Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
Eintritt in die Tagesordnung müssen wir zwei Wahlen
durchführen.
Die Fraktion Die Linke schlägt vor, für die aus dem
Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidende Kollegin Sabine Leidig die Kollegin Ingrid Remmers als ordentliches Mitglied zu berufen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist die Kollegin hiermit gewählt.
Der Kollege Ulrich Lange hat sein Schriftführeramt
niedergelegt - unverständlicherweise.
({0})
Als neuen Schriftführer schlägt die Fraktion der CDU/
CSU den Kollegen Peter Aumer vor. - Das ist offenkundig auch nicht ernsthaft umstritten. Dann ist der Kollege hiermit gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 13 b abzusetzen und die Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Energieeffizienz, Energieeinsparung, Erneuerbare-Energien-Gesetz - Haltung der Bundesregierung angesichts der unterschiedlichen
Positionen der beteiligten Bundesministerien
({1})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({2}), Claudia
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Marktwirtschaftliche Industriepolitik für
Deutschland - Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft
- Drucksache 17/8585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 25
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von
Sportwetten
- Drucksache 17/8494 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette
Kramme, Hubertus Heil ({5}), Gabriele HillerOhm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Schutz von Hinweisgebern - Whistleblowern ({6})
- Drucksache 17/8567 18834
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Neuordnung des
Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts
- Drucksachen 17/6052, 17/6645, 17/7505 ({2}),
17/7931, 17/8568 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Altmaier
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Gesetz zur Änderung telekommunikations-rechtlicher Regelungen
- Drucksachen 17/5707, 17/7521, 17/7930,
17/8569 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
EU-Fiskalpakt - Auswirkung auf Demokratie
und Sozialstaat
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Verfahren gegen deutsche politische Stiftung
einstellen - Demokratisierungsprozess in
Ägypten fortsetzen
- Drucksache 17/8578 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia
Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Arbeitslosengeld statt Hartz IV - Zugang zur
Arbeitslosenversicherung erleichtern
- Drucksache 17/8586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus
kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten
weiteren Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich noch auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 26. Januar 2012 ({5}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({6}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 17/8364 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Der am 26. Januar 2012 ({8}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({9}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Energieverbrauchskennzeichnungsrechts
- Drucksache 17/8427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege
Norbert Barthle hat am 1. Februar seinen 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hauses möchte ich
ihm dazu auch auf diesem Wege herzlich gratulieren.
({11})
Heute hat im Übrigen ein Mann Geburtstag, der weltweit als eine der herausragenden Künstlerpersönlichkeiten unserer Zeit gilt. Gerhard Richter, in Dresden geboren, jetzt in Köln lebend, feiert heute, übrigens in Berlin,
seinen 80. Geburtstag, zu dem ich ihm im Namen des
ganzen Hauses herzlich gratulieren möchte.
({12})
Wir verdanken ihm ein grandioses Lebenswerk, und
wir sind stolz, dass wir hier, im Reichstagsgebäude, in
der Eingangshalle West, eine seiner außergewöhnlichen
Arbeiten haben: „Schwarz Rot Gold“, korrespondierend
mit der Nationalflagge auf dem Platz der Republik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat die Präsidentin des Parlaments der Republik
Albanien, Frau Jozefina Topalli, mit ihrer Delegation
Platz genommen.
({13})
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich. Ich
wünsche Ihnen und allen Ihren Kolleginnen und Kollegen weiterhin viel Erfolg bei dem ebenso engagierten
Präsident Dr. Norbert Lammert
wie zweifellos mühsamen Weg der weiteren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Ihres Landes.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ({14})
- Drucksachen 17/7916, 17/8495 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({15})
- Drucksache 17/8616 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Proteste höre
ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Gitta Connemann für die CDU/
CSU-Fraktion.
({16})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin von der Leyen! Frau Ministerin Aigner! Ich
bin auf einem Hof in Ostfriesland aufgewachsen. Mein
Vater war Landwirt, wie es heute mein Bruder ist. Wir
sind in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung groß
geworden. Mein Vater engagierte sich dort ehrenamtlich.
Deshalb sind für mich die Begriffe, um die es heute geht,
wie LKK, LBG oder LAK Begriffe, die für mich und
meine Familie mit Schutz zu tun hatten. Bei Krankheit
half uns die HLKK, und nach dem schweren Unfall meines Vaters unterstützte uns die Berufsgenossenschaft.
Meine Mutter erhält heute eine Bäuerinnenrente. Die
landwirtschaftliche Sozialversicherung bedeutete und
bedeutet auch noch heute für uns Schutz und Sicherung.
Meine Familie steht stellvertretend für viele Landwirte, Gärtner, Waldbauern, Fischer, Imker und ihre Familien. Sie alle vertrauten und vertrauen nach wie vor
auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung, auf ihr
eigenständiges System für den Fall der Not - Hilfe vom
Berufsstand für den Berufsstand -, und zwar seit 1888.
Aber wir müssen feststellen, dass dieses System in die
Jahre gekommen ist. Der rasante Strukturwandel im grünen Bereich hält an. Kleinere Höfe sind heute kaum
mehr wettbewerbsfähig, und die anderen stehen in brutalster Konkurrenz. Discounter diktieren die Preise. Die
Verbraucher in unserem Land haben sich leider an Lebensmittel zum Schleuderpreis gewöhnt - mit entsprechenden Folgen für die Betriebe. Die Konsequenz: Die
Zahl unserer grünen Betriebe nimmt Jahr für Jahr stetig
ab, mit Ausnahme der Betriebe des Gartenbaus.
Dies hat nicht nur Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf unsere Kulturlandschaft, sondern gerade auch
auf unsere berufsständische Sicherung. Auf einen aktiven Landwirt kommen heute 2,5 Altenteiler. Der Bund
puffert 70 Prozent der Ausgaben ab. Das machte im Jahr
2011 circa 3,9 Milliarden Euro aus dem Agraretat aus,
Frau Ministerin Aigner - aus einem Etat, den Sie deshalb zu Recht als soziale Leistung ansehen.
({0})
Damit werden nicht nur Leistungen der Versicherten
finanziert, sondern auch ein recht großer Verwaltungsapparat. In Deutschland gibt es zwei Bundesträger, nämlich einen für den Gartenbau und einen für die neuen
Länder. Hinzu kommen sieben regionale Träger von
Schleswig-Holstein bis Bayern. Die Aufsicht liegt bei
den jeweiligen Ländern. Der Bund zahlt zwar, bestellt
aber nicht die Musik. Das schafft manchmal Probleme.
Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesrechnungshof schon lange, aus den neuen Trägern einen einheitlichen Bundesträger zu bilden. Der Bundesrechnungshof verspricht sich davon mehr Effektivität, mehr
Wirtschaftlichkeit und stärkere Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes. Unterstützung bekam der Bundesrechnungshof schon sehr frühzeitig vom Berufsstand; denn
hohe Verwaltungskosten belasten das ohnehin magere
Budget der Versicherten.
Bereits 2007 kam es im Rahmen der Großen Koalition zu einer Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, und zwar verbunden mit einem damals einmaligen Vorgang. Die Versicherten selbst nahmen sich
damals nämlich in die Pflicht: Sie schlugen vor, eigene
Ansprüche zu kürzen, um das System zu sichern. So
sollten stabile Beiträge erreicht werden. Das war ein einmaliger Vorgang, für den wir dem Berufsstand noch
heute zu Dank verpflichtet sind. Das sage ich an dieser
Stelle sehr deutlich.
Wir haben dieses Ziel mit Maßnahmen unterstützt,
unter anderem mit der Forderung, die Verwaltungskosten um 20 Prozent zu reduzieren. Danach hat sich unendlich viel getan. Daran haben sehr viele mitgewirkt: die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, aber auch die ehrenamtlich Engagierten in der Selbstverwaltung, in der Landwirtschaft,
im Gartenbau und bei den Forsten. Für die Union sage
ich ihnen allen an dieser Stelle Danke.
({1})
Aber einige Ziele sind nicht erreicht worden. Die Verwaltungskosten blieben zu hoch, und mit Ausnahme des
Gartenbaubereichs blieben auch die regionalen Beitragsunterschiede. Heute wird ein Mutterkuhbetrieb oder ein
Pferdehaltungsbetrieb je nach Region unterschiedlich
zur Kasse gebeten, und das trotz gleichen Risikos. Das
führt in Deutschland zu durchaus schmerzhaften, spürbaren Wettbewerbsverzerrungen. Das können wir dauerhaft nicht akzeptieren und nicht zulassen.
Darauf reagierte übrigens einmal mehr die Landwirtschaft selbst. Ein Gutachten wurde in Auftrag gegeben
mit der Vorgabe: Zukünftig sollen identische Betriebe in
Deutschland dieselben Beiträge zahlen. Herr Professor
Bahrs machte dazu Vorschläge, zuerst der landwirtschaftlichen Sozialversicherung und dann auch dem Gesetzgeber. Daran schloss sich eine Diskussion an - innerhalb und außerhalb der Landwirtschaft, zwischen den
unterschiedlichen Sparten, zwischen den Ländern übrigens auch -, die an der einen oder anderen Stelle durchaus sehr schmerzhaft war. Es wurde leidenschaftlich diskutiert. Das ist nachvollziehbar; denn alle Beteiligten
wussten und wissen um die Bedeutung dieses Systems.
Hoffnungen und Ängste wurden vorgetragen, Argumente für und wider wurden ausgetauscht. Am Ende der
Diskussion innerhalb des Berufsstands gab es ein Ergebnis, und dieses Ergebnis lautete: Für uns bedeutet ein
Bundesträger mehr Chance als Risiko. Weil wir eine
kluge Politik machen, hören wir auf die Betroffenen und
haben gesagt: Wir werden handeln, und zwar in diesem
Sinne. Die Bundesregierung hat den Auftrag angenommen. Sie stellte übrigens 150 Millionen Euro zusätzlich
bereit, um die Neugestaltung zu flankieren. Das ist ein
erheblicher Schritt. Dafür sage ich an dieser Stelle der
Bundesregierung und dem Haushaltsausschuss, Frau
Ministerin Aigner und Frau Ministerin von der Leyen
herzlichen Dank.
({2})
Die Bundesregierung legte den Gesetzentwurf vor,
über den wir heute abstimmen werden. Etwas, das uns
als Union ungeheuer wichtig ist, steht ganz am Anfang
dieses Gesetzentwurfs, nämlich dass die Eigenständigkeit dieses Systems erhalten bleibt. Mich hat die Forderung vonseiten der Linken gestern betroffen gemacht.
Sie haben gesagt: Wir brauchen kein eigenständiges System, führen wir doch das System in die gesetzliche Rentenversicherung über. Das zeigte: Man hat sich mit dem
System nicht befasst, und man hat übrigens wohl auch
nicht mit dem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung gesprochen.
({3})
Angesichts dessen sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Wir wollen dieses System. Deshalb sind solche Forderungen mit uns nicht umzusetzen.
({4})
Die Bundesregierung hat die Grundlage für einen einzigen Träger in ganz Deutschland geschaffen. Er wird
zukünftig den Namen tragen: Sozialversicherung für
Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau. Er umfasst die
bisherigen neun Träger. Die Aufgaben werden zukünftig
zweistufig auf Bundesebene und regionaler Ebene wahrgenommen. So entsteht eine völlig neue Solidargemeinschaft. Bis 2017 soll die neue Selbstverwaltung die
Möglichkeit haben, Maßstäbe für einheitliche Beiträge
in ganz Deutschland zu entwickeln, übrigens mit entsprechenden Differenzierungen. Wir werden eine feste
Obergrenze für die Verwaltungskosten festlegen. Ich
sage für die Union: Dies ist ein kluger Gesetzentwurf.
({5})
Mit unseren Anträgen reagieren wir als Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf die Anhörung zu diesem
Gesetzentwurf. Ich habe selten eine Anhörung erlebt, in
der die Sachverständigen sich so einig in ihrer grundsätzlichen Zustimmung waren. Es wurde gesagt: Dieser
Entwurf trägt den Belangen der Landwirtschaft Rechnung; denn der Bestand des Systems wird gewährleistet.
Allerdings wurde an einigen Punkten Nachbesserungsbedarf angemahnt. Wir haben deshalb, liebe Marlene
Mortler, lieber Max Straubinger, lieber Edmund Geisen,
lieber Toni Schaaf, miteinander gerungen und am Gesetzentwurf entsprechend gefeilt. Das war mit sehr viel
Arbeit verbunden. Mein Dank gilt deshalb nicht nur den
Mitarbeitern der Ministerien, den Kollegen in den Ausschüssen für Arbeit und Soziales und für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, sondern auch
den Berichterstattern der CDU, der CSU, der FDP und
durchaus auch der SPD. Unser Ergebnis kann sich sehen
lassen.
Erstens. Dieses Ergebnis ist gut für den Gartenbau.
Seit 100 Jahren besteht die Gartenbauberufsgenossenschaft. Sie lebte schon früh, was jetzt mit diesem Gesetzentwurf bezweckt wird: Die Versicherten werden zentral
betreut, und die starke fachliche Begleitung hat zu einer
beispiellosen Präventionsarbeit in den Betrieben geführt.
({6})
Die Zahl der Arbeitsunfälle wurde von Jahr zu Jahr verringert. Dadurch wurde übrigens nicht nur menschliches
Leid verhindert, sondern es wurden auch Kosten gesenkt. Da die Gartenbaubetriebe mit landwirtschaftlichen Betrieben nicht immer vergleichbar sind, hatten
diese Angst um ihr eigenes Profil. Wir haben diese
Ängste aufgegriffen und viele Forderungen aufgenommen. So bleibt die zentrale fachliche Betreuung erhalten.
Im Mittelpunkt dieses Gesetzes steht nämlich die Fachkunde - ein ganz wichtiges Kriterium - und nicht die
Ortsnähe.
Wir stellen sicher, dass mehrere Beitragsmaßstäbe gebildet werden können, nicht nur nach Gefahrenklassen,
sondern auch nach dem Arbeitswert, der heute schon im
Gartenbau verwendet wird. Die Haftpflichtversicherungsanstalt der Gartenbau-BG kann zukünftig als eigenständige berufsständische Einrichtung betrieben werden.
Darüber hinaus werden über 2017 hinaus Fachgremien
geschaffen, übrigens mit eigenen Vorschlagsrechten. Sie
sind also kräftig ausgestattet.
Zweitens. Wir entsprechen nicht nur dem Anliegen
des Gartenbaus, sondern auch dem der Waldbesitzer und
damit letztlich dem der Landwirtschaft. Diese wünschten sich ein auf Dauer eingerichtetes Fachgremium, um
eigene Vorschläge zur Präventionsarbeit entwickeln zu
können.
Eine weitere Forderung der Waldbesitzer war die Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Errichtungsausschusses; auch diesem Anliegen tragen wir Rechnung.
Diese Forderung wurde vom Deutschen Bauernverband
und von fast allen Sachverständigen geteilt. Zukünftig
wird der Errichtungsausschuss 27 Mitglieder umfassen.
Damit ist gewährleistet, dass jeder Träger mit drei PerGitta Connemann
sonen, die unterschiedlichen Gruppen angehören - den
Arbeitnehmern, den Arbeitgebern und welcher Gruppe
auch immer -, vertreten ist.
Drittens. Für uns als Union nahmen die Anliegen der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen ganz großen
Raum ein. Wir wollen die Reform nicht gegen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern mit ihnen machen.
Wir erkennen durchaus, welche Vorleistungen diese in
der Vergangenheit erbracht haben. Viele von ihnen
haben schon etliche Fusionen, Reformen und Organisationsänderungen hinter sich; sie haben sie übrigens stets
mitgetragen. Dass die Sozialversicherung ein Erfolgsmodell ist, ist auch und gerade den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern zu verdanken. Deswegen sage ich auch an
ihre Adresse Danke.
({7})
Wir haben, auch ohne Änderungsanträge, frühzeitig
dafür gesorgt, dass die Gemeinsame Personalvertretung
nicht nur zu den Sitzungen des Errichtungsausschusses
eingeladen, sondern auch informiert und beteiligt wird.
Denn es soll nicht über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern mit ihnen geredet werden. Dafür brauchen sie Informationen. Um die gerade in der Anfangszeit erforderliche Kontinuität zu gewährleisten, haben
wir ihre Amtszeit bis Ende 2012 verlängert.
Auf unseren Antrag hin hat das Gesetz eine weitere
Zielvorgabe erhalten: Die Neuorganisation muss sozialverträglich erfolgen. Dieser Grundsatz ist bei der Aufstellung aller neuen Regelungen zu beachten. Damit
können wir gegebenenfalls Ängste nehmen. Auf Wunsch
der Personalvertretung verpflichten wir den neuen Träger, allen Mitarbeitern schriftlich zu bestätigen, dass die
bisherigen Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse fortgesetzt werden, und zwar ohne jegliche Änderung.
Vorgesehen war auch eine zwangsweise Versetzung in
den einstweiligen Ruhestand. Dazu sage ich für die
Union sehr deutlich: Das halten wir für unzumutbar;
denn die Einschnitte für die Betroffenen sind erheblich.
Jemand, der im mittleren Dienst beschäftigt ist und zwei
Kinder hat, die in der Ausbildung sind, braucht das Einkommen. Deshalb fordern wir in unseren gemeinsamen
Anträgen, dass Dienstordnungsangestellte, die nach Besoldungsordnung A besoldet werden, nur mit ihrer eigenen Zustimmung in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können. Ich glaube, das ist weise und
sozialverträglich.
Es gibt natürlich auch Forderungen, die wir nicht
erfüllt haben. Dazu gehören beispielsweise Forderungen
der Länder, die das bisher bestehende System am liebsten in toto festgeschrieben hätten. Ich sage an die
Adresse der Länder sehr deutlich: Damit hätten wir den
neuen Träger in einer Art und Weise gefesselt, dass er
von vornherein nicht in der Lage gewesen wäre, die
Ziele, die wir ihm vorgeben, zu erfüllen. Das wäre
vollkommen kontraproduktiv. Wir geben ihm ein Stück
Freiheit.
({8})
Bei der Hofabgabeklausel nehmen wir gewisse Änderungen vor; darauf werden meine Kollegen noch eingehen. Ich muss allerdings sagen: Die Forderung der
Grünen nach Abschaffung bzw. ersatzloser Streichung
dieser Klausel hat mich sehr erschrocken. Auch wenn es
vielleicht keine nennenswerte Zahl von Petenten, die
davon wirklich betroffen sind, gibt, ist dies eine Forderung ins Blaue hinein. Denn keiner von uns weiß heute,
wie sich eine solche Änderung zum Beispiel auf die Entwicklung des Bodenmarktes auswirken würde. Boden ist
schon heute ein knappes Gut. Unsere Bauern beklagen
den Landfraß. Dem sollten wir keinen Vorschub leisten,
sondern wir sollten lieber die Ergebnisse der Gutachten
des Agrarministeriums abwarten.
({9})
Ich sage an dieser Stelle: Wir sind heute sicherlich
nicht das letzte Mal zusammengekommen, um über die
landwirtschaftliche Sozialversicherung zu sprechen. Die
landwirtschaftliche Sozialversicherung ist kein statisches System; denn der Strukturwandel wird anhalten.
Mit diesem Gesetzentwurf gewährleisten wir nach der
heutigen Entscheidung den Bestand des Systems, das
sich seit 1888 bewährt hat. Wir machen es fit für die
Zukunft und schaffen die gleichen Voraussetzungen für
alle Betriebe in Deutschland.
Enden möchte ich mit einem Satz des Sachverständigen Dr. Bahrs aus der Anhörung. Er wurde gefragt:
Glauben Sie, dass wir mit diesem Gesetzentwurf die
Grundlage für mehr Gerechtigkeit schaffen?
Das muss jetzt aber etwas mehr gerafft erfolgen, Frau
Kollegin.
Glauben Sie mir, Herr Präsident.
Ich glaube es aufs Wort.
({0})
Wunderbar. Glauben Sie mir, Herr Präsident, auch
wenn Sie nicht bei der Anhörung waren. - Genau dieser
Gutachter sagte: Wir schaffen die Grundlage für mehr
Gerechtigkeit. - Deswegen bitte ich heute, dem Gesetzentwurf und unseren Bemühungen um mehr Gerechtigkeit zuzustimmen.
({0})
Wenn ich hinsichtlich der elenden Bewirtschaftung
der Redezeit nicht der Gerechtigkeit verpflichtet wäre,
wäre auch für mich manches einfacher.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nächster Redner ist der Kollege Wilhelm Priesmeier
für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte
Frau Connemann, wenn der Präsident Ihnen schon
glaubt, dann müsste ich Ihnen an sich ebenfalls glauben.
Das tue ich heute auch einmal.
({0})
Ich teile natürlich Ihre Einschätzung, dass wir uns
heute nicht das letzte Mal über die landwirtschaftliche
Sozialversicherung unterhalten. Den Optimismus, den
Sie hier bezüglich des Systems ausstrahlen, kann ich
allerdings nicht in Gänze und uneingeschränkt teilen.
Wir tragen die Last des Strukturwandels seit vielen Jahrzehnten auch über Steuermittel und über Mittel unseres
Haushaltes; das ist eine bewusste Entscheidung. Wer
dieses System kennt und sich damit und auch mit seiner
Entstehungsgeschichte beschäftigt hat, der weiß, dass
die Ausprägung dieses Systems, wie wir es heute kennen, letztendlich auf eine Vereinbarung aus dem Jahre
1971 zwischen Willy Brandt, Herbert Wehner und dem
damaligen Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes
Heereman zurückgeht.
({1})
Damals ist ein weiteres Standbein eingeführt worden,
das uns heute allen so wichtig ist, nämlich die landwirtschaftliche Krankenkasse. Manche wissen das vielleicht
aus eigener Anschauung, weil sie, wie ich, in landwirtschaftlichen Betrieben aufgewachsen sind, und sie wissen auch, wie es damals war, wenn der Großvater krank
war. Die Großmutter ging dann, wie bei mir zu Hause,
an den Schrank und nahm nach jedem Besuch des Arztes
Geld heraus, um ihn bar zu bezahlen.
Damals waren 40 Prozent der Landwirte schlecht
oder gar nicht krankenversichert. Vor allen Dingen
konnten sich eine Krankenversicherung die kleinen und
mittleren Landwirte nicht leisten. Wir als Sozialdemokraten haben damals auch diese soziale Frage aufgegriffen und dieses Problem im Sinne der sozialen Gerechtigkeit letztendlich auch gelöst. Darum bekennen wir uns
zu dem System der sozialen Sicherung auch im landwirtschaftlichen Bereich. Das ist für uns und unsere Agrarpolitik in den letzten Jahrzehnten essenziell gewesen.
Aus dem Grunde werden wir diesem Gesetzentwurf
unsere Zustimmung heute auch nicht versagen, obwohl
wir bis zu gewissen Graden natürlich auch Kritik an dem
gegenwärtigen Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt,
anzumerken haben.
Klar ist, dass wir dieses soziale Sicherungssystem
nicht ohne Weiteres in andere Bereiche übertragen können. Klar ist aber auch, dass wir ein effizientes und
schlankes System brauchen, im Sinne der Beitragszahler
und auch im Sinne der Steuerzahler. Aus dem Grunde ist
es konsequent, das, was die Sozialdemokraten schon
1995 anlässlich der damaligen Reform und auch später
gefordert haben, nämlich die Schaffung eines einheitlichen Bundesträgers, heute umzusetzen, auch wenn die
Ausgestaltung in einzelnen Bereichen nach meiner Einschätzung noch einer gewissen Klarheit bedarf.
Wir alle wollen, dass die Zahl der Beschäftigten bei
den jetzigen Trägern im Zuge der Verschmelzung auf
einen Träger erhalten bleibt. Nach meiner Einschätzung
reicht es hier nicht, wenn man die fragliche Formulierung in „fachlich umfänglich“ ändert, weil es vor allen
Dingen im Bereich der Landesbauernverbände in erheblichem Maße Auslagerungen von Dienstleistungen gibt.
Ich zitiere aus dem Spiegel vom 22. November 1976:
Nebenbei nimmt der BBV
- der Bayerische Bauernverband aber bei einschlägigen Versicherungsberatungen in
den BBV-Geschäftsstellen noch „Unkostenvergütungen“ von den berufsständischen Sozialversicherungsträgern ein: … 400 000 Mark.
Das war damals.
Ich glaube, dieses Verfahren ist kritisch zu hinterfragen. Nicht alle Landesbauernverbände sind in dieser
Form von den Sozialversicherungsträgern bezahlt worden. Entsprechend bezahlt worden sind Bayern, BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen. Aber ich kann
nicht erkennen, warum für die aufgrund der Mitgliedschaft zu erbringende Beratungsdienstleistung eines
Landesbauernverbandes oder eines Bauernverbandes in
Gänze dann auch noch Geld für das Entgegennehmen
und das Weiterleiten der Anträge gezahlt wird. Von diesem Gedankengang muss man sich trennen.
Wenn man sich anschaut, wie die Vertreterversammlungen zusammengesetzt sind, dann erkennt man natürlich, warum das so sein könnte. Ich spekuliere einmal:
Die beiden großen Listen, über die in dem Fall die
Zusammensetzung der Vertreterversammlung entscheidend mitbestimmt - zum einen über die der Landwirte
und zum anderen über die der Landwirte mit Beschäftigten -, sind Landesbauernverbandslisten. Insofern hat das
Ganze für mich etwas Überkommenes. Es geht hier
darum, sich Klarheit zu verschaffen und für mehr Klarheit zu sorgen.
Das System der landwirtschaftlichen Sozialversicherung hat in hervorragender Weise den vorauszusehenden
Strukturwandel bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bewältigt. Diese Erkenntnis hat es - das sieht man, wenn man
die Diskussionen der Anfangszeit in den Plenarprotokollen verfolgt - schon damals gegeben. Der Grund dafür,
dass das System instabil ist, ist natürlich der Strukturwandel, dem das System der Versicherung zum Beispiel
mit der Schaffung der Hofabgabeklausel begegnen
wollte.
Ich glaube, dass uns das System der Sozialversicherung, an dem wir heute so etwas Ähnliches wie eine
Notreparatur vornehmen und in das wir die Aufsicht
über den Gartenbau einfügen, damit es längerfristig exisDr. Wilhelm Priesmeier
tieren kann, sorgenvoll beschäftigen wird; denn mehr als
50 Prozent der an sich versicherungspflichtigen Landwirte haben sich aus dem System befreien lassen.
({2})
Wir als Politiker haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das System immer weiter entsolidarisiert
wird. Jetzt haben wir das in der Weise mitzutragen, dass
wir dem System immer mehr Mittel aus öffentlichen
Haushalten zuführen müssen, um die Altlasten, also die
Kosten für die Renten, zu finanzieren, da diese aus den
Versicherungsbeiträgen der Versicherungspflichtigen
nicht mehr finanziert werden können.
Auch die zukunftsfähigen Vollerwerbsbetriebe entfernen sich von diesem System immer weiter; denn sie sind
letztendlich in der Lage - weil sie sich als Unternehmer
verstehen - eigenständig Vorsorge zu treffen. Insofern
steht bei diesen Betrieben der Solidargedanke relativ
weit hinten. Das zeigt eine weitere Gefahr dieses Systems auf: Ich habe berechtigte und ernsthafte Zweifel, ob
sich dieses System nach 2020, wenn sich die Zahl der
Vollerwerbsbetriebe wiederum halbiert haben wird, in
der Weise, wie wir das jetzt noch kennen, fortführen
lassen wird.
({3})
Der mit dem System intendierte Strukturwandel zeigt
auch die Grenzen dieses Systems auf. Daher hat ein
wesentlicher Punkt, den Sie hier nicht angesprochen
haben, die sogenannte Hofabgabeklausel, an sich längst
ihre agrarstrukturelle Bedeutung verloren. Wir müssen
erkennen, dass wir eine ganze Reihe von kleinen und
mittleren Betrieben haben, deren Besitzer an sich hervorragend gewirtschaftet haben, aber relativ wenig
eigene Fläche haben. Diese Betriebsinhaber haben hinterher unter Umständen einen Anspruch auf 400, 480
oder knapp 500 Euro Rente aus der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung, haben aber keine erheblichen Pachteinnahmen, wenn sie ihren Betrieb aufgeben und weiterverpachten. Insofern müssen sie ihren Betrieb eigentlich
unter anderen Voraussetzungen weiterführen. Das können sie aber nicht, weil wir sie zwingen, ihren Hof abzugeben.
Dazu kommt, dass etwa 70 Prozent der befragten
186 000 Betriebe, die noch in Vollerwerb sind, keine
oder eine nicht geregelte Hofnachfolge haben. Das
macht deutlich, dass die Streichung der Hofabgabeklausel und die Neufassung der Voraussetzungen für den
Bezug der Altersrente längst überfällig sind. Das hätte
längst geschehen müssen.
({4})
In einer Gesellschaft, in der wir auch von Menschen,
die älter als 65 Jahre sind, erwarten, dass sie sich einbringen und eventuell noch beruflich oder unternehmerisch tätig sind, ist es ein Anachronismus, wenn man
jemanden zwingen will, seine berufliche Tätigkeit nur
deshalb aufzugeben, um in den Genuss der Rente zu
kommen. Ich sehe dahinter eher das Lobbyinteresse des
Deutschen Bauernverbandes, der auf dieser Klausel
besteht, weil in diesem Verband diejenigen vertreten
sind, die besonders schnell in den Genuss kommen wollen, bestimmte Flächen pachten zu können. Diejenigen
bestimmen dort nämlich die Politik, die zukunftsfähige
Betriebe haben.
Insofern sollten wir, glaube ich, etwas ehrlicher damit
umgehen und diesen Lobbyinteressen nicht in der Form
nachkommen, wie wir es bislang getan haben. Es kann
nicht nach dem Motto „Bezahlen ja, aber Rente nein“
gehen. Ich glaube, wir sollten zu flexibleren Regelungen
kommen. Wenn das heute nicht gelingt, dann sollten wir
zumindest demnächst noch einmal den Versuch unternehmen, die Klausel zu streichen, zumal schon seit den
80er-Jahren klar ist, dass 30 bis 40 Prozent aller Übergabeverträge Scheinverträge sind. Ich war zehn Jahre
lang auf der kommunalen Ebene Mitglied eines Grundstücksverkehrsausschusses und habe die Pachtverträge
der Kunden meiner tierärztlichen Praxis gesehen und
gelesen, was unter welchen Voraussetzungen übergeben
oder verpachtet worden ist. Demnach ist die Zahl von 30
bis 40 Prozent Scheinverträgen realistisch.
Wir drängen die alten Landwirte in eine Situation der
Rechtsunsicherheit, die nicht hinzunehmen ist, zumal
auch die Scheinpächter im Regelfall zu 100 Prozent von
der landwirtschaftlichen Rentenversicherung befreit sind
oder schon Zahler sind und insofern keine erheblichen
Beitragsausfälle zu befürchten sind. Seien wir ehrlich:
Weg mit der Hofabgabeklausel! Sie hat sich überlebt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Geisen hat nun das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die gut aufgestellten grünen Branchen wie Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Gartenbau waren schon
immer der Erdungsanker für die ganze Gesellschaft. Die
Eigenständigkeit der grünen Berufe hat sich immer für
die Allgemeinheit gelohnt und zur Erhaltung florierender ländlicher Räume beigetragen.
({0})
Die stetigen Veränderungen und die demografischen
Entwicklungen zwingen natürlich auch hier die Politik
zur Anpassung. Ein Gesetz zur Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist also dringend
geboten, will man die Eigenständigkeit und die Selbst18840
verwaltung erhalten, die sich über fünf Jahrzehnte
bewährt haben.
Für die FDP lautete immer die klare Devise: „Das
Gute bewahren und zeitgemäße Anpassungen vornehmen“.
({1})
Dazu gehören die wesentlichen Prämissen wie: Souveränität wahren, Solidarität der grünen Berufe stärken und
gute Rahmenbedingungen für die Zukunft setzen.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Neuordnung der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung mit den Änderungsvorschlägen der christlich-liberalen Koalition wird
den genannten Ansprüchen gerecht. Besonders für den
Gartenbau, aber auch für die Forstwirtschaft und insbesondere für die Junglandwirte haben wir mehr erreicht,
als je zu hoffen war: Ihre berechtigten Anliegen konnten
wir aufnehmen und angemessen in die neuen Strukturen
überführen.
({2})
Dafür haben wir uns als FDP-Fraktion besonders
stark gemacht, und darauf bin ich persönlich auch besonders stolz. Ich freue mich aber auch darüber, dass wir den
Belangen des Personals mit den Forderungen der Gewerkschaften und Personalvertretungen gerecht geworden sind.
({3})
An dieser Stelle möchte ich den Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen und den beiden beteiligten Ministerien einmal ganz herzlich für die vielen
konstruktiven Gespräche danken, die dazu beigetragen
haben, dass wir einen sehr breiten Konsens gefunden
haben - sogar auch mit einem großen Teil der Opposition. Danke den Beteiligten!
({4})
Das gilt natürlich auch besonders für meine Kollegen
aus dem Haushaltsausschuss, die diese Organisationsreform trotz strikter Sparvorgaben insgesamt mit 150 Millionen Euro begleiten bzw. flankieren werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser
Stelle ganz kurz die Entwicklung der Landwirtschaft
skizzieren. Verglichen mit 1960 ist die Zahl der Betriebe
um mehr als zwei Drittel gesunken. Während ein Landwirt damals 10 Menschen mit Nahrungsmitteln versorgte, so ernährt er 50 Jahre später über 127 Menschen.
Das ist eine Steigerung um mehr als das Zwölffache,
wobei die Qualität zunehmend höherwertig wird. Das ist
Ausdruck des tiefgreifenden Strukturwandels, den die
Landwirtschaft hinter sich hat. Diesen gilt es gesamtgesellschaftlich zu begleiten.
({5})
Dem Strukturwandel in der Landwirtschaft will und
muss die Bundesregierung Rechnung tragen. So übernimmt der Bund - ähnlich wie im Bergbau - inzwischen
rund 70 Prozent der Kosten für die Alterssicherung der
Landwirte und rund 57 Prozent der gesamten LSV-Ausgaben. Damit ist klar: Die LSV muss neu organisiert
werden. Ein Festhalten an den kleinteiligen Organisationsstrukturen der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gefährdet auf längere Sicht die Eigenständigkeit
des agrarsozialen Sicherungssystems. Deshalb bin ich
sehr zufrieden, dass wir als christlich-liberale Koalition
endlich den einheitlichen Bundesträger auf den Weg
bringen.
({6})
Ich freue mich, dass wir nach jahrelangem Einsatz bei
der Hofabgaberegelung eine Menge an Erleichterungen
erreicht haben. So wird die Altersgrenze bei Abgabe
unter Ehepartnern aufgehoben, gewerbliche Tierhaltung
auf gewerblichen Rückhaltflächen weiter möglich sein
und die Abgabe zwischen Gesellschaftern erleichtert.
Dieser Erfolg war anfangs überhaupt nicht abzusehen.
Schon zu Oppositionszeiten habe ich für die FDP
Anpassungsbedarf angemeldet, mich aber immer für die
Beibehaltung der Klausel ausgesprochen. Warum? Ich
habe in diesem Zusammenhang zunächst sehr viele
Gespräche mit Vertretern des Berufsstandes geführt. Mir
kam und kommt es darauf an, gemeinsam mit den
Betroffenen eine Lösung zu finden. Der Tenor war eindeutig: Die Pflicht zur Hofabgabe soll besonders im
Interesse der jungen Generation beibehalten werden.
({7})
Das hilft jungen Landwirten, frühzeitig in Betriebe zu
investieren und diese zu modernisieren. Eines möchte
ich betonen: Es haben nicht immer diejenigen recht, die
am lautesten rufen. Wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, dass eine komplette Abschaffung der Hofabgabeklausel zwangsläufig das Ende der eigenständigen
Alterssicherung der Landwirte bedeutet hätte. Das wollen wir nicht.
({8})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, abschließend noch ein Wort zum Gartenbau. Wir von der FDPFraktion haben uns in den Gesprächen mit der Bundesregierung immer für die besonderen Belange des Gartenbaus eingesetzt; denn eines ist klar: Die Situation im
Gartenbau unterscheidet sich deutlich von der in der
Land- und Forstwirtschaft. Sowohl die Mitglieder- als
auch die Kostenstruktur weisen jetzt schon in die richtige Richtung. Reformen wurden konsequent angegangen, und im Gartenbau wird zudem eine vorbildliche
Präventionsarbeit geleistet. Deswegen war es uns als
FDP-Fraktion so wichtig, den Gartenbau angemessen an
der neuen Struktur zu beteiligen. Wir konnten vier zentrale Forderungen aus dem Bereich des Gartenbaus umsetzen: die fachliche Trennung, die Beibehaltung einer
eigenständigen fachlichen Betreuung am Standort der
jetzigen Hauptverwaltung in Kassel, die Möglichkeit
einer eigenständigen Beitragsbemessung sowie den
Erhalt eines dauerhaften Fachausschusses mit beratender
Funktion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sicher, dass die christlichliberale Koalition im Gegensatz zu den früheren Reformen mit dem jetzigen Gesetz die landwirtschaftliche
Sozialversicherung auf ein solides, bezahlbares und
zukunftsfestes Fundament stellen wird.
Vielen Dank.
({9})
Matthias Birkwald ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gibt es Reformbedarf. Darin sind sich alle einig.
Uneinig sind wir uns darüber, ob dieser Reformbedarf
mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Neuorganisation der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung auch tatsächlich befriedigt werden
kann. Die Linke sagt: Nein, das ist nicht der Fall.
({0})
Frau Connemann, ich will gar nicht darum herumreden: Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält einige richtige Maßnahmen, Absichten und Regelungen. Es ist gut,
dass die Beitragszahlungen an die Berufsgenossenschaften vereinheitlicht werden; denn es ist nicht einzusehen,
warum die Menschen Beiträge in unterschiedlicher Höhe
zahlen müssen, nur weil sie in verschiedenen Regionen
Deutschlands leben und arbeiten. Deshalb begrüßt die
Linke, dass die Beiträge bis zum Jahr 2018 angeglichen
werden.
Im vergangenen Jahr hat die landwirtschaftliche
Sozialversicherung insgesamt 6,3 Milliarden Euro ausgegeben. Deutlich mehr als die Hälfte dieser Ausgaben,
nämlich knapp 60 Prozent oder 3,7 Milliarden Euro,
wurden vom Bund, also durch Steuergelder, finanziert.
Deshalb ist es durchaus richtig, eine zweistufige Organisation mit einer Bundesebene für zentrale Aufgaben einzuführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
Sie haben auch einige personalrechtliche Verbesserungen in diesen Gesetzentwurf eingefügt. Die sind vor
allem beamtenrechtlicher Art. Dagegen ist nichts zu
sagen, aber die wirklich wichtigen Kritikpunkte blenden
Sie leider aus. Sie wollen weder die paritätische Vertretung der Arbeitnehmer im Gartenbau beibehalten, noch
wollen Sie die Forderungen der Landfrauen nach einer
Frauenquote berücksichtigen. Dazu sage ich: Die Linke
steht hier fest an der Seite der Landfrauen.
({1})
Selbstverständlich muss eine Frauenquote in den Selbstverwaltungsgremien des Bundesträgers und damit auch
auf den Wahllisten eingeführt werden. In diesem Punkt
stimmen wir übrigens auch ausdrücklich dem Entschließungsantrag der Grünen zu.
({2})
Die Abschaffung der sogenannten Halbparität, wie sie
noch in der Gartenbau-Berufsgenossenschaft besteht,
bedeutet nichts anderes als eine Schwächung der Position der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Halbparität bedeutet, dass hier die Unternehmerseite und die
Arbeitnehmerseite bisher auf Augenhöhe miteinander
verhandeln. Das hat im Gartenbau übrigens auch zu hervorragenden Ergebnissen geführt. Am betrieblichen Unfallschutz ist das deutlich zu erkennen. Die neue Drittelparität bedeutet nun nicht etwa, dass zu den
Arbeitsmarktparteien ein neutraler Dritter hinzukäme.
Mitnichten! Die Dritten in der Runde sollen ebenfalls
Unternehmerinnen und Unternehmer sein, nur eben welche ohne Angestellte. Ich sage Ihnen: Diese Schwächung der Interessenvertretung von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern ist inakzeptabel.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung will mit der vorliegenden Reform „eine dauerhafte
Erhaltung des eigenständigen agrarsozialen Sicherungssystems“ hinbekommen. Diesem Ziel hat bisher niemand
widersprochen. Ob dieses Ziel mit der Organisationsreform, wie sie der Gesetzentwurf der Bundesregierung
vorsieht, erreicht werden kann, ist allerdings mehr als
fraglich. Warum? In der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gibt es immer mehr Leistungsempfängerinnen
und -empfänger und immer weniger Beitragszahlerinnen
und -zahler. Diesen unbestreitbaren Trend kann auch die
heute zur Diskussion stehende Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung nicht wegzaubern.
Die Entwicklung ist in der Alterssicherung der Landwirte zum Beispiel dramatisch zu nennen. Es gibt mehr
als doppelt so viele Menschen, die eine Rente aus der
Alterssicherung der Landwirte beziehen, als es Bauern
und Bäuerinnen gibt, die Beiträge zahlen. Das wird ohne
massive Steuerzuschüsse auf die Dauer nicht zu stemmen sein. Deshalb sagen wir, Frau Connemann: Wir
müssen uns mit aller Vorsicht und mit Rücksicht auf die
gewachsenen Strukturen zumindest einmal fragen, ob
und, wenn ja, inwiefern ein eigenständiges Alterssicherungssystem in der Landwirtschaft langfristig noch tragfähig sein wird.
({4})
Mit den jetzt auf dem Tisch liegenden Reformvorschlägen wird das Ziel einer zukunftsfähigen und dauerhaften
Alterssicherung für die Landwirte, jedenfalls aus unserer
Sicht, nicht erreicht.
({5})
In der aktuellen Reformdebatte über eine gute Altersvorsorge und die Vermeidung von Altersarmut fordern
zum Beispiel der Deutsche Gewerkschaftsbund, der
Sozialverband Deutschland, die Volkssolidarität und die
Linke, nach und nach alle Erwerbstätigen - in welcher
Art und Weise auch immer sie erwerbstätig sind - in ein
System der Alterssicherung einzubeziehen. Eine solche
Erwerbstätigenversicherung wäre zeitgemäßer, sie wäre
solidarischer, und sie wäre nachhaltiger.
({6})
Ich weiß ja: Diese Frage kann man nicht von heute auf
morgen entscheiden; das ist völlig klar. Aber es wäre
doch sinnvoll, wenn die Bundesregierung sie im „Regierungsdialog Rente“ wenigstens einmal diskutieren
würde. Gründe dafür gibt es genug. Denn im Gegensatz
zur gesetzlichen Rentenversicherung ist die Alterssicherung der Landwirte von vornherein nur als Zuschuss gedacht gewesen. Die durchschnittliche Rente liegt heute
bei etwa 460 Euro; bei der Ehegattin sind es gerade einmal 237 Euro. Das muss man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen.
Außerdem - das ist schon gesagt worden - lassen sich
knapp 50 Prozent der Landwirte von der Versicherungspflicht befreien. Das heißt, die Hälfte der Landwirte
flieht quasi bereits aus dem eigenständigen Alterssicherungssystem. Das scheint mir Grund genug zu sein, wenigstens einmal darüber nachzudenken, die Bauern und
Bäuerinnen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Bemerkung
zum Schluss zur Hofabgabeklausel. Diese Klausel beruht auf der Annahme, dass der bäuerliche Hof von Generation zu Generation weitergegeben und weiterbetrieben wird. Das ist heute aber oft realitätsfremd. Die Linke
fordert deshalb - gemeinsam mit der SPD und den Grünen -, dass die Landwirtinnen und Landwirte, auch ohne
ihren Hof abgeben zu müssen, eine Rente erhalten können. Die Hofabgabeklausel ist eine Regelung von gestern. Sie muss heute dringend abgeschafft werden.
({8})
Herzlichen Dank.
({9})
Der Kollege Friedrich Ostendorff ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Grünen begrüßen die Einführung eines Bundesträgers in
der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Gartenbau
und Forst. Trotzdem sehen wir erheblichen Änderungsbedarf, wie unserem Antrag zu entnehmen ist.
Wir Grünen sind auch nicht dabei, wenn, wie einige
meinen, gesagt wird, die landwirtschaftliche Sozialversicherung sei keine heilige Kuh mehr und schlachtreif.
Wir werden jedenfalls nicht an den Grundfesten der sozialen Absicherung, die vor über 40 Jahren Willy Brandt
und Josef Ertl eingeführt haben, rütteln. Ich kann mich,
wie auch einige andere hier, noch gut daran erinnern,
dass viele Bäuerinnen und Bauern nach Jahrzehnten harter Arbeit ohne Gebiss, ohne Brille, ohne notwendige
ärztliche Versorgung und Hilfe leben mussten. Ein Arztbesuch ging heftig an die Substanz der Betriebe.
({0})
Nach Einführung der LSV änderte sich das grundlegend.
Da war die Zeit der Brotkrumenstipperei vorbei.
Wo im Gesetz muss kräftig nachjustiert werden?
Rund 70 Prozent des Agrarhaushalts des Bundes entfallen auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung. Damit ist der Bund der Hauptfinanzier und trägt die Hauptverantwortung. Also bestimmt auch der Bund und nicht
der Deutsche Bauernverband die Richtung.
({1})
Deshalb kann es nicht sein, dass von den Kassen lediglich eine einzige gutachterliche Stellungnahme, nämlich
von Professor Dr. Bahrs, zur künftigen Beitragsgestaltung vorgelegt wurde. Um das Ganze ohne Scheuklappen beurteilen zu können, erwarten wir von der LSV,
dass weitere gutachterliche Stellungnahmen zur Beitragsgestaltung eingeholt werden, damit die Entscheidungsträger verschiedene Varianten vergleichen können.
Es ist doch schon erstaunlich, dass die Beiträge zur
landwirtschaftlichen Unfallversicherung umso höher
ausfallen sollen, je kleiner die landwirtschaftliche Nutzfläche oder der Tierbestand ist. Das wird dann als Beitragsgerechtigkeit verkauft. Was ist die Konsequenz daraus? Ich kann es Ihnen sagen: Die großen Agrarbetriebe
werden wachsen, und die kleinen Bauernhöfe werden
weichen, ganz im Sinne Ihrer Wachstums- und Exportstrategie.
Das Unfallrisiko wollen auch wir Grünen stärker einbeziehen. Aber erklären Sie uns in diesem Hause doch
einmal, wieso in einem Betrieb mit 40 Kühen mehr als
doppelt so hohe Unfallkosten pro Kuh anfallen sollen
wie in einem Betrieb mit 400 Kühen.
({2})
Das entbehrt einer gewissen Logik; darüber muss man
noch einmal nachdenken.
Ein anderes Thema - es wurde schon angesprochen ist die Eigenständigkeit des Gartenbaus. Sie hat sich bewährt und muss unbedingt erhalten bleiben.
({3})
Für die Gärtner ist nämlich schon lange ein Bundesträger
zuständig. Ein Lob gilt auch der guten Präventionsarbeit
im Bereich des Gartenbaus, von der wir in der Landwirtschaft noch meilenweit entfernt sind. Deshalb müssen
wir dort die Fachbeiräte dauerhaft installieren.
({4})
Auch Sie haben das gemerkt und mussten entsprechend
handeln. Aber es muss deutlich festgeschrieben werden,
dass sie erhalten bleiben.
Auch im Forstbereich brauchen wir diese Fachbeiräte.
Wer Unfälle verhindert, hat immer einen Bonus verdient.
Das muss Anreiz sein, um die Kassen zu schonen.
Ein weiteres großes Ärgernis - auch das wurde schon
angesprochen - ist die Übertragung von Beratungsleistungen an den Bauernverband. Was machen denn die
20 bis 25 Prozent der Bauern und Bäuerinnen, die nicht
im Bauernverband sind? Man könne ja Mitglied werden,
heißt es dann vom DBV.
({5})
Auch deshalb wollen wir, dass die Beratung ausschließlich durch die Fachleute der LSV erfolgt. Hier sitzt die
Kompetenz.
({6})
Ja, Frau Connemann, da müssen Sie noch nacharbeiten. Die deutsche Landwirtschaft ist nicht, wie von Ihnen, mit dem Deutschen Bauernverband gleichzusetzen,
sondern umfasst viel mehr.
({7})
Auf unseren Feldern, meine Damen und Herren, ackert
nicht nur der Deutsche Bauernverband, sondern ackern
weiß Gott auch viele andere.
({8})
Grüne setzen sich für möglichst demokratische Entscheidungsstrukturen ein.
({9})
Die Landwirtschaft hat hier einen hohen Nachholbedarf - das darf festgestellt werden.
({10})
Es ist wichtig, dass die kleinen Wahllisten - Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, Bundesverband
Deutscher Milchviehhalter, Nebenerwerbslandwirte,
Waldbesitzer, aber auch Gärtner - gleichberechtigt innerhalb der Vertretungsorgane der LSV beteiligt werden.
Wir wollen für die kleinen Wahllisten eine Mindestvertretung festgelegt sehen. Das wäre auch gut für den inneren Frieden des Sozialversicherungssystems.
Zur umstrittenen 55 Jahre alten Hofabgabeklausel:
Sie gehört nach unserer Meinung abgeschafft,
({11})
wie es - und hier gilt es, ein besonderes Lob auszusprechen - meine Kollegin Behm schon seit langem fordert.
Sie passt nicht mehr zum Bild einer sich wandelnden
Gesellschaft, in der die Bäuerin immer öfter das Zepter
auf den Höfen schwingt. Sie von der Koalition haben
aber noch das antiquierte Leitbild der Frau als dienende,
mithelfende Familienangehörige des Bauern, des Unternehmers.
({12})
Das ist gestrig.
({13})
Auch deshalb setzen wir uns für eine stärkere Vertretung
der Frauen in den Gremien der LSV ein.
Übrigens - das sei hier berichtet - hat gestern der
NRW-Landtag entschieden - bei Enthaltung der FDP
und Einzelner aus der CDU -, den Antrag der Grünen
auf Abschaffung der Hofabgabeklausel anzunehmen.
Das hat der NRW-Landtag gestern entschieden!
({14})
Damit hat NRW dem Wunsch von über 70 Prozent derjenigen entsprochen, die sich bei der top agrar-Umfrage
für die Abschaffung aussprachen.
Zum Schluss will ich Ihnen sagen: Im Zuge der Einführung des Bundesträgers haben Sie uns - im Gegensatz
zur SPD - nicht beteiligt. Aber auch die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der LSV sind bei der Umstrukturierung
unserer Meinung nach nicht angemessen beteiligt worden. Auch ihre Rechte wurden bisher mit Füßen getreten.
({15})
Es ist gut, Kooperation anzumahnen, Herr Geisen - hören Sie bitte zu! -, wie Sie es getan haben, aber dazu bedarf es vor allem konkreter Schritte und nicht nur einer
Anmahnung.
({16})
Das Wort erhält nun der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Wir sind uns über
die Fraktionen hinweg einig, dass es aufgrund des Strukturwandels in der Landwirtschaft einer Änderung bedarf,
um das eigenständige agrarsoziale Sicherungssystem in
die Zukunft zu führen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem getroffenen Kompromiss, der in vielen Wochen und Monaten
erarbeitet worden ist - ich danke in diesem Zusammenhang ausdrücklich unseren Berichterstatterinnen und Berichterstattern, Gitta Connemann und Marlene Mortler
auf unserer Seite sowie Herrn Dr. Geisen und Frau
Happach-Kasan; ich danke aber auch für die Unterstützung aus den Ministerien und danke den beiden Bundesministerinnen Ursula von der Leyen bzw. Ilse Aigner für
die Zusammenarbeit -, einen guten Kompromiss gefunden haben und damit die Grundlagen für das Weiterbestehen eines eigenständigen agrarsozialen Sicherungssystems hier in Deutschland legen.
Wir haben in diesem Hohen Haus schon mehrere Organisationsreformen beschlossen. Ich erinnere nur daran,
dass wir 1996 die Reduzierung der Versicherungsträger
von ehemals 25 bzw. 27 auf dann insgesamt 9 in die
Wege geleitet haben.
Sicherlich ist in dieser bewegten Zeit auch manches
im Leistungsrecht verändert worden. Die Frau Kollegin
Connemann hat auf einen Aspekt hingewiesen, dass
nämlich durch entsprechende Veränderungen bei der Unfallversicherung Beitragsstabilität für die Unternehmer
- wohlgemerkt: für die Unternehmer und nicht für die
Arbeitnehmer - erreicht werden soll. Hier ist zu berücksichtigen, dass sehr viele Landwirte die Landwirtschaft
als Nebenerwerb betreiben und daher in Bezug auf Altersvorsorge, Pflegeversicherung und Krankenversicherung zwar in anderen gesetzlichen Sicherungssystemen
sind, aber in der Unfallversicherung der LSV Mitglied
sind. Bei anstehenden Veränderungen der Organisationsstruktur der LSV muss diese somit meines Erachtens ein
eigenständiges System bleiben, weil nur in einem solchen System die besonderen Belange des Berufsstandes
Berücksichtigung finden können und die Sozialverträglichkeit für alle Bäuerinnen und Bauern weiterhin gewährleistet werden kann. Andere gesetzliche Sicherungssysteme können dies nicht leisten.
({0})
Wir stehen deshalb dazu, dass dies so bleibt und dass
weiterhin vor allen Dingen bei der Präventionsarbeit im
Bereich der Unfallversicherung - das gilt für alle Sparten: Landwirtschaft, Forst und Gartenbau - im Interesse
der betroffenen Mitglieder Fortschritte erzielt werden.
Denn ein tödlicher oder schwerer Unfall in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft oder auch im Gartenbau führt
zu schweren seelischen oder körperlichen Verletzungen
und bringt gewaltiges Leid in die Unternehmerfamilien.
Ein entscheidendes Ziel ist deshalb die Präventionsarbeit. Ich bin davon überzeugt, dass mit den geplanten
Änderungen weiterhin Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt werden. Deswegen können wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben. Ich danke, dass auch
die SPD-Fraktion trotz einiger Kritikpunkte letztendlich
ebenfalls zustimmt.
({1})
Ich möchte mich jetzt auf die Punkte konzentrieren,
die kritisiert werden. Kollege Ostendorff hat den Beitragsmaßstab kritisiert. Er hat davon gesprochen, dass
ein anderes Gutachten angeblich bessere Vorschläge insbesondere für kleinere Betriebe enthält.
({2})
Aber ist es nicht so, Herr Kollege Ostendorff, dass jeder
Betrieb ein Grundrisiko darstellt? Ein Grundrisiko muss
sich in der Beitragsbemessung entsprechend niederschlagen. Das bedeutet nicht, dass wir kleine Betriebe
und damit Teile des Berufsstandes benachteiligen. Letztendlich muss die Selbstverwaltung darüber in einer eigens verfassten Satzung entscheiden. Grundsätzlich
stellt, wie gesagt, jeder Betrieb ein Grundrisiko dar.
({3})
Daneben muss die Gestaltung der Arbeitsabläufe berücksichtigt werden. Hier stellt man eben fest: Es ist
wahrscheinlich, dass in größeren Betrieben, die professionalisierter sind und die einen höheren Maschineneinsatz aufweisen, bessere Ertragsergebnisse erzielt werden
und weniger Unfälle passieren.
({4})
Das ist das Ergebnis vieler Untersuchungen und spiegelt
auch unsere Erfahrungen wider.
({5})
Vor diesem Hintergrund ist das Gutachten von Professor Bahrs eine gute Grundlage für die zukünftige Erarbeitung eines gemeinsamen Beitragsmaßstabes für ganz
Deutschland. Damit können Wettbewerbsverzerrungen,
die bereits Frau Connemann in ihren Ausführungen angesprochen hat, vermieden werden.
({6})
Es ist ebenfalls wichtig, dass in Bayern Betriebe mit
50 Kühen genau den gleichen Beitrag zur Unfallversicherung zahlen wie Betriebe in Schleswig-Holstein oder
im Osten Deutschlands.
({7})
Ein Zweites. Es wurde von Ihnen, Herr Ostendorff,
aber auch von Herrn Priesmeier kritisiert, dass die Beratung der Bäuerinnen und Bauern in sozialen Fragen von
den Landesbauernverbänden durchgeführt wird. Diese
Beratungsleistungen werden ortsnah erbracht. Ich kann
Ihnen die Situation in Niederbayern und in der Oberpfalz
darlegen. Ich habe zufälligerweise die Zahlen parat. Für
Niederbayern, die Oberpfalz und Schwaben gibt es einen
gemeinsamen Träger. Nach Ihren Vorstellungen dürfte es
nur zwei Beratungsstellen geben, nämlich eine in Landshut und eine in Augsburg.
({8})
Weil der Bauernverband diese Beratung übernimmt, gibt
es in Niederbayern neun und in der Oberpfalz sieben
Beratungsstellen. Die Beratungen finden also wesentlich
ortsnäher statt. Gutachten - ich verweise auch auf den
Bundesrechnungshof - haben belegt, dass diese Beratungsleistungen günstiger sind, als wenn sie zentral
durchgeführt würden. Die Beratung ist auch nicht von
der Mitgliedschaft im Deutschen Bauernverband, im
Bayrischen Bauernverband oder in einem nordrheinwestfälischen Bauernverband abhängig, wie es Herr
Ostendorff dargestellt hat.
({9})
Jeder wird unbürokratisch beraten, wie er es benötigt.
({10})
Das ist das Entscheidende. Sie insistieren immer in der
Öffentlichkeit, dass man dem Bauernverband beitreten
muss, um eine Beratungsleistung in Anspruch nehmen
zu können. Das ist in keiner Weise der Fall. Die Beratungsleistung wird unabhängig davon erbracht.
({11})
Herr Kollege Straubinger, darf der Kollege Priesmeier
eine Zwischenfrage stellen?
Gerne; denn das verlängert meine Redezeit. - Herr
Dr. Priesmeier.
Herr Kollege Straubinger, teilen Sie meine Einschätzung, dass die Beratungsleistung, die zum Beispiel das
Landvolk in Niedersachsen oder in Schleswig-Holstein
im Blick auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung
erbringt, qualitativ hochwertig ist, verglichen mit den
Beratungen, die der Bayrische Bauernverband erbringt?
Erklären Sie mir einmal, warum in Niedersachsen kein
Geld seitens des Trägers an den Bauernverband fließt,
dies in Bayern aber sehr wohl der Fall ist. Das hat eine
lange Tradition. Mein Vorgänger aus meinem Wahlkreis,
Martin Schmidt-Gellersen - vielleicht ist er in diesem
Hause noch bekannt; er ist vor vielen Jahren, 1986, ausgeschieden -, hat einmal gesagt: Der Bayrische Bauernverband ist der Wurmfortsatz der CSU. - Es tut mir leid,
in diesem Zusammenhang sehe ich diese Interessenkollision.
Herr Kollege Priesmeier, es mag immer unglückliche
und unqualifizierte Äußerungen Einzelner geben. Die
Aussage trifft nicht zu. Wir wünschen uns noch mehr
Zuspruch. Die CSU ist eine Volkspartei
({0})
und bekommt großen Zuspruch, und zwar über alle
gesellschaftlichen Grenzen hinweg, sicherlich auch von
den Bäuerinnen und Bauern, weil sie wissen, dass sie
sich auf uns verlassen können.
({1})
Wir stehen vor allen Dingen für das eigenständige
agrarsoziale System. Vorhin hat der Kollege Birkwald
dargestellt, dass das agrarsoziale System mit der heutigen Entscheidung nicht in die Zukunft zu führen sei. Ich
glaube, der Kollege Birkwald hat noch nie etwas von der
Defizithaftung des Bundes begriffen,
({2})
die mit CDU/CSU und FDP gewährleistet ist. Mit den
Linken in unserer Gesellschaft ist sie nicht zu gewährleisten und offensichtlich auch nicht mit der SPD.
({3})
Aber das ist eine andere Frage. Es geht darum, dass
Beratungsleistungen nah beim Bürger, nah bei den Bäuerinnen und Bauern und nah bei den Betroffenen erbracht
werden. Dies ist meines Erachtens eine gute Symbiose.
Es wird, Herr Kollege Priesmeier, dem Bayrischen Bauernverband nur die Beratung in sozialen Fragen vergütet,
nicht mehr und nicht weniger, und das ist Leistung.
({4})
Von allen Oppositionsfraktionen wird die Hofabgabeklausel kritisiert. Sie wird im Sinne der Betroffenen
modifiziert. Ich bin dem Kollegen Geisen für seine Ausführungen ausdrücklich dankbar. Er hat sehr richtig dargestellt, dass es für die Fortführung eines Betriebes entscheidend ist, dass in den Betrieben frühzeitig
Weichenstellungen getroffen werden, damit im Betrieb
entsprechende Investitionen getätigt werden.
({5})
Ich sage auch ganz offen: Wer mit 65 Jahren nicht
weiß, wem er den Betrieb einmal übergeben soll oder
will, der weiß es auch mit 70 oder 75 nicht, und der wird
es auch mit 80 Jahren nicht wissen. Plötzlich fällt dann
der Herrgott eine Entscheidung, und hinterher gibt es
einen Scherbenhaufen, den die möglichen Erben dann
aufzuräumen haben.
({6})
Wer weiß, was es bedeutet, einen landwirtschaftlichen
Betrieb in einer Erbengemeinschaft mit möglicherweise
10, 15 oder 20 Erben weiterführen zu müssen, der weiß
haargenau, dass der landwirtschaftliche Betrieb vor die
Hunde geht - das sage ich so platt - und letztendlich
garantiert zum Verkauf angeboten wird. Das mag im
Sinne der Linken sein, das mag in eurem Sinne sein hier möchte ich nichts unterstellen -,
({7})
aber die CDU/CSU ist dafür, dass es eine Umstrukturierung in der Landwirtschaft gibt und diese vor allem zeitgerecht erfolgt. Deshalb ist die Hofabgabeklausel auch
weiterhin ein wichtiger Bestandteil in der agrarsozialen
Gesetzgebung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Heinz Paula für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir sind
uns einig: Die landwirtschaftliche Sozialversicherung
braucht Zukunft. Der von Ihnen zunächst vorgelegte
Gesetzentwurf hätte diesem Ziel nicht wesentlich
gedient. So war es gut, dass wir eine Anhörung gefordert
haben. Ich kann nur feststellen: Diese Anhörung war
sehr wertvoll. Es kamen wichtige Vorschläge, und Gott
sei Dank wurden einige von Ihnen übernommen.
Wir als Sozialdemokraten haben Gespräche mit allen
Betroffenen geführt, wobei wir hohe Sachkompetenz
angetroffen haben. Wichtige Vorschläge wurden eingebracht. An dieser Stelle darf ich mich besonders bei der
gemeinsamen Personalvertretung, bei Verdi, der IG BAU
und anderen Gruppierungen des Gartenbaus bedanken.
Hier konnten wichtige Punkte angesprochen werden.
Wir haben immer wieder festgestellt: Die Kompetenz
des Personals bei der LSV ist sehr hoch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben bewiesen, dass sie alle
Reformen, die zweifelsohne oft schmerzhaft waren, mitgetragen haben. Deswegen ist es nur folgerichtig, dass
Sie Punkte unseres Änderungsantrags aufgegriffen
haben. Hierzu gehören unter anderem sozialverträgliche
Lösungen für die berechtigten Belange des Personals,
zum Beispiel keine Versetzungen in den vorzeitigen
Ruhestand ohne Zustimmung des Personals. Dies sollten
wir allerdings auch für die Besoldungsgruppe B gelten
lassen.
Herr Staatssekretär Fuchtel weist zu Recht darauf hin,
dass es von zentraler Bedeutung ist, einen offenen Umgang mit allen Informationen in allen Phasen der Umstrukturierung zu gewährleisten. Dadurch können zum
einen Verunsicherungen vermieden und zum anderen
eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ermöglicht werden. Allerdings frage ich mich, weshalb Sie dann nicht
konsequent diesen Schritt mitgehen, sondern eine explizite Beteiligung der gemeinsamen Personalvertretung in
der Errichtungsphase verweigern. Diese Haltung führt
mit Sicherheit nicht zum Ziel. Frau Connemann, hier
verschenken Sie Chancen, mit denen Sie einen weiteren
Beweis für kluge Politik hätten liefern können.
Wenn Sie das Personal loben - und zwar zu Recht,
denn hier wird wirklich eine sehr gute Arbeit geleistet -,
dann hätten wir allerdings auch erwartet, dass Sie das
Personal konsequent unterstützen. Ich wundere mich
manchmal schon: Man verfügt über einen großen Sachverstand, und zur gleichen Zeit beauftragt man Dritte.
Kollege Priesmeier hat sehr deutlich darauf hingewiesen. Unterstützen Sie bitte das Personal, indem Sie die
Aufgaben auch bei der LSV bestehen lassen.
Es kommen enorme Herausforderungen auf die
Selbstverwaltung zu. Wir wissen: Es wird noch sehr viel
Detailarbeit geleistet werden müssen. Aufgabe der Politik ist es, allen Beteiligten ein Agieren auf gleicher
Augenhöhe zu ermöglichen. Dies haben Sie, wie gesagt,
nicht geschafft. Ich finde es auch nicht hinnehmbar, dass
Sie zum Beispiel die Parität beim Gartenbau nicht mehr
weiter aufrechterhalten.
Lassen Sie mich kurz einen letzten Punkt ansprechen.
Sie haben sich geweigert, die Forderung von Frau
Scherb, der Präsidentin des Deutschen Landfrauenverbandes, aufzugreifen, dass Frauen angemessen in den
Führungs- und Entscheidungsgremien vertreten sein
müssen.
({0})
Ich hoffe, dass die Selbstverwaltung bei der Erarbeitung
dieses Gesetzentwurfes mehr Mut hat als Sie.
Sie wissen: Wir werden Ihrem Entwurf zustimmen,
weil wir Sozialdemokraten immer an der Seite der Versicherten sowie der betroffenen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter stehen und wir trotz aller Mängel und
Schwierigkeiten an diesem System festhalten wollen.
Wir sind uns allerdings auch darüber im Klaren: Der
Spruch „Nach der Reform ist vor der Reform“ wird auch
hier gelten.
({1})
Ich glaube, wir können hier noch gemeinsam, zusammen
mit den Betroffenen, weitere wichtige Schritte in die
Wege leiten.
Ich bedanke mich.
({2})
Die Kollegin Happach-Kasan hat nun das Wort für die
FDP-Fraktion.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich war etwas überrascht, aber ich freue mich
darüber, dass der liberale Agrarminister Josef Ertl in dieser Debatte eine Würdigung erfahren hat. Dafür ein ganz
herzliches Dankeschön.
({0})
- Er war ein Guter, so wie die Arbeitsgruppe „Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz“ der FDPFraktion ebenfalls eine gute ist. Wir fühlen uns mit ihm
solidarisch.
Die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, die Schaffung eines einheitlichen Bundesträgers,
ist ein wichtiges Reformvorhaben dieser Legislaturperiode. Ich freue mich sehr, dass auch die Sozialdemokraten diesem wichtigen Reformvorhaben zustimmen;
die Begründung der Grünen, es abzulehnen, hat mich
nicht überzeugt.
