Denken Sie an die Verbrechen
von Srebrenica im Jahr 1995, an die zuletzt aufgekommenen Fragen um Libyen, an den Irak-Krieg, an die aktuellen Fragen um Syrien und - das will ich besonders
hervorheben - an die Großkonflikte in Afrika, etwa im
Kongo oder in Somalia, die das Chaos fest im Griff hat
und die wir deshalb nicht bei den Fragen, die uns wichtig
sind, vernachlässigen dürfen. Deshalb möchte ich ausdrücklich das Streben unserer Regierung unterstützen,
dass Afrika eine eigene Repräsentanz in den ständigen
Gremien der Vereinten Nationen bekommt. Anders wird
eine internationale Einbindung nicht möglich sein. Deshalb unterstütze ich unsere Regierung ausdrücklich.
({4})
Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie gelingt
es uns, Asien nicht nur in eine wirtschaftliche Kooperation, sondern auch in Sicherheitsstrukturen und in politische Transformation einzubinden? Dort sind unsere Aktivitäten, die Aktivitäten vieler einzelner Parlamentarier,
sehr weit gediehen. Wenn man sich anschaut, mit welcher Expertise dieses Haus dazu beiträgt, dass der Austausch mit zentralasiatischen Ländern, aber auch mit den
Großmächten in Asien gelingt, dann muss man sagen:
Das ist wirklich bemerkenswert. Vergleichen Sie das
einmal mit anderen Parlamenten. Das ist etwas, wo wir
auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen können, wo wir ein sehr gefragter Gesprächspartner sind,
wenn es darum geht, zu zeigen, wie wir - ich habe es
vorhin schon erwähnt - unsere Herausforderungen nach
1989 gemeistert haben und wie wir momentan unserer
führenden Rolle in Europa gerecht werden.
({5})
Ich setze beispielsweise auch im Zusammenhang mit
China eindeutig in erster Linie auf Dialog statt auf Konfrontation. Ich glaube, dieses Alleinstellungsmerkmal
sollte ganz Europa im Blick haben. Dort mit dem erhobenen Zeigefinger aufzutreten, wird wenig bringen. Ich
glaube, die Strahlkraft unseres Modells muss so groß
und so positiv sein und der Erfolg muss einfach so überzeugend sein, dass sich der Reformprozess, der sich in
den vergangenen Jahrzehnten in China entwickelt hat,
weiter stabilisiert. Es geht darum, diesen Prozess zu unterstützen, damit auf lange Sicht tatsächlich weitere notwendige Reformen eingeleitet werden.
Dahin gehend hat sich unsere politische Arbeit schon
massiv verändert, meine Damen und Herren. Es ist nicht
mehr so, dass in erster Linie der Austausch von Depeschen eine große Rolle spielt. Vielmehr spielt eine multimediale Dauerpräsenz eine große Rolle. Das, was sich
heute aus einzelnen Unterausschüssen des Deutschen
Bundestages über Facebook und Twitter verbreitet, kann
für die außenpolitische Darstellung relevant sein. Deshalb hat das Gewicht des außenpolitischen Diskurses
hier im Parlament eine neue Stufe erreicht; das müssen
wir sehr ernst nehmen.
Dieser Entwicklung wird die Bundesregierung dankenswerterweise gerecht. Ich kann mich nicht erinnern
- auch nicht in Bezug auf die Vorgängerregierung, an
der meine Partei beteiligt war -, dass uns das Auswärtige
Amt und die Bundesregierung so umfassend über jeden
einzelnen Schritt informiert haben, der gegangen wird.
Das gilt auch für das vorliegende Konzept. Deshalb geht
mein herzlicher Dank an Sie, Herr Minister,
({6})
dass Sie sich nicht nur die Mühe gemacht und die Zeit
genommen haben, sich mit uns darüber auszutauschen,
sondern auch viele Anregungen unsererseits aufgenommen haben.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, glauben, dass
wir mit dem vorliegenden Konzept unserer Verantwortung gerecht werden. Wir glauben, dass wir gerade in Zeiten der Sparsamkeit, in denen wir jeden Euro, den wir
ausgeben wollen, hinterfragen und gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern rechtfertigen müssen, gezielt auf effizientere und schlankere Strukturen setzen sollten. Deshalb haben wir Doppelstrukturen infrage gestellt und
damit einen Beitrag zu einer effizienten und innovativen
Außenpolitik geleistet.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Philipp Mißfelder. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die
Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. Bitte schön,
Kollege Wolfgang Gehrcke.
({0})
Danke sehr, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Der Außenminister hat eine außenpolitische Grundsatzdebatte angekündigt. Ich finde, sie ist
schon lange überfällig. Ich will sie führen, die Fraktion
Die Linke auch; also müssen wir sie führen.
Anders als der Kollege Erler stoße ich mich nicht an
einzelnen Sätzen des Konzeptes. Die interessieren mich
nicht, das Ambiente finde ich nebensächlich. Ich bin der
Auffassung, dass das ganze Wesen des Konzeptes falsch
ist und in die falsche Richtung geht.
({0})
Deswegen muss man das Wesen des Konzeptes angreifen. Es geht um die inhaltlichen Differenzen und nicht
darum, wie Sie das Konzept vorgestellt haben.
Ich habe den Eindruck, dass Ihr Konzept dem Wesen
nach kein Gestaltungskonzept, sondern ein Zerstörungskonzept ist.
({1})
Das nehme ich sehr ernst. Ich bin der Meinung: Wer
heute auf solche Art und Weise mit anderen europäischen Ländern, zum Beispiel Griechenland, umgeht, wer
diktiert, dass Löhne und Renten sinken sollen, wer diktiert, welches Steuersystem in den jeweiligen europäischen Ländern durchgesetzt werden soll,
({2})
wer den Sparkommissar schicken will, der zerstört die
Strahlkraft von Europa und die europäische Idee. Das ist
keine Gestaltung, das ist Zerstörung.
({3})
Herr Westerwelle, Sie werden es schwer haben, neue
strategische Partner in der Welt zu finden, wenn Sie alte
Partner so schlecht behandeln. Wie die Bundesregierung
in Europa derzeit vorgeht, das ist Zerstörung pur.
In Ihrem Konzept wird deutlich - darin scheiden sich
die Geister, das gebe ich zu; ich sage: mit uns nicht! -,
dass Ihre außenpolitische Philosophie die des freien
Welthandels ist. Dem wird alles untergeordnet, auch in
dem vorliegenden politischen Konzept. Ich werfe Ihnen
das gar nicht vor. Aber man darf es doch wohl sagen.
Ihre Werte sind die Werte einer weltweiten, kapitalistischen Gesellschaft: Bereicherung, Konkurrenz, Aneignung fremder Arbeit. Um es zugespitzt zu formulieren:
Ihre wichtigste Gestaltungskraft ist die Macht und die
Kraft des Geldes. Das durchzieht Ihr ganzes Konzept.
Die Globalisierungskritiker und auch wir wollen den
sozialen Ausgleich, wir wollen Solidarität statt Konkurrenz, Gerechtigkeit statt Vorteilsnahme.
({4})
- Und Sozialismus.
({5})
Danke sehr, Herr Kollege Mißfelder, wie konnte ich das
vergessen. Das ist das Wesen des Sozialismus.
({6})
Um es deutlich zu sagen: Unsere Wege gehen völlig
auseinander. Das, was Sie vorgelegt haben, ist nicht
Ausdruck neuen Denkens - das war ein Begriff, der die
Außenpolitik früher einmal geprägt hat -, sondern es ist
im Kern altes Denken. Sie beschäftigen sich in Ihrem
Konzept nicht mit der Frage, wie das Überleben der
Menschen zu sichern ist:
({7})
Stopp der Rüstungsspirale, Abrüstung, Stopp der Umweltzerstörung, Kampf gegen Armut und Hunger und
vor allen Dingen - das muss in ein solches Konzept hinein - konsequentes Nein zu allen Kriegen.
({8})
Ohne eine Antwort auf die großen Fragen der Menschheit ist jedes Konzept ein Konzept von gestern.
Sie hätten schon bei Herrn Gorbatschow nachlesen
können, was neues Denken ist; was immer man von
Gorbatschow hält.
({9})
Sie müssen gründlicher darüber nachdenken, auf welche Art und Weise Sie Deutschland präsentieren. Ihr
Kollege, der Verteidigungsminister, hat auf der Münchner Konferenz einen weltweiten Führungsanspruch für
Deutschland reklamiert. Auch beim Kollegen Mißfelder
konnte man eben hören: Wir sind wieder wer, wir bestimmen, wir müssen mit der gewachsenen Verantwortung umgehen.
({10})
Thomas de Maizière hat in München gesagt, Deutschland sei in der Lage, zu kämpfen und zu führen. Ich
finde, das ist ein markanter Satz, der meinen Eindruck
verstärkt. Ich sage in aller Deutlichkeit: Deutsche Großmachtallüren und deutsche Großmachtpolitik waren weder für die Welt noch für unser Land noch für Europa irgendwann gut.
({11})
In Europa und in der Welt werden viele Sprachen gesprochen. Ich möchte, dass das so bleibt. Wir leben den
Gedanken einer vielfältigen Welt mit unterschiedlichsten
Akteuren. Eine Welt, in der nur Deutsch gesprochen
wird, ist schändlich, eine solche Welt lehnen wir ab. Das
wäre eine einfältige Welt, das wollen wir doch nicht
ernsthaft anstreben. Vielmehr geht es darum, für Partnerschaft und Gleichberechtigung zu sorgen.
Ich denke, wenn man Globalisierung gestalten will,
muss man auch einmal darüber nachdenken, wie man
verhindern kann, dass auf pflanzliche und menschliche
Gene Patente erhoben werden, wie man verhindern
kann, dass Nahrungsmittel zu Spekulationsobjekten werden, wie man weltweit Bodenreform befördern kann,
wie man die Privatisierung von Wasser und anderen Gemeinschaftsgütern verhindern kann. Das sind heute globale Aufgaben.
({12})
Sie sprechen in Ihrem Konzept an - ich sage das, um
fair zu bleiben -, welche Staaten vor allen Dingen Ihre
Gestaltungspartner sein sollen. Allerdings nehmen Sie
da eine andere Gewichtung als ich vor. Ich habe mich
gestern mit Studierenden, die in Chile protestieren, getroffen. Diese jungen Frauen sind für mich die Gestaltungspartner in einer neuen Welt wie auch die Indios in
Bolivien, die Wanderarbeiter in China, die Jugendlichen
auf dem Tahrir-Platz, die Frauen in Afrika, die sich zu
Produktionsgenossenschaften zusammenschließen und
- ich will das noch einmal wiederholen - die Streikenden in Griechenland, Spanien und Frankreich.
({13})
Gestaltungspartner in dieser Welt sind die Kräfte, die
die Welt tatsächlich verändern. Wenn Sie schauen, wer
in den letzten Monaten und Jahren die Welt wirklich verändert hat, stellen Sie fest, dass das am wenigsten Staaten waren, sondern solche Kräfte. Mit ihnen müssen wir
kooperieren, mit ihnen müssen wir eine neue Form der
Zusammenarbeit finden.
Deswegen sage ich: Ihr Aufschlag ist gut. Eine
scharfe Debatte ist notwendig. Sie aufzurufen, sich vom
Weg des Geldes abzuwenden, ist verschwendete Kraft.
({14})
Ich möchte, dass wir einen Grundsatzstreit über das Wesen des Konzeptes führen. Ich möchte nicht, dass es so
bleibt, wie es vorgestellt wurde.
Schönen Dank.
({15})
Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Nächster Redner in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unser Kollege Dr. Frithjof Schmidt. Bitte schön,
Kollege Dr. Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
schwarz-gelbe Koalitionsvertrag bezieht keine Position
zu der Frage, wie die deutsche Außenpolitik auf den
Aufstieg neuer Akteure reagieren soll. Das war eine
Leerstelle in Ihrer Politik. Es hat jetzt zwei Jahre gedau19030
ert, bis Sie Ihre politischen Hausaufgaben gemacht haben. Aber immerhin, Sie haben jetzt etwas vorgelegt.
Sie listen viele Grundsätze und Ziele auf, die wir teilen. Doch eines ist auffällig: Das Wort Gerechtigkeit
kommt in diesem Konzept nicht ein Mal vor.
({0})
Das kann bei einem FDP-Minister kein Versehen sein.
({1})
Wer über die Gestaltung der Globalisierung redet und
dabei internationale Gerechtigkeit außen vor lässt, der
hat die Größe der Aufgabe nicht wirklich verstanden.
({2})
Es geht dabei um einen gerechten globalen Interessenausgleich. Dazu gehört auch politische Selbstverpflichtung.
Ganz deutlich wird das beim Thema Klima. Sie bekennen sich zur Reduzierung der globalen Emissionen
von Klimagas bis 2050 um mindestens 50 Prozent. Nur,
Sie verschweigen, dass, um dieses Ziel zu erreichen, die
Industriestaaten ihre Emissionen um mindestens 80 Prozent reduzieren müssen. Ihr Konzept enthält kein Wort
zur deutschen Selbstverpflichtung. Sie werden keine Erfolge im Dialog haben, wenn Sie vor den notwendigen
Selbstverpflichtungen zurückschrecken. Genau das tun
Sie aber.
({3})
Ich hätte mir gewünscht, heute zu hören, welche Länder Sie zu den neuen Gestaltungsmächten zählen wollen
und welche nicht.
({4})
Sie wollen das offenlassen. Der Grund liegt auf der
Hand. Sie würden damit vielen Ländern de facto die Gestaltungsfähigkeit absprechen und sie regierungsoffiziell in die zweite Klasse der internationalen Politik einordnen. Das zeigt, dass dieser Begriff ein diplomatischer
Fehlgriff ist.
({5})
Wir haben in den vergangenen Jahren einen deutlichen Machtzuwachs der G 20 erlebt. Die G 20 stehen offensichtlich zunehmend in Konkurrenz zu den Vereinten
Nationen; denn circa 170 Länder sind eben nicht Mitglied der G 20 und dabei dann außen vor. Wir hätten
Vorschläge erwartet, wie Sie die G 20 in die Vereinten
Nationen einbinden wollen. Doch darüber ist in diesem
Konzept nichts zu lesen.
Ähnliches gilt für zentrale Politikfelder, zum Beispiel
für die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sie sehen in einer Politik der konsequenten Marktöffnung eine Lösung
für fast alle Probleme. Dass in diesem Zusammenhang
aber auch Umwelt- und Sozialstandards eine zentrale
Rolle einnehmen müssen, verfällt bei Ihnen zu einer
Randnotiz. Dabei ist das aber das zentrale Problem, gerade auch im internationalen Wettbewerb. So richtig es
ist, dass es guter Beziehungen zu den aufstrebenden
Mächten in allen Weltregionen bedarf, so falsch ist es,
Außenpolitik auf Außenwirtschaftspolitik zu reduzieren.
({6})
Leider bekommt man bei diesem Konzept schnell den
Eindruck, Außenpolitik ist bei Ihnen vor allem die Vorhut für deutsche Wirtschaftsinteressen; denn konkrete
Vorschläge für eine Bindung der Außenwirtschaftsförderung an Menschenrechtskriterien sucht man vergebens.
Wer über einen neuen Dialog redet, der muss auch zu
seinen internationalen Verpflichtungen stehen. Es ist unglaubwürdig, in einem solchen Konzept kein Wort darüber zu verlieren, dass Deutschland seiner internationalen Verpflichtung zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels
bei der Hunger- und Armutsbekämpfung ebenso wenig
nachkommt wie bei der Bereitstellung der Mittel für die
Anpassung an den internationalen Klimawandel.
({7})
Auch wenn Sie es immer wieder ignorieren: Das sind
zentrale Fragen der Globalisierung.
Sie haben den europäischen Stufenplan zur Entwicklungsfinanzierung politisch aufgekündigt. Das war und
ist ein Affront gegen zentrale Vereinbarungen der UNO
und der Europäischen Union. Wer global gestalten will,
muss wenigstens seine internationalen Verpflichtungen
erfüllen. So aber präsentieren Sie uns hier ein Konzept
von 67 Seiten mit vielen leeren Versprechungen und wenig Substanz.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schmidt - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Rainer Stinner. Bitte schön, Kollege Dr. Stinner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kurz zwei Sätze zu den Einlassungen der Kollegen der
SPD; denn sie haben sich ein weiteres Mal von ernsthaften Diskussionen verabschiedet.
Herr Erler, Sie können doch die Libyen-Entscheidung
nicht in den Mittelpunkt Ihrer Argumentation stellen.
Wir kommen gerne darauf zurück und halten Ihnen in
diesem Zusammenhang vor, dass Ihr Fraktionsvorsitzender an dem Abend der Entscheidung die Entscheidung
ausdrücklich begrüßt hat.
Herr Raabe, wir können uns nur wünschen, dass Ihre
Einlassungen in dieser wichtigen außenpolitischen DeDr. Rainer Stinner
batte im deutschen Fernsehen Tag und Nacht in einer
Endlosschleife gezeigt werden, um zu dokumentieren,
was die SPD auf der Pfanne hat. Sie sind nicht satisfaktionsfähig.
({0})
- Herr Mützenich, Sie kommen nach mir. Sie können das
noch richtigstellen.
Da ist mir Herr Gehrcke noch lieber. Er hat wenigstens eine Meinung und sagt sie auch. Die ist zwar völlig
falsch; denn er hat ein völlig anderes Weltbild als wir. Er
kann aber seine Meinung wenigstens erklären. Herr
Gehrcke, da sind Sie mir zehnmal lieber als die Kameraden, die nichts zu sagen haben. Gleichwohl ist Ihre Ansicht konsequent falsch.
({1})
Das Konzept der Bundesregierung geht von einem
Weltbild aus, das vor einigen Jahren nicht unumstritten
war. Es geht nämlich von einer multipolaren Welt aus,
nicht davon, dass wir in Zukunft einen Hegemon haben.
({2})
Es geht auch nicht von einer G-2-Welt mit Amerika und
China aus, sondern von einer multipolaren Welt. In dieser multipolaren Welt wollen wir unseren Platz finden.
({3})
Es ist sehr wichtig, zu bestätigen, was auch in dem Konzept steht: Diesen Platz finden wir nur im Rahmen Europas. Das ist eine ganz wichtige Determinante, die in diesem Konzept nochmals vorgestellt wird.
({4})
Im Prinzip haben wir jetzt eigentlich „nur“ zwei Aufgaben: Erstens müssen wir versuchen, mit der sich ändernden Welt fertigzuwerden. Zweitens müssen wir definieren, wie Deutschland seinen Platz darin findet.
Zum ersten Punkt: Die Welt ändert sich. Das brauche
ich hier nicht im Detail zu erläutern. Ich habe das Gefühl, dass wir vor einem großen Lernprozess stehen. Wir
- Deutsche, Europäer, der Westen, Gesellschaft und
Politik - müssen lernen, mit der neuen Welt umzugehen.
Wir müssen lernen, dass die bisherige Annahme bzw.
der Gedanke, dass sich die Welt in einer gewissen
Zwangsläufigkeit zu europäischen Werten, zu europäischen Systemen hin entwickeln wird, falsch ist. Wir
müssen lernen, in Zukunft mit Systemen zu leben, die
eine eigene Legitimität entwickeln und diese aus der
Sicht der Bevölkerung auch haben, die aber anders ticken als wir und zum Beispiel nicht von dem Modell eines laizistischen Staates ausgehen. Das müssen wir lernen. Ich glaube, dieser Lernprozess hat erst begonnen.
In dem Konzept steht völlig zu Recht: Wir erwarten
und befördern, dass auch andere Verantwortung übernehmen. Dann müssen wir aber auch akzeptieren, dass
sie diese Verantwortung vielleicht in einer Weise übernehmen, die uns nicht hundertprozentig recht ist. Auch
das ist ein Lernprozess, den wir entsprechend vollziehen
müssen.
({5})
Zum Thema Globale Governance. Ich habe die Frage
der deutschen Beteiligung am UN-Sicherheitsrat immer
ganz locker gesehen. Historisch zeigt sich: Wenn in einer
Organisation die Kluft zwischen dem Beitrag, den sie
zum Weltgeschehen liefern muss, und dem, was sie zu
sagen hat, auf Dauer nicht geschlossen wird, dann wird
die Organisation als solche delegitimiert und verliert ihre
Schlagkraft. Von daher ist völlig richtig, was hier angesprochen worden ist: Wir müssen dafür sorgen, globale
Governance den heutigen Bedingungen anzupassen.
Die zweite Frage lautet: Wie kann sich Deutschland
positionieren? Hier ist von Herrn Gehrcke angesprochen
worden - das war völlig unsäglich -, wir hätten Großmannssucht. Nein, das stimmt nicht. Auch Sie merken,
wenn Sie in Israel, in Ägypten, im Iran, in Pakistan oder
wo auch immer sind, dass viele auf der Welt uns als ein
wichtiges Land wahrnehmen und von uns erwarten, dass
wir uns wie ein großes, wichtiges Land in Europa benehmen. Das ist ein Lernprozess, den wir in Deutschland
vollziehen müssen.
({6})
Der deutsche Ohnemichel ist ja nicht grundlos ein Symbol deutschen Selbstverständnisses. Dieses müssen wir
gemeinsam, Gesellschaft und Politik, in den nächsten
Jahren deutlich verändern.
Herr Gehrcke, wir haben in vielen Teilen der Welt
- das wissen Sie genauso wie ich; denn Sie reisen ähnlich viel herum - zum Glück das Image eines ehrlichen
Maklers. Das ist ein Pfund, mit dem wir als Deutsche
durchaus unseren Einfluss in der Europäischen Union
einbringen.
({7})
Dieses Konzept ist deshalb darauf angelegt, die deutschen Instrumente auf breiter Basis einzuführen. Ich will
nur zwei nennen.
Das eine ist die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, die wir als FDP-Fraktion und als Koalition für ganz
wichtig halten. Das hat dazu geführt, dass der Etat für
die AKBP, für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, im Haushalt 2012 so hoch ist wie noch nie zuvor in
dieser schönen Bundesrepublik Deutschland. Das ist
Ausdruck eines bewussten politischen Entscheidungsprozesses dieser Koalition, den wir ausdrücklich begrüßen.
({8})
Es wurde dann oft gesagt, zum Beispiel von Herrn
Gehrcke und von Herrn Schmidt, wir würden uns nur auf
die Wirtschaft konzentrieren. Herr Schmidt, im Zusammenhang mit der deutschen Handlungsfähigkeit, den
Handlungsmöglichkeiten und dem Handlungswillen
kann man über vieles reden, aber wir wissen doch - auch
Sie, Herr Schmidt, wissen das -, dass die Handlungsfähigkeit auf internationaler Ebene in einem ganz großen
Maße von der wirtschaftlichen Potenz eines Landes abhängig ist. Das mag man lieben oder hassen - Herr
Gehrcke findet das wahrscheinlich furchtbar -, aber es
ist doch Tatsache, dass wir deshalb wahrgenommen werden, dass unser Wort deshalb gehört wird, weil wir eine
gesunde wirtschaftliche Basis haben. Somit wird dieses
Thema zu Recht in diesem Konzept angesprochen.
Trotz all des Streites im Deutschen Bundestag finde
ich es gut, dass es hier - vielleicht mit Ausnahme der
Linken, die ein anderes Weltbild haben - hinsichtlich der
großen Linien nach wie vor einen außenpolitischen Konsens gibt. Da gehe ich über manche Nickligkeiten der
Opposition hinweg, die ich innenpolitisch verstehe, außenpolitisch aber nicht. Wir glauben, dass die Bundesregierung einen wichtigen Aufschlag gemacht hat. Wir
alle wissen - der Außenminister weiß das, und wir wissen das -, dass das natürlich nicht das Ende des Prozesses ist, sondern dass das der Beginn eines Diskussionsprozesses, den wir in Deutschland dringend brauchen,
ist. Wir, die FDP, werden die Bundesregierung dabei
nach vollen Kräften unterstützen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Dr. Stinner. - Nächster Redner
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Dr. Rolf Mützenich. Bitte schön, Kollege Dr. Mützenich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesaußenminister, ich glaube, das, was Sie aufgeschrieben haben, stellt teilweise eigentlich eine Binsenweisheit dar. Für die Erkenntnis, dass neue Länder,
dass neue Gestaltungsmächte auch einen Gestaltungsanspruch haben, ist kein umfangreiches Papier notwendig;
({0})
denn im Grunde genommen ist dies der Kern der Geschichte internationaler Politik.
Ich hätte als Anstoß für eine grundsätzliche Debatte
über Außenpolitik viel interessanter gefunden, zu lesen,
was Sie in den kommenden wenigen Monaten überhaupt
noch erreichen wollen, was den Kern der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik da ausmachen soll. Dazu findet man in diesem Konzept nichts.
({1})
Eine weitere interessante Frage wäre: Bei der Bewältigung welcher Probleme werden Ihnen die neuen Gestaltungsmächte - gesetzt den Fall, dass Sie auf diesem
Konzept beharren - behilflich sein? Bei denen, vor denen wir stehen, bei denen, vor denen Europa steht, oder
bei denen, vor denen sozusagen die internationale Politik
steht? Auf diese Fragen gehen Sie überhaupt nicht ein.
({2})
Meiner Meinung nach müssen wir insbesondere auf
folgende Punkte hinweisen:
Erstens. Wir nähern uns in Europa wieder einem
neuen Sicherheitsdilemma; das haben wir alle, die wir in
München auf der Sicherheitskonferenz waren, auch
atmosphärisch gespürt. Eine neue Eiszeit beginnt, wenn
uns ein russischer Außenminister nicht nur die SyrienFrage, sondern insbesondere auch das Problem der Raketenabwehr, das möglicherweise eine neue Grenzziehung in Europa zur Folge hat, vor Augen führt. Ich frage
mich: Wo ist da die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik? Wollen Sie uns wirklich sagen, dass uns neue
Gestaltungsmächte in der Welt bei der Lösung dieses Sicherheitsdilemmas helfen werden? Nein, dafür braucht
es Tatkraft, und zwar in Kooperation mit den alten Partnern. Wir müssen den USA, insbesondere den Senatoren
im Kongress, deutlich machen, um was es letztlich geht,
dass wir nämlich vertragsbasiert versuchen wollen, das
Thema Raketenabwehr wieder einzufangen. Darüber
wäre es in der Tat notwendig gewesen eine außenpolitische Debatte zu führen, statt wolkig von Gestaltungsmächten, die irgendwo am Horizont auftauchen, zu sprechen.
Zweiter Punkt. Von einem Sicherheitsdilemma ist
auch eine andere Weltregion betroffen. Wir wissen, dass
im pazifischen Raum ein Sicherheitsdilemma entsteht,
weil es dort Fehlwahrnehmungen gibt. Die USA behaupten, sie seien eine pazifische Macht, und China rüstet
maritim auf. Beide Staaten handeln aufgrund unterschiedlicher Erwägungen. Die Chinesen etwa sagen: Wir
müssen diese Wege aufgrund der Situation, in der wir
uns befinden, und aus nationalem Interesse beschreiten. - Deutschlands Beitrag als Mitglied der NATO
sollte angesichts dessen darin bestehen, endlich die Debatte darüber, ob wir eine globale NATO brauchen, zu
beenden. Doch selbst die Bundeskanzlerin spricht immer
wieder von der globalen NATO. Indem wir dieses
Thema, das in China ganz anders wahrgenommen wird,
ansprechen, befördern wir allerdings eher ein Sicherheitsdilemma, als dass wir zu seiner Lösung beitragen.
Solche außenpolitischen Debatten brauchen wir also.
Eine dritte Frage lautet: Glauben Sie wirklich, dass
uns neue Gestaltungsmächte dabei unterstützen, die Normen und Regeln des Völkerrechts besser zu verankern
oder unsere Partner davon zu überzeugen, das Völkerrecht besser zu beachten? Den Mut, eine Debatte darüber
zu führen, müssen Sie gegenüber den jetzigen, den alten
Partnern aufbringen. Die Frage des Völkerrechts, auch
der Einsatz von Drohnen, betrifft nicht die Gestaltungsmächte; sie betrifft die alten Partner. Das in der Außenpolitik anzusprechen, dazu gehört nach meinem Dafürhalten Mut; aber was das betrifft, ist in diesem Konzept
überhaupt nichts zu finden.
Viertens. Ich sagte, es werden keine großen, neuen
Antworten gegeben; deshalb verweise ich auf alte Konzepte. Der Ansatz von Frank-Walter Steinmeier, die Bearbeitung des Wasserkonflikts in Zentralasien als gemeinsame europäische Herausforderung in die Debatte
einfließen zu lassen, war richtig. Auch in Zukunft wird
die Wasserfrage - auch Sie haben sie ja angesprochen wahrscheinlich eine große Herausforderung sein. Vor
diesem Hintergrund wäre es besser gewesen, heute der
Frage nachzugehen: „War das Konzept von FrankWalter Steinmeier richtig, und sind wir da vorangekommen?“, statt von sogenannten Gestaltungsmächten zu
sprechen und damit neue Schauplätze zu betreten.
({3})
Fünfte Frage: Werden Sie gemeinsam mit neuen Gestaltungsmächten die Herausforderungen im Bereich der
Rüstungsexporte bewältigen: ja oder nein? Nein, ich
glaube nicht. Sie führen die Gestaltungsmächte ja gerade
deswegen an, um Rüstungsexporte zu legitimieren.