({1})
In der parlamentarischen Beratung ist der Gesetzentwurf der Regierung entscheidend weiterentwickelt worden. Ich will auch einmal sagen: Es ist ein Beispiel für
das Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie, dass wir einen solchen Gesetzentwurf der Regierung
so weiterentwickelt haben, dass es ein richtig guter
Gesetzentwurf geworden ist.
({2})
Die Vorrednerinnen und Vorredner haben ausgeführt,
dass es insbesondere in den Bereichen des Gartenbaus
und der Waldbauern zu entscheidenden Verbesserungen
gekommen ist, dass ihre Interessen nun besser berücksichtigt werden. Ich glaube, dass das gut ist. Gerade der
Gartenbau als ein sehr zukunftsträchtiger Bereich der
grünen Berufe hat bei der Frage der Prävention, der Verhinderung von Arbeitsunfällen durch eine entsprechende
Beitragsgestaltung und entsprechende Fortbildungsmaßnahmen, Enormes geleistet. Ich meine, er sollte für den
gesamten Bereich der Landwirtschaft Vorbild sein.
({3})
Ich will daran erinnern - Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen -: Gerade die Landwirtschaft ist unfallträchtig.
({4})
Mit 70 meldepflichtigen Arbeitsunfällen je 1 000 Vollarbeitskräfte ist die Zahl dreimal so hoch wie in der übrigen gewerblichen Wirtschaft. Mit zwölf tödlichen
Arbeitsunfällen je 100 000 Vollarbeitskräfte liegt die
Zahl sechsmal so hoch wie in der übrigen gewerblichen
Wirtschaft, deutlich höher als im Baugewerbe. Ich
glaube, es gibt eine Menge zu tun, um die Zahl der Unfälle und damit auch das Leid in den Familien zu mindern. Man muss sagen: Da geht es zum einen um die
Fortbildung und zum anderen um die Beitragsgestaltung;
ich glaube, das ist sehr wichtig. Wir müssen feststellen,
dass in kleineren Betrieben vielfach ein höheres Unfallrisiko als in größeren Betrieben besteht. Das drückt sich
in der Beitragsgestaltung aus. Das ist richtig, um Anreize
zu schaffen, damit auch in kleineren Betrieben weniger
Unfälle passieren.
Wir sind uns bewusst, dass die Unfälle insbesondere
im Bereich der Tierhaltung passieren, bei den Deckbullen genauso wie bei den nicht enthornten Rindern. Deswegen ist die Frage der Enthornung nicht nur eine Frage
des Tierschutzes, sondern auch eine Frage des Arbeitsschutzes. Darüber müssen wir alle uns im Klaren sein.
({5})
Wir sind der Auffassung, dass wir mit diesem
Reformvorhaben einen wichtigen Schritt gemacht
haben, die landwirtschaftliche Sozialversicherung zukunftsfähig zu gestalten. Es wird nicht die letzte Reform
sein; das muss es auch nicht. Aber es ist für die jetzige
Zeit eine richtige Maßnahme, die im Bereich der Verwaltung zu Minderausgaben führt und das gesamte System so gestaltet, dass es von den Selbstverwaltungsorganen weiterentwickelt werden kann. Wir freuen uns auf
die zukünftigen Beratungen zu diesem Thema.
Danke schön.
({6})
Alexander Süßmair ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit
dem Gesetzentwurf der Koalition zur Neuordnung der
Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, kurz: LSV, liegt ein neuer Versuch vor, das heute
noch eigenständige soziale Sicherungssystem der Landwirtschaft zu bewahren und langfristig zu sichern.
Mit dem Schritt zur Schaffung eines bundeseinheitlichen Trägers der LSV ist die Linke im Prinzip einverstanden. Die ambitionierten Ziele, bei der Verwaltung
Kosten einzusparen und ein einheitliches Beitragssystems zu schaffen, sind schon mit der letzten Reform der
LSV vor vier Jahren nicht erreicht worden. Das wurde in
der Anhörung zum Gesetzentwurf durch den Vertreter
des Bundesrechnungshofs noch einmal eindrucksvoll
dargelegt. Ob sich das Ziel durch das LSV-Neuord18848
nungsgesetz erreichen lässt, bezweifeln wir stark. Mehrere Vorredner haben diese Position der Linken geteilt.
Im Gegenteil: Die Reform kostet erst einmal zusätzliches Geld, nämlich 175 Millionen Euro. Die mittelfristigen Einsparungsmöglichkeiten durch Personalabbau sind
übersichtlich. Dr. Mehl vom Thünen-Institut hat dies in
der Anhörung sehr deutlich dargestellt. Der Anteil der
Personal- und Verwaltungskosten beträgt maximal 5 Prozent der Beiträge der Versicherten. Würde man nun
50 Prozent der Kosten im Bereich Personal und Verwaltung einsparen, was völlig illusorisch ist, würde das gerade einmal 2,5 Prozent an Beitragseinsparung bringen.
Dass Sie darüber hinaus in Art. 1 § 8 des Gesetzentwurfs
ausdrücklich die Arbeitsvergabe an Dritte, also das Auslagern von Aufgaben, regeln, ist für uns völlig daneben.
({0})
Dies geschieht nämlich alles zulasten der Arbeitsplätze
und somit zulasten der Beschäftigten bei der LSV, und
das lehnt die Linke ab.
({1})
Trotzdem wird es allein aus Gründen der strukturellen
Entwicklung in der Landwirtschaft unvermeidbar sein,
einen Bundesträger zu errichten und eine Entwicklung
einzuleiten, die eine angepasste Struktur der Sozialversicherung ermöglicht. Ob dies aber für eine langfristige
und ausreichende soziale Sicherung in der Renten- und
Krankenversicherung ausreicht, bleibt mehr als fraglich;
denn ohne die staatlichen Zuschüsse würde das System
schon lange nicht mehr tragfähig sein. Daher muss für
die Zukunft die Frage gestellt werden dürfen, ob die Einbringung in ein größeres Solidarsystem nicht sinnvoller
ist. Die Ausführungen meines Kollegen Birkwald und
auch die Anmerkungen von Herrn Kollegen Priesmeier
von der SPD sind durchaus berechtigt und sollten auch
berücksichtigt werden.
({2})
Verbesserungsvorschläge gab es in der Anhörung und
in den darauffolgenden Verhandlungen genug, sie sind
aber von Ihnen unserer Meinung nach kaum berücksichtigt worden.
({3})
So ist das Überleben der LSV durch die Einbindung des
Bereichs Gartenbau existenziell,
({4})
aber die Berufsgenossenschaften mit ihren Besonderheiten der bereits existierenden bundeseinheitlichen Organisation, des einheitlichen Beitragsmaßstabs, der paritätischen Vertretung von Beschäftigten und Arbeitgebern
in den Gremien und der herausragenden Unfallprävention werden nun ohne Not an die Wand gedrückt; dabei
hätte man diese Struktur beibehalten können. Der von
Ihnen im Änderungsantrag vorgeschlagene Sonderausschuss für den Gartenbau hat lediglich beratende Funktion, er hat also auf die Entscheidungsfindung keinen
Einfluss. Das kritisieren wir von der Linken ausdrücklich.
({5})
Weitere aufgeworfene Probleme, die hier auch schon
angesprochen wurden, bleiben unberücksichtigt. So ist
die Hofabgabeklausel, die vorsieht, dass die Landwirte
ihren Betrieb aufgeben müssen, wenn sie ihre Rente ausbezahlt bekommen wollen, immer noch verankert. Sie
haben zwar endlich die Diskriminierung der Ehefrauen
abgeschafft, was wir begrüßen, aber man hätte die Hofabgabeklausel im Zuge der angestrebten Reform generell daraufhin überprüfen müssen, ob sie ihre Funktion
überhaupt erfüllt und jungen Bäuerinnen und Bauern tatsächlich eine Chance gibt. Herr Straubinger, eine Anmerkung: In Österreich gibt es diese Abgabeklausel
nicht. Dort ist der Altersdurchschnitt deutlich niedriger
als in Deutschland.
({6})
Es gibt also andere Möglichkeiten, junge Menschen in
der Landwirtschaft zu fördern.
({7})
Dasselbe gilt für die Verbesserungen bei der Personalvertretung, die von den Gewerkschaften und den Personalräten vorgeschlagen wurden. Auch hiervon ist in Ihrem Gesetzentwurf so gut wie nichts wiederzufinden.
Auch das kritisiert die Linke.
Weil die Reform unserer Überzeugung nach eben
nicht zu einem gerechteren und solidarischeren Beitragssystem führen wird, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Strengmann-Kuhn
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung verfolgt mit dem Gesetzentwurf unter
anderem das Ziel, die Verwaltungskosten zu reduzieren.
Das ist richtig und wichtig. Das hat der Kollege von der
Linken gerade schon angemerkt.
Der Bundesrechnungshof - Sie kennen die Stellungnahme - hat berechnet, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung jeder Mitarbeiter 350 Prozent mehr Versicherte betreut als in der Alterssicherung der Landwirte.
350 Prozent! Das zeigt, wie groß das Potenzial für effizientere Strukturen in der Alterssicherung der Landwirte
insgesamt ist. Hier muss gehandelt werden. Mit diesem
Gesetzentwurf springen Sie allerdings viel zu kurz.
({0})
Auch wir begrüßen, dass die Bundesregierung die
Hofabgabeklausel zumindest einschränken will. Aber
auch bei der Hofabgabe springt die Bundesregierung zu
kurz, und wer zu kurz springt, der verfehlt oft gänzlich
das Ziel. Die Hofabgabeklausel gehört abgeschafft.
({1})
Familiäre Strukturen in den landwirtschaftlichen Betrieben sind heute anders als vor 50 Jahren. Die Zahl der
Kinder nimmt ab. Die Lebensentwürfe der Menschen
sind vielfältiger geworden. Immer mehr Kinder von
Landwirtinnen und Landwirten arbeiten gar nicht mehr
in der Landwirtschaft. Derzeit geben in Deutschland
zwei Drittel der Betriebsinhaber über 45 Jahren an, keine
gesicherte Hofnachfolge zu haben. Hofabgaben scheitern oft daran, dass sich keine Junglandwirtinnen und
Junglandwirte finden, die den Hof übernehmen wollen.
Mit der Hofabgabeklausel zwingen Sie Landwirtinnen
und Landwirte jedoch, sich zu entscheiden: entweder
weiterarbeiten und keine Rente beziehen oder eine Rente
beziehen und den Hof nicht mehr bewirtschaften. Das ist
überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Die Hofabgabeklausel
muss weg. Sie ist ungerecht, altersdiskriminierend und
hat sich überlebt.
({2})
Mittlerweile sind knapp 50 Prozent der potenziell in
der Alterssicherung der Landwirte Versicherten von der
Versicherungspflicht befreit; das ist schon gesagt worden. Die Hofabgabe läuft auch deswegen völlig ins
Leere. Dieser hohe Anteil kommt unter anderem daher,
dass immer mehr Landwirtinnen und Landwirte zusätzlich einer anderen versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen und sich von der Versicherungspflicht
befreien lassen können, und das schon ab einem Einkommen, das über der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Insgesamt wird oft nicht ausreichend für das Alter vorgesorgt, sodass Altersarmut vorprogrammiert ist. Auch das
ist ein Punkt, Frau Ministerin von der Leyen, den Sie im
Regierungsdialog und bei der Bekämpfung von Altersarmut berücksichtigen sollten. Also: Auch den Landwirten
droht Altersarmut. Auch dieses Problem müssen wir anpacken.
In der Alterssicherung der Landwirte gibt es heute bei
600 000 Rentnerinnen und Rentnern gerade einmal
250 000 Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, also
mehr als doppelt so viele Rentnerinnen und Rentner wie
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Hinzu kommt,
dass der demografische Wandel natürlich auch vor der
Landwirtschaft nicht haltmacht und den strukturellen
Wandel damit noch verstärkt. Es ist klar, dass die Alterssicherung für Landwirte nicht dauerhaft lebensfähig ist,
wenn wir nicht umfassend reformieren. Deshalb brauchen wir eine umfassende und vor allen Dingen auch
nachhaltige Perspektive für die Alterssicherung der
Landwirtschaft.
({3})
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass diese Perspektive nur die Integration der landwirtschaftlichen Alterssicherung in die gesetzliche Rentenversicherung sein
kann.
({4})
Das ist zugegebenenermaßen nicht einfach und eine
große Herausforderung. Wir müssen uns meines Erachtens aber dieser Herausforderung stellen, um die Alterssicherung von Landwirtinnen und Landwirten nachhaltig
sicherzustellen, die jetzt am Tropf des Steuerzahlers
hängt. Wenn man die demografische und strukturelle
Entwicklung betrachtet, wird klar, dass wir nachhaltige
Lösungen finden müssen. Mit diesem Gesetzentwurf
springen Sie definitiv zu kurz.
({5})
Wir Grünen möchten auch in der Landwirtschaft flexible Übergänge in den Altersruhestand schaffen. Deswegen fordern wir die Abschaffung der Hofabgabe. Wir
möchten eine gerechte und nachhaltige Finanzierung der
Alterssicherung der Landwirte, und wir brauchen einen
besseren Schutz gegen Armut im Alter, auch und gerade
für Landwirtinnen und Landwirte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Marlene Mortler ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ganz offen: Ich bin glücklich und zufrieden, dass wir heute dieses Gesetz zum Abschluss bringen. Es hat viele Nerven,
viel Zeit und viel Arbeit gekostet, aber es hat sich gelohnt.
({0})
Deshalb mein herzliches Dankeschön an alle, die konstruktiv mitgearbeitet und mitgewirkt haben, an die Kolleginnen und Kollegen, an das Ministerium für Arbeit
und Soziales, also an Sie, Frau von der Leyen, und an
- ich sage einmal - unsere Ministerin Frau Ilse Aigner.
Die Errichtung des Bundesträgers, die wir heute beschließen, ist für mich ein Quantensprung. Warum? Denken wir nur einmal an die Diskussionen der vergangenen
Jahre, aber auch der vergangenen Monate: Wie viele
Zweifel, wie viel Kritik und wie viel Widerstand gab es
in den Ländern und bei den Trägern? Fast alle dachten,
sie wären am Ende die Verlierer. Unser Ziel war, dass es
am Ende unter den Bäuerinnen und Bauern, aber auch
unter den Beschäftigten möglichst viele Gewinner gibt.
Ich danke dafür, dass für diese Maßnahme von 2012 bis
2014 zusätzlich 150 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Das ist nicht selbstverständlich; denn ge18850
rade unter Rot-Grün wurden die Bundesmittel für die
landwirtschaftliche Unfallversicherung über Jahre hinweg gekürzt.
({1})
Unser Ziel, die Eigenständigkeit eines bewährten Systems zu erhalten, es zukunftsfest zu machen, dem Strukturwandel Rechnung zu tragen, eine moderne Organisationsstruktur aufzubauen, Kräfte und Kompetenzen zu
bündeln mit dem Ziel, mehr Gerechtigkeit und einen
bundeseinheitlichen Beitragssatz nach dem Motto „gleiche Betriebe, gleiche Beiträge“ zu schaffen, ist erreicht.
({2})
Ferner ist eine Sozialversicherung für alle erreicht.
Das ist vielen noch nicht bewusst. Wir haben nun eine
große Solidargemeinschaft für die Alterssicherung, für
die Unfall-, die Kranken- und die Pflegeversicherung geschaffen - alles unter einem Dach. Es ist die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau. Ich
kann nur an alle Beteiligten und Betroffenen appellieren:
Leben Sie diese Solidargemeinschaft!
Ich darf an dieser Stelle einen der Experten der Anhörung, nämlich Herrn Mertz vom Zentralverband Gartenbau, zitieren, der wörtlich gesagt hat: Unsere Heimat ist
die landwirtschaftliche Sozialversicherung. - Schöner
kann man es nicht sagen.
({3})
Wir haben nach der Anhörung im Sinne dieser Solidargemeinschaft nachgebessert. Ich nenne nur die Stichwörter Errichtungsausschuss, Teilnehmer und Erhöhung
der Zahl der Mitglieder. Die Regionalbeiräte werden in
dauerhafte Fachausschüsse überführt. Das heißt, die
ganze Kritik, die hier von der Opposition kam, ist obsolet, weil wir im Grunde genommen vieles, vor allem das
Wichtige, aufgegriffen haben. Ein Beispiel ist die Vermögenszuordnung. Unter den Trägern gab es eine riesige
Diskussion darüber, wie viel Geld der Bundesträger an
Mindestausstattung zu Beginn braucht. All diese Probleme haben wir gut gelöst.
({4})
Darüber hinaus war uns wichtig - dies hat die Kollegin Connemann schon sehr intensiv ausgeführt -, dass
wir auch weiterhin motivierte Mitarbeiter brauchen. Wir
wussten durch all die Gespräche von ihren Sorgen und
Befürchtungen: Kann ich meinen Arbeitsplatz behalten?
Muss ich meinen Dienstort verlassen? Aber ich sage
auch: Es gibt neue Zukunftschancen und aus meiner
Sicht auch neue Weiterentwicklungsmöglichkeiten; denn
das hervorragende Fachwissen und das überdurchschnittliche Engagement werden bei den einzelnen Trägern bundesweit dringend benötigt, und zwar nicht nur
in der arbeitsintensiven Aufbauphase.
({5})
Wir als Abgeordnete können uns natürlich besonders
gut in diese Situation hineinversetzen. Ich habe meinen
Arbeitsplatz in Berlin zwar freiwillig gewählt, aber mein
Lebensmittelpunkt ist in Mittelfranken - mein Bauernhof und meine Familie sind dort -,
({6})
sodass ich ein Stück weit diese Sorge: „Was kommt auf
mich zu?“, gut nachvollziehen kann.
Der ausgehandelte Fusionstarifvertrag, auf den ich
gern noch einmal verweise, konnte mit Augenmaß - das
ist nicht selbstverständlich ({7})
geschlossen werden. Er ist ganz wichtig und kann von
der Opposition aus meiner Sicht nicht kritisiert werden.
Er wurde zwar kritisiert, aber es gibt keinen Grund dazu;
denn wir haben im Grunde genommen alle Bedenken
ausgeräumt.
({8})
Den Belangen der Tarifvertragsangestellten und der
DO-Angestellten wurde Rechnung getragen; die A-Besoldung wurde berücksichtigt. Wenn jetzt bei der B-Besoldung auch noch das hohe Fachwissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berücksichtigt wird, dann kann
eigentlich gar nichts mehr schiefgehen. Gerade hier gibt
es hochqualifizierte Führungskräfte, deren Fachwissen
aus meiner Sicht nicht verloren gehen sollte, weil wir es
weiterhin dringend brauchen.
Zu den Linken. Gestern im Ausschuss hat es sich
noch anders angehört:
({9})
nicht zukunftsfest, nicht tragfähig, strukturelle Probleme
bleiben, Eigenständigkeit ist nicht gegeben, anderswo
eingliedern - all das sind Stichworte aus der gestrigen
Ausschusssitzung. Ich halte das für ein fatales Signal an
die Bäuerinnen und Bauern und an die Beschäftigten,
wenn Sie schon jetzt ein Gesetz kritisieren, das noch
nicht einmal beschlossen, geschweige denn in Kraft getreten ist.
({10})
Die Aussage der Linken, dass sie fest an der Seite der
Landfrauen stehen, habe ich mir gemerkt.
({11})
Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich hier eingelassen
haben. Marlene Mortler und Gitta Connemann sind zum
Beispiel Landfrauen.
({12})
Wenn wir in Zukunft weiterhin unseren Sachverstand
einbringen - ich bin nebenbei Bäuerin -, dann kann eigentlich gar nichts schiefgehen. Es kann auch nichts
schiefgehen, wenn Sie eine Maßnahme, die unter der Regierung Kohl mit Minister Theo Waigel 1995 beschlossen worden ist, nämlich die sogenannte Defizithaftung in
der landwirtschaftlichen Alterskasse, auch weiterhin
mittragen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Bauern die
Folgen des Strukturwandels untereinander selbst finanziell ausgeglichen. Seit 1995 wird der finanzielle Ausgleich der Folgen des Strukturwandels durch die Bundesregierung über die Defizithaftung abgesichert. Wir
stehen auch in Zukunft dahinter.
({13})
Aufgabenübertragung an Dritte. Lieber Kollege
Ostendorff, heute bin ich etwas freundlicher zu dir, weil
wir einen tollen Gesetzentwurf verabschieden.
({14})
Die Übertragung an Dritte ist nichts Neues; es gab sie
schon immer.
({15})
Das ist auch in der allgemeinen Sozialversicherung möglich. Ich wiederhole einfach noch einmal, was Kollege
Straubinger gesagt hat: LSV-Versicherte erhalten diejenigen Leistungen, die im Leistungs- und Kostenverzeichnis stehen,
({16})
und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sie Mitglied des Bauernverbandes sind oder nicht.
({17})
Mehr noch: Der Bauernverband bei uns in Bayern nimmt
ihm übertragende Aufgaben für alle Versicherten zum
Nulltarif wahr. Das wollte ich zur Klarstellung sagen.
({18})
Mir ist es lieber, wenn jemand diese Aufgaben erfüllt,
den ich für seriös halte, und nicht jemand, der irgendwelchen Firlefanz macht.
({19})
Zur Hofabgabeverpflichtung. Ich verstehe nicht,
wieso Sie die Hofabgabeverpflichtung zu einem Riesenproblem hochgepusht haben, nur weil einige wenige in
Ihren Büros oder wo auch immer aufgetaucht sind und
sich beschwert haben. Diese Erfahrung habe auch ich
gemacht. Aber: Wir müssen an das Große und Ganze
denken. Wir halten an dem Grundsatz „Keine Rente
ohne Hofabgabe“ fest, weil wir auch an die jungen Menschen denken müssen.
({20})
Mein Sohn zu Hause wartet, ehrlich gesagt, schon darauf, dass der Vater den Hof endlich abgibt,
({21})
und der Vater freut sich schon, dass er dann morgens
nicht mehr als Erster aufstehen muss.
({22})
Meine Damen und Herren, wer abgabewillig ist, kann
die Hofabgabeverpflichtung schon heute erfüllen, weil
wir im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ein breites Spektrum an Abgabemöglichkeiten geschaffen haben. Die
verschiedenen Möglichkeiten müssen nur genutzt werden.
Noch einmal: Wir müssen den Blick in diesem Fall
auf die Jugend richten.
({23})
Wir müssen vor allem die Frage, die Kollegin
Connemann angedeutet hat, ernst nehmen: Was bedeutet
es, wenn man die Hofabgabeklausel gänzlich abschafft?
Mit dieser Frage müssen wir uns näher befassen.
({24})
Ich weise an dieser Stelle darauf hin: Wir haben die Situation verbessert. Wir haben erreicht, dass in Zukunft
ein Hof abgegeben bzw. die Zahlung einer Rente ausgelöst werden kann, egal wie alt bzw. jung - das ist entscheidend - die Bäuerin ist.
({25})
Frau Kollegin.
Das heißt, der Altersunterschied von zehn Jahren, der
bisher für Ehepaare galt, spielt in Zukunft keine Rolle
mehr. Entscheidend ist, dass die Bäuerin abgabewillig
ist. Wir haben dafür gesorgt, dass für den landwirtschaftlichen Betrieb keine Probleme entstehen. Damit haben
wir eine Verbesserung erzielt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich weiß. Die Frauenquote, Herr Präsident.
Nein, nein. Redezeitquoten.
({0})
Herr Präsident, ich bin gnädig. Die weibliche Sicht
der Dinge ist immer ein Gewinn. Da ein Bauernhof in
der Regel aus Mann und Frau besteht, kommt es hier
aber nicht auf die männliche oder die weibliche Sichtweise an,
({0})
sondern es geht um die Anliegen, die ein Betrieb als
Ganzer hat. Daran orientieren wir uns.
Danke schön.
({1})
Nun erhält der Kollege Anton Schaaf das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Mortler,
wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wäre mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Schluss gewesen. Sie
selber haben nämlich nach der Anhörung eine Presseerklärung herausgegeben, in der es hieß, dass in der Anhörung kein Verbesserungsbedarf deutlich geworden sei.
({0})
Ich sage Ihnen ganz klar: Hätten Sie als Parlamentarier
nicht massiv an diesem Gesetzentwurf gearbeitet, würden Sie heute keine Zustimmung der SPD-Bundestagsfraktion bekommen.
({1})
Sie hätten überhaupt keine Chance.
Ich hatte ganz klar den Eindruck, dass der Gesetzentwurf, der aus dem Ministerium kam, eher vom Bauernverband geschrieben worden ist und nicht etwa im Interesse der Gartenbauer war. All die Nachbesserungen, die
wir vorgenommen haben, schützen zum Beispiel den
Gartenbau davor, bei der Fusion völlig unterzugehen.
Dazu waren in Ihren Vorlagen keine Regelungen vorgesehen; das wissen Sie ganz genau.
({2})
Sie treten wirklich sehr einseitig für die Interessen des
Bauernverbandes ein, Frau Mortler. Das ist ganz deutlich
geworden.
({3})
Zur Drittbeauftragung. Ich sage Ihnen klipp und klar:
Mein Eindruck von der Drittbeauftragung ist, dass sie
am Ende ein Versorgungssystem für verdiente Bauernfunktionäre ist und deshalb erhalten werden soll.
({4})
Das ist das, was dahintersteckt. Damit sollte man ehrlicher umgehen. Es geht um die Frage: Macht sie in ihrer
jetzigen Form tatsächlich Sinn? Wir sagen: Nein, in dieser Form macht sie überhaupt keinen Sinn.
Friedrich und Matthias, ihr sagt: Wir lehnen das ab. Ja, es gibt durchaus Möglichkeiten, zu begründen, warum man diesen Gesetzentwurf ablehnt. Wir haben uns
für einen anderen Weg entschieden, weil dieser Gesetzentwurf, nachdem er im parlamentarischen Verfahren
nachgebessert worden ist, die richtige Richtung einschlägt und zukünftig notwendige Veränderungen nicht
verhindert oder kaputtmacht, sondern es ermöglicht, die
Dinge weiterzuentwickeln. Deswegen haben wir uns
entschlossen, ihm zuzustimmen. Es ist nämlich an der
Zeit, bei der Fortentwicklung der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung voranzukommen; das ist der Hintergrund. Ich möchte allerdings nicht, dass sich irgendein
Mitglied der Regierungskoalition daran gewöhnt, dass
Sozialdemokraten den Gesetzentwürfen der Koalition
zustimmen.
({5})
Wir machen das nur, wenn sie einigermaßen brauchbar
sind. Deswegen stimmen wir ihnen ja auch so selten zu.
({6})
Zum Thema Hofabgabe. Wenn wir uns anschauen,
welche Riesengefahr gerade auch in der Landwirtschaft
besteht, dass die Menschen, die dort sehr viele Jahre gearbeitet, geschuftet haben, am Ende ihres Lebens altersarm werden,
({7})
dann werden wir konstatieren müssen, dass wir mit dem
System, das wir jetzt haben, einfach nicht vorankommen
und die Bäuerinnen und Bauern nicht vor Altersarmut
schützen werden.
({8})
Das ist so ähnlich wie beim Thema Soloselbstständige
und Ähnlichem.
({9})
Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir
ein vereinheitlichtes System entwickeln können, das Altersarmut definitiv verhindert, und zwar zu Konditionen,
die die Menschen auch tragen können.
({10})
Wir Sozialdemokraten haben eine Antwort darauf gegeben, nämlich mit dem Vorschlag einer Erwerbstätigenversicherung. Im ersten Schritt könnte sich die Arbeitsministerin zumindest überlegen, eine Versicherungspflicht für
alle Menschen einzuführen, die in irgendeiner Form erwerbstätig sind,
({11})
damit man hier vorankommt und Altersarmut verhindert.
({12})
Durch eine Versicherungspflicht würde zum Beispiel
auch verhindert, dass sich Menschen von der Hofabgabe
befreien lassen und am Ende als Sozialfall Leistungen in
Anspruch nehmen müssen, weil sie keine ausreichenden
Alterseinkünfte haben. An dieser Stelle bewegen Sie
sich aber keinen Millimeter.
({13})
Am Gesetzentwurf, der ins Parlament eingebracht
wurde, ist mir aufgefallen - hier bin ich sehr empfindlich -, dass unsere Bundesarbeitsministerin an dieser
Stelle offensichtlich überhaupt nicht aufgepasst und kein
Herzblut gezeigt hat. Die Bundesarbeitsministerin ist
eine Verfechterin der Rente mit 67. Sie hat sich klipp
und klar dazu bekannt. Das ist auch in Ordnung. Ich
habe damit nur wenige Schwierigkeiten.
({14})
Sie stimmt aber einem Gesetzentwurf zu, in dem ein
Zwangsruhestand vorgesehen ist.
({15})
Die Ministerin handelt an dieser Stelle anders, als sie redet. Das ist bei dieser Ministerin aber sehr üblich.
({16})
Gott sei Dank haben die Koalitionäre das auf Verlangen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer korrigiert. Wir haben auch unseren Anteil daran, dass man
hier weiter vorangekommen ist. Das ist aber typisch für
diese Ministerin.
Meine Damen und Herren, es gäbe wirklich viele
Gründe, zu sagen: Wir machen da nicht mit. - Das ist
immer begründbar. Wir sehen aber eine Chance dafür,
das vernünftig weiterzuentwickeln. Wir sehen aber auch
die Notwendigkeit, nach 2013 mit veränderten Mehrheiten tatsächlich noch einmal an die Dinge heranzugehen,
die angesprochen worden sind, zum Beispiel auch an das
Thema Parität.
An meine Freunde von der FDP, weil Sie, Herr
Geisen, dieses System völlig zu Recht so gelobt haben:
Wir reden hier über Solidarität, über Kollektivität und
über Parität. Es ist kein Teufelszeug, wenn man sich kollektiv absichert, wenn Menschen für Menschen einstehen und nicht individualisieren und privatisieren. Wenn
Sie aus der Debatte irgendetwas mitnehmen wollen,
dann nehmen Sie mit: Da, wo Menschen für Menschen
einstehen, wo Solidarität, Parität und Kollektivität herrschen, sind die Systeme besser. Individualität führt letzten Endes zu Armut von Menschen.
({17})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Ende dieser Debatte möchte ich zunächst einmal auf einen Vorwurf seitens der Opposition eingehen, der hier
nicht so im Raum stehen bleiben kann. Es geht um unser
Frauenbild.
({0})
Ich will darauf hinweisen, dass aus den Reihen der
Koalition heute drei Rednerinnen das Wort ergriffen haben - alle drei sind übrigens Landfrauen; auch Christel
Happach-Kasan, die für meine Fraktion gesprochen
hat - und dass auf der Seite der Bundesregierung zwei
Fachministerinnen dieses Vorhaben erarbeitet, begleitet
und vorangetrieben haben.
({1})
Für uns ist es vollkommen selbstverständlich, dass sich
Frauen in dieser Debatte zu Wort melden und ihren
wichtigen Beitrag leisten. Das wird auch dann der Fall
sein, wenn die Selbstverwaltung jetzt den weiteren Fortgang in die Hand nimmt.
({2})
Ich glaube, man kann feststellen, dass wir heute ein
sehr komplexes und anspruchsvolles Gesetzgebungsvorhaben zu Ende bringen. Es ist schon deswegen abweichend von der Norm, weil es fachgebietsübergreifend
bearbeitet wurde. Federführend ist die Sozialpolitik, aber
einen wichtigen Beitrag haben ganz naturgemäß auch
die Kollegen aus dem Fachausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz erbringen müssen. Ich möchte mich bei allen Beteiligten dafür bedanken, dass dieses gemeinsame Wirken so gut gelungen ist
und heute so erfolgreich abgeschlossen werden kann.
Besten Dank dafür.
({3})
Es war aber auch deshalb sehr komplex, weil ein einheitlicher Bundesträger in einem Bereich geschaffen
wird, der sich seit 1888 historisch ganz unterschiedlich
entwickelt hat, mit unterschiedlichen Interessen zwischen
Nord und Süd, zwischen Ost und West und zwischen den
einzelnen Fachbereichen, also zwischen der Viehzucht,
der Milchwirtschaft, dem Ackerbau, der Forstwirtschaft
und dem Gartenbau, welcher sich wiederum in den Erwerbsgartenbau und den Landschaftsgartenbau aufteilt.
Die Stichworte zeigen Ihnen schon: Es war extrem
schwierig, das zusammenzuführen. Ich freue mich, dass
das am Ende erreicht werden konnte.
Das Struck’sche Gesetz ist mit diesem Gesetzgebungsvorhaben bekräftigt und unterstrichen worden. Der
Gesetzentwurf, den die Bundesregierung eingebracht
hatte, war nicht schlecht. Aber das, was wir abschließend nach Anhörungen und Änderungsanträgen heute
vorlegen, ist gut, sogar ziemlich gut, so gut, dass auch
die SPD ihr Herz über die Hürde werfen konnte und diesem Gesetzentwurf heute zustimmt.
({4})
Wir haben angesichts der Komplexität sehr viel Wert
darauf gelegt, dass alle Beteiligten in Anhörungen und
vielen Gesprächen einbezogen wurden. Wir haben versucht, den Sorgen und Bitten der Betroffenen so weit wie
möglich Rechnung zu tragen. Für uns, für die FDP, war
besonders wichtig, den Beschäftigten im Gartenbau Gewicht zu verleihen und zu helfen. Hier bestand anfangs
der Beratungen die Sorge, berechtigt oder unberechtigt,
dass sie gegenüber der Landwirtschaft und auch der
Forstwirtschaft möglicherweise nicht ausreichend Gehör
finden könnten. Diese Befürchtung kann heute so nicht
mehr aufrechterhalten werden. Ich glaube, dass wir den
Beschäftigten im Gartenbau an vielen Stellen ganz konkret geholfen haben und sie deswegen mit dem heutigen
Ergebnis der Gesetzgebungsarbeit zufrieden sein können.
({5})
Drei Minuten Redezeit sind sehr kurz. Wir legen
heute eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg der
Modernisierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zurück. Das wird nicht die letzte Etappe sein. Aber
das, was wir heute hier beraten und beschließen, ist ein
gutes Gesetz, dem Sie mit Freude Ihre Zustimmung geben können. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre
Aufmerksamkeit und hoffe jetzt auf ein klares Votum für
die Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung.
Vielen Dank.
({6})
Wir stellen jetzt fest, wie klar das Votum wird. Wir
kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung
der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache
17/8616, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
den Drucksachen 17/7916 und 17/8495 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung angenommen.
Ich rufe auf die
dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Dann ist mit den Stimmen der Koalition und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke der Gesetzentwurf
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 17/8619. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({0}), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Impulse für den Standort Deutschland - Für
eine moderne Industriepolitik
- Drucksache 17/8572 Überweisungsvorschlag
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai
Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Martin Lindner ({2}), Claudia Bögel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Marktwirtschaftliche Industriepolitik für
Deutschland - Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft
- Drucksache 17/8585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland verfügt über eine starke industrielle
Basis. Deutschland ist ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort, eine erfolgreiche Industriegesellschaft. Das ist
kein Zufall. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie das vor
15 Jahren am Ende der Regierungszeit Kohl Ende der
90er-Jahre war, als Wirtschaftsmagazine aus dem Inund Ausland die deutsche Volkswirtschaft quasi als
„kranken Mann Europas“ darstellten. Dass wir heute
besser dastehen, ist kein Wunder und kein Zufall, sondern Ergebnis harter Arbeit wie auch schmerzhafter
Strukturreformen in der rot-grünen Zeit, die aber richtig
waren, damit Deutschland vorankommen konnte. Dazu
bekennen wir uns.
({0})
Dass wir eine breite Wertschöpfungskette von der
Grundstoffindustrie über den industriellen Mittelstand
bis hin zu den kleinen Hightechschmieden haben, ist
kein Zufall, sondern vor allen Dingen das Ergebnis von
fleißiger Hände Arbeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich eingesetzt haben, von klugen Unternehmern, die die richtigen Entscheidungen getroffen haben, von erfindungsreichen Ingenieuren, Forschern und
Technikern in diesem Land.
Darauf können wir stolz sein in Deutschland. Das ist
Grund zu Selbstbewusstsein, aber es ist mitnichten ein
Grund zu Selbstzufriedenheit oder gar zu Überheblichkeit. Denn wir stehen in den nächsten Jahren vor erheblichen Herausforderungen. Deshalb ist es kein Grund
- das richtet sich an die Bundesregierung -, sich auf den
Erfolgen der Vorgängerregierungen auszuruhen und die
Hände tatenlos in den Schoß zu legen.
Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen. Sie
werden anstrengend. Wir können sie meistern, aber dafür müssen jetzt richtige Entscheidungen getroffen werden.
Was sind die Herausforderungen? Das ist erstens der
veränderte Altersaufbau bzw. die demografische Entwicklung in diesem Land. Immer mehr vertieft sich zurzeit die Spaltung des Arbeitsmarktes. Auf der einen
Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend
Fachkräfte. Auf der anderen Seite sind viel zu viele
Menschen in Deutschland abgehängt und ausgeschlossen.
Während wir beispielsweise dafür sorgen müssen, dass
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland
vorankommt und die Frauenerwerbsquote in diesem
Land steigen kann, reichen Sie ein wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch unsinniges Betreuungsgeld aus: eine
Fernhalteprämie vom Arbeitsmarkt für Frauen. Das ist
der falsche Weg.
({1})
Beim Thema Fachkräftesicherung fehlt Ministerin
von der Leyen schlicht und ergreifend ein Konzept. Außer Spesen nichts gewesen. Ein Showeffekt in Meseberg: Das war alles. Es gibt kein Konzept. Genau das
Hubertus Heil ({2})
vermisst die Wirtschaft in Deutschland zu Recht. Ein
Konzept zur Fachkräftesicherung? Fehlanzeige bei dieser Bundesregierung.
({3})
Die zweite große Herausforderung, vor der das Industrieland Deutschland steht, ist der nach wie vor rasante
technische Wandel. Er bleibt nicht stehen. Darauf müssen wir uns einstellen, sowohl bei Qualifizierung und
Bildung, Ausbildung und Weiterbildung als auch vor allen Dingen dadurch, dass wir in diesem Land eine Forschungs- und Innovationspolitik betreiben, die die Chancen des technischen Wandels für gute Arbeitsplätze in
einer stärker wissensbasierten Wirtschaft nutzt.
Wo ist denn Ihr Konzept zur steuerlichen Forschungsförderung, das Sie groß angekündigt haben, geblieben?
Was ist mit dem Anreiz, mehr private und öffentliche Investitionen zu verbinden, um Innovationen in diesem
Land voranzubringen?
Nein, meine Damen und Herren, Sie setzen die falschen Schwerpunkte. Wir müssen in Deutschland auf die
besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen setzen.
Das erreichen wir nur mit einer anderen Forschungs- und
Qualifizierungspolitik, aber nicht mit immer niedrigeren
Löhnen.
({4})
Eine der größten Herausforderungen ist - das machen
Gespräche mit Unternehmern in Deutschland deutlich eine saubere, versorgungssichere und bezahlbare Energieversorgung. Wir haben gestern im Deutschen Bundestag leidenschaftlich darüber diskutiert.
Die Art und Weise, wie diese Bundesregierung, namentlich die sich blockierenden Minister Röttgen und
Rösler,
({5})
die Energiewende in diesem Land vor die Wand fährt, ist
das größte Standortrisiko für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland.
({6})
Wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie zumindest auf Herrn Keitel, den BDI-Präsidenten, der diese
Bundesregierung geradezu leidenschaftlich auffordert,
sich endlich der Umsetzung der Energiewende zuzuwenden. Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie Ihrem Kommissar Oettinger, der auf die schöne Frage, was
er zurzeit zur deutschen Energiepolitik sagt, antwortet:
Welche Energiepolitik?
({7})
Weder beim Netzausbau noch bei der Integration erneuerbarer Energien und der Planungs- und Investitionssicherheit für die Modernisierung des Kraftwerksparks
und den Bau neuer Kraftwerke kommen wir voran, weil
Sie die Entwicklung verschlafen haben und Ihr Zickzackkurs die Versorgungssicherheit in Deutschland bei
der Energieversorgung gefährdet. Ein Industrieland wie
Deutschland braucht sichere, saubere und bezahlbare
Energie. Auch da versagt diese Bundesregierung. Sie haben keinen Masterplan zur Umsetzung der Energiewende.
({8})
Last, but not least: Neben der Demografie, neben dem
technischen Wandel und neben den Themen Energiewende und Ressourcenknappheit ist es vor allem die
internationale Verflechtung unserer Volkswirtschaft, die
wir im Blick haben müssen; zum einen, weil aufstrebende Industriemächte in anderen Ländern die Konkurrenz verschärfen werden und weil wir im internationalen
Wettbewerb mit China, Brasilien, Indien und auch Russland mithalten müssen. Zum anderen müssen wir eines
im Blick haben: Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen, weil es Deutschland dauerhaft wirtschaftlich nicht
gut gehen kann, wenn es dem restlichen Europa schlecht
geht. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Union, 40 Prozent gehen in die Euro-Zone. Deshalb
ist es nicht richtig, zu glauben, dass wir die Krise im
Euro-Raum lösen können, indem wir einfach nur Hilfskredite ausreichen und gleichzeitig harte fiskalische
Auflagen machen.
Wir brauchen nicht nur in Deutschland, sondern in
ganz Europa eine Stärkung der industriellen Basis unseres Kontinents. Wir brauchen eine Stärkung der realen
Wertschöpfung und nicht der Finanzwirtschaft. Dafür
braucht man Geld, das ist keine Frage. Da wir auch in
Deutschland die Schulden nicht weiter nach oben treiben
dürfen und auch hier Haushaltskonsolidierung betreiben
müssen, sage ich Ihnen: Wir brauchen das Aufkommen
aus einer Finanztransaktionsteuer, um ein solches europäisches Aufbauprogramm auch in den nächsten Jahren
schultern zu können.
({9})
Wir alle erinnern uns an den Satz von Bill Clinton:
„It’s the economy, stupid!“ Man muss diesen Satz heute
abwandeln. Im Zuge der Finanzkrise muss man sagen:
„It’s the real economy, stupid!“ Es ist die Realwirtschaft,
also die reale Wertschöpfung, die ein Land erfolgreich
macht. Das ist die gute deutsche Erfahrung.
Zu den 5 Millionen Arbeitslosen sage ich Ihnen: Sie
sind das Ergebnis der Politik von Helmut Kohl und wurden uns damals von Schwarz-Gelb hinterlassen. Wir haben den Reformstau aufgelöst.
({10})
Sie erschaffen in Deutschland gerade einen neuen Reformstau. Ich sage Ihnen: Ab 2013 wird es für uns viel
Arbeit geben, damit Deutschland ein erfolgreiches Industrieland bleibt und wir im produzierenden Gewerbe
und im Mittelstand durch industriebezogene Dienstleistungen und auch durch soziale Dienstleistungen Wertschöpfung haben. Hier sind jetzt die Weichen zu stellen.
Herr Kollege.
Deshalb braucht Deutschland Impulse für ein industriepolitisches Konzept. Dieses Konzept, das wir heute
vorlegen, fehlt Ihnen.
Herzlichen Dank.
({0})
Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat steht Deutschland, was das Wirtschaftswachstum anbelangt, im Moment ganz gut da.
({0})
Wir hatten seit der Wiedervereinigung zweimal in Folge
das höchste Wachstum, aber auch im Bereich der Exporte steht Deutschland sehr gut da. Im letzten Jahr
wurde die 1-Billion-Grenze, also die 1 000-MilliardenGrenze, überschritten, und auch im Bereich des Arbeitsmarktes stehen wir sehr ordentlich da. Dass wir so gut
dastehen, ist im Wesentlichen der Industrie und unseren
industriellen Wertschöpfungen zu verdanken, an die wir
alle gern unsere Sonntagsreden adressieren.
Anders als in anderen Ländern liegt der Anteil des
verarbeitenden Gewerbes an der Gesamtleistung in
Deutschland bei rund 20 Prozent. Dieser Anteil ist fast
doppelt so hoch wie beispielsweise in den USA, in
Großbritannien oder auch in Frankreich. Der Anteil ist
sogar höher als beispielsweise in Japan. Dies ist auch der
Ausweis einer Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft und der deutschen Industrie, die in den vergangenen Jahren in der Tat gemeinsam von den Unternehmen und den Arbeitnehmern, aber auch von den unterschiedlichen Regierungen in diesem Land erarbeitet
wurde.
({1})
Deshalb ist es richtig, dass gerade im Bereich des Arbeitsmarktes mit der Agenda 2010 wesentliche Impulse
gesetzt werden konnten, sodass die Belange des Arbeitsmarktes und die Interessen des Industriestandortes entsprechend berücksichtigt werden konnten und ein Arbeitsplatzaufbau stattfinden konnte. Deshalb finde ich es
schade, dass die Letzten, die hier im Hause die Agenda
2010 von Rot-Grün verteidigen, von der heutigen Regierung sind.
({2})
Das Ergebnis ist, dass wir heute Arbeitsplätze aufbauen können. Im vergangenen Jahr gab es 131 000
mehr Erwerbstätige im verarbeitenden Gewerbe. Hinzu
kommen noch mehrere Hunderttausend bei den unternehmensnahen Dienstleistungen, die im Wesentlichen
mit der Industrie zusammenhängen.
({3})
Das ist die Realität, und das ist das Ergebnis guter Politik von verschiedenen Regierungen in den letzten zehn
Jahren.
({4})
- Aber ihr distanziert euch davon und wollt nichts mehr
davon wissen. All die Dinge, die dazu geführt haben,
dass wir heute sehr gut dastehen, wollt ihr wieder rückgängig machen. Wir wollen beispielsweise den flexiblen
Arbeitsmarkt beibehalten.
Aber bei aller Freude über die gute Situation sollten
wir jetzt natürlich nicht innehalten und uns ausruhen;
({5})
das machen wir mit Sicherheit nicht.
({6})
Jetzt gilt es, den Weg konsequent weiterzugehen
({7})
und an den Stellen zu arbeiten, die für den Industriestandort von entscheidender Bedeutung sind. Ich möchte
gern einige Punkte anführen:
Zuvörderst ist die Infrastruktur zu nennen. Wir brauchen in Deutschland und auch in Europa eine herausragende Infrastruktur. Das gilt sowohl für weiche als auch
für harte Faktoren. Wir brauchen Bildung und Ausbildung, Fachkräfte, Forschung und Entwicklung, aber
auch Technologieoffenheit.
({8})
Wir brauchen die harte Infrastruktur: Straßen, Schienen,
Flughäfen, Wasserstraßen, aber auch Strom- und Gasleitungen genauso wie funktionierende Messestandorte
oder auch Kultureinrichtungen wie Galerien und anderes
mehr.
({9})
Es gibt aber auch Felder, bei denen Anlass zur Sorge
besteht, gerade bei dieser Infrastruktur. Ich freue mich
über den Satz im Antrag der SPD-Fraktion, nach dem es
einen neuen gesellschaftlichen Konsens beim Ausbau
der Infrastruktur braucht. Lösungsmöglichkeiten werden
im Antrag allerdings leider nicht offeriert, sondern es
wird nur das Problem angesprochen. Dieses Problem haben wir gemeinsam. Dieses müssen wir lösen.
Die Lösung kann sicher nicht darin bestehen, dass wir
zu den vorhandenen Infrastrukturprozessen weitere Prozesse hinzufügen und dann alles noch länger dauert.
Deshalb ist eine gemeinsame Anstrengung zur Bewältigung der großen Herausforderungen im Energiebereich,
beim Netzausbau beispielsweise, gefordert.
Ein ganz großes Thema für mich - deshalb will ich
das an den Anfang stellen - ist die Technikfeindlichkeit,
die ich in Deutschland an der einen oder anderen Stelle
feststelle;
({10})
ich gehe nachher noch auf die Themen Energie und Rohstoffe ein. Deutschland ist das Land der Dichter und
Denker, der Tüftler und Erfinder. Ich gewinne aber zunehmend den Eindruck, dass wir darüber hinaus auch
das Land der Nörgler und Neinsager sind. Das ist anders
als in anderen Ländern. Wer heute nach China oder auch
in viele aufstrebende Schwellenländer schaut, stellt fest,
dass es dort noch eine geradezu offene Begeisterung für
die Chancen gibt, die in der Technik liegen, während bei
uns immer erst die - vermeintliche - Gefahr gesehen
wird, die in einer Technik steckt.
Ich bin der Meinung: Wir werden als Industriestandort lange nicht reüssieren können, wenn wir hier in Technikfeindlichkeit verfallen. Wir brauchen Technologieoffenheit und eine neue Technologiefreundlichkeit in
unserem Land.
({11})
Das beginnt selbstverständlich in der Schule, bei der
Ausbildung und auch bei der Erziehung. Dort müssen
wir diese Dinge vermitteln. Das heißt für mich für unser
politisches Handeln aber auch, dass wir Technologien,
die am Anfang ihrer Entwicklung stehen, von denen wir
nicht wissen, ob sie letztlich erfolgreich sein werden,
nicht schon am Anfang bekämpfen und ihre Entwicklung hemmen dürfen, sodass sie gar nicht erst reifen
können.
({12})
Die CCS-Technologie ist ein Beispiel dafür, die aktuelle
Diskussion über das Thema Fracking im Energiebereich
- Fracking wird zur Ausbeutung von Erdgas in unkonventionellen Lagerstätten seit Jahrzehnten erfolgreich
angewandt - ist ein anderes.
Aber das größte Fanal für mich ist der Wegzug der
Grünen Gentechnologie von BASF,
({13})
wobei die nicht einmal ein großes Aufheben davon machen und dies etwa dem Standort zuschreiben, sondern
schlicht feststellen, dass 80 bis 90 Prozent der Menschen
in diesem Land, parteiübergreifend, bei der Gentechnologie eher Gefahren und Probleme als Chancen sehen.
({14})
Das führt dazu, dass solche Technologien nicht mehr in
Europa angewandt werden, sondern in anderen Teilen
der Welt.
Das ist wie in den 80er-Jahren, als es um die Herstellung des synthetischen Insulins ging: Die Fabrik war fertig, aber dann hat der heutige Weltstaatsmann Fischer als
Umweltminister den Betrieb dieser Fabrik verhindert,
weil das des Teufels war.
({15})
Heute sind über 99 Prozent des Insulins, das weltweit
verbraucht wird, synthetisch. Aber die Herstellung findet
nicht in Deutschland statt;
({16})
es gibt keine Wertschöpfung in diesem Bereich.
({17})
Deshalb muss es parteiübergreifend unser Ziel sein, hier
für Technologiefreundlichkeit und Technologieoffenheit
zu sorgen.
({18})
Neben der Infrastruktur und der Technologiefreundlichkeit gibt es zwei Dinge, die mich besonders umtreiben: die Energie- und die Rohstoffpolitik. In den vergangenen Jahren waren häufig die Arbeitskosten, auch die
Besteuerung, von entscheidender Bedeutung bei der
Wahl des Standortes und sind es teilweise auch heute
noch. Wir haben im Bereich der Forschung und Entwicklung sehr viel erreicht. Diese Regierung gibt für
Forschung und Entwicklung so viel aus wie keine zuvor.
Wir stehen kurz davor, das Ziel, 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung zu investieren, zu erreichen. Durch das ZIM-Programm und andere
Programme für den Mittelstand haben wir es geschafft,
Technologie in der Breite voranzubringen. Das wird uns
auch attestiert. Wenn man aber die Rahmenbedingungen
für Forschung und Industrie insgesamt betrachtet, stellt
man fest, dass es noch ein Feld gibt, auf dem wir gegenüber vielen anderen Ländern Nachholbedarf haben: bei
der steuerlichen Forschungsförderung.
({19})
Dieser Mangel ist bei Forschungseinrichtungen ein zentrales Thema und führt dazu, dass sie nicht nach
Deutschland kommen.
({20})
Deshalb muss Ziel dieser Regierung sein - und ist es
auch -, in dieser Legislaturperiode den Einstieg in die
steuerliche Forschungsförderung zu schaffen.
({21})
Bei der Energie- und Rohstoffpolitik ist zu berücksichtigen, dass die Energiekosten heute ein zentraler
Standortfaktor sind.
({22})
Der Energiekostenanteil am Bruttoproduktionswert ist in
der Industrie von 1990 bis 2008 von 2,3 auf 3,4 Prozent,
also um rund 50 Prozent, gestiegen. Die Effizienzgewinne werden durch die Kostensteigerungen weitgehend
neutralisiert. Die Preise für Industrierohstoffe sind heute
für 76 Prozent der Unternehmen und 93 Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland das größte Problem.
({23})
Auch hierzu ein paar Zahlen: Während in Deutschland 1990 für 88 Millionen Tonnen Rohöl, die importiert
wurden, umgerechnet gerade einmal 12 Milliarden Euro
gezahlt wurden, waren es 2011 für 90 Millionen Tonnen
53 Milliarden Euro.
({24})
Ähnlich verhält es sich beim Gas und beim Strom. Die
Industriestrompreise sind in Deutschland gegenüber
Frankreich deutlich höher: Rund 9 Cent sind es in
Deutschland, während es 5 Cent in Frankreich sind.
Das sind also zentrale Handlungsfelder. Diese Regierung hat bei der Verbesserung der Rohstoffeffizienz und
der Erhöhung der Recyclingquote wesentliche Schritte
getan. Auch mit Blick auf die Nutzung von heimischen
Rohstoffen sind wir gut unterwegs. Aber wir brauchen
auch Rohstoffimporte. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich als längst überfälligen Schritt die Rohstoffallianz,
die jetzt von der deutschen Industrie gestartet worden ist.
({25})
Es ist zuvörderst die Aufgabe der Industrie, für ihre Rohstoffversorgung zu sorgen. Ich begrüße es ausdrücklich,
dass jetzt namhafte Unternehmen mit nennenswerten
Beträgen bereit sind, das Know-how, das wir in diesem
Bereich hatten - vor 20 Jahren Degussa und Metallgesellschaft, um nur einige Beispiele zu nennen - und das,
auch durch unternehmerische Fehlentscheidungen, verloren gegangen ist, wieder aufzubauen. Das wird ein langer, schwieriger Weg; es geht nicht von heute auf morgen. Wir werden das begleiten. Wir sehen diese Initiative
als den Nukleus für die europäische Entwicklung an.
Denn die europäische Ebene ist die richtige Betriebsgröße, um dauerhaft zu agieren.
Ähnlich verhält es sich im Energiebereich. Dort gilt
es, für die Industrie wettbewerbsfähige Bedingungen zu
erhalten. Das müssen wir beim Umbau der Energieversorgung intelligent miteinander verbinden. Wir tun das
beispielsweise durch den aktuellen Entwurf einer Verordnung zu abschaltbaren Lasten. Wenn nämlich in Zeiten des Spitzenverbrauchs nicht genug Energie erzeugt
werden kann bzw. es sehr lange dauert, bis genug erzeugt werden kann und deshalb enorme Investitionen in
Milliardenhöhe erfolgen müssen, dann kann man versuchen, dieses Problem durch Abschaltung zu lösen und
nicht allein auf Erzeugung oder Speicherung zu setzen.
Manche industrielle Großverbraucher sind in der Lage,
innerhalb kürzester Zeit für Sekunden, Minuten oder
Stunden vom Netz zu gehen. Auch Kühlhäuser - das ist
ein Angebot, das über die Industrie hinausgeht - können
entsprechend abschalten. So kann diesen Spitzen begegnet und die Versorgungssicherheit und Qualität der
Stromversorgung sichergestellt werden.
Auf all diesen Wegen sind wir unterwegs. Wir wollen
uns nicht auf dem Stand, auf dem wir heute stehen, ausruhen - nämlich an der Spitze -, sondern stellen die Weichen so, dass wir auch dort bleiben. Denn wer nicht immer besser wird, der hört auf, gut zu sein. Diese
Regierung wird diesen Weg mit Technologieoffenheit,
Technologiefreundlichkeit und konsequenter Politik für
eine sichere und preiswerte Rohstoff- und Energieversorgung weitergehen.
Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam für den
Industriestandort arbeiten. Auch die Opposition ist aufgerufen, mitzumachen. Das ist nicht nur Aufgabe der
Regierung und kann nicht nur Aufgabe der Regierung
sein, sondern das ist eine der zentralen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, vor denen wir stehen.
Vielen Dank.
({26})
Vielen Dank, Kollege Dr. Pfeiffer.
Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Lötzer. Bitte schön, Frau Kollegin Ulla
Lötzer.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist
in der Tat an der Zeit, hier endlich eine Debatte über die
Zukunft der Industriepolitik in Deutschland zu führen.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen sich
dem Druck zunehmender Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt; sie sehen sich durch Ihre Politik, Herr Pfeiffer,
aber auch demütigenden Arbeitsbedingungen, Niedriglöhnen und einem Armutssektor ausgesetzt. Und, ja,
Herr Heil, Finanzmarktakteure haben großen Schaden
auch in der Industrie angerichtet, mit Spekulationen,
aber auch mit ihrem maßlosen Druck auf Maximalrenditen in der Industrie. Wenn ein Unternehmen beispielsweise die Gebäudesanierung seiner Fabrik verweigert,
weil sie sich erst in vier Jahren statt in einem Jahr rechnet, ist das ein typisches Beispiel dafür.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen hat kürzlich in einem
Gutachten festgestellt, das kohlenstoffbasierte Wirt18860
schaftsmodell gefährde das Klimasystem und die Existenzgrundlagen. Er fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag, eine große Transformation zur sozialökologischen
Gesellschaft.
Dies alles erfordert eine aktive und zukunftsorientierte Industriepolitik. In der Industriepolitik der Bundesregierung, Herr Pfeiffer, merkt man davon allerdings
nichts. Sie blockieren den Wandel und versuchen auch
noch, das hier heute zur Feierstunde für die Blockade zu
erklären.
({0})
Nehmen wir die Energiewende: Die EU-Kommission
erkennt, dass das Ziel, den Energieverbrauch um ein
Fünftel zu senken, verfehlt wird, und schlägt verbindliche Ziele vor. Sie laufen dagegen Sturm.
CDU/CSU, FDP, aber auch die SPD fordern, dass die
energieintensiven Industrieunternehmen noch weiter
entlastet werden. Durch Ausnahmen bei der Ökosteuer,
dem EEG, der KWK-Umlage, dem Emissionshandel und
den Netzentgelten entgehen dem Staat alleine in diesem
Jahr 9 Milliarden Euro. Die Ausnahmeliste der sogenannten verlagerungsgefährdeten Branchen beim Emissionshandel umfasst 169 Branchen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hubertus Heil?
Aber gerne, wenn Sie die Uhr anhalten.
Ja. - Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.
Liebe Frau Lötzer, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir die Unternehmen, um die es geht, nicht
deshalb bevorteilen wollen, weil wir nett zu ihnen sein
wollen, sondern weil sie im internationalen Wettbewerb
stehen.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Heimat und
frage Sie, was Sie den Beschäftigen der Salzgitter AG
und der Peiner Träger sagen. In meiner Heimatstadt gibt
es ein Elektrostahlwerk, das im internationalen Wettbewerb steht. Wenn das bei der Ökosteuer voll einbezogen
wird, dann nützt das dem Weltklima überhaupt nichts,
weil das zu Standortverlagerungen führt. Wir von RotGrün haben die Ökosteuer eingeführt, aber mit Augenmaß, indem wir gesagt haben: Den Industrien, die in internationaler Konkurrenz stehen, wollen wir das Geschäft nicht erschweren. Sie haben das Problem, dass
70 Prozent ihrer Kosten Rohstoff- und Energiekosten
sind und nur 30 Prozent Personalkosten. Ein solches Unternehmen stärker zu belasten, beinhaltet die Gefahr, Arbeitsplätze zu verlieren.
Was sagen Sie eigentlich der IG Metall, die sich in
Peine, Salzgitter und anderswo mit dem Problem herumschlagen muss, dass Arbeitsplätze verloren gehen? Ich
finde es ein bisschen billig, dass Sie andeuten, wir würden der Großindustrie das Geld hinterwerfen. Das ist
eine plumpe antikapitalistische Rhetorik.
({0})
Das hat nichts mit wirtschaftlichem Sachverstand zu tun.
({1})
Lieber Kollege Heil, wie plump die antikapitalistische
Rhetorik ist, können wir gerne überprüfen. Uns geht es
nicht um Rhetorik. Den Arbeitsplätzen und auch der
Umwelt ist nicht damit gedient, wenn es zu einer Verlagerung kommt. Aber die Ausnahmen - 169 Branchen
beim Emissionshandel - haben inzwischen ein beunruhigendes Ausmaß angenommen. Es wird noch nicht einmal geprüft, ob bei den betreffenden Branchen die
Gefahr besteht, dass Arbeitsplätze verlagert werden.
({0})
- Nein, es gibt keine klaren Kriterien dafür. - Inzwischen konkurrieren die europäischen Regierungen
darum, wer der energieintensiven Industrie die niedrigsten Preise bietet.
Wir sind nicht für die völlige Abschaffung von Ausnahmen. Aber wir sind dafür, dass die Kriterien überprüft werden, dass Maßnahmen zur Energieeffizienz
berücksichtigt werden und dass es eine europäische Harmonisierung gibt. Auf diese Weise kann man die Anzahl
der Ausnahmen sinnvoll begrenzen und sozusagen einen
Abschmelzungsprozess einleiten. Wir kritisieren, dass
das nicht gemacht wird; wir sind aber nicht plump für
die Abschaffung von Ausnahmen.
({1})
Mit dem, was gemacht wird, wird der Klimafonds
ausgetrocknet. Die dringend benötigten Mittel für die
Gebäudesanierung sollen um eine halbe Milliarde Euro
gekürzt werden. Die Verbraucherinnen und Verbraucher
haben diese Kürzung über die Energiepreise zum Teil zu
tragen. Die Ausnahmetatbestände gehören daher auf den
Prüfstand.
Kommen wir zur Solarindustrie. 130 000 Arbeitsplätze hängen daran. Viele Unternehmen sind in der
Krise. Die Bundesregierung gefährdet die Nachfrage
durch Ankündigungen weiterer Kürzungen im EEGBereich. Stattdessen sollten Sie sich überlegen, das
1 000-Dächer-Programm auf öffentliche Gebäude auszuweiten. Warum reden Sie hier ständig von Innovationen,
fördern aber nicht intensiver die organische Photovoltaik
oder die Einbindung der Zell- und Modulproduktion in
Speichertechnologien? Warum gibt es nicht schon längst
den von der IG Metall vorgeschlagenen Branchendialog
unter Einbeziehung von Gewerkschaften und Umweltverbänden? Das wäre zukunftsfähige Industriepolitik.
({2})
Kommen wir zur Rohstoffpolitik. Eine absolute Senkung des Verbrauchs ist notwendig. Auch hier werden
alle gesetzten Ziele zur Umstellung auf ressourcenschonende Produktionsverfahren nicht erreicht. Im Rahmen
des MaRess-Projektes wurde vom Wuppertal-Institut
berechnet, dass die Schaffung von 700 000 Arbeitsplätzen möglich würde, wenn bis 2030 20 Prozent der Materialkosten durch Effizienzmaßnahmen eingespart würden. Die Realisierung erfordert allerdings auch hier klare
politische Rahmenbedingungen, verbindliche Effizienzziele, eine schärfere Ökodesign-Richtlinie, klare Recyclingquoten, Forschung und Innovationsförderung für
Substitution. Stattdessen führen Sie eine Verteilungsauseinandersetzung, die von Herrn Pfeiffer soeben noch
gelobt wurde.
Ernst Ulrich von Weizsäcker hat Montag in der
Enquete-Kommission die Allianz für Rohstoffsicherung
zu Recht als Rückfall ins 19. Jahrhundert bezeichnet.
Gestern haben Sie mit dem kasachischen Diktator ein
Abkommen zur Rohstoffsicherung geschlossen. Im
Dezember wurden dort Ölarbeiter, die für höhere Löhne
demonstriert haben, erschossen. Sieht so Ihre zukunftsfähige Rohstoffpolitik aus? Sie kämpfen in Brüssel sogar
gegen eine Transparenzrichtlinie, mit der Rechenschaft
über soziale und ökologische Produktionsbedingungen
und über Geldflüsse abgelegt werden soll. Rohstoffpolitik ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Sie muss an
soziale, menschenrechtliche und ökologische Bedingungen geknüpft werden. Es braucht faire Abkommen, die
den Rohstoffländern das Recht auf ihre Rohstoffe zugestehen.
({3})
Ein Strukturwandel ist ohne gute Arbeit nicht zu
machen. Ich freue mich ja, dass die SPD das in ihrem
Antrag auch so sieht. Allerdings verstehe ich dann Ihr
eben abgegebenes Bekenntnis zu Hartz IV nicht. Dass
gute Arbeit wichtig ist, gilt gerade auch für die
Zukunftsbranchen. Was tut aber die Regierung, um
beispielsweise das Projekt der IG Metall „Saubere Energie - gute Arbeit“ zu unterstützen? Was tun Sie, um
Sozialstandards international durchzusetzen? Nichts.
Besser statt billiger wäre eine Devise für eine lebensfähige Zukunftsindustrie, Herr Pfeiffer. Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung müssen neu belebt werden. Das setzt eine Regulation der Finanzmärkte
voraus, aber auch eine Ausweitung von Wirtschaftsdemokratie, eine Stärkung der Mitbestimmung im Betrieb, die Einrichtung von Branchendialogen und einen
branchenübergreifenden Dialog zur sozialökologischen Transformation unter Einbeziehung von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, aber auch Umweltverbänden und anderen gesellschaftlichen Akteuren sowie
eine Ausweitung direkter Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung. Statt Bekenntnisse zum freien Markt braucht es
endlich wieder den gestaltenden Staat und eine Erneuerung von Demokratie.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Lötzer. - Nächster
Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP
unser Kollege Dr. Martin Lindner. Bitte schön, Kollege
Dr. Lindner.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!
Deutschland steht wirtschaftspolitisch exzellent da. Über
3 Prozent Wachstum, eine Arbeitslosenquote von etwas
über 7 Prozent, ein durchschnittlicher Lohnzuwachs von
3 Prozent in den letzten Jahren sowie Exporte in Höhe
von 1 Billion Euro sind ein exzellenter Ausweis für die
Leistungsfähigkeit dieses Landes.
({0})
Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Der Erfolg hat
viele Väter. Es gibt den Erfolg der rot-grünen Bundesregierung bei der Arbeitsmarktreform. Das ist unstreitig.
Auch die schwarz-rote Vorgängerregierung hat bei der
Bewältigung der Finanzmarktkrise ihren Beitrag dazu
geleistet. Das gilt auch für das eine oder andere Konjunkturprogramm und das Kurzarbeitergeld. Das unterscheidet uns.
({1})
- Ich habe die Großzügigkeit, auch das zu erwähnen: Sie
sind in dieser Frage so kleinkariert, dass man Sie mit
bloßem Auge gar nicht mehr erkennen kann, Herr Kollege.
({2})
Schwarz-Gelb hat mit den steuerpolitischen Entlastungen für Familien, mit Forschungs- und Entwicklungsmitteln in Höhe von über 12 Milliarden Euro bei gleichzeitiger Haushaltskonsolidierung, mit Ordnungspolitik
und mit der Finanzmarktregulierung - angefangen bei
Opel und anderen - ein klares Profil gezeigt. Die Wirtschaftsminister dieser Bundesregierung, auch die meiner
Partei, sind gestanden, während Sie sich populistisch
weggeduckt haben. In der Frage der Euro-Stabilität ist
diese Bundesregierung der Stabilitätsanker in Europa.
({3})
All dies hat einen klaren Beitrag dazu geleistet, dass wir
da stehen, wo wir stehen.
Sie haben völlig recht: Es gibt überhaupt keinen
Anlass, sich darauf auszuruhen. Deswegen haben wir
Ihnen den über achtseitigen Antrag heute vorgelegt, in
dem wir aufzeigen, was wir zukünftig noch vorhaben,
um den Standort Deutschland und vor allen Dingen auch
die Arbeitsplätze der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Industrie in Deutschland zu sichern.
Dr. Martin Lindner ({4})
Herr Heil, auch Sie haben einen Antrag vorgelegt. Ich
sage Ihnen etwas zur Genese dieses Antrages. Sie haben
nach zwei Jahren in der Opposition gemerkt, dass man
mit reinem Antiatom- und Antiinfrastrukturpopulismus
möglicherweise die Leute neben sich im Saal und mit
Hartz-IV- und Mindestlohnpopulismus die Leute auf der
linken Seite stärkt. Aber Sie profitieren nicht davon. Sie
haben auf einmal Ihr altes industriepolitisches Herz entdeckt und versuchen, frischen Lack über den alten Rost
zu streichen. Dies ist Ihr Antrag.
({5})
Ich erläutere Ihnen das an drei Stellen. Arbeitsmarktpolitik: Herr Heil, auch Sie haben sich gerade darauf
bezogen. Was machen Sie seit zwei Jahren? Eine Überschrift in der Bild-Zeitung vom 15. März 2010 lautet:
SPD plant Hartz-IV-Revolution. Abschaffung und Änderung der Hartz-IV-Gesetze, wegducken bei der Rente
mit 67, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Befristung von Leiharbeitsverhältnissen: Überall kehren Sie
von dem Erfolgsrezept ab, das Sie damals zu verantworten hatten, dessen Lordsiegelbewahrer für Deutschland
und für den Arbeitsmarkt wir aber mittlerweile sind.
({6})
Die Koalition steht. Sie ducken sich weg.
Technologie, Gentechnologie: Lesen Sie einmal Ihren Parteitagsbeschluss vom 4. Dezember 2011, Beschluss Nr. 24. Das ist ein Katalog von Risiken. Chancen: Fehlanzeige. Grüne Gentechnologie, CCSTechnologie, Fracking sind mit der SPD nicht zu machen. Überall sind Sie weg; wenn es um die Wurst geht,
werden Sie zum Vegetarier.
({7})
Infrastruktur: Schauen Sie sich einmal Stuttgart 21 an.
Ich lese Ihnen einmal die HNA-Nachrichten vom
15. Oktober 2011 vor, um zu zeigen, aus welchem Holz
Sie geschnitzt sind:
SPD: „Die Luft ist raus bei Stuttgart 21.“
Die baden-württembergische SPD wird sich aus
dem Wahlkampf vor der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 heraushalten.
Heraushalten ist Ihre Devise!
({8})
Wegducken ist Ihre Devise! Nichtstehen ist Ihre Devise!
Wenn man nachliest, was Sie unter neuem gesellschaftlichem Konsens bei Infrastrukturmaßnahmen verstehen
- während wir die Netze ausbauen -, dann bekommt
man einen klaren Blick dafür, was mit der SPD los ist.
Sie kriechen vielleicht wieder unter die Rockschöße
Ihres Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, aber
ein Partner für Infrastruktur ist Ihre Partei ganz bestimmt
nicht.
({9})
Ich komme zum Thema Rohstoffe und Exporte:
Kaum hat gestern die Bundesregierung dieses hervorragende Abkommen mit Kasachstan unterschrieben, geht
das Geheule aus der Opposition schon wieder los.
({10})
- Frau Lötzer, wenn wir Rohstoffpartnerschaften auf
Gebiete beschränken, wo die freiheitlich-demokratische
Grundordnung gilt, dann werden wir nichts ausbuddeln
können, dann werden wir leer ausgehen. Handel und
internationale Exporte sind auch für diese Länder wichtig, damit sie sich entwickeln können. Wer jedoch diese
Länder vom Handel ausgrenzt, der schützt Feudalismus
und alte Strukturen. Auch in diesem Sinne steht diese
Bundesregierung. Sie stehen nicht.
({11})
Weitere Beispiele sind Angra 3 oder die Hermesbürgschaften. Auch hier ist die SPD dagegen. Am besten
kann man Ihr Verhalten am Beispiel der Rüstungsexporte deutlich machen. Der außenpolitische Sprecher,
Herr Mützenich, kritisierte beispielsweise im letzten
Jahr die Bemühungen der Bundesregierung, beim Export
von Eurofightern nach Indien zu helfen. Oder Frau
Wieczorek-Zeul: Statt 126 Kampfflugzeuge zu kaufen,
sollte die indische Politik auf die Bekämpfung von
Armut setzen. Nachdem das Geschäft nicht zustande
kam, hindert das Ihre verteidigungspolitische Sprecherin
Kastner nicht daran, zu sagen: Die Franzosen haben uns
vorgemacht, was möglich ist, wenn die Regierung aktive
Industriepolitik betreibt. Das ist die SPD: Flipflop zwei Sozis, drei Meinungen.
({12})
Das ist nicht seriös.
Was Sie versuchen, ist doch ganz einfach zu beschreiben.
({13})
Sie versuchen eine Aufspaltung: Finanzmärkte gleich
böse und Realwirtschaft gleich gut. Das ist Ihre Wahlkampfstrategie. Das war im Handelsblatt von heute noch
einmal deutlich nachzulesen.
({14})
- Na ja, ich muss Ihnen ja nur zuhören. Da wird von
Abzockerbanden, Kasinobanken und Ähnlichem geredet. Sie fallen alleine in der Diktion schon vor Godesberg, Herr Heil. Das ist völlig unseriös.
({15})
Ein Industrieland wie Deutschland braucht eine starke
Finanzwirtschaft.
Dr. Martin Lindner ({16})
({17})
- Das bestreiten Sie natürlich. Sie versuchen, einen
künstlichen Gegensatz aufzubauen. Das haben Sie ja
gerade in Ihrer Rede gemacht.
({18})
Wie ernst Ihnen das ist, das konnte man heute wieder
in der Zeitung nachlesen. Da gibt es Ihren ehemaligen
Bundeskanzler. In der Zeitung steht:
Die Londoner City feiert Gerhard Schröder
Während die SPD einen Wahlkampf gegen die Banken plant, tingelt Gerhard Schröder durch die Londoner City. Der Ex-Kanzler und frühere SPD-Chef
erntet in der Finanzgemeinde großen Applaus.
({19})
Seine ehemaligen Jünger, die hier versammelt sind - damals Generalsekretär, Büroleiter oder Kanzleramtsminister, Pop-Beauftragter der SPD, erster Schlafanzugaufbügler des Bundeskanzlers usw. usw. -,
({20})
pflegen den Populismus, und Gerhard Schröder lässt
sich in der Londoner City mit einer goldenen Sänfte
durch die Gegend tragen.
({21})
Ich zitiere weiter aus dem Handelsblatt:
Am Kopf der Tafel, vor einer beleuchteten Prachtvitrine mit wuchtigen Silbertellern und Pokalen,
sprach Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder gestern
Abend vor … 150 handverlesenen, festlich gekleideten Gästen aus der Finanzbranche, …
({22})
und lässt sich dafür feiern, dass Sie damals die Leerverkäufe erlaubt haben. Das ist der Unterschied. Das ist
alles nicht seriös, meine Damen und Herren.
({23})
Sie sind kein ernsthafter Partner für die Bürger und
Unternehmen in der Industrie- und Wirtschaftspolitik.
({24})
Sie müssen erst einmal Ihren eigenen Laden sortieren.
({25})
- Ach, wissen Sie, Herr Heil, Sie waren einmal ein seriöser Partner. 1969, als wir gemeinsam regierten, da hatte
Ihre Partei 45 Prozent und unsere 5 Prozent. Jetzt
schauen Sie einmal, wie Sie sich in den letzten 40 Jahren
entwickelt haben. Das hat eine Ursache. Sie sind eine
Populistenpartei geworden, sonst gar nichts. Sie bleiben
in der Opposition, das ist sicher. Wir bleiben ein verlässlicher Partner in der Wirtschaftspolitik, in der Industriepolitik, für die Bürgerinnen und Bürger und für dieses
Land.
Herzlichen Dank.
({26})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Kerstin Andreae. Bitte schön, Frau Kollegin Kerstin
Andreae.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
Deutschland ist ein erfolgreiches Industrieland. Und ja,
wir wollen, dass das so bleibt. Die Industrie ist Partner
bei der ökologischen Erneuerung. Wir brauchen eine Erneuerung; der Klimawandel und die begrenzten Kapazitäten zwingen uns dazu. Ökologie ist das Kernthema der
Ökonomie. Deswegen unterscheiden wir Grüne nicht
zwischen Ökoindustrien und anderen Industrien, sondern sagen: Jeder Industriezweig und jede industrielle
Branche muss grün werden.
({0})
- Ich komme noch zur SPD.
Ich möchte über die Aufgabe und die Chance der Industrie reden. Was ist das Leitbild einer Industriepolitik
und der Industrienation Deutschland? Ich sage: Es ist die
Aufgabe, aber auch die Chance der deutschen Industrie,
Lösungen für die Probleme der Welt zu liefern. Fast jeder zweite Euro wird im Export verdient. Das zwingt
auch dazu, Verantwortung zu übernehmen und sich um
globale Probleme zu kümmern.
({1})
Was sind die Probleme? Die ökologischen Probleme
sind die größten. Der Energiehunger weltweit wächst gigantisch. Rohstoffe werden immer knapper und dadurch
teurer. Es ist doch die deutsche Wirtschaft, die die Anlagen für die effizienteste Kreislaufwirtschaft entwickeln
muss. Sie muss Verfahren entwickeln, um Seltene Erden
aus den Handys zu holen. Sie muss Antworten finden,
wie wir den Lebensstandard sichern können, ohne Raubbau zu betreiben.
Die Unternehmen wissen es längst: Die ökologische
Modernisierung birgt enorme Wettbewerbschancen.
Evonik-Chef Klaus Engel preist die Bedeutung einer
nachhaltigen Produktion für die Wettbewerbsfähigkeit
der Chemie. Die Autokonzerne stellen sich neu auf: Wer
das Auto neu erfindet, wird die Nase vorn haben. Das
betrifft nicht nur den Motor und die Bauweise, sondern
vor allem das Nutzungskonzept und die Einbettung des
Automobils in einen integrierten Verkehrsverbund mit
Bahn und öffentlichem Nahverkehr.
Liebe SPD,
({2})
wir haben einen grünen Ministerpräsidenten in BadenWürttemberg, der den einfachen und richtigen Satz gesagt hat: „Weniger Autos sind natürlich besser als mehr.“
({3})
Das ist ein einfacher und richtiger Satz.
({4})
Es ging ein Erzittern durch Baden-Württemberg. Und
was macht die SPD? Die SPD antwortet mit der grandiosen Formulierung: „Wir haben Benzin im Blut.“
({5})
Haben Sie Ideen in den Köpfen statt Benzin im Blut!
({6})
Wir brauchen neue Mobilitätskonzepte. Natürlich brauchen wir eine Antwort auf die Frage, wie sich die Automobilindustrie aufstellt; aber das geht doch nicht mit
„höher, schneller, weiter, mehr“, sondern mit „besser, effizienter und schlauer“.
({7})
Moderne Industriepolitik - das ist für uns ökologische
Industriepolitik - entscheidet sich an drei Dingen: an der
Energiewende - ökologische Industriepolitik ist mehr als
Solarzellen und Windräder - und an Bildung und Innovation als Zukunftsressourcen der Industrie. Was ist
denn das Kapital, das wir haben? Wissen und Rohstoffe.
Rohstoffe sind begrenzt; sie müssen auch noch für die
reichen, die nach uns kommen. Aber Wissen ist unbegrenzt und unbegrenzt vermehrbar. Das ist unsere Kernressource, auf die wir achten müssen.
Zur Energiewende. Die größte Sorge der Unternehmen
gilt der Verfügbarkeit und dem Preis von Energie und
Rohstoffen. Diese Sorge nehmen wir ernst; aber unsere
Antwort ist nicht, mehr und mehr Unternehmen von der
EEG-Umlage zu befreien, so wie Sie es gemacht haben;
aus 600 Unternehmen wurden 6 000. Herr Riesenhuber,
unsere Antwort ist auch nicht, Menschenrechte hinter die
Rohstoffsicherung zu stellen. Menschenrechte sind unabdingbar notwendig; wir müssen sie immer wieder vorne
anstellen. Deswegen war der Beitrag von Herrn Lindner
an der Stelle wirklich fahrlässig.
({8})
Deutschland ist an einer Stelle Top Runner: beim
Atomausstieg. Jetzt müssen wir aber auch Top Runner
bei der Energiewende werden. Wer sagt: „Dann geht das
Licht aus“, hat wohl nicht begriffen, was in den letzten
Wochen passiert ist: Wir haben in der Größenordnung
der Produktion von drei bis vier Atomkraftwerken Strom
nach Frankreich exportiert; denn das Licht bei uns in
Deutschland ging nicht aus. Vielmehr hatte Frankreich
ein Problem mit der Versorgungssicherung. Und warum?
Weil sie so verschwenderisch mit Energie umgehen: Sie
heizen mit Strom, und das bei unzureichender Wärmeisolierung. In Frankreich kostet die Kilowattstunde an
der Strombörse 34 Cent; das ist dreimal mehr als bei uns.
Was lernen wir daraus für die Lösungen, die wir formulieren müssen? Energieeffizienz ist der Knackpunkt,
wenn es um die Versorgungssicherheit geht, und sichert
zudem geringe Energiekosten.
({9})
Hier dürfen Sie das Pedal ruhig einmal durchdrücken.
Sorgen Sie doch für Energieeffizienz! Was machen Sie?
In Ihrem Antrag loben Sie zwar den Energieeffizienzfonds, aber leider sind im Jahr 2011 nur knapp 10 Prozent
der Mittel abgerufen worden, weil die Förderrichtlinien
nicht funktionieren. Sie haben die Mittel für Klimaschutz
und Energieeffizienz halbiert. Rösler blockiert eine Energieeinsparverpflichtung von jährlich 1,5 Prozent. Auch
im Bereich KfW-Förderprogramm, Städtebauförderung
und Gebäudesanierung gibt es ein Hü und Hott.
({10})
Unser Wachstumsfanatiker Wirtschaftsminister
Rösler
({11})
will die wichtigste Wachstumsbranche in Deutschland
beschädigen. Das ist nicht zu verstehen; denn die Branche
der erneuerbaren Energien ist nicht nur eine mittelständisch geprägte Industrie. Wir reden nicht nur über ein
paar Solarbetriebe, sondern wir reden über 400 000 Arbeitsplätze und ein enormes Entwicklungspotenzial.
({12})
Der Angriff Röslers auf das EEG ist leicht durchschaubar. Die erneuerbaren Energien werden immer erfolgreicher
({13})
und stellen natürlich eine Bedrohung für die klassischen
Energieversorger dar. Was macht der Wirtschaftsminister? Er stellt sich vor das Oligopol, anstatt Wettbewerb
zu fördern. Das ist völlig durchschaubar.
({14})
Klar ist: Eine Überförderung ist schädlich. Klar ist
auch - das sagt im Übrigen auch die Solarbranche -:
({15})
Die Vergütungssätze im Bereich Photovoltaik können
und müssen weiter abgebaut werden. Die Branche der
erneuerbaren Energien, also auch die Solarbranche, ist
die erfolgreichste Industriebranche des letzten Jahrzehnts:
({16})
mit einer rasanten Entwicklung im Bereich unserer Energieversorgung, mit einem unvergleichlichen Zuwachs an
Jobs und sehr innovativen Entwicklungen.
({17})
Wundert Sie es angesichts dieser Tatsache wirklich, dass
China als Wettbewerber auf den Markt kommt und mitspielt?
({18})
Wundert Sie es, dass ein großer Player in einen Bereich
einsteigt, wo Geld zu verdienen ist, wo hohe Renditen
erzielt werden können? Doch wohl nicht! Wir erwarten
von einem Wirtschaftsminister allerdings, dass er sich
vor die deutsche Solarwirtschaft stellt und sie verteidigt.
Wenn er das nicht kann, dann soll es die Kanzlerin tun.
({19})
Zur SPD. Ich habe eine Äußerung Ihres Vorsitzenden
Steinmeier gelesen, die für mich deutlich machte, dass er
einen erstaunlich verkürzten Blick auf die Green Economy hat. Er sprach vom Zusammenbasteln von Photovoltaikzellen, die überwiegend aus China kommen. Im
Zusammenhang mit der Windkraft sprach er von einem
Dynamo auf einem Mast. Abgesehen davon, dass ein
Atomkraftwerk auch nur eine große Dampfmaschine mit
einer extrem gefährlichen Wärmequelle ist, offenbart
dies ein großes Missverständnis. Photovoltaik - das ist
eine mittelständische Maschinenbaufabrik, die Anlagen
baut, das ist der Hersteller der Solarmodule, der Wechselrichter bis hin zur Handwerksfirma, die die Module
aufs Dach baut. Windkraft - das ist der Stahlproduzent,
die Baufirma und der Industriekletterer. Wir müssen immer die ganze Wertschöpfungskette in den Blick nehmen. Das ist vernünftige Industriepolitik.
Liebe SPD, unter dem damaligen Umweltminister
Sigmar Gabriel hattet ihr das Programm „Ökologische
Industriepolitik“. Davon lese ich jetzt nichts mehr. Ich
fordere euch auf: Bekennt euch klar zur ökologischen Industriepolitik!
({20})
Haltet Kurs beim nachhaltigen Umbau der Industriegesellschaft! Nicht wackeln, nicht zaudern, sondern Kurs
halten! Das ist unsere Bitte an euch.
({21})
Wir brauchen eine innovative Wirtschaft. Wir haben
mit Freude gelesen, dass die Koalition in ihrem Entschließungsantrag die steuerliche Forschungsförderung
noch in dieser Wahlperiode umsetzen will.
({22})
Dies hören wir im halbjährlichen Rhythmus. Liefern Sie
endlich! Wir machen mit. Setzen Sie die steuerliche Forschungsförderung um! Das ist unser Instrument, um
Innovationen und Ideen voranzutreiben.
Für uns Grüne ist klar: Ökologie muss ins Zentrum
der Ökonomie. Die Industrie ist Partner, wenn es darum
geht, anderes anders zu produzieren. Aber auch für die
Industrie gilt: Es geht nicht um „höher, schneller, weiter“, sondern es geht um „besser, klüger und effizienter“.
Vielen Dank.
({23})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Andreae. Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege
Dr. Nüßlein.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe
Frau Kollegin Andreae, wir hatten vor kurzem Gelegenheit, ein Streitgespräch über das Thema Wirtschaftsentwicklung, Wirtschaftswachstum zu führen und die unterschiedlichen Ansätze darzulegen, das in der Welt
abgedruckt wurde. Damals haben Sie versucht, mir
glaubhaft zu machen, dass die Grünen sich vom Verzichtsumweltschutz abgewandt hätten und jetzt auch auf
dem Pfad der Tugend, auf dem Pfad der Hochtechnologie angekommen seien, dass sie die ökologischen Probleme jetzt auch mithilfe der Technik lösen wollten.
({0})
Heute bin ich ein bisschen enttäuscht. Ich bin enttäuscht, dass Sie den baden-württembergischen Minis18866
terpräsidenten zitiert haben. Er ist immerhin Ministerpräsident in einem Autoland, hat aber einen unglaublich
dummen Satz gesagt:
Weniger Autos sind … besser als mehr.
Das ist doch genau dieser Verzichtsansatz, von dem ich
gesprochen habe.
({1})
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie an dieser Stelle einmal
würdigen, was sich in der Automobilbranche getan hat,
wie der Kraftstoffverbrauch unserer Autos gesenkt
wurde, welche Hochtechnologien in diesem Bereich entwickelt wurden.
({2})
Das hätte man an dieser Stelle einmal loben müssen. Das
wäre sinnvoll und richtig gewesen.
({3})
Stattdessen haben Sie, wie üblich, einen ökologischen
Tunnelblick. Sie teilen die Industrie in eine gute, weil
ökologische Industrie, und eine böse, weil angeblich
nicht ökologische Industrie. Das bedauere ich sehr.
Nun zu dem, was Sie zu der Branche der erneuerbaren
Energien gesagt haben. Ja, es ist richtig: Diese Branche
wächst, und wir freuen uns darüber. Aber sie treibt unser
industrielles Wachstum und unsere Industrie insgesamt
nicht voran. Ganz vorne steht die Kraftwagen- und
Kraftwagenteilebranche; ganz vorne stehen auch der
Maschinenbau und die chemische Industrie. Das muss
man der Richtigkeit halber hier einmal anführen. Die
Welt ist nicht so klein und nicht so einfach, wie die Grünen sie gerne hätten.
Wenn man über Industriepolitik diskutiert, muss man
meiner Ansicht erst einmal sagen, was man sich darunter
vorstellt. Ich glaube, dass die linke Seite dieses Hauses
ein ganz anderes Verständnis davon hat als die rechte
Seite.
({4})
Frau Lötzer, wir wollen keinen Deutschland-Plan, der
nicht aufgeht, keine staatliche Intervention, Dirigismus
und Subventionen mit daraus resultierenden Fehlallokationen, sondern wir wollen gute und gesunde Rahmenbedingungen wie die, die die Kolleginnen und Kollegen
aus unseren Reihen heute vorgestellt und andiskutiert
haben.
All die Dinge, über die wir heute im Zusammenhang
mit der Industriepolitik diskutieren - das wird irgendwann einmal auch Sie einholen -,
({5})
stehen natürlich unter haushalterischen Restriktionen,
und das ist gut so; denn Keynes funktioniert nur zur
Hälfte, nämlich wenn es darum geht, in der Not staatlicherseits Geld auszugeben, aber Keynes funktioniert
nicht, wenn es um das Sparen in der Zeit geht. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich es für zentral, dass wir die
Schuldenbremse ins Grundgesetz eingefügt und auch für
die Ausnahmetatbestände die richtigen Formulierungen
gefunden haben. Ich bin der Überzeugung, dass dies ein
Beispiel für andere europäische Staaten sein muss.
Diese Schuldenkrise ist nicht zu lösen, indem man die
Probleme mit einem Berg Geld zudeckt. Vielmehr muss
man in den Schuldenstaaten zu Haushaltsdisziplin und
Wettbewerbsfähigkeit zurückkehren.
({6})
Ich sage Ihnen ganz offen: Wer, wie etliche von ganz
links, den Außenhandelsüberschuss Deutschlands verteufelt, geht das Thema von der falschen Seite an. Es
geht doch nicht darum, unsere Wettbewerbsfähigkeit abzusenken, sondern es muss darum gehen, dass die anderen Staaten, die sich in einer schwierigen Situation befinden, ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen. Ich
meine, wir sollten stolz darauf sein, dass die Exporte
Deutschlands im letzten Jahr den Wert von 1 Billion
Euro überschritten haben. Darauf sollte man doch stolz
sein!
({7})
Wir haben diese Wettbewerbsfähigkeit wieder erreicht.
({8})
Das verdanken wir gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber insbesondere einer innovationsorientierten Partnerschaft zwischen Industrie und
Mittelstand. Ich sage das ganz bewusst, weil man diese
Verzahnung, die wichtig ist, nicht aus den Augen lassen
sollte. Wenn man also über Industriepolitik redet, redet
man auch über den Mittelstand; denn diese beiden hängen zusammen.
({9})
Wir haben etliches über Energieversorgung und Energiepolitik gehört. Mich haben die Schuldzuweisungen
gestört, weil sie zu einfach waren. Wenn man, wie die
SPD, immerhin elf Jahre lang mitregiert hat und für sich
in Anspruch nimmt, schon sehr viel früher eine Energiewende eingeleitet zu haben, dann kann man sich
heute nicht hinstellen und sagen: Wir haben in elf Jahren
in der Infrastruktur nichts bewegt. Aber euch halten wir
vor, dass ihr das letzte Jahr an der Stelle nichts zuwege
gebracht habt.
({10})
Da stimmen doch die zeitlichen Horizonte nicht. Das
passt nicht zusammen.
({11})
Die Energiewende und der Emissionshandel dürfen
nach meiner festen Überzeugung nicht zu einer Deindustrialisierung in diesem Land führen.
({12})
Das ist die oberste Priorität bei all dem, was wir jetzt
tun. Deshalb ist die Austarierung der Kosten, die hier
immer wieder gegeißelt wird, eine sehr richtige Maßnahme. Wir haben einen Fokus auf die Industriebranchen, die im internationalen Wettbewerb stehen.
Ich wehre mich dagegen - das wird ja vorgebracht -,
dass man die Verlagerungsgefahr in den Vordergrund
stellt, nach dem Motto: Die Unternehmen, die in
Deutschland sind und nicht wegkönnen, müssen das dulden und erleiden, und auf die anderen Unternehmen, die
ein Verlagerungspotenzial haben, müssen wir aufpassen.
Das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist,
dass wir auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen aufpassen. Ich meine, das sollten wir gemeinsam
tun.
Ich halte es für relativ unfair und populistisch, wenn
dagegen Stellung bezogen wird, dass wir die Eingriffe,
die Rot-Grün seinerzeit beispielsweise bei der Härtefallregelung im EEG vorgenommen hat, entsprechend ausbauen. In dem Maße, wie sich die Lasten aus dem Ausbau der erneuerbaren Energien nach oben entwickelt
haben, werden wir das ausbauen müssen und haben das
auch schon getan.
Richtig ist, dass wir die Energieversorgung in diesem
Land komplett neu denken müssen. Die Geschäftsmodelle der Versorger werden sich ändern. Sie werden in
Zukunft Ersatzkapazitäten liefern müssen. Sie werden
für Verteilung und Ausgleich zuständig. Das ist eine andere Welt, in die wir erst schrittweise eintreten müssen.
Dazu braucht man Geld, aber insbesondere auch Zeit. Da
bitte ich schon ein bisschen um Gnade für all diejenigen,
die das umsetzen müssen - nicht so sehr für die Regierung, sondern für diejenigen, die dem letztlich nachkommen müssen.
Aber das klingt mir fast schon ein bisschen zu demütig; denn wenn ich mir anschaue, dass in Ihrer Zeit die
Kapazitäten im Bereich der Erneuerbaren auf Teufel
komm raus und mit jedem verfügbaren Cent und Euro
aufgebaut wurden, dann muss ich sagen, dass das nichts
mit Versorgung zu tun hat. Eine Versorgung aufzubauen,
ist die eigentliche Herausforderung, auch und insbesondere für unsere Industrie.
Ich möchte in diesem Zusammenhang sehr deutlich
unterstreichen - Sie haben ja vorhin angemahnt, ich
solle etwas zu Oettinger sagen -, dass Deutschland in
der Energiepolitik einen Sonderweg geht und dass dieser
Sonderweg natürlich Anstrengungen erfordert, die es
gleichzeitig nur noch eingeschränkt möglich machen,
zusätzliche Auflagen der Europäischen Union zu erfüllen. Wenn ich höre, was auf der europäischen Ebene alles in der Pipeline ist, dann wird mir schon ein bisschen
mulmig. So wird zum Beispiel darüber diskutiert, die
Energiesteuer für Diesel in Deutschland von 0,47 Euro
pro Liter auf rund 0,75 Euro pro Liter anzuheben, weil
die Besteuerung zukünftig nicht mehr am Volumen, sondern am Energiegehalt festgemacht werden soll. Das
sind Ideen, die wir aus unserer Sicht in Deutschland
nicht mittragen können; das können wir so nicht verantworten.
({13})
Ich unterstreiche ferner, dass der Emissionshandel,
wenn er denn jetzt funktioniert, nicht sofort wieder infrage gestellt werden darf, weil es zu wenige Einnahmen
gibt. Weil im Energie- und Klimafonds die Gelder knapp
werden, wird sofort darüber diskutiert, ob wir nicht an
der Schraube drehen und die CO2-Zertifikate teurer machen sollten. Ich halte das für den falschen Weg. Wir als
Staat müssen lernen, mit dem Geld, das vorhanden ist,
umzugehen.
Die Europäische Kommission, aber auch die Bundesregierung befassen sich mit dem Thema REACH. Ich
bin in großer Sorge, was die bürokratische Umsetzung
dieser Thematik angeht. Ich appelliere an die zuständigen Behörden, mit Fingerspitzengefühl an das Thema
heranzugehen. Die Chemiebranche - das habe ich einleitend gesagt - ist eine wichtige Branche in Deutschland.
Deshalb brauchen wir Fingerspitzengefühl bei der Umsetzung der Verordnung und einen Review auf der europäischen Ebene, also einen sinnvollen und gezielten
Umgang mit den Erfahrungen, die man an der Stelle
macht, sodass wir zu Verbesserungen kommen, die industriepolitisch vertretbar sind.
Ich möchte abschließend unterstreichen, dass wir
nicht gewillt sind, jedem Drängen aus der Industrie
nachzugeben.
({14})
Ich meine diesen permanenten Ruf nach mehr Zuwanderung. Da sind Sie, Herr Kollege Trittin, sehr viel offener
als wir.
({15})
Wir sagen: Wir müssen erst einmal die Arbeitskräfte, die
wir im Lande haben, entsprechend einsetzen. Bei den
Frauen und bei den Älteren gibt es viel Potenzial. Auch
bei den Migranten, die schon hier sind, gibt es eine
Menge Potenzial, das man erst einmal ausschöpfen
muss, bevor man schon wieder nach billigen zusätzlichen Kräften aus dem Ausland ruft. Das halte ich für
dringend geboten. Ich rate in dieser Frage zu Klugheit
und zu Zurückhaltung.
Wir sollten aber ein bisschen weniger zurückhaltend
sein, wenn es darum geht, stolz auf unsere Erfolge zu
sein. Wir sollten weniger zurückhaltend sein, wenn es
darum geht, stolz auf das Gütesiegel „Made in Germany“ zu sein, das unsere Industrie in die Welt hinausträgt. Während wir zurückhaltend mit unserem Stolz
sind, sind andere ambitioniert, wenn es darum geht,
„Made in Germany“-Produkte zu bekommen. Das finde
ich bedauerlich. Ich würde mich freuen, wenn wir im
Fortgang der Debatte noch einiges dazu hören.
Vielen herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. - Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Edelgard Bulmahn. Bitte
schön, Frau Kollegin Bulmahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Nüßlein, ich bin stolz
auf das, was hier erreicht worden ist, auf das, was wir
geschafft haben. Ich bin auch zutiefst davon überzeugt,
dass wir keine der großen Herausforderungen, vor denen
wir weltweit stehen - die Versorgung einer rasant zunehmenden Weltbevölkerung, die Verknappung lebenswichtiger Ressourcen, die wir überall erleben, der zunehmende weltweite Wettbewerb und die Überwindung der
Armut -, ohne eine starke Industrie bewältigen können.
({0})
Deshalb ist das, was hier gesagt worden ist, richtig:
Deutschland ist ein Industrieland. Deutschland braucht
auch in Zukunft eine starke Industrie als Basis einer wissensintensiven und wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft.
Das hat sich im Übrigen gerade in der jüngsten Vergangenheit wieder gezeigt. Deutschland hat die Finanzkrise
im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich
besser überstanden, weil wir über eine breite industrielle
Wertschöpfungskette von der Grundstoffindustrie bis zur
hochkomplexen Hightechindustrie verfügen. Wenn man
sich anschaut, dass fast jeder dritte Arbeitsplatz in
Deutschland an der Entwicklung industrieller Wertschöpfung hängt, ist, glaube ich, jedem klar, wie wichtig
die Industrie für uns ist. Allein das ist Grund genug, sich
der Aufgabe zu stellen, den Industriestandort Deutschland durch eine integrierte Industriepolitik zu stärken.
Diese Aufgabe ist umso wichtiger, als unsere Industrie in vielen Bereichen vor der Herausforderung steht,
wie man mit deutlich weniger Energie und Ressourcen
einen auskömmlichen Wohlstand für möglichst viele
Menschen sicherstellen und dies mit einer umfangreichen Teilhabe und einem Mehr an Lebensqualität verknüpfen kann. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
nachhaltig. Das ist mehr als „grün“. Es geht also um
nachhaltiges Wirtschaften. Das muss unsere Zielsetzung
sein.
({1})
In der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität“ diskutieren wir zurzeit darüber, wie eine
Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch
erreicht werden kann, und zwar nicht nur bei einzelnen
Verfahren und Produkten. Ernst Ulrich von Weizsäcker
sagt: Eine Verfünffachung der Ressourcenproduktivität
ist möglich. - Möglich wird dies nur durch grundlegende
Innovationen; denn sie sind die Eintrittskarte in die
Märkte von morgen. Die Frage ist: Kann das gelingen?
Ich bin davon überzeugt: Es kann gelingen.
Ich will einige Beispiel nennen. In Deutschland
konnte die Chemiebranche ihre Produktion in der Zeit
von 1990 bis 2009 um 42 Prozent steigern. Gleichzeitig
reduzierte sie ihren Energieeinsatz um 33 Prozent und
die Treibhausgasemissionen um 48 Prozent. Ein anderes
Beispiel sind LEDs, die nicht nur viel weniger Energie
als herkömmliche Leuchtquellen verbrauchen, sondern
auch erheblich umweltfreundlicher als Energiesparlampen sind. Ein drittes Beispiel: die regenerativen Energien. Wer von Ihnen hätte vor 15 Jahren gedacht, dass
wir heute 17 Prozent unseres Stromverbrauchs mit regenerativen Energien decken können? Das ist doch ein Erfolg. Das zeigt, was man mit einer konsequenten Innovationspolitik, wie wir sie betrieben haben, tatsächlich
erreichen kann.
({2})
Die deutsche Industrie - das unterscheidet sie von der
Industrie anderer Länder - bietet aufgrund ihrer Branchenstruktur hervorragende Ansätze für eine Effizienzrevolution, sowohl bei der Energie als auch beim
Rohstoffverbrauch. Sei es die Chemiebranche, der Maschinenbau, der Anlagenbau, die Bauindustrie, die Automobilindustrie oder sogar die Gesundheitswirtschaft, all
diese Industrien verfügen über hervorragende Chancen.
Die Verfügbarkeit von Rohstoffen würde im Übrigen immens gesteigert werden, würden wir tatsächlich überall
Rohstoffkreisläufe etablieren.
Bei der Wiederverwertung von Kupfer, Aluminium
und Roheisen haben wir in den vergangenen 10, 12 Jahren erhebliche Fortschritte erzielt; das ist keine Frage,
und das wissen Sie alle. Wenn ich mir aber vor Augen
halte, dass wir zum Beispiel bei den seltenen Metallen
eine Recyclingquote von unter 1 Prozent haben, dann
muss ich feststellen: Hier haben wir noch eine Menge zu
tun, und hier haben wir noch viele Möglichkeiten. Dieses Problem wird nicht durch eine politische Willenserklärung gelöst. Vielmehr müssen wir insgesamt - von
der Forschung und Entwicklung über die Anwendung
bis hin zur Organisation von Kreisläufen - zu einem besseren Ergebnis kommen.
Der Nutzen liegt auf der Hand: Verringerung der Umweltschäden, Verringerung der Importabhängigkeit, Verringerung des Energiebedarfs, Senkung der Treibhausgasemissionen, Schonung der natürlichen Ressourcen.
Das wäre der Nutzen, wenn es uns gelingt, überall Rohstoffkreisläufe zu etablieren. Ganz ausdrücklich sage ich
Ihnen, liebe Kollegen: Natürlich brauchen wir auch Rohstoffpartnerschaften; das ist für mich keine Frage, ich
halte sie für wichtig. Man muss aber überlegen, mit wem
man sie abschließt.
({3})
Im Kern geht es eigentlich um mehr. Gerade die deutsche Industrie kann auch mehr. Bei der Entwicklung von
Rohstoffkreisläufen an der Spitze zu sein, bedeutet, gegenüber anderen einen immensen wirtschaftlichen Vorteil zu haben.
({4})
Die Fragen, die ich mir stelle, liebe Kolleginnen und
Kollegen, lauten: Wo ist der Masterplan der Bundesregierung zur Verfünffachung der Ressourceneffizienz?
Wo sind Ihre konkreten Vorschläge? Erfolgreich ist
Innovationspolitik nicht dann, wenn man nur ein für alle
sichtbares Großprojekt auf den Weg bringt. Sie ist dann
erfolgreich, wenn es gelingt, den technischen Fortschritt
in Bereichen, die querschnittartig wirken, zu stimulieren
und Forschung und Unternehmen eng miteinander zu
vernetzen.
({5})
Wer weiß denn schon, wie wichtig zum Beispiel Mikrotechnologie, Mikroelektronik und Optoelektronik in
allen möglichen Bereichen für die Ressourceneffizienz
sind? Hier müssen wir weitermachen. Wer sich den VDIBericht angeschaut hat, weiß, dass wir hier inzwischen
Probleme haben. Es gibt Lücken. „Schlüsseltechnologien“ ist das entscheidende Wort. Ich bin davon überzeugt, dass die deutsche Industrie sehr stark ist, keine
Frage. Wir müssen aber dafür Sorge tragen, dass sie auch
in den neuen Technologiefeldern zu den Marktführern
gehört.
Kurz gesagt: Innovationspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Sie reicht von der direkten Forschungsförderung über die Gestaltung innovationsfreundlicher
Rahmenbedingungen im gesamten Bereich der Gesetzgebung, der Normierung und der Standardsetzung bis
zur gezielten Nutzung des Beschaffungspotenzials der
öffentlichen Hand. Nicht zuletzt spielen kulturelle Faktoren eine Rolle.
Herr Pfeiffer, da frage ich mich natürlich: Warum lamentieren Sie hier nur darüber? Das hilft doch keinem.
Lamentieren hilft nie; man muss etwas tun.
({6})
Ich frage mich: Wo sind Ihre Forschungsprogramme?
Wo sind Ihre Initiativen, um Technologieoffenheit zu
stützen? Ich habe damals die Wissenschaftsjahre ins Leben gerufen. Ich finde, das war und ist eine gute Initiative, um die Technologieoffenheit zu stützen.
({7})
Wo ist Ihr Masterplan zur Erreichung der Klimaschutzziele? Wo sind die Meilensteine, Zwischenziele und
Wege beschrieben? Wo ist die Offensive zur Bewältigung des Fachkräftemangels und zur Überwindung der
Spaltung des Arbeitsmarktes?
({8})
Wir wissen doch: Die Unternehmen leben von dem Können und dem Engagement ihrer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter. Deshalb sind gut qualifizierte und auch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schlüssel
für die Zukunftsfähigkeit der Industrie und dafür, dass
wir wettbewerbsfähig bleiben.
({9})
Die Zahl der Studierenden ist in der letzten Dekade
gestiegen. Das ist gut; hier haben wir in den letzten 12,
13 Jahren viel erreicht.
Aber viel zu viele Jugendliche bleiben noch immer
chancenlos, weil sie keine oder eine zu schlechte Ausbildung haben. Man darf hier nicht einfach nur zuschauen.
Wir wollen eine Ausbildungsplatzgarantie. Was wollen
Sie? Wie wollen Sie das Problem lösen? Und: Was tun
Sie eigentlich dafür, dass ältere Arbeitnehmer bis zum
65. oder 67. Lebensjahr beschäftigungsfähig bleiben?
({10})
Ich muss leider feststellen: Die Fort- und Weiterbildung
sind die vernachlässigten Kinder dieser Bundesregierung. Aber ohne sie geht es nicht.
({11})
Frau Kollegin, Sie haben bitte die Zeit im Auge.
Kurz gesagt: Wo sind Ihre Leitideen? Wo sind Ihre
Vorschläge, damit die Industrie so gestärkt wird, dass sie
die Herausforderungen bestehen kann? Niedrige Preise
sind jedenfalls nicht die Lösung; das wissen wir. Eine
moderne Industriepolitik unterstützt den Wandel zu einer
nachhaltigen Wirtschaft und bereitet damit die Stärken
von morgen vor.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bulmahn. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Christian Lindner. Bitte schön, Kollege Christian
Lindner.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Zum
Ende dieser Debatte
({0})
will ich drei Bemerkungen machen. Bei meiner ersten
Bemerkung geht es um die Gemeinsamkeiten, die ich
heute hier bei den Vorrednern aller Fraktionen festgestellt habe. Wir sind uns einig über die Bedeutung von
Innovation, Forschung und Technologie für den Industriestandort Deutschland. Diese Koalition investiert ja
bis 2013 12 Milliarden Euro mehr in den Bereich Bil18870
dung und Forschung. Wir müssen aber nicht nur über die
Höhe, die Quantität von Forschungsgeldern sprechen,
({1})
sondern auch über die Qualität und die Methoden, wie
das Geld eingesetzt wird, um zu Innovationen zu kommen.
({2})
Ich habe festgestellt, dass es quer durch alle Fraktionen Offenheit für eine steuerliche Forschungsförderung
gibt, und das aus gutem Grund. Die Antrags- und Auftragsforschung, die wir fördern, ist teilweise bürokratisch und deshalb für mittelständische Unternehmen
nicht durchführbar.
({3})
Zum Teil gibt es auch gewisse Schablonen für Inhalte.
Im Bereich der Technologie ist in Deutschland in den
70er-Jahren viel zu viel für die Kernenergie aufgewendet
worden und zu wenig für die Datenverarbeitung. In den
80er- und 90er-Jahren gab es dann den Wechsel hin zur
Datenverarbeitung. Dabei ging es aber fast nur um Hardware und viel zu wenig um Software. Unternehmen vor
Ort, die aus der Praxis kommen und einen Anwendungsbezug haben, könnten dies besser lösen. Lassen Sie uns
deshalb in dieser Legislaturperiode vielleicht auch gemeinsam die Initiative für eine steuerliche Forschungsförderung ergreifen.
({4})
- Hubertus Heil, wenn Sie hier applaudieren, dann müssen Sie das im Bundesrat aber auch passieren lassen.
({5})
- Herr Heil, wir sind uns doch in der Sache einig. Lassen
Sie uns hier jetzt nicht darüber streiten, sondern an einer
konkreten Initiative arbeiten.
In meiner zweiten Bemerkung geht es um Trennendes. Es gibt ja immer Punkte, bei denen man einer Meinung ist, und andere, bei denen es unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich habe gerade einen genannt, bei dem
wir einer Meinung sind, aber es gibt eben auch Trennendes. Spannend war für mich, dass die größte Trennungslinie in der heutigen Debatte nicht zwischen CDU/CSU
und FDP einerseits und SPD andererseits verlief; den
größten Konflikt gab es vielmehr zwischen SPD und
Grünen, zwischen Ihnen beiden.
({6})
Es war doch bemerkenswert, wie Sie hier argumentiert
haben. Ihr Antrag enthält viel Kluges zum Thema Standortpolitik und zum Thema Infrastruktur. Die Tonalität, in
der Sie das dargestellt haben, finde ich respektabel. Da
sieht man, dass es unter Ihnen offenbar noch einige im
Deutschen Bundestag gibt, die vorher nicht Lehrer waren, sondern in der IG Metall organisiert waren. Sie kennen noch die betriebliche Praxis.
Aber wie sieht das zum Beispiel bei der Regierungsbeteiligung in Nordrhein-Westfalen aus? In Datteln steht
das modernste, klimaverträglichste Kohlekraftwerk, dessen Zulassung wegen der Grünen blockiert wird. Oder
nehmen Sie die CO-Pipeline von Bayer, die für den
Standortausbau dringend benötigt wird. Wir als Fraktion
haben uns das von der Currenta als Betreibergesellschaft
unlängst erklären lassen.
({7})
Peer Steinbrück hat vor der Landtagswahl energisch für
den Bau der CO-Pipeline geworben. Jetzt schweigt er
und mit ihm der ganze SPD-Teil der Landesregierung in
Nordrhein-Westfalen. Manch einer von Ihnen in Nordrhein-Westfalen denkt doch längst wieder wie Johannes
Rau - seien Sie doch ehrlich -: Lieber ein Haus im Grünen als einen Grünen im Haus.
({8})
Sie sind sich nämlich nicht klar darüber, welche politischen Prioritäten Sie mit Ihrem sozialökologischen Projekt miteinander auf den Weg bringen wollen.
({9})
Meine dritte Bemerkung bezieht sich auf Trennendes
zwischen der Koalition und der versammelten Opposition. Das betrifft die Rolle der Finanzmärkte. Selbstverständlich hat es da Exzesse gegeben. Selbstverständlich
muss hier reguliert werden. Aber wir müssen doch anerkennen, dass wir leistungsfähige Finanzmärkte brauchen.
({10})
Auch in Ihrem Papier wird doch über Risikokapital geschrieben und die Gründer, die wir brauchen. Was ist
denn Risikokapital anderes als eine Spekulation auf eine
Idee? Dafür brauchen wir die Mentalität, leistungsfähige
Kapitalmärkte in Deutschland zu ermöglichen, wenn sie
geordnet sind.
({11})
- Entschuldigung, Herr Heil. Bei Ihnen ist das doch anders. Welche Vorschläge machen Sie in der Praxis? Ich
kenne fast keine Vorschläge, die tatsächlich umsetzbar
wären. Wenn ich darüber hinaus höre, dass Sigmar
Gabriel sagt, man wolle Wahlkampf gegen die Finanzmärkte machen - Wahlkampf gegen die Finanzmärkte! -,
dann ist das wie der Perserkönig Xerxes, der die Meere
auspeitschen lassen wollte. Wir müssen keinen Wahlkampf gegen die Finanzmärkte machen, sondern wir
müssen die Finanzmärkte regulieren. Finanzmärkte sind
kein Gegner, sondern eine Aufgabe. Deshalb geht es jetzt
darum, zu handeln und zu gestalten statt zu lamentieren.
Das ist der Auftrag, den wir annehmen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Vielen Dank, Kollege Christian Lindner. - Jetzt für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Roland Claus.
Bitte schön, Kollege Roland Claus.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion schlägt vor, eine bessere Industriepolitik auf den Weg zu bringen. Das ist gut und richtig. Sie besinnt sich dabei auf sozialdemokratische
Tugend und Traditionen.
({0})
Um nicht in Verdacht zu geraten, kombiniert sie das mit
dem Begriff „moderne Industriepolitik“. Die Abteilung
„Überschriften“ bei den Sozialdemokraten hat schon immer gut geliefert.
Die SPD entlarvt die industriepolitischen Fehler der
Bundesregierung. Auch da hat sie recht und alle Hände
voll zu tun;
({1})
denn von diesem Ministerium wird nicht geliefert. Man
hat eher den Eindruck, dass Bundesminister Rösler seit
Amtsantritt in einem permanenten Lieferstreik steht.
({2})
Im Antrag klagt die SPD über die fehlende Regulierung der Finanzmärkte. Die SPD muss sich hier natürlich fragen lassen: Wer hat Schattenbanken und Heuschrecken überhaupt erst zugelassen? Mehr noch:
Warum erscheint die berechtigte Kritik an den Finanzmärkten nicht auch im Forderungsteil, mit konkreten
Vorschlägen unterlegt?
({3})
Wir sagen Ihnen dazu: Eine vernünftige Industriepolitik
wird überhaupt erst wieder möglich sein, wenn die Übermacht der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft
überwunden ist.
({4})
Wir erleben das gerade mit dem Rückzug von Hedgefonds aus der Solarbranche und anderem mehr.
Die SPD will gute Arbeit, muss sich aber fragen lassen: Wer hat schlechte Arbeit, also Niedriglohn und Zeitarbeit, massiv eingeführt? Ich weiß, dass ihr die Agenda
2010 jetzt nicht mehr in den Mund nehmen dürft, aber
auch das gehört zur Geschichte. Ein wenig mehr Erinnerungskultur - von Demut will ich gar nicht reden - hätte
dem Antrag gutgetan.
Aber nun zur Hauptschwäche des Antrags aus meiner
Sicht: Er enthält kein einziges Wort zum Osten und zu der
weiterhin anzutreffenden wirtschaftspolitischen und industriepolitischen Zweiteilung der Republik. Es ist nämlich ebenso schick wie falsch, zu behaupten, dass die
Ost-West-Spaltung in Sachen Wirtschaftspolitik von gestern sei. Das zeigen schon die Größenordnungen. Die
100 größten ostdeutschen Unternehmen zusammengerechnet erreichen nicht einmal die Hälfte der Leistungskraft von Daimler. Wir haben es also mit einer Spaltung
zu tun.
({5})
Wir haben im Osten eine doppelt so hohe Quote an Niedriglohn- und Leiharbeit wie im Westen.
({6})
Inzwischen haben die Unternehmen die Fehler erkannt,
aber sie kommen aus den Verträgen nicht heraus und
sind durch ihre eigenen Zukunftserwartungen gewissermaßen geknebelt. Der Anteil an Forschung und Entwicklung ist im Osten verschwindend gering.
Aber es gibt auch sehr viele positive Erfahrungen, die
viel zu wenig genutzt werden. Ich denke an die Einführung der erneuerbaren Energien. Auch bieten die Konzepte der Chemieparks im Osten deutliche Vorteile gegenüber den traditionellen Standorten. Ein anderes
Beispiel sind die Netzwerke der Ernährungswirtschaft,
die in Kooperation mit einer modernen Landwirtschaft
entstanden sind. Es gibt auch, so behaupte ich, einen Erfahrungsvorsprung im Osten beim sozialökologischen
Umbau und bei der Entwicklung einer neuen Unternehmenskultur.
Ich will Ihnen abschließend sagen, meine Damen und
Herren - Sie sind schließlich immer scharf auf unser Programm -: Die Linke steht für eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die Mittelstand und Existenzgründern Chancen eröffnet, statt sie zu verbauen, und Arbeit schafft, von
der die Beschäftigten sorgenfrei leben können. Die Linke
will eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die zu mehr
wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Gerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Das geht zusammen. Das gehört
nicht länger gegeneinander definiert.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Claus. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Andreas
Lämmel. Bitte schön, Kollege Andreas Lämmel.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Wir verhandeln heute zwei Anträge zur Industriepolitik: den etwas dünnen Antrag der SPD-Fraktion
({0})
und den wesentlich besser durchdachten Antrag der Koalition.
({1})
Es zeigen sich auch gewisse Unterschiede im Verständnis des Begriffs Industriepolitik. Industriepolitik ist für
die linke Seite des Hauses eher ein Instrument, mit dem
der Staat die Wirtschaft reguliert und mit ständig neuen
Eingriffen versucht, staatliche Ziele umzusetzen.
({2})
Was die Linke angeht, Herr Claus, die Sie als Unterstützer des Mittelstandes bezeichnet haben, haben wir
schon in der letzten Debatte klargestellt, welche Unterstützung Sie dem Mittelstand 40 Jahre in Ostdeutschland
gegeben haben.
({3})
Die Ursachen, die Sie heute beklagen, und die Zahlen,
die Sie genannt haben, sind nicht falsch; aber man muss
auch immer nach Ursache und Wirkung fragen. Die Ursache liegt darin, dass Sie mit Ihrer „erfolgreichen“ Mittelstandspolitik in Ostdeutschland, nämlich mit Enteignung und Vertreibung, die Wirkung erzielt haben, mit
der wir noch heute zu tun haben: ein geteiltes Deutschland im Bereich der Wirtschaftskraft.
({4})
Wir verstehen die Industriepolitik im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft, das heißt nach den Prinzipien
von Ludwig Erhard. Wir sind froh, dass wir jetzt auch in
Ostdeutschland diese Prinzipien durchsetzen können.
Denn es hat sich deutlich gezeigt, dass in den letzten
20 Jahren Wirtschaftsaufbau in Ostdeutschland die großen Erfolge im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft erzielt worden sind. Herr Claus, keines Ihrer alten kommunistischen und sozialistischen Freundesländer hat einen
solchen wirtschaftlichen Aufschwung erleben können
wie der östliche Teil Deutschlands.
({5})
Die Anträge enthalten aber auch Punkte, die durchaus
gleich sind. Dabei geht es um die Qualifikation, also die
Aneignung von Fähigkeiten, von Fachkräften. Dieses
Thema bewegt sicherlich alle in Gesamtdeutschland. In
Ostdeutschland ist die Situation aber aus verschiedenen
Gründen dramatischer. Das heißt, dass wir noch stärker
um qualifizierte Facharbeiter kämpfen müssen.
Wir haben heute schon einiges zum Thema Technologiepolitik gehört. Frau Bulmahn, Sie sind intensiv auf
dieses Thema eingegangen. Ich denke aber, im Bereich
der Technologiepolitik fehlen noch einige Gesichtspunkte, die sich im Untergrund abspielen und die man
hier zumindest benennen müsste.
({6})
Die Technologie- und Forschungspolitik muss von
der Forschung bis hin zur Produktion betrachtet werden.
Das viele Geld, das in vielen Jahren eingesetzt wurde,
stellt keinen Wert an sich dar. Das ist zunächst einmal
Geld, um damit Forschung betreiben zu können. Die
Frage ist aber, was am Ende an Wertschöpfung herauskommt, wie unser Altkanzler Helmut Kohl sagte. Hier
gibt es einige Entwicklungen, die uns durchaus bedenklich stimmen sollten und aufgrund derer man eigentlich
sofort beginnen muss, zu überlegen, wie man gegensteuern kann. Ich möchte dies kurz am Thema Schlüsseltechnologien darstellen; denn nicht nur einige Banken in
Deutschland sind systemrelevant, die Schlüsseltechnologien sind ein ebenso systemrelevantes Thema. Vor allen
Dingen werden die Schlüsseltechnologien die Grundlagen für die wirtschaftlichen Erfolge in der Zukunft
legen.
Dazu hat es eine interessante Untersuchung gegeben.
Die EU-Kommission hat eine sogenannte High Level
Group eingesetzt, in der Vertreter der Wirtschaft, der Forschung und der Verwaltung zusammensaßen. Dort hat
man sich Gedanken darüber gemacht, welche Schlüsseltechnologien es sind, die Europa braucht, um die wirtschaftliche Zukunft gestalten zu können. Daraus entstand
der Begriff „Key Enabling Technologies“, die sogenannten KETs. Zu diesen KETs mit systemischer Relevanz,
wie man so schön sagt, gehören die Nanotechnologie, die
Mikro- und Nanoelektronik, die Biotechnologie, die Photonik, die Materialforschung und fortgeschrittene Fertigungstechnologien und Fertigungssysteme.
({7})
Die Analyse zeigt aber auch bedeutende Schwächen
in Europa auf. Auf der einen Seite wird enorm viel Geld
in die Forschung gesteckt. Das machen wir auch. Die
Koalition hat die Forschungsmittel deutlich aufgestockt.
Die Forschungsgesellschaften sind sehr gut ausgestattet;
das ist keine Frage. Die Situation der Forschung in
Deutschland hat sich nach dem Regierungswechsel 2005
enorm verbessert. Auf der anderen Seite entstehen aus
der Exzellenzforschung aber zu wenig Produkte für den
Markt. Vor allen Dingen entstehen daraus zu wenig Produkte, die letztlich auch in Europa oder in Deutschland
hergestellt werden.
({8})
Man kann es auch so formulieren: Aus dem großen Wissen darüber, was produziert wird, entsteht eine zu
geringe Wertschöpfung. Ich glaube, das ist das Hauptproblem für die Zukunft unseres Standortes Deutschland. In diesem Zusammenhang gibt es den berühmten
Begriff „Valley of Death“, Tal des Todes. Das heißt, man
schreitet, von der Forschung kommend, durch das trockene Tal und verliert dabei die guten Ideen, aus denen
Produkte werden könnten.
Frau Bulmahn, Sie haben vorhin in einem anderen
Zusammenhang auf die LEDs verwiesen. Da ging es um
die Energieeffizienz. Die LEDs wurden in Deutschland
von Osram, Zeiss und Fraunhofer-Instituten erfunden
und sind ein hervorragendes Beispiel.
({9})
Ihre Wertschöpfung ist hier gleich null. Die Wertschöpfung geschieht zu 100 Prozent in Asien.
({10})
- Das sind Kleinstkapazitäten. Die richtige Wertschöpfung findet in Asien statt. Fast alle LEDs der Welt werden in Asien produziert.
({11})
Sie alle werden wahrscheinlich einen MP3-Player in
Ihrer Tasche haben. Dieser ist eine deutsche Erfindung
des Fraunhofer-Instituts. Der Anteil der Produktion in
Deutschland? - Null. Ich glaube, das ist ein ganz großes
Problem.
Anhand der Mikroelektronik möchte ich Ihnen deutlich machen, was sich in den letzten Jahren ereignet hat.
Im Zusammenhang mit der Mikroelektronik denkt man
nur an einzelne kleine Chips, die überall eingebaut sind.
Die Mikroelektronik ist aber eine Querschnittsbranche.
Kein modernes Auto könnte ohne Mikroelektronik fahren. Der deutsche Maschinenbau kann ohne die Mikroelektronik nicht existieren. Auch die Medizintechnik, die
Windkraftanlagen und Smart Grids basieren auf Mikroelektronik.
({12})
In diesem Bereich droht ein Kompetenzverlust.
({13})
In Deutschland arbeiten 800 000 Menschen in diesem
Bereich. Ich will noch eine Zahl nennen, die vielleicht
zum Denken anregt und die die Bedeutung klarmacht:
50 Prozent der Wertschöpfung der deutschen Exportwirtschaft beruhen auf der Mikroelektronik.
({14})
Was hat sich in den letzten 20 Jahren ergeben?
({15})
1990 wurden 40 Prozent des Umsatzes der Mikroelektronik in Japan gemacht, 30 Prozent in den USA, 20 Prozent in Europa und 10 Prozent im asiatisch-pazifischen
Raum. Zehn Jahre später, im Jahr 2000, hatten Europa
und Japan noch jeweils 20 Prozent, die USA noch
30 Prozent; Asien hatte aber schon 30 Prozent des Marktes errungen, davon China 5 Prozentpunkte. 2010 entfielen auf Japan und die USA jeweils 15 Prozent des Weltmarktes, Europa hatte noch einen Anteil von 12 Prozent,
und über 50 Prozent der gesamten Wertschöpfung im
Bereich der Mikroelektronik fanden in Asien und im
pazifischen Raum statt, davon die Hälfte in China.
({16})
- Genau, jetzt kommt die ganz große Frage: Was tun wir
jetzt?
Das Papier der High Level Group liegt jetzt in Brüssel. Man muss natürlich darüber nachdenken, wie man
diese Schlüsseltechnologien in Europa hält.
({17})
- Immer mit der Ruhe! Regen Sie sich ab, Frau
Bulmahn!
({18})
Sie hatten viele Jahre Zeit, das alles anzuschieben; aber
es musste erst unter unserer Regierung in Gang gebracht
werden; das müssen wir doch einmal sehen.
({19})
Also, wir müssen diesen Bericht auswerten. Das ist
bei anderen Technologien nicht anders.
({20})
Bei moderner Industriepolitik darf man nicht bloß an der
Oberfläche bleiben, Herr Heil, wie Sie das in der ersten
Reihe gemacht haben, sondern man muss etwas tiefer in
die Probleme einsteigen,
({21})
um daraus dann die richtigen Schlüsse ziehen zu können.
Ein großer Schluss, den wir als Koalition daraus gezogen haben, war, dass wir die Mittel für Forschung und
Technologie im industrienahen Bereich deutlich erhöht
haben.
Ich will noch auf eines hinweisen, Herr Heil, was mir
in Ihrem Antrag aufgefallen ist. Darin steht der schlaue
Satz: Wir müssen wieder mehr gesellschaftliche Akzeptanz für Infrastruktur erzeugen.
({22})
Das ist ein bisschen lachhaft. Bei allen großen Infrastrukturprojekten der letzten Jahre in Ostdeutschland
({23})
standen die Grünen, die SPD und die Linke vereint auf
der Straße
({24})
und haben gegen jedes Infrastrukturprojekt gekämpft.
({25})
Solche Halbwahrheiten, die Sie verbreiten, führen dazu,
dass die Politik keine Akzeptanz findet.
({26})
- Ja, toll, das ist aber auch das Einzige, wo er sich hinstellt.
({27})
Ich habe Ihnen ja gesagt: Bei allen Projekten, die ich
kenne, stehen Sie vereint auf der Straße.
({28})
Ich habe nur noch wenige Sekunden Redezeit. Deswegen nur noch einen Nachsatz.
({0})
Das Zweite, was mir aufgefallen ist, Herr Heil: Bei
der Aufzählung der Technologien im Bereich der Gentechnologie haben Sie die Grüne Gentechnologie weggelassen. Warum? Weil durch Ihre frühere Politik die
Grüne Gentechnologie Deutschland mittlerweile verlassen hat! Wenn wir das so weiterbetreiben, dann ruinieren
wir die Grundlagen, die wir brauchen, um auch in den
nächsten Jahren erfolgreiche Industriepolitik machen zu
können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Kollege Andreas Lämmel. - Letzter
Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte schön,
Kollege Garrelt Duin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe mich gestern, als ich zu einer Veranstaltung eingeladen war, gefragt, warum ich dort eigentlich eingeladen war.
({0})
Das war eine Veranstaltung des Wirtschaftsrats Deutschland. Nun wissen wir alle, dass der Wirtschaftsrat
Deutschland keine sozialdemokratische Vorfeldorganisation ist, sondern, lieber Herr Pfeiffer, lieber Herr
Nüßlein, lieber Herr Lämmel, die Sie hier heute für die
CDU/CSU geredet haben, bei Ihnen zu verorten ist. Es
war in der Abteilung „Wachstum und Innovation“ - so
heißt die - wohl das erste Mal, dass jemand aus einer anderen Partei vortragen durfte, und zwar zu dem Thema,
das wir hier heute Morgen besprechen: Industriepolitik
ist Wachstumspolitik. Was können wir für den Standort
Deutschland tun? - Nach Ihren Redebeiträgen, Herr
Pfeiffer, Herr Nüßlein, Herr Lämmel, ist mir klar, warum
die auf uns zurückgreifen: Weil das, was Sie hier heute
geboten haben, zeigt, dass Ihnen schlichtweg der Geist
und die Kompetenz für dieses zentrale wirtschaftspolitische Feld fehlen.
({1})
Das hat die Debatte heute Morgen deutlich gemacht.
Herr Dr. Lindner - damit wir wissen, wer von den
beiden Lindners von der FDP gemeint ist - hat auf einen
Artikel im Handelsblatt aus dieser Woche Bezug genommen;
({2})
ich komme zum Schluss noch einmal darauf. Aber wenn
Sie dieses Blatt nicht nur am Dienstag, sondern auch am
Montag gelesen hätten,
({3})
dann hätten Sie festgestellt, dass führende Wirtschaftsleute in Deutschland zu einem Ergebnis gekommen sind,
nämlich dass wirtschaftspolitische Kompetenz innerhalb
der FDP nicht mehr vorhanden ist und dass die FDP bei
diesem Thema nicht gebraucht wird.
({4})
Das war das Ergebnis der Befragung deutscher Führungskräfte.
({5})
- Zu Ihrem Antrag komme ich noch.
In dieser Debatte ist deutlich geworden, dass einige
doch wieder den Konflikt zwischen alter und neuer
Industrie schüren wollen. Es wird zwar zunächst gesagt,
dass man das nicht tun dürfe, aber am Ende geschieht es
dann doch. Die gestrige Debatte über Energiepolitik
spiegelt sich heute wider: Die eine Seite will tatenlos
zusehen, wie Unternehmen der energieintensiven Industrie dieses Land verlassen, und die andere Seite möchte
das Kind mit dem Bade ausschütten und das EEG
kaputtmachen. Beides ist der falsche Weg. Stattdessen
müssen wir dafür sorgen, dass sowohl eine kleine, kreative Ingenieurbude - so will ich das einmal nennen -, in
der sich 10, 15 Leute Gedanken über Energieeffizienz,
über neue Formen der Rohstoffeffizienz machen, als
auch eine Zinkhütte, die nicht stattdessen in Kanada
investieren soll, in Deutschland beheimatet sein können.
Wir müssen beiden die Möglichkeit geben, hier tätig zu
sein, und dürfen sie nicht gegeneinander ausspielen.
({6})
Man kann nicht sagen, alles solle grün werden. Nein, es
wird durchaus bestimmte Grenzen geben.
Ich möchte ausdrücklich auf den Antrag der Koalition
zurückkommen. In Punkt 20 steht, man müsse Vorkehrungen treffen, um ein sogenanntes Carbon Leakage zu vermeiden. Wir waren uns in der letzten Legislaturperiode einig - und bis ich diesen Antrag gelesen habe, dachte ich,
es sei bis heute so -, dass wir im Rahmen des Emissionshandels alles dafür tun wollen, dass es eine hundertprozentige Kompensation der dadurch für die Industrie entstehenden Kosten gibt. Das war unsere gemeinsame
Stellungnahme, tausendfach nachzulesen. Heute lese ich
in Ihrem Antrag in Punkt 20, dass es notwendig sei, sich
„im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel für die Kompensation … einzusetzen“. Das ist eine
Abkehr von der bisherigen industriepolitischen Linie, die
auch Sie vertreten haben.
({7})
Plötzlich wollen Sie Industriepolitik nach Haushaltslage
machen. Das wird den Interessen dieses Standortes nicht
gerecht.
({8})
Dasselbe gilt, Herr Dr. Lindner, bei dem inzwischen
mehrfach angesprochenen Thema der steuerlichen Forschungsförderung. Es ist schön, wenn Sie das hier einfordern. Aber wer regiert eigentlich? Es ist nun einmal
- auch wenn man das beklagen kann - seit über zwei
Jahren Schwarz-Gelb. Im Koalitionsvertrag steht, dass
Sie die steuerliche Forschungsförderung einführen wollen. Aber bis heute ist nichts passiert.
({9})
Das ist das Problem: dass die Leute darauf warten, aber
nichts kommt.
Wir reden ja nicht nur hier im Plenum über das
Thema, sondern es gibt viele verschiedene Veranstaltungen dazu. Bei solchen Veranstaltungen sagt eine ganze
Reihe von Abgeordneten der Koalition bis hin zu Vertretern der Bundesregierung den Zuhörerinnen und Zuhörern offen, dass es dazu aufgrund der Ausgaben in falschen Bereichen in dieser Legislaturperiode nicht mehr
kommen wird. Da sage ich Ihnen, was vorhin schon eine
Kollegin erwähnt hat: Es ist doch Irrsinn, Mittel für
Betreuungsgeld und andere Maßnahmen aus dem Fenster zu werfen und dieses für den Standort Deutschland so
zentrale Projekt der steuerlichen Forschungsförderung
hinten runterfallen zu lassen. Das ist nicht akzeptabel.
({10})
Ich will noch etwas zu dem Thema Infrastruktur
sagen. Sie haben - anders als wir, die wir in einem sehr
langen Prozess zu einer industriepolitischen Positionierung gekommen sind - aus der Not heraus in den letzten
Tagen einen Antrag zusammengestrickt.
({11})
Dabei kann es natürlich passieren, dass man ein Thema,
über das man sonst sehr viel spricht, völlig vergisst. Das
Thema Infrastrukturausbau und Akzeptanz kommt in Ihrem Antrag nicht vor.