Saudi-Arabien ist für Sie eine Gestaltungsmacht. Die
Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien wurde damit
begründet, dass am Persischen Golf eine Gestaltungsmacht entsteht und dies möglicherweise in Konflikte
ausartet. Also: Wollen Sie wirklich sagen, dass uns Gestaltungsmächte bei der Lösung dieses Problems und
beim Umgang mit solchen falschen Entscheidungen helfen werden? Ich sage Ihnen: Nein.
Das, was Sie aufgeschrieben haben, führt also in die
Irre. Es verlagert Ihre Verantwortung auf ein anderes
Feld. Dazu kann man zwar ein paar schöne Sätze formulieren; aber hier muss es um konkretes Handeln gehen.
Sie führen mit uns aber keine Debatte über konkretes
Handeln. Dieser notwendigen Diskussion würde ich
mich gerne stellen. Dazu haben Sie in Ihren zwölf Minuten Redezeit am Anfang dieser Debatte aber überhaupt
nichts gesagt.
({4})
Herr Bundesaußenminister, ich will zum Schluss auf
einen weiteren Aspekt eingehen. Ich glaube, dass dieses
Papier bei unseren alten Partnern möglicherweise - ich
will nicht sagen: verheerend - falsch ankommt. Das
wäre fatal und nicht hilfreich. Ich glaube, man bläst die
Backen wieder einmal etwas zu stark auf. Wenn ein
deutscher Außenminister gewissermaßen sagt: „Ich alleine werde darüber bestimmen, welche Staaten Gestaltungsmächte sind und welche nicht und mit wem sich
Deutschland zusammentut und mit wem nicht“, halte ich
das für ein großes Problem. Dies gilt insbesondere angesichts der Debatte auf europäischer Ebene, in der
Deutschland nicht mehr das Bild abgibt, das es sich
wirklich schwer erarbeitet hat, insbesondere während
des Kalten Krieges, aber auch während der Zeit der Entspannungspolitik. Damals hat sozusagen ein anderes
Deutschland das Bild abgegeben.
Ich glaube, dass diese schön bebilderte Broschüre, die
Sie uns vorgelegt haben, möglicherweise zu einer ganz
anderen Wahrnehmung führt als zu der, die Sie beabsichtigt hatten. Das Papier ist wie Ihre Außenpolitik: etwas
dick aufgetragen, dennoch an vielen Stellen vage und
immer wieder sprunghaft. Das ist keine Grundlage für
eine bessere Außenpolitik, die wir dringend brauchen.
Deswegen glaube ich, dass weitere Debatten über die
konkreten Herausforderungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik notwendig sind.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Dr. Mützenich. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Ruprecht Polenz. Bitte schön, Kollege Polenz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Mützenich, es geht nicht in erster Linie um Antworten auf aktuelle Krisen oder Fragen, die wir dauernd
im Auswärtigen Ausschuss und anderswo diskutieren; es
geht um unsere Rolle in der Welt und darum, welche
Verantwortung wir haben; es geht um die strategische
Orientierung der deutschen Außenpolitik in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts, in der 1,3 Milliarden
Chinesen und 1,2 Milliarden Inder leben und in der Brasilien, Südafrika, Mexiko, die USA und, wie wir durch
das Veto im Sicherheitsrat gemerkt haben, natürlich auch
Russland, das sich immer noch als Großmacht fühlt, eine
wichtige Rolle spielen. Diese Welt ist unübersichtlicher
als die geteilte, bipolare Welt des Kalten Krieges. Angesichts dessen ist es schon richtig, dass die Bundesregierung den Kompass justiert. Ich möchte Außenminister
Westerwelle sehr dafür danken, dass wir diese Debatte
über die strategische Orientierung der deutschen Außenpolitik auf der Grundlage eines breit angelegten Positionspapiers der Bundesregierung führen können.
Ich finde, es ist ein Verdienst dieses Papiers, dass mit
dem irreführenden Begriff des Schwellenlandes aufgeräumt wird. Es ist falsch, Länder wie China, Indien, Brasilien oder Mexiko als Schwellenländer zu bezeichnen
und so zu tun, als ob sie knapp über dem Niveau eines
Entwicklungslandes wären. Das Positionspapier der
Bundesregierung nimmt das regionale und internationale
Gestaltungspotenzial und vor allen Dingen den Gestaltungsanspruch dieser Länder in den Blick und versucht,
Schlussfolgerungen für die deutsche Außenpolitik zu
ziehen. Das ist ein Verdienst dieses Papiers.
({0})
Wie verhindern wir Blockademacht? Wie fördern wir
verantwortliche Mitgestaltung? Wo liegen die Möglichkeiten einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit, und
wo liegen die Grenzen? Dazu verhält sich das Papier. Insofern ist ein Teil der Kritik ein bisschen preiswert, weil
wohlfeil. Dem einen fehlt etwas, dem anderen ist an einer Stelle etwas zu viel. Das war keine besonders faire
Kritik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
({1})
Die Bundesregierung formuliert als anspruchsvolles
Ziel:
Die Bundesregierung will mit Partnern zusammenarbeiten, um die globalisierte, interdependente und
multipolare Welt durch eine regelbasierte sowie
multilateral und global ausgerichtete Ordnungspolitik über legitime und effektive internationale Institutionen zu prägen.
Das klingt nicht nur anspruchsvoll, das ist anspruchsvoll.
({2})
Man kann es auf folgende Kurzformel - das steht auch
im Konzept - bringen: Es geht um eine faire Globalisierung. Wenn Sie John Rawls gelesen haben, dann wissen
Sie, dass Gerechtigkeit als Fairness eine philosophische
Grundhaltung ist, und das steht in diesem Papier.
({3})
Allein wären wir sicher hoffnungslos überfordert, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb wird in diesem Papier
richtigerweise die Frage gestellt, wie Deutschland in dieser veränderten Welt seine Interessen am besten durchsetzen kann und wie wir unseren Werten Geltung verschaffen können. Dazu gibt es einen Schlüsselsatz in
diesem Konzept: „Deutschland wirkt mit und durch
Europa.“ Über die Europäische Union hebeln wir unser
politisches Gewicht. Das ist wie in der Physik. Die Europäische Union ist ein politischer Kraftwandler, übrigens
nicht nur für Deutschland, sondern für alle 27 EU-Mitglieder. Wir alle verstärken unsere politische Kraft. Voraussetzung ist allerdings, dass alle ihre Hebel gleichgerichtet ansetzen, etwa wie beim Rudern; denn sonst dreht
man sich im Kreis, kommt nicht vom Fleck und wirkt
auch noch relativ komisch dabei.
({4})
Aber man kommt vorwärts.
({5})
Dass das politische Gewicht Deutschlands ganz wesentlich von diesem Wirken in der und durch die Europäische Union abhängt, zeigt ein Vergleich mit Japan.
Japan ist vom Potenzial her durchaus mit Deutschland
vergleichbar, verfügt aber international über weitaus weniger Mitgestaltungsmöglichkeiten als wir, die wir in der
Europäischen Union verankert sind.
Das entspricht im Übrigen auch unserer Wahrnehmung von außen. Als Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses haben wir viele Delegationen als Gesprächspartner zu Gast, die Berlin besuchen. Ganz oft fällt dabei
der Satz: „Ihr seid das stärkste Land in der EU“, und
dann werden Erwartungen und Wünsche formuliert. Das
Konzeptionspapier beinhaltet also keine abgehobene
Theorie, auch wenn es natürlich generalisierende Formulierungen beinhalten muss, sondern es ist außerordentlich
praktisch und relevant. Denken Sie beispielsweise an unsere Diskussionen über die Staatsschuldenkrise. Wir dürfen eben nicht in erster Linie fragen: „Was kostet uns
Europa?“, sondern: „Was ist uns Europa wert?“. Hier haben wir dann auch entsprechende Erwartungen.
An die Adresse derjenigen, Herr Mützenich und Herr
Gehrcke, die hier Dominanzstreben kritisiert haben, sage
ich: Was erwarten denn die anderen von uns? Ich erinnere an die Rede des polnischen Außenministers
Radoslaw Sikorski, der hier in Berlin gesagt hat:
Sie
- damit meinte er Deutschland sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie
dürfen bei der Führung nicht versagen. Nicht dominieren, sondern bei Reformen führen.
Wenn wir dieser Bitte nicht entsprechen, werden wir unserer Verantwortung nicht gerecht.
({6})
Die Bundeskanzlerin, der Finanzminister und der Außenminister zeigen jeden Tag - gerade jetzt, in dieser
schwierigen Phase der europäischen Geschichte -, dass
sie mit einer klugen Einbindung anderer und gemeinsam
mit Frankreich diesem Führungsanspruch, den andere an
uns haben, gerecht werden.
Das Risiko dieser Krise für Europa und die Europäische Union als politisches Projekt dürfen wir nicht unterschätzen. Manchmal hat man den Eindruck und glaubt,
etwas Stagnation und ein paar Rückschritte bei der Integration seien nicht so schlimm. Europa ist aber keine Insel. Andere Akteure in der multipolaren Welt werden
handeln, ohne auf Europa zu warten. Europa hat in dieser multipolaren Welt nur die Wahl, entweder als Mitspieler zu agieren oder Spielfeld zu sein, das sich die
anderen untereinander aufteilen. Ein wachsender chinesischer Einfluss auf einzelne EU-Mitglieder im Zuge der
jetzigen Staatsschuldenkrise kann beispielsweise dazu
führen, dass damit die Forderung verbunden wird, bei
Menschenrechtsverletzungen demnächst ein Auge zuzudrücken, und Russland ist ja immer dabei, die Energiepolitik auch als politischen Einflusshebel zu nutzen, um
die Europäische Union ein Stück auseinanderzutreiben.
({7})
Ich darf noch einmal den polnischen Außenminister
zitieren. Er hat in seiner Rede gesagt:
Wenn wir unsere jetzige Malaise überwinden, dann
haben wir die nötigen Fähigkeiten und die Kraft,
um die uns die Welt beneidet. Wir haben nicht nur
die größte Wirtschaftsmacht, Europa steht wie
keine andere Region dieser Welt für Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Für unsere Nachbarn im Osten und Süden sind wir eine Inspiration.
Das sagt ein Pole, der die Europäische Union natürlich
noch nicht als selbstverständlich wahrnimmt und deshalb vielleicht auch den Wert etwas mehr schätzt als der
eine oder andere von uns.
Never again, never alone: Mit diesem alten außenpolitischen Grundsatz sind wir gut gefahren. In dem
Konzept der deutschen Bundesregierung heißt es: „In
der globalisierten Welt wirkt Deutschland mit und durch
Europa.“ Das ist der gleiche Inhalt, nur anders formuliert.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Ruprecht Polenz. - Nächster
Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Jan
van Aken. Bitte schön, Kollege Jan van Aken.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, ich muss ehrlich sagen: Ich habe das neue
außenpolitische Konzept mit Spannung und natürlich einer gewissen Skepsis erwartet. Jetzt lese ich das Papier
und stelle fest, dass die Skepsis leider berechtigt war. Ich
möchte das an fünf Punkten zeigen. Das sind die Punkte
Frieden, Nahrungsmittelsicherheit, Menschenrechte, gute
Arbeitsbedingungen und Abrüstung.
Fangen wir mit dem Frieden an. Da schreiben Sie
zum Beispiel, dass die neuen Gestaltungsmächte einen
wichtigen Beitrag zur Vorbeugung von Konflikten leisten können. Das ist natürlich richtig. Aber welches konkrete Beispiel nennen Sie dafür in dieser Hochglanzbroschüre? Die militärische Zusammenarbeit zwischen
Deutschland und Südafrika. Warum, Herr Westerwelle,
fällt Ihnen beim Thema Konfliktlösung immer nur die
Bundeswehr ein?
({0})
Ich finde, ein Außenminister, dem beim Thema Konflikt
immer nur Militär einfällt, der hat seinen Job komplett
verfehlt.
Zweiter Punkt: die Nahrungsmittelsicherheit. In dem
Papier ist sehr viel von Hungerbekämpfung die Rede.
All das ist wunderbar. Aber an einer anderen Stelle fordern Sie den ungehinderten Zugang zu Ackerland für
sich und die Gestaltungsmächte. Heißt das: einen ungehinderten Zugang zu landwirtschaftlicher Nutzfläche
auch in allen anderen Ländern, also weltweit? Heißt das
denn: Nahrungsmittelsicherheit nur für die Starken und
Reichen? So werden Sie den Hunger in der Welt nicht
bekämpfen, Herr Westerwelle.
({1})
Dritter Punkt: die Menschenrechte. An dem gleichen
Tag, an dem Sie das hier veröffentlichten - darin steht
gefühlte 500-mal das Wort Menschenrechte -, empfingen Sie hier in Berlin den kasachischen Präsidenten
Nasarbajew und schlossen mit ihm einen Rohstoffvertrag ab.
({2})
Falls Sie es vergessen haben, Herr Westerwelle:
Nasarbajew ist der Mann, der gerade mit 80 Prozent der
Stimmen in Kasachstan gewählt worden ist, und alle
Wahlbeobachter gehen davon aus: Die Wahl war gefälscht. Nasarbajew, das ist genau der Mann, der im
Dezember einen Streik von Ölarbeitern blutig zusammengeschossen hat. Aber Nasarbajew ist eben auch der
Mann, in dessen Land es Öl, Gold und viele andere Rohstoffe gibt. Deswegen gab es hier für ihn einen Fototermin mit der Kanzlerin und einen Fototermin im Schloss
Bellevue, damit er weiter exklusiv an Deutschland liefert. Das sind die traurigen Realitäten eines Konzepts,
das aus sehr vielen schönen Worten, aber wenig Substanz besteht.
({3})
Vierter Punkt: gute Arbeitsbedingungen. In dem Papier wird von dem Ziel gesprochen, weltweit menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu gestalten. Das ist ein
sehr schönes Ziel. Ich habe Ihnen eine Tafel Schokolade
mitgebracht, ein nachträgliches Geschenk zu Ihrem runden Geburtstag. Das hier ist eine fair gehandelte Bioschokolade.
({4})
- Nein, sie ist relativ frisch, die habe ich nicht seit Dezember in der Tasche. Aber ich habe Ihren Geburtstag
im Kopf, weil auch ich im letzten Jahr 50 Jahre alt geworden bin.
({5})
Da haben wir etwas gemeinsam. - Wissen Sie eigentlich,
wenn Sie über menschenwürdige Arbeitsbedingungen
reden, wie viel ein Kakaobauer in Ghana verdient, wenn
er nicht vom fairen Handel profitiert?
({6})
Einen halben Euro am Tag. Wissen Sie eigentlich, dass
in der Elfenbeinküste 2 Millionen Kinder in der Kakaoernte arbeiten? Diese Kinder helfen nicht ihren Eltern
einmal bei der Ernte, sondern das ist verbotene Kinderarbeit. Wissen Sie, dass es in Westafrika und vielen Ländern noch Sklavenarbeit in der Kakaoernte gibt?
Um das zu ändern, um hier menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, brauchen Sie keine Hochglanzbroschüre. Dafür brauchen Sie auch nicht auf die UNO, die
ILO oder andere Regierungen zu warten. Das könnten
Sie ganz einfach mit einem Gesetz in Deutschland regeln, indem Sie einen Herkunftsnachweis für den Kakao
verlangen. Wenn auf der Rückseite einer Tafel Schokolade immer stehen müsste, aus welcher Provinz, aus welchem Land der Kakao kommt, dann wird kein einziger
deutscher Produzent mehr Kakao aus Kinder- oder Sklavenarbeit kaufen. Deswegen haben Sie die Verantwortung hier in Deutschland, für menschenwürdige Bedingungen anderswo auf der Welt zu sorgen.
({7})
Wenn ich also all die politisch korrekten und hohlen
Phrasen aus diesem Papier herausstreiche, dann bleibt
von Ihrem außenpolitischen Konzept sehr wenig übrig.
Es bleibt vielleicht ein Konzept für eine knallharte Außen- und Wirtschaftspolitik übrig. Das, Herr Westerwelle,
finde ich ein Armutszeugnis.
({8})
Fünfter und letzter Punkt: die Abrüstung. Im Übrigen
bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen
mehr exportieren sollte; denn eines muss man bedenken:
Jede einzelne Waffe, die Sie an ein anderes Land verkaufen, rüstet dieses Land auf und nicht ab. Ich finde es sehr
bemerkenswert, dass auf diesen ganzen 68 Seiten nicht
ein einziges Mal das Wort Abrüstung vorkommt. Das
muss man erst einmal schaffen. Bei einem außenpolitischen Konzept nicht über Abrüstung zu reden, muss man
erst mal schaffen. Das ist natürlich konsequent, wenn
man nur an Wirtschaftspolitik denkt. Das ist aber auch
grundfalsch.
({9})
Trotzdem wünsche ich Ihnen guten Appetit beim Verzehr der fair gehandelten Schokolade!
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Kerstin Müller. Bitte schön,
Frau Kollegin Müller.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Westerwelle, eine Tafel Schokolade habe ich zwar
nicht anzubieten, aber auch ich bin der Meinung, dass
das Konzept, das Sie am Mittwoch mit viel Tamtam und
Öffentlichkeit vorgestellt haben, nicht viel Neues enthält; es bezieht sich vielmehr auf etwas, das schon lange
bekannt ist, nämlich dass sich die Kraftzentren der internationalen Politik verschieben, weg vom starren Blick
auf Europa und die USA hin zu Ländern, die man gemeinhin - Herr Polenz hat es angesprochen - als Entwicklungs- und Schwellenländer bezeichnete, die aber
inzwischen schon längst die Schwelle machtpolitischer
Irrelevanz überschritten haben, zum Beispiel weil sie
ökonomisch gewachsen sind wie Südafrika oder Brasilien - davon sprechen Sie überwiegend - oder weil sie
regionale Hegemonialmacht anstreben wie der Iran.
Ja, es ist richtig: Die Welt hat sich verändert, hin zu
einer multipolaren Welt. Viele Länder wollen heute die
globale Ordnung mitgestalten. Deshalb ist auch richtig:
Auf diese Veränderungen brauchen wir eine Antwort.
Welche Rolle will und soll Deutschland dabei einnehmen?
Ihren Versuch, die Außenpolitik der Bundesregierung
kohärenter als bisher zu gestalten, kann man durchaus
honorieren. Man könnte sagen: Mit der Vorlage des
Konzeptes wird zumindest auf dem Papier der Versuch
unternommen, den realen Einflussverlust des Außenministers aufzuhalten. Denn noch nie wurde von einem
Außenminister so viel Papier produziert - Lateinamerikakonzept, Afrikakonzept und jetzt das Globalisierungskonzept -, aber in der Realität so wenig Einfluss in der
Weltpolitik ausgeübt.
({0})
Ich kann Ihnen auch jetzt das Beispiel Libyen nicht
ersparen. Damit hat die Bundesregierung Deutschland
ins weltpolitische Abseits katapultiert. Das wird bei der
UNO und der EU immer noch so gesehen, und das hat
auch Nachwirkungen.
({1})
Leider bleibt der Versuch einer neuen Strategieentwicklung, von der Sie gesprochen haben, Herr Polenz,
schon im Ansatz stecken. Denn auf 67 Seiten wird leider
mit vielen Worten wenig gesagt: Frieden, Menschenrechte, Wirtschaft, Ressourcen, Soziales und Nachhaltigkeit - alles kommt irgendwie vor. Aber wo setzen Sie
Ihre Prioritäten, Herr Westerwelle? Das geht aus dem
Papier nicht hervor. So bleibt das Ganze ein Versuch,
Ihre „wurschtelig wirkende“ Außenpolitik, wie es in der
Presse hieß, schick zu verpacken. Inszenierung allein
macht aber noch keine Außenpolitik und keinen Außenminister. Man muss vielmehr klare Prioritäten setzen.
({2})
Wo Ihre eigentliche Priorität liegt, wurde bei der Vorstellung klarer: „Wandel durch Handel“ ist - das haben
Sie mehrfach betont - Ihr neues und man sollte vielleicht
auch sagen altes Credo. Damit wird klar: Ihre eigentliche
Priorität ist die deutsche Wirtschaft. Es geht darum, einen politischen Rahmen zu schaffen, um Türen für neue
Märkte zu öffnen.
Gestaltungsmächte sind - das haben Sie noch einmal
gesagt - für Sie in erster Linie Länder mit hohen Wachstumsraten und seltenen Rohstoffen. Aber was das im Hinblick auf die Gestaltungsmächte heißt, bleibt unklar. Wollen Sie wirklich behaupten, dass Handel automatisch
mehr Demokratie und Freiheit bringt, zum Beispiel in
China oder Russland? Ist denn jeder, der wirtschaftlich
stark ist, in Zukunft automatisch Ihr Partner, und für was
eigentlich? In der Syrien-Frage zum Beispiel sind die Gestaltungsmächte China und Russland keine Partner. Sie
stehen auf der anderen Seite und haben in dieser Frage
eine völlig andere Position. Unklar ist auch - meine Vorredner haben es schon angesprochen -: Ist diese Zusammenarbeit an irgendwelche Kriterien, zum Beispiel an
Kerstin Müller ({3})
menschenrechtliche Standards oder Umwelt- und Sozialstandards, gebunden?
Aber wie Sie selbst gesagt haben: Es kommt auf den
Praxistest an.
Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus der Fraktion der FDP. Unser Kollege
Spatz will Sie etwas fragen. Gestatten Sie das?
Ja. Wie könnte ich das einem Kollegen verwehren?
Bitte schön.
({0})
Frau Kollegin Müller, könnten Sie uns wenigstens zugestehen, dass die Maxime „Wandel durch Handel“ bzw.
„Wandel durch Annäherung“, also der Prozess, mit denjenigen zu sprechen, die unsere Ideale vielleicht noch
nicht teilen, mindestens zur Überwindung der Spaltung
Europas einen wichtigen Beitrag geleistet hat und vielleicht auch als Rezept für die Welt taugt?
Herr Spatz, ich glaube nicht, dass dies als Rezept für
die Welt taugt. Sie berufen sich hier auf die Ostpolitik
Brandts.
({0})
Ich finde, diese Schuhe sind wirklich viel zu groß.
({1})
Schauen Sie sich das an. Russland ist ein Beispiel dafür.
Keiner hier kann sagen wollen, dass es durch eine Öffnung der Märkte, durch zum Teil Manchesterkapitalismus und kapitalistische Verhältnisse in Russland mehr
Demokratie gibt. Im Gegenteil: Beides prallt völlig aufeinander. Auch in China stehen wir vor dieser Situation.
China ist ein wichtiger Partner, aber wir sehen, dass
Menschenrechte und Demokratie dort zum Teil mit Füßen getreten werden. Daher glaube ich, dass diese These
nicht stimmt. Es braucht zusätzliche Anstrengungen, und
es muss klar definiert werden, was wir für eine Art der
Handelspolitik wollen. Wollen wir sie an Umwelt- und
Sozialstandards binden? Wollen wir sie an Menschenrechtskriterien binden? Dazu steht in dem Papier nichts.
Hier spricht Ihre reale Politik Bände.
({2})
Der Praxistest ist entscheidend: The proof of the pudding is in the eating. Ich kann es Ihnen nicht ersparen,
die Inszenierung zu kritisieren: Sie stellen das Konzept
vor, nachdem vor ein paar Tagen im wenige Kilometer
entfernten Bundeskanzleramt ein Rohstoffabkommen
mit Kasachstan abgeschlossen wurde. Daran können wir
erkennen, was das Konzept konkret bedeutet. Wir verstehen uns gut mit der neuen Gestaltungsmacht Kasachstan. Auf meine Frage gestern haben Sie geantwortet,
Kasachstan sei auch eine Gestaltungsmacht; ganz gleich,
ob ihr Präsident Nasarbajew auf demonstrierende Ölarbeiter schießen lässt oder bei den letzten Wahlen von der
OSZE das Siegel des Antidemokraten erhalten hat. Der
Praxistest zeigt: Hier fehlt der Bundesregierung der politische Kompass; denn Kompass müssen meiner Meinung nach ganz klar die Menschenrechte sein. Sie müssen die Leitlinie der deutschen Außenpolitik sein und
klar Priorität haben. Das ist bei Ihnen nicht der Fall.
({3})
Auch die Außenwirtschaftspolitik muss eine klare
Bindung an Menschenrechtskriterien haben. Hier passiert nichts, was wie ein Dialog mit der Industrie zum
Thema Menschenrechte aussehen könnte. Nichts passiert in der Frage, wie industrielle Entscheidungen an
Sozial- und Umweltstandards gebunden werden können.
Herr Heraeus gibt freimütig zu, dass das Thema Menschenrechte der Industrie immer Schwierigkeiten macht.
Was passiert, wenn der Kompass fehlt, zeigt sich
auch, wenn Deutschland trotz der schwierigen Menschenrechtslage Panzer nach Saudi-Arabien liefert.
Wenn die Wirtschaft vor den Menschenrechten steht,
dann gehen Rüstungsmärkte vor. Ich sage Ihnen: So verkommt jeder Menschenrechtsdialog zu einer reinen Feigenblattpolitik.
({4})
Wir sind der Meinung, die außenpolitischen Prioritäten müssen ganz andere sein. Wir wollen die UN stärken
und keine Parallelstrukturen wie die G 20. Für uns müssen die Menschenrechte Leitlinie jeder Außenpolitik
sein, und wir wollen eine verantwortungsvolle Ressourcen- und Handelspolitik, die nur dann gerecht und nachhaltig ist, wenn sie an die Menschenrechte und den
Rechtsstaat gebunden ist und Korruption bekämpft.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Christian Ruck. Bitte schön, Kollege Dr. Ruck.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich bin sehr froh über die Gelegenheit zu dieser Debatte. Herr Westerwelle, ich fand es gut,
dass Sie eingangs gesagt haben, dass wir trotz der EuroKrise und trotz unserer anderen heimischen Krisen den
Blick auf die Welt nicht vergessen dürfen. Das ist völlig
richtig, sage ich als Entwicklungspolitiker. Ab und zu
sind wir als Entwicklungspolitiker mit den Außenpolitikern in einem fruchtbaren und heftigen Dialog, daher
finde ich es ein bisschen schade, dass viele Redner der
Opposition die Gelegenheit haben verstreichen lassen, in
der Sache zu diskutieren.
({0})
- Frau Müller, Sie habe ich nicht gemeint.
Es ist doch vollkommen klar, dass es sich bei dem,
was Herr Westerwelle in dieser Woche vorgestellt hat,
um ein Gerüst handelt, das man noch ausfüllen und ausarbeiten muss.
({1})
Alles andere ist eine völlige Illusion. Ich glaube, hier haben Verschwörungstheorien keinen Platz.
Für uns Entwicklungspolitiker ist der Umgang mit
den Gestaltungsländern oder Schwellenländern, wie sie
früher genannt wurden, von ausschlaggebender Bedeutung; denn aus der Sicht der Entwicklungspolitiker hat
sich die Welt durch die Globalisierung fundamental verändert. Die klassische Einteilung in Industrieländer und
Entwicklungsländer stimmt nicht mehr. Auch das, was
früher weit weg von uns war, am Hindukusch oder im
Innern Afrikas, ist plötzlich ganz nah, auch für unsere
Bevölkerung, für unseren Wohlstand und für unsere Sicherheit.
Die großen Herausforderungen zeichnen sich ab. Das
ist die Klima- und Energiefrage. Das ist die Frage der
Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen. Das ist
die demografische Entwicklung mit all den Konsequenzen für die Ernährungslage und für die Wasserversorgung. Das ist aber auch die Frage von politischen
Umbrüchen, Instabilitäten, ökonomischen Ungleichgewichten und daraus folgender politischer Radikalisierung.
Das alles zwingt uns in unserem ureigenen Interesse
zu einer Entwicklungspolitik, die gleichzeitig hoch flexibel, konsequent und langfristig angelegt sowie - das ist
gerade der Punkt dieses Konzepts - kohärent ist, das
heißt, dass alle Bereiche des Außenhandels erfasst werden, dass sie international abgestimmt sind, vor allem
unter denen, die die gleichen Sicherheitsinteressen haben wie wir.
Das bedeutet zum Beispiel auch, dass sich die Entwicklungspolitik in Zeiten der Globalisierung längst
nicht mehr nur als Straßen- und Brunnenbauer versteht,
sondern sie versteht sich als eine Politik, die mithilft, dass
die Welt tragfähige Strukturen entwickelt, mit denen sie
die Herausforderungen, die ich genannt habe, in Zukunft
meistern kann. Damit sind die Entwicklungspolitiker natürlich auch von der Kohärenz mit der Gesamtpolitik abhängig. Wir begrüßen es, dass ein solches kohärentes
Grundgerüst von der Bundesregierung vorgelegt worden
ist, in dem es vor allem um diese Gestaltungsmächte geht;
denn auf Schritt und Tritt merken wir, dass diese Gestaltungsmächte Schlüsselakteure für die globale Entwicklung und für die Lösung der Zukunftsprobleme sind. Dafür gibt es viele Beispiele. Ich nenne nur drei:
Erstes Stichwort: Klimawandel. Ohne einen substanziellen Beitrag von Ländern wie China, Brasilien, Indien
oder auch Saudi-Arabien können wir das 2-Grad-Ziel
auch dann nicht mehr erreichen, wenn wir in Europa alle
Emissionen einstellen; das ist völlig unmöglich.
({2})
Wenn zum Beispiel die Rio-Konferenz irgendeinen Fortschritt bringen soll, dann müssen wir gerade mit diesen
Gestaltungsmächten zusammenarbeiten und ihnen natürlich auch etwas bieten im Sinne von entwicklungspolitischer Zusammenarbeit.