({12})
Lieber Herr Lindner, die Akzeptanz in der Bevölkerung
({13})
für die Errichtung von Produktionsstätten oder für den
Ausbau der klassischen Infrastruktur durch Netze, Straßen, Wasserstraßen und
({14})
Flughäfen erreicht man nicht dadurch, dass man Bürgerinitiativen, die berechtigte Sorgen vertreten, beschimpft.
Dadurch werden Sie Akzeptanz in Deutschland für notwendige Maßnahmen nicht erzielen.
({15})
Man muss die Bevölkerung vielmehr einbinden. Wir als
SPD-Fraktion führen parallel zu diesem Thema einen
breit angelegten Prozess durch, der dafür sorgen wird,
dass wir in Deutschland einen Infrastrukturkonsens erzielen werden.
({16})
Den müssen Sie mit der Industrie und mit den staatlichen Stellen erzielen, die für den Bau der Infrastruktur
verantwortlich sind. Aber Sie müssen auch die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen. Sie können nicht diejenigen, die auf die Straße gehen, vor der Tür lassen. Wenn
Sie das so machen, werden Sie in Deutschland keine Akzeptanz erzielen.
({17})
Nun zur Rede von Herrn Claus von der Fraktion Die
Linke. Er hat behauptet, dass im SPD-Antrag sozusagen
der Osten nicht vorkomme. Wir haben 20 Jahre nach der
Vollendung der deutschen Einheit ein anderes Verständnis von diesem Land, als Sie es leider immer noch haben. Es gibt in Ostdeutschland wie in Westdeutschland
sehr erfolgreiche, innovative, effizient agierende Regionen, in denen sich vorbildliche Cluster gebildet haben.
Diese gibt es im Osten und im Westen. Es gibt Regionen,
die aufgrund des demografischen Wandels und der industriellen Struktur in großen Schwierigkeiten sind.
Diese gibt es im Osten und im Westen. Deswegen ist
Ihre Schwarz-Weiß-Malerei längst überholt. Kommen
Sie endlich im Jahr 2012 an, und führen Sie nicht Debatten, die längst überholt sind!
({18})
Wir Sozialdemokraten - das zeigt auch jede Debatte
außerhalb dieses Hauses - sind, weil wir eine Vorreiterrolle übernommen haben, zurzeit die Einzigen, die ein
wirklich integriertes Konzept anbieten können,
({19})
das Lösungen für die Themen gute Arbeit, Fachkräfte,
Technologiefreundlichkeit und Akzeptanz für Infrastruktur beinhaltet. Sie werden sich sehr bemühen müssen,
wenn Sie bei diesen Themen wieder punkten wollen.
Wir sind dort vorne und werden es auch bleiben.
Vielen Dank.
({20})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende
unserer Aussprache. Ich schließe die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/8572 und 17/8585 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 a bis g sowie
den Zusatzpunkt 3 a und b auf:
25 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Fakultativprotokoll zum
Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
- Drucksache 17/8452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt unterzeichnen und ratifizieren
- Drucksache 17/8461 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Karin Roth ({4}), Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Millennium-Entwicklungsziele ernst nehmen Infektionserkrankungen wirksam durch eine
nationale und europäische Förderung von
Product Development Partnerships bekämpfen
- Drucksache 17/8183 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gebhart, Marie-Luise Dött, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer,
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutsches Ressourceneffizienzprogramm Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften
- Drucksache 17/8575 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Eduard Oswald
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Bärbel Höhn, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Privatisierung des Duisburger Hafens
- Drucksache 17/8583 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
f) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({8})
gemäß § 56 a GO-BT
Technikfolgenabschätzung ({9})
Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems - Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung
- Drucksache 17/6026 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen der Kreditwirtschaft zur Umstellung
bestehender Einzugsermächtigungen auf das
SEPA-Lastschriftmandat
- Drucksache 17/8072 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 a)Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von
Sportwetten
- Drucksache 17/8494 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette
Kramme, Hubertus Heil ({13}), Gabriele HillerOhm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Schutz von Hinweisgebern - Whistleblowern ({14})
- Drucksache 17/8567 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({15})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlagen auf Drucksachen 17/8452 und
17/8461 - das ist der Tagesordnungspunkt 25 a und b sollen federführend beim Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe, die Vorlage auf Drucksache 17/8072
- das ist der Tagesordnungspunkt 25 g - soll federführend beim Finanzausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 26 a sowie
26 d bis l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({16}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der immissionsschutzrechtlichen Verordnungen zur Begrenzung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der
Betankung von Kraftfahrzeugen ({17})
und zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger
organischer Verbindungen beim Umfüllen und
Lagern von Ottokraftstoffen ({18})
- Drucksachen 17/8321, 17/8406 Nr. 2.1,
17/8480 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8480, der Verordnung auf
Drucksache 17/8321 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind alle Fraktionen dieses
Hauses. Vorsichtshalber die Gegenprobe! - Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? - Auch keine Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 26 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 381 zu Petitionen
- Drucksache 17/8469 18878
Vizepräsident Eduard Oswald
Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht
381 einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 382 zu Petitionen
- Drucksache 17/8470 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht 382 einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 383 zu Petitionen
- Drucksache 17/8471 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht
383 ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 384 zu Petitionen
- Drucksache 17/8472 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Infolgedessen ist die Sammelübersicht 384 einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 385 zu Petitionen
- Drucksache 17/8473 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen sowie die
Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 385
ist mit dem von mir festgestellten Ergebnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 386 zu Petitionen
- Drucksache 17/8474 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Sammelübersicht
386 angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 387 zu Petitionen
- Drucksache 17/8475 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und
Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 387 ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 388 zu Petitionen
- Drucksache 17/8476 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? Fraktion der Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 388 ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 389 zu Petitionen
- Drucksache 17/8477 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen, also
Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und Linke.
Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Sammelübersicht
389 angenommen.
Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses.
Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({28}) zu dem Gesetz zur Neuordnung des
Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts
- Drucksachen 17/6052, 17/6645, 17/7505 ({29}),
17/7931, 17/8568 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Altmaier
Die Erklärung des Kollegen Peter Altmaier nehmen
wir, wie zwischen den Fraktionen besprochen, zu Proto-
koll.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 17/8568? - Das sind die Koalitionsfraktio-
1) Anlage 2
Vizepräsident Eduard Oswald
nen, die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Zusatzpunkt 5:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({30}) zu dem Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen
- Drucksachen 17/5707, 17/7521, 17/7930,
17/8569 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag
über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/8569? - Die Koalitionsfraktionen, die Fraktion der Sozialdemokraten und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
EU-Fiskalpakt - Auswirkung auf Demokratie
und Sozialstaat
Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke.
Bitte schön, Kollege Dr. Dietmar Bartsch.
({31})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
eine Aktuelle Stunde beantragt, weil wir in dieser Woche
viele Bilder gesehen haben: Es gibt einen Generalstreik
in Belgien. Die Gewerkschaften in Griechenland haben
zum Generalstreik aufgerufen; Zehntausende sind gefolgt. Polizei und Wasserwerfer wurden eingesetzt. In
Griechenland werden deutsche Fahnen verbrannt. Wann
hat es das eigentlich zum letzten Mal gegeben? Das alles
ist das Ergebnis Ihrer Politik. Das alles ist das Ergebnis
der Diktatur der Finanzmärkte in Europa.
({0})
Das sagt doch alles: Wenn die Meldungen des Tages lauten, dass die Märkte auf Entwicklungen nervös reagieren, dann sind auch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nervös, sie agieren und tun etwas. Wenn
aber Zehntausende Menschen auf die Straße gehen wie
in Griechenland, wenn Menschen in die Verzweiflung
getrieben werden, dann passiert vonseiten der Bundesregierung gar nichts. Diese Politik ist so nicht zu akzeptieren.
Die Troika hat heute Nacht versucht, weitere Sparmaßnahmen durchzusetzen.
({1})
Wieder betrifft es Rentnerinnen und Rentner. Die Mindestlöhne werden gesenkt. Das 13. und 14. Monatsgehalt
wird gestrichen. Es werden aber niemals die Millionäre
in Griechenland in die Verantwortung eingebunden.
({2})
Deshalb klar und eindeutig: Die Linke ist solidarisch mit
den Streikenden in Griechenland. Die Linke ist solidarisch, wenn sich Menschen gegen Ungerechtigkeiten
und unsoziale Politik wehren.
({3})
Ihr eingeschlagener Weg hat dazu geführt, dass Europa gespalten ist. Deutschland ist in Griechenland auf
der Beliebtheitsskala von Platz eins auf den letzten Platz
zurückgefallen. Ihr Weg verschärft die Krise immer
mehr. Der Abwärtsstrudel dreht sich schon jetzt in einem
gigantischen Tempo. Ihr Kurs produziert bittere Armut,
soziales Elend und soziale Unruhe. Im Dezember 2011
waren in Griechenland über 900 000 Menschen arbeitslos, aber nur 274 000 Menschen haben Arbeitslosengeld
erhalten. Die Arbeitslosenquote lag bei 18 Prozent. Bei
den 15-Jährigen bis 24-Jährigen lag sie bei 46 Prozent.
Glaubt denn wirklich jemand in diesem Hause, dass angesichts dieser Entwicklung jemals auch nur 1 Cent von
Griechenland zurückgezahlt werden kann? - Natürlich
haben die griechischen Regierungen große Fehler gemacht. Die Korruption in Griechenland ist völlig inakzeptabel. Die Steuergesetzgebung muss geändert werden. Der Steuervollzug muss verbessert werden. Das
alles ist aber auch ein Ergebnis Ihres Kaputtsparens. Das
muss beendet werden.
({4})
In Deutschland hatten wir eine Situation, in der ein
Marshallplan geholfen hat. Frau Merkel könnte in die
Geschichte eingehen, wenn sie einen Merkel-Plan für
Investitionen, Wachstum und Beschäftigung in Griechenland aufstellen würde.
({5})
Das wäre wirklich eine Initiative, der wir zustimmen
könnten und die wir als Linke gerne unterstützen würden.
Im Übrigen bleibt bei dieser Entwicklung auch die
Demokratie auf der Strecke. Niemand glaubt, dass wir
auch nur einen Hauch von Sympathie für Herrn
Berlusconi haben. Trotzdem ist es ein Unding, wenn jemand wie Herr Monti faktisch durch Brüssel eingesetzt
wird. Das ist doch so nicht zu akzeptieren. Dieser Mann
hat sich nie einer Wahl gestellt.
({6})
Dann reden Sie auch noch von einem Sparkommissar,
der eingesetzt werden soll. Stellen Sie sich einmal vor,
die Linke würde sagen: Wir haben einen wunderbaren
Finanzminister in Brandenburg, der 2011 einen ausgegli18880
chen Haushalt geschafft hat; jetzt soll er Sparkommissar
in Bremen werden. - Das würde einen Aufschrei geben.
Nichts anderes allerdings schlagen Sie vor.
Es ist kein Zufall, dass Frau Merkel von einer marktkonformen Demokratie spricht; das ist entlarvend. Wir
als Linke wollen einen demokratiekonformen Markt.
({7})
Wir fordern klar und eindeutig: Die Finanzmärkte müssen reguliert werden. Es muss eine europäische Bank für
öffentliche Anleihen errichtet werden, und endlich müssen die Vermögenden in Europa, auch in Griechenland,
zur Kasse gebeten werden. Das ist die richtige Alternative.
({8})
Ihre Maßnahmen und auch der Fiskalpakt haben doch
nur folgendes Ziel: Sie wollen, dass Herr Sarkozy im
April noch einmal gewählt wird.
({9})
- Oder dass er nicht wiedergewählt wird. Das kann man
noch nicht so genau erkennen. Ich glaube aber, dass Ersteres der Fall ist.
Es ist doch ganz klar: Ihr Kurs führt zu Demokratieverdrossenheit und spaltet Europa weiter. Unsere Position ist und bleibt klar: Wir wollen ein friedliches, soziales und demokratisches Europa.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Kollege Dr. Bartsch. - Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Norbert Barthle. Bitte schön,
Kollege Norbert Barthle.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Bartsch, da Sie einen MerkelPlan fordern, darf ich Ihnen sagen: Im Grunde genommen gibt es bereits einen Merkel-Plan. Dieser Plan trägt
die Überschrift: Vertrag über Stabilität, Koordinierung
und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion.
Nichts anderes ist der Fiskalpakt, der unter wesentlicher
Beteiligung unserer Bundeskanzlerin zustande gekommen ist und der zu einem großen Teil die Handschrift der
Bundeskanzlerin und des Bundesfinanzministers trägt.
Das ist gut für Europa und unsere gemeinsame Währung. Das ist vor allem gut für die Länder in Europa, die
die größten Schwierigkeiten haben.
({0})
Man muss Ihnen geradezu dankbar sein, dass Sie
diese Aktuelle Stunde beantragt haben; denn sie gibt uns
endlich wieder einmal Gelegenheit, uns zu vergewissern,
worum es in der Auseinandersetzung eigentlich geht.
({1})
Linke Parteien und Sozialisten gibt es ja nicht nur hier in
Deutschland; diese politische Fehlorientierung gibt es
leider in ganz Europa.
({2})
Worum geht es also bei der Auseinandersetzung? Es
geht letztendlich um die Frage: Wie bekämpft man die
Staatsschuldenkrise? Von Ihrer Seite kommt immer nur
der Vorschlag, noch mehr Geld Griechenland
({3})
und anderen überschuldeten Ländern zu geben, um dort
Konsumanreize zu setzen und über mehr Konsum wieder zu einem höheren Wachstum zu kommen. Das ist der
klassische Ansatz von Keynes; den hat Herr Lafontaine
schon immer vertreten.
Wir haben eine andere Auffassung. Man muss an die
Wurzel des Übels heran. Man muss die Überschuldung
bekämpfen, also Staatshaushalte konsolidieren und
Wachstumskräfte stärken. Beides muss zusammen erfolgen. Das haben Sie nicht im Blick. Wir jedoch verfolgen
diese Strategie.
({4})
Der Fiskalpakt, Fiscal Compact Treaty, ist genau der richtige Weg und - das erlaube ich mir hinzuzufügen - ein
Riesenerfolg, ein Meilenstein in der Entwicklung Europas; denn dass 25 von 27 Staaten diesen Pakt unterschreiben und sich zu ihm bekennen würden, hätte ich nie erwartet. Das ist ein klares Bekenntnis Europas hin zu mehr
Stabilität, Koordinierung, Kontrolle und Transparenz.
Genau das braucht man, wenn man eine gemeinsame
Währung hat. Wenn eigenständige Nationalstaaten eine
gemeinsame Währung haben, dann bedarf es des Bekenntnisses aller, die verabredeten Regeln einzuhalten;
denn nur so kann die Währung stabil bleiben. Ein Euro ist
auf der ganzen Welt gleich viel wert, egal ob er aus
Deutschland, Frankreich oder Griechenland kommt. Um
dies aufrechtzuerhalten, brauchen wir diesen Pakt. Das ist
ein Schritt in die richtige Richtung.
({5})
Leider haben das in Griechenland offenbar noch nicht
alle erkannt, wie die geplatzten Verhandlungen zeigen. In
der heutigen Ausgabe der FAZ macht der griechische
Wirtschaftsminister Chrysochoidis klipp und klar die europäische Subventionspolitik der vergangenen Jahrzehnte
für den wirtschaftlichen Niedergang Griechenlands verantwortlich. Der Minister sagt:
Während wir mit der einen Hand das Geld der EU
nahmen, haben wir es nicht mit der anderen Hand
in neue und wettbewerbsfähige Technologien investiert. Alles ging in den Konsum.
Recht hat der Mann!
({6})
Genau darum geht es in der Auseinandersetzung. Wir
müssen dafür sorgen, dass die Wettbewerbsfähigkeit in
allen Ländern der Euro-Zone gestärkt wird, und zwar
nicht durch fremdes Geld von außen.
Herr Bartsch, Sie müssen den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erklären, weshalb sie bis
67 arbeiten sollen,
({7})
während Ihre Freunde in Griechenland sieben Jahre früher in Rente gehen können. Sie müssen erklären, weshalb deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
ihren Steuergeldern einen völlig überbordenden, aufgeblähten Staatsapparat in Griechenland finanzieren sollen.
({8})
Genau hier besteht ein Widerspruch; das sagen Sie nämlich nicht. Das müssten Sie aber offen aussprechen.
({9})
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen,
der für mich einen Riesenerfolg im Zusammenhang mit
dem Fiskalpakt darstellt: die Schuldenbremse. Alle
25 Länder verpflichten sich, eine Schuldenregel in ihr
nationales Recht zu übernehmen. Das wäre vor einigen
Monaten noch undenkbar gewesen. Dieser Vertrag war
innerhalb von zwei Monaten unterschriftsreif.
({10})
Dieser Pakt ist ein Meilenstein, ein Meisterstück unserer
Bundeskanzlerin
({11})
und aller anderen, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren.
({12})
Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man bedenkt,
wie lang die Arbeit auf europäischer Ebene normalerweise dauert.
Ich will einen dritten Punkt hervorheben: die Verknüpfung des Fiskalpaktes mit dem ESM. Das war eine
wichtige deutsche Verhandlungsposition, die durchgesetzt werden konnte. Nur wer den Fiskalpakt unterschreibt, hat künftig die Möglichkeit, Hilfen über den
ESM zu beanspruchen. Das entfaltet eine starke Bindewirkung. Darauf und auf die anderen Verhandlungsergebnisse unserer Bundesregierung sind wir zu Recht
stolz.
Ich bedanke mich.
({13})
Vielen Dank, Kollege Norbert Barthle. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Klaus Hagemann.
Bitte schön, Kollege Klaus Hagemann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Barthle, ich möchte an Ihre Worte
anknüpfen. Sie meinten eben sinngemäß, man brauche
die Sozialisten und die Sozialdemokraten nicht. Im Europäischen Parlament, lieber Kollege Barthle, ist es gelungen, fast einstimmig eine Resolution durchzusetzen,
weil wir alle - auch meine Partei - uns darin wiederfinden, sowohl die Konservativen als auch die Sozialdemokraten, die Liberalen, die Grünen und die Linken. Darin
heißt es beispielsweise: Sowohl Stabilität als auch nachhaltiges Wachstum sind notwendig.
({0})
Recht haben die Europäer. Weiter heißt es, dass „Haushaltsdisziplin zwar die Voraussetzung für ein tragfähiges
Wachstum ist, dass sie allein aber keinen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen wird“. Recht haben die
Europäer; das können wir unterstützen.
({1})
In dieser Resolution steht auch, dass an beiden Fronten,
sowohl beim Wachstum als auch bei der Haushaltsdisziplin, gekämpft werden muss. Auch das kann man gemeinsam tragen. Warum gelingt das nicht auch hier?
Meine Damen und Herren, bisher sind viele Trippelschritte gemacht worden. Eine Lösung wurde uns über
fast zwei Jahre hinweg angekündigt. Aber hat die Medizin bisher so geholfen, wie es von der rechten Seite des
Hauses erwartet worden ist? Diese Frage muss man zumindest stellen dürfen. Wir haben das Sixpack, das Europäische Semester und den Twopack, die EFSF und den
ESM. Nebenbei bemerkt: Es war eine Forderung der Sozialdemokraten, den ESM vorzuziehen, lieber Kollege
Barthle. Jetzt kommt der Fiskalpakt. Dazu sagt das Europäische Parlament, dass man ihn eigentlich nicht
braucht. Das sagen auch Ihre Parteifreunde, meine Damen und Herren von der Koalition. Es ist interessant,
was Sie dazu sagen. Hier zeigt sich sehr stark das Prinzip
Hoffnung, aber kein Realitätssinn. Woher wissen Sie,
dass der Fiskalpakt in seiner jetzigen Form von allen
Parlamenten ratifiziert wird? Das ist doch sehr fraglich.
Die Gespräche mit den irischen Kollegen im Haushaltsausschuss - Kollege Barthle, Sie waren dabei - lassen
nicht unbedingt vermuten, dass die Iren dem Pakt in einem Referendum einfach zustimmen werden. Hier ist
vieles also noch fraglich. In den letzten Jahren ist viel
Vertrauen zerstört worden. Es besteht die Gefahr - auch
durch dummes Gerede verursacht -, dass wir es hier mit
einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu tun haben.
Wenn man, wie es einige fordern, Griechenland aus der
Euro-Zone hinausschmeißt, dann besteht die große Gefahr, dass es zu einem Dominoeffekt kommt, der sich negativ auswirkt.
Nun ein paar Stichworte zu Griechenland. Ist das
Kürzen von Mindestlöhnen, Renten, Stundenlöhnen usw.
wirklich die Lösung? Bietet man den Menschen damit
wirklich eine Perspektive? Gibt man ihnen die Möglichkeit, Licht am Ende des Tunnels zu sehen? Werden die
Menschen da überhaupt mitgenommen? Es besteht doch
die Gefahr, dass wir die Menschen in dieser Situation
nicht mitnehmen. Viel politisches Porzellan ist zerschlagen worden. Eventuell gibt es auch eine Rezession in
Südeuropa. Gestern konnte man im Fernsehen eine Umfrage in Griechenland verfolgen. Da sagte ein Grieche:
Gibt es überhaupt noch Licht am Ende des Tunnels? Das ist doch bezeichnend: Er sah nicht einmal einen Silberstreif am Horizont. Wir müssen die Würde der Menschen und den Stolz der Nationen achten und dürfen
nicht von der Einsetzung eines Sparkommissars reden
oder Sätze wie „Jetzt wird in Europa deutsch gesprochen“ sagen.
({2})
Es stellt sich die berechtigte Frage: Werden Menschen,
die so etwas erleben, noch für die Demokratie eintreten?
Ist es für solche Menschen noch erstrebenswert, für die
europäische Idee einzutreten? Angesichts dessen, was
wir da erleben, muss ich sagen: Das ist nicht mein Europa.
Inzwischen spricht die Regierung - sie spricht; sie
handelt noch nicht - von den Bereichen Wachstum und
Beschäftigung, die ebenfalls in die Überlegungen einbezogen werden müssten. Ich frage Sie: Wo bleiben die
Pläne? Wo bleiben die Konzepte des Wirtschaftsministers? Wo bleiben die Konzepte der Sozialministerin?
Wie geht es mit dem Wachstum weiter? Dazu liegt nichts
vor. Vorhin fiel das Stichwort „Marshallplan“. Das ist sicherlich ein griffiges politisches Bild, aber man sollte
die Realität nicht außer vor lassen. Standard & Poor’s
hat den Euro-Rettungsschirm herabgestuft, gerade weil
das Wachstum nicht in die Überlegungen einbezogen
worden ist.
Die am Anfang angesprochene Resolution wurde
vom Europäischen Parlament fast einstimmig beschlossen. Es sind weitere Vorschläge gemacht worden: Schuldentilgungsfonds, Finanztransaktionsteuer. Ich frage die
Regierung: Wie weit sind Sie? Wann kommen die Vorlagen? Wie wollen Sie die Haushaltsdisziplin gewährleisten? Was ist mit dem Fahrplan für Stabilitätsanleihen?
({3})
Herr Michelbach, sogar der Begriff „Euro-Bonds“
kommt in dieser gemeinsam getragenen Resolution vor.
Wann werden die Vorlagen eingebracht? Wann können
wir darüber sprechen?
({4})
Zum Schluss möchte ich Herrn Monti, den neuen italienischen Ministerpräsidenten, zitieren. Er hat gesagt,
dass nicht noch mehr politische Energie „für besonders
originelle Ideen der Haushaltsstabilisierung“ verschwendet werden sollte. Besser wäre es, sich auf eine Wachstumspolitik zu konzentrieren; denn Wachstum ist das
wichtigste Element einer dauerhaften Haushaltsstabilität. - Lassen Sie uns das - genauso wie auf europäischer
Ebene - gemeinsam anpacken. Wir müssen für eine gemeinsame Linie sorgen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Kollege Klaus Hagemann. - Jetzt für
die Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte
schön, Kollege Joachim Spatz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
ganze Kontinent steht vor einem Paradigmenwechsel.
Im Moment befindet sich Europa in der größten inneren
Umgestaltung seit dem Fall der Mauer, eigentlich sogar
seit Ende des Krieges. Wir verabschieden uns vom süßen
Gift der Verschuldung. Das tut weh, dem einen mehr,
dem anderen weniger. Trotzdem ist die Entgiftung unausweichlich. Alle mussten lernen, dass wir von Dritten
abhängig sind, nämlich von denen, die das Geld geben,
und dass wir mit überbordenden Staatsschulden die
Spielräume der Zukunft einengen. Das muss jeder wissen, der heute zu diesem Thema spricht.
Herr Kollege Bartsch, einen gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen, bei dem sich die Beteiligten einig
sind, aber Dritte die Rechnung zahlen, ist leicht.
({0})
So kann man auch in Griechenland Konsens erzielen. Da
Sie die Gefährdung von Demokratie und Zusammenhalt
erwähnten: Wäre es nicht an der Zeit, dass Sie das auch
in Bezug auf die Zielländer ansprechen? Denn auch die
Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit unserer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürfen nicht überfordert werden. Das leistet einen Beitrag zum Zusammenhalt.
({1})
Von SPD und Grünen hören wir nur die immer gleichen alten Rezepte: entweder Aufnahme neuer Schulden
- das heißt auf Neuhochdeutsch Euro-Bonds - oder Aufstockung der Mittel für die Rettungsschirme. Diejenigen,
die während der rot-grünen Regierungszeit den größten
Schluck bei der Neuverschuldung genommen haben, die
an der alten Droge genippt haben, gerieren sich heute als
Therapeuten. Das ist unglaubwürdig.
({2})
Wir müssen unseren Kurs fortsetzen. Er beinhaltet
drei Komponenten: Solidarität durch den ESM, Solidität
durch den Fiskalpakt und Wachstum zum Beispiel durch
den Euro-Plus-Pakt oder den erleichterten Zugang zu
nicht ausgeschöpften Strukturfördermitteln. Sie können
doch nicht so tun, als ob die Debatte noch nicht begonnen habe! Natürlich fördert die Bundesregierung die
Wachstumskomponenten auf europäischer Ebene. Das
ist doch schon längst der Fall. Es geht um den Dreiklang
von Solidarität, Solidität, die wir einfordern müssen, und
Wachstum, das wir fördern wollen.
Die Schuldenbremse ist natürlich ein Eckstein dieser
Politik. Wir müssen die Umsetzung in nationales Recht
verlangen; denn Willenserklärungen reichen nicht aus.
Wir sollten dabei allerdings nicht beckmesserisch sein
und immer nur auf die Verfassung rekurrieren. Andere
Länder haben genauso hohe Hürden in andersgesetzlichen Bereichen; auch das sollten wir ernst nehmen.
Das klare Bekenntnis zum Kurs und zum Prozess der
Entwöhnung von der Verschuldung ist wichtig.
Wir haben - auch das war nicht zu erwarten - die
automatisierte bzw. quasi automatisierte Klage vor dem
Europäischen Gerichtshof durchsetzen können. Das ist
nicht leicht gewesen. Leider war es nicht möglich, alle
Euro-Länder und EU-Mitgliedstaaten für diese Rechtsweiterentwicklung zu gewinnen. Trotzdem wird es jetzt
eine Klagemöglichkeit geben. Eine hervorragende Verhandlungsposition der Bundesregierung konnte hier umgesetzt werden. Das, was wir zusatzgesetzlich geregelt
haben, soll - das bleibt das Ziel - so bald wie möglich in
den europäischen Rechtsrahmen übergeleitet werden,
damit es im Gesamtverbund Europas Sinn macht.
Alle sind aufgefordert, an diesem gemeinsamen europäischen Projekt mitzuarbeiten und Europa, das mit
anderen großen Weltregionen in Konkurrenz steht, wettbewerbsfähiger zu machen. Das geht nicht, indem man
die Starken immer weiter schwächt, sondern nur, indem
man den Schwachen hilft, ihren Teil zur Verbesserung
der Konkurrenzfähigkeit beizutragen. Mit alten Rezepten funktioniert das garantiert nicht, sondern nur mit
Solidität und Solidarität.
Danke schön.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Priska Hinz das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Bartsch, Ihre scheinradikale Rede hat mich doch
etwas verblüfft, muss ich sagen.
({0})
Wenn es nach den Linken gegangen wäre, die hier immer gegen die Hilfszusagen für Griechenland gestimmt
haben, wäre Griechenland schon vor anderthalb Jahren
pleite gewesen,
({1})
mit all den schrecklichen Folgen für die Bevölkerung,
die Sie hier an die Wand werfen wollten.
({2})
Ich habe hier keinen einzigen konkreten Vorschlag gehört, wie man die Situation verbessern könnte.
Aufgrund des Themas der Aktuellen Stunde, die Sie
angemeldet haben, will ich mich jetzt aber mit dem Weg
der Bundesregierung beschäftigen. Ich finde es erstaunlich, dass die Koalition den Fiskalpakt so wahnsinnig
überhöht. Ich finde: Da sollte man einmal die Luft herauslassen.
({3})
Die Bundeskanzlerin ist im Dezember angetreten, die
europäischen Verträge zu ändern. Davon musste sie
Abstand nehmen. Aber sie hat dann noch nicht einmal
mehr den Versuch gemacht, gemeinsam mit der EUKommission das Sekundärrecht zu verändern.
({4})
Deshalb ist eine gemeinsame Resolution aller EP-Abgeordneten zustande gekommen, die ein Interesse daran
haben, dass es keine Doppelstruktur gibt und man die
EU-Institutionen und die -Parlamentarier nicht schlicht
und einfach ignoriert, wie die Bundeskanzlerin es so
gerne tut.
({5})
Manches in dem Fiskalpakt hat gar keine rechtliche
Bindungswirkung. Vieles ist schon in den Verordnungen
geregelt, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat.
Was bleibt, ist eine politische Vereinbarung über die Einführung der Schuldenbremsen, die noch nicht einmal in
den Verfassungen verankert werden müssen. Auch
davon musste sich die Bundeskanzlerin verabschieden.
Geblieben ist eine politische Vereinbarung.
({6})
Wir haben nichts gegen die Schuldenbremsen. Wir
halten eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung für notwendig, weil die mangelnde Haushaltsdisziplin eine
Ursache der Schuldenkrise ist; das ist richtig. Über andere Probleme reden die Bundesregierung und die Koalition aber gar nicht, zum Beispiel über die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa und die Frage, wie
man diesem Problem beikommen könnte. Hier fehlt es
an Vorschlägen von Ihnen.
({7})
Priska Hinz ({8})
Wenn man die Haushaltsdisziplin ernst nimmt, dann
muss man auch ein zweites Standbein einsetzen, nämlich
den Altschuldentilgungsfonds. Das ist ein Vorschlag der
Wirtschaftsweisen der Bundesregierung. Darüber wurde
im Parlament bislang noch nicht diskutiert, weil sich die
Koalition immer strikt weigerte, dieses Thema anzugehen.
({9})
Wir sind der Meinung, dass man den Altschuldentilgungsfonds den Schuldenregeln hinzufügen sollte, weil
das auf Dauer die Schuldenstandsquote in denjenigen
Ländern senkt, die hohe Schulden haben.
({10})
Eine gemeinsame Haftung für einen Teil der Schulden
macht eine erträgliche Refinanzierung möglich. Das bedeutet eine Gesundung der europäischen Staaten und die
Stabilisierung der Euro-Währung. Das ist der Weg, den
wir brauchen.
({11})
Die Bundesregierung antwortet auf meine Fragen immer: Das mit dem Altschuldentilgungsfonds kann
Deutschland nicht allein machen; den können wir nicht
allein einführen. - Den Ehrgeiz, den Bundeskanzlerin
Merkel sonst immer an den Tag legt, sollte sie auch einmal bei der Einführung eines Altschuldentilgungsfonds
zeigen, anstatt solche dummen Vorschläge wie das Einsetzen von Sparkommissaren für notleidende Länder in
den Raum zu stellen. Dann wären wir nämlich schon
weiter.
({12})
Zur Bewältigung der aktuellen Krise hilft der Fiskalpakt gar nicht. Er kann nur mittel- und langfristig
gemeinsam mit dem Altschuldentilgungsfonds wirken.
Für die aktuelle Krisenbewältigung bräuchten wir vielmehr eine Banklizenz für den aktuellen Rettungsschirm,
was die Bundesregierung bislang aber ablehnt.
Die Aufstockung des ESM will sie derzeit noch nicht
mitmachen. Das ist bis zum März verschoben worden.
Es wäre aber eine Beruhigung für die Finanzmärkte,
wenn klar ist: Wir garantieren für die Länder, die es
nötig haben.
({13})
Wir wissen, dass die Aufstockung kommt. Aber meinen
die Bundeskanzlerin und die Koalition nicht, dass man
der Bevölkerung einmal reinen Wein einschenken sollte?
Das führt mich zu Griechenland. Hier wäre es notwendig, deutlich zu sagen: Von Griechenland sind Anstrengungen notwendig. Darüber hinaus werden wir
Griechenland mindestens ein Jahrzehnt lang Unterstützung leisten müssen, und zwar nicht nur technische und
administrative, sondern auch finanzielle. Das wird uns
zwar etwas kosten, aber das sollte es uns wert sein.
({14})
Diese Ehrlichkeit müsste in dieser Debatte einmal
gezeigt werden.
({15})
Ich komme zum Schluss. Das Wachstumsprogramm,
das beim letzten Sondergipfel beschlossen worden ist, ist
das Papier nicht wert, auf dem es steht. Auch hier wären
harte Fakten bezüglich Investitionen notwendig, nicht
nur warme Worte.
Herzlichen Dank.
({16})
Für die Bundesregierung hat Staatsminister Michael
Link das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat in den letzten 18 Monaten, also
in den Monaten seit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise in Europa, weitreichende Schritte zur Stärkung der
Haushaltssolidarität unternommen. Dabei ist im Laufe
des letzten Jahres klar geworden: Wir müssen für den
Euro-Raum ein deutliches, markantes Zeichen setzen,
damit künftig das Primat verantwortlicher Haushaltspolitik verbindlich verankert wird. Die Stabilitätsunion
muss tatsächlich zustande kommen. Das ist der Hintergrund des Fiskalvertrages.
Wer vor wenigen Monaten gesagt hätte, dass wir
Ende Januar einen fertig ausgehandelten völkerrechtlichen Vertrag haben, mit dem wir konkrete, verbindliche, einklagbare und sanktionsbewehrte Ziele im Hinblick auf Haushaltskonsolidierung festlegen, wäre nicht
ernst genommen worden.
({0})
Frau Kollegin Hinz, Sie haben von Schuldenbremsen
ohne Verfassungsrang gesprochen. Dazu kann ich nur
sagen: Wir können in diesem Punkt natürlich nicht
jedem einzelnen Staat im Detail vorschreiben, wie er die
Vorgaben umsetzt. Aber: Europa hat auch etwas damit
zu tun, dass wir verbindliche Ziele festschreiben. Wir
beginnen mit einem verbindlich definierten politischen
Ziel und definieren dies dann immer präziser. Deshalb
wollen wir, dass der Fiskalpakt so bald wie möglich - wir
haben uns ein Enddatum mit maximal fünf Jahren
gesetzt - in ordentliche Verträge überführt wird. Die
Bundesregierung will die Gemeinschaftsmethode in der
EU stärken.
({1})
Wir haben nach der Festlegung der Grundzüge für
den Fiskalpakt am 9. Dezember 2011 die Verhandlungen
zum zwischenstaatlichen Vertrag am 30. Januar 2012
erfolgreich geführt. Der Fiskalpakt ist ein wichtiger
Schritt hin zu einer wirklichen Fiskalunion. Mit ihm
haben wir erreicht, dass in der Euro-Zone und perspektivisch in der ganzen EU das Modell der deutschen Schuldenbremse auf Verfassungs- oder vergleichbarem Rang
verankert wird. Das ist ein großer Erfolg für die Verhandlungsführung der Bundeskanzlerin, des Bundesfinanzministers und des Außenministers.
({2})
Wenn ich das sage, meine ich damit nicht nur einen Erfolg für Deutschland, sondern insbesondere einen Erfolg
für die gesamte Europäische Union. Ich wiederhole: Wer
hätte noch vor kurzer Zeit gedacht, dass wir das in diesem kurzen Zeitrahmen schaffen?
Wir haben trotzdem noch einen langen Weg vor uns,
die internationalen Märkte davon zu überzeugen, aus
dem gesamten Euro-Raum einen Raum der Stabilität und
der Solidität zu machen. Der Fiskalpakt ist ein erster
fundamentaler Schritt, der jetzt von niemandem kleingeredet werden sollte. Der Fiskalpakt und der ESM-Vertrag verhalten sich komplementär zueinander. Im ESMVertrag werden die Möglichkeiten und Voraussetzungen
für europäische Solidarität geregelt. Mit dem Fiskalvertrag legen wir die komplementäre Seite vor, also die
Aspekte der Haushaltsdisziplin, der Solidität. Solidarität
und Solidität bilden die klare Linie der Bundesregierung
zur Bewältigung dieser Staatsschuldenkrise.
Damit bin ich beim eigentlichen Thema dieser Aktuellen Stunde: Auswirkungen auf Demokratie und Sozialstaat.
({3})
- Man muss ja wohl auch einmal den Gesamtzusammenhang herstellen.
({4})
- Exakt. - Sie behaupten, dass der Fiskalvertrag negative
Auswirkungen auf die Demokratie hat. Dem vermag ich
beim besten Willen nicht zu folgen.
({5})
Vielmehr wird der Fiskalvertrag von allen Staaten im
parlamentarischen Verfahren ratifiziert. Bei der wirtschaftlichen Koordinierung ist ausdrücklich eine Rolle
für die nationalen Parlamente und das EP vorgesehen.
({6})
Genau das nimmt der Bundestag heute ernst.
Negative Auswirkungen auf den Sozialstaat befürchtet die Bundesregierung ebenfalls nicht. Ganz im Gegenteil: Die Regeln der Haushaltskonsolidierung stellen
sicher, dass der Sozialstaat erhalten bleiben kann.
({7})
Es geht nicht um Ausgabenkürzungen nach dem Rasenmäherprinzip, sondern um eine langfristig angelegte Stabilitätskultur.
({8})
Haushaltsdisziplin und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte stellen nur die eine Seite der Medaille
dar. Gleichzeitig setzt eine nachhaltige Überwindung der
Schuldenkrise voraus, dass die Volkswirtschaften in
Europa auf den Wachstumspfad zurückkehren. Gefragt
ist also eine Agenda für mehr Wachstum und Beschäftigung. Genau eine solche hat die Frau Bundeskanzlerin
auf dem letzten Europäischen Rat vereinbart. Die
Agenda muss natürlich noch mit Leben gefüllt werden;
({9})
das ist völlig klar. Man muss es noch konkretisieren.
Genau daran arbeitet die Bundesregierung gerade aktiv
mit den verschiedensten Ressorts. Nur das Zusammenspiel von Haushaltsdisziplin und Wachstum kann uns
aus der Krise führen.
An dieser Stelle will ich ausdrücklich auf die Rede
des Kollegen Kampeter verweisen. Unsere Reden werden sich in diesem Punkt ergänzen. Deshalb will ich jetzt
nichts speziell zum Klagerecht sagen. Hierzu wird übrigens noch einiges kommen. Es ist geplant, bei der Unterzeichnung am 1. und 2. März 2012 eine Vereinbarung zu
treffen, wie das Klagerecht durchbuchstabiert wird. Hier
sind wir noch nicht am Ende der Reise.
Lassen Sie mich jetzt noch eine Reihe von Punkten
aus integrationspolitischer Sicht ansprechen, die insbesondere für das Auswärtige Amt sehr wichtig sind. Der
Fiskalvertrag ist bis zu seinem Enddatum, also in spätestens fünf Jahren, in die europäischen Verträge zu überführen. Deshalb müssen wir im Zusammenhang mit dem
Fiskalvertrag immer überlegen, wie wir ihn in die Verträge integrieren können. Es wäre für uns natürlich
Plan A gewesen, ihn bereits jetzt in Form von Vertragsänderungen einzuführen, weil - ich wiederhole es - wir
die Gemeinschaftsmethode stärken wollen. Auch wenn
das Vorgehen jetzt sozusagen nur ein Plan B ist, bleibt
unsere bevorzugte Option, die Regelungen des Fiskalvertrags so bald wie möglich in die Verträge zu integrieren. Deshalb müssen wir Großbritannien und andere, die
jetzt noch nicht dabei sind, davon überzeugen, bei den
weiteren Schritten mitzumachen, damit wir spätestens in
fünf Jahren zu einer Vertragsänderung kommen.
Einige meiner Vorredner haben gesagt, der Fiskalvertrag als eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag könne
zu einer Spaltung der EU führen. Bei dieser Behauptung
bin ich wirklich ratlos.
Natürlich kann man sagen: Wenn noch nicht alle dabei sind, ist die EU gespalten. - Aber betrachten wir das
bitte auch einmal von der anderen Seite. Aus meiner
Sicht überwinden wir gerade durch den Fiskalpakt die
Spaltung, die es gibt, wenn es um die Frage geht, wie unterschiedliche Länder in der EU haushaltspolitisch nachhaltiges Wirtschaften definieren. Wir überwinden die
Spaltung in der Frage, wie wir Nachhaltigkeit in der
Haushaltspolitik definieren. Der Fiskalpakt bringt uns
voran, wenn es darum geht, hier ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Darin sehe ich einen großen Erfolg der Verhandlungsführung der Bundesregierung.
Die EU-Institutionen spielen trotzdem eine zentrale
Rolle. Der Vertrag ist nicht auf die Euro-Staaten beschränkt. Alle Nicht-Euro-Staaten außer Großbritannien
und der Tschechischen Republik werden den Vertrag unterzeichnen. Nicht zu vergessen: Es ist ein ganz zentrales
Element, dass seine Bestimmungen überführt werden
und parlamentarisch begleitet werden können. Hier haben wir, glaube ich, einen ganz wichtigen Punkt, den der
Bundestag fraktionsübergreifend geäußert hat, aufnehmen können.
Die Bundesregierung hat sich sehr dafür eingesetzt,
dass es im Hinblick auf die Art und Weise, wie die Parlamente beteiligt werden, gelungen ist - und zwar trotz anderer Absichten, die es in den Verhandlungen gab -, eine
entsprechende Formulierung zu finden. Es war ein ausdrücklicher Wunsch des Europaausschusses dieses Hauses, dass die Art und Weise der parlamentarischen Begleitung von den Parlamenten selbst festgelegt wird. Es
geht die Bundesregierung aus unserer Sicht nichts an,
wie die Parlamente diesen Prozess effizient begleiten.
Wir sind bereit, dem Bundestag in jeder Weise entgegenzukommen. Der erste Schritt unseres Entgegenkommens
war, zu sagen: Das sollen die Parlamente bilateral klären.
Wir haben - damit will ich schließen - ein besonderes
Augenmerk auf die enge Einbindung der Nicht-EuroStaaten gelegt. Lassen Sie mich hinzufügen: Ich bevorzuge das Wort „Noch-nicht-Euro-Staaten“; denn wir
sollten immer im Blick haben, dass wir wollen, dass die
Euro-Zone auch weiterhin wächst. Starke Volkswirtschaften wie Polen - zu denken ist auch an andere Staaten, die noch nicht in der Euro-Zone sind - sollten wir
weiterhin aktiv in die Euro-Zone einladen. Deshalb haben wir den Pakt so ausgestaltet, dass die Noch-nichtEuro-Staaten eng eingebunden waren und im Rahmen
künftiger Euro-Gipfel an der konkreten Arbeit beteiligt
bleiben.
Mein letzter Punkt. Der Fiskalvertrag ist mit den
EU-Verträgen - auch das ist angesprochen worden vollumfänglich kompatibel. Die juristischen Dienste des
Rates und der Kommission haben den Text mit der Lupe
geprüft. Er enthält keine Elemente, die mit den EU-Verträgen nicht vereinbar wären.
({10})
Wie geht es weiter? Die Unterzeichnung des Fiskalvertrages soll am Rande des ER am 1./2. März dieses Jahres stattfinden. Wir müssen alle drei Bereiche, die anstehen, in engem Zusammenhang sehen: die Ratifizierung
des Fiskalvertrages, die Ratifizierung des ESM-Vertrages
und die Ratifizierung der Änderung des Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Die Bundesregierung wird versuchen, das Inkrafttreten
des ESM-Vertrages, wie auf europäischer Ebene vereinbart, möglichst auf Juli 2012 vorzuziehen. Die Bundesregierung bittet deshalb den Bundestag, dies mit Blick auf
den Ratifizierungskalender zu berücksichtigen. Dann
können wir davon ausgehen, dass wir das Inkrafttreten
des Fiskalvertrages zum 1. Januar 2013 mit der Unterstützung des Bundestages realisieren werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Der Kollege Bartholomäus Kalb hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe mich lange gefragt, warum die Linke
eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt hat.
Denn eigentlich ging ich davon aus, dass wir uns einig
sind, dass wir in Europa dringend einen „Vertrag über
Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“, wie es offiziell heißt,
brauchen. Ich habe diesen Titel bewusst vorgetragen,
weil die Bevölkerung sonst Schwierigkeiten hat, nachzuvollziehen, was unter einem Fiskalpakt, wie wir ihn kurz
nennen, zu verstehen ist. Nach der Rede von Herrn
Bartsch war mir klar, worum es Ihnen geht: Sie wollen
mehr Sozialismus, mehr Planwirtschaft, mehr Staat
({0})
und weniger Eigenverantwortung. Anders war Ihr Redebeitrag nicht zu verstehen.
({1})
Außerdem haben Sie sich über das gute Verhältnis der
Frau Bundeskanzlerin zum französischen Präsidenten
Sarkozy mokiert. Sie wissen genauso gut wie ich: Alle
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland haben
sich um ein gutes Verhältnis zu Frankreich und damit natürlich auch zum jeweiligen französischen Präsidenten
bemüht.
({2})
Das taten sie aus gutem Grund: weil sie sich bewusst
waren, dass Deutschland und Frankreich eine besondere
Verantwortung für Europa tragen. Dass sich daraus, dass
man sich der Verantwortung verschreibt, auch gute persönliche Beziehungen entwickeln, liegt in der Natur der
Sache.
({3})
Ich sage einmal: Es ist für Europa und die Welt wahrscheinlich besser, wenn Merkel und Sarkozy ein gutes
Verhältnis miteinander haben, als wenn Gesine Lötzsch
und Klaus Ernst mit Fidel Castro ein gutes Verhältnis haben.
({4})
Es ist vorhin von anderen Rednern leider kritisiert
worden, dass von Deutschland zu wenig Solidarität geübt werde. Ich darf daran erinnern, dass wir uns sehr angestrengt haben, um das Rettungspaket I für Griechenland auf den Weg zu bringen, dass wir mit der EFSF,
dem ersten Rettungsschirm, und dem zweiten Rettungsschirm viel Verantwortung übernommen haben und dass
wir jetzt dabei sind, den Europäischen Stabilitätsmechanismus unter Dach und Fach zu bringen. Deutschland
übernimmt bei den einzelnen Programmen jeweils den
Löwenanteil in der Größenordnung von 27 bis 30 Prozent.
Wir brauchen uns hier also nicht den Vorwurf gefallen
zu lassen und sollten ihn in diesem Hause schon gar
nicht selber erheben, dass wir zu wenig Solidarität üben.
Sie gaukeln den Menschen in Griechenland und anderen
Ländern vor, es könne eine Konsolidierung der Finanzen
und eine Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ohne Anstrengungen, Mühe und Verzicht geben.
Wenn wir ein bisschen zurückschauen - ich nehme an,
Kollege Rehberg wird darauf eingehen -, dann sehen
wir: Die Konsolidierungsschritte, die auch wir in
Deutschland in den letzten eineinhalb Jahrzehnten unternehmen mussten, waren nicht ganz einfach, waren nicht
ohne Folgen für die Menschen, waren mit Verzicht für
die Menschen verbunden und haben uns viel Mühe und
Kraft gekostet.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie der
Name dieses Vertrages schon sagt, geht es auch darum,
für die Stabilität der Währung zu sorgen, das heißt, die
Rückführung der Verschuldung in Europa zu organisieren und zu realisieren und dadurch wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten zu entfalten und in einer sich
rasch wandelnden Welt die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas insgesamt zu gewährleisten; darauf
kommt es an. Es ist also notwendig, dass wir die Verschuldung zurückführen. Hier hat Deutschland ein gutes
Beispiel gegeben.
Es ist ein großartiger Erfolg der Bundesregierung,
dass sie 25 der 27 Mitgliedstaaten von der Einführung
einer Schuldenbremse, wie sie bei uns schon jetzt im
Grundgesetz steht, überzeugen konnte, sodass sie diese
Schritte, Mechanismen und Maßnahmen für richtig halten. Anders wird es auch nicht gehen. Das ist zunächst
im Hinblick auf die Stabilität der Währung besonders
wichtig. Die Menschen erwarten von uns zuvörderst,
dass wir alles für die Stabilität der Währung tun.
Darüber hinaus haben wir es in ganz Europa und nicht
nur in Deutschland mit einer dramatischen demografischen Veränderung zu tun, die alle Länder Europas vor
die Riesenherausforderung stellt, dafür zu sorgen, dass
nicht immer mehr Lasten in die Zukunft verschoben und
damit auf wenige Schultern verteilt werden.
Bei diesem Vertrag, dem Fiskalpakt, und den Mechanismen, die ich vorhin genannt habe - die Rettungsschirme usw. -, geht es vordergründig um die Stabilität
der Währung, um die Finanzmarktstabilität usw. Es geht
aber auch um mehr: Es geht um Europa insgesamt, darum, wie es sich politisch, wirtschaftlich und kulturell
entwickelt hat und wie es sich als Wertegemeinschaft
empfindet.
Ich danke Ihnen.
({6})
Für die SPD hat der Kollege Michael Roth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer sich aus den Klauen der Finanzmärkte befreien
möchte
({0})
- da haben Sie völlig recht, Herr Fricke -, der muss nicht
nur die Märkte regulieren, sondern der muss sich auch
aus der immer schneller angetriebenen Schuldenspirale
befreien.
({1})
Insofern haben wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten den Weg mit beschritten, auf der nationalen Ebene eine Schuldenbremse einzuführen. Genauso
haben wir immer für eine ausgewogene Haushaltskonsolidierung gestritten - selbstverständlich! Aber wenn hier
der Eindruck erweckt wird, als sei staatliche Verschuldung per se von Übel, sollte doch zumindest einmal in
die allerjüngste deutsche Geschichte geschaut werden.
Es waren doch CDU/CSU und SPD, die am Abgrund
der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gesagt haben:
Wir versuchen, mit erheblichen öffentlichen Investitionen die Auseinandersetzung im Kampf um Arbeitsplätze
zu gewinnen. - Wir haben es geschafft. Wir stehen gut da,
eben auch - das ist der Preis dieser Lösung gewesen -,
weil wir uns in erheblichem Maße neu verschuldet haben;
so viel Ehrlichkeit gehört auch in diese Debatte. Lassen
Sie doch diese oberlehrerhafte Attitüde in Richtung Griechenland und anderer notleidender Staaten.
({2})
Wir als SPD-Fraktion haben ganz bescheidene Fragen
und Maßstäbe hinsichtlich des Fiskalpaktes:
Erstens. Trägt der Fiskalpakt zur Lösung der derzeitigen Probleme bei?
({3})
Michael Roth ({4})
Zweitens. Hält er, was er verspricht?
({5})
Drittens. Rechtfertigt er die Spaltung der Europäischen Union?
({6})
Dieser Fiskalpakt zementiert das Merkel’sche Modell
von Europa: ein Europa der Regierungen, ein Europa der
Hinterzimmerdiplomatie.
({7})
Hier wird die Demokratie nicht gestärkt. Hier wird die
Demokratie geschwächt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir zahlen für diese
Politik einen hohen Preis. Man muss einmal schauen,
wie die Kommentare aus unseren Nachbarländern klingen. Ich empfehle einmal, die Beiträge
({9})
des luxemburgischen Ministerpräsidenten oder auch des
luxemburgischen Außenministers zu lesen. Wir haben
uns mit dieser Politik von den kleineren Mitgliedstaaten
entfremdet. Deutschland hat sich immer auch als Sachwalter der Interessen der kleineren Mitgliedstaaten verstanden. Wir haben mit dieser Tradition gebrochen. Das
muss diese Regierung mitverantworten.
({10})
Wir haben im gleichen Maß die Gemeinschaftsinstitutionen geschwächt.
({11})
Beispiel Klagerecht: Nicht die Kommission soll klagen,
sondern ein Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten
sollen gegen andere Mitgliedstaaten klagen.
({12})
Glauben Sie allen Ernstes, dass das jemals passieren
wird? Bundestagspräsident Lammert hat schon in der
vergangenen Woche eingefordert, die Sanktionen müssten automatisch erfolgen, sonst sehe er keine parlamentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag für den Fiskalpakt.
Ich will nur einmal daran erinnern: Wer hat denn damals, als die Europäische Kommission und das Europäische Parlament automatische Sanktionen vorgeschlagen
haben
({13})
- das war im vergangenen Jahr -, diesen Vorschlag bei
einem Spaziergang in Deauville geopfert? Das waren
doch Frau Merkel und Herr Sarkozy.
({14})
All das, was Sie sich jetzt an die Brust heften, hätte man
schon längst im Gemeinschaftsrecht ohne die Spaltung
der Europäischen Union in Länder, die sich am Fiskalpakt beteiligen, und in Länder, die sich am Fiskalpakt
eben nicht beteiligen, haben können.
({15})
Warum sind Sie diesen gemeinschaftlichen, diesen solidarischen Weg nicht weitergegangen? Die jetzigen Vereinbarungen rechtfertigen aus meiner Sicht nicht diese
massive Auseinandersetzung und diesen starken Legitimationsbruch.
Meine Fraktion spricht sich selbstverständlich für einen Fiskalpakt aus, aber für einen echten Fiskalpakt,
({16})
für einen Fiskalpakt, der den Kampf gegen das Steuerdumping in der Europäischen Union endlich aufnimmt.
Es kann nicht angehen, dass Länder in der Europäischen
Union eine beschämend niedrige Unternehmensbesteuerung haben und wir die Solidaritätslasten zu tragen haben.
({17})
Selbstverständlich sind wir für einen Fiskalpakt, mit
dem man genauso wie für Haushaltskonsolidierung auch
für Investitionen in die Energiewende streitet,
({18})
für Investitionen in den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit und für Investitionen in Innovationen. Ein bisschen mehr Respekt und ein bisschen mehr Anerkennung
gegenüber den griechischen Verantwortlichen hätte ich
mir auch aus Ihren Reihen gewünscht. Stellen Sie sich nur
einen kurzen Moment vor, wir müssten das, was derzeit in
Griechenland beraten und diskutiert wird, hier im Deutschen Bundestag beschließen: massive Absenkung der
Mindestlöhne - die wir leider noch gar nicht haben -,
({19})
massive Absenkung der Renten und der Altersvorsorgeleistungen, massive Kürzungen im Sozialbereich, massiven Personalabbau im öffentlichen Dienst. Ich will nicht
sagen, dass all das nicht notwendig wäre,
({20})
aber meine Fraktion würde sich ein bisschen mehr
Respekt und Anerkennung statt Ihrer permanenten arroganten, oberlehrerhaften Attitüde wünschen.
({21})
Otto Fricke hat jetzt das Wort für die Fraktion der
FDP.
({0})
Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Roth, arrogant ist doch
im Zweifel immer der, der anderen oberlehrerhaft Arroganz vorwirft.
({0})
Deswegen schlage ich vor: Lassen wir das sein. Ich unterstelle Ihnen keine Arroganz; denn ich glaube nicht,
dass das ein Mittel der politischen Auseinandersetzung
ist.
Ich will jetzt etwas zu Griechenland sagen, und zwar
in Richtung der griechischen Bürger und der griechischen Politiker. Diese Zeit ist für alle Beteiligten verdammt schwer und hart. Das wissen wir Politiker in allen Fraktionen hier genau, und das achten wir auch.
({1})
Das hindert uns aber nicht daran, dafür zu streiten, die
richtigen Lösungen für unser Land und für Griechenland
zu finden.
({2})
Weder Sie noch wir haben die absolute Sicherheit und
Gewissheit, geschweige denn die Weisheit, die Frage,
was richtig oder falsch ist, korrekt zu beantworten. Denn
manches, was auf den ersten Blick richtig, schön und
wählbar erscheint, erweist sich auf den zweiten Blick als
falsch.
({3})
Zu dem Thema der Aktuellen Stunde, das ich gut gewählt finde, will ich auf einen Punkt hinweisen: die Auswirkungen auf Demokratie und Sozialstaat.
({4})
Warum haben wir diese Zustände in Griechenland? Wie
konnte eine Demokratie in diese Situation kommen? Damit kommen wir an den Punkt, bei dem ich jeden Bürger
um Aufmerksamkeit gegenüber der Politik und uns allen
bitte. Es ist leider für zu viele in der Politik und für viel
zu viele in der griechischen Politik der einfache Weg gewesen, auf Mehrausgaben zu setzen.
({5})
Wir alle wissen, dass es einfacher ist, dem Bürger zu sagen: „Das bekommst du; dafür sorge ich“, und das dafür
nötige Geld irgendwoher zu holen,
({6})
als zu sagen: „Nein, ich mache das nicht“, weil ich nicht
bereit bin, dafür in die Verschuldung zu gehen. Die griechischen Regierungen, egal von welcher Seite, sind in
die Verschuldung gegangen.
Wir können darüber streiten, an welcher Stelle man
bei der Sanierung mit Einsparungen ansetzt. Das ist die
politische Diskussion, die wir immer wieder führen. Wir
dürfen aber nicht verkennen, dass der Fehler darin lag,
dass es der Politik in Griechenland wie in vielen anderen
Ländern Europas und vielleicht auch in Deutschland zu
einfach gemacht worden ist, Schulden zu machen und
die Probleme irgendeiner nachfolgenden Generation vor
die Haustür zu kehren. Der Fiskalpakt bewirkt, dass so
etwas nicht mehr passiert. Das halte ich auf Dauer für
weit besser für eine Demokratie, als die Dinge laufen zu
lassen, auf die Inflation zu setzen und sich nachher zu
wundern, dass die Mittelschicht komplett wegbröckelt
und das Vertrauen in die Demokratie verloren geht. Deswegen halte ich mit meiner Fraktion und der Koalition
diesen schwierigen Weg für den einzig gangbaren Weg.
({7})
Zum Thema Sozialstaat: Wir werden in der Politik nie
zu einer Einigung darüber kommen, welche Mittel und
Leistungen für einen Sozialstaat die richtigen sind. Das
ist auch gut so, weil es einen Wettbewerb um die besten
Ideen gibt. Dabei gilt aber: Auch der Sozialstaat muss
erwirtschaftet werden. Er muss durch Leistungen der
Starken erbracht werden. Und deshalb gibt es in einem
Sozialstaat Grenzen der Leistungsfähigkeit.
Wenn man will, dass der Sozialstaat existiert, dann
kommt man zu der Frage: Ist es richtig, heute Zusatzrenten und morgen ein 13. oder 14. Gehalt und soziale Leistungen zu versprechen
({8})
und das Ganze, wie es in Griechenland der Fall war, auf
Pump zu machen und erst im Nachhinein die Auseinandersetzung zu führen und dann bei denen anzusetzen, die
auf den Sozialstaat gehofft und vertraut haben?
({9})
- Da kommt der Mindestlohn! Wir merken doch - das
kann ich zumindest für die FDP sagen -, dass die Argumentation zum Mindestlohn, die wir immer wieder vorgebracht haben, vollkommen richtig ist. Ist der Mindestlohn zu hoch, sieht der Arbeitsmarkt so aus wie in
Griechenland. Ist er zu niedrig, dann hat er keinen Effekt.
({10})
- Ich weiß, dass Sie jetzt aufschreien. Aber beobachten
Sie, was in Griechenland passiert.
({11})
Es zeigt sich doch, dass bei einem Mindestlohn in dieser
Höhe keiner in Griechenland investieren wird, weil sich
jeder sagen wird: Angesichts dieses Mindestlohns und
der Leistungen, die erbracht werden, kann ich auch weiterhin in einem hochproduktiven Land wie Deutschland
produzieren. Deswegen funktioniert dieser Ansatz nicht.
Dabei geht es nicht um die Frage, dass jemand, der
40 Stunden arbeitet, von dieser Arbeit leben können
muss.
Ein weiterer Aspekt zum Punkt Sozialstaat: Was für
eine Aufgabe hat ein Sozialstaat als Teil einer sozialen
Marktwirtschaft in einem modernen Europa? - Er hat die
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Bürger darauf vertrauen können, dass das Versprechen von heute auch
morgen eingehalten wird, dass also gesagt wird: Lieber
dauerhaft 1 Prozent weniger als kurzfristig 10 Prozent
mehr und nachfolgend Inflation.
Von daher halten wir den Fiskalpakt auch mit all den
Argumenten, die die Vorredner der Koalition schon genannt haben, für dringend notwendig. Wir halten ihn für
essenziell. Notwendige Voraussetzung ist ein Umdenken
beim Umgang mit der Verschuldung; denn nur dann,
wenn Politik daran gehindert wird, mehr Geld auszugeben, als sie bekommen kann, wird sie auf Dauer Vertrauen in die Demokratie und den Sozialstaat schaffen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort für die Bundesregierung erhält nun der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hohes Haus! Europa war und ist eine
Riesenchance für Deutschland. Unser Land hat diese
Chance in der Vergangenheit redlich genutzt und sollte
sie in der Zukunft auch weiter nutzen.
Ich glaube, es stimmt: Wir gelten als diejenige Nation, die in dem europäischen Einigungsprozess politisch
und ökonomisch auf der Gewinnerseite steht. Die deutsche Wiedervereinigung wäre zum Beispiel ohne den
vorhergegangenen europäischen Integrationsprozess niemals möglich gewesen, und wirtschaftlich ist die Exportnation Deutschland wie wenige andere Länder darauf
angewiesen, dass es einen gemeinsamen Binnenmarkt
gibt. Wir Deutsche sollten für eine europäische Erfolgsgeschichte dankbar sein, die uns politisch und wirtschaftlich vorangetrieben hat. Wir sollten als Erste daran
mitwirken, diesen europäischen Integrationsprozess
wirtschaftlich und politisch zu vertiefen, und zwar nicht
nur, weil wir weiter davon profitieren wollen, sondern
weil wir mehr Nationen einladen wollen, an dieser europäischen Erfolgsgeschichte mitzuwirken, ihr beizuwohnen und sie zu teilen.
({0})
Als wir in den 90er-Jahren für Teile dieses Europas
eine gemeinsame europäische Währung entwickelt haben, waren wir der festen Überzeugung, dass es zweier
Dinge bedarf: erstens einer unabhängigen Zentralbank
und zweitens einer stabilen Finanzpolitik in allen EuroZonen-Ländern. Die eine Säule heißt EZB, die andere ist
der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Beide Säulen haben
gut gewirkt. Das wird deutlich, wenn man sich ansieht,
welche Konvergenz von den 90er-Jahren bis zur Mitte
dieses Jahrzehnts - bis 2008 - erreicht wurde.
Als wir Deutsche 2003/2004 allerdings in Schwierigkeiten geraten sind, haben wir nicht unser Verhalten,
sondern die Regeln geändert. Wir haben dem Stabilitätsund Wachstumspakt gemeinsam mit anderen Ländern
die Stabilitätsvorgabe entzogen. Stabilität in Europa war
nichts mehr wert, und mit der ersten Finanzkrise wurde
dies offenkundig. Wenn ich heute höre, dass die Vertreter von Rot und Grün, die damals die Verantwortung dafür getragen haben, dass die Stabilität in Europa nicht
mehr so viel wert war wie zu Zeiten Theo Waigels,
({1})
in ihren Redebeiträgen sagen, dass die Wiederherstellung von Stabilität nicht so wichtig sei, dann kann ich
mir das nicht anders erklären, als dass sie offensichtlich
ihr schlechtes politisches Gewissen für das Versagen der
damaligen Bundesregierung bei der Novellierung des
Stabilitätspaktes umtreibt.
({2})
Ich finde es für den Bundesfinanzminister und diese
Bundesregierung richtig, notwendig und wichtig, dass
die Stabilitätsversprechen wieder strikt eingehalten werden. Deshalb ist dieser Fiskalpakt notwendiger denn je.
Er ist ein erster wichtiger Schritt. Er ist ein weiterer
Schritt hin zur politischen Union, die wir anstreben und
für notwendig erachten.
Wenn hier gespottet wird, dass ein solcher völkerrechtlicher Vertrag innerhalb von zwei Monaten zusammengestellt worden sei, dann entgegne ich: Das ist Integration in Hochgeschwindigkeit. Diese war allerdings
auch notwendig. Europa hat sich somit als handlungsbereit, als handlungswillig und als handlungsfähig gezeigt.
Das ist ein gutes Signal an die Bürgerinnen und Bürger
in Deutschland und in Europa.
({3})
Der Kollege Bartsch hat hier eher für Neues Deutschland und junge Welt als zur Sache geredet. Deshalb will
ich noch einmal deutlich machen, worum es in dem Fiskalpakt geht. Er hat dies gelegentlich unterschlagen.
Erstens. Ehrgeizige Vorgaben für Fiskaldisziplin und
nationale Schuldenbremsen für alle Teilnehmerstaaten
des Fiskalpaktes und nicht nur im deutschen Grundgesetz.
Zweitens. Die Einhaltung der Regeln kann nun erstmals durch den Europäischen Gerichtshof überprüft werden, und Verstöße können mit Sanktionen belegt werden.
({4})
Das ist ein wichtiger Schritt. Der Kollege Link hat gesagt: Daran müssen wir noch weiter arbeiten. - Aber hier
gilt schon einmal: mehr Stabilität für Europa.
Drittens. Schuldenbremsen sind nicht durch ein einfaches Gesetz zu verankern, das man sozusagen mit einem
Fingerschnipp wieder aufheben kann - deswegen appelliere ich auch an alle Länder in Europa, darüber hinauszugehen -, sondern sie brauchen eine besondere rechtliche Qualität, beispielsweise einen Verfassungsrang.
Viertens. Der Fiskalpakt und der Rettungsschirm werden miteinander verzahnt, also keine Solidarität ohne
Solidität. Solidarität setzt auch auf Eigenverantwortung.
Es kann keiner in Europa ohne Einhaltung von Fiskaldisziplin darauf setzen, dass andere ihn heraushauen. In diesem Sinne ist die Verzahnung von Fiskalpakt und europäischem Rettungsschirm wichtig.
({5})
Dass automatische Sanktionen nun kodifiziert sind, ist
ein weiterer wichtiger Erfolg.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Fiskalpakt ist ein gutes Stück Europa. Wir sollten das auch
laut und deutlich sagen.
({6})
In manchen Redebeiträgen hier im Haus ist deutlich
geworden, dass wir klar festhalten sollten: Heute, 2012,
ist auch ein Schlusspunkt für schuldenfinanziertes
Wachstum gesetzt. Wir haben einen so hohen Schuldenstand erreicht, dass das Denken der 70er- und 80er-Jahre
des letzten Jahrhunderts nicht mehr zieht. Wer heute
glaubt, mit mehr Verschuldung mehr Wachstum zu erzeugen, der irrt.
({7})
Mit mehr Verschuldung erzeugt man weniger Vertrauen,
und durch weniger Vertrauen erzeugt man lediglich mehr
Probleme. Auch das ist das Credo dieses Fiskalpakts, der
von ganz Europa mitgetragen wird.
({8})
Ich habe gerade gehört, wie der Kollege Roth für die
sozialdemokratische Bundestagsfraktion erklärt hat:
Schulden sind gut; wir haben in Deutschland welche gemacht, und deswegen muss auch Griechenland mehr
Schulden machen.
({9})
Das zeigt, dass der Kollege Roth die letzten 20, 30 Jahre
der europapolitischen und der ökonomischen Entwicklung schlichtweg verschlafen hat.
({10})
Wachstum durch Schulden, das ist altes Denken; das
trägt nicht im 21. Jahrhundert.
({11})
Lassen Sie mich ein Wort zu Griechenland sagen. Es
ist festzuhalten - das ist in dieser Debatte verschiedentlich angesprochen worden -: Der Fortschritt auf griechischer Seite in den letzten Wochen war unzureichend.
Griechenland muss handeln. Europa wartet auf griechische Entscheidungen. Für heute Abend hat der Vorsitzende der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, die Finanzminister zu einem neuerlichen Treffen eingeladen,
um die Erkenntnisse, die die Troika gewonnen hat, und
den Stand bei der Beteiligung des privaten Sektors zu
bewerten. Gegebenenfalls wird es im Kreise der Finanzminister auch zu Beschlüssen kommen. Klar ist allerdings, es sind von griechischer Seite noch nicht alle Fragen beantwortet:
Erstens. Wie will man die offenkundig vorhandene
Finanzierungslücke im laufenden Haushaltsjahr in Griechenland schließen?
Zweitens. Was sagt die griechische Seite zu dem
Thema des vorbeugenden Handelns? Auf Ankündigungen kann man keine solide Politik aufbauen. Politik bedarf eines konkreten Handelns.
Drittens. Wie stellen sich die griechischen Parteien,
die den griechischen Premierminister gewählt und gestützt haben, zu diesen Verabredungen? Werden die Verabredungen auch von einer breiten politischen Mehrheit
getragen?
Ohne die Antworten aus Griechenland kann Europa
nicht handeln. Europa ist handlungswillig, wenn Griechenland handelt und verbindliche Zusagen macht. Das
ist die klare Botschaft, die auch von dieser Debatte ausgehen sollte.
({12})
Das griechische Beispiel zeigt aber auch: Verantwortung für nationale Haushalte haben vor allen Dingen die
Nationalstaaten selbst. Verantwortung muss von allen
Seiten wahrgenommen werden, auch von der griechischen Seite. Das entspricht den griechischen Interessen;
denn nur wenn die Haushalte solide sind, wird Griechenland auch politisch, sozial und wirtschaftlich auf Dauer
solide sein. Das entspricht auch den Erwartungen in
Deutschland. Aber vor allen Dingen entspricht das den
Interessen Europas an einer dauerhaften Stabilität nicht
nur in Griechenland, sondern in allen Haushalten in der
Euro-Zone und weit darüber hinaus. Deswegen ist dieser
Fiskalpakt richtig, dringend und zwingend notwendig
für mehr Stabilität in Europa. Mehr politische Union bedeutet mehr politisch-wirtschaftliche Stabilität für unser
Vaterland.
({13})
Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hinweisen, der auch in dieser Debatte eine Rolle gespielt
hat, nämlich die parlamentarische Begleitung dieses Integrationsprozesses. Ich möchte mich beim Deutschen
Bundestag ausdrücklich für die sehr intensiven Beratungen in den letzten ein, zwei Jahren zu diesem Themenbereich bedanken, neben dem Plenum insbesondere im
Haushaltsausschuss und im Europaausschuss. Ich gehöre
dem Hohen Haus seit etwas mehr als 20 Jahren an. Seit
der Wiedervereinigung ist diese Zusammenarbeit und
Abstimmung zwischen Legislative und Exekutive, die
bei einigen zentralen europapolitischen Entscheidungen, die in dieser Zeit zu treffen waren, immer wieder
nötig wurde, nicht nur beispielhaft, sondern intensiv und
gegenseitig bereichernd.
({14})
Das gilt für die Beratungen zum Sixpack, zum ESM, zur
EFSF, zu dieser Griechenland-Entscheidung und zu diesem Fiskalpakt.
Zu den Aussagen von Rednern der Opposition, hier
sei eine Form der Entparlamentarisierung oder der
demokratischen Entäußerung diskutiert worden, kann
ich nur sagen: Das ist schlichtweg Unsinn. In diesen
Gremien sind doch Vertreter aller Fraktionen. Ich weise
darauf hin, dass ein Vertreter der Opposition - er ist leider nicht mehr da - gestern im Haushaltsausschuss
gesagt hat, die Beteiligung des Parlaments an diesen
Prozessen sei im Vergleich zu Parlamenten anderer europäischer Länder, die er beobachtet habe, vorbildlich und
beispielgebend.
({15})
Wenn selbst die Opposition im Haushaltsausschuss
damit zufrieden ist, wie wir diese Prozesse demokratisch
begleiten, dann kann die Bundesregierung nicht mehr
machen. In diesem Sinne werden wir weiter darum ringen.
({16})
Wir werden Sie aufrichtig und umfassend informieren
Herr Kollege.
- und setzen für Europa und die Zukunft Europas mit
mehr finanzieller Stabilität auch auf Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kampeter, es ist sehr interessant, dass Sie definieren wollen, wozu wir bei der Aktuellen Stunde, die wir
beantragt haben, reden dürfen. Das müssen Sie schon der
Fraktion überlassen, die die Aktuelle Stunde beantragt
hat. Auch Herr Kalb von der CDU/CSU hat sich gewundert, dass der Fiskalpakt überhaupt Thema ist.
({0})
Ich möchte darauf aufmerksam machen: Wir reden
hier von einem historischen Vertrag. Seit zwei Monaten
gibt es darüber Hunderte von Gesprächen europaweit
und in Hinterzimmern, aber am Parlament und an der
Öffentlichkeit geht das Thema vorbei. Durch die Aktuelle Stunde, die die Linksfraktion beantragt hat, wird das
Thema Fiskalpakt endlich auch einmal im Plenum des
Bundestages behandelt. Eigentlich bedürfte es einer
Regierungserklärung, damit auch das Parlament und die
Öffentlichkeit erfahren, was Sie hier vorhaben.
({1})
Frau Hinz, ich weiß nicht, ob es eine Steigerungsform
von „pleite“ gibt.
({2})
Sie haben uns kritisiert, weil wir dem GriechenlandPaket nicht zugestimmt haben. Haben Sie zur Kenntnis
genommen, dass seit dem ersten Griechenland-Hilfspaket die Verschuldung in Griechenland zugenommen
hat?
({3})
Wir als Linke haben gesagt: Mit dieser Politik treibt
man die griechische Wirtschaft in die Rezession. Das
wird zu massivem Sozialabbau führen, und am Ende
wird es den Griechen schlechter gehen.
({4})
Genau diesen Zustand finden wir heute vor. Das zeigen
die Bilder aus Griechenland. Das heißt, die Linke, die
einzige Fraktion, die vor diesem Weg gewarnt hat, hat
das Paket im Bundestag zu Recht abgelehnt.
({5})
Wir sind auch deshalb dankbar für die Aktuelle
Stunde, weil die FDP erneut gezeigt hat, welches neoliberale und menschenverachtende Bild sie eigentlich
verfolgt.
({6})
Wenn hier gesagt wird, der Mindestlohn sei ein riesiges
Problem, dann weise ich Sie noch einmal darauf hin: Der
Mindestlohn soll jetzt in Griechenland von 750 Euro auf
580 Euro gekürzt werden; das entspricht einem Stundenlohn von 3,60 Euro bei vergleichbaren Lebensverhältnissen. Das zeigt, wohin Sie die Völker Europas führen
wollen: in Armut und Sozialabbau.
({7})
Es war gut, dass Sie dies heute noch einmal kundgetan
haben. Sicher in diesem Zusammenhang ist: Die FDP ist
mit ihren 3 Prozent noch zu gut bewertet.
({8})
Der Fiskalpakt ist das Diktat der Finanzmärkte in Vertragsform.
({9})
Wenn Sie, Herr Barthle, sagen, es sei fast schon historisch, was die Kanzlerin gemacht habe, und das mit
einem Glorienschein versehen, dann sage ich Ihnen:
Das, was die Kanzlerin mit Sarkozy verhandelt oder
erpresst hat
({10})
im Sinne der Ackermänner dieser Welt, ist der Sargnagel
für ein europäisches Sozialmodell und die Demokratie in
Europa. Wir werden die europäischen Völker tief in die
Krise führen, noch tiefer als heute.
({11})
Dann heißt es immer, wir hätten eine Staatsschuldenkrise. Ich habe hier ein Schaubild von der Europäischen
Zentralbank. Bitte nehmen Sie das einfach einmal zur
Kenntnis.
({12})
Wir hatten bis zur Lehman-Brothers-Pleite keine Staatsschuldenkrise. Erst zu diesem Zeitpunkt ist die Staatsschuld größer geworden, weil wir die Banken gerettet
haben. Wir haben also keine Staatsschuldenkrise, sondern eine Krise durch die Rettung von Banken, und das
soll jetzt durch Sozialabbau ausgeglichen werden.
({13})
Es gibt zwei Möglichkeiten, um die Schulden in den
Griff zu bekommen: Die eine Möglichkeit ist, die Einnahmeseite zu erhöhen, die andere Möglichkeit ist - das
machen Sie - Sozialabbau. Wir sind offensichtlich die
einzige Fraktion im Bundestag, die sagt: Man muss die
Einnahmeseite erhöhen und darf Europa nicht mit
Sozialabbau in die Rezession treiben.
({14})
Deshalb sagen wir klipp und klar: Wir als Linke werden
diesen Fiskalvertrag hier ablehnen.
({15})
Herr Roth, Sie haben hier wiederholt, dass der Fiskalvertrag keine Lösung bietet. Wir sind gespannt, wie sich
die SPD im Bundestag verhalten wird. Denn eines ist klar:
Wenn etwas schlecht ist, dann kann man nicht - auch
nicht aus staatspolitischer Verantwortung - zustimmen.
Denn es gibt keine staatspolitische Verantwortung, die
fordert, eine falsche Politik zu unterstützen. Sie haben
bei den Griechenland-Paketen und bei den Schutzschirmen immer zugestimmt. Aber die SPD muss ihren Worten im Plenum endlich auch einmal Taten folgen lassen.
Wenn Sie das für richtig halten, was Sie hier sagen - ich
sage: Es war richtig -, müssen Sie den Fiskalvertrag
ablehnen.
({16})
Für die Linke ist relativ klar: Die Einnahmeseite muss
erhöht werden. Deshalb:
({17})
Unsere Schuldenbremse heißt nicht Sozialabbau, unsere
Schuldenbremse heißt Millionärssteuer.
({18})
Im Fiskalvertrag findet sich auch kein Ton darüber,
wie eigentlich die Finanzmärkte, die uns in diese Krise
hineingetrieben haben, beteiligt werden sollen. Kein
Wort von einer Finanztransaktionsteuer! Kein Wort von
einer Beteiligung der Banken! Kein Wort von höheren
Spitzensteuersätzen! Nein, was man hört, ist: Die Staaten sollen mit Sozialabbau ihre Haushalte in den Griff
bekommen.
Es bleibt dabei: Das wird der europäischen Idee massiv schaden. Sarkozy und Merkel haben sich zu Erfüllungsgehilfen von Ackermann gemacht. Das wird die
europäische Idee nachhaltig beschädigen.
Vielen Dank.
({19})
Für die CDU/CSU-Fraktion ergreift jetzt der Kollege
Eckhardt Rehberg das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Dieser Fiskalpakt ist aus meiner Sicht zweifach
historisch, und zwar weil er
({0})
erstens Fehler der letzten 20 Jahre in der europäischen
Politik korrigiert und zweitens, Kollege Roth, auf Nachhaltigkeit setzt. Dieser Fiskalpakt setzt auf Nachhaltigkeit, auf Verantwortung gegenüber den nachfolgenden
Generationen.
({1})
Ich habe den Diskussionsprozess in der Großen
Koalition zum Thema Schuldenbremse noch gut in Erinnerung: Es war schon für uns ein schwieriger Weg, zu
einem Ziel zu kommen. Es war aber auch ein notwendiger Weg. Staatssekretär Kampeter hat zu Recht gesagt:
Es muss Schluss sein mit dem schuldenfinanzierten
Wachstum. - Dass der Fiskalpakt nun innerhalb von
zwei Monaten durchgebracht wurde und 25 europäische
Staaten ihm zugestimmt haben, ist gerade für die südeuropäischen bzw. südosteuropäischen Länder nicht nur
ein politischer Paradigmenwechsel, sondern auch ein
kultureller Paradigmenwechsel bezüglich der Fragen:
Wie stehe ich zu Schulden, wie stehe ich zur Geldpolitik? Deswegen sollte man diesen Fiskalpakt mit all seinen Mechanismen nicht kleinreden; denn er ist ein wichtiges Instrument, damit wir in Europa Stabilität
bekommen.
Meine Damen und Herren von den Linken, Solidarität
kann keine Einbahnstraße sein. Glauben Sie denn, dass
sich, wenn wir Ihren Vorschlägen gefolgt wären, an
irgendeiner Stelle irgendetwas in Griechenland bewegt
hätte? Kollege Bartsch, gelegentlich sollten Sie sich einmal einen Bericht aus dem Oktober 1989 vornehmen,
den sogenannten Schürer-Bericht über die Verhältnisse
in der ehemaligen DDR. Unter anderem haben da Einnahmen und Ausgaben überhaupt nicht mehr zueinandergepasst. Ich kann nicht 1 Euro einnehmen und 2 Euro
ausgeben. Das führt zur Krise des Sozialstaats und zur
Krise der Demokratie.
({2})
Jetzt wird gefordert, das Wachstum in Griechenland
besonders zu fördern, mit einem Marschallplan, einem
Merkel-Plan. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
meine Informationen stimmen, stehen Griechenland in
der Förderperiode der Europäischen Union von 2006 bis
2013 20 Milliarden Euro zur Verfügung.
({3})
Davon sind gerade einmal 5 Milliarden Euro abgerufen.
Diese Förderperiode dauert noch zwei Jahre. Griechenland muss im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern lediglich 5 Prozent kofinanzieren. Das heißt, für
Griechenland liegen für Forschung, Entwicklung, Infrastruktur, gewerbliche Wirtschaft 15 Milliarden Euro bei
der Europäischen Union bereit. Es gibt nur ein Problem.
({4})
Nein, es geht dabei nicht um die Kofinanzierung;
({5})
denn dafür kann das Geld verwendet werden, das wir
Griechenland im Rahmen der Kredittranchen auszahlen. Das Problem ist, dass die staatliche Administration in
Griechenland einfach nicht in der Lage ist, konkrete
Anträge zu stellen.
({6})
Ich muss sagen: Hier geht es nicht um unsere Verantwortung, sondern um die Verantwortung der Griechen.
Sie müssen selber für Wachstum und Beschäftigung sorgen. Die Europäische Union setzt nur die Rahmenbedingungen.
({7})
Sie, meine Damen und Herren von der linken Seite,
fordern uns auf, einen größeren Beitrag zu leisten. Wir
sind bereits das größte Nettozahlerland in der Europäischen Union. Deutschland leistet auch an dieser Stelle
seinen Beitrag, hilft Griechenland und zeigt damit seine
Solidarität.
Deutschland war vor zehn Jahren die lahme Ente in
Europa. Kollege Roth, Sie verabschieden sich sehr
schnell und sehr gerne von der erfolgreichen Politik, die
Sie damals, als Sie in der Regierungsverantwortung
standen, gemacht haben. Ich meine die Agenda 2010.
({8})
Die Arbeitsmarktreform war der erste Baustein, um
Wachstum und Beschäftigung zu generieren. Auch von
dem zweiten Baustein verabschieden Sie sich, nämlich
von den Steuersenkungen.
({9})
Wir haben die Einnahmeseite durch Wachstum deutlich gestärkt. Man muss nicht Steuern erhöhen, um die
Einnahmeseite zu stärken. Man muss vielmehr Wachstum generieren. Dann wird die Einnahmeseite gestärkt.
Das ist uns in den letzten Jahren erfolgreich gelungen.
({10})
Noch etwas anderes kommt hinzu: Die Große Koalition und danach die christlich-liberale Koalition haben
mit den Konjunkturpaketen I und II eine steuerliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, was die volle Jahreswirkung betrifft, von insgesamt 30 Milliarden Euro
vorgenommen. Die Steuermehreinnahmen und die Entlastung der Bürger haben dazu geführt, dass wir heute in
Europa so dastehen, wie wir dastehen. Ich glaube, die
Opposition sollte schon einmal deutlich machen, dass
die erfolgreiche Politik, die wir in Deutschland in den
letzten Jahrzehnten gemeinsam getragen haben, vorbildlich für Europa sein kann.
Danke.
({11})
Der Kollege Manfred Zöllmer spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Rehberg, ganz herzlichen Dank für Ihr
geradezu euphorisches Lob für die sozialdemokratische
Politik der Vergangenheit.
({0})
- Wir sind im Moment nicht an der Regierung. Das wird
sich aber 2013 ändern. Da können Sie ganz sicher sein.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vertrag über
Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion wird fälschlicherweise Fiskalpakt genannt. Eigentlich ist es kein Fiskalpakt; es ist
ein Haushaltspakt. Aus unserer Sicht wäre es aber nicht
schlecht gewesen, sich auch einmal mit der fiskalischen
Seite zu beschäftigen und etwa einen Pakt gegen Steuerdumping zu vereinbaren oder eine vernünftige Vereinbarung im Zusammenhang mit der Finanztransaktionsteuer vorzulegen.
({2})
Vielleicht wäre es dann möglich gewesen, mehr soziale
Ausgewogenheit bei der Bekämpfung der gegenwärtigen
Krise zu schaffen.
({3})
Die aktuelle Krise in Europa ist - das ist, so glaube
ich, Fakt - nur zum Teil eine Staatsschuldenkrise. Es ist
natürlich richtig, dass das von Banken und Finanzmärkten immer suggeriert wird. Sie wollen sich aus der Verantwortung stehlen; denn die aktuellen Schulden sind
überwiegend das Erbe der Finanzmarktkrise.
({4})
- Ja, das ist so. Schauen Sie sich die Beispiele an. Die
Statistik, die hier vorgestellt wurde, war doch nicht
falsch; sie war richtig. - Es hat aber eine Ausnahme
gegeben, auf die man hinweisen muss. Diese Ausnahme
ist Griechenland. Der Schuldenbrand in Griechenland
war in der Tat bereits da, im Übrigen - das muss man in
aller Deutlichkeit sagen - unter einer konservativen
Regierung.
({5})
Da hat die Finanzmarktkrise nur als Brandbeschleuniger
gewirkt.
Wir müssen mit Blick auf Europa insgesamt feststellen: Es gibt einen haushaltspolitischen Schlendrian, der
bekämpft werden muss. Die Frage ist nur: Wie erreichen
wir wieder solide Haushalte? Mit dem Fiskalpakt setzen
Sie ausschließlich auf Einsparungen und wundern sich
dann über die konjunkturellen und sozialen Auswirkungen einer reinen Austeritätspolitik.
Wohlgemerkt, wir Sozialdemokraten sehen die Notwendigkeit von Solidität in den Staatshaushalten. Doch
Solidität ohne Solidarität, ohne Wachstum und soziale
Ausgewogenheit, verschärft die Krise, statt sie zu überwinden.
({6})
Der Vertrag will in Zukunft eine solidere Haushaltsführung der Euro-Staaten sichern. Dies ist grundsätzlich
zu begrüßen. Der Vertrag, so ist die Planung, wird frühestens am 1. Januar 2013 in Kraft treten, wenn er ratifiziert worden ist. Was folgt daraus? Dieser Fiskalpakt löst
kein aktuelles Problem. Er weist nur in die Zukunft. In
der Gegenwart wirkt die jetzige Regierung ratlos. Sie
überlässt das Krisenmanagement der EZB in der Hoffnung, sie werde tun, was in Deutschland von der Bundesregierung radikal abgelehnt wird, nämlich Schulden
durch den Ankauf von Staatsanleihen zu vergemeinschaften. Das hat sie in der Vergangenheit auch getan.
({7})
Wir erinnern uns noch sehr genau an den Eiertanz
über eine Beteiligung des Privatsektors am Schuldenschnitt: Ja, auf jeden Fall, so Frau Merkel; jetzt, so Frau
Merkel, nein, auf gar keinen Fall.
({8})
Dann werden viele abenteuerliche Vorschläge produziert, häufig auf Stammtischniveau. Ich erinnere hier an
die Forderung nach einem Sparkommissar für Griechenland. So wenig Sensibilität gab es selten.
({9})
Selten wurde so viel europäisches Porzellan in kurzer
Zeit zerschlagen. Da kann man nur sagen: Avanti Dilettanti.
Was sind die ökonomischen Konsequenzen? Wenn
ein Land von der Droge Verschuldung herunterkommen
muss, wird es heftige Entzugserscheinungen geben. Das
ist, glaube ich, völlig klar. Aber am Beispiel Griechenland wird deutlich: Mit Ihrer Politik vergrößern Sie diese
Entzugserscheinungen. Sie sind größer, als sie eigentlich
sein müssten; denn der von Ihnen propagierte Weg aus
den Schulden ist falsch. Eine reine Sparorgie führt öko18896
nomisch in eine Rezession, mit extremen sozialen und
ökonomischen Verwerfungen und Folgen.
({10})
Genau das ist im Fall Griechenlands in die Erwägungen einzubeziehen. Die Versprechungen, sich nun endlich auch um Wachstum zu kümmern, sind mit dem
Fiskalpakt nicht eingelöst worden. Aber die soziale Situation in diesem Land ist dramatisch: höchste Arbeitslosigkeit, fast völlige Perspektivlosigkeit der Jugend. So
etwas kommt in der Politik der Bundesregierung nicht
vor.
({11})
Es gibt immerhin eine Erklärung der Staats- und Regierungschef zu Wachstum und Beschäftigung. Das ist
sicherlich grundsätzlich positiv. Negativ ist es, dass dieses Papier einen Preis für seine Ansammlung von Allgemeinplätzen verdient hätte. Viel Prosa, nichts Konkretes.
Versuchen Sie einmal, mit Prosa Wachstum anzuschieben.
({12})
Solange es nicht gelingt, die notwendige Haushaltskonsolidierung mit intelligenter Wachstumsförderung zu
verbinden, wird diese Krise nicht überwunden werden.
({13})
Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Niemand auf der Welt kann an der Tatsache vorbeigehen, dass die verfügbaren Mittel die materiellen Möglichkeiten bestimmen. Als ich vorgestern erfahren habe,
dass ausgerechnet die Linke die Aktuelle Stunde beantragt hat, fühlte ich mich an den Januar vor 22 Jahren erinnert.
({0})
Damals ist ein Mann namens Hans Modrow, der einige
Monate Ministerpräsident der sozialistischen DDR war,
nach Westdeutschland gereist. Statt dass er dort aus der
Erkenntnis der schwierigen Situation in der DDR den
Schluss zieht, dass die Marktwirtschaft eingeführt werden muss, hat er als Erstes einen riesigen Milliardenkredit beantragt. Herr Modrow ist im Übrigen heute Ehrenratsvorsitzender der Partei Die Linke.
({1})
- Dann müssen Sie Herrn Modrow sagen, dass er seinen
Lebenslauf im Internet ändern muss.
({2})
Auch im Deutschen Bundestag kommt man an der
Regel, dass die verfügbaren Mittel die materiellen Möglichkeiten bestimmen, nicht vorbei. Wenn Ebbe in der
Staatskasse ist und der Bankrott der öffentlichen Hand
droht, dann ist das in erster Linie und ganz besonders für
die Menschen problematisch, die auf staatliche Mittel
angewiesen sind: die Rentner, die Sozialhilfeempfänger,
die Auszubildenden. Deswegen ist eine Politik solider
Staatsfinanzen eben auch eine vorsorgliche, weil nachhaltige Sozialpolitik. Was wir in Griechenland erleben,
ist leider genau das Gegenteil.
Nach Jahrzehnten des unbedachten Schuldenmachens
ist es schon ein epochaler Fortschritt, dass wir nun, nachdem wir in Deutschland diesen Schritt bereits vor einigen Jahren unternommen haben, die Schuldenbremse in
25 der 27 EU-Mitgliedstaaten gesetzlich verankern. Frau
Hinz hat vorhin für die Grünen reklamiert, das sei nur
eine halbe Sache; denn die Schuldenbremse habe möglicherweise in dem einen oder anderen Land noch nicht
einmal Verfassungsrang.
Frau Hinz, ich bin im Mai 2009 mit einem Trömmelchen durch Solingen gezogen und habe mich um ein
Bundestagsmandat beworben. Zu jener Zeit waren Sie
schon hier. Meines Wissens haben die Grünen damals
gegen die Aufnahme der Schuldenbremse in das Grundgesetz gestimmt.
({3})
Wir haben mit der Schuldenbremse in der Bundesrepublik Deutschland gute Erfahrungen gemacht.
({4})
Die Haushaltspolitik der Bundesregierung ist in diesem
Punkt wirklich beachtlich; so ist die Neuverschuldung
deutlich auf 17 Milliarden Euro reduziert worden. Ich
persönlich möchte es noch erleben, dass wir wieder einmal ausgeglichene Bundeshaushalte vorlegen.
Der letzte ausgeglichene Bundeshaushalt war der von
1969 unter Finanzminister Franz Josef Strauß. Danach
bekam die Politik des leichten Geldes Aufschwung, weil
man glaubte, man könne durch zusätzliche Verschuldung, durch das Gelddrucken der Zentralbank die Wirtschaft und den Konsum ankurbeln und sich damit aus
der Wirtschaftskrise bewegen.
({5})
Helmut Schmidt hat gesagt: 5 Prozent Inflation sind
mir lieber als 5 Prozent Arbeitslosigkeit. - 1982 hatte
Deutschland 5 Prozent Inflation, 7 Prozent Arbeitslosigkeit und ein Wirtschaftswachstum von minus 1 Prozent,
also einen Rückgang des Wirtschaftswachstums. Das ist
der ökonomische Supergau. Insofern war es richtig, dass
dann eine andere Regierung an die Macht kam.
Was die linke Seite des Hauses als Medizin für die
überschuldeten Euro-Staaten vorschlägt, ist in WirklichJürgen Hardt
keit Gift für die Staatsfinanzen und für die Menschen. Es
betäubt die Menschen und vernebelt den Blick auf das
eigentliche Problem, nämlich die fehlende Wettbewerbsfähigkeit. Diese ist nur zu erreichen, wenn die Produktivität steigt. Wenn die Lebensarbeitszeiten kürzer, der öffentliche Sektor größer und die Löhne höher sind als in
der übrigen Euro-Welt, dann muss sich diese Situation
eben ändern. Daran führt leider kein Weg vorbei.
In den 30er-Jahren, in Zeiten der keynesianischen
Politik, hieß es: Lasst uns doch einfach ein bisschen Inflation machen, dann brauchen wir die Löhne nicht zu
kürzen, und die Leute haben trotzdem weniger Geld.
({6})
Keynes hat das als „Geldillusion“ bezeichnet. Ich sage:
Geldillusion ist ein anderes Wort für Betrug an den Menschen. Die kleinen Leute laufen nämlich mit ihren Einkommen den steigenden Preisen hinterher und müssen
erleben, dass ihre Spareinlagen entwertet werden.
({7})
Diesen Betrug können wir nicht mitmachen. Deswegen
gibt es zur Konsolidierung der Haushalte aller EU-Staaten keine Alternative.
({8})
Ich möchte ganz deutlich anmerken: Wenn es denn
gelingen sollte, wieder auf den Pfad solider Haushalte
zurückzukehren - auch in Staaten wie Griechenland,
Portugal usw. -, dann ist es Aufgabe und Pflicht der starken Nationen in der Europäische Union, entweder über
EU-Mittel oder durch entsprechende Programme den
wirtschaftlichen Aufbau und die Schaffung von Wettbewerbsfähigkeit in diesen Staaten konkret zu unterstützen.
({9})
Vorhin hat Kollege Rehberg angemerkt: Solange die
griechische Regierung nicht einmal bereit und in der
Lage ist, die zur Verfügung stehenden EU-Mittel auszuschöpfen, die für Wachstum und Beschäftigung eingesetzt werden können, haben wir noch einen weiten Weg
vor uns.
Mit dem Fiskalpakt unternehmen wir jetzt den entscheidenden Schritt zur Konsolidierung der Haushalte in
der Europäischen Union. Anschließend sollten wir uns
ganz konkret der Frage zuwenden, wie wir die Europäische Union zu einer Region des Wachstums und der
Beschäftigung für die Zukunft machen. Ich glaube, auf
dieser Basis werden wir letztendlich eine große Übereinstimmung hier im Hause finden.
Herzlichen Dank.
({10})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften ({0}) und zur Änderung weiterer Gesetze
- Drucksache 17/7576 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 17/8615 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Klein-Schmeink
Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen ist
für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
gebe ich das Wort dem Bundesminister Daniel Bahr.
({2})
Vielen Dank, Frau Präsidentin, auch dafür, dass Sie
für Ruhe gesorgt haben. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Welt wächst weiter zusammen. Die Menschen
sind immer mobiler geworden. Innerhalb kürzester Zeit
legen sie weite Strecken zurück. Handelsgüter werden
schnell und in großer Menge zwischen den Kontinenten
ausgetauscht. Auch der internationale Reiseverkehr ist
aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Das ist
eine erfreuliche Entwicklung, weil wir zwischen den
verschiedenen Kulturen Erfahrungen austauschen und
weit entfernte Länder besser kennenlernen können.
Es ist aber eine naheliegende Folge, dass sich auch
Krankheitserreger, bekannte und neu auftretende, immer
rascher über Grenzen hinweg ausbreiten können. So sorgen unter anderem mehr als 2 Milliarden Flugreisen pro
Jahr dafür, dass Epidemien nicht mehr auf eine Region
beschränkt bleiben, sondern schlimmstenfalls zu Pandemien werden und die Weltbevölkerung bedrohen. Globale Gefahren erfordern deshalb eben auch globale Antworten. Die seit Juni 2007 in ihrem Anwendungsbereich
deutlich erweiterten Internationalen Gesundheitsvorschriften zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vor
der grenzüberschreitenden Ausbreitung von Krankheiten
sind eine solche Antwort unserer Volksgemeinschaft.
({0})
- Völkergemeinschaft. - Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum IGV-Durchführungsgesetz schließen wir
uns dieser Antwort an und unterstreichen ihre Bedeutung.
Erstens geschieht das durch ein neues Stammgesetz
mit Vorschriften über die Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften. Damit kommen wir, wie
193 andere Vertragsstaaten auch, der Verpflichtung nach,
bis Juni 2012 unsere Surveillancesysteme und bestimmte
Flughäfen und Häfen in Deutschland für gesundheitliche
Notlagen zu rüsten. Insgesamt werden bei uns fünf Häfen und fünf Flughäfen diesem Standard entsprechen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir
eine klare und faire Zuordnung der Kosten vor: Die Kosten werden sachlich differenziert der Wirtschaft sowie
dem öffentlichen Gesundheitsdienst zugewiesen, je nach
Verantwortungsbereich. Es gelingt uns damit, im Hinblick auf die globalen Herausforderungen - drohende
Pandemien und Krankheitserreger, die vor Länder- und
Kontinentalgrenzen nicht haltmachen - besser gerüstet
zu sein. Das ist eine gute Nachricht für die Menschen in
Deutschland, aber auch für die Menschen, die über die
Kontinente hinweg viel reisen.
({1})
Zweitens ändern wir mit diesem Gesetzentwurf das
Infektionsschutzgesetz und reagieren damit auf die Erfahrungen aus der letztjährigen Ehec-Epidemie in Norddeutschland. Sie können sich erinnern, dass wir bei der
Ehec-Epidemie im Mai letzten Jahres in Norddeutschland - in Hamburg, teilweise in Schleswig-Holstein bei der Versorgung im Gesundheitssystem an unsere Kapazitätsgrenzen gestoßen sind. An dieser Stelle möchte
ich deshalb noch einmal ganz besonders denjenigen danken, die im Rahmen unseres Gesundheitssystems in den
Krankenhäusern, den Pflegeeinrichtungen, der niedergelassenen Ärzteschaft und vielen anderen Bereichen dazu
beigetragen haben, dass die Menschen, die von Ehec bedroht waren, gut versorgt werden konnten. Die medizinische Versorgung war seinerzeit in Deutschland trotz der
besonderen Herausforderung wirklich exzellent. Dafür
können wir den Menschen danken, die in dieser schweren Zeit täglich ihr Engagement bewiesen und unter
Stress ihre Aufgaben bewältigt haben.
({2})
Ich will an der Stelle, auch wenn es zunächst nichts
mit dem IGV-Durchführungsgesetz zu tun hat, dem Bundestag sagen: Wir, die Bundesregierung, verfolgen mit
großem Interesse, wie die Kosten, die seinerzeit bei denjenigen entstanden sind, die besonders belastet waren
- insbesondere Krankenhäuser in Norddeutschland -,
nun bewältigt werden. Wir freuen uns, dass die Gespräche hier gut geführt werden, damit die Krankenhäuser,
die nicht aufs Geld geschaut haben, sondern darauf, die
beste Versorgung für die Patienten zu gewährleisten,
jetzt nicht die Dummen sind. So viel zu der Erfahrung,
die wir vor nicht einmal einem Jahr mit der Ehec-Epidemie gesammelt haben.
Wir haben aber auch Erfahrungen gesammelt, die verdeutlichen, was in Deutschland besser werden kann. Die
Konsequenzen daraus ziehen wir heute mit dem IGVDurchführungsgesetz. Im Mittelpunkt steht eine Beschleunigung des Meldewesens. Eine Erfahrung aus der
Ehec-Epidemie war, dass wir viel zu spät in der Lage
waren, die Situation beurteilen zu können. Häufig kamen
erst viel zu spät hier in Berlin im Robert-Koch-Institut
und im Bundesgesundheitsministerium die Zahlen über
die Neuinfektionen an.
Deswegen sorgen wir dafür, dass Meldungen von
Ärztinnen und Ärzten künftig innerhalb von 24 Stunden
beim Gesundheitsamt vorliegen müssen. Fristen für die
Übermittlung vom Gesundheitsamt über die Landesstellen an das Robert-Koch-Institut werden von derzeit
16 Tagen auf höchstens 4 Tage verkürzt. Darüber hinaus
soll das Meldewesen auf eine durchgehende informationstechnologische Basis gestellt werden. Damit können
wir es weiter beschleunigen, aber auch rationalisieren.
Wir haben neue Formen der Informationstechnologie.
Die sollten wir für die Verbesserung des Meldeverfahrens nutzen.
Informationen über Zahlen von Erkrankungen werden
durch die vorgesehene Regelung künftig schneller verfügbar sein. Damit haben wir das Versprechen, das wir
als Bundesregierung im Rahmen der Ehec-Epidemie gegeben haben, umgesetzt. Wir haben schnell gehandelt.
Das Meldeverfahren wird jetzt an die modernen Kommunikationsmöglichkeiten angepasst. Wir wissen zwar,
dass wir Epidemien nie ganz verhindern können, aber
wir können dazu beitragen, mit Epidemien besser umzugehen, sie zu bewältigen, schneller informiert zu sein,
um schnell zu agieren und etwas dagegen zu tun. Wir haben die Konsequenzen aus der Epidemie gezogen. Die
Meldeverfahren werden deutlich verbessert, damit es
uns schneller gelingt, die Lage zu beurteilen. Dazu ist
dieses Gesetz da.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Die Kollegin Bärbel Bas hat das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Minister hat eben die Ehec-Krise angesprochen. Auch
ich möchte einige Worte dazu sagen. Wir müssen uns
vor allen Dingen an das anfängliche Nebeneinander und
auch Gegeneinander von kommunalen, Landes- und
Bundesbehörden erinnern. Das behördliche Management wurde nicht nur von den inländischen Beobachtern
sehr kritisch kommentiert, auch unsere Nachbarn und
Handelspartner waren über die widersprüchlichen Meldungen und die Verzehrwarnung alles andere als erfreut.
Es ist müßig, sich darüber zu streiten, was gewesen
wäre, wenn die eine oder andere Warnung früher oder
gar nicht ausgesprochen worden wäre. Die Gesundheitsbehörden standen damals in der Tat unter einem ungeheuren Druck. Sie mussten nicht nur die Behandlung der
Ehec-Opfer sicherstellen und schnellstmöglich die Ursachen der Infektion identifizieren; sie mussten darüber hinaus einer verängstigten und auch zunehmend kritischen
Öffentlichkeit das Geschehen erklären. Vor diesem Hintergrund können wir eigentlich froh sein, dass die Auswirkungen des Ehec-Erregers eingedämmt und die VerBärbel Bas
sorgung der Erkrankten gewährleistet wurden. Aber uns
allen war auch sofort klar, dass wir uns ein solch unkoordiniertes und auch ineffizientes Krisenmanagement nicht
noch einmal leisten können.
({0})
Der Gesundheitsausschuss hat einhellig begrüßt, dass
die Bundesregierung die Geschehnisse rund um Ehec
sorgfältig aufarbeiten wollte. Ich persönlich war der
Auffassung, dass das Krisenmanagement und die ihm
zugrunde liegenden Strukturen umfassend durchleuchtet
und hinterfragt gehören. Vor diesem Hintergrund haben
wir die Berichte der Behörden aus dem letzten Jahr sehr
aufmerksam gelesen. Wir haben sehr gespannt darauf
gewartet, welche Schlussfolgerungen Sie daraus ziehen.
Schließlich hat sich der Gesundheitsausschuss damals
zum Höhepunkt der Ehec-Krise mit einer Novelle zum
Infektionsschutzgesetz befasst. Wir waren damals also
mitten im Thema und hätten viel mehr erreichen können
als das, was heute auf dem Tisch liegt.
Unseres Erachtens werden Ihre jetzigen Vorschläge
unseren Erwartungen, den Erwartungen der Experten
und auch den Erwartungen der Bevölkerung nicht gerecht. Die Änderungen, die Sie vornehmen, sind sicherlich nicht falsch, aber sie reichen aus unserer Sicht absolut nicht aus. Ich frage Sie ernsthaft: Meinen Sie, dass
eine Verkürzung der Meldefristen, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, und eine Erprobungsklausel ausreichen, um die während der Ehec-Krise begangenen
Fehler nicht zu wiederholen?
Mir stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die vorliegenden Änderungen in Art. 3 und 4 des Gesetzentwurfs
die einzige Folgerung aus den Geschehnissen rund um
Ehec sein werden; denn eine hinreichende Aufarbeitung
der Arbeit und der Aufgaben der einzelnen staatlichen
Stellen liegt aus unserer Sicht überhaupt nicht vor. Es
gibt zwar einen Abschlussbericht des Robert-Koch-Instituts; eine selbstkritische Bewertung der anfänglichen
Warnung vor dem Verzehr von Gurken und Tomaten aus
Spanien ist im Bericht aber nicht enthalten. Der Bericht
lässt vieles offen und setzt sich nicht wirklich kritisch
mit dem Thema auseinander. Der Absatz von Gemüse
brach von einem Tag auf den anderen ein. Gemüsebauern und Händler in Deutschland und Südeuropa blieben
auf ihren Ernten sitzen. Dabei erwiesen sich die Verzehrwarnungen relativ schnell als unzutreffend. Die ökonomischen Auswirkungen waren jedoch schon eingetreten,
und die Verbraucher waren verunsichert.
In der Summe hat dies zu einer in ihrer Deutlichkeit
kaum zu übertreffenden Kritik der EU-Kommission an
dem seinerzeitigen Krisenmanagement geführt. Es muss
einen wirklich beschämen, wenn das Ausbruchsmanagement - ich zitiere - als unzureichend vorbereitet und die
Reaktion als inadäquat bezeichnet wird. Hierauf haben
wir von der Bundesregierung damals keine Reaktion gehört. Wenn die Kritik also so stehen bleibt, dann kann
man davon ausgehen, dass Sie die Organisation und die
Strukturen des deutschen Gesundheitsschutzes und der
Lebensmittelsicherheit ebenfalls als ineffizient betrachten.
({1})
Uns liegt bisher nur dieser eine Gesetzentwurf vor.
Von weiter gehenden Vorschlägen, Denkansätzen oder
Versuchsballons aus dem Gesundheitsministerium haben
wir bisher nichts gehört.
({2})
- Das sage ich Ihnen gleich. - Aus dem Gesundheitsministerium kommt nichts. Wichtige Themen werden von
Ihnen nicht angepackt, siehe Pflege und Prävention.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen besser geschützt
werden. Alle Behörden auf allen staatlichen Ebenen müssen endlich beginnen, zusammenzuarbeiten. Sie müssen
moderne Kommunikationsstrukturen entwickeln. Wenn
sich herausstellt, dass einige Behörden dazu nicht in der
Lage sind, dann muss man sie dazu ertüchtigen, oder die
Aufgabe muss ihnen entzogen werden. Der Schutz der
Bevölkerung lässt keinen Raum für Kompetenzstreit oder
Bund-Länder-Streitigkeiten; auch das sage ich hier ganz
deutlich.
({3})
Ich würde mir zum Beispiel wünschen, Sie äußerten
sich in diesem Zusammenhang auch einmal zu einer Vernetzung der Gesundheits- und Veterinärämter. Das sind
zwar kommunale Einrichtungen, Ehec zeigte aber, dass
diese Einrichtungen alleine - ich will es vorsichtig ausdrücken - den Herausforderungen nicht gewachsen waren.
Gerne würden wir wissen, wie eine Zusammenarbeit
der zahlreichen staatlichen Stellen, die über die Verwendung moderner Kommunikationsmitttel hinausgeht,
funktionieren soll. Sie haben sich nur zu einer Erprobungsklausel durchgerungen. Wir erwarten aber von Ihnen, dass Sie die Kooperation der Behörden und die
Meldewege mithilfe webbasierter Formulare modernisieren, damit alles schneller geht als bisher.
Wir wüssten auch gerne, was Sie von einer Lebensmittelüberwachung auch auf Bundesebene halten. Diese
hat Ihnen der Bundesrechnungshof immerhin empfohlen. Zu Recht weisen die Rechnungsprüfer darauf hin,
dass Lebensmittelkonzerne mit weltweiten Lieferketten
bei uns durch Kreisveterinäre überwacht werden. Das
lässt sich vielleicht historisch begründen, gut finden sollten wir das in der jetzigen Situation aber nicht, und es
passt, glaube ich, auch nicht mehr in die heutige Zeit.
({4})
Bleiben wir bei Ehec: Wir würden gerne wissen, was
Sie dazu sagen, dass der vom RKI als Auslöser der Epidemie identifizierte sogenannte Bockshornkleesamen in
einer Gärtnerei zu Sprossen weiterverarbeitet worden ist
und so in Umlauf gebracht wurde. Gartenbaubetriebe
unterliegen in der Regel nicht der Lebensmittelaufsicht.
Da die Sprossen roh gegessen werden - sie können bestenfalls abgewaschen werden -, stellen sie durchaus ein
hohes Risiko zur Übertragung potenzieller Keime dar.
Sie müssten eigentlich wie ein Lebensmittel produziert
und gehandhabt werden. Sprossenzucht in herkömmlichen Gärtnereien wäre damit eigentlich ausgeschlossen.
Über diese Vorschläge haben wir gemeinsam mit Ihnen im Gesundheitsausschuss diskutiert. Sie waren auch
Gegenstand der fachlichen und wissenschaftlichen Debatte über die Ursachen von Ehec. Kommentiert oder
aufgegriffen haben Sie diese Vorschläge bisher nicht.
Sie haben gerade gesagt, dass Sie das Infektionsschutzgesetz mit diesem Gesetz wieder aufgeschnürt haben. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften hätten
Sie auch auf dem Wege einer Durchführungsverordnung
umsetzen können. Dazu hätten Sie das Gesetz nicht aufschnüren müssen. Wir sind enttäuscht, dass Sie, wenn
Sie das Infektionsschutzgesetz schon nach einem Jahr
erneut anfassen, die Vorschläge, die schon im Juni des
letzten Jahres auf dem Tisch lagen, nicht aufgegriffen
haben.
Weil vorhin gefragt wurde, was unsere Vorschläge
zum Infektionsschutz seien, will ich sie deutlich benennen. Dabei geht es insbesondere um bundeseinheitliche
Hygienemindeststandards, die wir zu definieren haben
und die wir verbindlich für alle einführen sollten. Das gilt
für die Ausbildung von Hygienefachpersonal, die von der
Bundesregierung angepackt werden müsste. Wir brauchen insbesondere verpflichtende Eingangsscreenings
von Risikopatienten und eine Ausweitung der MRSAMeldepflicht. Ohne eine ambulante Weiterbehandlung
von MRE-Keimträgern nach der Krankenhausentlassung
sind alle vorherigen Maßnahmen völlig unsinnig und verursachen unnötiges Leid für die Patienten.
({5})
Wir brauchen deshalb eine qualitätsorientierte Vergütung
in Krankenhäusern und eine wirksame Sanktionierung
bei Hygienemängeln. Wir müssen endlich dafür sorgen,
dass Ärztinnen und Ärzte Antibiotika effizienter einsetzen.
Wenn Sie wirklich etwas bewegen wollen, Herr Minister, dann schaffen Sie mehr Transparenz und eine wirksame Qualitätssicherung bei der Lebensmittelsicherheit
und im Hygienebereich.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Karin Maag hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Liebe Frau Bas, die Lebensmittelsicherheit ist heute
nicht unser Thema,
({0})
vielmehr wollten wir uns über den Schutz vor einer
grenzüberschreitenden Ausbreitung bedrohlicher Infektions- und anderer Krankheiten unterhalten. Darum geht
es heute.
({1})
Es geht - das haben wir von Ihnen gehört; auch der
Minister hat darauf hingewiesen - um die Erfahrungen
aus der Ehec-Krise und der Schweinegrippe. Richtig ist,
dass das RKI schneller an Informationen kommen muss.
Es geht auch um bessere informationstechnische Meldewege. Darüber hinaus geht es um weitere kleinere Änderungen, nämlich dass neben der Verbesserung der Erfassung der HIV-Neuinfektionen die Statistiken besser
geführt werden müssen, damit sie aussagekräftiger sind.
Es geht um bundesweite Arzt- und Labormeldepflichten
für die impfpräventiven Krankheiten. Das Thema Prävention werden wir in diesem Jahr mit der Präventionsstrategie noch einmal aufgreifen, Frau Bas. Schließlich geht es
um die flexiblere Verteilung von Arzneimitteln und Impfstoffen im Krisenfall.
Mit einem internationalen Meldesystem zwischen den
194 Staaten der WHO soll eine grenzüberschreitende
Ausbreitung von Krankheiten verhindert werden. Es
geht um ein einheitliches Verfahren zum Umgang mit
den gefährlichen Krankheiten, und zwar dort, wo man
am ehesten Kontaktmöglichkeiten hat. Die Flughäfen
von Berlin, Frankfurt, Hamburg, München und Düsseldorf sowie die Seehäfen von Bremen, Bremerhaven,
Hamburg, Kiel, Rostock und Wilhelmshaven werden
dazu mit den Kernkapazitäten für den Gesundheitsschutz
ausgestattet. Der internationale Verkehr von und nach
Deutschland ist damit auch in Krisensituationen sichergestellt. Wir tun alles dafür, dass auch die wirtschaftlichen Auswirkungen von solchen Krisen begrenzt werden.
Da das für Sie in der SPD offensichtlich so wichtig
ist, Frau Bas, komme ich jetzt zur Ehec-Krise. In der Tat
sind Übermittlungszeiten von bis zu 16 Tagen heute weder erforderlich noch notwendig. Genau deshalb haben
wir sie geändert. Die Meldungen der Ärzte, vor allem
der Krankenhäuser - daher kommen die Meldungen in
der Regel -, aber auch der Leiter von sonstigen Einrichtungen bei Krankheitsverdacht, Krankheit oder Tod gehen jetzt innerhalb von 24 Stunden an das Gesundheitsamt. Die Gesundheitsämter ihrerseits übermitteln die
Daten sowie eigene Untersuchungen und Nachweise zu
Krankheitserregern, zum Infektionsweg oder zum Zeitraum der Infektion spätestens am folgenden Tag an die
Landesbehörde. Dem RKI soll jede Information innerhalb von 3 Tagen vorliegen.
({2})
Wir ermöglichen zusätzlich die Erprobung besserer
elektronischer Meldewege, nicht zuletzt deshalb, um den
Informationsfluss vom Patienten zum Arzt und dann
zum Gesundheitsamt besser in den Griff zu bekommen.
Jetzt möchte ich eine Lanze für das RKI brechen. Es
ist bisher nicht untätig gewesen. Aber die Versuche, solKarin Maag
che elektronischen Schnittstellen zu schaffen, waren wegen der großen Vielfalt der untereinander nicht kompatiblen Computerprogramme in den Praxen und Laboren
kein Erfolg. Die meisten Gesundheitsämter benutzen andere Programme; für sie ist das Meldewesen nach dem
Infektionsschutzgesetz ein kleiner Ausschnitt ihres Aufgabenbereichs. Bei dem Expertengespräch, das der Gesetzgebung vorausging, ist eines klar geworden - das ist
mir wichtig -: Das Bashing von Ministern, Behördenleitern und Wissenschaftlern während dieser Krise und die
Stereotypen, mit denen den beiden zuständigen Ministern ein angeblich verfehltes Krisenmanagement vorgeworfen wurde, hat die Menschen zusätzlich zu der Krise
noch mehr verunsichert und nichts zur Lösung beigetragen. Es war vor allen Dingen auch ungerechtfertigt.
({3})
Frau Bas, ganz im Gegenteil: Dem RKI wurde vom
European Centre of Disease Prevention and Control bestätigt, dass alle notwendigen Maßnahmen ergriffen wurden. Die EU-Kommission, auf die Sie sich beziehen, hat
nicht mehr Sachverstand in diesem Bereich als Sie und
ich.
({4})
Ich bitte insofern auf diejenigen zu hören, die den notwendigen wissenschaftlichen Sachverstand haben und
das RKI in dieser Beziehung ausdrücklich gelobt haben.
({5})
Ich will noch eines sagen: Es hat sich herausgestellt,
dass die Zusammenarbeit bei den unterschiedlichen Aufgaben auch über die Landesgrenzen hinweg durchaus
gut und vertrauensvoll war. Absprachen zwischen den
Behörden fanden statt. Die Übermittlung geschah relativ
schnell. Natürlich ist trotzdem eine dauerhafte Regelung,
so, wie eben beschrieben, notwendig. Aber die Behörden
haben die Aufgaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten
durchaus überobligationsmäßig gut erledigt.
Das Instrumentarium, mit dem die Zusammenarbeit
geregelt wird, ist übrigens vorhanden. In den Ministerien
können ressortübergreifende Krisenstäbe eingerichtet
werden. Das Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe regelt gegebenenfalls die Koordinierung
zwischen Bund und Ländern. Das RKI hat bei der Anhörung in erfreulicher Deutlichkeit mit den Meinungen
verschiedener selbsternannter Experten aufgeräumt. Der
Verzehr von Sprossen wurde von Anfang an abgefragt.
Aber Sie müssen bedenken, dass Sprossen die Garnierung sonstiger Speisen oder Bestandteil eines Salats
sind. Die Menschen haben sich schlicht nicht daran erinnert, dass sie Sprossen gegessen haben. Das muss man
einmal sagen. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, welche Fehler gemacht wurden.
Richtig ist - das wurde zu Recht bemängelt -, dass
entsprechend dem Stand des Wissens in Bezug auf die
Ehec-Erreger nach Speisen gefragt wurde, die in den
vier Tagen vor Krankheitsausbruch verzehrt wurden. Die
Ehec-Erreger, die den Ausbruch verursachten, haben
eine Inkubationszeit von 14 Tagen. Das hat man leider
erst im Zuge der Ermittlungen festgestellt. Danach
wurde aber richtig gehandelt.
Zum Thema Sprossen - Sie haben es vorher erwähnt -:
Die Beschäftigten in den Gemüseanbaubetrieben werden
künftig präventiv alle zwei Jahre über Tätigkeits- und
Beschäftigungsverbote belehrt. Auch dies wird jetzt im
Gesetz neu geregelt. Der Kreis der Lebensmittel, die ein
Kranker oder Krankheitsverdächtiger nicht herstellen,
behandeln oder in den Verkehr bringen darf, wird auf
Sprossen, Keimlinge und Samen erweitert. Es ist übrigens tatsächlich wissenschaftlich unterlegt, dass die Samen Quelle der Infektionen waren. Diese Bockshornkleesprossen und die entsprechenden Samen gab es in
insgesamt drei Clustern. Damit ist ein wissenschaftlicher
Nachweis durchaus möglich.
Ich komme zum Schluss. Der Ausbruch dieser gefährlichen Krankheiten ist schicksalhaft und lässt sich nicht
verhindern. Die Versorgung in den Krankenhäusern hat
- wir haben es von Minister Bahr gehört - dank der aufopferungsvollen Arbeit von ärztlichem und pflegerischem Personal funktioniert.
Jetzt kommt die Conclusio. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und vor allen Dingen die Informationswege gestrafft. Die Informationstechnologie - das
ist ganz wichtig - wird angepasst. Wir haben das Instrumentarium zur Durchführung der internationalen Gesundheitsvorschriften geschaffen. Ich gehe davon aus,
dass das Parlament damit das ihm Mögliche zur Schadensminimierung im Hinblick auf künftige Fälle getan
hat.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat Kathrin Vogler für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrter Herr Minister, heute erleben wir etwas ganz Erstaunliches: Die schwarz-gelbe Bundesregierung legt einen Gesetzentwurf vor, der ausnahmsweise so wenig Unsinn enthält, dass nicht einmal die
Opposition dagegenstimmen wird.
({0})
Worum geht es? Es geht um wichtige Themen. Wir
sind uns alle einig: Wenn jemand, der eine schwere
Krankheit hat, per Schiff oder Flugzeug nach Deutschland einreist, dann soll das Nötige getan werden, damit
sich die Krankheit möglichst nicht ausbreitet. Zu diesem
Zweck werden mit diesem Gesetz zum Beispiel die
Melde- und Informationswege verkürzt und die Pflichten
der Piloten und Kapitäne neu geregelt, und es wird definiert, was im Sinne des Gesetzes ein Gesundheitsamt ist.
Leider hat es die Bundesregierung aber unter anderem
versäumt, klare Regelungen im Hinblick auf die Gefahren von Atomtransporten auf See zu treffen. Deshalb
wird sich die Linke bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der keine offensichtlichen Schnitzer enthält. Aber: Reicht Ihnen das
eigentlich? Können Sie darauf schon stolz sein, Frau
Maag? Dieses Gesetz ist sicher wichtig. Aber andere
Fragen, die noch wichtiger wären, lässt diese Bundesregierung einfach links liegen. Genau das werfen manche
Journalisten dieser Regierung vor, wenn sie zum Beispiel schreiben, Schwarz-Gelb mache Politik unterhalb
der Wahrnehmungsschwelle.
({1})
Das bedeutet, dass Ihre Politik so substanzlos ist, dass
die Menschen sie kaum spüren.
({2})
Über den Gesundheitsminister schrieb der Spiegel,
sogar er wirke stets ein bisschen wie sein eigener Staatssekretär; das konnten wir gerade wieder beobachten.
({3})
Weiter heißt es - ich zitiere -:
Für seine Großbaustellen, die Stärkung der Patientenrechte und die Pflegereform, hat er zwar Details
vorgelegt.
({4})
Die Lobbygruppen sind im Gesundheitsbereich jedoch so hartnäckig, dass von hehren Plänen am
Ende kaum etwas übrig bleibt.
({5})
Das Schicksal droht auch Bahr.
Zitat Ende aus dem Spiegel vom 27. Dezember letzten
Jahres.
({6})
Man fragt sich: Warum debattieren wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages einen Gesetzentwurf,
der unter uns Gesundheitspolitikern eigentlich ziemlich
unstrittig ist? Ich will es Ihnen sagen: Die schwarz-gelbe
Koalition hat inzwischen sehr viel Prügel eingesteckt.
Sie ist mit ihrer Kraft und ihren Ideen am Ende, zerrieben zwischen Parteienstreit und Lobbyinteressen.
({7})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen Sie
ganz dringend eine Kuschelrunde.
({8})
Aber nicht mit uns!
({9})
Sie müssen sich an dieser Stelle die Frage gefallen lassen
- es wäre ganz gut, wenn Sie einmal zuhören würden -,
({10})
ob dieses Gesetz wirklich alles ist, was Ihr Gesundheitsministerium zustande bringt.
Auch auf Ihren Schreibtischen liegen, genau wie auf
meinem, sicher viele Briefe von Bürgerinnen und Bürgern, die ganz konkrete Sorgen haben. Sie fragen sich:
Was tut diese Bundesregierung für mich?
({11})
Da fragt sich zum Beispiel eine 50-Jährige, wie sie die
Pflege ihrer Eltern und die Ausbildung ihrer Kinder
gleichzeitig finanzieren soll, wenn das Pflegegeld doch
vorne und hinten nicht reicht und sie selbst wegen der
Pflege ihrer Eltern nur noch halbtags arbeiten kann. Ich
erinnere Sie daran: Anfang letzten Jahres hat der damalige Gesundheitsminister Rösler das Jahr der Pflege ausgerufen.
({12})
Bis heute ist bei den 2,5 Millionen Pflegebedürftigen
und ihren Familien nichts davon angekommen - gar
nichts, kein einziger Cent.
({13})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({14})
Außerdem haben Sie verkündet, 2011 werde das Jahr
der Patientenrechte. In jedem Monat des vergangenen
Jahres haben wir und die anderen Oppositionsfraktionen
Sie gefragt, wann wir endlich mit einem Gesetzentwurf
zur Stärkung der Patientenrechte rechnen können. Was
haben Sie bisher geliefert?
({15})
Fast nichts,
({16})
jedenfalls nichts, was diesen Namen auch nur ansatzweise verdient. Der Vorentwurf aus Ihrem Haus, Herr
Bahr, ist leider so schwach, dass er kaum der Rede wert
ist.
({17})
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften, über
den wir diskutieren, ist sicher notwendig.
({18})
Aber ich frage Sie ganz ernsthaft: Wäre es nicht mindestens ebenso notwendig, dass diese Bundesregierung endlich mit der Pflegereform und einem Patientenrechtegesetz in die Hufe kommt, dass Sie also endlich auch in
diesem Bereich Ihre Hausaufgaben machen? Darauf
warten doch viele Menschen ganz dringend.
({19})
Liebe Frau Maag, wir warten schon sehr gespannt auf
Ihr Timing in Sachen Präventionsstrategie. Daran werden wir Sie auch erinnern.
({20})
Obwohl wir von Ihnen eigentlich nicht viel erwarten:
Wenn Sie dabei echte Verbesserungen für die Menschen
auf den Weg bringen, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Spürbar müssen sie aber sein. Für Politik unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle steht die Linke nicht zur Verfügung.
({21})
Der Kollege Harald Terpe spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Aufgabe einer Regierung, vereinbarte
internationale Vorschriften in deutsches Recht umzusetzen, zumal dann, wenn dies längst überfällig ist.
({0})
In diesem Sinne ist der Entwurf eines Gesetzes zur
Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften wenig spektakulär. Spektakulärer finde ich es da
schon, sich vorzustellen, wie der Gesundheitszustand
von Tausenden Passagieren auf Kreuzfahrtschiffen überprüft werden soll, möglicherweise sogar ohne ärztliche
Expertise.
Wir haben ja bekanntermaßen einige international bekannte Kreuzfahrtschiffhäfen. Das führt mich dazu, an
die Verantwortung des Bundes, aber auch der Länder dafür zu appellieren, dass es sich beim Katastrophenschutz
an solchen internationalen Drehscheiben natürlich nicht
nur um den herkömmlichen Katastrophenschutz handeln
darf, den man ja sonst regional definieren kann. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften sind vielmehr geradezu die Antwort auf eine mögliche Pandemie oder
Epidemie aufgrund von Infektionen. Deshalb sind hier
natürlich besondere Finanzierungsgrundlagen notwendig, die man - darauf möchte ich schon jetzt hinweisen immer wieder einmal evaluieren muss; denn es sollen ja
besondere Fazilitäten in den entsprechenden Hafenstädten bzw. auch an den Flughäfen vorgehalten werden.
Gut und im fachlichen Zusammenhang auch naheliegend ist, dass in diesem Artikelgesetz auch aktuelle
Erfahrungen mit bestimmten Infektionserkrankungen
aufgegriffen werden. Wir haben hier ja schon an verschiedenen Stellen von der Ehec-Infektion gehört. Deswegen sind die substanziellen Änderungen im Infektionsschutzgesetz auch zu begrüßen. Das betrifft besonders die
Verkürzung der Meldefristen, was ja auch genannt worden ist.
Ich finde, es ist berechtigt, hier anzumerken, dass es
nicht darum gehen kann, jetzt noch zu fragen, ob wir
elektronische Medien bei der Informationsübermittlung
benutzen, sondern es geht darum, wie und vor allen Dingen wie schnell wir sie benutzen.
({1})
Ich denke deshalb, dass die Verbesserung der Übermittlung mit solchen elektronischen Mitteln möglichst zeitnah etabliert werden muss. Eine Erprobung zu ermöglichen, ist sicher nicht verkehrt. Aber geht es nicht auch
ein bisschen engagierter?
({2})
Internationale Gesundheitsvorschriften sind ein geeignetes Instrument zum Beispiel für international abgestimmte Infektionsprävention. Sie erfordern aber auch
eine nationale Einflussnahme und eine permanente Evaluation. Deshalb möchte ich am Schluss noch einen konstruktiven und kritischen Diskussionsprozess darüber
anregen, wie wir zukünftig mit der internationalen Pandemiedefinition und -empfehlung umgehen, die beispielsweise im Fall der Schweinegrippe zu teils hysterischen Reaktionen geführt hat - nicht ohne vermeidbare
finanzielle Folgen, beispielsweise für die Bundesländer.
Wie steht es also mit der kritischen Aufarbeitung des
Umgangs mit der Vogel- und der Schweinegrippe? Sind
wir schon so weit? So etwas muss man im Zusammenhang mit Infektionsschutzgesetzen natürlich auch immer
wieder diskutieren: Haben wir die nationalen Pandemiepläne entsprechend flexibilisiert und sind von den starren Warnstufen der WHO abgegangen? Da haben wir
eine besondere Verantwortung: Wenn wir der Meinung
sind, dass die Pandemiestufen der WHO auch den
Schweregrad einer Erkrankung berücksichtigen müssen,
dann müssen wir den Diskussionsprozess international
anregen.
({3})
Ich denke, wir haben, was die Pandemie betrifft, noch
eine Menge über Pandemievorsorge zu diskutieren und
darüber, ob die Patientinnen und Patienten bei uns im
Lande entsprechend gesundheitsgeschützt sind. In einer
Passage des Arzneimittelgesetzes wird darauf abgehoben, dass man in besonderen Fällen Arzneimittel verwenden kann, für die noch keine Zulassung vorliegt.
({4})
Ich glaube, dass wir hiermit sehr sensibel umgehen müssen. Das darf kein Einfallstor für eine geringere Kontrolle der entsprechend anzuwendenden Impfstoffe und
Arzneimittel sein.
Wir können aus dieser Debatte mitnehmen, dass wir
in Pandemie- und Epidemiefällen einen erheblichen Diskussions- und Entscheidungsprozess vor uns haben.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Jens Ackermann hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir die Internationalen Gesundheitsvorschriften aus dem
Jahre 2005 umsetzen. Krankheitserreger machen nicht
an Grenzen halt. Es ist wichtig, an Flughäfen und Häfen
wachsam und vorbereitet zu sein. An fünf Flughäfen,
Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und München,
sowie an den großen Häfen Bremen, Hamburg, Kiel,
Rostock und Wilhelmshaven müssen Kapazitäten für
den Ernstfall eingerichtet werden. Bis zum 15. Juni dieses Jahres läuft hierfür die Frist.
Die früheren Durchführungsverordnungen sind zu
den Internationalen Gesundheitsvorschriften aus dem
Jahre 1969 erlassen worden. Seit dieser Zeit hat sich im
Luft- und Schiffsverkehr viel geändert. Früher: Transport von Stückgut, Lagerung in Speichern. Heute: Massengüter und Container, just in time, so schnell wie möglich zum Verbraucher. Auch die Liegezeit der Schiffe
beträgt nur noch einen Bruchteil dessen von 1969. Das
Tempo hat sich erhöht, und große Entfernungen können
schnell überwunden werden. Das bedeutet: Auch wir
müssen schneller werden, was das Erkennen von Gesundheitsgefahren anbetrifft.
Im Gesetzgebungsprozess haben wir auf aktuelle Gefahren reagiert. Wir haben Schlüsse aus der Ehec-Epidemie gezogen. Die Kommunikation zwischen den Kontrollbehörden auf Länderebene sowie dem Robert-KochInstitut auf Bundesebene muss besser werden. Meldefristen haben wir verkürzt, Daten, die gemeldet werden
müssen, konkretisiert, damit das Robert-Koch-Institut
zukünftig schneller und gezielter reagieren kann.
Frau Kollegin Bas, die Kakofonie von selbsternannten Experten kam meistens von der Länderebene; Gurken, Sprossen, Joghurt, alles Mögliche wurde gemutmaßt.
({0})
Den Bundesminister trifft hier überhaupt keine Schuld.
({1})
Nach der Änderung des Infektionsschutzgesetzes im
letzten Jahr ist dies ein weiterer Schritt zu mehr Gesundheitsschutz für unsere Bevölkerung. Unsere Koalition
und unser Minister packen die Probleme im Infektionsschutz an, die vorherige Koalitionen jahrelang ignoriert
haben.
({2})
Die Wünsche und die Hinweise der Bundesländer in
13 Änderungsanträgen haben wir aufgenommen. Weiteren Änderungsbedarf gibt es nicht. Das haben uns auch
die Experten im Ausschuss bestätigt.
Die Opposition sieht das natürlich anders. Die Linke
hat gestern im Ausschuss bemängelt: Auf nukleare Bedrohung wird nicht angemessen eingegangen. Das ist
falsch. In § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzentwurfs geht es
explizit um radionukleare Gefahren. Das Umweltministerium entscheidet, welche Informationen an die Weltgesundheitsorganisation gemeldet werden.
Die Kollegen von den Grünen wie heute wieder Herr
Terpe haben kritisiert, dass im Pandemiefall auch Arzneimittel zur Anwendung kommen können, die in
Deutschland nicht zugelassen sind. Erstens sind die Arzneimittel in ihrem Herkunftsland rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden. Zweitens gilt: Wenn im Pandemiefall viele Menschen sterben und es irgendwo auf der
Welt ein Gegenmittel gibt, dann wäre es unmenschlich,
dies nicht einzusetzen.