({3})
Das ist nicht immer unumstritten gewesen. Das tun wir
jetzt.
Zweites Stichwort: Instabilität. Natürlich bewundern
alle die Fortschritte der Brasilianer, Chinesen und Inder
in Dimensionen wie Bruttosozialprodukt und Fähigkeiten in technologischer Hinsicht. Die Wahrheit ist aber
auch, dass zwei Drittel der Armen in diesen Ländern leben, dass diese Länder nach wie vor von großen politischen Instabilitäten bedroht sein können und dass es in
unserem Interesse ist, auch mit unserer Entwicklungspolitik, zumindest mit Beratungsleistungen, dem entgegenzuwirken.
Drittes Stichwort: Rohstoffe. Was sich in weiten Teilen der Welt, gerade in Afrika, in Sachen Rohstoffausbeutung abspielt, ist schlichtweg ein Desaster. Wenn wir
das in bessere Bahnen leiten wollen, dann müssen wir
uns vor allem mit den Gestaltungsmächten, die da besonders beteiligt sind, vor allem mit China, irgendwie
auf einen Code of Conduct, auf einen Ehrenkodex, verständigen. Verständigen müssen wir uns nicht nur unter
uns - das ist ebenfalls nötig -, sondern auch mit diesen
Ländern und vor allem mit China; denn ohne eine solche
Absprache ist eine vernünftige Entwicklung in ärmeren,
aber rohstoffreichen Ländern nicht möglich. Wir brauchen deswegen diese Zusammenarbeit mit China und
mit anderen Ländern, und wir brauchen sie auch in Gestalt von Dreieckskooperationen.
({4})
Diese Beispiele, glaube ich, zeigen, wie man die
Grundgedanken des von Herrn Westerwelle vorgestellten Konzepts mit Leben und auch mit Details erfüllen
kann.
Aber wir müssen in vielen Punkten natürlich auch
noch bei uns selbst weiter voranschreiten. Dazu nenne
ich ebenfalls drei Punkte:
Erstens. Wir müssen auf dem Weg weiter voranschreiten, die eigenen Kräfte zu bündeln, zum Beispiel
durch schlagkräftige Durchführungsorganisationen - dabei sind wir -,
({5})
zum Beispiel durch Ressortabstimmung. Dabei ist es
wichtig, auf die wertvolle Arbeit der Kirchen und Stiftungen auf diesem Gebiet hinzuweisen.
Zweitens. Wir müssen die internationalen Organisationen so gestalten, dass sie effizienter und effektiver arbeiten können, und zwar nicht nur die UNO - das wurde
schon angesprochen -, sondern auch die vielen anderen
Organisationen, die immer wichtiger werden, vor allem
die regionalen Organisationen wie die Arabische Liga
oder die Afrikanische Union.
Drittens. Wir müssen - es wurde von einer Prägephase in Europa gesprochen - für einen schlüssigeren
und kompakteren Außenauftritt der EU und der westlichen Wertegemeinschaft sorgen. Denn wir als Deutsche
sind allein nicht in der Lage, die Welt grundsätzlich zu
ändern. Aus diesem Grunde begrüßen wir das vorliegende Konzept der Bundesregierung, das strategische
Ziele richtig definiert. Wir alle sind aufgefordert, diese
Ziele umzusetzen.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Christian Ruck. - Nächste
Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Edelgard Bulmahn.
Bitte schön, Frau Kollegin Bulmahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorstellung des Konzepts der
Bundesregierung zur Zusammenarbeit mit den sogenannten neuen Gestaltungsmächten haben Sie, Herr
Bundesaußenminister, immer wieder betont, dass die
neuen globalen Fragen nur im Zusammenspiel mit mehr
und neuen Partnern zu beantworten sind. Das ist richtig;
keine Frage. Dass die Welt aber multipolar und nicht
mehr bipolar ist, ist keine neue Erkenntnis. Diese Entwicklung gibt es seit 20 Jahren. Die Frage, die sich daraus ableitet, ist: Was bedeutet es für die deutsche Außenpolitik, dass wir heute in einer multipolaren Welt
leben? Auf diese Frage, Herr Außenminister, geben Sie
keine Antwort. Eine strategische Orientierung der deutschen Außenpolitik bietet dieses Papier gerade nicht.
Welche außenpolitischen Ziele verfolgt die Bundesregierung? Welche Interessen hat sie? Welche Leitlinien
für außenpolitisches Handeln formulieren Sie? Welche
Strategie leiten Sie daraus ab? Wo setzen Sie Schwerpunkte? Das sind Fragen, auf die ich in diesem Papier
eine Antwort erwartet hätte. Herr Ruck, wenn Sie sagen,
dass das, was hier vorgelegt wurde, ein Gerüst sei, dann
finde ich das nach zwei Jahren zu wenig. Zwei Jahre
hatte diese Bundesregierung Zeit, ein außenpolitisches
Konzept vorzulegen. Das wäre gut gewesen, denn dann
hätten wir über die Inhalte, Zielsetzungen, Strategien,
Schwerpunkte miteinander diskutieren können. Das ist
auch notwendig. Aber über ein Gerüst kann man nicht
diskutieren.
({0})
In dem Konzept wird angerissen, dass - auch dem
stimme ich ausdrücklich zu - Außenpolitik heute mehr
ist, als es die traditionelle Außenpolitik war, mehr als
Diplomatie. Heute spielen Klimaschutz, der verantwortliche Umgang mit natürlichen Ressourcen, die weltweite
Sicherung der Nahrungsmittelversorgung, die Globalisierung der Wirtschaft, die Verletzung von Menschenrechten oder auch die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus eine wichtige Rolle. All das sind
Herausforderungen, die sich der klassischen Machtpolitik und damit den traditionellen Formen der Außenpolitik entziehen. Dem werden wir wohl alle zustimmen.
Aber wenn man feststellt, dass diese Beschreibung richtig ist, dass Außenpolitik heute viele Dimensionen hat,
dass sie eine Querschnittsaufgabe geworden ist und dass
sich mit ihr heute immer auch Fragen der Friedens- und
Sicherheitspolitik, der Menschenrechte, der Umweltund Klimaschutzpolitik, der Zusammenarbeit in Bildung, Wissenschaft und Forschung, der Wirtschaftspolitik und vieler anderer Felder verbinden, dann bedeutet
das eben auch, dass man Außenpolitik so konzipieren
muss, dass die Verbindung dieser Dimensionen klar benannt und verstanden wird.
Das bedeutet dann auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu respektieren, dass sich in dieser neuen multipolaren Welt neue regionale Strukturen entwickeln, die sich
in den klassischen Formaten der internationalen Zusammenarbeit bisher nicht ausreichend abbilden. Auch diese
Wahrnehmung habe ich in dem Konzept der Bundesregierung vermisst.
Ich hatte gehofft, dass wir in der Rede des Bundesaußenministers hierzu etwas Genaueres erfahren, welche
konkreten Auswirkungen diese Entwicklungen auf die
deutsche Außenpolitik haben. Aber auch hierzu habe ich
nicht viel Neues gehört. Was bedeutet zum Beispiel
diese Herausbildung neuer regionaler Strukturen in
Asien, Afrika und Südamerika für die deutsche Politik?
Herr Außenminister Westerwelle, Sie haben zwar angesprochen, dass diese neuen regionalen Strukturen existieren, aber welche Schlussfolgerungen ziehen Sie denn
daraus? Welche Konsequenzen hat das für die weitere
Entwicklung der VN? Wie soll ein neuer Sicherheitsrat
aussehen? Wie soll er zusammengesetzt sein? Das sind
doch Fragen, auf die wir Antworten geben müssen. Dazu
müssen wir Vorschläge machen, über die wir dann natürlich auch mit unseren Partnern verhandeln müssen. Eigene Vorstellungen muss man aber schon haben, erst
dann kann man sie miteinander erörtern.
Welche Rolle sollen zukünftig regionale Sicherheitsund Wirtschaftsbündnisse in der deutschen Außenpolitik
haben? Ich nenne zum Beispiel die Afrikanische Union,
die Arabische Liga und ASEAN. All diese neuen regionalen Strukturen spielen inzwischen in der internationalen Politik eine wichtige Rolle, und zwar in vielen Dimensionen. Wie spiegelt sich das in der deutschen
Außenpolitik wider? Welche Schlussfolgerungen ziehen
wir daraus? Was bedeutet das - das wurde von einigen
angesprochen - zum Beispiel für die Armutsbekämp19040
fung? Wenn wir konkrete politische Zielsetzungen in der
Armutsbekämpfung oder in der Klimapolitik verfolgen,
mit welchen Strategien geht das dann einher? Welche
Rolle spielen dabei die regionalen Strukturen?
Das alles wird in diesem Konzept nicht angesprochen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich leider
einfach feststellen, dass das Papier, über das wir hier diskutieren, eben kein strategisches Konzept ist. Es ist nur
eine Aneinanderreihung von Handlungsfeldern. Genau
das löst auch die Kritik aus. Eine positiv verstandene,
konkrete Beschreibung deutscher Interessen und Zielsetzungen findet nicht statt. Genauso wenig gibt es eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln.
Man gewinnt den Eindruck, dass sehr viel Zeit darauf verwendet worden ist, die bisherige schwarz-gelbe Außenpolitik in ein positives Licht zu rücken - auch das ist Ihnen jedoch nicht so richtig gelungen -, während die
Herausforderung, tatsächlich eine Strategie zu beschreiben, nicht aufgegriffen worden ist.
Ich will einen letzten Aspekt nennen. Sie haben in Ihrem Konzept die Zusammenarbeit mit neuen Gestaltungsmächten im Bereich der Krisenprävention, der Konfliktlösung und der Friedenskonsolidierung vor allem in
deren Rolle als Truppensteller für Friedensmissionen der
Vereinten Nationen gesehen. Dazu sage ich: Deren Rolle
darauf zu beschränken, ist wirklich fahrlässig und bei
weitem nicht ausreichend.
({1})
Bangladesch und Jordanien stellen derzeit jeweils
mehr als 2 000 Polizeikräfte für UN-Missionen zur Verfügung, Deutschland gerade einmal 18. Das heißt, dass
Deutschland noch nicht einmal bei dem, was Sie als
Aufgabe beschreiben, annähernd seiner Verantwortung
gerecht wird. Das, Herr Außenminister, ist eben keine
Grundlage für eine zukunftsfähige Außenpolitik im
21. Jahrhundert.
Es erstaunt mich schon, dass die Bundesregierung in
ihrem Konzept zu diesem wichtigen Themenfeld nicht
mehr sagt. Nur zu behaupten, dass zivile Krisen- und
Konfliktprävention ein Schwerpunkt der Außenpolitik
sein soll, reicht nicht. Die konkreten Vorschläge - das
muss ich leider einfach einmal feststellen - kommen
nicht von der Regierung, sie kommen aus dem zuständigen Unterausschuss im Deutschen Bundestag, und zwar
fraktionsübergreifend. Ich finde das auch gut. Von der
Bundesregierung ist da leider nichts gekommen.
({2})
Da finde ich nur eine leere Stelle.
Sie denken an Ihre Redezeit?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist notwendig
und wichtig, dass wir uns mit der außenpolitischen Strategie Deutschlands in einer multipolaren Welt auseinandersetzen. Aber am Ende der heutigen Debatte möchte
ich sagen: Das sollten wir im Parlament tun. Hoffentlich
hört die Bundesregierung dann auch auf das Parlament.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bulmahn. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Karl-Georg Wellmann. Bitte schön,
Kollege Wellmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Bulmahn, Ihre Rede war bezeichnend: Sie haben kein
Konzept, und Sie haben wie Herr Erler nur Fragen gestellt. Aber Sie haben keine Antwort auf die Globalisierungsprobleme in dieser Welt.
({0})
Anders Herr Gehrcke: Er hat auf Basis seines festen
Weltbildes und im Geiste des proletarischen Internationalismus eine Antwort gegeben - vorgestrig, aber immerhin.
({1})
- Das wäre eine Alternative, über die wir diskutieren
könnten.
Wir begrüßen das neue Konzept. Es ist gut, dass es
nicht nur unsere Werteordnung, sondern vor allem auch
unsere Interessen benennt. Es gibt ein Spannungsfeld
zwischen Werten und Interessen. Dieses Spannungsfeld
muss aufgelöst werden. Wir müssen allerdings in der
Praxis kohärent agieren und dürfen hinsichtlich der
Menschenrechtslage schwierige Länder nicht unterschiedlich - abhängig von unseren Handelsinteressen behandeln. Wir können Länder, mit denen uns keine
Handelsinteressen verbinden, nicht mit einer Bestrafungsrhetorik und mit Sanktionen belegen, während wir
dies bei anderen Ländern nicht tun. Das würde uns unglaubwürdig und unberechenbar machen. Unsere Interessen - lassen Sie mich das noch einmal betonen - sind
natürlich auch Handelsinteressen und betreffen auch
Handelswege. Deshalb sind wir am Horn von Afrika.
Wir wollen die Partner von unseren Werten überzeugen. So steht es im Konzept. Wir sollten unseren Partnerländern deutlich machen, dass es auch ganz handfeste
Gründe dafür gibt, diese Werte zu beachten; denn ohne
Rechtssicherheit und mit Behördenwillkür und Korruption würde die Entwicklung des so notwendigen freien
Unternehmertums in diesen Ländern - ich denke an
Russland - erstickt. Der Fall Chodorkowski ist nicht nur
deshalb so bemerkenswert, weil hier rechtsstaatliche
Grundsätze verletzt werden. Er ist auch deshalb bemerkenswert, weil er für Russland selbstschädigend ist;
denn potenzielle Investoren werden von Russland abgehalten. Der Mittelständler aus Deutschland oder der EU,
der sich fragt: „Soll ich in Russland mehrere Millionen
Euro investieren?“, sagt sich: Auch ich gerate vielleicht
eines Tages in die Mühlen dieser Willkürjustiz. - Deshalb geht er nicht nach Russland, und deshalb ist es für
Russland selbstschädigend, so zu handeln. Diesen Dialog müssen wir mit unseren Partnern führen.
({2})
Herr Außenminister, ich darf bei dieser Gelegenheit
darauf hinweisen, dass das Konzept richtigerweise die
Bedeutung des Austausches mit den Zivilgesellschaften
und die Förderung von Stipendien und Besuchsprogrammen erwähnt. Da haben wir im Bereich der Visapolitik
noch ein gutes Stück zu tun.
({3})
Wir haben gemeinsam noch einen langen Weg vor uns,
bevor wir zu einer echten Willkommenskultur, die wir
aus Eigeninteresse bitter nötig haben, kommen.
Der Machtverlust des Westens ist erkennbar. Der Außenminister hat es schon gesagt: Als Einzelstaaten haben
wir in der globalisierten Welt kaum noch Einfluss und
spielen eine untergeordnete Rolle. - Das neue Konzept
will eine Antwort darauf geben. Das setzt natürlich eine
weitere europäische Integration voraus. Das braucht aber
nach meiner Auffassung noch mehr. Damit meine ich die
Beziehungen zu Russland. Die Bedeutung Russlands ist
uns allen bewusst. Sicherheit kann nicht gegen, sondern
nur mit Russland erreicht werden. Das gilt für Drogenbekämpfung, Terrorbekämpfung, für die Frage der Verkehrswege und vieles mehr. Es ist evident, welche Bedeutung die Rohstoffbasis Russland für die westlichen
Industrienationen hat.
Ich freue mich, Herr Außenminister, dass Sie an dieser Stelle gestern und auch heute sehr klargestellt haben,
welche Bedeutung Russland für uns hat. Wenn man das
Papier genau liest, wird man erkennen, dass die G-8Länder nicht von diesem Papier erfasst werden. Russland gehört aber zu den G 8. Dieser Sachverhalt sollte
bei einer zukünftigen Fortschreibung des Konzepts berücksichtigt werden.
Nach der Präsidentenwahl in Russland - ich glaube,
niemand erwartet eine Überraschung - sollten wir versuchen, mit Russland in einen neuen strategischen Dialog
zu treten und Russland und die EU enger zu verzahnen.
Ich denke dabei an eine echte Energiepartnerschaft.
Meine ganz persönliche Meinung ist, dass wir im Rahmen einer solchen Partnerschaft nicht primär die Rolle
des politischen Oberlehrers spielen, sondern in der Tat
mehr auf den Außenminister hören sollten, der die alte
Erfahrung vom „Wandel durch Handel“ angeführt hat.
Lassen Sie mich zum Schluss, bevor hier die Atommüllfässer rollen, noch etwas zu Amerika sagen. Amerika und wir haben eine echte Wertepartnerschaft. Europa bzw. Westeuropa, Amerika und einige andere
Länder repräsentieren das, was wir als Westen bezeichnen. Nach 1945 hätte es ohne Amerika den europäischen
Westen vermutlich nicht mehr gegeben. Nun ist viel die
Rede von einer pazifischen Orientierung Amerikas. Der
Verteidigungsminister - der Staatssekretär ist nicht mehr
da - hat in München etwas Kluges gesagt, nämlich: Lassen Sie uns nicht auf die angebliche pazifische Orientierung fixieren; denn es gibt mit Amerika hier bei uns
noch viel Gemeinsames zu tun. - Ich finde, die globale
Strategie des Konzeptes ist richtig. Es muss aber völlig
unstreitig sein, dass die transatlantischen Beziehungen
immer eine unverzichtbare Grundlage unserer deutschen
Außenpolitik bleiben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Karl-Georg Wellmann. - Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8600 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke. Interfraktionell ist vereinbart, über
den Entschließungsantrag auf Wunsch der einbringenden Fraktion abweichend von der Geschäftsordnung sofort abzustimmen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
sehe, das ist mit der erforderlichen Mehrheit der Fall.
Dann verfahren wir so.
Wir kommen also jetzt zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8624. Wer stimmt dafür? - Das ist die Fraktion
Die Linke. Gegenprobe! - Das ist die Koalition. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten und
des Bündnisses 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 21 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Rückholung des Atommülls aus der Asse be-
schleunigen
- Drucksache 17/8497 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
Vizepräsident Eduard Oswald
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Beteiligung der Energiekonzerne an den Kos-
ten für das Atommülllager Asse
- Drucksachen 17/1599, 17/4487 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Angelika Brunkhorst
Dorothée Menzner
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sigmar Gabriel, Ute
Vogt, Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rückholung der Atommüllfässer aus der Asse II
beschleunigen
- Drucksachen 17/8351, 17/8588 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Angelika Brunkhorst
Dorothée Menzner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Sylvia
Kotting-Uhl. Bitte schön, Frau Kollegin Kotting-Uhl,
Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden
heute über die Entsorgungskatastrophe Asse. Ich will
nicht noch einmal die Gesamtgeschichte der Asse referieren, obwohl sie ein gutes Lehrbeispiel dafür ist, was
man mit mangelnder Sorgfalt und Transparenz bei der
Auswahl eines Standortes für die Endlagerung von
Atommüll anrichten kann.
Im Jahr 2007 habe ich hier zum ersten Mal gefordert,
den Atommüll aus der Asse zurückzuholen. Die Zustimmung im Haus war gering. Ein Jahr später wurden die
kontaminierten Laugen bekannt. Nach dem Optionenvergleich des inzwischen zuständigen Bundesamtes für
Strahlenschutz war klar, dass um der Langzeitsicherheit
willen der Müll aus der Asse raus muss. Wer sich mit der
Asse beschäftigt hat und weiß, auf welch fahrlässige
Weise welche Mengen von Atommüll dort eingelagert
wurden, dem ist klar, dass die Rückholung nicht einfach
wird. Dass man vor einer solchen Aufgabe auch verzagen kann, ist für mich nachvollziehbar. Ich bin den
Verantwortlichen im Bundesamt für Strahlenschutz, im
niedersächsischen und im Bundesumweltministerium
ausdrücklich dankbar, dass sie sich nach dem Hilferuf
aus dem BfS und dem anschließenden Workshop der
Fachleute noch einmal klar zur Rückholung des Atommülls bekannt haben.
({0})
Nichts anderes wäre den zukünftigen Generationen
rund um die Asse zumutbar. Die Lage erfordert ein klar
erkennbares gemeinsames Vorgehen der drei verantwortlichen Häuser BfS, NMU und BMU. Störfeuer im Sinn
von besorgten Nachfragen kann hilfreich sein; Störfeuer
mit dem Ziel der Verzögerung oder Diskreditierung handelnder Personen kann sich in dieser Situation niemand
leisten.
Was ist zu tun? Wir brauchen Beschleunigung in der
Asse, Beschleunigung bei einem Verfahren, das sowohl
dem Bergrecht wie dem Atomrecht genügen muss und
das in diesem Szenario ohne Lehrbeispiele ist - Neuland.
Es geht darum, ein sich potenzierendes Regelwerk auszudünnen, ohne die Grundschutzstandards zu gefährden weder die Sicherheit der dort arbeitenden Bergleute noch
die Langzeitsicherheit. Braucht es beispielsweise in einem Salzbergwerk wirklich einen Hochglanzklinikboden, um jedes beim anstehenden Öffnen einer Kammer
eventuell auslaufende Tröpfchen rückstandslos aufwischen zu können?
Man kann Sicherheit, die in einem solchen Fall jahrzehntelanger Vernachlässigung niemals zu 100 Prozent
erreichbar ist, natürlich ohne Ende zu erhöhen versuchen. Der Preis ist allerdings irgendwann die Aufgabe
des höchsten Schutzziels: der Langzeitsicherheit. Der
prognostizierte Zeitraum für das Erreichen dieses höchsten Schutzziels, allein machbar durch die Rückholung
der 126 000 mehr oder weniger aufgelösten Fässer, umfasst zwei bis fünf Jahrzehnte. Das ist lang, aber nicht
unmöglich.
Die Stabilität der Grube, die lange als großes Risiko
galt, ist nach Einschätzung offenbar aller Fachleute nicht
mehr das Problem. Ein spontanes Zusammenbrechen ist
schon gar nicht zu befürchten. Die Stabilität des Bergwerks wird durch die seit Jahren durchgeführten Notfallmaßnahmen ständig erhöht. Das eigentliche Damoklesschwert, das seit Jahrzehnten über der Asse schwebt und
auch weiterhin dort schweben wird, ist die spontane Zunahme des Wasserzutritts. Da man nicht weiß, woher die
seit vielen Jahren gleichbleibenden täglichen 12 Kubikmeter Wasser kommen, kann es keine Prognose geben,
ob und wann sich das ändert - vielleicht morgen, vielleicht nie.
Auch für diesen Fall werden seit der Zuständigkeit
des BfS Notfallmaßnahmen ausgeführt, die die mit
Atommüll gefüllten Kammern so gut wie möglich sichern. Diese Notfallmaßnahmen wurden von Anfang an
als Gefahrenabwehr betrachtet und entsprechend gesetzlich behandelt. Um der Lage in der Asse gerecht zu werden, müssen jetzt auch die Vorbereitungen zur Rückholung als Gefahrenabwehr betrachtet werden. Ja, auch
die Rückholung ist Gefahrenabwehr, nicht nur Stabilisierungsmaßnahmen.
({1})
In der Asse ist der Eintritt der Gefahr im Grundsatz
längst realisiert. Die Situation dort bedeutet eine permanente Störung des Rechtszustands.
Darüber hinaus braucht der Sonderfall Asse ein eigenes Regelwerk. Ein solches Regelwerk darf die Grundschutzstandards des Atomrechts nicht unterlaufen und
das lange unterdrückte Recht der Öffentlichkeit auf Beteiligung nicht beschneiden. Wenn aber selbst die Begleitgruppe Asse, die die betroffene Öffentlichkeit vertritt, eine Lex Asse zur Beschleunigung des Verfahrens
fordert, dann ist genau diese Begleitgruppe der richtige
Partner, um eine hinreichende Öffentlichkeitsbeteiligung
in einem beschleunigten Verfahren zu entwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der
SPD, der eine dezidierte Änderung des Atomgesetzes
vorschlägt, wurde im Umweltausschuss von der Mehrheit abgelehnt. Wir müssen vielleicht wirklich noch
nicht beschließen, mit welchen Worten wir die Lex Asse
im Atomgesetz verankern wollen, auch wenn der Vorschlag der SPD klug war, wovon ich mich inzwischen
überzeugen konnte.
Heute steht der Antrag von uns Grünen zur Beratung
an. Wir fordern, der Rückholung des Atommülls durch
eine Änderung des Atomgesetzes eine höhere Priorität
beizumessen und bis zur Gültigkeit dieser Änderung alle
Maßnahmen zur Rückholung nach Gefahrenabwehr gemäß Atomrecht vorzunehmen. Wir müssen uns auch
nicht auf den Wortlaut dieses Antrags einigen. Aber ich
appelliere an Sie alle, dass wir uns auf dieser Grundlage
fraktionsübergreifend verständigen.
({2})
Es wäre die angemessene Art, mit einem falsch ausgewählten und fatal gescheiterten Endlager umzugehen.
Sie alle wissen: Derzeit wird ein Endlagersuchgesetz
erarbeitet. Wir wollen eine vergleichende Endlagersuche
mit dem Ziel auf den Weg bringen, den bestgeeigneten
Standort in Deutschland für die Endlagerung hochradioaktiven Mülls für die nächste Million Jahre zu finden.
Das ist eine Aufgabe, die, wenn sie tragfähig sein und
Regierungswechsel überstehen soll, nur im Konsens gelöst werden kann, weshalb man bei der Entwicklung des
Gesetzes auf alle Besorgnisse achten muss.
Lassen Sie uns mit der Erarbeitung der Lex Asse ein
Zeichen setzen, dass wir zum Konsens in Endlagerfragen fähig sind. Es wäre ein Vertrauen schaffendes Zeichen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Sylvia Kotting-Uhl. Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön,
Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
außerordentlich problematische Lage im Endlager Asse
wird heute von niemandem mehr infrage gestellt. In den
60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts sind
126 000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktivem
Müll in das ehemalige Salzbergwerk eingelagert worden,
ohne dass heute sicher bekannt wäre, welche Nuklide in
welchen Mengen verbracht wurden. Zum Teil geschah
das mit der sogenannten Versturztechnik, die dazu geführt hat, dass die Fässer beschädigt wurden und sich deren Inhalt mit Salzgrus vermischt hat. Aus heutiger Sicht
ist das jenseits jeglichen angemessenen Umgangs mit
atomaren Abfällen. Zur damaligen Zeit war es ein
Schritt in die richtige Richtung; denn damals war es der
Stand des Verfahrens, atomare Abfälle im Meer zu versenken.
Über viele Jahre hinweg haben verschiedene Bundesund Landesregierungen die Problematik in der Asse
nicht wahrhaben wollen. Das hat das Vertrauen der Menschen vor Ort in Politik und Wissenschaft in hohem
Maße gestört. Politische Schuldzuweisungen sind deshalb nicht angebracht. Der sachliche Ton in der Sitzung
des Umweltausschusses am vergangenen Mittwoch war
sehr wohltuend. Ich erhoffe mir diesen Ton auch für die
heutige Debatte.
In der vergangenen Legislaturperiode hat der Bundestag die Verantwortung für die Asse auf das BfS bzw. damit auch auf das BMU übertragen. Eine Asse-Begleitgruppe und ein Koordinationskreis sind eingerichtet
worden. Das BMU hat die Sanierung der Asse ganz oben
auf die politische Agenda gesetzt. Die Staatssekretärin
ist regelmäßig vor Ort, um mit der betroffenen Bevölkerung einen vernünftigen Weg zu suchen.
2009 hat das BfS die Ergebnisse des sogenannten Optionenvergleichs Asse vorgelegt, der gezeigt hat, dass
die einzige Möglichkeit des Nachweises der Langzeitsicherheit tatsächlich die Rückholung der Abfälle ist.
Ein Gutachten von DMT und TÜV Nord hat damals besagt, dass die reine Rückholung acht Jahre dauern würde
und man mit dem Ganzen bis zum Jahre 2020 oder 2025
fertig sei. Dann hat ein Sachstandsbericht der zuständigen Abteilung des BfS aufgeschreckt, der angesichts der
in bergrechtlicher und atomrechtlicher Hinsicht problematischen Situation Zweifel an der Realisierbarkeit der
Planungen ausgedrückt hat.
Deshalb gab es im Januar den Workshop, den Frau
Kollegin Kotting-Uhl eben schon angesprochen hat. Da
haben 100 Expertinnen und Experten darüber gesprochen. Den Bericht, den das BfS dann erstellt hat, hat die
Entsorgungskommission hinsichtlich der Möglichkeiten
der Beschleunigung der Realisierung der Rückholung
ohne Abstriche bei der Sicherheit sowie der Beschleunigung der Realisierung der Planung bzw. Durchführung
von Notfall- und Vorsorgemaßnahmen bewertet. BfS
und BMU haben dies am vergangenen Mittwoch im Umweltausschuss umfangreich vorgetragen. Diese Ergebnisse - so bin ich überzeugt - bieten nun ein realistischeres Bild für dieses weltweit beispiellose Vorhaben, ein
Endlager zu räumen.
Die gute Nachricht ist: Das Bergwerk ist nicht akut
einsturzgefährdet. Aber es besteht jederzeit das Risiko
eines unkontrollierten Laugeneinbruchs. Die Zeitdauer
der Rückholung war viel zu optimistisch geschätzt: Es
wird mehrere Jahrzehnte dauern, vermutlich 35 bis
40 Jahre. Weil es noch so lange dauert, ist es jetzt notwendig, die Notfall- und Vorsorgemaßnahmen zu forcieren. Nach Einschätzung der ESK und des BfS stehen die
Notfallmaßnahmen erst ab 2016, die Vorsorgemaßnahmen erst ab 2019 vollständig zur Verfügung. Das muss
aber jetzt forciert werden.
Außerdem muss das Bergwerk, bei dem man eigentlich vorhatte, es bis zum Jahr 2015 aufzugeben, umfangreich saniert und modernisiert werden: Die Schächte
müssen modernisiert und saniert werden. Es muss ein
neuer Schacht gebaut werden, um die Rückholung überhaupt zu ermöglichen. Es muss neue Infrastrukturräume
geben; alte müssen aufgegeben werden, weil der Berg
dort drückt bzw. weil sie verfüllt werden müssen; denn
die Stabilisierung des Berges steht im Vordergrund.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der technische Ablauf der Sanierung gliedert sich in drei, eigentlich in fünf
Schritte: die Bergung der Abfälle, der Transport der Abfälle, die Pufferlagerung und Konditionierung, später die
Zwischenlagerung, anschließend die Endlagerung. Es
handelt sich also tatsächlich um ein riesiges Projekt; ich
glaube, das steht außer Frage.
Die ESK führt aus, dass es bislang für keinen dieser
Schritte eine antragsfähige Planung gebe. Die Planung
ist im Moment die vordringliche Aufgabe des BfS. Doch
zunächst ist eine Faktenerhebung notwendig, das heißt
das Anbohren von ausgewählten Einlagerungskammern
sowie deren Öffnung und testweise Bergung, einfach um
zu wissen, womit man eigentlich umgeht.
Den Gesprächen, die wir als Ausschuss bei unserem
Besuch im September in der Asse, aber auch am vergangenen Montag gemeinsam mit der Staatssekretärin und
der Frau Kollegin Brunkhorst mit Anwohnerinnen und
Anwohnern geführt haben, ist zu entnehmen: Die Menschen sind ungeduldig. Sie wollen, dass endlich etwas
passiert, sie wollen, dass es endlich Fortschritte gibt, und
sie haben Sorge, dass das Verfahren verzögert werden
könnte. Das BfS konnte diese Bedenken ausweislich des
Berichtes der ESK aber nicht bestätigen. Auch Präsident
König hat am Mittwoch im Umweltausschuss bestätigt,
dass die Genehmigung, gemessen am Umfang des Projektes, auch durch das niedersächsische Umweltministerium zügig erfolgt sei.
Dennoch begrüße ich für meine Fraktion ausdrücklich, dass auf Initiative des BMU ab sofort zu einer regelmäßigen Gesprächsrunde eingeladen werden soll, der
der Landrat des Landkreises Wolfenbüttel, die beiden
Staatssekretärinnen aus BMU und NMU sowie der Präsident des BfS angehören sollen, um Reibungsverluste
zwischen den beteiligten Institutionen zu vermeiden und
pragmatische Entscheidungen auf dem kurzen Dienstweg treffen zu können. Ich freue mich sehr, dass der
neue niedersächsische Umweltminister Birkner die Sanierung der Asse ganz oben auf seine politische Agenda
gesetzt hat und auch heute bei dieser Debatte das Wort
ergreifen wird.
({0})
Bei allem Wunsch nach Beschleunigung gibt es den
Konsens unter allen Beteiligten, dass es auf gar keinen
Fall Abstriche bei der Sicherheit geben darf, weder für
die Anwohner noch für die Mitarbeiter noch für die Umwelt. Dieses darf selbstverständlich auch nicht im Rahmen der Gefahrenabwehr stattfinden. Wir haben im Ausschuss gehört: Auch wenn man das ganze Verfahren im
Rahmen der Gefahrenabwehr betreiben würde, wäre
fraglich, ob es dadurch tatsächlich zu einer wesentlichen
Beschleunigung kommen könnte.
Das BfS hat uns immer wieder mitgeteilt, dass es zur
Faktenerhebung nötig ist, dass die Kammern geöffnet
werden. Das große Risiko ist, dass es gerade in diesem
Zeitraum, in dem die Kammern geöffnet worden sind, zu
einem unkontrollierbaren Wassereinbruch kommen
könnte. Was soll dann geschehen? Wie soll man mit diesem Risiko umgehen? Ehrlich gesagt: Auf diese Fragen
habe auch ich keine Antwort. Ich will damit nur deutlich
machen, dass es nicht etwa so lange dauert, Lösungen zu
finden, weil man etwas verzögern will, sondern weil die
Probleme tatsächlich riesengroß sind. Der vorliegende
ESK-Bericht spricht diese Fragen mit schonungsloser
Offenheit an. Das ist ein richtiger Schritt in die richtige
Richtung.
Die ESK rät zudem ganz konkret, für die Beschleunigung des Verfahrens seien die Einrichtung einer leistungsstärkeren Elektroversorgung, die Vereinfachung im
Beschaffungswesen durch Verzicht auf umfangreiche
Ausschreibungen und zusätzliches Personal erforderlich.
Ich bitte insbesondere unsere Haushälter, diese Bitte
wohlwollend zu prüfen. Ob allerdings die Änderung von
§ 57 b des Atomgesetzes, der in der letzten Legislaturperiode unter der Federführung des damaligen Umweltministers Sigmar Gabriel in das Atomgesetz eingefügt
wurde, wirklich hilft, ist aus meiner Sicht vor dem Hintergrund der nicht anzutastenden Sicherheitsstandards
zumindest fraglich.
Zum Schluss möchte ich noch auf den zweiten Antrag
der Grünen eingehen, in dem gefordert wird, die Energiekonzerne an der Sanierung der Asse zu beteiligen.
Das ist längst umgesetzt. Das stand auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. In der Begründung des Kernbrennstoffsteuergesetzes ist explizit nachzulesen, dass die Einkünfte aus dieser Steuer auch für
die Stilllegung verwendet werden sollen.
Ich habe den Eindruck, dass sich alle Beteiligten der
riesigen Dimension dieses Projektes bewusst sind und
die Problematik lösen wollen, und zwar durch Rückholung der Abfälle aus der Asse. Ich sage klar: Endlich!
Gut, dass wir so weit sind. Die Menschen in der Region
haben einen Anspruch darauf, dass man ihre Sorgen
ernst nimmt und so zügig wie nur eben möglich unter
Berücksichtigung der Sicherheitsstandards angemessen
handelt.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth. - Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Dr. Matthias Miersch. Bitte schön, Kollege
Dr. Miersch.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Flachsbarth, die Fakten, die Sie hier vorgetragen haben, kennen wir alle, sowohl wir hier als
auch die Menschen, die von der Asse unmittelbar betroffen sind. Die entscheidende Frage ist doch: Wie verhindern wir die Tatenlosigkeit und die organisierte
Unverantwortlichkeit, die wir die letzten zwei Jahre beobachten konnten?
({0})
SPD und Grüne haben Ihnen in ihren Anträgen Vorschläge unterbreitet. In den letzten Wochen haben wir
aber in keiner Weise feststellen können, dass man sich
dezidiert mit diesen Vorschlägen auseinandersetzt. Es ist
symptomatisch, dass der Bundesumweltminister auf einer hinteren Bank Platz genommen hat und dieser Debatte nur indirekt folgt. Er hat es auch in den vergangenen Sitzungen des Umweltausschusses nicht für nötig
gehalten, sich bei diesem Thema in irgendeiner Form
einzubringen. Ja, er hat es in den Jahren seiner Amtszeit
nicht einmal für nötig gehalten, sich die Situation vor
Ort anzuschauen. Wenn er einmal in den Schacht eingefahren wäre, hätte er vielleicht eine andere Motivation,
dieser Debatte zu folgen.
({1})
Ich glaube, den Menschen ist mit salbungsvollen
Worten von uns nicht geholfen. Die Leute vor Ort verlangen von uns, dass wir ein Instrumentarium bereitstellen, das diesen Herausforderungen, die sicherlich einmalig sind, gerecht wird. Lieber Herr Birkner, ich finde,
dass das, was Sie angekündigt haben, in die richtige
Richtung geht. Sie verlassen damit den unseligen Pfad
Ihres Vorgängers, Heinrich Sander, der durch Tatenlosigkeit geglänzt und das Thema Asse immer beiseitegeschoben hat. Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie
es ernst meinen.
({2})
Bei unzähligen Besuchen vor Ort, aber auch in den
Debatten im Umweltausschuss wurde deutlich, was wir
brauchen: ein klares Bekenntnis der Hausspitzen des
Bundesumweltministeriums und des niedersächsischen
Umweltministeriums. Man darf die Beamten nicht im
Regen stehen lassen und ihnen - voller Sorge - Genehmigungsverfahren auferlegen und sie Tausende von Seiten schreiben lassen. Es kann nicht sein, dass monatelang darüber philosophiert wird, welche Fliesen an einer
Bohrstelle angebracht werden müssen, mit der man feststellen will, in welchem Zustand die Fässer sind. Diese
Beispiele sind mehrere Monate alt, aber es gibt bei dieser Bundesregierung null Bewegung, um endlich den gesetzlichen Rahmen anzupassen.
({3})
Herr Meierhofer, ich glaube, wir kommen so nicht
weiter. Sie sagen, dass das, was wir hier vorlegen, nicht
weiterführt, aber dabei bleiben Sie stehen; Sie unterbreiten keinen einzigen Gegenvorschlag. Sie unterbreiten
keinen einzigen Kompromissvorschlag. Sie machen Folgendes - das ist der Hauptvorwurf, den ich auch dem
Bundesumweltminister mache -: In der ersten Sitzung
des Umweltausschusses in diesem Jahr ließen Sie Abteilungsleiter Hennenhöfer, den Cheflobbyisten der Atomindustrie a. D., eine Hasstirade auf das Bundesamt für
Strahlenschutz halten. Das ist kein Weg, um eine Lösung
für die Asse zu finden. Das ist kein Weg der Verantwortungsübernahme.
({4})
Deswegen brauchen wir tatsächlich so etwas wie eine
Taskforce. Die Hausspitzen müssen Verantwortung übernehmen.
({5})
- Genau die haben wir, Herr Paul. Diese organisierte Unverantwortlichkeit könnten Sie heute beenden, wenn Sie
unserem Antrag zustimmen würden.
({6})
Was wir brauchen, ist Verantwortungsübernahme und
kein Herumlavieren und kein Abschieben von Verantwortlichkeiten.
({7})
Wir sehen, dass das bisherige Genehmigungsrecht
nicht den Beschleunigungseffekt hat, den wir brauchen.
Auf Gefahrenabwehr kann man bestimmt einiges stützen, liebe Kollegin Flachsbarth, aber das reicht nicht.
Deswegen schlagen wir vor, § 57 b des Atomgesetzes zu
verändern. Wenn Sie eine Alternative haben, bringen Sie
sie ein! Frau Staatssekretärin Reiche hat vor zweieinhalb
Wochen im Umweltausschuss gesagt, dass uns in dieser
Woche ein dezidierter Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgelegt wird. Was haben wir? Nichts. Wir haben
nichts! Das wird der Situation in der Asse nicht gerecht.
Insofern: Bitte überlegen Sie noch einmal, ob Sie unsere
Anträge hier einfach abbürsten oder endlich in die Pötte
kommen wollen. Die Leute in bzw. an der Asse haben es
verdient.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Dr. Matthias Miersch. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Minister für
Umwelt des Landes Niedersachsen, Dr. Stefan Birkner.
Bitte schön, Herr Minister Dr. Stefan Birkner.
({0})
Dr. Stefan Birkner, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als niedersächsischer Minister für Umwelt, Energie
und Klimaschutz freue ich mich darüber, hier heute zu
diesem Thema sprechen zu können.
Die sichere Stilllegung der Schachtanlage Asse II ist
aus niedersächsischer Sicht eine der größten Herausforderungen in der Umweltpolitik. Dabei geht es darum, die
Folgen von Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit zu beheben und daraus die notwendigen Lehren zu
ziehen. Die sichere Stilllegung - ein technisch einmaliges und komplexes Projekt - kann nur gelingen, wenn
alle Beteiligten an einem Strang ziehen, und zwar in dieselbe Richtung. Die notwendige Akzeptanz bei den
Menschen in der Region wird nur durch Aufrichtigkeit,
echte Beteiligungsmöglichkeiten und Transparenz erreicht werden können.
({2})
Der Auftrag des Atomgesetzes ist eindeutig: Die Asse
ist unverzüglich stillzulegen. Der für die Stilllegung von
Endlagern zuständige Bund war und ist folglich zum unverzüglichen Handeln aufgefordert.
Das Bundesamt für Strahlenschutz - wir haben es
heute schon gehört - hatte vor zwei Jahren als Ergebnis
des sogenannten Optionenvergleichs erklärt, dass die
Rückholung der radioaktiven Abfälle gegenüber einer
Umlagerung oder Vollverfüllung als anderer Variante als
die langfristig sicherste Option für die Stilllegung der
Schachtanlage Asse II gilt. Es hatte aber zugleich betont,
dass die Durchführbarkeit der Rückholung aufgrund von
Unwägbarkeiten zunächst im Rahmen einer sogenannten
Faktenerhebung geprüft werden müsse.
Um die grundlegende Haltung Niedersachsens vor
diesem Hohen Haus zum Ausdruck zu bringen: Die Landesregierung verfolgt das Ziel der Rückholung aller Abfälle aus der Asse.
({3})
Ob und inwieweit dies tatsächlich möglich ist, muss
schnellstmöglich geklärt werden. Dabei wird es neben
den technischen Fragestellungen insbesondere darauf
ankommen, dass die Rückholung für die Bevölkerung
wie auch für die Beschäftigten aus radiologischen und
anderen sicherheitsrelevanten Gründen vertretbar ist.
Die Niedersächsische Landesregierung wird auch weiterhin alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten
nutzen, um die Rückholung voranzubringen und die Klärung offener Fragen zu beschleunigen. Wir werden weiterhin in fachlich fundierter Abstimmung mit den zuständigen Bundesbehörden konstruktiv und zielorientiert
zusammenarbeiten.
Mit dem Betreiberwechsel der Asse hin zum Bundesamt für Strahlenschutz im Jahre 2009 wurde zugleich der
hier schon erwähnte sogenannte Asse-Paragraf in das
Atomgesetz eingebracht. Seitdem steht die Asse nicht
mehr unter Bergrecht, sondern unter Atomrecht und
wird somit wie eine kerntechnische Anlage behandelt,
also wie ein Kernkraftwerk. Dies war damals die gemeinsam getragene Konsequenz aus den festgestellten
Missständen in der Anlage.
In den letzten beiden Jahren hat mein Haus, also das
niedersächsische Umweltministerium, als zuständige
Behörde verschiedene Genehmigungen nach Atom- und
Strahlenschutzrecht aufgrund dieser neuen Grundlage
für die Asse erteilt. Besonders hinweisen möchte ich dabei auf die Genehmigung für den ersten und wesentlichen Schritt der sogenannten Faktenerhebung. Das hierbei anstehende Anbohren von mit radioaktiven Abfällen
gefüllten Kammern, die auch Kernbrennstoffe enthalten
können, ist zweifelsohne technisch sehr komplex und
daher genehmigungsrechtlich anspruchsvoll. Trotzdem
ist es uns gelungen, die Genehmigung in einer Rekordzeit von weniger als einem halben Jahr - was für ein
atomrechtliches Verfahren sehr schnell ist - zu erteilen.
Dabei haben wir immer im Auge gehabt, dass in der
Asse kein neues Endlager gebaut wird, sondern dass es
sich um eine bestehende Anlage handelt, die unter ganz
anderen Rahmenbedingungen entstanden ist. Aus rechtlicher Sicht sind damit seit der Erteilung der Genehmigung im April 2011 alle Voraussetzungen für das Anbohren der ersten Kammer gegeben.
Nichtsdestotrotz bin ich der Überzeugung, dass eine
Beschleunigung der Abläufe im Stilllegungsverfahren
bezüglich der Asse dringend geboten und auch möglich
ist. Die Rückholung wird nicht gelingen, wenn das bisherige Tempo beibehalten wird,
({4})
zumal die Standfestigkeit des Grubengebäudes und
insbesondere die hier bereits genannte Gefahr eines unkontrollierten Laugenzuflusses zeitlich begrenzende
Faktoren sind. Aus diesem Grund müssen wir alle Beschleunigungsmöglichkeiten konsequent nutzen.
Bezüglich der Faktenerhebung ist die Arbeit bei uns
zunächst einmal getan. Wir haben, wie bereits gesagt,
die genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen. Alles Weitere liegt nun beim Betreiber der Asse,
wobei wir aus niedersächsischer Sicht deutlich machen
- wir verstehen uns selbstverständlich als Anwalt der
Menschen in der Region -, dass wir nun endlich Taten
Minister Dr. Stefan Birkner ({5})
sehen wollen, dass es mit der Faktenerhebung vorangehen muss.
Es gibt neben den Genehmigungsverfahren, die möglichst zu beschleunigen sind, weitere Aspekte, bei denen
eine Beschleunigung möglich ist. Wir haben als Niedersächsische Landesregierung ein spezielles „Asse-Gesetz“ vorgeschlagen, um auch in materiell-rechtlicher
Hinsicht Beschleunigungen zu bewirken. Im Atomgesetz sollte zum Beispiel klargestellt werden, dass die
Rückholung der Fässer von der atomrechtlichen Planfeststellungspflicht ausgenommen wird. Damit würde
sichergestellt, dass das notwendige Abteufen eines
Schachtes und die Einrichtung von Infrastrukturbereichen bergrechtlich genehmigt werden können und nicht
ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren durchlaufen müssen. Außerdem müssen wir Voraussetzungen
schaffen, dass bereits vor Genehmigungserteilung mit
der Ausführung der genehmigungsbedürftigen Maßnahmen begonnen werden kann, wenn mit einer Entscheidung zugunsten des Antragstellers zu rechnen ist. Damit
würden wir eine Parallelisierung von Genehmigungsverfahren und Ausführung erreichen.
({6})
Auch die Ausschreibungsbedürftigkeit und die Ausschreibungsfristen müssen unter dem Gesichtspunkt der
Beschleunigung hinterfragt werden. Schließlich ist zu
klären, ob und inwieweit es unter Wahrung des Schutzes
der Bevölkerung und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über und unter Tage - das ist selbstverständlich - vertretbar ist, auf Anforderungen des Atomrechts, die für
Kernkraftwerke gelten, aber in der Asse möglicherweise
nicht notwendig sind, zu verzichten.
Es ist erforderlich, dass die Politik hier Verantwortung übernimmt und diese nicht auf die Verwaltung verlagert. Deshalb wollen wir erreichen, dass eine entsprechende gesetzliche Änderung vorgenommen wird.
Ich danke Herrn Bundesminister Dr. Röttgen ausdrücklich dafür, dass er unsere Anregung aufgenommen
hat, eine Lenkungsgruppe auf Leitungsebene einzurichten, was konkret zu einer Beschleunigung führen kann,
indem Abstimmungsprobleme gelöst werden und im
Hause deutlich gemacht wird, dass dieses Thema hohe
Priorität hat und man hier vorankommen muss.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu der Forderung
sagen, in der Asse nach Gefahrenabwehrrecht vorzugehen. Wir glauben nicht, dass so eine entscheidende Beschleunigung erreicht werden kann; denn auch im Gefahrenabwehrrecht müssen die materiell-rechtlichen
Voraussetzungen eingehalten werden. Auch hier sind die
entsprechenden Unterlagen vorzulegen und die entsprechenden Gutachten und Prüfungen vorzunehmen. Deshalb denken wir, dass dies nicht der richtige Weg ist, um
Beschleunigung zu erreichen.
Die Landesregierung vertritt die Interessen der Menschen in der Region. Wir wollen, dass die Abfälle aus
der Asse herauskommen. Wir werden alles daransetzen,
schnellstmöglich Klarheit darüber zu erlangen, ob und
inwieweit dies tatsächlich möglich ist. Wir erwarten aber
auch, dass auch alle anderen Beteiligten alles daransetzen, diese Klärung herbeizuführen und alle Beschleunigungspotenziale konsequent zu nutzen.
Bei allen Schritten, die wir gehen, ist es unabdingbar,
ein Höchstmaß an Transparenz und Beteiligung sicherzustellen. Nur so kann vor Ort das notwendige Vertrauen
in Politik und Verwaltung wiederhergestellt werden.
Hierbei kommt der Asse-II-Begleitgruppe unter der Leitung des Landrates Herrn Röhmann große Bedeutung zu,
gerade wenn es um die Abwägung zwischen Beschleunigung und öffentlicher Beteiligung geht. Von diesem Prozess können wir, wie ich meine, auch für das Endlagersuchgesetz lernen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Ich habe das Geschenk, das ich im Umweltausschuss dabei hatte, auch jetzt mitgebracht. Dieses Geschenk haben uns Bürgerinitiativen im September
letzten Jahres, als wir bei der Asse waren, gegeben. Es
handelt sich um Asse-Wasser; dies ist natürlich nur symbolisch. Ich lese Ihnen einmal vor, was auf der Wasserflasche steht: Strahlendes Wasser aus der Region für die
Region. Nach Flutung des Atommülllagers Asse II bald
auch in Ihren Gewässern. Inhalt: Radioaktivität aus
Kernkraftwerksanlagen von Eon, RWE, EnBW und
Vattenfall 67 Prozent, aus Kernforschung 23 Prozent,
aus kerntechnischer Industrie 8 Prozent, sonstiger Strahlungsmüll 2 Prozent.
({0})
Dies zeigt, welche Probleme die Menschen vor Ort haben und welche Ängste sie plagen.
({1})
In der Asse lagern 126 000 Fässer Atommüll, davon
1 293 Fässer mittelradioaktiver Müll - er stammt größtenteils aus der Wiederaufarbeitung in Karlsruhe - mit
insgesamt 28 Kilo Plutonium, 102 Tonnen Uran, 87 Tonnen Thorium und circa 500 Kilo Arsen, nicht zu vergessen die Leichenteile der zwei Mitarbeiter, die damals bei
dem Unfall in Gundremmingen gestorben sind. Hinzu
kommen 14 000 undeklarierte Fässer. Der Müll stammt
zum Teil aus illegaler Einlagerung durch die AKW-Betreiber.
Was heißt das für uns? Natürlich müssen wir handeln;
das haben wir gehört. Aber ich sage es noch einmal:
Atomkraft ist nicht beherrschbar. Dieser Müll wird kommenden Generationen vor die Füße fallen, und natürlich
haben sie auch die Kosten zu tragen.
Spätestens seit 1993, also seit fast 20 Jahren, ist bekannt, dass es in der Asse zu Gebirgsbewegungen und
Laugenzuflüssen kommt. Ich wiederhole: seit fast
20 Jahren! Erst 2008 wurde dem Helmholtz-Zentrum die
Zuständigkeit entzogen, und es wurde durch das BfS ersetzt. Jetzt findet ein Optionenvergleich statt: Vollverfüllung und alle Fässer in der Asse belassen oder Rückholung. Die Mehrheit ist für eine Rückholung. Die
Menschen vor Ort wünschen sich eine Rückholung; sie
sehen keine andere Chance. Sie sagen uns aber auch
- am Montag waren die Bürgerinitiativen hier in Berlin -,
dass sie zurzeit den Eindruck haben, dass die Arbeiten
zur Grubensicherung und zur Vorbereitung auf Notfallmaßnahmen - dass das Ganze also geflutet wird - Priorität haben. Es ist Ihre Aufgabe, ihnen zu sagen: Nein,
dem ist nicht so. - Wenn man sich den Bundeshaushalt
anschaut, dann stellt man fest, dass der größte Teil der
Mittel für die Notfallvorsorge und nicht für die Vorbereitung auf die Rückholung zur Verfügung gestellt wird.
Daran müssen Sie natürlich etwas ändern, wenn Sie Vertrauen schaffen wollen.
({2})
Wir brauchen hier eine Chefsache, die da heißt: Mission Rückholung und Vertrauen schaffen. Wir brauchen
eine Chefsache von Umweltminister Röttgen, aber auch
von Frau Merkel.
({3})
- Der Chef spricht gerade. Er hört nicht zu.
({4})
Die Menschen vor Ort haben das Gefühl, dass es zu
Verzögerungen kommt. Man glaubt, dass diese Verzögerungen entstehen, weil es kein konkretes Konzept für die
Rückholung gibt. Sie sagen uns, Mitarbeiter in den zuständigen Ministerien nutzten den Dienstweg bei Anfragen und Genehmigungsverfahren in der ganzen zeitlichen Länge aus, weil sich keiner aus dem Fenster lehnen
will. Hinzu kommt, dass die Landessammelstelle in Niedersachsen das Wasser aus der Asse nicht mehr annimmt, wie wir am Mittwoch im Umweltausschuss gehört haben. So viel zum Thema Verantwortung.
Es gibt also viele verschiedene Aspekte. Wir brauchen ein Asse-Begleitgesetz; den entsprechenden Anträgen werden wir zustimmen. Wir brauchen eine Lex
Asse. Die Asse ist ein Sonderfall. Hier müssen wir neu
lernen. Wir sind der Meinung, dass dieses Thema atomrechtlich behandelt werden sollte.
Es gibt viele Forderungen kluger Menschen vor Ort.
So hat zum Beispiel die Asse-Begleitgruppe deutlich gemacht: Dieses Thema muss ganz oben auf die Tagesordnung. Die Schutzziele im Hinblick auf Bevölkerung und
Mitarbeiter dürfen nicht abgesenkt werden. Wir brauchen eine Personalaufstockung, weil Strahlung vorhanden ist und die Menschen nicht so lange in der Asse bleiben dürfen. Eine Aufstockung kostet natürlich Geld.
Darüber hinaus muss es sich um vernünftige Arbeitsplätze handeln. Es dürfen keine Leiharbeiter eingesetzt
werden. Natürlich brauchen wir auch ein Projektmanagement. Das ist in den Amtsstuben vielleicht noch
nicht ganz durchgedrungen; aber ich denke, hier kann
man von der Industrie lernen. Außerdem brauchen wir
Rechtssicherheit für die Mitarbeiter, wenn es um die
Nutzung von Ermessensspielräumen geht; hier ist die Situation nicht ganz klar.
Ich sage Ihnen, was die Bürgerinitiativen fordern. Bewusste Verzögerungen bei der Rückholung sollen zum
strafrechtlich relevanten Tatbestand der Unterlassung erklärt werden. Den Bürgerinitiativen ist es also wirklich
sehr ernst. Sie fordern auch, unverzüglich Bergtechnik
anzuschaffen. Gibt es ein Problem mit der Ausschreibung, wird es, wie ich denke, einige Möglichkeiten geben, es zu lösen.
Ich denke, vor uns liegen große Aufgaben. In der
Asse lagern 100 000 Kubikmeter eingelagerter Stoffe.
Wir wissen nicht, in welchem Zustand sie sich befinden.
Ich nenne Ihnen zum Vergleich eine Zahl: Wenn alle
AKW abgeschaltet sind, werden es - und zwar die ganzen Fässer, der ganze Atommüll, der ganze Schrott 280 000 Kubikmeter sein.
Große Aufgaben kommen auf uns zu. Die Menschen
vor Ort erwarten, dass wir sie lösen. Diese Erwartung
sollten wir alle erfüllen. Dabei sind in erster Linie Sie
von der Koalition gefragt - Chefsache.
({5})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ursula Heinen-Esser.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eines vorausschicken, weil es ein
Stück weit Irritationen und Diskussionen gegeben hat,
auch nach dem Vermerk des Bundesamts für Strahlenschutz: Für uns - das ist die Haltung des Bundesumweltministers - hat die Rückholung der radioaktiven Abfälle
aus der Asse oberste Priorität. Wir haben uns dazu mehrfach positioniert. Ich sage das hier noch einmal klipp
und klar im Deutschen Bundestag.
({0})
Aber so einfach, wie sich das anhört, ist die Sache eben
nicht. Die Wege, wie wir das bewerkstelligen können,
müssen sehr sorgfältig ausgelotet werden. Ich glaube,
über eines sind wir uns hier auch einig, nämlich dass es
keinerlei Abstriche an den materiellen Anforderungen
des Strahlenschutzes und der Arbeitssicherheit geben
darf. Das haben alle Rednerinnen und Redner vor mir
deutlich gesagt.
Vorrangig geht es jetzt um drei Dinge. Es geht zum
Ersten darum, die Grube selbst zu sichern, damit wir
zum Zweiten die Faktenerhebung weiter durchführen
und sehen können, was sich tatsächlich hinter den Kammern - wir haben zwei Kammern ausgewählt - verbirgt,
und es geht zum Dritten darum, die Rückholung vorzubereiten. Dazu gehört - ich komme gleich darauf zu
sprechen -, beispielsweise den Schacht 5 zu bauen oder
ein Zwischenlager zu planen, was heute Nachmittag in
der Asse-Begleitgruppe besprochen wird. Erst dann kann
endgültig gesagt werden, wie wir das alles managen werden.
Die Stabilitätsprobleme des alten Grubengebäudes,
eingeschränkte Betriebsmöglichkeiten, die Vielzahl der
technischen Herausforderungen und die ständige Gefahr
- Frau Kotting-Uhl und Maria Flachsbarth hatten schon
darauf hingewiesen - eines unbeherrschbaren Laugenzutritts sind wesentliche Gründe für die aktuellen Verzögerungen, die wir zu benennen haben.