Ich glaube, es sind Scheinargumente, damit Sie sich
heute enthalten können. Wir werden dem Gesetzentwurf
auf jeden Fall zustimmen, weil er den Menschen hilft.
Herzlichen Dank.
({3})
Erwin Rüddel hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Vogler, Sie haben die Gesundheitspolitik der Regierung kritisiert. Ich kann nur sagen: Die Regierung macht gute Arbeit. Die Koalition ist gerade in
der Gesundheitspolitik sehr erfolgreich.
({0})
Wir haben viel gemacht,
({1})
zum Beispiel das GKV-Finanzierungsgesetz und das
AMNOG. Wir haben mit dem Infektionsschutzgesetz
und dem Versorgungsstrukturgesetz Zeichen gesetzt, und
wir haben viel vor mit der Pflegeversicherung und dem
Patientenrechtegesetz.
({2})
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Wir werden
uns heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf befassen, der nationale Regelungen zur Umsetzung der Internationalen Gesundheitsvorschriften beinhaltet. Wir legen die fünf Häfen und fünf Flughäfen fest, an denen die
von der IGV geforderten Kapazitäten für den Gesundheitsschutz vorhanden sein müssen, um im internationalen Handels- und Reiseverkehr auftretende Gesundheitsgefahren besser abwehren zu können. Wir lösen deshalb
drei veraltete Rechtsverordnungen ab und nehmen Änderungen am Infektionsschutzgesetz sowie am Arzneimittelgesetz vor.
Eine zentrale Komponente der IGV ist die Schaffung
eines umfassenden internationalen Meldesystems zwischen den Vertragsstaaten und der WHO. Mit seiner
Hilfe sollen außergewöhnliche Ereignisse, die zu einer
gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite
führen können, so früh wie möglich erkannt werden.
Folgerichtig sieht der Gesetzentwurf deshalb vor, dass
zum Schutz vor einer grenzüberschreitenden Ausbreitung von bedrohlichen Krankheiten in ausgewählten
Flughäfen und Seehäfen besondere Maßnahmen getroffen werden, um Gesundheitsgefährdungen durch den internationalen Handels- und Reiseverkehr abzuwenden.
Dazu verkürzen wir vor allem die Meldewege.
Nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der Erfahrungen mit der Ehec-Epidemie im vergangenen Jahr sorgen
wir dafür, dass das Robert-Koch-Institut künftig schneller informiert wird und Diagnosen von meldepflichtigen
Erkrankungen in Zukunft innerhalb von 24 Stunden beim
Gesundheitsamt vorliegen müssen. Darüber hinaus stellen wir im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes mit
Blick auf das Meldewesen die Weichen für eine moderne
Informationstechnik.
Das alles dient dem besseren Schutz der Bevölkerung.
Unabhängig davon führen Bund und Länder entsprechend dem Auftrag der Konferenz der Gesundheits- und
Verbraucherschutzminister noch eine Ehec-Evaluation
durch. Aus heutiger Sicht wird sich daraus aber keine
weitere Änderung im Infektionsschutzgesetz ergeben.
Mit dem Infektionsschutzgesetz haben wir bereits vor einem knappen Jahr überzeugende Standards für den Patientenschutz gesetzt.
Noch eine letzte Anmerkung zu Ehec: Die bundesweit
rund 2 500 Beschäftigten in Gemüseanbaubetrieben, die
Sprossen und Keimlinge zum Rohverzehr produzieren,
müssen künftig alle zwei Jahre über Tätigkeits- und Beschäftigungsverbote belehrt werden. Die sonstigen Änderungen im Infektionsschutzgesetz und im Arzneimittelgesetz gelten vor allem der Intensivierung der RötelnÜberwachung, der besseren Zusammenarbeit zwischen
den Gesundheitsämtern und den für die Lebensmittelüberwachung zuständigen Behörden sowie der Neufassung des § 79 Arzneimittelgesetz für den Fall einer Pandemie.
Wir haben uns sehr sorgfältig mit den Vorschlägen
des Bundesrates befasst und diese dort berücksichtigt
und übernommen, wo es in der Sache sinnvoll und angebracht war. Die Forderung des Bundesrates, der Bund
solle die Kosten für das Vorhalten der Kapazitäten für
den Gesundheitsschutz an Häfen und Flughäfen tragen,
war allerdings schon aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen. Für die öffentliche Gesundheit sind die
Länder zuständig.
Das Gesetz sieht eine sachgerechte und ausgewogene
Kostenverteilung zwischen den betroffenen Ländern und
den Betreibern der Flughäfen und Häfen vor. Zudem
werden den Ländern im Einzelfall keine Vorgaben für
die Umsetzung gemacht, solange sie die völkerrechtlichen Voraussetzungen einhalten.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu einigen
grundrechtsrelevanten Beschränkungen in den Durchführungsvorschriften dieses Gesetzes. Sie sind zulässig,
weil sie durch das öffentliche Interesse an einem effektiven Gesundheitsschutz gerechtfertigt sind. Das Gemeinwohl muss den Vorrang vor dem Interesse von individuellen Reisenden, von Flug- und Schiffskapitänen oder
der Betreiber von Flug- und Seehäfen haben. Gleiches
gilt für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch die Ermittlung und Speicherung personenbezogener Daten durch Bundes- und Landesbehörden. Auch diese Eingriffe sind gerechtfertigt, wenn sie
unerlässlich für die Verhütung und Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Gesundheit sind.
Die Umsetzung der Internationalen Gesundheitsvorschriften in nationales Recht ist ein notwendiger Beitrag
zum Gesundheitsschutz auf weltweiter Ebene. Funktionsfähige Meldewege sowie die Vernetzung von gesundheitsrelevanten Informationen spielen international
eine immer bedeutendere Rolle. Das gilt erst recht im
Hinblick auf neue Krankheitserreger, auf die rasante
Globalisierung des Handels und die zunehmende Mobilität der Menschen in allen Regionen der Erde.
Indem wir die Internationalen Gesundheitsvorschriften an die aktuellen Erfordernisse anpassen, verbessern
wir den Schutz vor der grenzüberschreitenden Ausbreitung von Infektionen und Gesundheitsgefahren. Das ist
nicht zuletzt auch ein wichtiger Beitrag für die Sicherheit unserer Bevölkerung und zum Patientenschutz auf
nationaler Ebene.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften und
zur Änderung weiterer Gesetze. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Drucksache 17/8615, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7576 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in seiner Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte ich,
das mit dem Handzeichen deutlich zu machen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben sich enthalten. Gegenstimmen gab es nicht.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen stehen bitte auf, die
zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung
des Rechtsschutzes im Wahlrecht durch Einführung der Sonneborn-Regelung
- Drucksache 17/7848 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch,
dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Am 17. Juli 2009 entschied der Bundeswahlausschuss, die Partei „Die Partei“ mit dem Vorsitzenden
Martin Sonneborn nicht zur Wahl zum 17. Deutschen
Bundestag zuzulassen. Der Bundeswahlausschuss versagte ihr die Anerkennung als Partei. Nicht als Partei anerkannt zu sein, bedeutet bei uns, dass man nicht an der
Wahl teilnehmen kann. Gegen diese Entscheidung gibt
es kein Rechtsmittel. Somit konnten Martin Sonneborn
und „Die Partei“ nicht zur Bundestagswahl antreten.
Was daraus folgt, ist: Wie wir sehen, ist Rechtsschutz
erst nach der Wahl, aber nicht vor der Wahl möglich. Mit
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf will die Linke
diesen unhaltbaren Zustand beenden und den Rechtsschutz im Wahlrecht stärken.
({0})
Unser konkreter Vorschlag sieht vor, dass eine Partei,
soweit sie vom Bundeswahlausschuss nicht als Partei zugelassen wird, zum Bundesverfassungsgericht gehen
kann und dass für den Fall, dass ein Kreiswahlvorschlag
oder Landeslisten nicht zugelassen werden, der Gang zu
den Verwaltungsgerichten eröffnet wird. Vor dem Hintergrund des von uns angeführten Falls haben wir diese
Regelung „Sonneborn-Regelung“ genannt.
({1})
Um auf den konkreten Fall zurückzukommen, könnte
man sagen: Shit happens!
({2})
Was interessiert uns die Möglichkeit, Martin Sonneborn
zu wählen? Oder: Für Spaß in der Politik stehen wir
nicht zur Verfügung. - Aber die OSZE entsandte Beobachter zur Wahl zum 17. Deutschen Bundestag. Diese
verfassten einen Bericht, in dem unter anderem empfohlen wird - ich zitiere -:
zumindest einige grundlegende Entscheidungen,
wie die Anerkennung von Vereinigungen als Parteien oder die Kontrolle von ablehnenden Entscheidungen zu Kreiswahlvorschlägen und Landeslisten,
einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle vor der
Wahl zuzuführen.
Die Linke hat sich bei dem vorgelegten Gesetzentwurf von folgenden Gedanken leiten lassen:
Die Parteien haben in Art. 21 Grundgesetz einen besonderen Schutz erhalten. Mit diesem Schutz ist es einfach nicht vereinbar, dass ein rein exekutives Organ, zusammengesetzt durch die Konkurrenten, nämlich die im
Bundestag schon vertretenen Parteien, über die Parteieigenschaft entscheidet - diese Eigenschaft ist Voraussetzung, um an der Wahl teilzunehmen - und dass es
dann keinen Rechtsschutz gibt. Wir finden, das ist mit
dem Gedanken der Demokratie und mit dem besonderen
Schutz von Parteien nicht vereinbar.
({3})
Der Parteienrechtler Martin Morlok
({4})
hat in der Zeit vom 31. Juli 2009 erklärt, dass er dies für
einen verfassungswidrigen Zustand hält, und in diesem
Fall stimme ich ihm zu.
({5})
Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Frage der Zulassung einer Partei ist im Übrigen der Spielraum, den
§ 2 Abs. 1 Parteiengesetz für die Definition von „Partei“
lässt. Da geht es um das Gesamtbild der tatsächlichen
Verhältnisse - Umfang und Festigkeit der Organisation -, die Zahl der Mitglieder, das Hervortreten in der
Öffentlichkeit und - Achtung! - die Gewähr für die
Ernsthaftigkeit der Zielsetzung. Spätestens das letzte
Kriterium dürfte dem Grundsatz der Normenklarheit widersprechen und ist willkürlich. Wer bitte entscheidet
über Ernsthaftigkeit und Unernsthaftigkeit? Warum sollen die Wählerinnen und Wähler nicht das letzte Wort
haben? Ehrlich gesagt: Bei so manchem Beitrag von
Mitgliedern dieses Hauses wartet man am Ende auf ein
„Helau!“ oder „Alaaf!“, und man weiß gar nicht, ob man
lachen oder heulen soll.
({6})
Deshalb muss man sicherlich auch an das Parteiengesetz
heran.
Sicherlich gibt es im Hinblick auf den Rechtsschutz
noch viel mehr zu klären. Denkbar wäre beispielsweise
eine Debatte über die Zusammensetzung der Wahlausschüsse. Doch da uns bei unserem letzten Gesetzentwurf
zum Wahlrecht Überfrachtung vorgeworfen worden ist,
haben wir den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf bewusst
schmal gehalten,
({7})
um wenigstens das Notwendigste vor der nächsten Bundestagswahl sicherzustellen. Deshalb können Sie diesmal doch auch zustimmen.
({8})
Werte Kollegin, ich bin ja froh, dass Sie bei Ihrer ironischen Bemerkung über das Niveau der Debatten keine
Namen genannt haben, aber dann wäre es wahrscheinlich etwas witziger geworden.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Günter Krings für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Tat, wir diskutieren ein bedeutendes, ein
wichtiges Thema. Es geht ausweislich auch der Überschrift Ihres Gesetzentwurfs um die Stärkung des
Rechtsschutzes im Wahlrecht. Allerdings, Frau Kollegin,
ist das eine derbe Untertreibung. Sie untertreiben nämlich deshalb, weil es im Wahlrecht zurzeit überhaupt keinen Rechtsschutz im Sinne von subjektivem Rechtsschutz gibt. Da, wo nichts ist, kann auch nichts gestärkt
werden. Insofern geht es um die Einführung eines subjektiven Rechtsschutzes.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr
Voßkuhle, hat das in einer Besprechung letztens sehr
prägnant, aber auch etwas sarkastisch so zusammengefasst: Das System sei deshalb derzeit konsistent, weil es
vor der Wahl keinen Rechtsschutz gebe und danach auch
nicht. - Meine Damen und Herren, wir sind uns daher einig, dass es an der Stelle Handlungsbedarf gibt. Es ist
durchaus zu würdigen, dass die Fraktion der Linken sich
dieses Themas annimmt. Wir erleben die Linken heute in
einer ganz neuen Rolle. Normalerweise kennen wir sie,
wie sie mit dem Kopf gegen die Wand rennen; heute rennen sie offene Türen ein. Denn die CDU/CSU-Fraktion,
die FDP-Fraktion, die SPD-Fraktion und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen des Deutschen Bundestages befinden sich seit etwa einem Jahr in intensiven Gesprächen über die Möglichkeit, einen Wahlrechtsschutz einzuführen. Unsere Überlegungen sind auch schon relativ
weit gediehen. Es gibt sehr fruchtbare, sehr konstruktive
Gespräche. Ich will ausdrücklich die Anwesenden erwähnen: den Kollegen Montag, den Kollegen Wiefelspütz;
Herr Ruppert ist heute leider verhindert.
({0})
Diese guten Gespräche werden unter allen Parteien dieses Hauses, die an konstruktiver Zusammenarbeit interessiert sind, auch weiterhin gut gedeihen.
Wir sind in dem Willen vereint, diese Rechtsschutzlücke zu schließen, die in einem Staat besteht, der eigentlich sonst kaum Rechtsschutzlücken aufweist. Darauf
sind wir stolz. Wir haben einen umfassenden Rechtswegestaat. Wenn Sie noch einmal die Debatte vom 30. Juni
letzten Jahres nachlesen, sehen Sie, dass alle Fraktionen
des Bundestages sich darauf bezogen haben.
Das Wahlrecht ist das vornehmste Bürgerrecht. Der
Bürger hat daher nicht nur Anspruch darauf, dass es ihm
per Gesetz eingeräumt wird, sondern auch darauf, dass
er es durchsetzen kann, wenn es ihm im Einzelfall vorenthalten wird. Allerdings warne ich an dieser Stelle davor, unser bisheriges Wahlrecht einschließlich des Wahlverfahrensrechts schlechtzureden. Auch ohne subjektiven Rechtsschutz gab es in über 60 Jahren Bundesrepublik eigentlich keinen ernsthaften Zweifel an der Integrität unseres Wahlrechts.
({1})
Es gibt gewissenhaft arbeitende Beamte und ehrenamtliche Wahlhelfer, die gute Arbeit leisten, gerade die Ehrenamtler. Auch der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages leistet gute Arbeit. Außerdem gibt es
eine Reihe wohlabgewogener Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Wahlprüfungssachen.
Meine Damen und Herren, jedenfalls seit 1990 finden
auf deutschem Boden nur noch freie und faire Wahlen
statt. Darüber wachen übrigens auch die mündigen Bürger unseres Staates, die Manipulationen und Unregelmäßigkeiten gar nicht durchgehen lassen würden. Es ist
auch kein Zufall, dass einer der wesentlichen Momente,
die den Anfang vom Ende des Nichtrechtsstaates DDR
einläuteten, die gefälschten Kommunalwahlen 1989 waren. Diese waren mit Auslöser für die friedliche Revolution, die wir erlebt haben. Das zeigt, dass die Menschen
in diesem Lande Wahlen ernst nehmen. Ein wenig ist es
vielleicht auch Ausdruck einer gewissen Bußarbeit der
Linken aufgrund ihrer Vergangenheit als DDR-Staatspartei, dass sie gerade das Thema Wahlrechtsschutz aufgreifen. Dagegen ist im Grunde auch nichts einzuwenden; denn nicht nur im Himmel herrscht bekanntlich
mehr Freude über einen, der Buße tut, als über 99 Gerechte.
({2})
Meine Damen und Herren, die Linke - das ist das
Traurige an diesem Vorschlag - präsentiert heute leider
ein sehr dürftiges Machwerk. Man kann nicht sagen:
Weil uns schon einmal vorgeworfen worden ist, wir hätten etwas überfrachtet, machen wir jetzt ganz wenig. Ihr Gesetzentwurf ist das beste Beispiel dafür, dass wir
als Koalitionsfraktionen richtig gehandelt haben, als wir
im letzten Jahr nicht versucht haben, dieses Thema in die
Wahlrechtsreform zu packen. Denn es ist eine anspruchsvolle und komplexe Aufgabe, nach über 60 Jahren den Wahlrechtsschutz zu verankern. Ich muss Ihnen
leider sagen: Sie haben diese Aufgabe nicht erfüllt; denn
Sie haben wichtige Themen an vielen Stellen entweder
nur angetippt oder komplett ignoriert. Ich will das ganz
kurz an sieben Punkten verdeutlichen; meine Redezeit
lässt das erfreulicherweise zu.
Erstens. Fristen werden bei Ihnen unverantwortlich
knapp gesetzt. Ich nenne als Beispiel die Fristen für die
Entscheidung über die Nichtzulassung von Kandidatenvorschlägen oder Landeslisten. Der gesamte Rechtsschutz soll zwischen dem 44. und dem 32. Tag vor der
Wahl ablaufen. „Gesamter Rechtsschutz“ heißt bei Ihnen: vor der Wahl Verwaltungsgerichtsbarkeit, Berufungsinstanz, vielleicht noch Bundesverwaltungsgericht,
und dann gibt es wahrscheinlich - das werden Sie nicht
ernsthaft ausschließen wollen - auch noch die Möglichkeit, das Ganze vor das Bundesverfassungsgericht zu
bringen, wohlgemerkt alles innerhalb von zwölf Tagen,
einschließlich aller Schriftsätze, mündlichen Verhandlungen usw. Das ist einfach unrealistisch. Im Ergebnis
würde das nicht zu einem echten Rechtsschutz führen,
sondern zu Chaos. Es würde den Wahltag und den ganzen Wahlvorgang gefährden, auch hinsichtlich seiner
Akzeptanz.
Zweitens ignoriert Ihr Vorschlag vollkommen die
Konstellation einer vorgezogenen Bundestagswahl, die
ja gelegentlich vorkommt. Dafür gibt es nach Art. 39
Abs. 1 Satz 4 GG ganz konkrete Fristen: 60 Tage haben
wir dafür Zeit. Außerdem gibt es noch viel engere Fristen. Sie sagen nichts dazu, wie Sie mit diesem Problem
umgehen wollen. Hier wird vollends deutlich: Das, was
Sie vorschlagen, ist nicht praxisgerecht.
Dritter Punkt: Da der Rechtsschutz nur vor der Wahl
gewährt wird, auch noch aufgeteilt zwischen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit, muss es zwangsläufig zu divergierenden Entscheidungen kommen. Das
schafft besondere Problemstellungen.
Vierter Punkt: Sie haben - zwar in Ihrer Rede, aber
nicht in Ihrem Gesetzentwurf - nicht die Frage der Zusammensetzung der Wahlausschüsse angesprochen. Ich
glaube, man könnte mit einigen kleineren Änderungen
einiges entschärfen, zum Beispiel indem man auch im
Bundeswahlausschuss und in den Landeswahlausschüssen auf richterliche Kompetenz zurückgreifen würde.
Das werden wir noch im Einzelnen durchdenken und zügig vorschlagen.
Der fünfte Punkt: Es ist wirklich unglaublich, mit
welcher Nonchalance Sie über die verfassungsrechtlichen Probleme hinweggehen. Es reicht nicht aus, in dem
Gesetzentwurf gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu polemisieren, sondern Sie müssen sich doch zumindest auch damit auseinandersetzen,
ob das Ganze eine Verfassungsänderung voraussetzt
oder nicht. Vielleicht kann man sogar zu dem Ergebnis
kommen, sie sei nicht notwendig - was ich sehr anzweifle -; aber in der Begründung des Gesetzentwurfes
gar nichts dazu zu sagen, ist handwerklich wirklich nicht
mehr akzeptabel.
Sechstens. Es gibt weitere handwerkliche Mängel
- nur colorandi causa -: Ganz treuherzig wird in Ihrem
Entwurf § 29 des Bundeswahlgesetzes geändert - eine
Fristenregelung. Sie haben offenbar übersehen, dass dieser § 29 im letzten Jahr aus dem Bundeswahlgesetz gestrichen worden ist.
({3})
Irgendwo schade, vielleicht kann man das künftig etwas
gründlicher machen.
({4})
- Ich würde dazu auch gerne eine Zwischenfrage zulassen.
Sehr gut, Sie haben es entdeckt. - Bitte schön, Kollegin Wawzyniak.
Herr Kollege Krings, wir haben den Gesetzentwurf
eingebracht, als die Änderung des Bundeswahlgesetzes
noch nicht veröffentlicht war, und uns deshalb an dieser
Stelle auf das noch geltende Gesetz bezogen. Wenn Sie
sich das Einreichungsdatum unseres Gesetzentwurfes
anschauen und schauen, wann das neue Wahlrecht in
Kraft getreten ist, würden Sie mir dann zustimmen, dass
unser Gesetzentwurf vor Inkrafttreten der neuen gesetzlichen Regelung eingereicht worden ist?
({0})
Ich weiß ja nicht, wie die Zeitplanung in Ihrer Fraktion normalerweise ist. Aber es war ja absehbar, dass das
Gesetz sehr bald veröffentlicht werden würde. Man hätte
vielleicht noch drei Tage warten können. Man sollte
doch einen Vorschlag machen, der auf dem basiert, was
zum Zeitpunkt der Debatte gültig ist. Da haben Sie, jedenfalls meines Erachtens, ein schlechtes Zeitmanagement bewiesen.
Wenn Sie von meinen vielen Kritikpunkten einen halben relativieren wollen, dann gestehe ich Ihnen das
gerne zu. Ich glaube, es bleiben noch so viele Mängel
übrig, dass wir nicht weiter ernsthaft über die Qualität
Ihres Entwurfes reden müssen. Sie hätten an der Stelle ja
zumindest noch eine Änderung anbringen können. Aber
vielleicht haben Sie auch nicht damit gerechnet, dass
das, was wir beschließen, wirklich ins Bundesgesetzblatt
kommt. Verfassungsgemäß passiert das aber normalerDr. Günter Krings
weise so bei Gesetzen. Gehen Sie davon aus, dass, wenn
der Bundestag ein Gesetz beschließt und der Bundesrat
jedenfalls keinen Einspruch erhebt, es dann nachher
auch im Bundesgesetzblatt so veröffentlicht wird. So
steht es jedenfalls im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
Vielen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, ein weiterer handwerklicher Mangel: § 48 a des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - wohlgemerkt: das haben wir zwischenzeitlich
nicht geändert - soll bei Ihnen heißen - ich zitiere wörtlich -: Bei einer begründeten Beschwerde ist „die Vereinigung für den Wahltag als politische Partei anzuerkennen“. Was heißt das denn jetzt? Für den Wahltag? Da
dürfte es ja ein bisschen zu spät sein, um irgendwelche
Wahlvorschläge einzureichen. Dann müsste sie schon für
den gesamten Wahlvorgang als politische Partei anerkannt werden - für den Wahltag ist es, glaube ich, etwas
zu spät. Auch das hätte man sicherlich sehr viel klarer
und vor allem richtiger formulieren können.
Siebtens. Der schlimmste Mangel Ihres Gesetzentwurfs ist aber ein ganz anderer. Am schlimmsten ist,
dass dieser Gesetzentwurf den Wahlrechtsschutz ausschließlich zugunsten der Parteien und Kandidaten aus
der Perspektive der Parteien angeht. Die Interessen der
Wähler kommen bei Ihnen überhaupt nicht vor. Das
Wahlrecht ist aber, jedenfalls aus meiner Sicht, in erster
Linie das Recht des Bürgers, des Wählers und in zweiter
Linie meinetwegen das Recht der Parteien. So herum
muss das behandelt werden.
({1})
Dass eine Partei mit dem Denken und vielleicht auch
der Geschichte der Linken das vielleicht umgekehrt
sieht, dass sie die Partei stärker in den Mittelpunkt stellt
als den Menschen, das mag ja alles sein;
({2})
das ist auch ihr gutes Recht. Das ist aber kein guter Ratgeber bei der Einführung eines subjektiven Rechtsschutzes in Wahlsachen.
Wir wollen dagegen ein Rechtsschutzkonzept, das im
Wege der einzig praktikablen Rechtskontrolle, nämlich
der nachträglichen Rechtskontrolle,
({3})
einen wirksamen Schutz für den Wahlbürger und nicht
nur für die Parteien bietet, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, wir - und das sage ich ausdrücklich; ich glaube, das darf ich - von Union, SPD,
FDP und Grünen wollen daher in den nächsten Wochen
- so jedenfalls unsere feste Absicht - einen ausgewogenen, praktikablen und verfassungskonformen Entwurf
vorlegen und eben keinen Schnellschuss, wie wir ihn
heute hier zu behandeln haben.
Ich muss schon sagen: Beim zweiten Lesen Ihres
Antrags habe ich hinsichtlich der Ernsthaftigkeit Ihres
Anliegens Zweifel bekommen. Dass Sie mit diesem
Thema nicht ernsthaft umgehen, wird noch durch die
einleitende Bemerkung in Ihrer Rede über die sogenannte Sonneborn-Regelung unterstrichen und hat sich
sozusagen bis in die Überschrift Ihres Gesetzentwurfs
durchgefressen, in der es heißt: „… durch Einführung
der Sonneborn-Regelung“.
Ich gebe gerne zu, dass ich mit diesem Namen zunächst nichts anfangen konnte.
({4})
Man muss der deutschen Öffentlichkeit sagen, dass es
sich bei Herrn Sonneborn um den Gründer einer Vereinigung, vorgeblich einer Partei mit dem Namen „Die Partei“, handelt. Indem Sie ihn sozusagen zum Kernanliegen Ihres Gesetzentwurfs einschließlich der Überschrift
machen, erweist die Linke meines Erachtens einer Klamaukveranstaltung eine unverdiente Ehre. Denn dieser
sogenannten Partei geht es offenbar nicht um einen
ernsthaften Beitrag zu unserer Demokratie, sondern um
das Lächerlichmachen unserer Demokratie.
({5})
Während in anderen Teilen der Welt auch in diesen
Stunden Menschen ihr Leben für Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit einsetzen, soll hier unsere Demokratie und ihr Herzstück, der Wahlvorgang, dem Zynismus
preisgegeben werden. Das ist ein Schlag ins Gesicht all
derjenigen, die sich 1989/90 im östlichen Teil Deutschlands
({6})
gegen Ihre Vorgängerpartei
({7})
- gegen die identische Partei - mutig für freie Wahlen
eingesetzt haben. Denn eine der zentralen Aussagen der
sogenannten Partei von Herrn Sonneborn ist die Ablehnung der Wiedervereinigung unter dem Slogan „Mauerbau war schlau“.
({8})
Für diese Partei ergreifen Sie Partei.
Ich will mich hier nicht zur Richtigkeit der Entscheidung des Bundeswahlausschusses über diese Partei äußern. Ich weiß auch nicht, ob Sie mit der Hofierung der
Sonneborn-Partei auf Befindlichkeiten in Ihrer eigenen
Partei Rücksicht nehmen. Es gibt bei Ihnen offenbar
noch viele, die das ähnlich sehen, die den Mauerbau
auch ganz gut finden und die die Wiedervereinigung
nicht so toll fanden.
({9})
Das Problem ist doch, dass Sie dem gemeinsamen
Anliegen, einen Rechtsschutz einzuführen, einen Bären18910
dienst erweisen. Sie befrachten Ihren Gesetzentwurf mit
einer ganz unnötigen Überschrift und unnötigen Punkten, die uns von dem hoffentlich gemeinsamen Anliegen
abbringen, einen Rechtsschutz in Wahlsachen einzuführen. Das ist das eigentlich Unnötige und Schädliche an
Ihrem Gesetzentwurf und seiner Überschrift.
Wir brauchen vielmehr praxisnahe Vorschläge, die
auch dem Wähler einen Rechtsschutz geben und nicht
nur den Parteien. Dieser Rechtsschutz darf eben nicht
dazu führen, dass der Wahltermin als solcher auf einmal
gefährdet wird oder dass wegen nach hinten verschobener Fristen zum Beispiel Briefwähler nicht mehr an der
Wahl teilnehmen können. Genau das wäre wahrscheinlich das Ergebnis Ihrer Vorschläge; vielleicht wollen Sie
das sogar. Einen soliden Vorschlag werden die vorhin
genannten Fraktionen in Kürze vorstellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Rechtsschutz bei der Bundestagswahl ist uns allen wichtig.
Noch wichtiger ist in einer Demokratie aber, dass Wahlen überhaupt stattfinden und in einem geordneten Verfahren ablaufen können. Genau vor dieser Aufgabe versagt der Gesetzentwurf der Linken.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen heute erneut eine Auseinandersetzung über Wahlrechtsfragen. Eine Auseinandersetzung,
in der es um das Thema Negatives Stimmgewicht ging,
liegt schon hinter uns. Darüber wird letztlich vom Bundesverfassungsgericht entschieden.
Herr Krings, damals war aber schon klar, dass es über
andere Themen, gleichwohl sie regelungsbedürftig sind,
diesen politischen Streit nicht gibt. Wir haben uns sehr
schnell auf Bereiche verständigt, in denen wir streiten
wollen und müssen, und auf Bereiche, in denen wir zu
konstruktiven Gesprächen zusammenfinden sollten. Das
haben wir frühzeitig vereinbart, und es ist in der Tat so
umgesetzt worden.
Es gibt nun diese Gesprächsrunde zwischen der Koalition sowie den Bündnisgrünen und der SPD. Diese
Gespräche sind ausgesprochen aussichtsreich, vernünftig, solide, kollegial und sehr sachorientiert. Wir lernen
dazu; wir lernen voneinander. Ich lerne sogar von Ihnen,
Herr Krings. Das will doch etwas heißen.
({0})
Ich will ausdrücklich loben, dass uns das gelingt. Das
macht deutlich, dass man bei politisch wichtigen Fragen
unseres Verfassungsstaates vorankommen kann, wenn
man es klug anstellt.
Ich bin ganz sicher, dass wir in dieser - wenn Sie so
wollen - Arbeitsgruppe in wenigen Wochen liefern werden. Das wird nicht überragend spektakulär sein, aber es
wird in wichtigen Fragen des Wahlrechts, des Wahlrechtsschutzes, bei denen es Defizite gibt, eine Weiterentwicklung unseres Verfassungsstaates sein. Diese Gespräche haben sogar den Vorteil gehabt, dass wir einen
Weg gefunden haben, um mit dem Bundesverfassungsgericht sehr vernünftig ins Gespräch zu kommen, was
nicht immer gelungen ist. Hier haben wir eine Form des
Austausches gefunden, die beiden Seiten eine große
Hilfe sein kann, ohne zu verpflichten.
Die jetzigen Gespräche - das will ich durchaus sagen,
Herr Krings - haben vielleicht doch einen kleinen Mangel: Die Linkspartei ist nicht dabei. Ich habe keinen
Grund - das sage ich zum wiederholten Male -, zu diesen Menschen besonders nett zu sein. Es wäre aber
- auch vor dem Hintergrund Ihrer Rede, die wir gerade
gehört haben - vielleicht ein Beitrag zur Entspannung
gewesen, wenn man sie dabei gehabt hätte, um die Argumente miteinander auszutauschen.
({1})
Wir - Sie, Herr Krings, andere und auch ich - hätten
schon die Seriosität dieser Veranstaltung sichergestellt.
Frau Wawzyniak hätte die Möglichkeit haben müssen,
ihre Argumente einzubringen. Ich bin, so wie ich die
Kollegin kenne, durchaus der Auffassung, dass wir an
verschiedensten Stellen Schnittmengen erarbeitet hätten.
Ich finde, Herr Krings, Sie verkrampfen zu sehr. Der
Kalte Krieg ist zu Ende, das habe ich jedenfalls gelernt.
({2})
Ich habe neulich einen wunderbaren Film gesehen,
den ich Ihnen nur empfehlen kann: Dame König As
Spion. Es ist die Verfilmung eines Buches meines Lieblingsschriftstellers John le Carré. Es ist wunderbares
klassisches englisches Kino, aber der 60er-, 70er-Jahre.
Sie, Herr Krings - andere auf der anderen Seite auch -,
haben immer noch den Ton der Vergangenheit, immer
noch diese Kämpfe, das Sich-ineinander-Verhakeln, statt
zu gucken, wie wir unseren wunderbaren Verfassungsstaat Deutschland, der weltweit seinesgleichen kaum findet, weiterentwickeln. Ich bin immer wieder erstaunt,
wenn wir von außen, zum Beispiel von der OSZE, kritisiert werden. Unseren Verfassungsstaat wollen wir doch
vernünftig weiterentwickeln. Die Linkspartei ist letztlich
mit eingeladen, im Bereich des Verfassungsstaates Defizite abzustellen, die wir gemeinsam feststellen.
({3})
Wir müssen - Herr Krings, hier sind wir einer Meinung, ich denke, auch überall im Hause - feststellen,
dass wir unterirdische Lücken haben im Bereich des
Wahlrechtsschutzes, insbesondere bei der Zulassung von
Parteien. Es ist eines Staates mit der Qualität, die wir haben, unwürdig, dass wir bei der Statusfrage der Zulassung einer Partei zu einer Wahl ein solches Verfahren
ohne Rechtsschutz haben. Das werden wir jetzt gemeinsam vernünftig lösen. Ich erwarte von der Linkspartei,
dass sie dem, was wir vorlegen werden, zustimmen wird;
denn das ist sehr vernünftig. Es wird ein Beschwerdeverfahren beim Bundesverfassungsgericht geben. Dagegen
werden Sie nichts einzuwenden haben. Das sollten wir
klug und vernünftig machen. Wir werden demnächst
noch einige andere Dinge abschließend besprechen.
Ich glaube, dass ein Teil der Verkrampfungen, die in
der Debatte eine Rolle gespielt haben, zu vermeiden gewesen wäre, wenn wir alle miteinander diskutiert hätten.
Vielleicht kann man in den kommenden Monaten oder
Jahren lernen, dass alle dazugehören, wenn es um elementare Fragen geht wie Wahlrecht und Wahlrechtsschutz. Dort sollten wir bemüht sein, einen möglichst
breiten Konsens zu finden. Ich habe auch an dieser Stelle
die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das noch möglich
sein wird.
Herr Krings hat eine Reihe von Dingen angesprochen,
die, wenn man sie vertieft erörtert, sich sehr schnell,
Frau Wawzyniak, als unpraktikabel herausstellen. Ich
sage das mit allem Respekt. Wir haben Landeswahlleiter
zu uns eingeladen. Das war eine sehr verdienstvolle Sache. Von diesen haben wir sehr viel gelernt. Angesichts
der Pingeligkeit, die uns Deutschen eigen ist, eine Wahl
in Deutschland zu organisieren, ist ein Kunstwerk. Wenn
man in dieses Netz eingreift, muss man sich die Folgen
sehr sorgfältig überlegen. Ich glaube, dass wir das aus eigener Sicht schlecht beurteilen können. Hierzu muss
man die Fachleute aus den Ländern heranziehen. Das haben wir getan und von diesen Menschen eine Menge gelernt.
Ich bedauere, dass Sie nicht die Gelegenheit hatten,
das auch zu lernen, räume aber ein, dass Sie die Chance
haben sollten, das in den kommenden Wochen und Monaten noch hinzuzulernen. Ich hoffe sehr, Herr Krings,
dass in dieser wichtigen Frage zum Schluss alle Fraktionen hinter dem stehen werden, was wir in wenigen Wochen in diesem Hause zur Verabschiedung vorlegen werden.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({4})
Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der subjektive Wahlrechtsschutz muss eingeführt
oder verbessert werden. Daran besteht kein Zweifel. Das
haben wir bisher von allen Seiten gehört. Es freut mich,
dass das Thema heute zu einer etwas prominenteren Tageszeit diskutiert wird. Ob es jedoch so klug war, liebe
Kollegen von den Linken, zu einem so komplexen
Thema nur eine abgespeckte Version vorzulegen, das
wage ich zu bezweifeln.
Zur Bundestagswahl 2009 schickte die OSZE erstmals Wahlbeobachter nach Deutschland. Das ist eigentlich kein spektakulärer Vorgang. Im Abschlussbericht
wurde jedoch festgestellt, dass ein gerichtlicher Rechtsschutz vor der Wahl durchaus notwendig wäre. In diesem Zusammenhang gab es unter anderem den Fall der
Satirepartei „Die Partei“, den Sie so prominent im Titel
Ihres Gesetzentwurfs zitieren. Man kann sich überlegen,
was man von solchen Vereinigungen hält.
({0})
Das ist aber für die Diskussion hier unmaßgeblich; deshalb gehört es eigentlich nicht in den Gesetzentwurf.
Die Vorschläge, die Sie zur Verbesserung des Wahlrechtsschutzes vorbringen, halten wir - das haben auch
Herr Krings und Herr Wiefelspütz gesagt - grundsätzlich für diskussionswürdig; darunter sind durchaus einige richtige Ansätze. Es geht darum, vor den Wahlen
zum Beispiel in Form einer Klage Rechtsschutzmöglichkeiten zu erhalten, so bei der Nichtzulassung von Parteivorschlägen oder von Listenvorschlägen.
Wo diese Klagemöglichkeit dann verortet wird, das
muss sorgfältig diskutiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung wiederholt
ausgeführt, dass Art. 41 des Grundgesetzes als spezielle
Regelung für die Wahlprüfung dem Art. 19 Grundgesetz
vorangeht. Daher sollten wir bei weiteren Überlegungen
dieses Verhältnis genau im Auge behalten.
Des Weiteren wollen Sie eine Klagemöglichkeit gegen die Ablehnung von Kreiswahlvorschlägen und Landeslisten eröffnen. Auch diese Punkte sind grundsätzlich
diskussionswürdig. Allerdings stellt sich uns die Frage,
ob man tatsächlich immer den Klageweg eröffnen muss;
denn die bereits etablierten Möglichkeiten einer Beschwerde gegen die Entscheidung eines Wahlleiters, der
einzelne Kandidaten nicht zulassen will, sollten an dieser Stelle ebenfalls berücksichtigt werden. Es gibt einige
Situationen, bei denen man mittels einer Beschwerde
vorgehen kann.
Insofern kann man auch über Verbesserungen nachdenken, die im Bereich unterhalb der Klageschwelle angesiedelt sind. Beispielsweise wäre - Herr Krings hat es
ebenfalls gesagt - eine Veränderung der Zusammensetzung der Kreis-, Landes- und Bundeswahlausschüsse
denkbar. In den letzten beiden Fällen könnte man einen
oder mehrere Richter an den Sitzungen teilnehmen lassen. Für die Kreiswahlausschüsse könnten Personen mit
Befähigung zum Richteramt in Frage kommen. Diese
Fragen werden die Fraktionen in den nächsten Wochen
vertiefen und - dessen bin ich mir sicher - hierzu auch
zügig Lösungsvorschläge vorbereiten.
Von diesen grundsätzlich richtigen Gedanken abgesehen, gibt es in Ihrem Gesetzentwurf aber auch einige
problematische Stellen. Ich will nicht alle Punkte, die
Herr Krings bereits genannt hat, noch einmal erwähnen,
aber einige, die ich für wirklich problematisch halte,
doch noch einmal ansprechen.
Die Frist, die Sie in Ihrem Entwurf dem Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Nichtzulassung einer Partei setzen wollen, ist sicherlich zu kurz.
Elf Tage wollen Sie dem Bundesverfassungsgericht für
die Entscheidung auf dem Gerichtsweg geben. Das wird
mit Sicherheit nicht ausreichen. Ich denke, dass wir hier
deutlich mehr Zeit benötigen; allein schon für das reine
Verfahren, aber natürlich auch für eine substanzielle Prüfung.
Sie dürfen diese Fristen vor allem deshalb nicht so
kurz setzen, weil Sie dadurch den Wahlrechtsschutz insgesamt aufweichen. Der Fristenplan insgesamt muss genau unter die Lupe genommen werden. Die Fristen sind
derzeit sehr eng gestaffelt und aufeinander abgestimmt.
Innerhalb der vorhandenen Fristen gibt es eigentlich fast
keinen Spielraum für eine mögliche Klage. Die Erweiterung des Fristenplans würde dem Bundesverfassungsgericht letztlich mehr Zeit geben, eine Entscheidung zu
treffen.
Beispielsweise könnte die Frist für die Anzeige einer
Wahlbeteiligung um mindestens eine Woche vorgezogen
werden. Derzeit ist der 90. Tag vor der Wahl vorgesehen.
Ich halte es für denkbar, dass diese Frist vorgezogen
wird. Dann würde der enge Zeitplan vor der Wahl entzerrt werden.
({1})
Die Verlängerung der Fristen ist auch dann wichtig,
wenn man die Fälle der Kreiswahlvertreter und der Landeslisten wirklich noch vor der Wahl überprüfen lassen
möchte.
Es geht nicht nur um ein Thema - Herr Krings hat das
weiter ausgeführt -, sondern um mehrere Themen. Das
Thema der vorgezogenen Neuwahlen muss zumindest
behandelt werden; dazu haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf gar nichts. Sie wissen: Das Bundesministerium des
Innern ist gemäß § 52 Abs. 3 Bundeswahlgesetz ermächtigt, die Fristen bei einer vorgezogenen Neuwahl eigenständig abzukürzen. Was muss man da machen? Was soll
man da tun? Sollen da für Wahlklageverfahren die gleichen Fristen gelten oder kürzere? Muss man die 60-TageFrist ändern? Ihr Entwurf liefert leider überhaupt keine
Antworten darauf.
Noch einmal: Die Grundausrichtung Ihres Gesetzentwurfs ist richtig; das ist unstreitig. Alle anderen Fraktionen bereiten schon einen entsprechenden Entwurf vor.
Insofern werden die christlich-liberale Koalition und die
Oppositionsfraktionen in den nächsten Wochen sicherlich einen Entwurf zur Verbesserung des Wahlrechtsschutzes vorlegen. Es ist in unser aller Interesse, weil es
in der Demokratie enorm wichtig ist, dass die Bürger, die
Beteiligten in einer Demokratie, einen Rechtsschutz
haben und ihre Interessen ausreichend berücksichtigt
werden. Spätestens seit dem Bericht der OSZE von 2009
haben wir hier Nachholbedarf. Wir sind dabei; es wird in
den nächsten Wochen sicherlich etwas geben. Ich freue
mich auf die Zusammenarbeit mit den anderen Fraktionen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Wawzyniak, ich finde es völlig in Ordnung und richtig, dass Sie sich mit der Reform des
Rechtsschutzes im Wahlrecht beschäftigen und einen
Gesetzentwurf vorlegen. Was ich Ihnen übel nehme, ist,
dass Sie Ihr Unterfangen zu einer Titanic-Werbeveranstaltung machen.
({0})
Es wäre nicht nötig gewesen, aber Sie haben Ihre Vorlage vorsätzlich als „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahlrecht durch Einführung der Sonneborn-Regelung“ bezeichnet. Eine solche
Titulierung eines Gesetzentwurfs habe ich in diesem
Hohen Hause noch nie erlebt.
({1})
Wenn man weiß, dass Herr Sonneborn die Federführung
bei der Titanic hat und auch die Titanic-Werbepartei
gegründet hat, ist es völlig klar, dass Ihr Gesetzentwurf
tatsächlich eine Titanic-Werbeveranstaltung ist. Das ist
auch ganz okay und lustig, vielleicht auch gar nicht so
staatszersetzend, wie der Kollege Krings meint; aber
unangemessen für die Behandlung der Reform des
Wahlrechts ist es schon.
({2})
Der zweite Punkt, den ich Ihnen übel nehme, ist, dass
Sie in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs so tun, als
ob die OSZE die Wahlen zum Deutschen Bundestag
2009 hätte beobachten müssen, weil die Titanic-Werbepartei nicht zur Wahl zugelassen worden ist. Das entspricht eindeutig nicht der Wahrheit.
({3})
Die Bundesrepublik Deutschland hat die OSZE eingeladen, damit nicht der Eindruck entsteht, es würden immer
nur die Wahlen in Russland und anderswo überwacht.
Nein, auch Wahlen in demokratischen Staaten sollen von
der OSZE beobachtet werden. Tatsächlich hat die OSZE
in dem Bericht, der mir hier vorliegt, völlig zu Recht das
Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland gelobt und
lediglich an einem einzigen Punkt zu bedenken gegeben,
dass man vielleicht über eine Verbesserung nachdenken
sollte. Das ist auch richtig; das tun wir gemeinsam. Wir
wollen den Rechtsschutz tatsächlich auch bei der Bundestagswahl verbessern. Die Bemerkungen in der
Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf, in Deutschland
würden Parteien nicht zugelassen, internationale Organisationen müssten eingreifen, um von außen für Demokratie in Deutschland zu sorgen, haben einen Unterton,
den ich für völlig unangemessen halte. Das sollten Sie
lassen.
({4})
Meine Damen und Herren, Tatsache ist allerdings
auch, dass der frühere Bundesinnenminister de Maizière
im Januar 2010 der OSZE geschrieben hat, dass die Bundesregierung diese Anregung aufnehmen und einen Vorschlag machen wird. Aber die Bundesregierung hat
nichts getan.
({5})
Wahr ist auch, dass der erste Ausschuss im Juni 2011 mit
Zustimmung aller Fraktionen beschlossen hat, die Bundesregierung aufzufordern, etwas in dieser Sache zu
unternehmen. Geschehen ist nichts. Wahrscheinlich hat
die Bundesregierung das alles aus lauter Hochachtung
vor dem Hohen Haus unterlassen.
({6})
Deswegen ist es richtig, dass wir die Sache jetzt selbst in
die Hand nehmen und die Reform mit eigenen Kräften,
eigenen Gedanken und mit einem eigenen Gesetzentwurf voranbringen.
Herr Kollege Krings hat zu den Kritikpunkten, die es
am vorliegenden Gesetzentwurf gibt, alles Notwendige
gesagt. Ich will hinzufügen: Sie können nicht die Frist
von 90 Tagen beibehalten und in diesen 90 Tagen für
Tausende von Wahlkreisbewerbern und für Hunderte
von Landeslisten einen vierstufigen Rechtsschutz einführen. Das würde zu einer Chaotisierung der Bundestagswahl führen. So können Reformen nicht durchgeführt werden.
({7})
Ich finde es schade, meine Herren von der Koalition,
dass Frau Wawzyniak für die Linke an unseren Gesprächen nicht teilnehmen kann. Ich bitte Sie, sich das noch
einmal zu überlegen. Wir sind mit unseren Gedanken
noch nicht am Ende. Uns fällt kein Zacken aus der
Krone, auch Ihnen nicht, Herr Kollege Krings, wenn wir
Frau Kollegin Wawzyniak zu den nächsten Veranstaltungen hinzubitten. Sie kann bei uns nur dazulernen.
Danke.
({8})
Ich beende die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7848 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Verfahren gegen deutsche politische Stiftung
einstellen - Demokratisierungsprozess in
Ägypten fortsetzen
- Drucksache 17/8578 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle in
diesem Hause kennen die Arbeit der deutschen politischen Stiftungen. Sie haben sich in verschiedenen Ländern der Welt als segensreich erwiesen. Wir alle haben
noch den großen Erfolg des Transformationsprozesses in
Portugal und Spanien nach dem Ende der Diktaturen im
Gedächtnis.
Wir müssen allerdings zur Kenntnis nehmen, dass wir
weltweit beobachtet und misstrauisch beäugt werden - so
ist es nun einmal -: selbst von einem lupenreinen Demokraten in unserer europäischen Nachbarschaft, von manchen Demokratien, die zwar Wahlen kennen, aber keine
ausgebildeten Zivilgesellschaften haben und nationales
Interesse mit der Unterbindung von Kritik gleichsetzen.
Man beobachtet misstrauisch die Arbeit von Stiftungen
nach dem Motto: Das sind westliche Systeme, das sind
westliche Vorurteile, das sind westliche Werte, die wir
bei uns nicht unbedingt brauchen.
Ich will für alle Stiftungen vorab sagen: Wir vertreten
kosmopolitische Weltbürgerwerte, wir vertreten Menschenrechte, und wir vertreten in jeder Arbeit die Charta
der Vereinten Nationen, die von allen Ländern, in denen
wir arbeiten, unterzeichnet worden ist. Das ist kein westliches Vorurteil. Es ist auch nicht so - wie manche in
Asien behaupten -, dass das erst dann den Menschen
zuteil werden kann, wenn man ein bestimmtes wirtschaftliches Niveau erreicht hat. Auch die, die das noch
nicht erreicht haben, brauchen eine Stimme. Deshalb
arbeiten wir auf der gesicherten Basis der Menschenwürde, der Menschenrechte und der wirtschaftlichen
Entwicklung.
Wir haben ein massives Interesse daran, dass Ägypten
Erfolg hat, aber wir erkennen auch, dass es mit einer
Revolution allein nicht getan ist.
({0})
Die Entscheidung erfolgt hinterher, darüber, ob eine
durch Mehrheit an die Macht gekommene Struktur weiß,
dass Mehrheit nicht alles darf, dass sie Minderheitenrechte schützen muss, dass sie darauf achtet, dass sich
keine religiösen Konflikte entzünden, dass kein ethnischer Binnenzirkus im Land entsteht. Eine Zivilgesellschaft muss auch mit unangenehmen Sachverhalten konfrontiert werden. Das Recht des Schwächeren muss
gesehen werden, auch das Recht des Fremden. Manche
Gesellschaften bringen dazu überhaupt noch keine Kraft
auf. Deshalb ist der Kern der Vertrauenswürdigkeit, die
nach einer Revolution herausgebildet werden muss - dabei geht es um das eigene und das internationale Ansehen -, die Bereitschaft zur Transformation.
({1})
Das sagen wir auch in Richtung Kairo. Bei aller
Zurückhaltung möchten wir die Botschaft vermitteln,
dass wir angesichts des Vorgehens gegen die KonradAdenauer-Stiftung nicht den Eindruck haben, dass
die dortige Militärherrschaft das begriffen hat. Zu einer Transformationspartnerschaft, die Außenminister
Westerwelle mehrmals betont hat - ich danke ihm hier
ausdrücklich für sein Engagement in dieser Angelegenheit -,
({2})
gehört, dass man entsprechend den internationalen
Gepflogenheiten miteinander umgeht. Der Eindruck ist
zweifellos - das ist niemandem verborgen geblieben -,
dass in Ägypten bestimmte bürokratische Hindernisse
oder eigene Unliebsamkeiten zum Vorwand genommen
werden, um ein Büro zu schließen. Mir hat sich bis heute
nicht erschlossen, was der eigentliche, was der wirkliche
Grund dafür war. Deshalb gilt unsere Solidarität der
Konrad-Adenauer-Stiftung für ihre Arbeit in Ägypten.
({3})
Ich will das hier bewusst zum Ausdruck bringen, weil
wir mit unseren Stiftungen international zusammenarbeiten. Wir haben uns in keinem Land aufgedrängt.
Wir haben Kooperation gesucht, wenn Kooperation
gewünscht wurde. Auch die Kolleginnen und Kollegen
der Konrad-Adenauer-Stiftung haben niemandem Rat
aufgedrängt, wenn sie nicht um Rat gefragt worden sind.
Wir wollen, dass in Ägypten die zivilgesellschaftlichen
Voraussetzungen für einen Erfolg dieses Landes
geschaffen werden. Ich glaube, dass wir aus Europa
heraus mit unseren deutschen politischen Stiftungen
dazu einen vernünftigen Weg vorgeschlagen haben.
Es ist nun einmal so, dass das massive Interesse der
deutschen Politik im Kern darin besteht, dass sich in diesen Ländern wirkliche Zivilgesellschaften entwickeln.
Wir verstehen unter Demokratie nicht allein, dass in
gewissen Abständen Wahlen stattfinden und ansonsten
keine gesellschaftliche Kraft dazu entwickelt wird, nach
einer Verfassung zu leben, in einer Verfasstheit zu leben
und internationale Beziehungen zu pflegen. Diese
Gesellschaften können, wenn sie möchten, von uns eine
ganz uneigennützige, an Menschenrechten und internationalen Gepflogenheiten orientierte Zusammenarbeit
bekommen.
Für die Stiftung, die ich die Ehre habe zu vertreten,
sage ich: Unser Signal an Kairo ist, dass die Machthaber
dort die Konrad-Adenauer-Stiftung alsbald wieder arbeiten lassen sollten. Das ist kein konspiratives Tun. Die
Arbeit dieser Stiftung widerspricht ebenso wenig wie die
Arbeit meiner Stiftung dem nationalen Interesse Ägyptens, im Gegenteil: Sie liegt im wohlverstandenen Interesse des Ansehens dieses Landes in der internationalen
Gemeinschaft.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Hans-Ulrich Klose für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die politischen Stiftungen stehen den im Bundestag
vertretenen Parteien nahe, sind aber nicht von ihnen
abhängig. Die Stiftungen gehören zur politisch-zivilgesellschaftlichen Szene der Bundesrepublik Deutschland, national und international.
Charakteristisch für die deutschen Stiftungen ist der
Respekt füreinander und die Kooperationsbereitschaft
untereinander, nicht nur bei der Vertretung gemeinsamer
Interessen - zum Beispiel gegenüber Bundestag und
Bundesregierung -, sondern auch bei der praktisch-politischen Arbeit hier im eigenen Land und in vielen Ländern auf allen Kontinenten. Vor allem die Entwicklungsund Außenpolitiker kennen und schätzen diese Arbeit,
bei der es immer um Demokratieförderung, um den Aufbau demokratischer Strukturen sowie um konkrete Hilfe
und die Organisation von Zivilgesellschaften geht.
Die Arbeit ist oft schwierig, bisweilen sogar gefährlich. Immer mal wieder werden Stiftungen in verschiedenen Ländern angefeindet, wird ihnen vorgeworfen,
sich in die inneren Angelegenheiten ihrer Gastländer
einzumischen oder sogar Terroristen zu unterstützen.
Der türkische Ministerpräsident hat sich zum Beispiel
jüngst so geäußert. Im Visier hatte er, wenn ich mich
recht erinnere, die Heinrich-Böll-Stiftung, die er verdächtigte, die PKK zu unterstützen, was ich für einen absurden Vorwurf halte.
In Ägypten sind jetzt mehrere Nichtregierungsorganisationen betroffen - ägyptische und andere, Amerikaner
vor allem und eben auch die Konrad-Adenauer-Stiftung,
genauer: der Leiter der dortigen Vertretung, Andreas
Jacobs, und seine Stellvertreterin, Christina Baade. Was
genau ihnen vorgeworfen wird, ist nicht klar - illegale
Finanztransaktionen, was auch immer das konkret bedeutet. Noch gibt es keine Anklageschrift, nichts, worauf
man sich argumentativ einstellen, wozu man Stellung
nehmen könnte. Das macht die Sache schwierig, weil
nicht klar ist, welche Absichten die ägyptische Justiz
bzw. die dortigen Behörden verfolgen.
Die ägyptische Ministerin für Planung und internationale Zusammenarbeit, von der man sagt, sie sei die treiHans-Ulrich Klose
bende Kraft hinter dem Verfahren, will, dass die internationalen Nichtregierungsorganisationen das ihnen zur
Verfügung stehende Geld in einen Topf einzahlen, über
dessen Verwendung dann die ägyptischen Behörden verfügen, konkret also die Ministerin. Die ägyptische Öffentlichkeit, sagt sie, wolle, dass die Einmischung in die
inneren Angelegenheiten des Landes endlich aufhört.
Sie bekommt dafür viel Beifall, was den Verdacht nährt,
dass das Verfahren in erster Linie politisch motiviert ist,
politischen Zwecken dient.
Ein Beobachter, der sich in Ägypten besser auskennt
als ich, vermutet, dass das ägyptische Militär, das gegenwärtig in der Kritik steht und um seine Macht im Land
fürchten muss, die ganze Aktion nicht nur beobachtet,
sondern gezielt nutzt, um innenpolitisch zu punkten. Es
profiliere sich bei der für anti-westliche Kritik sehr empfänglichen Gesellschaft als Hüterin von nationalen Interessen und Souveränität. Das ganze Verfahren solle von
den zahlreichen innenpolitischen Problemen ablenken,
indem es ausländische Sündenböcke liefert. Dass die
Mehrzahl der betroffenen ausländischen Stiftungsvertreter Amerikaner sind, passt genau in dieses Schema.
Ob es aber so ist oder ob es sich, wie eine deutsche Zeitung schrieb, um die Obsession der schon erwähnten
Ministerin für Planung und internationale Zusammenarbeit handelt - ich weiß es nicht. Ich halte es aber aus guter
Kenntnis der Stiftungsarbeit für nahezu ausgeschlossen,
dass die Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung ihnen
anvertrautes Geld - nebenbei bemerkt: öffentliches Geld,
über das der Bundestag beschließt - aus politischen Gründen zweckentfremden könnten. Ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass die beiden angeklagten Vertreter der
Konrad-Adenauer-Stiftung wie auch die Vertreter der anderen in Ägypten tätigen Stiftungen - das sind, wenn ich
mich recht erinnere, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die
Friedrich-Naumann-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung; die Heinrich-Böll-Stiftung und die Rosa-LuxemburgStiftung sind noch dabei, sich dort für einen Standort zu
entscheiden - engagiert und pflichtbewusst arbeiten, um
den Transformationsprozess in Ägypten erfolgreich - will
sagen: demokratisch - zu entwickeln. Diese Arbeit ist gut
und wichtig für uns und verdient unsere Unterstützung,
aber auch die der ägyptischen Behörden.
({0})
Es berührt mich zutiefst, wenn sich die erwähnte
Ministerin in der ägyptischen Presse wie folgt äußert
- ich zitiere -: „Ägypten wird wieder auf die Beine kommen, all denjenigen zum Trotz, die unser Land hassen
oder gegen uns sind.“ Dazu möchte ich hier in aller Ruhe
und Klarheit sagen: Nach meiner Wahrnehmung haben
die Menschen in Deutschland die Veränderungen in der
arabischen Welt, vor allem die in Ägypten, mit großer
Anteilnahme und Sympathie verfolgt und verfolgen sie
weiter.
Arabischer Frühling - allein die Wortwahl zeigt, welche Hoffnungen sich mit dieser Entwicklung verbanden
und verbinden. Ägypten war nicht der Anfang, der Anfang lag in Tunesien. In Ägypten aber, dem volkreichsten
arabischen Land, wird sich entscheiden, ob der Transformationsprozess gelingt. Zu diesem Gelingen wollen wir
beitragen, auch und nicht zuletzt durch die Arbeit der in
Ägypten tätigen politischen Stiftungen. Die Stiftungen
sind erfahren und gutwillig. Ihre über viele Jahre geleistete und unbeanstandete Arbeit ist Teil unseres Angebotes
für eine weitere und weiterhin erfolgreiche Zusammenarbeit. Wir würden es, denke ich, alle zutiefst bedauern,
wenn diese Zusammenarbeit eingeschränkt oder sogar
beendet werden müsste.
Die Parteien des Deutschen Bundestages - verschieden nach Grundüberzeugung, Programm und Politikstil unterstützen diese Arbeit. Dass wir es nicht, Einigkeit
nach außen demonstrierend, in einem gemeinsamen Antrag tun, ist aus meiner Sicht bedauerlich, weil es hier
und heute nicht um deutsche Innenpolitik, sondern um
Außenpolitik geht. Nach außen ist man stärker, wenn
man gemeinsam agiert.
({1})
Der Bundesregierung - genauer: dem Herrn Bundesaußenminister - danke ich für den Einsatz zugunsten der
beiden betroffenen Mitarbeiter der Stiftung. Dass dieser
Einsatz bisher ohne Erfolg geblieben ist, sollte uns nicht
entmutigen. Die Machthaber in Ägypten müssen wissen,
dass die Angelegenheit für uns keine Lappalie ist. Wir
sind ein verlässlicher Partner, der etwas anzubieten hat,
der helfen will und kann. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass die ägyptische Seite das nicht weiß.
Zum Schluss drei Anmerkungen.
Erstens. Da es in der konkreten Konfliktsituation auch
um Gesichtswahrung und Vorführaspekte geht, rate ich
von großen demonstrativen Gesten ab. Sie verhärten die
Positionen bei einer ohnehin komplizierten Konfliktlösung und wirken deshalb eher kontraproduktiv, fürchte
ich.
Zweitens. Wir sollten das weitere Vorgehen mit den
Regierungen und auch den Parlamenten anderer betroffener Länder besprechen und koordinieren. Vor allem die
Amerikaner sind ein noch viel wichtigerer Partner für
Ägypten, auch für das ägyptische Militär.
Drittens. Den politischen und zivilgesellschaftlichen
Dialog mit den Ländern des arabischen Frühlings sollten
wir auf keinen Fall einschränken, sondern fortsetzen und
ausweiten. Die Menschen in diesen Ländern sind unsere
unmittelbaren Nachbarn. Diese Nachbarschaft pfleglich
zu gestalten, ist für Europa von großer, geradezu existenzieller Bedeutung. Darauf wollte ich in dieser Debatte
ausdrücklich bittend und mahnend hinweisen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir alle haben mit großer Hoffnung den Aufbruch in Nordafrika erlebt, ausgehend von Tunesien und
dann in Ägypten. Ich war zweimal in Ägypten und habe
dort mit Menschen gesprochen, die große Hoffnungen in
diese Bewegung gesetzt haben. Vor allem junge Menschen haben damit auch berufliche Perspektiven verbunden; sie wollten endlich etwas aus ihrem Leben machen.
Wir haben immer gesagt: Grundsätzlich unterstützen
wir diese Bewegung und diese Idee, ohne uns aber in die
konkreten innenpolitischen Diskussionen einzuschalten. In der Phase, in der der Wahlkampf stattgefunden hat, haben wir unsere Besuche in Ägypten praktisch auf null gefahren, um nicht den Eindruck zu erwecken, als wollten
wir von außen in die Entscheidung eingreifen. In Gesprächen in Ägypten haben wir natürlich darauf hingewiesen,
dass unabhängig davon, wer die Wahlen gewinnt, ein
Demokratisierungs- und Transformationsprozess stattfinden muss - das ist vom Kollegen Gerhardt schon gesagt
worden - und dass zu den Menschenrechten auch Minderheitenrechte gehören. Eines dieser Menschenrechte,
das auch für Minderheiten gelten muss, ist die freie Ausübung der Religion. Die Religionsfreiheit ist ein existenzielles Menschenrecht.
({0})
Es ist völlig richtig und klar, dass sich die KonradAdenauer-Stiftung bei ihrer Arbeit in Ägypten an das gehalten hat, was Ägypten selber unterschrieben hat, indem das Land die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO unterzeichnet hat. Über das zu sprechen,
was ein Land selber ratifiziert hat - auch die neue Regierung hat ihre Unterschrift nicht zurückgezogen -, kann
kein Unrecht sein. Deswegen verstehen wir nicht, dass
mit der Konrad-Adenauer-Stiftung so umgegangen wird.
Im Dezember letzten Jahres wurden die Büros besetzt,
es wurden Unterlagen und Computer weggenommen und
bis zum heutigen Tag nicht zurückgegeben. Jetzt werden
die beiden Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in
Kairo angeklagt. Es wird der Vorwurf erhoben, sie arbeiteten dort illegal. Aber: Die stellvertretende Leiterin des
Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo hat jedes
Jahr bei den Behörden eine Arbeitserlaubnis beantragt
und sie bekommen. Der Leiter des Büros, Herr Jacobs,
hat bei den Behörden jedes Jahr einen Aufenthaltsantrag
gestellt, verbunden mit dem Hinweis, dass er für die
Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo arbeitet. Dieser Antrag wurde ihm jedes Jahr genehmigt. Es gab nie irgendeinen Sachverhalt, den die Behörden in Kairo nicht gekannt
hätten.
Wenn der Vorwurf erhoben wird, es sei keine ordnungsgemäße Registrierung durchgeführt worden, dann
muss das jetzt nachgeholt werden. Aber das hätte auch
gesagt werden können. Man hätte sagen können:
Freunde, nach unserem Recht seid ihr nicht ordentlich
registriert. Das wird nun gemacht. - Aber bis zum heutigen Tage - Herr Klose hat darauf hingewiesen - wurde
uns kein konkreter Vorwurf genannt.
Wir haben heute mit dem Vorsitzenden der KonradAdenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, der gerade in
Ägypten war, telefoniert. Er hat uns gesagt: Bei den Gesprächen, die er gestern mit Regierungsvertretern und
der besagten Ministerin geführt hat, wurde ihm kein
konkreter Vorwurf genannt. Es hieß, Finanztransaktionen seien nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden,
und vielleicht sei Geld von außen über eine amerikanische Bank nach Ägypten geflossen. Aber es handelt sich
dabei ausschließlich und nachweisbar um Geld, das vom
deutschen Steuerzahler für die Arbeit der KonradAdenauer-Stiftung zur Verfügung gestellt wurde. Deswegen kann ich der ägyptischen Regierung nur sagen:
Geld, das vom deutschen Steuerzahler ganz ordnungsgemäß Stiftungen zufließt, dürfen Sie nicht als illegal bezeichnen. Das können und werden wir auf gar keinen
Fall akzeptieren.
({1})
Wir haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass
wir natürlich keine Eskalation der Situation wollen, sondern darauf setzen, dass sich die ägyptischen Behörden
an das, was man als das Minimum eines rechtsstaatlichen Verfahrens bezeichnet, halten: dass sie uns endlich
sagen, wie ihr konkreter Vorwurf lautet, dass sie mit den
beiden Mitarbeitern bei Verhören anständig umgehen,
dass sie nach sachlichen Kriterien vorgehen und dass wir
endlich erfahren, was der wahre Grund für das Vorgehen
ist, damit wir substanziell darauf eingehen können.
Ich kann nur sagen: Alle Stiftungen, die ich erlebe,
wenn ich im Ausland unterwegs bin - gerade auch solche in schwierigen Ländern, wie Sie gesagt haben, Herr
Klose -, wissen ganz genau, dass sie sich an die Vorschriften des jeweiligen Gastlands halten müssen. Es hat
in keinem einzigen Fall auch nur eine Beanstandung
gegeben, die wirklich Hand und Fuß gehabt hätte. So ist
es jetzt auch in Ägypten. Deswegen erwarten wir von
der Regierung, dass der Vorgang schnell abgeschlossen
wird und man die beiden Mitarbeiter wieder arbeiten
lässt. Ich erwarte, dass das, was sich hier als Eindruck
aufdrängt, nämlich dass Einschüchterung stattfindet,
nicht zum Maßstab ägyptischer Politik gemacht wird.
({2})
Ägypten weiß ganz genau - das ist in der Berliner Erklärung vom August 2011 auch so formuliert worden -,
dass der Transformationsprozess nur dann erfolgreich
sein wird, wenn es eine intensive Zusammenarbeit mit
Europa gibt und wirtschaftliche Entwicklung stattfinden
kann, und das wollen wir auch; darauf möchte ich hier
hinweisen. Wir wollen den Erfolg der Bewegung in
Ägypten.
({3})
Wir wollen, dass die Menschen eine Perspektive haben.
Das unterstützen wir, und das wollen die Regierung und
die Mehrheit in Ägypten auch. Eines muss aber klar
sein: Wir können nur zusammenarbeiten und zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen, wenn die universalen Menschenrechte eingehalten werden.