Im Augenblick ist es nicht so, dass uns die rechtliche
Situation behindert hätte. Wir haben in einem relativ zügigen Verfahren unter Beteiligung des Bundesamtes für
Strahlenschutz und des Landes Niedersachsen die Genehmigung für den ersten Schritt erreicht, die Faktenerhebung. Es sind aber Auflagen erteilt worden - die
eine oder andere ist schon aufgezählt worden -, die im
praktischen Prozess sehr schwer zu erfüllen sind. Weil
sie so schwer zu erfüllen sind, bedeutet das in der Tat,
dass wir für die weiteren Schritte der Faktenerhebung,
aber auch für die Rückholung darauf hinwirken müssen,
dass wir noch andere Instrumente, rechtliche Instrumente, an die Hand bekommen, mit denen wir diese Probleme lösen können.
Vielleicht ist es eine Lösung, die Rückholung nicht an
eine Planfeststellung zu binden. Einen solchen Passus
können wir in das Atomgesetz einfügen, um ein schnelleres Verfahren zu gewährleisten. Das ist ein Vorschlag,
den wir unterbreiten werden. Ich gebe dabei aber zwei
Dinge zu bedenken und komme damit zu einem Vorschlag, den die Grünen in ihrem Antrag formuliert haben. Es handelt sich um die Öffentlichkeitsbeteiligung.
Wir sind uns, glaube ich, alle darüber einig, dass wir
exzellente Erfahrungen mit der Asse-Begleitgruppe gemacht haben und dass wir die Öffentlichkeit auch weiter
so intensiv bei allen Schritten beteiligen wollen, wie wir
es bisher getan haben. Der zweite Punkt, der eine Rolle
spielt, ist - das habe ich vorhin schon gesagt -, dass es
nicht zu einer Absenkung der Standards kommen darf.
Das klingt ein bisschen, wenn ich es salopp ausdrücken
darf, wie die Quadratur des Kreises. Wir werden auch
noch sehr viel Arbeit darauf verwenden müssen, dies
rechtlich so zu fassen, dass alles abgewickelt werden
kann.
Wir wollen mit dem niedersächsischen Umweltministerium und mit dem Bundesamt für Strahlenschutz sowie
- das sage ich explizit - mit allen Fraktionen besprechen, wie wir das Problem rechtlich lösen können. Das
habe ich auch im Ausschuss angekündigt. Sie haben uns
in Ihren Anträgen schon Hinweise gegeben. Dabei
möchte ich Folgendes zu der Forderung zu bedenken geben, die in Ihrem Antrag, Frau Kotting-Uhl, steht, nämlich alle Arbeiten und Maßnahmen zur Rückholung
durch Gefahrenabwehr gemäß dem Atomrecht vorzunehmen: Das kann man machen; aber wir müssen natürlich sehen, dass dann ein Mitspieler außen vor wäre,
nämlich das niedersächsische Umweltministerium, das
wir hier gerne mit im Boot hätten, weil es als oberste
Aufsichtsbehörde über viel mehr praktische Expertise
verfügt als wir und eher sagen kann, ob der eingeschlagene Weg richtig ist oder nicht. Ein weiterer Punkt bei
der Gefahrenabwehr - das wissen wir alle; ich habe es
vorhin schon gesagt - ist die öffentliche Beteiligung.
Das alles kann man natürlich über ein Sondergesetz Asse
regeln, und das werden wir auch tun.
Darüber hinaus müssen wir die Planungen für die
Rückholung schnell vorantreiben; da haben Sie recht.
Wir stehen kurz vor dem ersten Schritt der Faktenerhebung, nämlich der Anbohrung der Kammern. Wir brauchen aber auch die Schritte zwei und drei. Das heißt, wir
müssen die Kammern öffnen und exemplarisch Abfall
herausholen, um festlegen zu können, mit welchem Verfahren wir die Rückholung bewerkstelligen. Das sind im
Übrigen Schritte, für die nach Aussage des Bundesamtes
für Strahlenschutz - das kann man hier offen sagen -,
das jetzige Rechtsregime nicht ausreicht. Wir brauchen
für diese beiden Schritte vermutlich eine entsprechende
Änderung der Gesetze, die wir jetzt erarbeiten werden.
So viel vielleicht noch kurz zur Technik: Die Rückholung der Abfälle unter alleiniger Nutzung der vorhandenen Bergwerksanlagen ist schlicht nicht möglich. Der
Schacht ist über 100 Jahre alt; wir benötigen einen neuen
Schacht. Diesen Schacht - das ist eine Überlegung könnten wir nach Bergrecht bauen; wir könnten damit
zumindest auf der Grundlage des Bergrechts beginnen.
Bis zur Rückholung dauert es ohnehin noch eine gewisse
Zeit. Ich glaube, das ist ein Vorschlag, Herr Dr. Birkner,
der aus Niedersachsen gekommen ist. Wenn wir uns darauf einigen können, dann glaube ich, dass wir einen
großen Schritt weiterkommen.
Als zuständiger Abgeordneter weiß Herr Gabriel,
dass die eigentliche Herausforderung noch vor ihm steht,
nämlich der Bau eines großen Zwischenlagers in der Region, das mehrere Fußballfelder groß sein wird. Wir
brauchen dort eine große Konditionierungsanlage, weil
wir unter Tage nicht in der Lage sind, den Abfall zu konditionieren; wir wissen auch nicht, in welchem Zustand
er ist und ob er überhaupt noch in den Fässern ist. Wir
sind zurzeit dabei, dieses Zwischenlager zu planen.
Wenn ich richtig informiert bin, werden heute Nachmittag die ersten Vorstellungen veröffentlicht und in der
Asse-Begleitgruppe diskutiert.
Darüber hinaus benötigen wir - auch das dürfen wir
nicht unterschätzen - Stabilisierungsmaßnahmen. Wir
können keinen Mitarbeiter hinunterschicken, um Abfälle
herauszuholen, ohne Stabilisierungsmaßnahmen, Vorsorgemaßnahmen und Notfallmaßnahmen getroffen zu
haben. Ich bitte alle darum, für diese Maßnahmen zu
werben, um eine gute und sichere Rückholung vorzubereiten.
In diesem Sinne lade ich Sie zu weiteren Diskussionen ein. In der nächsten Sitzungswoche werden wir die
Gesetzesvorschläge mit Ihnen besprechen. Heute Nachmittag werden wir in der Begleitgruppe Asse über Gesetzesvorschläge diskutieren. Ich hoffe, dass wir die Asse
nicht zum Gegenstand einer parteipolitischen Auseinandersetzung machen, sondern alle gemeinsam daran arbeiten, dieses Problem, das wir sonst nirgendwo in
Deutschland haben, zu lösen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Sigmar Gabriel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Heinen-Esser, machen Sie sich keine Sorgen,
was meine Fähigkeiten angeht, solche Zwischenlager zu
genehmigen. Ich habe das bislang einzige Endlager in
Deutschland im eigenen Wahlkreis genehmigt. Eine Herausforderung wird es übrigens sein, den Menschen zu
erklären, dass nach der Zwischenlagerung die Wahrscheinlichkeit relativ hoch ist, dass schwach- und mittelradioaktiver Abfall in Richtung Konrad transportiert
wird. Ich sage das seit Monaten, auch im Wahlkampf.
Machen Sie sich also um meine Fähigkeiten keine Sorgen.
Ich habe mir bis zur heutigen Debatte zugegebenermaßen eher ein bisschen Sorgen darüber gemacht, ob eigentlich die notwendige politische Führung für die Bewältigung des Problems vorhanden ist. Ich glaube aber,
dass die Debatte der letzten Wochen und auch die heutige Debatte optimistisch stimmen können; denn das,
was wir in den letzten zwei Jahren erleben mussten,
scheint sich jetzt ein bisschen aufzulösen. Herr Birkner,
zwei Jahre lang geschah in Niedersachsen das Gegenteil
dessen, was Sie jetzt tun. Zwei Jahre lang hat Ihr Amtsvorgänger alles getan, um die Rückholung zu verhindern. Er hat auch öffentlich erklärt, dass er die Rückholung für falsch hält. So hat er sich auch verhalten.
Entsprechend sind die Genehmigungsverfahren in Niedersachsen betrieben worden. Ich bin froh darüber, dass
Sie direkt nach Ihrem Amtsantritt eine 180-Grad-Wende
vollzogen haben. Das war auch dringend erforderlich.
Aber zwei Jahre lang ist Niedersachsen der große Bremser bei der Rückholung gewesen.
({0})
Mein Eindruck ist, dass der öffentliche Druck in den
letzten Wochen dazu geführt hat, dass auch im Hause
von Herrn Röttgen klar ist, dass nicht Herr Hennenhöfer
die Politik bestimmt.
({1})
Die vorletzte Umweltausschusssitzung verlief nicht ganz
so freundlich; ich glaube, Frau Flachsbarth hat das so
ausgedrückt. Es ist natürlich auch klar, dass sich jemand,
der in seiner ganzen beruflichen Existenz damit zu tun
hatte, das Abkippen von Atommüll in der Asse zu rechtfertigen, schwer damit tut, am Ende dafür zu sorgen,
dass das Zeug wieder rausgeholt wird - obwohl das, ehrlich gesagt, eine gelungene Form des Täter-Opfer-Ausgleichs ist.
({2})
Dass Sie jetzt tun, was in der Region seit über einem
Jahr gefordert wird, begrüße ich ausdrücklich. Seit über
einem Jahr sagen wir in der Region: Sie müssen eine
Taskforce einsetzen, mindestens auf Staatssekretärebene, wenn nötig auf Ministerebene. Das ist jetzt endlich passiert. Sie nennen das Lenkungsgruppe; es ist
egal, wie man das nennt.
Bei der Asse passiert nämlich Folgendes - und das ist
ganz menschlich -: Keine der Lösungen, die wir debattieren - da hat Frau Heinen-Esser völlig recht -, ist risikolos. Nichts, was wir da in Gang setzen, beinhaltet kein
Risiko. Daher besteht natürlich die Gefahr, dass, wenn
die Öffentlichkeit einmal nicht so genau hinschaut, die
Beteiligten versuchen, die Risiken hin- und herzuschieben. Genau das ist in den letzten zwei Jahren passiert.
Die Menschen in der Region sind entsetzt und zornig,
nicht nur über das, was die Atomwirtschaft dort gemacht
hat, sondern auch über das Zuschauen des Staates; denn
er hat 40 Jahre lang nichts gemacht. Das hat dazu geführt, dass die Menschen dieser Region in dieser Frage
sehr geringes Vertrauen in staatliches Handeln haben. In
den letzten Jahren der Großen Koalition haben wir viel
dafür getan, wieder Vertrauen aufzubauen, indem wir die
Asse dem Atomrecht unterworfen haben, indem das
Schutzniveau an den Strahlenschutz im Atomrecht angepasst wurde, indem Transparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung hergestellt wurden. Dann ist das Engagement
zwei Jahre lang abgesackt, ausdrücklich nicht wegen
mangelnden Engagements von Ihnen, Frau HeinenEsser. Es ist in der Region bekannt, dass Sie sich kümmern. Aber bei den zu lösenden Problemen hat immer
einer auf den anderen gezeigt: der Bund und das BfS auf
das Land Niedersachsen und Niedersachsen auf das BfS.
So ging das hin und her.
Ich muss Ihnen offen sagen: Wenn Sie Jurist sind,
könnte es sein, dass Sie eine Begründung dafür finden,
warum es innerhalb von zwei Jahren nicht möglich war,
20 oder 30 Container mit kontaminierter Lauge aus der
Asse zu holen. Das kann nur ein Jurist erklären.
({3})
Jeder mit normalem Menschenverstand sagt: Wenn Ihr
vorhabt, 126 000 Fässer radioaktiven Müll aus dem
Bergwerk zu holen, und noch nicht einmal in der Lage
seid, ein paar Container kontaminiertes Laugenwasser
herauszubringen, dann hört doch mit dieser öffentlichen
Debatte über den radioaktiven Müll auf. Dieser Eindruck
ist dort entstanden.
Dieses Schwarze-Peter-Spiel kann man nur durch
eine einzige Maßnahme beenden: indem man politische
Verantwortung für Entscheidungen übernimmt, weil die
Beamtinnen und Beamten das von sich heraus nur begrenzt tun werden. Sie brauchen eine politische Führung.
Deswegen ist dieser Lenkungsausschuss bzw. diese
Taskforce genau das Richtige. Dort muss entschieden
werden, und im Zweifel muss abgestuft entschieden
werden. Deswegen schlage ich vor: Lassen Sie uns doch
nicht über die Frage reden, was wir brauchen, eine Lex
Asse oder ein Gefahrenabwehrrecht, oder darüber, dass
alles so bleiben soll! Wir sollten uns vielmehr mit der
Frage befassen, welches Problem mit welchem Instrument am besten behoben werden kann.
({4})
Wenn Sie dem zustimmen, Frau Heinen-Esser, dann
muss ich Ihnen allerdings Folgendes sagen: Das Bundesamt für Strahlenschutz hat Ihnen am 4. August 2010
empfohlen, bei der Faktenerhebung, die Herr Birkner
eingeführt hat, nach dem Gefahrenabwehrrecht vorzugehen, damit Sie die Maßnahmen durchführen können und
alle Auflagen erst im Anschluss erfüllen müssen. Das
haben Sie mit Erlass des Bundesumweltministeriums
von Anfang Oktober 2010 abgelehnt. Jetzt hat Ihr beamteter Staatssekretär nachgefragt, ob das Bundesamt für
Strahlenschutz immer noch der gleichen Meinung sei.
Überraschenderweise ist das der Fall. Das Bundesamt
hat Ihnen vorgeschlagen, Ihre Ablehnung der Anwendung des Gefahrenabwehrrechts aus dem Jahr 2010 im
Bundesumweltministerium neu zu bewerten. Meine
herzliche Bitte ist: Tun Sie das!
({5})
Hier wird der Eindruck erweckt, die Faktenerhebung
sei in vollem Gange. Nein, meine Damen und Herren,
die Faktenerhebung ist nicht in vollem Gange, weil die
Kammern nicht angebohrt werden können. Selbst wenn
wir jetzt alles hinbekommen, wird es vermutlich noch
ein halbes Jahr dauern, bis es losgehen kann. Lassen Sie
uns deshalb lieber nicht zu viele Versprechungen machen.
Die Haltung, die Sie damals eingenommen haben,
entspringt auch der Angst. Das verstehe ich. Ich habe
den Akten des BMU entnehmen können, dass das eine
gepflegte Übung des Hauses war, nach dem Motto: Lasst
uns jetzt kein Risiko eingehen; wenn wir das Gefahrenabwehrrecht anwenden und dann etwas passiert, bin ich
als Minister oder bist du als Staatssekretärin dran. - Das
ist doch die Sorge, die dort existiert. Das Problem Asse
wird aber ohne die Übernahme einer solchen Verantwortung nicht zu klären sein. Wir werden nicht jedes Risiko
ausschalten können, bevor wir loslegen. Dann ist der
Berg in der Tat irgendwann instabil, und wir können die
126 Fässer nicht mehr herausholen. Darauf hat Herr
Sander immer gesetzt. Er hat darauf gesetzt, dass die
Lage irgendwann so instabil ist, dass wir die Abfälle
nicht mehr herausholen können. Das wäre dann billiger,
allerdings auch deutlich gefährlicher.
Ich glaube, dass es jetzt darum gehen muss, zu klären,
erstens welche Maßnahmen nach dem Gefahrenabwehrrecht des Atomgesetzes möglich sind und zweitens welche Maßnahmen mit anderen Rechtsformen vorzuschalten sind, die man in das Atomrecht überführen muss,
wenn es zur Rückholung kommt. Wenn der fünfte
Schacht abgeteuft und der Atommüll herausgeholt werden soll, dann werden Sie es überführen müssen.
({6})
Drittens ist es notwendig - wir sind sofort bereit, darüber zu reden; wir haben selbst einen Vorschlag eingebracht -, § 57 b des Atomgesetzes zu ändern, um zu einer klareren und schnelleren Vollzugsmaßnahme zu
kommen. Wir sind sofort dafür, eine solche Lex Asse zu
machen. Wenn Sie unseren Gesetzesvorschlag nicht ausreichend finden, ist das kein Problem. Legen Sie selber
einen vor; dann beraten wir darüber. Bei der Frage der
Formulierung geht es nicht um Parteipolitik, sondern sozusagen um juristische Sicherheit. Übrigens wird die
Asse-Begleitgruppe vor Ort selbst einen Gesetzentwurf
formulieren. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, sich gründlich damit zu befassen. Wenn er vor Ort klug erarbeitet
worden ist, dann kann man ihn auch übernehmen.
Der Kollege Röttgen ist zwar anwesend, hat aber bislang offensichtlich nicht die Absicht, zu reden. Ich halte
das, ehrlich gesagt, für einen einmaligen Vorgang, dass
der zuständige Minister zu dem Problem nichts sagt.
({7})
Wenn er hier sitzt, um etwas zu lernen, dann ist das aber
auch okay.
Es war schwierig für mich. Ich habe mich zwei Jahre
lang gar nicht zu diesem Thema geäußert, weil man als
ehemaliger zuständiger Minister nach dem Komment
des Hauses üblicherweise nicht feststellt, dass der Nachfolger alles schlechter macht. Ich habe zwei Jahre nichts
dazu gesagt. Aber jetzt möchte ich auf etwas hinweisen,
das Sie nachdenklich machen sollte. Sie waren noch nie
in der Asse, haben nur ein einziges Mal die Asse-Begleitgruppe für eine Stunde besucht und haben sich nie
der Öffentlichkeit gestellt. Die Menschen wollen, dass
man vor Ort ist und ihnen Rede und Antwort steht. Sie
hören seit Jahren solche Sprüche wie „volle Transparenz“ und „Wir ziehen alle an einem Strang“, erleben
aber seit zwei Jahren das Gegenteil. Deswegen kommt
es zu Aussagen wie der des Bürgermeisters der Stadt
Wolfenbüttel, Thomas Pink, dass das Ganze, was er dort
erlebt habe, eine Riesensauerei sei. Das Verhalten des
Bundesumweltministers sei - so Herr Pink - „unwürdig“
und dessen abwartende Haltung „völlig inakzeptabel“.
Herr Pink gehört bekanntermaßen nicht der SPD, sondern der CDU an. Herr Röttgen, ich sage Ihnen: Gar
keine Frage, das ist ein schwieriges Thema. Das ist aber
das größte nukleare Problem, das wir in diesem Land
und vermutlich weit über Deutschland hinaus haben. Als
zuständiger Minister müssen Sie Führung zeigen und
Verantwortung übernehmen. Das kann niemand anders.
Im Zweifel ist man Minister, um existierende Risiken
einzugehen. Sonst geht die Glaubwürdigkeit vor Ort verloren, die wir in den letzten Jahren erarbeitet haben.
Mein Eindruck ist, dass wir in der heutigen Debatte
ein gutes Stück vorangekommen sind. Herr Röttgen, ich
habe die dringende Bitte, dass Sie sich als Person dieser
Aufgabe annehmen.
({8})
Die Kollegin Angelika Brunkhorst hat nun für die
FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie ist eigentlich die Gefühlslage? Wir sprechen über
normalen Menschenverstand und viel über das, was wir
wissen und nicht wissen. Wie aber ist die Gefühlslage?
Ich denke, alle Beteiligten, die an einer Lösung zur Bergung der Abfälle aus der Asse arbeiten, befinden sich in
einem Fadenkreuz aus Hoffen und Bangen und in einem
Wettlauf mit der Zeit.
Wir haben gerade gehört, dass sich alle Experten inzwischen darin einig sind, dass die Rückholung deutlich
länger dauern wird, als bisher angenommen wurde.
Ebenso ist klar festzustellen: Die Bergung kann nur über
eine neu zu bauende Schachtanlage geschehen. In Bezug
auf diesen neuen Schacht sage ich als Sprecherin für Naturschutz: Hier hat der Mensch Vorrang, hier hat die Bevölkerung vor Ort Vorrang. Wenn die Rückholung durch
ein FFH-Gebiet gehen muss, weil es nicht anders geht,
dann muss das Naturschutzrecht in diesem Fall einmal
zurückstehen. Das ist dann so.
({0})
Wir brauchen dringend Möglichkeiten der Beschleunigung; alle Vorredner haben darauf hingewiesen. Es ist
zu überprüfen und sehr schnell zu entscheiden, ob dies
zum Beispiel durch die Konkretisierung bei Vergabeverfahren, durch eine parallele Bewerkstelligung von Aufgaben, wie es teilweise schon geschieht, oder - wie vom
niedersächsischen Umweltminister, Herrn Dr. Birkner,
vorgeschlagen - durch ein Asse-Gesetz geschehen soll.
Herr Dr. Birkner, an dieser Stelle sage ich: Vielen Dank,
dass Sie heute bei uns sind und zu uns gesprochen haben.
({1})
In diesem Arbeitsprozess der Faktenerhebung generieren die Experten ständig neues Wissen. Gute, aber
auch problematische Erkenntnisse kommen zutage, mit
denen sich die Politik, die Begleitgruppe, das niedersächsische Bergamt, das BfS und die Asse GmbH konfrontiert sehen. Sie müssen sich damit auseinandersetzen, neue Ideen entwickeln und einen konstruktiven
Dialog führen, den wir vonseiten der FDP-Fraktion unterstützen.
Herr Gabriel, Sie kennen wahrscheinlich die Akteure
vor Ort aus Ihrem Wahlkreis. Der niedersächsische FDPLandtagsabgeordnete Björn Försterling setzt sich sehr
stark für diese Sache ein. Er ist auch Mitglied der Begleitgruppe. Diesen Beitrag von uns Liberalen möchte
ich als positiven Aspekt diesem Plenum zur Kenntnis geben.
({2})
Ich denke, wir alle sind uns einig in dem Wunsch
nach Beschleunigung. Es gibt aber auch konkurrierende
Ziele. Eine Beschleunigung darf nicht zulasten der Sicherheit gehen. Die Sicherheit der Bevölkerung in der
Region und der Mitarbeiter in der Asse wird nach wie
vor oberste Priorität haben.
Es gibt eine Reihe neuer Erkenntnisse. Eine gute
Nachricht ist, dass das Grubengebäude nicht durch einen
spontanen Einsturz gefährdet ist. Machen wir uns aber
nichts vor: Das Bergwerk Asse ist 100 Jahre alt. Es ist
weiterhin in Bewegung. Durch den Gebirgsdruck könnten neue Risse und somit neue Wasserwegsamkeiten entstehen. Beim Punkt Lösungszutritte bzw. der Wasserzuläufe wissen wir bis heute fast nichts über deren genauen
Ursprung. Bisher wissen wir nur, dass die Lösungszutritte
- zum Glück - zuhauf nur oberhalb der Einlagerungskammern und nicht in Masse auf der Höhe der eigentlichen Einlagerungssohle, der 750er-Sohle, vorkommen.
Unsere größte Sorge gilt einem spontanen Wassereinbruch. Wir hoffen, dass das nicht eintritt; denn das machte
unser Konzept zur Bergung zunichte. Das wäre auch fatal
für die Bevölkerung vor Ort; denn die Bevölkerung vor
Ort weiß - das ist auch klar -, dass nur die Option der
Rückholung Langzeitsicherheit für die kommenden Generationen in dieser Region gewährleistet.
Jetzt komme ich noch zu den Anträgen. Die SPD will
das Atomgesetz ändern. Ich habe aus Herrn Gabriels
Ausführungen schon eine etwas andere Richtung herausgehört.
({3})
Für den Fall, dass die Genehmigung für Stilllegungsmaßnahmen nicht rechtzeitig erfolgen kann, wollen Sie,
dass das NMU die Maßnahmen sozusagen selbst anordnen kann. Ich glaube, das ist ein Misstrauensvotum in
Richtung BfS.
({4})
- Doch, ich habe es gelesen.
({5})
Das BfS ist dabei, alles zu tun, die Auflagen abzuarbeiten. Es ist auch die Aufgabe des BfS - das BfS hat im
Ausschuss berichtet -, einen konkreten Plan für die
Rückholung vorzulegen.
Für meine Fraktion sichere ich Ihnen zu, dass wir
weiter den intensiven Dialog mit der Bevölkerung vor
Ort führen werden. Sachverstand, Technik, kluge Entscheidungen und letztlich auch Glück werden hoffentlich zu einem guten Ende führen. Wir sind trotz der
schwierigen Lage ganz hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass uns das am Ende gelingen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Seit 1965 ist die Asse Versuchsbergwerk.
Vor 45 Jahren wurde der erste Atommüll eingelagert,
und seitdem leben die Menschen an der Asse mit der
Angst vor dem strahlenden Müll. Bis 2009 wurden die
Probleme und Gefahren der Asse vertuscht und geleugnet. Mit dem Betreiberwechsel 2009 wurde das Ausmaß
des verantwortungslosen Vorgehens in der Asse offen
sichtbar. Seitdem wird versucht, eine Umweltkatastrophe zu verhindern.
Trotz der Erfolge bei der Stabilisierung des Bergwerks
- nur die Rückholung des Atommülls bannt die Gefahr.
Aber es geht einfach nicht vorwärts in der Asse. Deshalb
debattieren wir heute. Deshalb fand ein Zusammentreffen zur Asse-Situation letzten Monat in Braunschweig
statt. Erstmals trafen Geologen, Strahlenforscher, Beamte aus verschiedenen Behörden und Ministerien sowie
Mitglieder von Bürgerinitiativen zusammen - mit ernüchterndem Ergebnis: Wenn man so weitermacht wie
seit 2009, sind Tests und Vorbereitungen zur Rückholung
des Atommülls frühestens 2025 abgeschlossen, die komplette Rückholung gar erst im Jahr 2040. Gleichzeitig
wurde klar herausgestellt, dass es im Bergwerk jederzeit
einen Wassereinbruch geben kann. Dann ist eine Rückholung des Atommülls unmöglich, und dann kann man
eine zukünftige Verstrahlung des Grundwassers der
Braunschweiger Region nur noch verzögern, vielleicht
abschwächen. Massiv wird deshalb derzeit an der Schadensbegrenzung für den Fall des Wassereinbruchs gearbeitet. Das ist richtig. Aber die Linke will, dass die Rückholung mit dem gleichen Aufwand vorangetrieben wird.
Der Müll muss raus aus der Asse!
({0})
Konkret heißt das: Erstens. Bundestag und Landtag
Niedersachsen beschließen: Der Atommüll muss raus
aus der Asse - ohne Kompromisse.
({1})
Der Bundesumweltminister bekennt sich nach dem Landesminister zu diesem Ziel, und zwar hier am Rednerpult.
({2})
Zweitens. Wenn man weiß, wie es in zwei Kammern
aussieht, weiß man immer noch nicht, wie es in den anderen elf aussieht. Aber nach zwei Jahren gibt es noch
nicht einmal Erkenntnisse zur ersten Kammer. Deshalb
muss man vom schlimmsten anzunehmenden Fall in den
Kammern ausgehen. Man muss diesen Fall zur Grundlage der Entwicklung von Technik zur Bergung nehmen.
({3})
Drittens. Weder die derzeitige Luftzufuhr noch die
Transportmöglichkeiten reichen für eine zügige Bergung
des Atommülls aus. Es muss deshalb sofort mit dem Planen und anschließenden Bau eines neuen Schachtes, der
diese Probleme löst, begonnen werden.
Viertens. Für den Atommüll wird ein Zwischenlager
in Asse-Nähe benötigt. Um späteren Zeitverzug zu vermeiden, müssen die Suche und Vorbereitung bereits jetzt
starten.
Fünftens. Behälter oder Verpackungssysteme, die das
vermutlich undefinierte Gemisch aus verstrahltem Salz,
kontaminierter Salzlauge, alten Behälterresten und dem
eigentlichen Atommüll sicher aufnehmen, müssen sofort
entwickelt bzw. beschafft werden.
({4})
Sechstens. Fülltechnik für das unterirdische Einfüllen
der verstrahlten Masse in die Behälter muss passend zum
Verpackungssystem und zu den Behältern entwickelt
werden. Damit muss jetzt begonnen werden, parallel zu
allen anderen Aufgaben.
({5})
Siebtens. Es darf keine Aushöhlung von Sicherheitsstandards geben. Aber bei der Beschaffung und der
Auftragsvergabe müssen die Kriterien lauten: beste technische Lösung von einem zuverlässigen Partner in kürzester Zeit. Der Kaufpreis und die Ausschreibungsprozeduren sind zweitrangig.
({6})
Bei allen Punkten fordert die Linke, das Fachwissen
der Bürgerinitiativen in die Entscheidungen einzubeziehen und maximale Transparenz herzustellen.
({7})
Das kostet Geld. Aber wenn man bedenkt, dass für die
Sanierung des Uranbergbaus in Sachsen und Thüringen
mehr als 7 Milliarden Euro notwendig waren, dann kann
man auch abschätzen, dass eine Verseuchung des Grundwassers um Braunschweig ein Vielfaches an Geld verschlingen würde.
({8})
86 Prozent des Atommülls der Asse stammen direkt oder
indirekt aus Atomkraftwerken. Deshalb fordert die
Linke, dass die Atomkonzerne mindestens 86 Prozent aller entstehenden Kosten tragen müssen.
({9})
Kolleginnen und Kollegen, scheitert die Rückholung
des Atommülls aus der Asse, dann haben wir nicht nur
ein Problem um Braunschweig; dann wird die Suche
nach sicheren Atommülllagern in der Bundesrepublik
unendlich erschwert.
Der Worte sind genug gewechselt. Fangen wir an, das
Asse-Problem zu lösen! Wir stehen als Bundestag in der
Pflicht.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dorothea Steiner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich, dass alle Fraktionen hier die Rückholung des
radioaktiven Inventars aus der Asse unterstützen. Ich
möchte aber unterstreichen, dass wir nicht an diesem
Punkt angelangt wären, wenn nicht Bürgerinnen und
Bürger in Remlingen im Landkreis Wolfenbüttel und
rund um die Region jahrzehntelang den Skandal in die
Öffentlichkeit gebracht und die Politik unter Druck gesetzt hätten.
({0})
Die Elemente dieses Skandals sind lange Zeit geleugnet worden. Denken Sie einmal zurück: Wie lange hat es
gedauert, bis die massiven Laugenzuflüsse öffentlich
diskutiert werden konnten, obwohl es sie schon seit 1988
in großem Umfang gab? Noch 2007/2008 sollte die Lösung der Probleme sein, die Schachtanlage zu verfüllen,
die Sünden der Vergangenheit in Magnesiumchlorid zu
ertränken und die Asse abzuschließen. Es bedurfte eines
parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Niedersachsen und hartnäckiger, langandauernder Bürgerproteste, um die Bereitschaft zur Rückholung des radioaktiven Inventars zu erhöhen. Deshalb zollen wir dem
Bundesumweltministerium Anerkennung für seine Entscheidung und sein Engagement. Aber ich glaube, das
geht nicht so sehr an die Adresse des Umweltministers,
sondern eher an die Adresse der Staatssekretärin.
Diejenigen, die die strahlenschutzrechtlichen Missstände zu verantworten haben, sitzen nach wie vor in
entscheidenden Positionen und können sich als Bremser
betätigen. Herr Birkner, es war das niedersächsische
Umweltministerium unter Ihrem Vorgänger, dem „Kettensägenminister“, das im Verbund mit dem TÜV ein
komplexes System von Auflagen ersonnen hat - 38 an
der Zahl mit 1 000 Seiten Erfüllungsbedingungen -, deren teilweise Erfüllung allein schon dazu führen musste,
dass nach fast zwei Jahren noch nicht einmal eine
Kammer angebohrt werden konnte, um bei der Faktenerhebung weiterzukommen. Von der Rolle des Landesbergamtes in dieser Auseinandersetzung brauchen wir
hier gar nicht zu reden.
({1})
Also Respekt, Herr Birkner, dass Sie die Position fundiert und kompetent geändert haben. Aber ein Birkner
macht noch keinen Sommer.
({2})
Die Zustimmung hier im Parlament sollte BMU und
den Betreiber BfS ermutigen, die Faktenerhebung zu beschleunigen und die vorbereitenden Maßnahmen zur
Rückholung unwiderruflich einzuleiten. Wir sollten
nicht auf eine Lex Asse warten, die wir brauchen und
auch nutzen müssen, sondern bereits jetzt im Rahmen
der Gefahrenabwehr auch außerhalb des § 19 des Atomgesetzes eine Beschleunigung der Maßnahmen erreichen. Das geht sehr wohl, obwohl Frau Flachsbarth und
Herr Birkner das Gegenteil ausgeführt haben. Das ist
auch notwendig, damit wir jetzt weiterkommen, die beiden Kammern bis zum Sommer angebohrt werden können und die Glaubwürdigkeit des ganzen Vorhabens erhalten bleibt.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Dr. Michael Paul spricht nun für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man die Rednerinnen und Redner der Opposition hört,
glaubt man, der Blick gehe zurück. Notwendig ist aber,
dass wir nach vorne blicken. Deshalb sage ich direkt zu
Beginn meiner Rede: Bei allem, was das Problem Asse
angeht, gilt: Die Sicherheit der Bevölkerung und der dort
Tätigen hat für uns oberste Priorität.
({0})
Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen und mich zu
Beginn meiner Ausführungen bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern vor Ort und bei denen, die in den zuständigen Behörden täglich mit großem Engagement an
der sicheren Stilllegung der Asse arbeiten, bedanken.
Weil die Sicherheit vorgeht, ist es Ziel, die radioaktiven Abfälle aus dem Bergwerk zurückzuholen. Denn die
Rückholung - das hat der sogenannten Optionenvergleich des BfS aus dem Jahr 2009 gezeigt - ist die
sicherheitstechnisch vorteilhafteste Lösung, was die
Langzeitsicherheit angeht. Dieser Weg nach vorne in
Richtung Rückholung stellt uns aber vor große Herausforderungen. Das hat auch der vor wenigen Wochen in
Braunschweig durchgeführte Fachworkshop des BfS
klargemacht. Zwar kann nach derzeitigen Erkenntnissen
davon ausgegangen werden, dass es nicht zu einem
plötzlichen Zusammenbrechen der Grube kommt. Aber
ein unkontrolliertes Eindringen von Salzwasser, also von
Laugen, ist in dem alten Salzbergwerk jederzeit möglich.
Deswegen steht an erster Stelle - das möchte ich hier betonen -, vorsorglich Notfallmaßnahmen vorzubereiten,
damit auch in einem solchen Fall die Beschäftigten vor
Ort und die Bevölkerung geschützt werden. Die unbequeme Wahrheit an dieser Stelle ist: Die Verfüllung von
Resthohlräumen in den Einlagerungskammern ist eine
solche Notfall- und Vorsorgemaßnahme. Aber durch
eine solche Verfüllung - das sagt die Entsorgungskommission, die sicherlich unverdächtig ist, ein bestimmtes
Ziel zu verfolgen - kann die mögliche Strahlenbelastung
der Bevölkerung auf ein Zehntel verringert werden. Im
Übrigen ist das keine Abkehr vom Ziel der Rückholung;
denn die Abfälle können auch danach geborgen werden.
Zur Rückholung sind drei große Schritte notwendig.
Erstens müssen die Abfälle aus den Einlagerungskammern geborgen werden. Zweitens müssen sie aus dem
Bergwerk an die Tagesoberfläche gebracht werden. Drittens müssen sie in lagerfähige Behälter verpackt und
zwischengelagert werden. Aber keiner dieser drei
Schritte - darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen - ist unproblematisch.
Für die Beförderung der Abfälle an die Tagesoberfläche ist ein weiterer Schacht erforderlich. Nach Aussage
des Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz
- auch er ist, denke ich, unverdächtig in dieser Debatte,
wie die gestrige Sitzung des Umweltausschusses gezeigt
hat ({1})
kann wegen der komplizierten Geologie der neue
Schacht wahrscheinlich nur in einem Gefrierbohrverfahren errichtet werden. Was das heißt, haben wir in Gorleben gesehen. Da hat die Errichtung ungefähr zehn Jahre
gedauert.
Auch das eigentliche Zurückholen dauert wesentlich
länger, als man es sich wohl vor zwei Jahren vorgestellt
hat. Beim Workshop des BfS wurde eine Dauer von bis
zu 50 Jahren genannt. Grund dafür ist, dass es sich um
ein enormes Volumen handelt. Denn die Abfälle sind
wahrscheinlich in Salz eingewachsen; lagerfähige Behälter gibt es dort nicht. Das Volumen beträgt mindestens 100 000 Kubikmeter. Schätzungen von Gutachtern
des BfS gehen sogar von bis zu 275 000 Kubikmetern
aus. Das entspricht ziemlich genau dem Volumen aller
Abfälle, die beim Rückbau der deutschen Kernkraftwerke zusammenkommen. Wegen dieses riesigen Volumens wird man auch obertage große Einrichtungen für
Behandlung und Zwischenlagerung brauchen. Hier gehen die Gutachten von einer Größenordnung von bis zu
25 Hektar aus.
Im Übrigen - auch das müssen wir ganz klar sagen ist es für die örtliche Bevölkerung auf Dauer sicherlich
unzumutbar, neben einem Zwischenlager für radioaktive
Abfälle zu wohnen. Deshalb hat die Endlagerung der radioaktiven Abfälle Priorität.
Es wurde heute schon angesprochen: Das genehmigte
Endlager für leicht- und mittelradioaktive Abfälle,
Schacht Konrad, hat eine genehmigte Abfallmenge von
303 000 Kubikmetern. Davon werden 280 000 Kubikmeter für den Abfall aus dem Rückbau der Kernkraftwerke gebraucht. Sie sehen also: Die Herausforderungen
sind sehr groß. Sie müssen sehr schnell angegangen werden. Denkverbote darf es dabei nicht geben.
Realitäten müssen wahrgenommen werden. Das ÖkoInstitut - sicherlich unverdächtig, Dinge zu verharmlosen - prognostiziert, dass die Strahlenbelastung der Arbeiter während der Rückholung 50- bis 1 000-mal höher
sein wird als die maximal denkbare Strahlenbelastung
künftiger Generationen. Das gilt selbst für den
schlimmsten Fall, dass die Asse unkontrolliert „absäuft“.
Solche Fakten darf man nicht ignorieren, sondern man
muss sie eingehend prüfen.
({2})
Für eine abschließende Bewertung ist es sicherlich zu
früh. Da gebe ich Ihnen recht, Frau Steiner. Dazu müssen wir insbesondere die Faktenerhebung abwarten. Das
BfS hat für den Fall, dass es bei der Bergung zu unvertretbaren Strahlenbelastungen der Beschäftigten kommt,
als Konsequenz gefordert, die Präferenz für die Rückholung neu zu bewerten. Das ist nachzulesen in der Pressemitteilung des BfS zum Optionenvergleich vom 15. Januar 2010.
Bevor ich nun auf die Anträge von SPD und Grünen
im Einzelnen zu sprechen komme, gestatten Sie mir,
dass ich auf einen bemerkenswerten Umstand im Zusammenhang mit dem Vorschlag der SPD, das Atomgesetz zu ändern, hinweise. Beim Workshop des BfS haben
Vertreter einer Anwaltskanzlei im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz einen Vorschlag zur Änderung
des Atomgesetzes vorgelegt, einen Vorschlag, der letztlich auf Kosten des Steuerzahlers erarbeitet wurde. Das
findet sich auch in den Unterlagen des Fachworkshops.
Diesen Vorschlag wiederum findet man nun wortwörtlich im Antragstext der SPD wieder. Das lässt nur zwei
Schlüsse zu: Entweder haben Sie mit Zustimmung der
Autoren abgeschrieben ({3})
dann haben Sie ein vom Geld der Steuerzahler finanziertes Gutachten des Bundesamtes für Strahlenschutz zu
Fraktionszwecken verwandt -,
({4})
oder Sie haben ohne Einverständnis der Autoren abgeschrieben; dann handelt es sich hier schlicht und ergreifend um ein Plagiat.
({5})
So oder so, abgeschrieben haben Sie auf jeden Fall. Das
spricht nicht für Ihre juristische Kreativität.
Auch die Rolle der Anwaltskanzlei sollten wir noch
einmal hinterfragen.
({6})
Deren namensgebender Partner war übrigens Staatssekretär im ersten rot-grünen Berliner Senat. Diese
Kanzlei berät und vertritt auf der einen Seite den Bund
und das Bundesamt für Strahlenschutz in zahlreichen
atomrechtlichen Verfahren.
({7})
- Ich weiß gar nicht, worüber Sie sich aufregen. Das
scheint ja wirklich wehgetan zu haben.
({8})
Gleichzeitig vertritt sie SPD-regierte Länder gegen den
Bund bei Verfassungsklagen gegen die Laufzeitverlängerung.
({9})
Schließlich, wie man heute sieht, schreibt sie womöglich
auch Antragstexte für die SPD-Bundestagsfraktion. Das
ist aus meiner Sicht eine sehr eigenwillige Interpretation
anwaltlicher Unabhängigkeit.
Herr Kollege Paul, gestatten Sie eine Zwischenfrage
oder Zwischenbemerkung des Kollegen Gabriel?
Ich glaube, er wird uns heute auch nicht weiterbringen.
({0})
Nein, ich möchte weiter ausführen.
({1})
Zum Schluss möchte ich auf die Anträge von Grünen
und von SPD ganz konkret eingehen.
({2})
Ein Sondergesetz, eine Lex Asse - das hat die Entsorgungskommission am 2. Februar eindeutig gesagt -,
bringt uns nicht weiter; denn es handelt sich im Kern darum, wie das kerntechnische Regelwerk ausgelegt werden soll.
Herr Kollege Paul, da Sie die Hilfe des Kollegen
Gabriel zur Verlängerung Ihrer Redezeit nicht angenommen haben, muss ich Sie darauf aufmerksam machen,
dass Sie jetzt einen Punkt setzen müssen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich will zum Schluss
sagen: Eine Absenkung des Schutzniveaus, die offensichtlich Bestandteil mancher Beschleunigungsvorschläge ist, wird es mit uns jedenfalls nicht geben.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in dieser Debatte einen gemeinsamen Erfolg zu feiern. Das ist die Tatsache, dass in diesem Haus von keiner Fraktion und keinem Ministerium
mehr angezweifelt wird, dass es oberste Priorität hat, den
Atommüll aus der Asse zu bergen. Das war vor wenigen
Wochen noch nicht selbstverständlich. Das ist ein Erfolg. Ich bedauere, Herr Dr. Paul, dass Sie wieder in einer kleinkrämerischen Art und Weise versuchen, die Behandlung dieses Themas - eigentlich beschreiten wir
gerade gemeinsam einen guten Weg - zu einem parteipolitischen Hickhack werden zu lassen.
({0})
- Das mag ein Charakterproblem sein. Ich greife diesen
Zwischenruf gerne auf.
Ich denke, es ist gelungen, Bewegung in die Sache zu
bringen - Frau Kollegin Steiner hat es gesagt -, nicht zuletzt wegen der Bürgerinnen und Bürger vor Ort, die an
diesem Thema beharrlichst drangeblieben sind. Aber
auch viele Angehörige der Opposition - zuletzt hat der
Parteivorsitzende und Wahlkreisabgeordnete Sigmar
Gabriel Anfang Januar die Asse besucht - haben den
Druck verstärkt. Auch die anderen Oppositionsfraktionen haben mit ihren Initiativen dazu beigetragen, dass es
jetzt vorangehen kann. Wir freuen uns, dass sich Ihr
Ministerium jetzt auf den Weg macht.
Es ist erfreulich, wenn sich alle bekennen. Es ist ermutigend, wenn Sie auch die Anregungen der Opposition aufgreifen und wenn jetzt die Taskforce eingesetzt
wird, so wie es von der SPD beantragt wurde. Dass diese
Taskforce „Lenkungsgruppe“ heißt, tut ihrer Effektivität
hoffentlich keinen Abbruch.
Das Thema „Rückholung der Abfälle“ ist nicht in wenigen Jahren beendet, sondern es wird uns 35 bis 40 Jahre
begleiten. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier fraktionsund wahrscheinlich auch legislaturperiodenübergreifend
zusammenwirken, vermutlich unter verschiedenen Regierungen.
Bei einer so wichtigen Thematik finde ich es erstaunlich, dass es der Minister fertigbringt, sich nachhaltig zurückzuhalten. Es ist ein durchaus gängiges Phänomen,
dass ein Minister unbequeme Themen lieber den Staatssekretären überlässt. Am Ende kann man nicht davon
profitieren, dass man sich immer nur mit Wohlfühlthemen beschäftigt. Am Ende hat nur derjenige Respekt
und ein solches Führungsamt verdient, der bereit ist, sich
in schwierigen Zeiten der Verantwortung zu stellen. Herr
Minister Röttgen wird dieser Verantwortung nicht gerecht. Er zeigt Desinteresse. Es ist für die Menschen in
der betroffenen Region, aber auch für das Parlament beschämend, einen solchen Umweltminister zu haben.
({1})
In diesen Tagen ist es entscheidend, dass es politischen Rückhalt gibt. Es gab schon jede Menge Runde
Tische zum Thema Asse. Es gibt die Asse-Begleitgruppe, die gute Arbeit leistet. Alle Beteiligten haben
sich oft getroffen, aber es ist wenig passiert. Manches
konnte nicht in Gang gesetzt werden, gerade weil der
politische Rückhalt gefehlt hat.
Wir haben erfreut festgestellt, dass sich jedenfalls in
Niedersachsen einiges verändert hat, sodass auch von
dort mit Rückendeckung zu rechnen ist. Ein bemerkenswertes Ergebnis des Workshops war, dass uns die Fachleute, die dort zusammensaßen, gesagt haben: Das war
das erste Mal seit vielen Monaten, dass wir den Eindruck
hatten, wir haben die politische Rückendeckung, um die
Abfälle aus der Asse herauszuholen, und es wird nicht
mehr auf Zeit gespielt. - Das ist eine neue Situation. Das
bedeutet, dass politische Rückendeckung nicht nur durch
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zweiten Reihe,
sondern auch von höchster Ebene gegeben wird. Das erwarte ich von einem Umweltministerium.
({2})
Jetzt geht es darum, das Verfahren zügig voranzubringen. Es müssen die rechtlichen Bedingungen geschaffen
werden, schneller handeln zu können. Es geht nicht um
die Einrichtung eines Endlagers, sondern um die Abwendung von Gefahren durch ein nicht genehmigungsfähiges Endlager, also durch ein Lager, das so überhaupt
nicht hätte existieren dürfen. Maßnahmen auf dem Wege
der Gefahrenabwehr einzuleiten und das Atomgesetz zu
ändern, schließen sich möglicherweise nicht aus, sondern es müssen jeweils fallbezogene Ergänzungen vorgenommen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Sinne der Menschen in der betroffenen Region und in Verantwortung
für die Bürgerinnen und Bürger, die rund um die Asse leben, ist es gut, wenn wir Solidarität mit ihnen zeigen. Es
wäre zudem ein Zeichen von Verantwortung, wenn es
gelänge, im weiteren Verfahren einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Wenn sich dieses Haus im Wesentlichen geschlossen positioniert, dann kann man es auch
schaffen, gemeinsam etwas zu Papier zu bringen.
Das Vertrauen der betroffenen Region in die Politik
ist ziemlich erschüttert. Wenn wir gemeinsam etwas auf
den Weg brächten, könnte das helfen, dieses Vertrauen
wenigstens ein Stück weit zurückzugewinnen.
({3})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Franz Obermeier für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche, die Debatte zusammenzufassen: Bei den zentralen Punkten gibt es einen breiten Konsens, eine Übereinstimmung in der Zielsetzung.
Ich möchte nun einige Aspekte wiederholen, die bereits angesprochen wurden.
Selbstverständlich geht es in erster Linie darum, der
betroffenen Bevölkerung rund um die Asse das Vertrauen nicht nur in unsere Handlungsfähigkeit wiederzugeben, sondern auch darin, dass für uns der Schutz der
Menschen, der Mitarbeiter und der Umwelt absolut prioritär ist. In diesem Zusammenhang möchte ich Folgendes anmerken: Der Präsident des BfS hat in der Sitzung
des Umweltausschusses in dieser Woche bestätigt, dass
der Kontaminationsgehalt der Lauge in der Asse geringer ist, als die Grenzwerte für Trinkwasser es zulassen.
({0})
Wenn es darum geht, dass man Fakten benennt und die
Dinge auf den Punkt bringt, sollte man die betroffene
Bevölkerung auch über eine solche Tatsache informieren.
In diesem Zusammenhang bitte ich zu berücksichtigen, dass es in den zurückliegenden zwei Jahren keine
nennenswerten Verzögerungen hinsichtlich der Erkundung des Salzstocks gab, zumindest keine, die gesetzgeberisch verursacht waren.
({1})
Ich bin Landesumweltminister Dr. Birkner sehr dankbar für seine ausgesprochen sachliche Bekundung der
ganzen Angelegenheit. Wir müssen uns klar dazu bekennen, dass Voraussetzung für das weitere gesetzgeberische Tun die Erhebung der Faktenlage ist. Wenn wir die
Faktenlage nicht voranstellen, besteht die große Gefahr,
dass wir im Wege eines Asse-Gesetzes in eine falsche
Richtung gehen und uns dann seitens der Bevölkerung
der Vorwurf gemacht wird, dass wir nur auf gesetzgeberischem Gebiet schnell handeln.
Ich teile die Auffassung, dass das BfS in diesem Fall
richtig vorgeht, indem es Fakten erhebt und dann aufgrund seiner wissenschaftlichen Erkundungen Konzepte
entwickelt, wie wir unter Berücksichtigung der genannten Prioritäten an die Rückholung der Fässer aus der
Grube Asse gehen können. Man muss berücksichtigen,
dass es sich hier um eine extrem komplizierte Arbeit
handelt, vor allem im Hinblick darauf, dass das Bergwerk, in dem dann neue Schächte angelegt werden sollen, schon 100 Jahre alt ist. Dafür ist eine umfangreiche
Erkundung des Materials zwingende Voraussetzung.
Ich bin der Staatssekretärin sehr dankbar, dass sie die
Beschleunigungsmöglichkeiten angesprochen hat. Ich
bin dankbar, dass wir in diesem Hause willens sind, die
Beschleunigungsmöglichkeiten zu nutzen, also das
Asse-Gesetz nach einer möglichst raschen Faktenerhebung zu verabschieden. Da ist es die eine Geschichte,
dass Sie die Lenkungsgruppe einsetzen, die Probleme
beim Management des gesamten Prozedere tatsächlich
bereinigen kann, und wir uns Gedanken machen, wie wir
die Beteiligung der Öffentlichkeit vor Ort so gestalten
können, dass die Bürger über das gesamte Vorgehen informiert sind.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch ein
Wort zur Finanzierung der ganzen Angelegenheit sagen.
Natürlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass
diese Angelegenheit sehr teuer wird. Deswegen haben
wir die Brennelementesteuer eingeführt; sie wird ihren
Sinn und Zweck erfüllen. Ich will hier vor der Öffentlichkeit sagen, dass das Finanzgericht Baden-Württemberg vor wenigen Wochen eine Entscheidung gefällt hat,
mit der die Klage der EnBW zurückgewiesen wurde.
Gemäß der gerichtlichen Entscheidung hat die EnBW
keinen Anspruch auf Rückzahlung der Brennelementesteuer. Auch das ist eine vertrauensbildende Maßnahme:
Wir stellen nicht ständig geltende Gesetze infrage, weil
das zu Misstrauen in der Bevölkerung führen würde.
({3})
Zum Abschluss ein Wort an Sie, Frau Kollegin Vogt.
Sie haben versucht, dem Bundesumweltministerium hinsichtlich der Behandlung dieses Falles Vorwürfe zu machen. Ich habe allerdings genau aufgepasst und festgestellt, dass Sie bei den Vorwürfen, genauso wie eine
ganze Reihe Ihrer Vorredner aus der Opposition, im Ungefähren geblieben sind. Das bringt uns auch nicht weiter. Sie haben keinen einzigen konkreten Fall benannt, in
dem das Bundesumweltministerium zur Verzögerung der
Erkundung der Asse beigetragen hätte. Noch einmal:
Das bringt uns nicht weiter. Das sollten wir unterlassen,
wenn wir im Konsens beispielsweise ein Asse-Gesetz
verabschieden wollen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8497 an den Ausschuss für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Beteiligung der
Energiekonzerne an den Kosten für das Atommülllager
Asse“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/4487, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1599 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
tion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-
Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Rückholung der Atommüllfässer aus der Asse II be-
schleunigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/8588, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8351 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Gloser, Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen Neubeginn der deutschen und europäischen Mittelmeerpolitik
- Drucksachen 17/5487, 17/6421 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Marina Schuster
Kerstin Müller ({1})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Heike Hänsel, Annette Groth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Selbstständige Entwicklung fördern - Faire
Handelsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien,
Marokko und Tunesien aufbauen
- Drucksache 17/8582 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Morgen jährt sich zum ersten Mal der Tag, an dem Präsident Mubarak vom ägyptischen Volk vom Throne gestoßen worden ist. Wir erinnern uns alle an die Hoffnungen,
die wir mit diesem Tag verbunden hatten, nicht nur für
Ägypten, sondern für die gesamte Region. Nun sind wir
ein Jahr weiter. Viele unserer Erwartungen sind enttäuscht worden. Wir stellen fest: Uns haben, was die
Entwicklung in dieser Region angeht, die Mühen der
Ebene erreicht.
Vieles ist unklar. Eines aber ist klar - damit komme
ich auf das zurück, was wir vor einer Stunde diskutiert
haben -: Es gibt deutliche Signale, auch von liberalen
Kräften. Man sagt: Es ist zwar schön, dass ihr uns unterstützt, aber geht nicht davon aus, dass wir euer System
eins zu eins übernehmen werden. Man sagt uns auch: Ihr
müsst davon ausgehen, dass die Religion in unserem
Staatswesen in Zukunft eine größere Rolle spielt, ob
euch das passt oder nicht. - Damit müssen wir hier fertigwerden. Ich sage trotz all der Anstrengungen, die wir
unternehmen müssen, ganz bewusst: Seien wir bescheiden in dem, was wir erreichen wollen.
In diesem Zusammenhang stelle ich einen gewissen
Widerspruch zu der vorigen Debatte fest. Vorhin ist der
Bundesregierung vorgeworfen worden, sie betreibe
Großmannssucht nach dem Motto: An deutschem Wesen
soll die Welt genesen. Und: Alle sollten sich nach
Deutschland richten.
({0})
Nun werden wir vorwurfsvoll gefragt: Warum habt ihr
dieses oder jenes noch nicht erreicht? Das ist ein gewisser Widerspruch. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen sich einmal Gedanken machen, in
welche Richtung Sie eigentlich gehen wollen. Wenn Sie
von Deutschland verlangen, tatkräftig zu sein, dann können Sie uns auf der anderen Seite nicht vorwerfen, Großmannssucht zu betreiben und wieder mehr in der Welt
sein zu wollen. Das passt irgendwie nicht zusammen.
({1})
Ich hatte im April vorigen Jahres die Freude, eine
Rede zu diesem Thema zu halten. Wir haben schon damals gesagt - das ist heute noch richtig -: Wir müssen
uns fokussieren und die Instrumente, die uns für diese
Region zur Verfügung stehen, in stärkerem Maße anpassen - zum Beispiel bei den Themen Union für das Mittelmeer, Barcelona-Prozess und Europäische Nachbarschaftspolitik -; denn in diese Bereiche fließen enorme
Geldmengen.
Ich will in Erinnerung rufen, dass zwischen den Jahren 2007 und 2012 allein im Rahmen der Europäischen
Nachbarschaftspolitik 8 Milliarden Euro in diese Region
geflossen sind; das ist nicht wenig Geld. Wir müssen gemeinsam eine Antwort auf die Frage finden, ob dieses
Geld richtig angelegt ist. Ich glaube, nicht nur Deutschland, sondern vor allen Dingen Europa muss in dieser
Hinsicht einfach noch besser werden.
Die Union für das Mittelmeer hat zwar einige neue
Programme aufgelegt, aber sie ist nicht schlagkräftig genug. Es wurde die „Euro-Mediterranean Sustainable Urban Strategy“ entwickelt; eine Arbeitsgruppe trifft sich
zum ersten Mal im März dieses Jahres. Mit dem Projekt
LOGISMED wird ein Logistikverbund angestrebt. All
diese Projekte sind vom Prinzip her gut und richtig, haben aber noch nicht die Schlagkraft erreicht, die wir eigentlich brauchen.
In der Europäischen Nachbarschaftspolitik haben wir
uns entschieden - wie ich finde, zu Recht -, uns auf einige Länder stärker zu fokussieren, weil wir den Unterschieden gerecht werden müssen. Wir können Marokko,
Tunesien, Ägypten, Libyen usw. zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht in einen Topf werfen, weil die Situation
in diesen Ländern sehr unterschiedlich ist. Darauf müssen wir eingehen.
Unser Ziel ist die wirtschaftliche Integration. Beispielsweise planen wir mit einigen Ländern, innerhalb
von 15 Jahren einen gemeinsamen Wirtschaftsraum aufzubauen. Um das zu erreichen, muss nach Fähigkeiten
und Bedarf vorgegangen werden.
Wir haben eine sogenannte Transformationspartnerschaft mit Ägypten annonciert. Natürlich müssen wir
auch in der heutigen Debatte sehr deutlich sagen, dass
das, was in Ägypten gegenwärtig passiert, und zwar sowohl auf der Straße als auch in den Gefängnissen als
auch bei der Polizei als auch im Justizwesen, was zum
Beispiel die Konrad-Adenauer-Stiftung angeht, alles andere ist als das, was wir uns unter einer Transformationspartnerschaft vorgestellt haben. Deshalb müssen wir von
hier aus sehr deutlich sagen: Liebe Leute in Ägypten,
wir wollen euch gerne helfen; aber dafür müsst ihr viel
mehr tun, als ihr bisher getan habt.
({2})
So haben wir uns die Zusammenarbeit jedenfalls nicht
vorgestellt.
Die Europäische Union hat am 14. Dezember des
letzten Jahres angekündigt, umfassende Freihandelsabkommen mit Tunesien, Ägypten, Marokko und Jordanien abzuschließen. Das ist richtig. Tunesien hat den Status eines privilegierten Partners. Hier wird also eine
ganze Reihe von Dingen gemacht.
Gerade an diesen Punkten setzt der Antrag der Linken
an. Die Linken schreiben in ihrem Antrag, dass man das
alles nicht machen sollte, dass man keine Freihandelsabkommen schließen sollte; denn sie dienten nur dazu,
dass wir, der böse Westen, die armen Leute noch mehr
ausbeuten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich kann
Ihnen - das habe ich auch vorhin schon gesagt - eine gewisse Konsequenz nicht absprechen. Mit Ihrer Politik
verfolgen Sie eine ganz konsequente Strategie der Verelendung in diesen Ländern. Sie sagen: Es ist schlecht,
dass wir unsere Märkte für diese Länder öffnen, weil
Handel schlecht ist. Liebe Kollegen der Linken, das haben Sie erfolgreich in der DDR praktiziert, und das praktiziert man in Kuba bis zum heutigen Tage.