({4})
Wir können die Zusammenarbeit nicht nach dem Motto
beginnen: Wir arbeiten jetzt zusammen, und über Menschenrechte und rechtsstaatliche Verfahren reden wir zu
einem späteren Zeitpunkt. - Man muss Ägypten sagen:
Wir haben ein Interesse daran, dass wir wirtschaftlich
zusammenarbeiten, so wie ihr ein Interesse daran habt;
aber dafür müssen Mindeststandards eingehalten werden.
Herr Bundesaußenminister, an dieser Stelle möchte
ich mich herzlich bei Ihnen bedanken. Sie waren in
Ägypten, haben mit den dortigen Behördenvertretern
gesprochen, die Konrad-Adenauer-Stiftung besucht und
in einer, wie ich finde, klugen, zurückhaltenden, aber
doch klaren Art gesagt, was gemacht werden muss. Dass
Sie heute bei dieser Debatte anwesend sind, zeigt, dass
Ihnen das ein wichtiges Anliegen ist. Herzlichen Dank!
Sie haben unserem Anliegen sehr geholfen.
({5})
Ich weiß - das sage ich überall -, dass Ihnen die Einhaltung von Menschenrechten, und zwar nicht nur ganz
pauschal und global, und auch die Unterstützung
bedrängter Christen und die Einhaltung der Religionsfreiheit wichtige Anliegen sind. Für diese wertorientierte
Außenpolitik sage ich Ihnen herzlichen Dank.
Ich ermahne Ägypten. Wir wollen mit euch zusammenarbeiten, aber denkt daran: Die internationalen Vereinbarungen, die ihr unterschrieben habt, müssen auch
umgesetzt werden. Hier geht es um die Einhaltung der
Menschenrechte, die wir 1948 in der Charta der Vereinten Nationen gemeinsam mit vielen Ländern vereinbart
haben. Ich hoffe, dass sich die ägyptische Regierung
dazu durchringt, die Vorwürfe zu konkretisieren. Die
Konrad-Adenauer-Stiftung wieder arbeiten zu lassen,
das hilft dem Land, den Menschen und dem Ansehen des
Landes Ägypten in der Welt.
({6})
Das Wort hat nun Niema Movassat für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr
ist es her, dass Hunderttausende Menschen in Ägypten
auf die Straßen strömten. Sie forderten soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte und ein Ende der
jahrzehntelangen Unterdrückung durch das MubarakRegime. Ihr Aufstand war von Erfolg gekrönt. Am
11. Februar 2011 musste Diktator Mubarak weichen.
Dass die Ägypter dies erreicht haben, verdient höchsten
Respekt;
({0})
denn den Weg zum Sturz des Diktators bezahlten viele
Ägypter mit ihrem Leben. Das Regime ging mit brutalster Gewalt gegen die Demonstranten vor, auch mit Waffen aus Deutschland. Gerade deswegen verdient der Mut
der Demonstranten, die tagelang friedlich protestierten
und sich gegen den Gewaltapparat Mubaraks stellten,
unser aller Anerkennung.
Gründe für den Aufstand gab und gibt es viele: erstens, die massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten, die
selbst Grundnahrungsmittel wie Brot unerschwinglich
teuer machten; zweitens, die hohe Jugendarbeitslosigkeit
- die Hälfte der Bevölkerung, 40 Millionen Menschen, ist
unter 25 Jahre alt, und ein Drittel davon ist arbeitslos -;
drittens, die massive Korruption - jahrzehntelang hatte
sich die Mubarak-Clique hemmungslos an Staatsgeldern
bereichert -; viertens, der Wunsch nach Freiheit, nach
Freilassung politischer Gefangener, nach demokratischen Wahlen. Die Forderungen der Demonstranten sind
bis heute nicht umgesetzt. Deswegen muss die deutsche
Politik den Umbruch in Ägypten weiterhin solidarisch
unterstützen.
({1})
Dabei gilt es zunächst, das Vertrauen der Ägypter zurückzugewinnen, Vertrauen, das durch die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Mubarak-Regime zerstört worden ist.
Die Stiftungen sind für die Vertrauensbildung wichtig;
dazu komme ich gleich. Beim Thema verlorenes Vertrauen kommt mir allerdings als Erstes in den Sinn, dass
Sie, Herr Westerwelle, sich bis zum Schluss nicht zu einer Rücktrittsforderung gegenüber Mubarak durchringen
konnten. Schlimmer noch: Sie begrüßten Mubaraks Ankündigung am 1. Februar 2011, Sicherheit und Ordnung
wiederherzustellen. Mit anderen Worten: Sie begrüßten
die Ankündigung, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen. Das war ein Tiefpunkt deutscher Außenpolitik.
({2})
Vertrauen wurde jedoch schon viel früher verspielt,
nämlich durch die Unterstützung der ägyptischen Diktatur. So wurde Ägypten in das Wirtschaftsabkommen
Euro-Mediterrane Partnerschaft aufgenommen. Dort
gibt es zwar eine Klausel, dass die Mitgliedsländer die
Grundsätze von Demokratie und Menschenrechten beachten müssen, aber das interessierte anscheinend niemanden. Schließlich lieferte die Europäische Union jährlich für über 12 Milliarden Euro Handelsgüter nach
Ägypten. Ich sage Ihnen: Wer eigene Wirtschaftsinteressen, wie hier geschehen, über die Grundsätze von Demokratie und Menschenrechten stellt, der kann nirgendwo
glaubwürdig Menschenrechte einfordern,
({3})
erst recht nicht, wenn es sich bei den Handelsgütern, die
man den Diktatoren liefert, um Rüstungsgüter handelt.
Allein 2009 gingen deutsche Waffen für 77,5 Millionen
Euro an Ägypten, unter anderem Maschinenpistolen,
von denen man nicht weiß, ob sie gegen die Demonstranten eingesetzt wurden, oder Wasserwerfer der deut18918
schen Firma MAN. Auf Fotos kann man sehen, wie sie
gegen Protestierende eingesetzt wurden. Doch aus den
Fehlern lernt man anscheinend nicht. Noch immer bildet
die Bundeswehr ägyptische Soldaten auf Steuerzahlerkosten in Deutschland aus. Um Vertrauen zu schaffen,
müssen die Rüstungsexporte beendet und die militärische und polizeiliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe eingestellt werden.
Vertrauen schaffen kann die deutsche Außenpolitik,
können aber auch politische Stiftungen. Wir als Linke
haben daher die Initiative der Bundesregierung zur Unterstützung des Demokratisierungsprozesses durch die
politischen Stiftungen begrüßt. In diesem Sinne werden
wir auch dem heute vorliegenden Antrag der Koalition
zustimmen. In diesem Antrag wird das Vorgehen der
ägyptischen Übergangsregierung gegen die Mitarbeiter
der Konrad-Adenauer-Stiftung verurteilt. In der Tat ist
das, was dort passiert, völlig inakzeptabel. Wir als Linke
erklären uns solidarisch mit den betroffenen Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung, auch im Sinne der
Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ebenfalls in der Region
tätig ist, und im Sinne der solidarischen und guten
Zusammenarbeit der politischen Stiftungen weltweit.
Allerdings ist eine Sache schon merkwürdig. Selbst in
diesem Fall, bei einer Solidaritätsbekundung mit den
Mitarbeitern ihrer eigenen Stiftung, weigern Sie von der
CDU/CSU sich, ihren Antrag gemeinsam mit der Linksfraktion einzubringen. Wir begrüßen es, dass SPD und
Grüne deswegen auf eine Miteinbringung des Antrags
verzichtet haben. Ich sage Ihnen, liebe CDU/CSU-Kollegen: Das Solidaritätszeichen wäre bei einem interfraktionellen Antrag viel stärker. Denken Sie einfach einmal
darüber nach!
Für die Linksfraktion ist die freie Betätigung der
deutschen politischen Stiftungen in Ägypten und
anderswo von großer Bedeutung. Sie muss unbedingt
gewahrt bleiben. Angesichts der Serie von Gesetzen, die
die Unabhängigkeit von Nichtregierungsorganisationen
beschneiden, ob nun in der Türkei, in Israel oder in
Algerien, ist es wichtig, diese Debatte zu führen. Worauf
wir aber beim weiteren Vorgehen achtgeben sollten, ist,
die Situation zu entschärfen und nicht weiter anzuheizen.
({4})
Die Ägypter haben einen ersten Schritt dazu getan. Am
Dienstag kam der Menschenrechtsausschuss des ägyptischen Parlaments zusammen. Er hat sich kritisch mit
dem Vorgehen gegen die ägyptischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen auseinandergesetzt.
Ich finde, diese Bemühungen verdienen Anerkennung.
({5})
Wir sollten eines nicht vergessen: Diese Maßnahmen
der Übergangsregierung richten sich nicht in erster Linie
gegen die ausländischen, sondern gegen die ägyptischen
Nichtregierungsorganisationen. Deren Arbeit soll verhindert werden. Wir alle wissen, dass die Propaganda
des Militärrats, die Menschenrechtsgruppen in Ägypten
würden eine ausländische Agenda umsetzen, nur vorgeschoben ist, um die Menschenrechtsarbeit zu torpedieren. Daher muss das Ziel des deutschen Vorgehens auf
jeden Fall sein, ägyptische Menschenrechtsaktivisten
nicht zu gefährden. Wasser auf die Mühlen der Kampagne gegen Nichtregierungsorganisationen goss aber eine
Aussage des US-Außenministeriums. Demnach seien
durch die USA seit Beginn der Revolution 160 Millionen Dollar zur Unterstützung der Demokratie ohne Kontrolle durch ägyptische Behörden im Land verteilt worden. Auch deswegen können wir nur positiv auf die Lage
in Ägypten einwirken, indem wir beschwichtigende
Töne anschlagen, statt die Ägypter abzustrafen. Ein harsches Vorgehen könnte dazu führen, dass die Zustimmung der Bevölkerung zur Militärregierung steigt. Das
wäre weder im Sinne der Demokratie noch im Sinne der
Menschen, die gegen die jetzt herrschende Militärdiktatur kämpfen.
Ja, die Menschen kämpfen weiter. Denn noch immer
gibt es politische Gefangene. Soziale Gerechtigkeit ist
fern. Die Ausübung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein Risiko. Wann eine demokratisch gewählte
Regierung an die Macht kommen wird, steht in den Sternen.
Das alles zeigt, dass die Revolution noch nicht zu
Ende ist. Sie wird weitergehen. Deswegen müssen wir
mit der Demokratiebewegung in Ägypten weiter solidarisch sein. Das ist unsere Aufgabe, auch und gerade als
Parlament.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort Kerstin Müller. Bitte schön, liebe
Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Ägypten wurden am 29. Dezember letzten Jahres die Räume
der Konrad-Adenauer-Stiftung durchsucht und zahlreiche Gegenstände beschlagnahmt. Offensichtlich ungerührt von politischem Druck, sei es durch die deutsche
oder durch die amerikanische Regierung, soll jetzt auch
gegen den Leiter des Stiftungsbüros der KAS und eine
Mitarbeiterin sowie gegen weitere 42 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter vorwiegend amerikanischer Stiftungen
Anklage erhoben werden. Das ist ein völlig unakzeptabler Vorgang.
({0})
Deshalb ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestag
heute dieses Vorgehen der ägyptischen Justiz und Regierung verurteilt. Meine Fraktion wird daher dem Antrag
der Koalition zustimmen.
({1})
Kerstin Müller ({2})
Eines möchte ich Ihnen allerdings nicht ersparen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Herr
Kauder, dass Sie selbst bei dieser schwierigen Lage vor
Ort nicht davon lassen können, dieses Thema innenpolitisch zu instrumentalisieren, und dass Sie die Linken
nicht auf den Antrag nehmen wollten - deshalb haben
wir davon Abstand genommen, ihn mit einzubringen -,
finde ich angesichts der Lage und angesichts dessen, um
was es dabei geht, völlig unangemessen.
({3})
Ich war gerade mit unserem Fraktionsvorsitzenden
Jürgen Trittin in Kairo. Wir haben uns auch mit der Lage
der Stiftungen intensiv befasst und sind mit Vertretern
aller Stiftungen zusammengekommen. Ich kann Ihnen
versichern: Alle Stiftungen, von der Hanns-Seidel-Stiftung bis zur Rosa-Luxemburg-Stiftung, sind absolut solidarisch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
KAS. Klar ist: Es geht politisch um einen Angriff der
ägyptischen Behörden gegen alle deutschen politischen
Stiftungen. Deshalb ist es richtig, dass alle solidarisch
sind, und falsch, dass wir nicht gemeinsam einen interfraktionellen Antrag verfasst haben.
({4})
Zum Antrag selber. Es fehlen zwei entscheidende
Punkte, die wir heute auf jeden Fall erwähnen müssen.
Erstens wird in dem Antrag mit keinem Wort erwähnt,
dass nicht nur 2 deutsche, sondern insgesamt 44 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter internationaler NGOs
angeklagt sind: nicht nur 19 Amerikaner, sondern auch
Serben, Palästinenser, 1 Jordanier und vor allem
16 Ägypter. Ich glaube, für sie wird es am allerschwierigsten werden.
Aus juristischer Sicht werden ihnen illegale Finanztransaktionen nach dem Strafgesetzbuch vorgeworfen,
aber politisch - darüber muss man heute ebenfalls reden
- ist der verantwortlichen Ministerin als Vertreterin des
alten Regimes vor allem die Art der Tätigkeiten all dieser NGOs ein Dorn im Auge. Demokratieförderung, effektive Wahlbeobachtung und Stärkung von Frauen- und
Minderheitenrechten waren schon früher nicht gern gesehen. Hier schrillen offensichtlich in den alten Zirkeln
der Macht immer noch die Alarmglocken. Ich glaube,
politisch geht es letztlich darum. Hier müssen wir als
Deutscher Bundestag klar und deutlich sagen: Wir wollen Ägypten auf seinem Weg zur Demokratie unterstützen. Daher gilt unsere Solidarität all denen, die sich für
Demokratie einsetzen und jetzt im Visier der ägyptischen Behörden stehen.
({5})
Zweitens will ich darauf hinweisen, dass sich das Vorgehen nicht nur gegen internationale NGOs richtet, sondern vor allen Dingen gegen die ägyptischen NGOs, die
sich jetzt registrieren lassen sollen und deren Vertreter
Anklagen zu befürchten haben. Betroffen sind vor allem
diejenigen Organisationen, die sich für Bürger- und
Menschenrechte einsetzen. Hier müssen wir deutlich
machen: Wir werden an der Seite der Demokratiebewegung stehen. Wir werden dieser Politik von Vertretern
des alten Regimes und des Militärrates entschieden entgegentreten. Gleichzeitig hoffen wir natürlich, dass die
neuen Akteure im Parlament und in der Zivilgesellschaft
Schritt für Schritt damit Schluss machen. Denn das, was
hier passiert - dies habe ich von der Reise mitgenommen -, ist nicht zuletzt Ausdruck einer ausgesprochen
chaotischen, aber auch dynamischen Umbruchssituation
in Ägypten.
Es gibt Rückschläge. Trotz dieser Rückschläge, die
Protest, Streit und auch Druck erfordern, gibt es aber
ganz klar positive Entwicklungen. Die Durchführung der
Parlamentswahlen war eine solche positive Entwicklung. Es gibt jetzt eine legitime Institution. Es wurde
schon erwähnt: Als Obleute haben wir Herrn Anwar
al-Sadat schon getroffen, Vorsitzender der Reform- und
Entwicklungspartei. Er hat als Unabhängiger einen Direktsitz bekommen. Er hat ihn sich erkämpft und wurde
Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses. Als ersten
Tagesordnungspunkt in seiner ersten Sitzung hat er das
Vorgehen der Behörden zum Thema gemacht und alle
verantwortlichen Minister, aber auch Vertreter der NGOs
eingeladen. Das ägyptische Parlament wird jetzt erstmals in seiner Geschichte diese Rechtslage und das Vorgehen der Behörden diskutieren. Warten wir ab, was am
Ende dabei herauskommt. Das ist ein ermutigender
Schritt und auch ein Zeichen von Demokratie.
({6})
Das zeigt, dass die Dinge im Fluss sind. Ich glaube,
die ägyptische Gesellschaft hat nach Jahrzehnten der
Stagnation mit Mut, mit Beharrungsvermögen und mit
unglaublich großem zivilen Engagement Veränderungen
bewirkt und eine Dynamik geschaffen, die im letzten
Jahr noch niemand für möglich gehalten hätte. Man
muss klar sagen: Nicht nur der oberste Militärrat und die
islamistischen Kräfte bestimmen die Entwicklung, sondern es gibt eine starke Zivilgesellschaft. Nach Aussagen aller, mit denen wir gesprochen haben, hat diese sich
als dritter politischer Machtfaktor etabliert.
Zum Schluss möchte ich Heinrich Böll zitieren. Er hat
gesagt:
Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch
zu bleiben.
Das ist ein Leitmotiv der Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung, die in Kairo gerade dabei ist, ein Büro aufzubauen.
In Ägypten stellt man sich unter der Arbeit der NGOs
wahrscheinlich Leute mit Geldkoffern vor, die dubiose
Kräfte finanzieren und der ägyptischen Gesellschaft ihren Willen aufzwingen wollen. Das ist natürlich nicht die
Art von Einmischung, von der Heinrich Böll sprach. Sie
alle haben es hier deutlich gemacht: Das ist nicht die Art,
in der die deutschen Stiftungen arbeiten. Die Arbeit ist
geprägt von gegenseitigem Lernen und Verständnis, von
Debatte und Diskussion, von Offenheit und Austausch.
Alle Stiftungen wollen zusammen mit den Partnern die
wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände der Men18920
Kerstin Müller ({7})
schen verbessern, wozu auch die Menschen- und Bürgerrechte gehören.
Es muss alles dafür getan werden, auf der Grundlage
der neuen legitimen demokratischen Institutionen, die in
Ägypten gerade geschaffen werden, gesetzliche Voraussetzungen für eine freie und transparente Tätigkeit von
ägyptischen und internationalen NGOs und Stiftungen
zu schaffen. Ich hoffe sehr, dass es den Verantwortlichen
gelingt, eine Lösung zu finden, die es den deutschen
Stiftungen ermöglicht, diese schwierige Transformationsphase in Ägypten zu „überstehen“. Ich hoffe, dass
wir nicht in die Situation kommen, abziehen zu müssen,
bevor sich die Verhältnisse wieder zum Besseren verändern. In drei Monaten kann man es mit ganz anderen Akteuren zu tun haben. Ich hoffe, dass uns das gelingt und
wir die ägyptische Gesellschaft weiter auf ihrem Weg
zur Demokratie unterstützen können.
Vielen Dank.
({8})
Nun hat Kollege Wolfgang Götzer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, wir alle sind über das Vorgehen Ägyptens gegenüber politischen Stiftungen bestürzt. Bereits die
Durchsuchung der Räume der Konrad-Adenauer-Stiftung und die Beschlagnahme von Dokumenten im letzten Dezember waren völlig inakzeptabel und ein massiver Verstoß gegen grundlegende Rechtsstaatsprinzipien.
Anlass zu noch größerer Sorge bereitet allerdings das
aktuelle Vorgehen der ägyptischen Behörden gegenüber
den Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung. Stundenlange Verhöre auf ägyptischen Polizeistationen sowie
die nunmehr erhobenen Anklagen wegen angeblich verbotener Aktivitäten und illegaler Annahme von Geldern
aus dem Ausland sind untragbar, und sie sind ein diplomatischer Affront, dies umso mehr, als Bundesaußenminister Westerwelle bei seinem Besuch in Kairo kürzlich die Arbeit der politischen Stiftungen ausdrücklich
gewürdigt hat, wofür auch ich Ihnen, Herr Minister, ganz
herzlich danken möchte.
({0})
Die Anschuldigungen gegenüber den Mitarbeitern der
Konrad-Adenauer-Stiftung, zu denen es bis heute keine
offiziellen Dokumente gibt, sind haltlos, politisch motiviert und widersprechen dem Geist der Berliner Erklärung vom August 2011, die eine noch engere Kooperation zwischen Deutschland und Ägypten zur Förderung
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit postuliert. Dieses Vorgehen wirft auch sehr kritische Fragen nach dem
Stand des Transformationsprozesses in Ägypten auf und
lässt diesen in keinem guten Licht erscheinen.
Eine solche Behinderung der Stiftungsarbeit, solche
Einschüchterungen und solche Repressalien gegenüber
Mitarbeitern einer Stiftung können wir nicht dulden. Wir
fordern mit diesem Antrag daher die Bundesregierung
auf, sich mit allem Nachdruck dafür einzusetzen, dass
das Verfahren gegen die Mitarbeiter der KonradAdenauer-Stiftung umgehend eingestellt wird und die
deutschen politischen Stiftungen ihrer Arbeit ohne Einschränkungen ungehindert nachgehen können.
({1})
Dieses Vorgehen der ägyptischen Behörden ist umso
unverständlicher, als Deutschland im Rahmen der Transformationspartnerschaft mit Ägypten eine tragende Rolle
bei der Unterstützung der ägyptischen Reformen zukommt. Schwerpunkte der Transformationspartnerschaft
mit Ägypten werden 2012 und 2013 insbesondere die
Stabilisierung des Demokratisierungsprozesses, die Stärkung der Zivilgesellschaft, die Förderung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit sowie die Unterstützung guter Regierungsführung sein. Hierbei spielen
die politischen Stiftungen eine wichtige Rolle.
Auch wenn im Augenblick vor allem die KonradAdenauer-Stiftung im Visier der ägyptischen Regierung
zu sein scheint, muss uns klar sein, dass es hier um die
politischen Stiftungen und ihre Arbeit insgesamt geht.
Deshalb ist ein breiter Konsens der demokratischen Parteien in dieser Frage wichtig, und er ist auch festzustellen.
Die deutschen Stiftungen treten in Ägypten für die
Werte ein, die die derzeitigen Umwälzungsprozesse im
arabischen Raum ausgelöst haben: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Wahrung der Menschenrechte. In ihrer täglichen Arbeit leisten die politischen Stiftungen einen unschätzbaren Beitrag zur Förderung dieser Werte, für die die
Ägypter auch heute noch, ein Jahr nach Beginn der
ägyptischen Revolution, auf die Straße gehen und kämpfen, wofür sie leider auch wieder um ihr Leben fürchten
müssen.
So fördert insbesondere die Konrad-Adenauer-Stiftung seit über 30 Jahren die zivilgesellschaftliche Entwicklung in Ägypten. Durch die Repressalien des Militärrats ist dies im Augenblick nicht mehr möglich. Wie
Herr Jacobs, der Leiter des Kairoer Büros der KonradAdenauer-Stiftung, im jüngsten Länderbericht der Stiftung vom 25. Januar schreibt - ich zitiere -:
Repressalien, Willkür und Einschüchterungen von
Opposition, Zivilgesellschaft und unabhängigen
Medien sind an der Tagesordnung.
Gerade jetzt wäre es daher dringend geboten, oppositionelle Kräfte, Vertreter der Zivilgesellschaft und der
freien Medien durch die Arbeit der politischen Stiftungen in der Ausfüllung ihrer tragenden Rolle für den
Transformationsprozess zu unterstützen.
Deutschland fördert den ägyptischen Transformationsprozess übrigens auch finanziell in erheblichem
Maße. Diese Förderung sollten wir künftig stärker an die
Einhaltung von Bedingungen,
({2})
zum Beispiel die freie Betätigung der deutschen politischen Stiftungen, knüpfen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
abschließend die Hoffnung äußern, dass die über viele
Jahre gewachsene gute Zusammenarbeit zwischen der
Konrad-Adenauer-Stiftung und Ägypten durch diese
Vorfälle nicht nachhaltig beschädigt wird und die KonradAdenauer-Stiftung ihre Arbeit in vollem Umfang ungehindert wieder aufnehmen kann - im Interesse des Demokratisierungsprozesses in Ägypten.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat nun Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele Parlamentarier aus unseren Nachbarländern beneiden uns um die deutschen politischen Stiftungen. Zu
Recht, denn die deutschen politischen Stiftungen leisten
eine ganz besondere Arbeit: in den Umbruchsprozessen,
aber auch grundsätzlich in der Außen- und Entwicklungszusammenarbeit. Sie arbeiten unabhängig und
transparent, und sie setzen sich in unterschiedlichen Projekten für die Wahrung der Menschenrechte, für die Förderung von Demokratie und für die Zivilgesellschaft ein.
Sie haben sich in vielen Ländern einen sehr guten Ruf
erworben. Sie sind verlässliche und vertrauensvolle Partner.
Das gilt gerade für Ägypten, wo die deutschen Stiftungen einen sehr wichtigen Beitrag leisten. Umso unverständlicher ist es, dass die ägyptische Seite die Arbeit
der Konrad-Adenauer-Stiftung derart behindert. Für
mich sind die Anschuldigungen und die Anklageerhebung absolut nicht nachvollziehbar. Die KAS ist seit
1979 in Ägypten tätig, also seit über 30 Jahren. Ich
hoffe, dass sich die Situation schnell aufklären wird; ich
jedenfalls kann die Beweggründe nicht nachvollziehen.
Ich danke der Bundesregierung, dass sie sehr schnell
auf die Vorwürfe gegenüber der Konrad-Adenauer-Stiftung reagiert hat. Ich danke besonders Außenminister
Westerwelle, dass er das Thema persönlich bei den Gesprächen in Ägypten angesprochen hat. Zudem wurde
der ägyptische Botschafter in Berlin, Herr Ramzy, einbestellt, und der persönliche Beauftragte des Außenministers wurde zu Gesprächen nach Kairo entsandt.
Wir alle haben ein großes Interesse daran, dass der
Demokratisierungsprozess in Ägypten für die Menschen
dort Früchte trägt. Wir wissen, dass Ägypten in der Region eine Schlüsselrolle hat. Deswegen begleiten wir
den Prozess aktiv.
Wir haben mit der Arbeitsgruppe „Außenpolitik“ der
FDP-Bundestagsfraktion im letzten Jahr Kairo besucht
und Gespräche mit Parteimitgliedern, Bloggern und Vertretern der Tahrir-Bewegung geführt. Unsere Gesprächspartner haben uns sehr selbstbewusst klargemacht, dass
es ihr Prozess ist, ihre Revolution, von ihnen gestaltet.
Ich sage ganz klar: Unsere Aufgabe ist und war es, Angebote zu unterbreiten. Aber natürlich sind die Prioritäten und Bedürfnisse vor Ort für eine Kooperation entscheidend. So ist auch die Berliner Erklärung zustande
gekommen, aus dem gemeinsamen Interesse, gemeinsame Projekte umzusetzen, für den Kulturdialog, für
mehr Rechtsstaatlichkeit und für den Aufbau demokratischer Institutionen.
Das Vorgehen gegen die KAS erfüllt mich mit großer
Sorge; denn es wirft kein gutes Licht auf den Transformationsstand im Land. Anklage wird schließlich nicht
nur gegen die Konrad-Adenauer-Stiftung erhoben
- Kerstin Müller hat es erwähnt -, sondern auch gegen
16 ägyptische und amerikanische Organisationen. Insofern macht sich eine Atmosphäre der Unsicherheit breit.
Das ist ein Rückschlag für die ägyptische Transformation hin zu einer offenen und freien Gesellschaft.
Für uns gilt es nun, diese Phase des Umbruchs weiter
aktiv zu gestalten. Ich bin froh, dass heute im Plenum
Einigkeit darüber besteht, an dem Transformationsprozess festzuhalten, nicht lockerzulassen und ein klares
Zeichen für die Unterstützung der Arbeit der politischen
Stiftungen zu setzen. Der Wandel in Ägypten wird von
uns mit viel Engagement unterstützt, auch in finanzieller
Hinsicht. Unser Ziel ist, dass wir Partner bleiben und
- mit diesem Appell an die ägyptische Seite schließe
ich - Partner sein dürfen.
({0})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will mich am Schluss dieser Debatte bei allen Vorrednern und allen Fraktionen des Hauses ganz herzlich bedanken. Frau Schuster, Sie haben gesagt: Wir werden
von Partnern in aller Welt um unsere politischen Stiftungen beneidet. - Ich will ergänzen: Die aktuelle Diskussion zeigt über den konkreten Fall Ägypten hinaus, dass
die politischen Stiftungen für die Bundesrepublik
Deutschland ein wichtiges Instrument der Außenpolitik
sind. Wir haben neben den Auslandsvertretungen des
Auswärtigen Amtes und den Außenhandelskammern andere wichtige Instrumente der Außenpolitik. Dazu gehö18922
ren die Goethe-Institute, die auswärtige Kulturarbeit der
deutschen Schulen und Hochschulen, viele Nichtregierungsorganisationen und in ganz besonderer Weise die
politischen Stiftungen. Sie sind der Bundesregierung gegenüber nicht weisungsgebunden, aber handeln in dem
Auftrag, den wir ihnen als Deutscher Bundestag im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und im Sinne unserer gemeinsamen Werteordnung erteilen. Deswegen
finde ich es richtig - ich bin Ihnen dafür dankbar, Herr
Klose, dass Sie das gesagt haben -, dass wir nicht mit
übertriebenem Getöse reagieren. Ich finde es aber auch
gut, dass wir es geschafft haben, in dieser Woche im
Deutschen Bundestag - und damit öffentlich - umgehend mit einer gemeinsamen Entschließung zu antworten.
({0})
- Ja, Frau Müller, es liegt ein gemeinsamer Antrag der
Koalitionsfraktionen vor. Ich bedanke mich ausdrücklich
dafür, dass die Oppositionsfraktionen ihm zustimmen.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist es einfach eine
Grundsatzentscheidung, dass wir mit einer Fraktion des
Hauses keine parlamentarische Zusammenarbeit pflegen. Das wird aber nicht an dem großen Konsens in der
Sache rütteln, den wir heute Nachmittag an den Tag gelegt haben.
({1})
Ich will daran erinnern, dass die Arbeit unserer politischen Stiftungen von Werten und vom Einsatz für die
Menschenwürde, für die Freiheit, für die Demokratie
und für die Rechtsstaatlichkeit geprägt ist. Das sind die
Grundwerte, für die die Menschen auf dem Tahrir-Platz
demonstriert haben, für die sie auf die Straße gegangen
sind. Wir erleben das nicht nur in Ägypten. Wir haben
schon andere Transformationsprozesse erlebt: früher in
Lateinamerika, in den letzten beiden Jahrzehnten in Mittel- und Osteuropa. Wir erleben es jetzt in Afghanistan,
in arabischen Staaten und in Afrika. Wir sprechen im
Zusammenhang mit Konflikten auf dieser Welt oft von
einer vernetzten Außenpolitik. Auch die politischen Stiftungen sind ein wertvolles Mittel der Softpower, ein
wertvolles Mittel, um Transformationsprozesse im Sinne
der Werte, für die wir stehen, mitzugestalten. Wir engagieren uns stets in Absprache mit der ägyptischen Seite.
Das ist bereits gesagt worden; das brauche ich nicht zu
wiederholen. Nur so viel: Die freie und ungehinderte Arbeit der Stiftungen ist insgesamt unerlässlich.
Lassen Sie mich noch kurz zwei Bemerkungen machen. Nach den demokratischen Wahlen im Dezember
und im Januar ist es nun an der Zeit - auch darüber haben
wir großen Konsens erzielt -, dass der Ausnahmezustand
aufgehoben wird, die Militärgerichtsbarkeit beendet
wird, die staatliche Gewalt gegen friedliche Demonstranten aufhört und der Schutz von Minderheiten gewährleistet wird. Wir nehmen Hinweise sehr ernst - das wurde
heute von allen Seiten angesprochen -, wonach bestimmte Kräfte des Militärs und des alten Regimes durch
das Schüren von Spannungen - auch auf dem Rücken von
Minderheiten - Instabilität erzeugen wollen, um den politischen Reformprozess in eine falsche Richtung zu lenken.
Die Militärherrschaft muss ein Ende haben, und eine
zivile Regierung in Ägypten muss die Kontrolle übernehmen. Die alten Kräfte des Mubarak-Regimes müssen
abtreten. Dazu gehört auch - darauf wurde richtigerweise hingewiesen -, dass die tiefen Strukturen des Staates entflochten werden. Das Militär hat keine wirtschaftlichen Aufgaben. Die wirtschaftlichen Interessen des
Militärs müssen zurückgestellt werden, damit ein neues
Ägypten aufgebaut werden kann.
Wir alle setzen uns intensiv für den Schutz von Minderheiten in Ägypten ein. Eine neue ägyptische Führung
muss ein klares Bekenntnis zur Religions- und Meinungsfreiheit ablegen.
({2})
Unsere Erwartung an die verfassungsgebende Versammlung ist, dass diese Grundrechte in der Verfassung und
im Alltag garantiert werden.
Ich will die heutige Debatte nicht ohne ein Wort zu
Syrien beenden. Auch heute geht das Morden in Homs
weiter. Dies bereitet uns große Sorgen. Das Assad-Regime mordet das syrische Volk. Es ist nicht hinnehmbar,
dass Russland und China eine politische Umsetzung des
Fahrplans der Arabischen Liga, der das Ziel hat, das Töten zu stoppen, nicht zulassen. Außenminister Lawrows
Besuch in Damaskus hat das Morden durch das Regime
jedenfalls nicht beendet. Man fragt sich verwundert,
welchen Einfluss Moskau in Syrien eigentlich hat. Wie
will Russland das Blutvergießen beenden, da es doch im
Sicherheitsrat ein Veto eingelegt hat und bilaterale Kontakte offenbar nicht ausreichen? Außenminister Lawrow
hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz am letzten
Samstag betont, wir hätten in Syrien letztlich gleiche
Ziele und mehr gemeinsame als gegensätzliche Interessen. Deswegen appelliere ich nach wie vor an Russland,
sich den Bemühungen im Sicherheitsrat nicht weiter zu
widersetzen und nicht tatenlos zuzuschauen, wie in Syrien der Mord am eigenen Volk fortgesetzt wird.
({3})
Herr Außenminister Westerwelle, es ist richtig, dass
Sie die Einrichtung einer Kontaktgruppe der „Freunde
eines demokratischen Syriens“ fördern. Wir sollten sie
nutzen, um die syrische Opposition zusammenzuführen.
Ein letztes Wort. Ich hoffe, dass auch in Syrien möglichst schnell eine Situation entsteht, in der die deutschen politischen Stiftungen ihre segensreiche Arbeit
einbringen können.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/8578 mit dem Titel „Verfahren gegen deutsche politische Stiftung einstellen - Demokratisierungsprozess in
Ägypten fortsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Monika Lazar, Jerzy Montag, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs - Strafbarkeit der Genitalverstümmelung
- Drucksache 17/4759 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Monika Lazar das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Weibliche Genitalverstümmelung ist eine der schwersten
Menschenrechtsverletzungen und muss auf der ganzen
Welt durch Aufklärung und Verfolgung der Täterinnen
und Täter bekämpft werden. Weder Religion noch Kultur schreiben Genitalverstümmelung vor. Es gibt keinen
Rechtfertigungsgrund für diese Praxis, mit der die
Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und
selbstbestimmte Sexualität eingegrenzt werden.
({0})
Genitalverstümmelung beschränkt sich nicht auf weit
entfernte Regionen, sondern ist durch Flucht und Migration auch bei uns in der EU angekommen.
In Deutschland werden viele Frauenärztinnen und
-ärzte mit den Folgen des Rituals konfrontiert. Eine Stichprobe von UNICEF zeigt, dass bereits 43 Prozent eine beschnittene Frau in ihrer Praxis hatten. Nach Schätzung
der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes sind
allein in Deutschland mindestens 20 000 Frauen und
Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen sowie
weitere 5 000 davon bedroht. Minister Niebel spricht in
einer aktuellen Pressemitteilung sogar von 30 000 Frauen
und Mädchen. Diese erlittenen Verletzungen sind niemals
revidierbar. Zu den lebenslangen Schmerzen und körperlichen Einschränkungen kommen seelische Qualen sowie
der Verlust sexuellen Erlebens hinzu.
Wir Grüne legen heute einen Gesetzentwurf vor, der
vorsieht, die Genitalverstümmelung ausdrücklich als Fall
schwerer Körperverletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen und eine Möglichkeit der Bestrafung zu eröffnen, wenn das Mädchen dazu ins Ausland gebracht werden soll.
({1})
Ziel der Gesetzesänderung ist, rechtliche Schutzlücken
zu schließen. Wir brauchen Rechtsklarheit für die Opfer,
für die Täterinnen und Täter, aber auch für das medizinische und pädagogische Personal, für Justiz, Polizei und
die in der Sozialarbeit Tätigen.
Alternativ wird über den Gesetzentwurf des Bundesrates diskutiert. Dieser sieht vor, einen eigenen Straftatbestand der Genitalverstümmelung einzuführen. Minister
Niebel ist laut Pressemitteilung ebenfalls dafür. Diesen
Gesetzentwurf lehnen wir jedoch aus inhaltlichen und
systematischen Gründen ab. Der Formulierungsvorschlag beschreibt die Breite der möglichen Tatbehandlungen nur unzureichend. Mit der Beschränkung auf äußere
Genitalien werden nicht alle Formen der Genitalverstümmelung vollständig erfasst. Der Begriff der Frau lässt
Zweifel bestehen, ob auch Mädchen vor dem Straftatbestand geschützt sind. Die Betroffenen sind aber mehrheitlich Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren.
Ein eigenständiger Straftatbestand der Genitalverstümmelung wäre nur eine symbolische Gesetzgebung,
die nicht in die Systematik der Körperverletzungsdelikte
hineinpassen würde, die nach Tatschwere sachgerecht
differenzieren. Er würde für die meisten Fälle eine geringere Strafe vorsehen als die von uns vorgeschlagene Ergänzung des § 226 des Strafgesetzbuchs. Der von uns
vorgelegte Gesetzentwurf hat ebenso wie die überfraktionelle Gesetzesinitiative von 2009, die damals auch
Dirk Niebel als Abgeordneter unterstützt hat, zum Ziel,
dass regelmäßig eine Mindeststrafandrohung von drei
Jahren Freiheitsstrafe nach § 226 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs erhoben wird, weil die schwere Folge absichtlich
oder wissentlich herbeigeführt wurde. Es ist in strafrechtspolitischer Hinsicht kein Grund ersichtlich, warum
die Genitalverstümmelung weniger strafwürdig sein soll
als andere Fälle schwerer Körperverletzung.
({2})
Im Bundestag wird schon viel zu lange ohne Ergebnis
diskutiert. Es ist an der Zeit, eine gemeinsame Lösung zu
finden. Vor einem Jahr haben wir darüber im Rechtsausschuss diskutiert. Es wurde von allen Fraktionen Bereitschaft signalisiert, an einer Lösung zu arbeiten. Auch
vom Staatssekretär im Justizministerium kam der Hinweis: Wir wollen etwas tun. Minister Niebel erklärte in
seiner Pressemitteilung vom 3. Februar dieses Jahres,
dass er sich engagieren möchte. Bis heute liegt allerdings noch nichts vor. Es ist also an der Zeit, gemeinsam
an die Lösung des Problems heranzugehen. Wir sind in
der Pflicht, ein klares Signal zu setzen, dass diese Menschenrechtsverletzung in Deutschland keinen Platz hat.
({3})
Nehmen Sie unseren Gesetzentwurf als Anregung.
Vielleicht kommen wir im Laufe der Beratungen zu einer gemeinsamen Lösung. Die Frauen und Mädchen
sind auf uns angewiesen und hoffen darauf, dass wir aktiv werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Ute Granold für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute debattieren wir über ein wichtiges Thema. Hier
gebe ich Ihnen recht, Frau Kollegin. Wir haben uns in
diesem Hause schon mehrere Male mit dem Thema Genitalverstümmelung befasst. Wir tun das auch weiterhin.
Es muss aber mit Bedacht eine gute Regelung gefunden
werden. Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, eine schwere Verletzung von
Grundrechten. Dem muss nachgegangen werden. Das
steht außer Frage. Weltweit sind 150 Millionen Mädchen
und Frauen betroffen. Die Zahl steigt. Jedes Jahr kommen etwa 3 Millionen Mädchen und Frauen hinzu. Jede
Einzelne ist ein Fall zu viel.
({0})
Gerade im afrikanischem, im asiatischen und auch im arabischen Bereich ist die Genitalverstümmelung sehr weit
verbreitet. In Deutschland leben - Sie haben es angesprochen; ich habe eine Zahl von UNICEF - 18 000 Frauen
und Mädchen, die betroffen sind. Eine Gefährdungslage
besteht für etwa 5 000 Frauen und Mädchen.
Lassen Sie mich die Debatte, die wir bisher geführt
haben, chronologisch darstellen. Im Jahr 2007 gab es
eine umfassende Anhörung im Familienausschuss; ich
selbst war dabei. Die Sachverständigen kamen zum Ergebnis, dass eine Gesetzesverschärfung kontraproduktiv
sein könnte. Bei einer Mindeststrafe von drei Jahren
- ich komme gleich noch einmal darauf zurück - wäre in
der Regel eine Ausweisung der Täter - Mütter, Eltern,
Verwandte - angezeigt. Das lässt die Opfer davon Abstand nehmen, Strafanzeige zu erstatten, sodass die
Straftaten ungeahndet bleiben.
Wir haben dann 2008 in der Großen Koalition einen
20-Punkte-Plan auf den Weg gebracht, der schließlich
verabschiedet wurde. Darin ging es im Wesentlichen um
Prävention und auch darum, Ärzte, die mit Genitalverstümmelungen zu tun haben, für dieses Tabuthema zu
sensibilisieren.
Ein weiterer Punkt war die Verlängerung der Verjährungsvorschriften. Unserer Meinung nach darf die zehnjährige Frist zur Verjährung solcher Straftaten erst dann
beginnen, wenn das Opfer 18 Jahre alt ist. So besteht
jetzt die Möglichkeit, noch im Erwachsenenalter Anzeige zu erstatten. Das ist eine ganz wesentliche Vorschrift, die hoffentlich dazu führt, Abstand von dieser
Prozedur zu nehmen.
Der Gesetzentwurf der Grünen ist sicherlich diskussionswürdig. Frau Kollegin Lazar, Sie haben den Entwurf des Bundesrates erwähnt. Dieser Entwurf steht
heute nicht zur Diskussion. Dennoch kann man über ihn
sprechen. Wir sind gerne bereit, über das Thema, mit
dem wir uns bereits in den Jahren 2007 und 2008 befasst
haben, noch einmal zu debattieren.
Sie haben den Tatbestand der Genitalverstümmelung
unter die schwere Körperverletzung subsumiert. Das
kann man so sehen. Eine gefährliche Körperverletzung
ist es allemal, weil die Genitalverstümmelung in der Regel mit einem Skalpell oder einem scharfen Messer vorgenommen wird. Das erfüllt den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung, bewehrt mit einem Strafrahmen
von bis zu zehn Jahren. Dieser gilt auch für die schwere
Körperverletzung. Hier gibt es aber ein Problem; das haben damals auch die Sachverständigen so gesehen. Wenn
wir die Genitalverstümmelung als schwere Körperverletzung unter Strafe stellen und die Tat zudem absichtlich
bzw. wissentlich begangen wird, würde die Mindeststrafe bei drei Jahren liegen. Das indiziert in der Regel
die Ausweisung der Täter. Das wollen die betroffenen
Opfer aber nicht. Deswegen haben wir damals davon
Abstand genommen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man, wie es der Bundesrat
vorschlägt, einen eigenen Straftatbestand schaffen, einen
§ 226 a StGB mit der besonderen Überschrift „Genitalverstümmelung“. Darüber könnte man in den Ausschussberatungen nachdenken.
Sie werden sich in diesem Zusammenhang bestimmt
daran erinnern, dass damals die Zwangsverheiratung zunächst als besonders schwerer Fall der Nötigung unter
§ 240 Abs. 5 StGB gefasst wurde. Vor nicht allzu langer
Zeit wurde dann ein eigener Straftatbestand für die
Zwangsverheiratung geschaffen. Damit will man das Signal für bestimmte Bevölkerungsgruppen setzen: Hier in
Deutschland dulden wir Zwangsverheiratung nicht. Das ist ein Weg, den wir auch bei der Genitalverstümmelung beschreiten könnten.
Für uns ist die Tatsache sehr wichtig, dass viele Genitalverstümmelungen in der Ferienzeit vorgenommen
werden. Die Mädchen werden ins Ausland, zum Beispiel
nach Afrika, verbracht, um dort die Beschneidungen
bzw. die Genitalverstümmelungen vornehmen zu lassen.
Anschließend kommen die Kinder zurück. Deshalb sagen wir - das soll in den Katalog des § 5 StGB aufgenommen werden -: Wenn der Täter Deutscher ist oder
das Opfer zum Zwecke der Genitalverstümmelung ins
Ausland verbracht wird, der gewöhnliche Aufenthalt
aber in Deutschland ist, soll das unter Strafe gestellt werden. Es ist uns sehr wichtig, dass dieser „Tourismus“ ins
Ausland, wo diese schweren Menschenrechtsverletzungen begangen werden, aufhört.
({1})
Wir sind uns in der Koalition einig, uns dieses Themas weiterhin anzunehmen. Es gibt eine Kontinuität in
der Befassung. Diese schweren Menschenrechtsverletzungen, diese massiven Grundrechtsverletzungen wollen
wir verhindern. Wir wollen sie nicht dulden. Das Thema
steht bei uns ganz oben auf der Agenda. Wir hoffen, dass
wir in den Beratungen in den Fachausschüssen, das heißt
im Rechts- und im Familienausschuss, zu einer Lösung
kommen, die den Opfern hilft. Die Gesetzesänderung
darf aber nicht kontraproduktiv sein. Vielmehr muss sie
den Eltern und anderen Verwandten, die das vollziehen,
klar aufzeigen, dass wir ein solches Vorgehen nicht dulden. Ich denke, dass wir zu einer guten Lösung kommen
können. Wir werden sicherlich die guten Vorschläge, die
aus dem Bundesrat kommen, ebenso wie die der Koalition, die derzeit in der Beratung sind, aufgreifen und sie
zugunsten der Menschen umsetzen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube,
bei uns allen besteht kein Zweifel: Genitalverstümmelung ist eine gravierende Verletzung der Kinder- und
Frauenrechte. Schätzungen zufolge sind weltweit zwischen 100 Millionen und 140 Millionen davon betroffen,
die meisten von ihnen in Afrika. Aber auch in Deutschland leben - Frau Lazar hat schon darauf hingewiesen etwa 20 000 Betroffene. Ob es nun 18 000 oder 30 000
sind, sei dahingestellt; denn jeder Fall von Genitalverstümmelung bei Mädchen oder Frauen ist einer zu viel.
({0})
Die Eingriffe - das ist bekannt - finden meistens unter unhygienischen Bedingungen statt, vielfach außerhalb von Krankenhäusern, mit nicht sterilisierten Werkzeugen und unter widrigen Bedingungen. Die Folgen des
Eingriffs sind verheerend: Blutverlust, Infektionen, Inkontinenz, Organschädigungen, Verlust des Sexualempfindens, erhöhte Müttersterblichkeit und Totgeburten.
Aufgrund dieser weitreichenden Folgen für Leib, Leben
und Würde der betroffenen Mädchen und Frauen steht
die Genitalverstümmelung seit längerem weltweit in der
Kritik zahlreicher Menschen- und Frauenrechtsorganisationen wie der Vereinten Nationen, von UNICEF, WHO
und Amnesty International. Alle wenden sich gegen
diese Praxis und stufen sie als schwere Menschenrechtsverletzung ein. Nach dem Strafrecht vieler Staaten ist die
Genitalverstümmelung inzwischen ein speziell ausgewiesener Straftatbestand. Selbst in Ländern, in denen die
Genitalverstümmelung traditionell verbreitet ist, zum
Beispiel in Ägypten, Togo oder Burkina Faso, ist sie gesetzlich verboten.
Im bundesdeutschen Recht wird die Genitalbeschneidung im Strafrecht, im Sorgerecht und im Ausländerrecht behandelt. Im Ausländerrecht ist sie im Moment
unter dem Aspekt der geschlechtsspezifischen und nichtstaatlichen Verfolgung subsumiert. Das heißt im Klartext: Eine drohende Beschneidung im Heimatland ist ein
Abschiebungshindernis. Im Bereich des Sorgerechts hat
ein Grundsatzurteil des BGH im Jahr 2005 für klare
rechtliche Verhältnisse gesorgt: Eltern können ihr Sorgerecht verlieren, wenn sie ihre Töchter zur Beschneidung
in ihr jeweiliges Heimatland schicken wollen. Einen eigenen Straftatbestand gibt es bisher im deutschen Strafgesetzbuch nicht. Nach unserem geltenden Recht erfüllt
die Verstümmelung weiblicher Genitalien den Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung. Ob eine
Strafbarkeit als schwere Körperverletzung gegeben ist,
ist noch nicht abschließend geklärt.
Bislang ist es übrigens in Deutschland zu keiner einzigen Verurteilung oder zu einem Strafverfahren gekommen, obwohl das Problem, wie bereits dargestellt wurde,
auch in Deutschland existent ist. Ich denke, es ist kein
Grund, von einem speziellen Straftatbestand allein deshalb abzusehen, weil es keine Strafverfahren gibt. Zur
Klarstellung hat deshalb die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen aktuell einen Gesetzentwurf in den Bundestag
eingebracht, der vorsieht, die Genitalverstümmelung als
eigenen Straftatbestand in den Katalog der schweren
Körperverletzungen aufzunehmen. Damit erfüllt die Genitalverstümmelung den Straftatbestand eines Verbrechens mit einem Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn
Jahren Freiheitsstrafe. Frau Granold, die Gefahr einer
Abschiebung darf hier kein Grund sein, sich gegen den
Gesetzentwurf der Grünen zu entscheiden, sondern
sollte eher ein Grund sein, sich dafür zu entscheiden.
({1})
Des Weiteren zielt der Gesetzentwurf darauf ab, das
deutsche Strafrecht auch auf Genitalverstümmelungen
bei vorübergehenden Aufenthalten im Ausland anzuwenden. Wir alle wissen, dass Mädchen bei Aufenthalten im Ausland, im Heimatland, einem deutlich höheren
Risiko der Verstümmelung ausgesetzt sind. Deshalb begrüßt unsere Fraktion den Gesetzentwurf der Grünen.
Wir werden uns für eine öffentliche Anhörung zu diesem
Thema einsetzen, um die möglichen gesetzlichen Maßnahmen in diesem Bereich intensiv zu prüfen. Vielleicht
gelingt es uns allen gemeinsam - darauf kann man hoffen -, ein weiteres Zeichen zur Bekämpfung dieser
schweren Diskriminierung von Mädchen und Frauen zu
setzen.
Zu prüfen wäre übrigens noch, ob wir eine Meldepflicht für Ärzte bei Gefährdungen oder offensichtlich
durchgeführten Genitalbeschneidungen einführen sollten. Frau Lazar, wenn die Zahl der Frauenärzte, die
eine Verstümmelung festgestellt haben, tatsächlich bei
43 Prozent liegt - Sie haben darauf hingewiesen -, dann
muss man über eine Meldepflicht nachdenken. Klar ist
aber auch, dass wir nicht nur rechtliche Sanktionen benötigen, sondern im Kampf gegen diese menschenverachtende Praxis unbedingt für weitere Verbesserungen
bei der Integration und der Teilhabe an unserem gesellschaftlichen Leben sorgen müssen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
schwarz-gelbe Koalition hat der Menschenrechtspolitik
in ihrem Koalitionsvertrag ein eigenes Kapitel gewidmet. Wir haben dort unter anderem verankert, dass wir
uns gegen jede Form unmenschlicher Behandlung wenden. Deshalb sage ich ganz klar: Praktiken wie die Genitalverstümmelung müssen geächtet und weltweit verboten werden. Denn die weibliche Genitalverstümmelung
stellt eine der schwerwiegendsten Verletzungen der
Menschenrechte von Mädchen und Frauen dar.
Waris Dirie, die ehemalige UNO-Sonderbotschafterin
gegen weibliche Genitalverstümmelung, schreibt in ihrem Buch Wüstenblume:
Es gibt keine Worte, die den Schmerz beschreiben
können. Es ist, als ob dir jemand ein Stück Fleisch
aus dem Oberschenkel reißt oder dir den Arm abschneidet, nur daß es sich dabei um die empfindlichsten Teile deines Körpers handelt. … Der
Schmerz … war so furchtbar, daß ich nur noch sterben wollte.
Meine Vorrednerinnen in dieser Debatte haben es bereits angesprochen: Die WHO spricht von bis zu
140 Millionen betroffener Mädchen und Frauen weltweit. Pro Jahr sind circa 3 Millionen Mädchen und
Frauen gefährdet. Die Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung sind unbeschreiblich: psychisches und körperliches Leid, aber auch eine erhöhte Sterblichkeitsrate
bei der Geburt. Wir müssen uns alle fragen, wie wir gemeinsam politisch wirksame Abhilfe schaffen können,
um das Leid der Betroffenen zu lindern, aber vor allem
neues Leid gar nicht erst entstehen zu lassen.
Neben den strafrechtlichen Debatten geht es natürlich
darum, welche zusätzlichen Angebote nötig sind. Frau
Lazar, Sie haben erwähnt, dass uns gerade im Bereich
Entwicklungskooperation eine wichtige Aufgabe zukommt. Das BMZ fördert zahlreiche Aufklärungs- und
Bildungsprojekte zum Beispiel in Burkina Faso, im Benin, in Guinea und in Mali, die sich dieses Themas annehmen. Es wurde ein pädagogischer Leitfaden entwickelt,
der das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung im
Rahmen der schulischen Erziehung behandelt. Es wurden
sogenannte Generationendialoge durchgeführt, um unterschiedliche Altersgruppen über dieses Thema aufzuklären. Das Ergebnis zeigt, dass eine deutliche Mehrheit derjenigen, die an einem solchen Programm teilgenommen
haben, ihren Töchtern eine solche Prozedur nicht mehr
antun würden. Insofern gehört zu dieser Debatte, die wir
zu Recht führen, auch die Debatte darüber, was wir gemeinsam in den jeweiligen Staaten erreichen können.
Die Debatte zeigt, dass wir in Deutschland die nationale gesetzliche Regelung im Blick behalten müssen;
denn weibliche Genitalverstümmelung kommt eben
nicht nur in einigen afrikanischen Ländern vor, sondern
auch in Deutschland. Laut Terre des Femmes sind in
Deutschland circa 20 000 Mädchen und Frauen betroffen, 4 000 Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund sind gefährdet. Es gibt wenig offizielles Zahlenmaterial. Das liegt natürlich an dem Problem als solches.
Die weibliche Genitalverstümmelung ist seit 1995 als
Menschenrechtsverletzung international gebrandmarkt.
Sie ist in Deutschland strafbar und wird - wir haben es
eben gehört - entweder als gefährliche oder als schwere
Körperverletzung eingestuft. Angesichts der strafrechtlichen Regelung müssen wir uns die Frage stellen, was
wir tun können, um die bestehenden Unklarheiten in der
Praxis zu beseitigen. Ein Problem ist - das haben alle
Vorrednerinnen angesprochen - die sogenannte Ferienbeschneidung. Das heißt, Mädchen werden in ihre Heimatländer verbracht und dort verstümmelt. Dadurch ergibt sich folgendes Problem: Das deutsche Strafrecht gilt
grundsätzlich nur für im Inland begangene Straftaten.
Hier lebende Mädchen müssen dennoch vor dem Risiko
geschützt werden, im Ausland Opfer einer Genitalverstümmelung zu werden. Wenn die Beschneidung beispielsweise von einer afrikanischen Beschneiderin im
Heimatdorf der Familie durchgeführt wird, dann haben
wir das Problem, dass diese Tat nach deutschem Strafrecht derzeit nicht geahndet werden kann. Deswegen ist
es so wichtig, dass wir uns dieses Themas ganz besonders annehmen.
Damit komme ich zu den Verjährungsfristen. Wir alle
wissen, dass es nicht einfach ist, einen solchen Tatbestand zur Anklage zu bringen. Es gibt bisher keinen einzigen Fall; meine Vorrednerin hat das erwähnt. Ich bin
der Meinung, dass die Verjährungsfrist bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ruhen muss; denn sonst kann
man das nicht zur Anklage bringen. Außerdem ist es
wichtig, dass wir die Berechtigung des Opfers zur Nebenklage beachten.
Ich kann hier und heute keine abschließende rechtliche Bewertung vornehmen. Aber ich kann aus menschenrechtspolitischer Sicht sagen: Ich bin gerne bereit,
gemeinsam mit den Rechtspolitikern nach einer Lösung
zu suchen. Wir müssen überlegen, was wir darüber hinaus tun können, um auf eine Sensibilisierung von Mädchen und Frauen für ihre Rechte hinzuwirken und die bereits bestehenden Angebote sozialpädagogischer oder
migrationsspezifischer Art zu verbessern. Eines müssen
wir im Hinterkopf behalten: Die Genitalverstümmelung
ist in vielen afrikanischen Ländern zwar längst strafbar
und verboten, aber leider wird sie vielerorts noch durchgeführt. Der Straftatbestand ist das eine. Das andere ist,
was wir zusätzlich auf internationaler Ebene tun können,
um die Folgewirkungen zu mindern.
Es ist offensichtlich, dass es Beratungsbedarf gibt. Ich
freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Denn wir
dürfen Genitalverstümmelungen nicht tolerieren, und
wir, alle Fraktionen in diesem Haus, müssen ein klares
Signal senden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Yvonne Ploetz für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle
hier sind uns einig: Genitalverstümmelung ist eine
schwere Menschenrechtsverletzung. So scheint der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen völlig verständlich
zu sein. Ich denke aber, man muss sich die Situation sehr
genau ansehen.
Schon heute ist Genitalverstümmelung strafbar: als
Körperverletzung. Wenn sie als schwere Körperverletzung strafbar wäre, würde das bedeuten, dass das Strafmaß bei über drei Jahren läge. Das hätte nach unserem
deutschen Aufenthaltsrecht zur Folge, dass die Familie
- die Eltern spielen bei der Beschneidung meistens eine
tragende Rolle - ausgewiesen würde. Entweder träfe
dies die Eltern allein oder - das wäre der Regelfall - die
Eltern zusammen mit den Kindern. Vielleicht wäre dies
nach der Beschneidung der älteren Schwester der Fall,
vielleicht in einer Zeit, in der man die jüngere Schwester
noch beschützen könnte und müsste. Sie würde aber ausgewiesen - in die Heimat, also an genau den Ort, an dem
Genitalverstümmelungen an der Tagesordnung sind.
Dass Ihr Gesetzentwurf zu diesem Ergebnis führen kann,
ist aus unserer Sicht absurd.
({0})
Deshalb bitten wir Sie, den Gesetzentwurf so zu ändern,
dass nach § 56 des Aufenthaltsgesetzes eine Abschiebung ausgeschlossen ist.
({1})
Außerdem wäre es aus unserer Sicht angemessener,
die Genitalverstümmelung als Straftat gegen die sexuelle
Selbstbestimmung einzuordnen. Dahinter steht die
Frage: Was soll mit Genitalverstümmelungen erreicht
werden? Frauen sollen auf Dauer ihrer sexuellen Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit beraubt
werden. Lassen Sie uns das doch ganz ehrlich beim
Namen nennen.
Lassen Sie uns aber auch transparent machen, welche
Strukturen hinter Genitalverstümmelungen stehen. Häufig ist es der Versuch, über die Kontrolle der weiblichen
Sexualität auch die Kontrolle über die Frauen zu erreichen und patriarchalische Gesellschaftsstrukturen aufrechtzuerhalten. Uns aber muss es um die Selbstbestimmung der Frau gehen und um ihr Recht auf Gesundheit.
({2})
Zur Wahrheit gehört, dass Beschneidung nicht nur ein
Problem ferner Länder ist, sondern auch in Europa stattfindet. Wir müssen uns fragen: Warum ist das der Fall?
Welche Aufklärungs- und Präventionsarbeit muss geleistet werden, um diese Frauen zu erreichen? Ich glaube, es
ist nötig, dass unsere Regierung eine Studie in Auftrag
gibt, die sich ganz dezidiert damit beschäftigt, welche
Hintergründe Genitalverstümmelungen haben, welche
Beweggründe es gibt und welche Ausmaße sie hat. Dann
kann man Initiativen zielgenau ausrichten.
Das würde vielleicht auch zu einer Ausweitung des
Engagements unseres Entwicklungsministeriums führen.
Sie haben von 1999 bis heute, also innerhalb von 13 Jahren, 14 Millionen Euro in zehn Ländern investiert. Ich
glaube, da ist noch ein bisschen Luft nach oben.
({3})
Vielleicht können Sie sich noch daran erinnern, dass
2009 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet
wurde, um sich gemeinsam gegen Genitalverstümmelungen bei Frauen zu wehren. Aus dieser Arbeitsgruppe
hat sich das Ministerium nach nur einem Jahr zurückgezogen. Aus meiner Sicht ist das der Kinderrechtskonvention, der Frauenrechtskonvention und der Menschenrechtscharta absolut unwürdig.
({4})
Ich denke, in der gesamten Debatte wurde deutlich,
dass die Antwort auf Genitalverstümmelung komplexer
sein muss als eine strafrechtliche Komponente, die mit
dem Gesetzentwurf der Grünen gefordert wird. Trotzdem sind wir froh darüber, dass die Debatte noch einmal
beginnt. Lassen Sie uns das Thema im Ausschuss einfach gemeinsam intensiv bearbeiten, damit den Mädchen
und den Frauen von politischer Seite die Hand gereicht
wird, und zwar ohne die Betroffenen der Gefahr der Abschiebung auszusetzen.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Thomas Silberhorn hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auf den ersten Blick mag man Genitalverstümmelung als ein Randthema betrachten. Sicherlich ist das
ein Phänomen, mit dem unsere Gesellschaft, unsere
Rechtsordnung erst im Laufe der Zeit aufgrund von
Migration konfrontiert worden ist. Es geht schlicht um
die Frage, ob wir als Staat in der Lage sind, die körper18928
liche Unversehrtheit aller, die in unserem Land leben,
ausreichend zu gewährleisten. Deswegen ist es kein
Randthema, sondern es gehört in die Mitte unserer
Gesellschaft. Dazu soll diese Debatte heute beitragen.
({0})
Bei aller Ernsthaftigkeit, die diese Debatte erfordert,
kann ich mir allerdings den Hinweis nicht verkneifen,
dass das - jedenfalls für uns in der Union - kein reines
Frauenthema ist, zumal ich heute offenbar der einzige
männliche Redner bin, dem Redezeit eingeräumt worden
ist. Aber auch das zeigt: Wir müssen dieses Thema mit
hoher Priorität auf unsere Tagesordnung setzen. Im
Rechtsausschuss haben wir es schon aufgegriffen.
Wir haben erst im letzten Jahr die Zwangsheirat mit
einem eigenen Straftatbestand unter Strafe gestellt. Ob
man Ähnliches mit der Genitalverstümmelung tun kann,
haben wir im Rechtsausschuss bereits ausführlich beraten. Wir sind uns jedenfalls in einem einig, nämlich dass
Genitalverstümmelung bei Mädchen, bei Frauen nicht
nur eine gravierende Körperverletzung darstellt - oft unter hygienisch katastrophalen Bedingungen -, die bis
zum Tod führen kann, sondern dass Genitalverstümmelung in der Regel auch schwerste und langfristige psychische Schäden für die betroffenen Frauen zur Folge
hat.
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass derartige Praktiken bereits heute unter Strafe stehen, zumindest als Körperverletzung, im Regelfall sogar als gefährliche Körperverletzung und je nach den Umständen des
Einzelfalls oft auch als eine strafbare Misshandlung von
Schutzbefohlenen. Allerdings werden die strafverschärfenden Qualifikationsmerkmale einer schweren Körperverletzung, die ein Verbrechen darstellt, in den meisten
Fällen nicht verwirklicht. Beispielsweise wird der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit bei den gängigen Praktiken meist wohl nicht erreicht. Deswegen kann man
schon die Frage stellen, ob die Strafandrohung ausreicht.
Bei der gefährlichen Körperverletzung, die im Regelfall erfüllt ist, haben wir mit einer Höchststrafe von zehn
Jahren zwar eine relativ hohe Strafandrohung, aber der
Strafrahmen beginnt bereits bei sechs Monaten, sodass
das Delikt lediglich ein Vergehen im strafrechtlichen
Sinne darstellt. Hier teile ich im Grundsatz die Bedenken
der Antragsteller und des Bundesrates. Die mögliche
Strafandrohung trägt dem massiven Unrechtsgehalt einer
Genitalverstümmelung wohl nicht ausreichend Rechnung.
({1})
Deswegen stehe ich persönlich einer Neuregelung
durchaus aufgeschlossen gegenüber. Wir werden das in
unserer Fraktion und in der Koalition ergebnisoffen
beraten.
Über die beiden Ansätze, die sich herausgebildet
haben - ob man einen eigenen Straftatbestand schafft
oder ob man ein Qualifikationsmerkmal bei schwerer
Körperverletzung hinzufügt -, lässt sich, was Strafrechtler offenbar gerne tun, trefflich streiten, insbesondere
darüber, wie das mit der Systematik des Strafgesetzbuches im Allgemeinen und mit der Systematik der Körperverletzungsdelikte im Besonderen ist. Entscheidend
ist aber etwas anderes: Bei der Formulierung müsste in
jedem Fall genau darauf geachtet werden, dass der
Anwendungsbereich einerseits klar definiert ist und
andererseits ausreichend weit genug gefasst wird, um
sämtliche Tathandlungen abzudecken.
Eine explizite Strafandrohung, die hier zur Diskussion gestellt wird, wäre jedenfalls ein klares Signal, das
den Unrechtsgehalt der Genitalverstümmelung unterstreichen würde und in der Bevölkerung und in den betroffenen Kreisen zu mehr Bewusstsein für das Problem
beitragen könnte. Gerade weil oft junge Mädchen betroffen sind, die sich der Genitalverstümmelung schlichtweg
nicht entziehen können, müssen wir dafür eintreten, dass
der Staat hier ein besonders hohes Schutzniveau gewährleisten muss.
In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass
eine Strafbarkeit nicht an Verjährungsfristen scheitern
darf. Wir haben das Ruhen der Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers durch das
2. Opferrechtsreformgesetz bereits weitgehend verwirklicht. Wenn man einen eigenen Straftatbestand der Genitalverstümmelung schaffen wollte, müsste man diese
Verjährungsregelung entsprechend erweitern.
Was ein höheres Schutzniveau angeht, ist schon auf
das Phänomen der Auslandstaten hingewiesen worden.
In der Tat: Auch hier sehe ich eine Lücke. Die Genitalverstümmelung muss auch dann mit Strafe bedroht sein,
wenn die Tat im Ausland begangen wird, wenn sie von
Deutschen im Ausland begangen wird oder wenn sie an
Opfern begangen wird, die zur Tatzeit ihren Wohnsitz
oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland
haben.
Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Täter vielfach durch Verlagerung ihres Aufenthaltsortes ins Ausland der deutschen Jurisdiktion entziehen. Dieser Aspekt
macht deutlich, dass wir das Phänomen der Genitalverstümmelung bislang strafrechtlich wohl nicht hinreichend erfassen. Im Übrigen würde eine Strafbarkeit der
Tatbegehung im Ausland dafür sprechen, einen eigenen
Tatbestand der Genitalverstümmelung zu schaffen, auf
den dann verwiesen werden könnte.