({4})
Wir können nur sagen: Wir möchten den Leuten in Nordafrika nicht zumuten, dass Ihre Rezepte auf ihre Länder
angewendet werden. Wir werden das - das sage ich sehr
deutlich - verhindern.
({5})
Uns liegt heute ein Antrag der SPD vor, der viel Richtiges enthält. Ich darf aber bemerken: Dieser Antrag ist
schon ein bisschen älter. Ich glaube, dass es problematisch ist, in der Politik mit Anträgen umzugehen, die ein
gewissermaßen antiquarisches Format haben. Viele der
Forderungen, die Sie im letzten April gestellt haben, sind
realisiert worden. Daher möchte ich Sie ermuntern, sich
in die Debatte einzubringen und an der aktuellen Diskussion teilzunehmen. Wie gesagt, will ich gar nicht bestreiten, dass viele Dinge, die Sie angesprochen haben, völlig
richtig sind. Vieles ist aber auch schon realisiert. Wir
werden auf diesem Entwicklungspfad voranschreiten.
Wir wissen, wie schwer das ist. In Deutschland und in
der Europäischen Union haben wir ein Commitment:
Wir wollen den gesellschaftlichen Prozess, die Entwicklung in Richtung Rechtsstaat und die wirtschaftliche
Entwicklung in der Region durch Transformationspartnerschaften fördern, weil das im Interesse der Region
und im Interesse unseres eigenen Landes ist.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Günter Gloser hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
In einer Debatte zur Mittelmeerpolitik können die gegenwärtig dramatischen Ereignisse in Syrien nicht ausgeblendet werden. Wir alle sind über das kaltblütige Verhalten des syrischen Regimes entsetzt. Doch wir sind
nicht nur darüber entsetzt. Auch das Verhalten Russlands
und Chinas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist
falsch und unverständlich. Ich appelliere daher nochmals
in Richtung Moskau und Peking: Setzen Sie sich für eine
Konfliktlösung bei den Vereinten Nationen ein und nehmen Sie Einfluss auf das Assad-Regime - für einen Weg
der Deeskalation.
({0})
Von der Bundesregierung fordern wir seitens der
SPD-Fraktion in diesem Zusammenhang - wir haben darüber schon mehrfach diskutiert -: Setzen Sie sich in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union für einen kompletten Stopp der Abschiebungen nach Syrien ein. Das
ist ein Gebot der Menschlichkeit.
({1})
Der Antrag, über den wir heute debattieren, ist - das
ist richtig - bereits zehn Monate alt. Seither ist die arabische Welt eine andere geworden. Die Region befindet
sich gegenwärtig immer noch in einer epochalen Veränderungsphase. Das bedeutet, dass sich vor allem in den
Köpfen der Menschen eine Revolution vollzogen hat.
Das mutige Beispiel der Tunesier, aber auch das der
Ägypter haben den Menschen gezeigt, dass sie die
Macht und das Recht haben, Veränderungen zu fordern
und auch durchzusetzen. Das ist eine wahre Revolution.
Selbst in den Ländern, in denen es keine Umstürze gab,
versuchen Regierungen, den Menschen durch Reformen
entgegenzukommen.
Mit den positiven Veränderungen geht es weiter. Ich
möchte einige aufführen:
Erstens. In Marokko wurde vom König ein Verfassungsprozess angestoßen, der zu einem ersten Kompetenzgewinn des Parlaments führte.
Zweitens. Zu begrüßen ist auch die in den letzten Tagen festzustellende Annäherung zwischen Algerien und
Marokko. Auch das war in den letzten Jahren Thema.
Drittens. Die angekündigte Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung ist ebenfalls ein positives Signal. Damit wird eine wichtige Vorbedingung für ein Vorankommen im Nahostfriedensprozess erfüllt.
Viertens. Die Arabische Liga vertrat in der Vergangenheit eher die Interessen der Machthaber als der Bevölkerung ihrer Mitgliedstaaten. Auch sie definiert ihre
Rolle derzeit neu und sucht den Anschluss an die Vereinten Nationen, wie das aktuelle Beispiel ihres Vorschlags
für eine gemeinsame Beobachtermission mit der UNO in
Syrien zeigt.
Bei aller Schmerzhaftigkeit der aktuellen Entwicklung in Syrien: Die Gesamtentwicklung der Region bedeutet für uns einen großen Gewinn; denn sie gibt uns
erstmals Hoffnung auf eine nachhaltige Sicherheit in unserer südlichen Nachbarschaft, und das angesichts all der
Dinge, Herr Kollege Stinner, die Sie angesprochen haben; manchmal haben wir vielleicht andere Entwicklungen erwartet. Diese Hoffnung ist aber auch eine Verpflichtung, das Unsrige zu tun, um den Menschen in
dieser Region zu helfen, und zwar beim Aufbau ihrer Institutionen und ihrer Demokratien, aber auch bei der Lösung der drängenden Probleme, bei der wirtschaftlichen
Entwicklung, bei der Schaffung sozialer Sicherheit und
zum Teil auch bei der Verbesserung der Infrastruktur.
Was genau kann Europa anbieten? Frank-Walter
Steinmeier und ich haben im Februar 2011 ein - zugegeben - kurzes Papier vorgelegt, in dem wir die Umrisse
eines Marshallplans für die arabische Welt gefordert haben. Das mag in manchen Ohren nach Einmischung
klingen. Aber unser Ansatz bedeutet partnerschaftliche
Kooperation auf gleicher Augenhöhe. Dieser Ansatz beruht auf gegenseitigem Vertrauen zwischen Nord und
Süd.
Einiges, was wir im letzten Februar gefordert haben, ist
umgesetzt worden. Ich will gar nicht damit hinter dem
Berg halten, dass einige Dinge in die Transformationspartnerschaft eingeflossen sind. Aber die historischen Ereignisse von 2011 fordern uns nicht zu Einzelmaßnahmen
auf. Wir müssen die europäische Mittelmeerpolitik neu
ausrichten. Dabei müssen wir die eigenständige Entwicklung der jungen Zivilgesellschaften der arabischen
Welt respektieren, aber auch auf Gemeinsamkeiten hinarbeiten.
Die Idee vom Mittelmeer als dem Mare Nostrum ist
nicht neu. Bereits die Römer sprachen von „unser
Meer“, aber gewiss mit Vorstellungen und Absichten
verbunden, die anders sind als die, die wir heute haben.
Wir wollen heute die um das Mittelmeer liegenden Staaten als einen gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Raum gestalten. Doch die Flüchtlingskatastrophen mit ihren vielen Opfern im Mittelmeer zeigen
auf dramatische Weise, dass wir von diesem gemeinsamen Raum noch weit entfernt sind. Daran muss Europa
unbedingt etwas ändern. Abschottung allein wird auf
Dauer nicht die Lösung sein können. Wir wollen, ja wir
müssen andere Wege gehen.
({2})
Die von der SPD in diesem Antrag geforderte Bildungsmigration ist sicherlich - dies weiß ich - ein umstrittener Punkt. Aber ich möchte ihn hier dennoch
ausdrücklich erwähnen. Hier setzt unsere wichtigste Verantwortung an. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit
einer neuen Mittelmeerpolitik und mit der Unterstützung
für die Länder, die den Weg der Demokratie, der Veränderung und der Rechtsstaatlichkeit gehen, dann müssen
wir eine größere Zahl von gut qualifizierten Menschen
aus diesen Ländern für eine längere Zeit in der Europäische Union willkommen heißen. Wir müssen sie in unseren Arbeitsmarkt integrieren. Wir müssen sie nach drei
oder fünf Jahren, wenn sie zurückwollen, mit Risikokapital ausstatten, damit sie in ihrer Heimat Arbeitsplätze
schaffen können.
Die Konzepte dafür liegen vor. Wie ich höre, bereitet
auch die Bundesregierung solche Programme vor. Aber
bislang konnten sich die zuständigen Ministerien noch
nicht auf die Einzelheiten einigen. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, diese administrativen Fragen
schnell zu klären und dem Bundestag zu berichten, wie
sie sich Lösungen für diese drängenden Probleme vorstellt.
Wie schon vor einem Jahr fordern wir den Abbau von
Handelshemmnissen, die Errichtung von Freihandelszonen und den weiteren Ausbau der Zusammenarbeit mit
der Region, vor allem in den Bereichen Landwirtschaft
und Fischerei. Das sage ich ganz bewusst mit Blick auf
die Interessen der südlichen Länder. Nicht nur unsere
Güter sollen von einer Freihandelszone profitieren und
in den Süden exportiert werden können; vielmehr sollen
auch die im Süden produzierten Güter leichter in den
Norden exportiert werden können. Ich glaube, da sind
noch einige Hausaufgaben zu machen.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas grundsätzlicher werden. In der Vergangenheit schien es in der
Europäischen Union eine Arbeitsteilung zu geben:
Deutschland, Polen, Österreich und noch einige andere
Länder waren für Osteuropa zuständig, Frankreich, aber
auch Spanien und Italien für die südliche Nachbarschaft.
Durch die arabischen Revolutionen ist diese Arbeitsteilung obsolet geworden, nicht nur politisch, sondern
auch gesellschaftlich. Wir alle merken dies nicht zuletzt
an den zahlreichen Veranstaltungen zum arabischen
Frühling, zu den Umbrüchen in der arabischen Welt.
Dieses Interesse und der Mut der Menschen in der Region sind für uns ein Auftrag. Um ihn zu erfüllen, müssen wir, finde ich, unsere Kräfte bündeln; vor allem müssen wir auf politischer Ebene die Kraft der Europäischen
Union nutzen.
Ich rege an - Staatsminister Link ist ja anwesend -,
jetzt einmal ein klares Zeichen im Rahmen der EU und
der Arabischen Liga zu setzen; dies ist aufgrund der Veränderung notwendig. Ich finde, ein entsprechendes Treffen - wir haben uns schon zu ganz anderen, weniger bedeutsamen Anlässen getroffen - wäre sinnvoll, auch um
deutlich zu machen, dass wir die Region stärken.
Lassen Sie mich eine zweite Anregung geben. Vielleicht wäre es sinnvoll, in Deutschland - in anderen Ländern ist dies schon geschehen - eine nationale Forschungs- und Beratungsstelle für Mittelmeerpolitik
einzurichten, welche die vorliegenden und die neu zu
entwickelnden Konzepte bündelt und der Öffentlichkeit
und der Politik präsentiert.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Der Vorsitzende der tunesischen Verfassungsversammlung,
Dr. Ben Jaffar, hat am Mittwoch auf einer gut besuchten
Konferenz der SPD-Fraktion zum Ausdruck gebracht,
was für die Menschen vor Ort von Bedeutung ist. Zitat:
Wir brauchen unsere Freunde in Deutschland. Wir
haben uns befreien können von unserem Diktator,
aber das hat Spuren hinterlassen, mit eurer Unterstützung schaffen wir es. Die Botschaft an die Menschen muss sein: Es gibt Hoffnung!
Diese Hoffnung sollten wir nicht enttäuschen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Joachim Hörster für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor
knapp zehn Monaten, am 14. April 2011, haben wir hier
in diesem Hohen Hause über den Antrag der SPD-Frak19062
tion diskutiert, der, wenn wir ihn heute lesen, in weiten
Teilen zumindest ergänzungsbedürftig ist, wenn nicht
sogar in die falsche Richtung weist. Ich hatte die Hoffnung, dass zum Beispiel im Auswärtigen Ausschuss die
Gelegenheit genutzt wird, diesen Antrag auf Initiative
der SPD zu erneuern und à jour zu bringen.
Wenn wir genau hinhören - wir haben die Reden von
Herrn Stinner und Herrn Gloser gehört; auch in meiner
Rede wird dies deutlich -, stellen wir fest, dass wir hinsichtlich des Umgangs mit den Problemen im Mittelmeerraum politisch nicht sehr weit auseinanderliegen.
Ein Unterschied besteht vermutlich darin, dass die Sozialdemokraten glauben, es könnte ein allgemeingültiges
Konzept geben, wie wir als Europäer, aber auch als
Deutsche mit den Mittelmeeranrainern umgehen, während wir von der Koalition der Auffassung sind, dass wir
uns Land für Land anschauen und für jedes Land eigene
Konzepte entwickeln müssen.
Ich möchte unterstreichen, was der Bundesaußenminister gesagt hat: Es kommt entscheidend darauf an,
welche Art von Hilfen die Mittelmeeranrainer von uns
wollen. Das, was wir jetzt in Ägypten erleben, ist skandalös. Wir gehen viel zu vornehm damit um. Es kann
doch nicht sein, dass wir unsere Hilfe zur Installation der
Demokratie und zur Förderung des Parlamentarismus
anbieten, wir die Vorbereitungen von Wahlen erklären
und vieles andere mehr machen und dass dann die Stiftungen, die seit 30 Jahren unbehelligt in Ägypten arbeiten, mit rückwirkender Verfügung auf einmal sozusagen
kriminalisiert werden. Dadurch wird einem gewissermaßen der Stuhl vor die Tür gestellt. Dies ist keine Einladung, zusammen etwas zu unternehmen, um die Demokratie in Ägypten zu fördern.
Das ist für mich Anlass, noch einmal darauf hinzuweisen, dass wir von Land zu Land unterscheiden sollten. Das einzige Land, bei dem ich die Hoffnung habe,
dass der arabische Frühling zu einem Erfolg der Demokratie wird, ist Tunesien. Alle anderen Länder haben
eine ganze Reihe von kleinen Schritten gemacht, die wir
begrüßen sollten. Wir müssen uns allerdings auch einigen, ob wir, wenn zum Beispiel in Marokko ein bisschen
mehr Parlamentarismus und Demokratie betrieben wird,
lauthals schreien, dass dies nicht genug ist, oder ob wir
sagen: Ihr seid auf dem richtigen Weg, lasst uns zusammenarbeiten, um dies zu vertiefen.
Wir müssen auch mit solchen Entwicklungen umgehen, wie sie sich zum Beispiel bei den Monarchien in den
arabischen Ländern zeigen. Es muss Aufmerksamkeit erwecken, wenn die Mitgliedstaaten des Golfkooperationsrates darüber nachdenken, Jordanien und Marokko aufzunehmen; denn damit wären im Golfkooperationsrat alle
arabischen Monarchien vereinigt. Dann könnten sie eine
gemeinsame Politik betreiben. Es wäre spannend, zu untersuchen, wie wir uns dazu verhalten würden. Es wäre
gut, wir würden uns dazu verhalten; denn es können auch
andere als revolutionäre Entwicklungen, die zur Förderung der Demokratie beitragen, stattfinden.
Die Situation in Ägypten - ich glaube, das brauchen
wir nicht weiter zu erörtern - ist außerordentlich kritisch. Ich weiß nicht, ob es - gewissermaßen subkutan ein Agreement zwischen den Moslembrüdern und der
Armee gibt. Mir erscheint das, was dort vor sich geht,
sehr merkwürdig, auch was den Umgang mit konkurrierenden Parteien und konkurrierenden Kandidaten betrifft. Wir werden mit großer Aufmerksamkeit verfolgen
müssen, was in Ägypten geschieht. Wir müssen auf jeden Fall immer bereitstehen, wenn es darum geht, die
Demokratie zu fördern und zu helfen.
Die Situation in Syrien ist schrecklich; die Kollegen
Gloser und Stinner haben das angesprochen. Wir haben
keine Möglichkeiten, dort in größerem Umfang einzugreifen; im Auswärtigen Ausschuss haben wir intensiv
darüber diskutiert. Ich glaube, jetzt müssen wir folgenden Weg beschreiten: Wir müssen Russland in die
Pflicht nehmen - nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer UN-Resolution, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Zulassung humanitärer Hilfe -, um in dem
schrecklichen Chaos, das zurzeit in Syrien herrscht, tätig
werden zu können. Russland muss seinen Verbündeten
Syrien zwingen, dafür zu sorgen, dass zumindest humanitäre Hilfe durch den Roten Halbmond und das Rote
Kreuz gewährleistet werden kann und die bewaffneten
Auseinandersetzungen so schnell wie möglich eingestellt werden. Ich denke, man muss die Russen, die im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Führungsverantwortung wahrnehmen, beim Portepee fassen und sagen: Es ist jetzt eure Pflicht, das auf die Reihe zu bekommen, um den europäischen Standards Genüge zu tun.
({0})
Die Russen wollen schließlich Teil Europas sein, und
auch wir wollen, dass sie es sind.
Ich glaube, wenn wir jedes Land für sich betrachten
und mit offenen Augen die Besonderheiten wahrnehmen, dann wird es uns gelingen, eine vernünftige Politik
zu betreiben. Ich glaube nicht, dass wir eine neue Mittelmeerpolitik mit festen Programmen, die überall in gleicher Form angewendet werden, brauchen. Vielmehr sollten wir das tun, was der Bundesaußenminister gesagt
hat: Land für Land und Kooperationsmöglichkeit für
Kooperationsmöglichkeit untersuchen und dann geeignete Maßnahmen ergreifen. Das hilft uns weiter.
Wir alle wissen: Das größte Problem in den betreffenden Ländern ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Ich
glaube nicht, dass dieses Problem dadurch gelöst wird,
dass man für Visafreiheit sorgt.
({1})
Ich glaube, es wird dadurch gelöst, dass man den jungen
Leuten Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, das duale Ausbildungssystem exportiert und die mittelständische Wirtschaft, sofern sie in den arabischen Ländern vorhanden
ist, ermutigt, junge Leute auszubilden und sie als Arbeitskräfte zu übernehmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Sevim Dağdelen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Situation in Syrien wurde angesprochen.
Die gegenwärtigen Kriegsdrohungen gegenüber Syrien
und der vorangegangene völkerrechtswidrige Überfall
der NATO auf Libyen zeigen eindrücklich, dass europäische Mittelmeerpolitik zurzeit nichts weiter ist als Außenpolitik, die das Recht des Stärkeren durchsetzt.
({0})
Mit welch schlimmen Folgen: Mehr als 50 000 Tote im
Libyen-Krieg! Jetzt werden in den Lagern in Libyen sogenannte Gaddafi-Anhänger zu Tode gefoltert. Erst
Ende Januar dieses Jahres wurde der ehemalige libysche
Botschafter in Paris tot aufgefunden. Es kann einem
schlecht werden, wenn man sich die Ergebnisse dieser
Ihrer humanitären Interventionen ansieht.
({1})
Deshalb steht die Linke, auch mit Blick auf die Mittelmeerregion, ohne Wenn und Aber für Verhandlungen
statt Eskalation und - auch über die Mittelmeerregion hinaus - für Sicherheitsgarantien statt Förderung von Gewaltspiralen.
({2})
Ich möchte Sie daran erinnern - weil Sie so tun, als
sei das alles nicht geschehen -, dass Staatspräsidenten
wie Assad vor nicht allzu langer Zeit bei der Gründung
der Mittelmeerunion in Paris - auch Sie haben sie unterstützt - noch auf der Ehrentribüne sitzen durften.
({3})
Unter Rot-Grün wurden Häftlinge mit BKA-Begleitung nach Syrien zum Foltern geflogen. Als einzige Partei hat die Partei Die Linke dies immer wieder verurteilt
und kritisiert. Daran sollten Sie sich erinnern, wenn Sie
jetzt über einen sogenannten Neubeginn sprechen.
Die SPD beruft sich in ihrem Antrag auf die Ziele der
europäischen Sicherheitsstrategie, nach der - ich zitiere - „an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten“ entstehen soll. Sie verschweigen, dass „verantwortungsvoll“ für die EU auch
der libysche Diktator Gaddafi und bis vor kurzem eben
auch Assad gewesen sind, solange der eine Migration
bekämpft hat und der andere bereit war, durch outgesourcte Folter auch deutsche Sicherheitsbehörden im
Kampf gegen den sogenannten Terrorismus mit Informationen zu beliefern.
Im Grunde handelt es sich bei den Forderungen der
Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion um die üblichen Zutaten des EU-Gesamtansatzes, das heißt um
Grenzsicherung, Migrationsbekämpfung, den Abbau von
Handelshemmnissen und die Einrichtung von Freihandelszonen. Herr Gloser hat das alles hier heruntergebetet.
Sprich: Es ist die alte falsche Strategie. Sie wollen jemandem eine Medizin verabreichen, die zu einer schlimmen
Krankheit geführt hat, und jetzt wollen Sie auch noch die
Dosis dieser falschen Medizin weiter erhöhen.
({4})
Allein die Linke will den Mittelmeerraum nicht weiter
mit Migrationsabwehr und Neoliberalismus beglücken.
Die Menschen rund um das Mittelmeer haben wirklich
etwas Besseres verdient als Frontex und andere Abschottungsinstrumente.
({5})
Erschreckend ist an Ihrem Antrag auch, dass nicht einmal mit einem Wort die Tausenden von Toten an den Mittelmeergrenzen als Preis des gegenwärtigen Abschottungsregimes erwähnt werden. Sie strengen sich auch gar
nicht an. Es gibt keine ernsthaften Überlegungen in Ihrem
Antrag, wie man Menschenleben durch Lockerungen der
Migrations- und Asylpolitik retten könnte.
({6})
Stattdessen sprechen Sie von Rückübernahmeabkommen und Resettlement. Das ist einfach erbärmlich. Der
UNHCR hat erst letzte Woche die neuesten Zahlen für
das Jahr 2011 bekanntgegeben. Noch nie war eine so
große Zahl von Menschen auf dem Weg nach Europa zu
verzeichnen, die entweder noch als vermisst gelten oder
ertrunken sind. Über 1 500 Tote - und Sie sprechen hier
von Resettlement und Rückübernahmeabkommen. Ich
finde, Sie sollten umkehren und Ihre Migrationsabwehrpolitik ändern. Dass Sie das nicht tun, haben Sie letztens
bewiesen, als Sie sich bei der Abstimmung über den Antrag der Linken zum Stopp der Abschiebungen nach Syrien enthalten haben.
Ich frage Sie, warum ein Weiter-so in Sachen Freihandelspolitik der EU und Migrationsbekämpfung gelten
soll. Hier wäre doch die Möglichkeit für einen wirklichen Neubeginn gewesen. Die Linke findet, der wahre
Maßstab für einen wirklichen Neubeginn ist die Einlösung des Versprechens von Freiheit, Gleichheit und Solidarität auch gegenüber den Menschen im Mittelmeerraum. Die Linke will diesen Neubeginn. Wir finden - ich
bitte Sie, lassen Sie uns das einmal gemeinsam versuchen -, dass man hier mit ganz konkreten Schritten beginnen könnte, nämlich indem man einfach beschließt,
keine Rüstungsexporte in den Mittelmeerraum und keine
Abschiebungen von Migranten und Flüchtlingen aus
dem Mittelmeerraum zuzulassen.
({7})
Solidarität statt Krieg und Ausbeutung - das sollte
unser Motto sein. Dafür steht jedenfalls die Linke.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Jetzt blicken wir also
nach einem Jahr - das haben meine Vorredner schon gemacht - auf die Region rund um das südliche Mittelmeer.
Was ist von den überraschenden Aufständen in Tunesien,
Ägypten, Marokko oder auch in Libyen geblieben? In den
meisten Fällen ist der Ausgang - das haben auch Sie, Herr
Stinner, gesagt - komplett unklar. Die Anfangseuphorie
ist vielfach der Ernüchterung gewichen. In Syrien hält die
Gewalt des brutalen Regimes an. Gleichzeitig müssen wir
fragen - das hat wenig mit Großmannssucht zu tun, sondern mit Pragmatismus -, ob wir die notwendige Unterstützung für eine echte Transformation auf den Weg gebracht haben. Wenn ich in Richtung Bundesregierung
schaue und mir die Panzerlieferungen in Erinnerung rufe,
dann sage ich: Das kann sicherlich nicht die Antwort sein.
Die Hoffnungen richteten sich zunächst auf Ägypten
und Tunesien, wo es erstmals freie Wahlen gab. Doch
nicht nur die Gewalteskalation im Stadion von Port Said
in der letzten Woche zeigt, wie fragil die Situation insbesondere noch in Ägypten ist.
Gestern haben wir über die Stellung der politischen
Stiftungen gesprochen. Herr Hörster hat gesagt, die Situation sei skandalös. Wir wissen aber auch, dass es
nicht nur die Konrad-Adenauer-Stiftung, sondern auch
die nationalen Stiftungen trifft. Wir müssen natürlich
versuchen, in Zusammenarbeit mit dem Militärrat zu einer Lösung zu kommen. Diese Eskalation auf diplomatischer Ebene weist aber darauf hin, dass der Militärrat
seine Macht nicht teilen, sondern vielmehr verfestigen
möchte.
Wie lassen sich die Prozesse hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aus unserer Sicht also beschleunigen? Die Europäische Union hat hierfür im Rahmen
ihrer neuen Nachbarschaftspolitik insgesamt 1,24 Milliarden Euro versprochen. Angesichts der Herausforderung ist das eine angemessene Summe; auch das wurde
bereits erwähnt. Allerdings kommt das Geld viel zu
langsam vor Ort an.
Nur in Tunesien - das ist auch unsere Hoffnung - hat
sich das Engagement der EU sichtbar erhöht. Sie haben
es gesagt: Hier könnte die Hilfe wirken. Das Prinzip insgesamt, das hinter der neuen Nachbarschaftspolitik steht
- „More for more“ -, konnte bisher aber in keinem dieser Staaten wirklich neue Impulse geben.
Was muss unserer Meinung nach stattdessen gemacht
werden? Wir sagen: Vor allem die Zivilgesellschaft muss
gefördert werden. Dazu bietet sich eine europäische Stiftung für Demokratie an, um den Wandel im südlichen
Mittelmeerraum dynamisch zu unterstützen.
Die Kollegin von der Linken hat es richtig gesagt:
({0})
Bei der Migrationspolitik haben wir uns bisher viel zu
lange und viel zu viele wohlmeindende Phrasen geleistet. - Anstatt weiter Abwehrmaßnahmen zu praktizieren,
müssen wir die häufig erwähnten Mobilitäts- und Bildungsprogramme endlich auch umsetzen. Herr Hörster,
die Visafreiheit ist hierfür ein wichtiger Baustein.
({1})
Ohne einen besseren Zugang für die Menschen nach Europa wird es keine echte Mobilität geben. Das müssen
wir einfach anerkennen.
({2})
Für uns ist die Zeit des Mauerbaus und des Zäuneziehens vorbei. Leider wurde in Libyen mit deutscher
Rückendeckung - auch das wurde erwähnt - ein sogenanntes Grenzsicherungssystem installiert und mit Marokko und Tunesien zunächst über Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge und erst dann über eine weitere
Unterstützung verhandelt. Das ist leider die Realität.
Was allerdings die Freihandelsfragen anbelangt - damit komme ich zum Antrag der Linken -, sprechen Sie
viele wichtige Punkte an. Jeder wird den Titel „Faire
Handelsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien, Marokko
und Tunesien aufbauen“ unterschreiben. Wir wollen uns
allerdings erweiterten Handelsabkommen mit den südlichen Ländern auf keinen Fall komplett verschließen. Wir
wollen einen echten Pakt für Ausbildung und Arbeit und
nicht die nationalen Grenzen verstärken. Wir wollen
hohe Umwelt- und Sozialnormen in diesen Abkommen
verankern und natürlich keine bilateralen Verhandlungen, wie sie derzeit in der EU vorgesehen sind. Ich
glaube, im Rahmen des Agadir-Abkommens - das war
ja schon einmal angedacht - könnte man nicht nur die
Handelswege Richtung EU, sondern auch die Handelsströme der Länder untereinander erleichtern.
Jetzt komme ich zu dem Aspekt der echten Solidarität
gegenüber den Freiheitsbewegungen. Diese können wir
nur dort beweisen, wo die Staaten mit ihren Produkten
bereits heute wettbewerbsfähig sind. Das ist bei sehr vielen Produkten im Agrarsektor der Fall. Wir müssen uns
hierüber mit unseren Partnern in den südlichen Ländern
auseinandersetzen, was wir im Moment zum Teil nicht
tun.
({3})
Wir wissen, dass sie krisengeschüttelt sind. An dieser
Stelle würde ich mir wünschen, dass wir innerhalb der
EU etwas mehr Mut hätten und uns für einen freieren
Zugang für marokkanische oder tunesische Produkte
einsetzen würden. Deshalb plädieren wir für eine Öffnung der EU-Agrarmärkte - zur Not auch mit einem
Mehrheitsentscheid.
Vielen Dank.
({4})
Den Beitrag des Kollegen Dr. Wolfgang Götzer aus
der Unionsfraktion nehmen wir zu Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache.
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für einen
Neubeginn der deutschen und europäischen Mittelmeer-
politik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6421, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5487 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Selbstständige Entwicklung fördern -
Faire Handlungsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien,
Marokko und Tunesien aufbauen“. Wer stimmt für den
Antrag auf Drucksache 17/8582? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a und b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulla Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutsche Polizeiarbeit in Afghanistan
- Drucksachen 17/1069, 17/2878 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan
- Drucksachen 17/4879, 17/8443 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({1})
Wolfgang Gunkel
Gisela Piltz
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Je länger wir uns mit dem Polizeiaufbau in Afghanistan befassen, desto mehr müssen wir erkennen: Er dient nicht
dem Schutz der dortigen Bevölkerung, sondern ist eine
Facette des Militäreinsatzes.
({0})
Viele Polizisten bedeuten nicht viel Sicherheit. Im
Gegenteil: Der UN-Flüchtlingskommissar hält fest - ich
zitiere -: Die wachsende Zahl bewaffneter Pro- wie
Antiregierungskräfte lässt das Gefühl von Unsicherheit,
Anspannung und Furcht bei den afghanischen Zivilisten
ansteigen. - Auch die Pro-Kräfte schaffen Unsicherheit.
Deshalb fordern wir, die deutsche Hilfe für den Polizeiaufbau endlich zu beenden.
({1})
Menschenrechtsorganisationen sind sich einig: Die
afghanische Polizei ist korrupt und gewalttätig gegen die
eigene Bevölkerung. Sie misshandelt und foltert Festgenommene.
({2})
Sie kassiert an Checkpoints Schmiergelder und Wegegelder. Sie raubt und vergewaltigt und mordet bei Hausdurchsuchungen. Sie steht im Dienst von Warlords.
Selbst der US-Sondergeneralinspekteur stellt einen
Konsens in der afghanischen Bevölkerung darüber fest,
dass die Polizei hochgradig korrupt und eng mit kriminellen Machthabern verzahnt ist.
({3})
- Das kann man nachlesen, Herr Wieland. - Sogar das
schwedische Militär warnt mittlerweile, das Verhalten
der sogenannten Sicherheitskräfte treibe die Bevölkerung erst recht in die Arme der Aufständischen. Auch
das zeigt, Herr Wieland: Die NATO-Politik ist auf ganzer Linie gescheitert.
({4})
Im deutschen Sektor in Nordafghanistan wurde vorigen Sommer General Abdul Wahid Rahman, übrigens
auch als Baba Jan bekannt, zum Polizeikommandeur ernannt. Die Frauenrechtsorganisation RAWA in Afghanistan kennt ihn - Zitat - als „brutalen Menschenrechtsverletzer, der an Plünderungen und Morden beteiligt
war“. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights
Watch beschuldigt ihn der Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Die Bundesregierung verwies in der
Antwort auf eine Anfrage von mir auf die Zuständigkeit
der afghanischen Justiz. Das ist wirklich ein schlechter
Witz. Schließlich beklagen Menschenrechtsorganisationen und UNO-Instanzen unisono die allgemeine Straflosigkeit.
Die Bild-Zeitung hat vor zwei Monaten einen inzwischen ermordeten Polizeichef namens Daud Daud erwähnt, der nach Angaben des BND in Afghanistan ebenfalls in Drogengeschäfte verwickelt ist. In der Zeitschrift
Die Bundeswehr lese ich über einen Anführer der soge19066
nannten Afghanischen Lokalen Polizei - Zitat -: „Wer
nicht spurt, den peitscht er aus.“ Das sei zwar „gewöhnungsbedürftig, aber da halten wir uns raus“. So sieht
der angebliche Aufbau der Demokratie bzw. des Rechtsstaats aus. Das können wir wirklich nicht mittragen. Damit muss Schluss sein.
({5})
Diese Verbrechen sind kein Einzelfall, sondern liegen
in der Natur der Sache. Da werden junge Männer nach
acht Wochen Kurzausbildung ohne Abschlussprüfung
mit Uniform und Waffen versehen. 90 Prozent von ihnen
sind im Übrigen Analphabeten und sollen Gesetze
durchsetzen, die sie noch nicht einmal lesen können.
Warum läuft das so? Weil die NATO das genau so haben
will. Sie will keine rechtsstaatliche Kraft aufbauen, sondern bloß eine einheimische Truppe zur Intensivierung
des Bürgerkrieges.
({6})
Auch die Bundesregierung - Herr Wieland, lesen Sie unsere Große Anfrage - schreibt in ihrer Antwort, dass
eine Ausbildung im militärischen Sinne notwendig ist.
Wir sprechen den deutschen Polizisten nicht ihre ehrlichen Absichten ab - damit das ganz klar ist -,
({7})
aber ihr Einsatz ist zum Scheitern verurteilt, weil die
NATO nicht auf Demokratie, sondern auf die Stärkung
eines korrupten Regimes setzt.
({8})
Es gibt nur einen einzigen Weg aus dieser Situation:
Es muss eine Antikriegspolitik geben. Ziehen Sie nicht
nur die Bundeswehr aus Afghanistan ab, sondern auch
die Polizei! Holen Sie die Polizisten aus Afghanistan zurück! Das ist die einzige Lösung, die es zurzeit gibt.
({9})
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Linke beschäftigt sich im vorliegenden Antrag mit unseren deutschen Polizeimissionen in Afghanistan; dabei geht es weniger um die NATO.
({0})
Das begrüßen wir insbesondere deshalb, weil Sie, Frau
Jelpke, noch auf Ihrem Parteitag am 15. und 16. Mai
2010 in Rostock festgestellt haben, die Bundesrepublik
Deutschland müsse zivile und selbstbestimmte Strukturen in Afghanistan unterstützen und beim Aufbau helfen.
Genau das ist das Ziel unseres Einsatzes. Aber warum
fordern Sie dann heute genau das Gegenteil von dem,
was Sie auf Parteitagen beschließen, nämlich einen vollständigen Rückzug aller Polizeibeamten? Das passt nicht
zusammen, Frau Jelpke.
({1})
Meine Damen und Herren von den Linken, Ihr Parteitag
hatte recht: Der afghanische Staat kann die notwendige
Aufbauhilfe nicht aus eigener Kraft schaffen. Deshalb engagiert sich die internationale Staatengemeinschaft genau in diesem Sinne in diesem Land. Dabei wurde der
zivile Wiederaufbau immer in den Vordergrund gestellt.
Das von Deutschland verfolgte Konzept für eine zivil
ausgerichtete demokratische Polizei ist geradezu beispielhaft für unser Agieren im Kontext dieser Strategie.
Beteiligt sind BMI, Auswärtiges Amt und das BMZ. Dabei unterstützen die Deutschen übrigens gerade nicht afghanische Polizeieinheiten wie die ANCOP, die zugegebenermaßen eine paramilitärische Ausrichtung verfolgt,
Frau Jelpke. Die Begründung, wir würden das unterstützen, geht völlig fehl.
Sie behaupten weiter, unser Einsatz sei zum Scheitern
verurteilt und Rechtsstaatlichkeit sei nicht erreicht worden. Das ist nicht nur grundlegend falsch, sondern es beschädigt auch das Ansehen unserer Polizistinnen und
Polizisten und deren hervorragende Arbeit in Afghanistan.
({2})
Vor allem unsere bilaterale Mission genießt international und bei den Afghanen selbst hohe Wertschätzung.
Der Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte
schreitet ebenso planmäßig voran wie die Vorbereitungen zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung in den
Distrikten.
({3})
Deutschland hat bisher rund 46 000 Polizisten ausgebildet. Die deutschen Polizeitrainingszentren in Masar-iScharif, Kunduz, Faizabad und Kabul gelten landesweit
als vorbildlich und werden gezielt auf die Übergabe in
afghanische Verantwortung ab 2012 vorbereitet. Die Afghanen planen sogar, diese Zentren künftig für die gesamte Ausbildung im Norden Afghanistans zu nutzen.
Wer wie Sie hier von einem Misserfolg spricht, stellt die
Realität völlig auf den Kopf.
({4})
Armin Schuster ({5})
Sie beklagen in Ihrem Antrag weiter, die Ausbildung
der Polizei stehe unter militärischer Dominanz insbesondere der Amerikaner. Wie ist die Realität? In mehreren
internationalen Gremien werden landesweit vereinheitlichte Curricula für die Ausbildung konzipiert, die nahezu alle vom deutschen bilateralen Polizeiprojekt entwickelt und vom afghanischen Innenministerium als
Grundlage der Polizeiausbildung in Gesamtafghanistan
festgelegt werden. Auch auf diese Weise kann man übrigens rechtsstaatliche Strukturen schaffen.
Dass wir die Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten unter den Schutz der Bundeswehr stellen, ist reine
Fürsorge; es ist aber kein Beleg dafür, dass wir eine paramilitärische Ausbildung gestalten. Ich empfehle Ihnen
einen Besuch vor Ort. Dann können Sie live miterleben,
dass die Amerikaner zu uns kommen und regelmäßig,
fast täglich, um Nachhilfe bitten, wie wir das machen,
weil sie wissen, dass wir die Besten sind.
({6})
Ihre Behauptung, Afghanistan würde prioritär paramilitärische Einheiten aufstellen - so kommt dies jedenfalls in Ihrem Antrag zum Ausdruck -, ist völlig falsch.
Die eher paramilitärisch ausgerichtete ANCOP hat
5 000 Mann, die ANP hingegen hat 130 000 Mann. Das
entspricht also einem Anteil von nicht einmal 5 Prozent.
Schließlich ziehen Sie in Ihrem Antrag den Schluss,
es handele sich um ein Kriegsgebiet, in dem deutsche
Polizisten nichts zu suchen hätten.
({7})
Meine Damen und Herren, hier müssen wir es genau
nehmen. Es handelt sich um ein Bürgerkriegsgebiet.
({8})
Wenn wir hier nicht tätig werden dürften, dann hätten
wir auch niemals in Kambodscha, Bosnien-Herzegowina, im Sudan oder von mir aus auch im Kosovo einen
Einsatz haben dürfen.
({9})
Diese Einsätze waren aber erfolgreich, und wir haben
unsere Ziele erreicht.
({10})
Entscheidend für unseren Einsatz sind die Einstufung
als Bürgerkriegsregion und die konkret zu beurteilende
tatsächliche Sicherheitslage vor Ort. Diese Lage wird
tagtäglich neu eingeschätzt. Unsere Beamten können
deshalb seit Jahren dort erfolgreich trainieren, unterstützen und beraten, und zwar rechtlich einwandfrei auf der
Grundlage der §§ 8 und 65 BPolG.
Nach der Talibanherrschaft bauen wir ein für afghanische Verhältnisse beachtliches demokratisch orientiertes
Polizeisystem mit auf. Wir sorgen für eine Infrastruktur
und den Bau von Trainingszentren. Wir investieren in
die Aus- und Fortbildung der Führungskräfte - hier gelten wir übrigens als führend -, in die politische Bildung
und in Alphabetisierungskurse. All dies dient der Professionalisierung. Daher möchte ich an dieser Stelle unseren Polizistinnen und Polizisten ganz herzlich für diesen
harten, aber erfolgreichen Einsatz danken.
({11})
Meine Damen und Herren von den Linken, an ihnen
sollten Sie sich ein Beispiel nehmen. Sie kennen die Probleme wie Analphabetentum, zu hohe Fluktuationsraten
oder technische Rückständigkeit. Jedoch sehen sie diese
als Herausforderung und versuchen, jeden Tag einen
kleinen Schritt weiterzukommen. Im Gesamtergebnis
seit Jahren bezeichnen wir dies wirklich als einen tollen
Erfolg. Jetzt dort abzuziehen, wäre ein völlig falsches
Signal.
({12})
Ich würde sogar gern über das Gegenteil mit Ihnen
diskutieren. Wer Afghanistan stabilisieren will, der muss
insbesondere nach dem Abzug der Soldaten die zivile
Aufbauhilfe verstärken.
({13})
Ob beim Aufbau der Polizei, des öffentlichen Dienstes oder einer Good Governance: Probleme wie Korruption oder instabile politische Systeme haben uns, egal in
welchen Ländern wir geholfen haben, noch nie veranlasst, Reißaus zu nehmen.
Wie ist die Realität? Ich glaube, dass die internationale Staatengemeinschaft in der Zukunft an Deutschland
deutlich höhere Bündnisverpflichtungen stellen wird.
Worüber, wenn nicht über die zivile und zivilmilitärische
Aufbauhilfe, könnten wir uns politisch schneller einigen? Ich würde hier gern von einer „German Quick Stabilisation Force“ sprechen, die sich darauf konzentriert,
nach Interventionen dabei zu helfen, Länder aufzubauen.
({14})
Wer diese Vision hat, der denkt nicht an Rückzug. Im
Gegenteil, er denkt darüber nach, wie man neue Strategien für ein stärkeres künftiges internationales Engagement Deutschlands entwickeln könnte.
Ein letzter Satz: Frau Jelpke, ich hätte nie zu träumen
gewagt, dass ich Ihnen einmal empfehle, auf Parteitagsbeschlüsse der Linken zu hören. In diesem Fall würde
ich Ihnen das aber wirklich empfehlen.
({15})
Armin Schuster ({16})
Das wäre eine tolle Sache. Dann hätten wir uns diesen
Antrag erspart, und ich wäre jetzt sicher auf dem Flug zu
meiner Fastnachtsveranstaltung.
Danke schön.
({17})
Den Beitrag des Kollegen Wolfgang Gunkel von der
SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1) Das Wort hat
der Kollege Jimmy Schulz für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße natürlich auch
die Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen.
({0})
- Jawohl, und an den Rundfunkempfangsgeräten.
({1})
Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Kollegen von
den Linken mit ihrem Antrag bezwecken.
({2})
Scheinbar wollen Sie durch den Abzug der Polizeiausbilder erreichen, dass in Afghanistan der Aufbau ziviler
Sicherheitsstrukturen dauerhaft verhindert und die Sicherheit dort grundsätzlich militarisiert wird. Aber auch
die Bundeswehr hätten Sie ja lieber gestern als heute abgezogen. Wer soll Ihrer Meinung nach die Ausbildung
afghanischer Sicherheitskräfte übernehmen? Oder sind
Sie der Meinung, dass das Überleben von Mädchenschulen und öffentlichen Musikaufführungen bereits ausreichend abgesichert ist?
({3})
Ich würde mich sehr freuen, wenn sich der deutsche
Beitrag zur afghanischen Polizeiausbildung eines Tages
auf die Ausstrahlung alter Derrick-Folgen beschränken
könnte.
({4})
Dieser Tag ist aber noch lange nicht gekommen. Bis er
kommt, werden wir unseren Beitrag zur afghanischen
Selbsthilfe etwas konkreter gestalten müssen.
Die afghanische Polizei ist ein zentraler Faktor beim
Aufbau des Rechtsstaats dort. Ja, die afghanische Polizei
ist alles andere als perfekt.
({5})
1) Anlage 4
Ja, es gibt dort Korruption und Misswirtschaft. Aber die
Lösung für diese Probleme kann doch nicht sein, dass
wir uns zurückziehen und sagen: Schlimm, aber wenigstens haben wir nichts mehr damit zu tun.
({6})
Deutsche Polizistinnen und Polizisten leisten einen
essenziellen, einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau eines Rechtsstaats, zum Aufbau geordneter Strukturen, zur
langfristigen Stabilisierung des Landes und damit der
ganzen Region. Die FDP-Fraktion hat seit Jahren gefordert,
dass die afghanische Regierung zunehmend ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und perspektivisch
selbst für die Sicherheit im Lande sorgen kann …
Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte … darf nicht
über Gebühr ausgedehnt werden.
Von zentraler Bedeutung für die Herstellung stabiler Verhältnisse … ist der Aufbau einer funktionstüchtigen sowie den rechtsstaatlichen Grundsätzen
verpflichteten Polizei.
So weit der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion aus der
letzten Legislaturperiode. Dazu stehen wir auch heute
noch.
Wir haben den Abzug der Bundeswehr bereits eingeleitet. Vor diesem Hintergrund wollen Sie nun auch noch
die Polizei abziehen?
({7})
Das ist verantwortungslos. Das ist menschenverachtend.
Ist Ihnen eigentlich völlig egal, was dort passiert? Nach
einhelliger Expertenmeinung wurde Afghanistan gerade
deswegen zur Brutstätte von Instabilität, weil die internationale Gemeinschaft das Land nach dem Abzug der
Sowjets alleingelassen hat.
({8})
Dieses Sicherheitsvakuum hat direkt zur Entstehung der
Taliban geführt. Und jetzt wollen Sie, dass sich dieser
Kreislauf des Elends wiederholt?
({9})
- Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Jelpke, war ich dort. Ich
war in Faizabad, ich war in Kunduz, und ich war auch in
Masar-i-Sharif. Ich habe vor Ort mit den Polizistinnen
und Polizisten gesprochen. Ich habe mich vor Ort selbst
davon überzeugen können, welche Erfolge sie dort feiern und wie gut die Ausbildung dort mittlerweile funktioniert. Ich habe vor Ort auch mit einem afghanischen
Dolmetscher gesprochen, der uns begleitet hat, als wir in
den Dörfern unterwegs waren. Er hat mich explizit auf
Folgendes hingewiesen: Wir brauchen in diesem Land
20 Jahre Frieden, eine Generation, die in Frieden aufwächst, ohne Waffen,
({10})
damit diese junge Generation die Chance hat, für dieses
Land Verantwortung zu übernehmen. - Bei diesem Frieden müssen wir ihnen helfen, und das tun wir zum Beispiel mit der Ausbildung einer rechtsstaatlich orientierten Polizei.
({11})
Natürlich gibt es Probleme bei der Ausbildung und
beim Aufbau der Polizei - das bestreitet auch niemand -;
aber die Lösung kann doch nicht sein, angesichts dieser
Probleme den Kopf in den Sand zu stecken. Wir müssen
vielmehr die Ausbildung besser gestalten und die Ergebnisse besser kontrollieren. Wir werden natürlich nicht an
den Punkt kommen, an dem sich die Polizei von Afghanistan und die von Deutschland wirklich vergleichen lassen - das ist, glaube ich, allen klar -; aber wir werden
nicht den Anspruch aufgeben, die Grundsätze eines
Rechtsstaats dort zu verankern. Das gilt insbesondere für
das staatliche Gewaltmonopol. Die Stabilität Afghanistans und die Sicherheit seiner Bevölkerung werden dann
gesichert sein, wenn zukünftige Generationen von afghanischen Jungen nicht mehr mit der Überzeugung aufwachsen, ihre Familien mit der Kalaschnikow in der
Hand verteidigen zu müssen.
Wir sind uns der Sicherheitslage in Afghanistan bewusst. Aber Ihre Behauptung, wir würden deutsche Polizisten in einen Krieg schicken, ist einfach nur falsch.
({12})
Fortschritte sind durchaus messbar. Probleme werden erkannt, und in vielen Punkten werden Lösungen gefunden. Bis 2009, bis zur Londoner Konferenz, wurde viel
zu oft und ohne Maß und Ziel agiert. Jetzt aber wird mit
einem ordentlichen Konzept gearbeitet. Das zeigt Erfolge, und wir können mehr Verantwortung übergeben.
Die Zusammenarbeit mit unseren Partnern läuft ebenfalls erheblich besser. Wir verzeichnen heute größere Erfolge als zu Beginn unseres Engagements. An dieser
Stelle können und dürfen wir nicht umkehren.
Wir müssen uns vielmehr dafür einsetzen, dass deutsche Polizistinnen und Polizisten nicht mehr nach
18 verschiedenen Regeln nach Afghanistan geschickt
werden. Ebenso darf ein Auslandseinsatz kein Hindernis
für die Karriere sein. Hier sind die Kollegen in den Ländern gefordert, sich dafür einzusetzen, dass den Polizistinnen und Polizisten, die sich für den Einsatz in Afghanistan entscheiden, kein Nachteil entsteht.
Von einem Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan kann heute keine Rede sein. Die Linke will Afghanistan fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Gut, dass
die Mehrheit in diesem Haus mehr Verantwortungsbewusstsein hat!
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist
ja nun die letzte Debatte, bevor die närrischen Tage beginnen. Da haben Sie einen beachtlichen Vorgriff geleistet, Frau Kollegin Jelpke,
({0})
sowohl durch Ihre Rede als auch durch Ihren Antrag.
Vernunft und Logik wurden da einfach suspendiert.
Sie stellen sich hier allen Ernstes hin und sagen, Korruption ist ein Riesenproblem bei der afghanischen Polizei - da widerspricht Ihnen ja niemand -, und dieses
Problem werde dadurch gelöst, dass wir unsere Ausbilder dort abziehen. Sie müssen mir einmal erklären, wo
da die Logik sein soll. Sie sagen, die USA haben ein
eher paramilitärisches Bild von der Polizei, das nicht unser Bild ist.
({1})
Nun erklären Sie einmal, warum das besser werden soll,
wenn die Europäer, insbesondere die Deutschen, ihre
Polizeiausbildung dort beenden!
({2})
Ihr ganzer Antrag ist schlechter Agitprop; das will ich
Ihnen einmal sagen. Da war sogar der Arbeiterkampf
noch vernünftiger. Ihnen wird ja immer vorgehalten,
dass Sie über das Niveau nicht hinausgekommen sind.
Aber Sie sind unter diesem Niveau gelandet.
({3})
Der Anfang dieser Polizeiausbildung war schwierig
bis missglückt; das wissen wir alle.
({4})
- Ja, er war schwierig bis missglückt.
({5})
Man hat das unterschätzt. Aber Sie merken noch nicht
einmal, dass es besser geworden ist, dass es gerade in
letzter Zeit Fortschritte gibt,
({6})
denn die Antwort auf Ihre Große Anfrage ist von 2010.
Die Polizeigewerkschaften, deren Statements Sie noch
nicht einmal verstehen, schildern natürlich die Schwierigkeiten. Sie sagen aber: Wir als deutsche Polizei wollen nicht in den Krieg gehen.
({7})
- Nein. Sie sagen auch nicht: Wir sind drin und wollen
raus. Das sagen nur Sie. Alle deutschen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sind dort freiwillig. Sie sind
dort mit Unterstützung ihrer Gewerkschaften und Berufsverbände, und sie haben auch die Unterstützung des
ganzen Hauses - mit Ausnahme der fünf Sektierer, die
hier sitzen.
({8})
Ihre Rede ist nachgerade unglaublich. Als ob die
deutsche Polizei der NATO unterstellt und Teil des Militärs wäre!
({9})
Wir haben immer um eine klare Trennung zwischen
Polizei und Militär gerungen. Wir haben keine Milizen
bei uns. Wir haben keine paramilitärischen Polizeieinheiten, keine Gendarmerie. Das wird so bleiben, weil wir
und auch andere, zum Beispiel die Gewerkschaften, darauf achten und weil es um die schwierige Frage - der
Sie sich nicht stellen - geht:
({10})
Welche Grundbefriedung muss es in den verschiedenen
Regionen Afghanistans geben, damit Polizeiausbildung
dort weiter möglich ist?
Die Kollegen haben es gesagt: Wir werden sie quantitativ sogar noch verstärken müssen. Es wurde aus Fehlern schon gelernt, aber es kann noch weiter gelernt
werden. Ihre Argumentation - rauszugehen, weil die
Schwierigkeiten so groß sind - ist die Argumentation eines Autofahrers, der sagt: Ich sehe so schlecht durch
meine verschmierte Scheibe; da kann ich mir auch gleich
die Augen zubinden. - So argumentieren Sie. Das ist bar
jeder Logik.
({11})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Günter Baumann
von der Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem an diesem Freitagnachmittag vorliegenden Antrag der Linken „Abzug deutscher Polizisten
aus Afghanistan“ beweist die Fraktion Die Linke erneut,
dass sie ein Problem mit unserer demokratischen Grundordnung und mit den internationalen Verpflichtungen,
die wir weltweit eingehen, hat.
Ich möchte ausdrücklich betonen, Frau Jelpke: Ihr
Antrag ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die bereit sind, in Auslandsmissionen Hilfe zu leisten, die für
Freiheit und Demokratie stehen.
({0})
- Ich glaube daran. - Auch mit anderen Anträgen haben
Sie uns in der letzten Zeit beschäftigt. Ich denke an die
Kennzeichnungspflicht für Angehörige der Bundespolizei - das war eine ähnliche Aktion - und an die Begrenzung des Einsatzes von Pfefferspray.
({1})
Damit zeigen Sie immer wieder, dass Sie Probleme mit
unserer Demokratie haben.
In Afghanistan - das muss man deutlich sagen - geht
es um eine Friedensmission, die Hilfe für die Bevölkerung bedeutet, welche seit Jahrzehnten unterdrückt wird
und diese Hilfe gerne haben möchte. In dieser Mission
leisten 47 Länder gemeinsam Hilfe. Das ist also keine
deutsche Aktion, wie Sie das zum Teil immer darstellen.
Eine breite Mehrheit dieses Parlamentes hat diese Einsätze beschlossen.
({2})
Im Jahr 2011 waren rund 770 Beamte von Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Zoll und Länderpolizeien
an sieben verschiedenen Friedensmissionen der Europäischen Union, an vier Missionen der Vereinten Nationen
und an drei bilateralen Projekten an den verschiedensten
Krisenherden dieser Welt beteiligt. Es ist wichtig, dass
wir diese Hilfe leisten.
Es geht darum, demokratische Werte zu vermitteln
und Freiheit und Sicherheit vor Ort zu fördern, um eine
Hilfe für die Menschen unmittelbar in der Region. Dass
diese Hilfe unter oft schwierigen Bedingungen geleistet
wird, ist klar. Das wissen wir. Einige Beispiele, die Sie
in diesem Zusammenhang genannt haben, sind durchaus
richtig. Aber das ist natürlich nicht die Mehrzahl. Sicherlich gibt es Probleme, deswegen müssen wir auch - Herr
Schuster hat es deutlich gesagt - ganz besonders unseren
Polizistinnen und Polizisten, die diesen Einsatz im Ausland unter schweren Bedingungen leisten, von dieser
Stelle aus ganz herzlich danken.
({3})
Deutschland hilft in Afghanistan seit 2002 beim Aufbau einer Polizei. Eine funktionierende und rechtsstaatliche Polizei ist die Grundlage für Demokratie, für einen
funktionierenden Staat.
Die Ausbildung afghanischer Polizeikräfte verläuft
keineswegs so desaströs, wie Sie es darstellen. Es ist einfach eine schwierige Mission, die wir dort durchführen
müssen, um dem Land zu helfen. Bisher - Stand Oktober
2011 - gibt es rund 139 000 Polizisten in Afghanistan.
Ziel ist es, diese Zahl bis Oktober dieses Jahres auf
157 000 zu erhöhen. Dafür hat Deutschland gegenwärtig
200 Polizisten im Land, die dort die Ausbildung durchführen. Das ist wichtig für den Staat. Deutschland leistet
damit Entwicklungshilfe beim Staatsaufbau in Afghanistan. Das muss man ganz deutlich sagen. Herr Schuster
hat bereits auf die Bedeutung hingewiesen; das kann ich
mir sparen.
Das Train-the-Trainer-Programm, mit dem wir afghanische Polizisten zu Trainern ausbilden, damit die Afghanen ihre Polizisten selbst ausbilden können, funktioniert sehr gut. Hier erzielen wir eine ganze Reihe von
Erfolgen.
Meine Damen und Herren der Linksfraktion, Schwierigkeiten, die es durchaus gibt, dürfen nicht zu der
Schlussfolgerung führen, dass wir jetzt aufhören und die
Polizeiausbilder abziehen müssen. Das wäre der falsche
Weg. Wir müssen unseren internationalen Verpflichtungen gerecht werden und uns diesen Herausforderungen
stellen. Das tun wir auch.
Es geht langfristig um einen geordneten Übergang,
den Aufbau einer afghanischen Sicherheitsarchitektur im
Land, um die Souveränität des Landes Afghanistan herzustellen. Das geht nun einmal nicht ohne Polizei. Deswegen leisten wir diesen Beitrag. Konsequenz aus den
Schwierigkeiten kann nicht sein, aufzuhören.
Wir leisten auch eine ganze Reihe anderer Hilfen,
zum Beispiel durch Alphabetisierungskurse, Ausbildungseinheiten, die die Wahrung der Menschenrechte
zum Inhalt haben, sowie ein transparentes Lohnüberweisungssystem, um dem Thema Korruption entscheidend
zu begegnen. Alle Maßnahmen bringen Schritt für
Schritt Erfolg, aber sie reichen bei weitem noch nicht
aus. Ein Rückzug wäre jetzt der absolut falsche Weg.
Mit Blick auf die Geschichte dieses Landes - 30 Jahre
Unterdrückung, 30 Jahre Bürgerkrieg - wird deutlich,
dass wir weitermachen müssen, damit die positiven Entwicklungen fortgesetzt werden.
Der Polizeieinsatz verlangt Engagement und Geduld;
der Erfolg stellt sich nicht von heute auf morgen ein. Die
Beispiele aus anderen Ländern dieser Welt, die Herr
Schuster bereits angeführt hat, zeigen ja, dass es funktioniert. Ich denke zum Beispiel an die EULEX-Mission im
Kosovo. Dort haben wir jahrelang gearbeitet und müssen
auch heute noch Aufgaben erfüllen. Aber die Erfolge
sind eindeutig da. Beratung, Ausbildung, Personalentwicklung sind der richtige Weg, um ein Land in die
Selbstständigkeit zu führen. Auch nach der Proklamation der Unabhängigkeit von 2008 ist im Kosovo nach
wie vor Unterstützungsarbeit erforderlich. Das dauert
eben seine Zeit. Dies wird auch der Weg für Afghanistan
sein.
Auch wenn wir 2014 die Sicherheitsverantwortung an
Afghanistan übergeben, werden wir und die internationale Staatengemeinschaft das Land weiter gemeinsam
unterstützen müssen. Wir werden die afghanische Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, nicht im Stich lassen. Wir werden auch nicht, wie es die Linken in ihrem
Antrag fordern, einfach davonrennen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Abzug deutscher Polizisten aus
Afghanistan“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8443, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4879 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktionen,
der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Montag, den 27. Februar 2012, 15 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.