Auch bei Inlandstaten sollten wir bedenken, dass die
Genitalverstümmelung in der Regel im Verborgenen
stattfindet. Die Justiz erhält in der Regel gar nicht oder
nur sehr spät davon Kenntnis. Daran würde eine Aufnahme ins Strafgesetzbuch natürlich nichts ändern.
Ich will nur auf Frankreich verweisen, wo die weibliche Genitalverstümmelung bereits seit Jahrzehnten
strafbar ist. Die Zahlen dort sind ernüchternd: In beinahe
30 Jahren fanden gerade einmal 36 Prozesse statt, also
etwas mehr als ein Verfahren pro Jahr. Das macht deutlich, dass die Frage, ob eine Änderung des Strafrechts
hier ein wirkungsvolles Mittel sein kann, berechtigt ist;
aber um den Betroffenen wirklich zu helfen, um Frauen
und Mädchen wirklich zu schützen, braucht es weit mehr
als eine Strafandrohung im Strafgesetzbuch.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Karin Roth für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, dass dies heute eine ermutigende, eine erfreuliche und vor allen Dingen eine konstruktive Debatte ist.
Wir reden ja nicht das erste Mal über Genitalverstümmelung. Wir reden auch nicht das erste Mal darüber, wie
schwerwiegend und wie menschenrechtsverletzend
Genitalverstümmlung für Mädchen und Frauen ist. Wir
reden nicht das erste Mal darüber, dass 20 000 bis 30 000
betroffene Frauen in Deutschland leben. Wir reden heute
darüber, dass 5 000 Mädchen, die hier leben, gefährdet
sind. Je größer die Zahl ist - 140 Millionen weltweit -,
umso deutlicher wird, dass wir dieses Thema nicht in
den Griff bekommen.
Sie, Herr Silberhorn, haben gerade sehr gut beschrieben, wie schwierig es ist, hier im Inland die Möglichkeiten zu nutzen, um zu verhindern, dass zumindest die
Mädchen, die in unserem Land leben, von diesem Tatbestand betroffen sind. Wir sagen, dass bis zu 30 000 betroffene Frauen hier leben und 5 000 der hier lebenden
Mädchen gefährdet sind. Das sind große Zahlen. Deshalb müssen hier in unserem Land wichtige und richtige
Maßnahmen ergriffen werden.
Wenn Genitalverstümmelung eine schwere Menschenrechtsverletzung ist, dann kann es als eine schwere
Körperverletzung angesehen werden. Warum nicht? Die
Frage ist: Warum trauen wir uns nicht, nach vorne zu
gehen und hier im Land zu zeigen, dass wir das nicht
akzeptieren? Im Übrigen besteht die Gefahr, dass Genitalverstümmelung in unserem Land und nicht nur im
Ausland ausgeführt wird. Wir müssen beides sehen und
für beides eine Regelung finden. Ich stimme Ihnen zu,
Herr Silberhorn: Das ist schwierig.
In unserem Land gibt es noch keine einzige Anzeige.
Da muss man sich doch fragen, warum es keine gibt. Ich
hatte schon vor zwei Jahren eine Diskussion mit dem
Präsidenten der Ärztekammer. Ich weiß, dass es sogenannte Leitlinien für Ärzte, zum Beispiel Frauenärzte
und Kinderärzte, gibt, diesen Tatbestand zu melden. Es
passiert aber nicht. Deshalb ist die Anregung meiner
Kollegin Sonja Steffen, eine Meldepflicht einzuführen,
nicht falsch.
({0})
Wir moralisieren von diesem Podium aus, und in
Wahrheit wissen wir, dass wir in dieser Sache ein stumpfes Schwert haben. Also müssen wir aus meiner Sicht
hier Änderungen einbringen. Der Gesetzentwurf der
Grünen bildet eine gute Basis. Auch der Bundesrat hat
schon einiges zu diesem Thema vorgelegt. Ich habe den
Eindruck, dass wir hier zusammen etwas auf den Weg
bringen können, das allen, den jungen Mädchen hier,
aber auch denen in den Entwicklungsländern, hilft.
Jetzt zu den Entwicklungsländern. Es gibt gute Projekte, die zeigen, dass man das Verhalten der Eltern und
Gemeinden ändern kann, die das alles mit der Begründung, es handele sich um Rituale, legitimieren. Es ist
nicht zu legitimieren, dass Mädchen letztlich in ihrem
intimsten Bereich so verletzt werden. Das ist auch nicht
mit dem Hinweis auf Stammesrituale oder kulturelle
Identität zu legitimieren. Deshalb brauchen wir Aufklärung.
Ich bin sehr froh, dass der Europarat vor kurzem - Frau
Schuster, Sie waren bei der Sitzung dabei - die „Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ verabschiedet hat.
In § 38 dieser Konvention werden alle Länder aufgefordert, die Genitalverstümmelung zu bekämpfen. Die Europäische Kommission wird dazu demnächst eine Initiative auf den Weg bringen und uns darüber informieren,
was wir alles gemeinsam tun können.
Wir in diesem Parlament sollten versuchen, alles zu
tun, was wir tun können. Gleichzeitig brauchen wir in
der Entwicklungspolitik mehr Projekte. Es kann nicht
sein, dass im Rahmen der Entwicklungspolitik nur
2 Millionen Euro pro Jahr für diesen Bereich zur Verfügung stehen. Auch dort müssen wir andere Prioritäten
setzen, gar keine Frage. Wir unterstützen entsprechende
Initiativen, wenn es darum geht, für Projekte zur sexuellen Reproduktion und zur sexuellen Selbstbestimmung
von Frauen mehr Mittel zur Verfügung zu stellen; das ist
die Position der SPD. Wenn sich die Koalition dem anschließen kann, freue ich mich auf die nächsten Haushaltsberatungen. Es wäre gut, wenn wir dann eine gemeinsame Vorlage verabschieden könnten.
({1})
In diesem Sinne hoffe ich, dass das, was hier gesagt
wird, so ernst gemeint ist, dass wir demnächst einen Gesetzentwurf verabschieden können.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/4759 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Hahn, Albert Rupprecht ({0}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Martin Neumann ({1}), Patrick Meinhardt,
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Forschung für die zivile Sicherheit
- Drucksache 17/8573 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Rahmenprogramm der Bundesregierung
„Forschung für die zivile Sicherheit ({3})“
- Drucksache 17/8500 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wilhelm von Humboldt hat über Sicherheit gesagt - Zitat -:
Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine
Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu
genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.
Diese Aussage ist nach wie vor gültig.
Die Risiken für die zivile Sicherheit in unserer Gesellschaft betreffen immer mehr Bereiche in unserem
Alltag. Sie reichen von der Gefahr terroristischer Anschläge - denken wir nur an die verhinderten Kofferbombenattentate auf den Bahnverkehr - über katastrophale Ereignisse bei Großveranstaltungen, wie zum
Beispiel bei der Love-Parade in Duisburg, bis zur Anfälligkeit von IT-Strukturen in der Wirtschaft. Es gilt, für
diese Risiken Vorsorge zu treffen. Dabei ist Sicherheit
natürlich niemals Selbstzweck, sondern die Basis eines
freien Lebens in einer demokratischen Gesellschaft, wie
wir sie haben.
Die Verantwortung für die zivile Sicherheit zählt als
Element der Daseinsvorsorge zu den Kernaufgaben des
Staates. Sie lässt sich allerdings nicht allein politisch
oder verwaltungstechnisch erfüllen, sondern wir müssen
sie gemeinsam angehen: in Wissenschaft, Wirtschaft und
Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage: Welche Sicherheitskultur passt eigentlich zu einer freien und offenen Gesellschaft wie der der Bundesrepublik Deutschland? Hier bietet das Programm „Forschung für die
zivile Sicherheit“ genau den passenden Rahmen.
Wir verfolgen einen ganzheitlichen, integrierten Ansatz, der die gesamte Innovationskette einbezieht, von
der Forschung bis hin zur Anwendung. Wir beziehen die
Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Staat mit ein
und versuchen, gemeinsame Lösungen für konkrete Bedrohungsszenarien zu entwickeln. Mit dem neuen Sicherheitsforschungsprogramm wollen wir die Sicherheit
erhöhen. Es sind Lösungen vorgesehen, die praktisch
umsetzbar und vor allem ethisch zu verantworten sind
und die von den Menschen akzeptiert werden.
Lassen Sie mich einige Eckdaten nennen. Seit 2007
haben wir mit 250 Millionen Euro über 120 Verbundprojekte im Bereich der zivilen Sicherheit gefördert. Rund
50 Millionen Euro - das sind rund 20 Prozent der Gesamtfördersumme - wurden für gesellschaftswissenschaftliche Forschung genutzt. Juristen, Soziologen und
Psychologen bearbeiteten von Beginn der Projekte an
zusammen mit Technikern und Naturwissenschaftlern
ethische, datenschutzrechtliche und andere gesellschaftliche Fragestellungen.
({0})
Wir wollen mit dem Sicherheitsforschungsprogramm
auch die Chancen der zivilen Sicherheit als Wettbewerbsfaktor nutzen. Im Jahr 2010 hat der Markt für Forschung für die zivile Sicherheit und entsprechende
Dienstleistungen in Deutschland ein Volumen von
20 Milliarden Euro gehabt. Wir erwarten in den nächsten
zehn Jahren eine Steigerung auf 30 Milliarden Euro. Insofern ist es gut, dass rund 43 Prozent unserer Projektpartner beim nationalen Sicherheitsforschungsprogramm
Unternehmen sind. Von diesen sind übrigens über
60 Prozent kleine und mittelständische Betriebe. Das
zeigt, dass das Programm des BMBF gerade vom Mittelstand sehr gut angenommen wird.
({1})
Wie die erforschten Sicherheitslösungen konkret aussehen, will ich an zwei Beispielen erläutern:
Wir haben die Love-Parade in Duisburg noch in Erinnerung. Die Menschen fragen sich: Wie kann die Sicherheit der Besucher von Großveranstaltungen, etwa bei
Fußballspielen oder Musikkonzerten, gewährleistet werden? Dafür hat das Projekt „Hermes“ seit 2008 unter
Leitung des Supercomputing Centre am Forschungszentrum Jülich ein IT-System für eine Evakuierung entwickelt. Der neue digitale Evakuierungsassistent erstellt
eine Prognose darüber, an welchen Stellen eines Veranstaltungsortes es in den darauffolgenden 15 Minuten zu
einem gefährlichen Gedränge kommen kann. Das Ganze
passiert in einer Echtzeitsimulation auf Grundlage der
konkreten, aktuellen Personenzahlen und der vorhandenen Rettungswege. So können die Rettungskräfte und
die Polizei in gefährlichen Situationen steuernd eingreifen.
({2})
In einem weiteren Projekt mit der Kurzbezeichnung
ORGAMIR entwickeln wir ein System, das in U-BahnTunneln mithilfe von Sensoren gefährliche Stoffe entdecken soll und beispielsweise Rauchschwaden oder giftige Gase erkennen kann. Auch dies passiert in Echtzeit
und ermöglicht so die Warnung der Passagiere und der
Menschen, die unterwegs sind. Außerdem ermöglicht es
den Rettungskräften und der Polizei, einzugreifen.
Mit dem neuen Rahmenprogramm werden wir zusätzliche, neue Schwerpunkte setzen. Wir werden die gesellschaftlichen Aspekte der zivilen Sicherheit stärken,
wozu auch der Umgang mit Risiken, das Sicherheitsempfinden der Menschen und die Katastrophenkommunikation gehören.
Beim neuen Schwerpunkt „Urbane Sicherheit“ geht
es um den Schutz vor Kriminalität, aber auch um die Sicherheit in öffentlichen Einrichtungen - ich denke hier
zum Beispiel an Schulen; wir haben die schrecklichen
Amokläufe in Schulen noch vor Augen -, um die Sicherheit im öffentlichen Personenverkehr und um die Versorgung der Bevölkerung im Katastrophenfall.
Der Schwerpunkt „Schutz und Rettung der Menschen“ fokussiert zum Beispiel auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen im Krisenfall und die Rolle der
neuen Medien als Alarmsystem.
Beim Schwerpunkt „Schutz vor Gefahrstoffen, Epidemien und Pandemien“ geht es schließlich um die Erkennung, Bekämpfung und Eindämmung gefährlicher
Krankheitserreger.
Wir haben mit Ihrer Unterstützung im Parlament vorgesehen, in diesem und den folgenden Jahren jeweils
55 Millionen Euro für das neue Programm auszugeben.
Wir werden die internationale Kooperation mit Frankreich, mit Israel und mit den USA weiter ausbauen. Mit
diesem Sicherheitsforschungsprogramm haben wir es
geschafft, in Deutschland eine breit aufgestellte Forschungslandschaft zu etablieren und wichtige Impulse
für die Aus- und Weiterbildungsaktivitäten im Handwerk, in den Ausbildungseinrichtungen und in den
Hochschulen auf den Weg zu bringen. Ich erinnere an
die berufsbegleitenden Bachelor- und Masterstudiengänge in diesem Bereich. Wir planen, mit dem Forschungsforum Öffentliche Sicherheit einen Studienführer herauszubringen, der genauer informiert.
Meine Damen und Herren, freie und offene Gesellschaften sind vielleicht besonders verletzlich. Aber ihre
Stärkung, die Stärkung der freien und offenen Gesellschaften, auch mithilfe der zivilen Sicherheitsforschung,
ist wahrlich eine lohnende Aufgabe; denn es geht um unsere Sicherheit und um unsere Freiheit.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt hier vielleicht noch einige, die sich daran
erinnern, wie wir vor gut sechs Jahren in der Großen Koalition durchaus heftig gestritten haben, als es darum
ging, das erste Sicherheitsforschungsprogramm auf den
Weg zu bringen. Wir, die SPD, haben Kritik geübt und
sie auch aufrechterhalten, weil für uns das erste Sicherheitsforschungsprogramm zu technikzentriert bzw. technikorientiert war, weil ihm ein zu enger Sicherheitsbegriff zugrunde lag, weil dieses Programm zu sehr auf
Terrorismusbekämpfung abgehoben hat und weil die
Kernfrage - Was bedroht die Gesellschaft? - eigentlich
nicht berührt worden ist.
({0})
- Danke.
Ich will ausdrücklich betonen, dass wir schon feststellen, dass in dem zweiten Sicherheitsforschungsprogramm, auch wenn viele der Projekte noch nicht abgeschlossen sind - wir hätten uns gewünscht, dass man
wirklich einmal Erfahrungen sammelt, um zu sehen,
welche Neuerungen angestrebt werden -, einige unserer
Kritikpunkte von damals aufgenommen wurden und
dass versucht wurde, den Sicherheitsbegriff zu verbreitern und einen gesellschaftlichen Schwerpunkt zu setzen. Wir finden das Wort „Terrorismus“ nicht mehr so
häufig, wie es noch im ersten Sicherheitsforschungsprogramm der Fall war, und sind darüber recht froh.
Aber es bleibt eine Reihe von Kritikpunkten. Einer
dieser Punkte ist, dass der Sicherheitsbegriff, über den
wir reden, immer noch unklar und schwammig ist.
({1})
Sicherheit ist nicht Sicherheit. Es wird einfacher, wenn
man in das Angelsächsische eintaucht. Die englischsprachigen Länder unterscheiden zwischen „safety“ einerseits und „security“ andererseits. Wir übersetzen beides
mit „Sicherheit“.
Wenn man zum Beispiel ein Auto konstruiert, mit
dem man sich sicher durch den Verkehr bewegt, dann
würde das unter dem Gesichtspunkt „safety“ so aussehen, dass man eine sichere Fahrgastzelle konstruiert,
dass man gute Bremsen, einen Airbag und ein ABS einbaut, sodass also feststeht: Mit diesem Auto fährt man
sicher durch den Straßenverkehr. Das steckt hinter
„safety“.
Wenn man ein Auto unter dem Gesichtspunkt „security“ baut, dann wird man schussfeste Scheiben einbauen, schussfeste Reifen nutzen und das Auto panzern.
Mit diesem Auto fährt man ebenfalls „sicher“ durch den
Straßenverkehr, zum Beispiel in Afghanistan. Aber dahinter steht ein anderer Sicherheitsbegriff. Im Englischen wird das deutlicher als bei uns unterschieden.
Es ist wichtig, zu unterscheiden, welche Art von Sicherheit man wirklich haben will. Einer der Schwachpunkte des Sicherheitsforschungsprogrammes ist, dass
man in den einzelnen Bereichen nicht erkennen kann:
Um welche Form von Sicherheitsforschung geht es tatsächlich? Geht es wieder um eine technologische Frage?
Handelt es sich um den Versuch, mit technischen Mitteln
auf Sicherheitsprobleme zu reagieren oder nicht?
Ein weiterer Punkt, den wir in diesem Programm
wirklich vermissen, ist, dass nach wie vor nicht darüber
gesprochen wird und auch nicht erforscht werden soll,
welche Bedrohungsszenarien vorliegen, was die Gesellschaft wirklich bedroht. Ich habe letzte Woche eine
schriftliche Frage an die Bundesregierung gerichtet, sozusagen als Vorbereitung auf diese Debatte. Ich wollte
damit die Möglichkeit schaffen, dass die Bundesregierung das Ganze doch noch klärt. Meine Frage war:
Welche wissenschaftlich fundierten Bedrohungsszenarien liegen dem neuen … Sicherheitsforschungsprogramm zugrunde?
Die Antwort ist: Ja, es - Zitat … liegen Bedrohungsszenarien zugrunde, die unter
anderem den Schutz der Bevölkerung und der kritischen Infrastrukturen vor Bedrohungen durch Terrorismus, Sabotage, organisierte Kriminalität, Piraterie, aber auch vor den Folgen von Naturkatastrophen und Großunfällen betreffen.
All das ist mit Experten aus Forschung und Industrie
sowie mit privaten und staatlichen Endnutzern diskutiert
worden.
Das allerdings ist nicht gemeint bei der Überlegung,
welche Bedrohungen und Gefahren diese Gesellschaft
wirklich betreffen könnten. Es ist völlig klar: Wenn Sie
mit dem THW und den freiwilligen Feuerwehren - die
wir alle schätzen - eine Großschadensereignisanalyse
machen und fragen, was sie im Katastrophenfall an Bedürfnissen und Anforderungen an die Politik haben,
dann werden sie zum Beispiel sagen: Wir brauchen eine
gute Beleuchtungseinheit. Wir brauchen diese und jene
technische Einrichtung. - Aber genau darum geht es
nicht.
({2})
- Bitte schön, gerne. ({3})
Das ist nur Großschadensereignisdiskussion.
Was wir wissen wollen und müssen, ist: Worin bestehen die Bedrohungen für diese Gesellschaft? Ich will ein
paar Beispiele nennen, um das etwas deutlicher zu machen. Vor zehn Jahren gab es in den Medien Diskussionen darüber, dass der Milzbranderreger, Anthrax, verschickt worden ist. Das wurde als große Bedrohung für
die Gesellschaft dargestellt. Wenn man sich damit etwas
näher befasst hat, hat man gesehen: Das kann überhaupt
keine terroristische Bedrohung werden, weil die Mittel
der Verteilung für Terroristen nicht gegeben sind, dass
also keine Bedrohung für die Gesellschaft besteht. Aber
wir und die Öffentlichkeit haben so reagiert, als wäre es
eine Bedrohung.
Umgekehrt geht es auch. Einige Kollegen erinnern
sich vielleicht daran, dass uns vor zwei oder drei Jahren
ein Forscher bei einem Forschungsfrühstück sagte: Jedes
Jahr sterben in Deutschland 10 000 Menschen, weil sie
nicht grippeschutzgeimpft sind. Diese Zahl ist wahrscheinlich zu hoch. Die Frage ist auch: Ist eine Bedrohung wie Grippetod durch Schutzimpfungen abwendbar? Dieser Punkt ist nicht in dem Bereich „Pandemie“
erfasst, weil es dabei um terroristische Akte geht. Die
Frage ist: Kann man diese Bedrohung für die Gesellschaft reduzieren, und, wenn ja, wie? Das wäre die
adäquate Antwort auf ein Bedrohungsszenario gewesen.
({4})
Ein letztes Beispiel: Vielleicht sind wir uns alle in der
Einschätzung einig, dass wir vor kurzer Zeit einen
Angriff auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung erlebt haben, nämlich als bekannt wurde, dass die
Neonazis der Zwickauer Terrorzelle in Deutschland zehn
Morde begangen haben. Dass wir einen zunehmenden
Rechtsextremismus beklagen müssen, ist aus meiner
Sicht auch eine Bedrohung für unsere Gesellschaft,
({5})
allerdings glücklicherweise mit einer kleinen Zahl von
Opfern. Die Frage ist also auch, ob Bedrohung auch von
quantitativen Aspekten abhängt, also davon, wie viele
Opfer es gibt, ob 3, 5 oder 1 000. All das wäre zu klären.
Es gibt übrigens schon entsprechende Maßnahmen
in diesem Bereich. Am Samstag war ich beim Neujahrsempfang der Evangelischen Schülerinnen- und
Schülerarbeit in Westfalen, die seit Jahren Antirassismusaktionen sowie interreligiösen und interkulturellen
Jugendaustausch durchführen. Ihr Ansatz ist es, der Bedrohung durch Rechtsextremismus präventiv zu begegnen, klagen aber zugleich seit Jahren über Geldmangel
und mangelnde Mittelausstattung. Hier für Abhilfe zu
sorgen, darin hat sich diese Bundesregierung leider
nicht hervorgetan.
Wir haben das Problem, dass diese Punkte nicht
geklärt sind. Das sind Schwachstellen im Sicherheitsforschungsprogramm.
Lassen Sie mich meine letzte Redeminute nutzen und
zum Ende noch zwei Punkte vortragen. In Ihrem Antrag
ist davon die Rede, dass Sie eine ausgewogene Balance
von Sicherheit und Freiheit hinbekommen wollen.
({6})
Abgesehen davon, dass der Begriff „ausgewogene
Balance“ Quatsch ist - entweder gibt es eine Balance
oder nicht -, sagen wir ausdrücklich: Uns ist es wichtig,
dass wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben. Das
steht an allererster Stelle.
({7})
Wo das nicht möglich ist und wo es Ansätze gibt, dass
man das durch Sicherheit auszugleichen versucht, muss
man das intensiv diskutieren. Es wird aber keine Balance
zwischen Sicherheit und Freiheit geben.
Zu den Schwerpunkten Ihres Sicherheitsforschungsprogramms gehört schließlich, dass Deutschland seine
wirtschaftlichen Chancen im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung nutzt. Hier präsentieren Sie Ihr Ziel,
Deutschland zum führenden Anbieter von Sicherheitstechnologie in anderen Ländern zu machen. Das wirtschaftliche Ziel steht bei Ihnen also ganz vorne. Das
haben Sie gerade in Ihrer Rede noch einmal herausgestellt, Herr Staatssekretär. Das ist nicht unsere Vorstellung von Sicherheitsforschung. Wir wollen, dass die
Bevölkerung in dieser Gesellschaft sicher und frei lebt.
Dazu bräuchte man ein anderes Sicherheitsforschungsprogramm.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor
Dr. Martin Neumann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Röspel, ich möchte auf das
antworten, was Sie in Ihrem Beitrag dargestellt haben.
({0})
Ich habe mich in Vorbereitung auf die heutige Debatte
noch einmal damit befasst, was in der Vergangenheit
gemacht wurde. Sie sprachen von dem, was in der Großen Koalition - ich will auch die Jahreszahl nennen,
nämlich 2008 - erreicht wurde.
Erstens müsste es eigentlich von Ihnen und auch von
den anderen Oppositionsfraktionen, anders, als Sie es
dargestellt haben, eine große Zustimmung zu dem
geben, was von der Bundesregierung vorgelegt wurde.
Das Rahmenprogramm „Forschung für die zivile Sicherheit“ entspricht nämlich genau den Vorstellungen, Leitfragen und Zielsetzungen, die 2008 - Sie waren damals
im Gegensatz zu mir dabei - von den Innenpolitikern
von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gemeinsam im Grünbuch Risiken und Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit in Deutschland des
Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit dargelegt wurden. Genau das, was darin enthalten ist, hat man jetzt in
dieses Programm aufgenommen.
({1})
Wenn Sie nun daran Kritik üben, dann sollten Sie sich
mit Ihren Innenpolitikern darüber verständigen und uns
und der Öffentlichkeit sagen, wo Ihre Fraktion in dieser
Frage steht. Das sollte man tun, wenn man wirklich eine
sachliche Debatte über das Thema führen möchte.
Zweiter Punkt. Sie haben die fehlende Evaluation bei
den Projekten der ersten Programmphase angesprochen.
Wir haben das in der letzten Sitzungswoche in der Aktuellen Stunde angesprochen. Ich verweise in dem Zusammenhang auf den Begleitantrag der Koalitionsfraktionen. Wir fordern eindeutig diese Evaluation mit dem
Auslaufen der ersten Förderphase der Projekte. Das ist
ganz wichtig, weil die Erkenntnisse dann vorhanden
sind. Ich bitte, dies anzuerkennen und die Ergebnisse
abzuwarten.
({2})
Ein weiterer Punkt: Das Sicherheitsumfeld des einzelnen Menschen und der Gesellschaft - Kollege Röspel,
Sie haben es gerade angesprochen - hat sich im vergangenen Jahrzehnt erheblich verändert. Das ist eine Feststellung. Es ist völlig klar, dass man an dieser Stelle ansetzen muss. Wir kommen nicht umhin, festzustellen,
dass sich die Risiken und Bedrohungslagen für eine
offene Gesellschaft in sehr unterschiedlicher Weise
gewandelt haben. Wenn man sich beispielsweise die Folgen von Katastrophen, unvorhergesehenen Kettenreaktionen, gezielten Anschlägen, Pandemien oder extremen
Naturereignissen anschaut, dann wird deutlich: Der
Schutz der Wirtschaft, der Infrastruktur und der Bürger
stellt unser Krisenmanagement vor neue Herausforderungen. Sie haben das angesprochen und Beispiele
genannt. Wir haben an dieser Stelle die Aufgabe, den
gesellschaftlichen Fortschritt und die vielen Innovationen, die unsere Gesellschaft durchdringen und uns in
eine gewisse technische Abhängigkeit geführt haben,
weiter zu untersuchen. Diese neuartigen Gefahrenpotenziale führen dazu, dass die bisherige Sicherheitsarchitektur den neuen Herausforderungen und den gewandelten
Gefahren nicht gerecht wird.
Diese systemische Diskrepanz wurde in dem TABBericht „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner
Gesellschaften - am Beispiel eines großräumigen und
langandauernden Ausfalls der Stromversorgung“, über
den wir vor kurzem diskutiert haben, an einem konkreten Beispiel verdeutlicht. Die Analyse des TAB zeigte
uns, dass sich die Folgen von Katastrophen nicht nur auf
die Kommunikation, den Transport, den Verkehr usw.
auswirken, sondern darüber hinausgehen und auf das
Krisenmanagement und auf die Schutzmaßnahmen
selbst ausstrahlen. Das ist die Botschaft. Hier muss man
ansetzen.
Wir stehen also vor der Herausforderung, das Risikomanagement und vor allen Dingen die Krisenbewältigung neu zu konzipieren. Dieser wichtigen und großen
Aufgabe ist die Vorgängerregierung damals in der Großen Koalition mit dem nationalen Forschungsprogramm
für zivile Sicherheit nachgekommen. Im Rahmen meiner
Recherchen habe ich festgestellt, dass von meiner Fraktion damals eine Vielzahl an Punkten kritisiert wurde,
die - Sie haben es angesprochen - die Abwägung zwischen Sicherheit und Persönlichkeitsrechten betrafen.
Ich möchte nur die Forschung zu Muster- und Körperscannern erwähnen.
Wir wissen, dass sich die fortschreitende technologische Entwicklung zum Schutz der Freiheit umdrehen
lassen kann und ebenso ein Gefahrenpotenzial für die
Persönlichkeitsrechte und das Eigentum birgt. Sie sprachen von Balance. Ich sage, das ist eine Frage der Ausgewogenheit. Deshalb haben wir - anders als Sie das
hier dargestellt haben - dem neuen Programm eine deutliche Handschrift gegeben. Wir haben genau diese
Dr. Martin Neumann ({3})
Abwägung zwischen persönlicher Freiheit und Sicherheit, auf die es mir ankommt, neu austariert. Das vorgelegte Rahmenprogramm folgt daher, wie es im Übrigen
auch der Wissenschaftliche Programmausschuss zum
nationalen Sicherheitsforschungsprogramm in seinem
Bericht empfiehlt, dem Grundsatz, die Balance zwischen
Freiheit und Sicherheit neu zu wahren. Wie sollten
Sicherheitsmaßnahmen von den Bürgern akzeptiert werden, wenn die grundrechtlichen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger nicht gewahrt werden?
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
stellt sich für uns eine entscheidende Frage: Sind wir
bereit, ein gewisses Restrisiko zu tragen und gewisse
Unsicherheiten hinzunehmen? Wir haben in der vorangegangenen Programmphase erste Erfahrungen gesammelt und greifen nun eine ganz wichtige Erfahrung wieder auf, nämlich den gesellschaftlichen Aspekt: Was
nützt die Forschung für zivile Sicherheit, wenn die
Ergebnisse nicht ausreichend überführt werden und wir
die Transformation nicht schaffen? Daher haben wir darauf zu achten, dass die Vielzahl von staatlichen und
nichtstaatlichen Akteuren in die Projekte einbezogen
und Sicherheitskompetenzen in der Gesellschaft aufgebaut werden. Das erfordert, verstärkt die Wirtschaft und
die Unternehmen in das Programm einzubeziehen und
den Innovationstransfer zu verstärken und zu gestalten.
Das sind wichtige Herausforderungen, denen wir uns
stellen sollten.
Ich bedanke mich.
({4})
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass man noch
Redezeit übrig hat, wenn ein Minus vor der Zeitangabe
steht. Das gilt nicht nur für Sie, Herr Neumann, sondern
auch für andere vor Ihnen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
werde versuchen, das tapfer zu ignorieren.
({0})
Das Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“
von 2007 bekommt jetzt eine Neuauflage; das ist schon
erwähnt worden. Diese nennt sich nunmehr allerdings
„Rahmenprogramm“ und verliert leider wie alle Rahmenprogramme, die die Bundesregierung bisher aufgelegt hat, an Konkretheit.
Allerdings sollen jetzt die gesellschaftlichen Dimensionen von Sicherheitsforschung von Anfang an mit
untersucht werden. Das findet die Linke richtig; wir
haben das hier auch schon mehrfach gefordert. Immerhin gibt es im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheitsrechten, von Sicherheit und Kontrolle viele offene
Fragen. Die Erfahrungen zeigen nämlich, dass bisher
noch jede neue Technologie, Herr Neumann, auch neue
Probleme aufgeworfen hat.
({1})
Niemand sollte jedoch ignorieren, dass für unsere
Gesellschaft Konflikte und Unsicherheiten typisch sind,
Unsicherheiten, die oftmals überhaupt nicht technologischer Natur sind; man denke nur an soziale Unsicherheiten. Viele Menschen verunsichert und sorgt, dass sie ihr
Leben immer weniger selbstbestimmt planen und gestalten können - ganz zu schweigen natürlich von akuten
Krisensituationen, Katastrophen und natürlichen Gefahrenlagen.
Die ständigen Diskussionen über klamme öffentliche
Kassen stärken nun auch nicht gerade das Sicherheitsempfinden der Menschen, und diesen Umstand machen
sich nun Technologielobbyisten zunutze. Es scheint
doch nur logisch, dass Risiken wenigstens durch neue
Technologien minimiert werden sollen, wenn man schon
nicht in der Lage zu sein scheint, den Einsatz von Mitteln und Personal für die Arbeit von Sicherheits-, Rettungs- und Katastrophenschutzbehörden zu steigern.
Aus diesem politisch verursachten Dilemma wiederum
zieht ein ganzer Industriezweig, nämlich die Sicherheitsindustrie, ausgesprochen satten Nutzen.
Viele Technologien waren und sind nur breit einsetzbar, wenn freiheitliche Normen und Grundrechte eingeschränkt werden. Ich erinnere an solche Dinge wie die
Weitergabe von Flug- und Bankdaten, an biometrische
Merkmale in Personaldokumenten, an die europaweite
Speicherung von Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerdaten, an den Datenstriptease, den Empfänger von
Sozialleistungen hinlegen müssen, an den Nacktscanner,
der sich nicht bewährt hat und in anderen Ländern längst
wieder abgeschafft wird, jüngst auch an den Staatstrojaner, Herr Neumann,
({2})
sowie an die Pläne zur Vorratsdatenspeicherung.
({3})
Die Linke hat diese Entwicklung und das technologiezentrierte Herangehen der Bundesregierung hier immer wieder kritisiert. Viel zu viele Menschen misstrauen
diesen neuen Technologien, weil sie sie nicht verstehen,
weil sie sie nicht kontrollieren können und weil sie sie
weder anwenden können noch anwenden wollen; auch
das muss man in Rechnung stellen. Letztlich werden
damit wieder neue Unsicherheiten und neue Risiken produziert, und wir brauchen uns dann nicht über die vielen
kontroversen gesellschaftlichen Debatten zu wundern.
Alles in allem ergeben sich daraus also gute Gründe,
seriös zu forschen. Dazu gehört natürlich, frühzeitig
einen gesellschaftlichen Dialog über Sinn, Nutzen und
Anwendungszweck von neuen Sicherheitstechnologien
zu organisieren. Aber für das vorliegende Rahmenprogramm galt das offensichtlich nicht; denn darauf darf die
gesellschaftliche Öffentlichkeit jetzt nur noch reagieren.
Das nenne ich einen Fehlstart. Das ist keine vertrauensbildende Maßnahme.
({4})
Vertrauen, meine Damen und Herren, ist aber gerade in
diesem Bereich enorm wichtig; es ist die Grundlage.
Ich darf hier auch einmal daran erinnern, dass so mancher ehemalige Politiker, der vormals Sicherheitstechnologien hier massiv vorangetrieben hat, später Plätze in
Aufsichtsräten oder Beraterverträge in der Sicherheitsindustrie bekommen hat.
Nun, Herr Rachel, setzen Sie auch noch auf sogenannte Sicherheitspartnerschaften. Und als hätte man
nichts gelernt, wird die Verlagerung hoheitlicher Aufgaben des Staates an Private in grundrechtlich höchst sensiblen Bereichen längst vorbereitet. Herr Rachel, Sie haben gesagt, dass es sich hier um eine Kernaufgabe des
Staates handelt. Aber das stimmt einfach nicht; denn Ihr
praktisches Handeln sagt etwas anderes. Zudem ist eine
Folge dieser Situation, dass Sie der Industrie nicht nur
das Geld für Forschung und Entwicklung, sondern anschließend an sie auch noch Aufträge vergeben. Damit
finanzieren Sie deren Geschäftsmodell. Das halten wir
für höchst problematisch. Das ist nicht staatliche Aufgabe.
({5})
Für uns gehört die Aufklärung über solche Zusammenhänge und über Alternativen zu einem breiten gesellschaftlichen Dialog. Schließlich darf der Einsatz von
Sicherheitstechnologien nicht dazu führen, dass sich die
Bundesregierung am Ende aus ihrer Verantwortung
stiehlt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vieles
von dem, was wir 2007 in der ersten Phase des Sicherheitsforschungsprogramms kritisch angemahnt haben,
will die Bundesregierung in der 2012 beginnenden zweiten Phase erkennbar stärker berücksichtigen.
({0})
Dazu zählen wir die stärkere Integration von sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und von rechtlichen
Fragestellungen, von soziokulturellen und psychologischen Aspekten, Fragen der Akzeptanz im realen Verhalten der Menschen sowie die Alltagstauglichkeit von Lösungen. Dazu gehört aber auch die frühzeitige und
ständige Einbeziehung von Praktikern und Nutzern. Das
haben wir 2007 gefordert, und das will die Bundesregierung jetzt offensichtlich umsetzen. Ich sage ganz ehrlich:
Wenn Lerneffekte eintreten, dann begrüßen wir das
durchaus. Dagegen haben wir nichts einzuwenden.
({1})
Wie soll das nun umgesetzt werden? Eines ist klar:
Wenn man tatsächlich mehr Interdisziplinarität und
Transdisziplinarität in der Forschung will, dann muss
man dafür deutliche Anreize und klare Förderkriterien
schaffen. Da besteht nach wie vor Entwicklungsbedarf,
und zwar nicht nur in der Sicherheitsforschung.
({2})
Sie wollen eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Wenn man das will, dann muss man aber sehr
aufpassen, dass diese hehren Vorsätze nicht zwischen
Forschung und Anwendung verloren gehen, gerade
dann, wenn man gleichzeitig ökonomische Interessen
verfolgt.
Dass es in Zukunft einen größeren internationalen
Markt für Produkte und Dienstleistungen aus dem Bereich der zivilen Sicherheit geben wird, ist klar und wird
von niemandem bestritten. Dass auch deutsche Unternehmen hier als Anbieter tätig werden wollen, ist an sich
ein vernünftiges Ziel.
({3})
Nun wissen wir aber natürlich, dass ein ökonomisches
Kalkül in Bezug auf ein bestimmtes technologisches Sicherheitsprodukt nicht immer mit ethischen Bewertungen, Persönlichkeitsrechten, Datenschutz, den Erfahrungen und Interessen von Nutzern und Praktikern oder
einem effektiven Mitteleinsatz kompatibel und nicht von
vornherein an den Hauptsicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung orientiert ist.
({4})
In dem Zusammenhang muss ich, Herr Rachel, an das
Thema Körperscanner erinnern. Die Förderung der Entwicklung eines Körperscanners für Flughäfen war 2007
ein ganz zentrales Vorzeigeprojekt des Forschungsministeriums. Sie haben es in Ihren Presseerklärungen damals
als Leuchtturmprojekt herausgestellt. In der Anwendung
bei den Pilotprojekten an deutschen Flughäfen war der
Nacktscanner, wie er dann genannt wurde, allerdings ein
totaler Flop, und zwar nicht nur, weil persönlichkeitsrechtliche und datenschutzrechtliche Fragen nicht genügend berücksichtigt wurden. Vielmehr haben auch die
Nutzer gesagt, dass er nicht vernünftig in ein Gesamtsicherheitskonzept eingebunden ist. Vor allen Dingen bedeutete er gegenüber der bisher praktizierten Lösung
eine totale Entgleisung im Nutzen-Kosten-Verhältnis.
Das ist ein typischer Fall, in dem die hehren Vorsätze,
die man für die Forschung formuliert hatte, in der Praxis
nachher offensichtlich überhaupt keine Rolle mehr gespielt haben.
({5})
Das heißt, wir brauchen eine Begleitforschung, Evaluation und Transparenz, um nachvollziehen zu können,
ob diese schönen Vorsätze nachher auch wirklich umgesetzt werden und es zu einer Balance kommt. Wir brauchen auch Transparenz, um feststellen zu können, ob die
Mittel tatsächlich eingesetzt werden, um die Hauptprobleme zu lösen. Da hat der Kollege Röspel total recht.
Wir sind hier in einem Bereich extrem heterogener Fragestellungen:
({6})
Es geht um öffentliche Infrastruktur, um Alltagskriminalität, um Sicherheit im Internet, um Naturkatastrophen,
um Piraterie. Wir haben aber überhaupt keinen Überblick darüber, ob die Mittel so eingesetzt werden, dass
sie tatsächlich zur Behebung der Hauptprobleme dienen;
und wir wissen auch nicht, was Sie vorhaben.
Und - da hat auch die Kollegin Sitte etwas Richtiges
angesprochen - wir brauchen auch Transparenz bei der
Frage, welche Aufgabe im Bereich der Sicherheitsforschung der Steuerzahler und die öffentliche Hand haben
und was dabei eigentlich die ureigenste Aufgabe von
Unternehmen ist. Auch da weiß man nicht, wohin die
Reise geht; da brauchen wir mehr Klarheit.
({7})
In einem Punkt, Herr Rachel - ich finde es gut, dass
Sie unsere Diskussion da aufgenommen haben -, haben
Sie allerdings unsere volle Unterstützung, wenn Sie das
tatsächlich umsetzen. Ein wirklich effektives Mittel, um
Erkenntnisse aus der Forschung in die Gesellschaft diffundieren zu lassen, ist die Integration in Lehre, Studium
und Ausbildung. Wenn wir es schaffen, Erkenntnisse der
Sicherheitsforschung in Studiengänge an Fachhochschulen, in die berufliche Weiterbildung, in die Ausbildung
zu integrieren,
({8})
dann wäre das wirklich ein gutes Mittel, um diese Erkenntnisse in die gesellschaftliche Praxis zu überführen.
Da hätten Sie unsere Unterstützung.
({9})
Unsere Unterstützung haben Sie nicht, wenn Sie
hauptsächlich in Lösungen investieren, die zu teuer sind,
die keine Akzeptanz finden und die am Ende niemand
haben will; denn dann haben wir nicht mehr Sicherheit,
sondern mehr Verunsicherung. Das wollen wir natürlich
vermeiden.
({10})
Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Eine der wichtigsten Aufgaben unseres
Staates ist es, die Sicherheit und die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
({0})
Dies erfordert einen ständigen Anpassungsprozess; denn
die Anforderungen an Sicherheitsbehörden ändern und
wandeln sich immer wieder.
Die Bedrohung unserer freiheitlichen Gesellschaft
durch Katastrophen, Umwälzungsprozesse der Globalisierung, durch Fortschritte in Informations- und Kommunikationstechnologien, auch durch den Klimawandel
hat große Auswirkungen auf die Gewährleistung von ziviler Sicherheit durch den Staat. Neue Sicherheitslösungen müssen daher den Schutz der Bevölkerung und der
kritischen Infrastrukturen leisten.
Die Sicherheitsrisiken haben sich in den letzten Jahren
drastisch verändert. Versorgungsnetze können beispielsweise schon durch kleine Störungen ausfallen. Daher
werden an vielen Stellen auch künftig Sicherheitsvorkehrungen nötig sein, um den Menschen zu ermöglichen, ein
freies Leben in einer offenen Gesellschaft zu führen.
Diese Sicherheitsvorkehrungen werden durch Technologien unterstützt, die sie einfacher, schneller und wirkungsvoller machen. Das zunehmende Wachsen von
Ballungszentren, die wachsende Vernetzung unterschiedlicher Lebensbereiche und die dichten Infrastrukturnetze
haben eine neue Qualität der Verletzlichkeit zur Folge.
Großveranstaltungen - das hat die Katastrophe in Duisburg vor zwei Jahren gezeigt - werden zur sicherheitstechnischen Herausforderung.
Die Forschung kann einiges tun, um Katastrophen zu
verhindern bzw. solche besser zu managen. Mit dem
neuen Rahmenprogramm zur Sicherheitsforschung mit
dem Schwerpunkt „Sicherheit als Basis eines freien
Lebens“ verfolgt die Bundesregierung das Ziel, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie den Schutz
kritischer Infrastrukturen zu erhöhen und dabei eine verantwortungsvolle Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu halten.
({1})
Das neue Rahmenprogramm der Bundesregierung
schließt an das erste nationale Sicherheitsforschungsprogramm an. Die enge Verzahnung mit den europäischen
Sicherheitsforschungsprogrammen und den entsprechenden Politikbereichen untermauert die starke Rolle Deutschlands in diesem Bereich.
Aufbauend auf den Erfolgen des ersten Programms
und vor dem Hintergrund neuer globaler Herausforderungen wird die Forschungsförderung auf folgende
Schwerpunkte ausgerichtet: gesellschaftliche Aspekte
der zivilen Sicherheit, urbane Sicherheit, Sicherheit von
Infrastrukturen und Wirtschaft, Schutz und Rettung von
Menschen, Schutz vor Gefahrenstoffen, Epidemien und
Pandemien sowie IT-Sicherheitsforschung.
Als neuer innovativer und wichtiger Punkt für das
neue Rahmenprogramm wurde die IT-Sicherheitsforschung hinzugenommen. Ziel ist es, die Nutzer von Informationstechnologie vor Betrug, Missbrauch, Sabotage
und Ausspähung zu schützen. Denn vom Vertrauen in die
Sicherheit dieser Systeme hängen inzwischen weite Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens
ab.
Mit unserem Programm unterstützen wir vor allem
auch die mittelständische Wirtschaft, einerseits weil sie
es ist, die an der Entwicklung maßgeblich beteiligt ist,
andererseits weil sie von den Ergebnissen profitiert.
Technologische Kompetenzen sollen künftig besser vor
natürlichen Risiken und Wirtschaftskriminalität schützen.
Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Röspel,
wirtschaftlicher Erfolg gerade des Mittelstandes nutzt
den Menschen.
({2})
Ich warne davor, diesen Begriff so negativ zu besetzen,
wie es in dieser Debatte getan wurde.
({3})
Denn wirtschaftlicher Erfolg sorgt für Arbeitsplätze und
für Wohlstand in unserer Gesellschaft.
({4})
Wir müssen auch vorsichtig sein, wenn wir neue
Technologien nur mit Problemen und Herausforderungen verknüpfen. Natürlich müssen wir auch darauf
schauen. Aber die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes profitieren von diesen Technologien. Das ist unser
Rohstoff, mit dem wir unseren Erfolg sichern können.
({5})
Bisher konnte nicht viel Kritik von Ihnen geäußert
werden, weil das Programm wirklich gut ist. Aber immer
wieder wurde das Beispiel Nacktscanner genannt. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass
es die Ministerin war, die die Nacktscanner kritisiert hat
und die eine Alternativforschung auf dem Gebiet der sogenannten Terahertztechnologie angestoßen hat.
({6})
Auch die Europäische Union fördert in ihrem 7. Forschungsrahmenprogramm erstmals die zivile Sicherheitsforschung. Dafür sind jährlich 200 Millionen Euro
vorgesehen. Die Bundesregierung hat erstmals 2007 das
Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ verabschiedet, um uns vor Gefahren wie Terrorismus, Kriminalität und Naturkatastrophen besser schützen zu können. Derartige Gefahren sind in den letzten Jahren leider
nicht weniger geworden. Deshalb brauchen wir mehr
denn je die Fortsetzung dieser Forschung.
Mit unserem Antrag möchten wir die Fortschreibung
des Rahmenprogramms der Bundesregierung zur Sicherheitsforschung unterstützen. Maßgeblich für den Erfolg
sind aus unserer Sicht: der Ausbau des deutschen Engagements im Bereich der europäischen und internationalen Sicherheitsforschung, also das Vernetzen, das weitere Bemühen um die Beteiligung kleinerer und mittlerer
Unternehmen sowie die Sicherstellung, dass auch während der Laufzeit des Programms aktuelle sicherheitsrelevante Themenfelder schnell durch Forschungsaktivitäten
adressiert werden können. Darüber hinaus sind Interdisziplinarität, Begleitforschung zu kritischen Fragen, Transparenz und Öffentlichkeit in meinen Augen Voraussetzung für den Programmerfolg.
Die neuen Technologien können helfen, die aufkommenden sicherheitspolitischen Herausforderungen zu meistern. Wir brauchen deshalb Sicherheitslösungen, die die
Bürger schützen, sie aber in ihrer persönlichen Entfaltung
- ich nenne beispielsweise das Nutzen des Internets oder
den Besuch von Großveranstaltungen - nicht behindert.
Der vorliegende Antrag zur Fortführung der zivilen Sicherheitsforschung steht hiermit im Einklang. Daher bitte
ich Sie um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Hahn und Herr Neumann, wir in der Opposition
sind so souverän, nicht alles schlecht zu finden. Wir
freuen uns auf Diskussionen und neue Entwicklungen.
Wir erkennen wie Frau Sager auch an, dass in diesem
Programm gegenüber dem vorherigen Programm Punkte
neu aufgenommen worden sind und es Verbesserungen
gegeben hat. Wir wissen uns in der Hoffnung, dass in
diesem Programm steht, dass man bis 2017 weiterlernen
will.
Weil Sie sehr auf Interdisziplinarität abstellen, äußern
wir zunächst die Bitte, dass der Kreis der einbezogenen
Ministerien noch erweitert wird. Bis jetzt - das kann
man nachlesen - gehören die Bereiche Wirtschaft, Verkehr, Bau und Gesundheit dazu. Gehören nicht aber,
wenn man die geisteswissenschaftliche und die soziologische Betrachtung hinzunimmt und wenn eine Erweiterung auf die urbane Sicherheit erfolgen soll, auch das
Sozialministerium sowie das Ministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend dazu?
Wenn wir Sicherheit nicht nur als persönliches Gut,
wie es auch die Freiheit ist, sondern auch als öffentliches
Gut begreifen, dann zwingt uns das, auch in der Politik
sehr konkret zu werden. Ich will dazu eine Debatte der
letzten Sitzungswoche aufnehmen. Hier hatten wir einen
Disput in Bezug auf das Programm „Soziale Stadt“. Man
kann schlecht die Mittel für das Programm „Soziale
Stadt“ kürzen und sich gleichzeitig für eine größere urbane Sicherheit aussprechen. Das ist für die Praxis wichtig.
({0})
Im Übrigen: Ich möchte es einmal plakativ ausdrücken, Herr Rachel. Sie betonen, dass die 50 Millionen
Euro als Begleitforschung für Geistes-, Sozial- und anderen Wissenschaften gedacht seien. Ich sage dazu: Das
darf nicht Begleitforschung sein, sondern das muss
Kernforschung sein. Wir wünschen uns, dass bei der
Fortschreibung dieses Programms solche Aspekte konkreter formuliert werden.
Ich möchte darüber hinaus zwei Anmerkungen machen. Als Schleswig-Holsteiner erinnere ich mich an
Lars Clausen. Das war der erste deutsche Katastrophenforscher, der uns schon in den 80er-Jahren gesagt hat,
dass wir in Bezug auf den Katastrophenschutz daran
denken müssen, dass „Schutzlaien“ ausgebildet werden.
Lars Clausen dachte nicht an Hightech, sondern ganz bewusst an „Lowtech“, an die Kompetenz der Menschen.
Vielleicht können Sie die Verknüpfung von Hightech,
Lowtech und Kompetenz in ein zukünftiges ziviles Sicherheitsforschungsprogramm aufnehmen. Sie haben die
Resilienz, ein neues Fremdwort für Widerstandsfähigkeit, betont. Das steht in engem Zusammenhang mit
Hightech und Lowtech.
({1})
Die zweite Bemerkung knüpft an den Antrag an, den
die Koalitionsfraktionen eingereicht und den wir mit Interesse gelesen haben. In diesem Antrag setzen Sie sich
im Zusammenhang mit INDECT kritisch mit dem zivilen Sicherheitsforschungsprogramm der EU auseinander. Wir erkennen ausdrücklich an, dass der Staatssekretär im Innenausschuss gesagt hat, dass die deutschen
Verwaltungen bis hin zum BKA es abgelehnt haben,
dass das BKA am europäischen Programm - hier ging es
um Personenerkennung, Bewachung und Verhaltenserschließung - teilnimmt, weil die Überwachungskomponente zu umfassend war. Wir finden es bemerkenswert,
dass sowohl die Fraktionen dieses Bundestages als auch
die Bundesregierung diesen Gedanken in Bezug auf Europa formuliert haben. Wir möchten aber von Ihnen
gerne wissen - vielleicht kann das gleich Herr Murmann
erläutern -, was Sie damit meinen, wenn Sie sich einerseits in Ihrem Erschließungsantrag positiv hinter diese
Haltung des BKA stellen, andererseits aber sagen:
Diesen Forschungsbereich
- es geht um den Bereich der Personenerkennung, der
Verhaltensbeobachtung und Bewachung
gilt es daher systematisch und möglichst früh begleitend zu technologischen Entwicklungen zu stärken.
Und ich will diese Schraube gerne noch weiter drehen. Vorhin hatten wir eine Debatte zu Ägypten. Welche
Maßstäbe halten wir in Bezug auf für Demokratie streitende Bevölkerungen ein, wenn es technologisch perfekte Überwachungssysteme gibt? Haben wir am Ende
das Exportinteresse des Mittelstandes im Auge? Haben
wir die gleichen Maßstäbe, die wir bei Rüstungsgütern
und bei Dual-Use-Gütern haben, die man zur Folter einsetzen könnte, auch bei den Gütern, die die zivile Sicherheit betreffen? Wir möchten, dass das auch von Ihnen reflektiert wird. Vielleicht kann die Regierung darauf
hinwirken, dass auch im nächsten europäischen Forschungsprogramm gutes Regieren eine Rolle spielt. Wir
müssen auch politisch und letztlich demokratisch-institutionell begreifen, was es heißt, zivile Sicherheit mit
Demokratie und mit Freiheit zu verknüpfen.
Weil ich mit Lars Claussen angefangen habe, muss
ich mit Ferdinand Tönnies, seinem Inspirator, enden.
Ferdinand Tönnies sagte seinerzeit: Verstand ohne Willen ist ziellos. Wille ohne Verstand ist zerstörerisch. Ich glaube, in der zivilen Sicherheitsforschung müssen
wir dazu kommen, zuerst Verstand, Wille und Werte zu
beachten und erst dann Technik, Hightech wie Lowtech,
anzuwenden.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir haben deutlich gemacht, dass es sich hier
auch um eine Wertediskussion handelt, die die Grundlage für dieses Sicherheitsforschungsprogramm ist. Ein
sicheres Deutschland und ein sicheres Europa - das haben wir immer wieder betont - sind die Grundlage für
die Lebensplanung der Bürger in unserem Land und in
Europa. Thomas Rachel hat es mit einem schönen Zitat
eingeleitet: Sicherheit ist die Grundlage für Freiheit. Dabei geht es längst nicht mehr nur um militärische Sicherheit; die Zahl der zivilen Felder ist beeindruckend.
Herr Röspel, da geht es aus meiner Sicht nicht nur um
Terrorismusbekämpfung,
({0})
sondern auch der Safety-Gedanke kommt in einigen Bereichen durchaus vor. Frau Sitte, das wird in dem Programm auch ziemlich konkret. Dabei geht es um eine
Vielzahl von Bereichen: kritische Infrastrukturen, Sicherung unserer Transporte, Sicherung der Informationsstrukturen, Sicherung der Bürger vor Infektionen, Sicherheit der Bürger bei Massenveranstaltungen, Sicherheit von Einsatzkräften - auch hier gibt es wieder einen
Safety-Aspekt -,
({1})
Sicherung unserer Lebensmittel, Sicherung der Umwelt vor Gefahrenstoffen.
Das Ziel unserer Politik ist es, eine gleichermaßen
freie wie sichere Gesellschaft zu gewährleisten. Das ist
unsere vornehmste Aufgabe. Deswegen ist es aus meiner
Sicht wichtig und finde ich es großartig, dass es ein solches Forschungsprogramm gibt.
({2})
Lassen Sie mich noch einmal einige Aspekte aufgreifen, die bereits angesprochen wurden. Die Berücksichtigung von vorrangig mittelständischen Unternehmen in
diesem Bereich liegt mir natürlich besonders am Herzen.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass rund ein Viertel der Projektpartner kleine und mittlere Unternehmen
sind. Das Programm ist eine große Chance für den Austausch zwischen der Forschung und den KMU.
({3})
- Nein, auch viele KMU; ich komme gleich zu einem
Beispiel. - Es handelt sich um eine wachsende Branche,
in der Deutschland in vielen Bereichen führend ist. Der
Zugang zu neuesten Forschungsergebnissen kommt so
auch den KMU zugute. Wir wollen auch das Miteinander von kleinen und großen Unternehmen fördern. Diese
Produkte haben gute Exportchancen. Die Produkte kommen nicht nur aus dem Rüstungsbereich, sondern auch
aus vielen nützlichen Bereichen, auf die ich gleich noch
zu sprechen komme. Diese Chancen wollen wir weiter
nutzen.
Ein Beispiel: Die Firma bbe Moldaenke ist ein kleines
Familienunternehmen aus meinem Wahlkreis. Es wurde
vor mehr als 20 Jahren gegründet, übrigens aus einem
Forschungsprojekt heraus, und es ist somit auch ein
schönes Beispiel für Unternehmensgründungen aus der
Forschung heraus. Der Inhaber hat das Unternehmen
über viele Jahre nachhaltig aufgebaut. Mittlerweile hat
er 22 Mitarbeiter und ist an drei Verbundprojekten beteiligt.
In einem der Projekte geht es im Wesentlichen darum,
wie man krankheitserregende Bakterien in Trinkwasser
schneller und effizienter aufspüren kann, also ein Projekt, das mit Terrorismus überhaupt nichts zu tun hat.
Siemens hatte übrigens auch einmal ein solches Projekt
gestartet, hat es dann aber eingestellt. Das zeigt das wiederkehrende Phänomen, dass manche Großunternehmen
bestimmte Projekte starten, sie dann aber einstellen, woraufhin kleine innovative Unternehmen das Projekt aufgreifen und daraus eine echte Erfolgsgeschichte machen.
({4})
Ich finde, das ist gut so. Darum ist die Beteiligung dieser
Unternehmen so wichtig.
Zweiter Aspekt: europäische und internationale Vernetzung der Forschungsaktivitäten. Die Sicherheitsforschung ist ein Eckpfeiler im 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramm. Es gibt eine enge Zusammenarbeit
mit den europäischen Partnern. Ich möchte aber ganz besonders die Zusammenarbeit außerhalb von Europa hervorheben.
Aus meiner Sicht ist beispielsweise die vielfältige Zusammenarbeit mit unseren Freunden in Israel von Bedeutung. Wie schwierig und diffizil die Sicherheitslage
dort ist, wissen wir alle.
({5})
Israel ist aber auch ein Land mit herausragender Forschung und mit vielen jungen, innovativen Unternehmen. 2008 beispielsweise betrug der Anteil der Investitionen in Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt fast 5 Prozent. Das liegt noch weit über dem,
was wir uns als Ziel gesetzt haben. Wir können auch in
der gesellschaftlichen Debatte viel gewinnen, wenn wir
uns mit den Israelis im Rahmen dieser Projekte austauschen.
({6})
Lassen Sie mich noch kurz zwei weitere Aspekte nennen, zunächst die disziplinübergreifende Zusammenarbeit. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger neuer
Aspekt. Wir wissen, dass heute gerade die Forschung in
Grenzbereichen zu bahnbrechenden Neuerungen führt.
In dem Zusammenhang ist es wichtig, dass immerhin
schon 20 Prozent der Gesamtfördersumme - ich glaube,
Herr Röspel und auch Herr Rossmann haben es vorhin
schon erwähnt - in die Begleitforschung investiert werden. Sie hatten von 80 Prozent gesprochen.
({7})
Ich glaube, es ist wichtig, dass man diesen Aspekt überhaupt berücksichtigt hat. Insofern glaube ich auch, dass
noch weitere neue Aspekte zum Tragen kommen.
Die Einbindung von Endnutzern wurde ebenfalls angesprochen. Es ist wichtig, dass nicht nur die Forschungsergebnisse selbst erzeugt werden, sondern dass
daraus auch neue Anwendungen entstehen, die uns weiterbringen.
Ich komme zum Schluss und möchte sagen, dass ich
die zivile Sicherheitsforschung für eines der spannendsten Forschungsfelder unserer modernen Gesellschaft
halte. Es kann nicht immer nur um ein Mehr an Sicherheit gehen. Dieser wichtige Punkt bedarf sicherlich der
Diskussion. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, aber
wenn es zu viel Sicherheit gibt - das erleben wir manchmal auch hier bei den Sicherheitsvorkehrungen im Deutschen Bundestag -, kommt es gelegentlich zu Beklemmungen. Man muss immer wieder das richtige Maß
finden und sich an die Erfordernisse anpassen. Deswegen ist es sinnvoll, solch ein Forschungsprogramm zu
haben. Wir unterstützen dieses Forschungsprogramm
und sorgen dafür, dass es im Haushalt ordentlich verankert wird. Hier sehen wir uns auf einem guten Weg. Deswegen bringen wir diesen Antrag ein und hoffen auf Ihre
Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8573 und 17/8500 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b so-
wie den Zusatzpunkt 8 auf:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Krüger-Leißner, Anette Kramme,
Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken - Rahmenfrist verlängern - Regelung für kurz befristet Beschäftigte weiterentwickeln
- Drucksache 17/8574 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser absichern
- Drucksache 17/8579 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia
Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Arbeitslosengeld statt Hartz IV - Zugang zur
Arbeitslosenversicherung erleichtern
- Drucksache 17/8586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Nachricht, dass rund ein Viertel der Menschen, die nach Beschäftigung arbeitslos werden, kein
Arbeitslosengeld bekommt, hat mich tief erschüttert.
Das belegen aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit; die Presse hat ausführlich darüber berichtet. Die
Betroffenen fallen direkt in die Grundsicherung, obwohl
sie regelmäßig Beiträge an die Arbeitslosenversicherung
gezahlt haben. Das bedeutet: Für 25 Prozent der Beschäftigten hat die Arbeitslosenversicherung ihre Schutzfunktion verloren, und die Tendenz ist steigend.
Für mich stößt das Gesetz an die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit, und ich wage nicht, vorherzusagen, wie
eine entsprechende Verfassungsklage ausginge; denn ein
Viertel der Beschäftigten leistet Beiträge, um sich für
den Fall der Arbeitslosigkeit abzusichern, aber wenn
dieser Fall eintritt, schauen die Menschen in die Röhre.
Ich meine, das entzieht dieser Versicherung die Legitimationsgrundlage; ich persönlich halte das für einen sozialpolitischen Skandal.
({0})
Das können wir nicht hinnehmen; wir müssen handeln.
Die SPD-Fraktion hat verschiedene Arbeitsmarktexperten konsultiert, um eine Lösung zu finden. Unser
Antrag ist das Ergebnis dieser Bemühungen. Wir wollen
die Rückkehr zur Rahmenfrist von drei Jahren. Das
würde auch nach Einschätzungen der BA einem großen
Teil der Betroffenen helfen; wir könnten sie wieder in
die solidarische Versicherung hereinholen. Das würde
die Arbeitslosenversicherung stärken, letztendlich auch
unseren Sozialstaat.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es gar nicht
verschweigen: Wir selbst haben 2003 in Regierungsverantwortung die Rahmenfrist von drei auf zwei Jahre verkürzt. Aber was damals, 2003, richtig war, muss nicht
auch heute noch angemessen sein. Der Arbeitsmarkt hat
sich in den vergangenen Jahren geradezu dramatisch
verändert: Jedes zweite neue Arbeitsverhältnis ist befristet. Die Kurzbefristungen nehmen weiter zu: Leiharbeit,
Saisonbeschäftigung, Teilzeitbeschäftigung und Praktikantentätigkeiten haben stark zugenommen. Projektgebundene Beschäftigung ist im Kreativ- und Kulturbereich vorrangig.
Ja, die Welt hat sich verändert, und darauf müssen wir
reagieren. Dabei sind wir lernfähig und halten nicht
ideologisch an dem fest, was einmal richtig war. Noch
ein Hinweis, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition: Damals haben Sie gegen die Verkürzung der
Rahmenfrist gestimmt. Vielleicht erinnern Sie sich noch;
Sie können es nachlesen. Heute haben Sie nicht nur die
Möglichkeit, den alten Zustand wiederherzustellen, sondern auch noch allen Grund dazu. Die Experten werden
Ihnen das vor Augen führen, wenn wir in wenigen Wochen die Anhörung zu den vorliegenden Anträgen durchführen. Wenn Sie den Anträgen nicht zustimmen wollen,
erwarten wir Ihre Vorschläge, wie Sie auf die Erosion
der Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung reagieren wollen.
Die Analyse des Arbeitsmarktes zeigt uns auch, dass
mit der dreijährigen Rahmenfrist nicht allen geholfen ist.
Es bleibt ein Kernbereich der kurz befristet Beschäftigten, die weiterhin auf eine Sonderlösung angewiesen
sind. Dazu gehören viele Beschäftigte im Bereich der
Kultur- und Kreativwirtschaft, vor allem bei Film, Fernsehen und Theater.
In einer Stunde wird die Berlinale eröffnet. Natürlich
stehen vor allem die Stars im Mittelpunkt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie nur ein Teil der Filmbranche sind. Zur ganzen Wirklichkeit gehören auch diejenigen, die hinter der Kamera stehen. Erst mithilfe dieser
Filmschaffenden werden all die Filme möglich, die wir
in den nächsten Tagen zu sehen bekommen.
Die Berufswirklichkeit und die soziale Absicherung
der Filmschaffenden sehen alles andere als rosig aus.
Projektgebundene Arbeit mit regelmäßigen Unterbrechungen zwischen den Arbeitsverhältnissen, niedrige
Gagen und lange Drehtage sind bei vielen die Regel. Für
diese kurzfristig Beschäftigten aller Branchen haben wir
2009 eine auf sechs Monate verkürzte Anwartschaft geschaffen. Aber das ist an Voraussetzungen gebunden, die
von den meisten nicht erfüllt werden können, sodass bisher kaum jemand von der Sonderregelung profitiert hat.
Nach zweieinhalb Jahren Erfahrung wissen wir: Dieses Gesetz läuft ins Leere, und es verfehlt sein Ziel. Belegt wird das durch zwei Monitoringberichte an den
Haushaltsausschuss. Danach haben aufgrund dieser Regelung innerhalb eines Jahres sage und schreibe 242
kurz befristet Beschäftigte Arbeitslosengeld bezogen,
fast die Hälfte kommt aus dem Kulturbereich. Wissenschaftliche Studien, in Auftrag gegeben von Verdi und
dem Schauspielerverband, zeigen auf, dass trotz der verkürzten Anwartschaft gerade einmal 5,5 Prozent der befragten Filmschaffenden Arbeitslosengeld I beziehen
konnten, lediglich 4,6 Prozent der Schauspieler profitierten davon.
Es gibt überhaupt keinen Zweifel: Das Gesetz von
2009 ist wirkungslos. Ablesen können wir das an den geringen Kosten, die es bisher verursacht hat. Wir erinnern
uns: Veranschlagt waren 50 Millionen Euro jährlich, de
facto hat es die BA im vergangenen Jahr noch nicht einmal 1 Million Euro gekostet. Darum ist unser Vorschlag:
Fortschreibung der auf sechs Monate verkürzten Anwartschaft für alle kurzfristig Beschäftigten unter Wegfall aller Hürden. Sowohl die Begrenzung der Beschäftigungsdauer - derzeit sechs Wochen - als auch die
Einkommensgrenzen gehen an der Berufswirklichkeit
der Menschen, die eigentlich davon profitieren sollen,
vorbei.
Mit unserem Vorschlag wollen wir uns aber nicht auf
ein ungewisses Abenteuer einlassen. Deshalb befristen
wir das Gesetz auf drei Jahre und begleiten es durch eine
wissenschaftliche Evaluation. Dadurch erhalten wir laufend Erkenntnisse über die Auswirkung, übrigens auch
in finanzieller Hinsicht, und wir können entsprechend
nachsteuern.
Wir wissen, dass die Sonderregelung für alle kurz befristet Beschäftigten in wenigen Monaten ausläuft, genau am 1. August. Es muss also gehandelt werden. Was
fällt der Koalition dazu ein? Sie will im Wesentlichen alles beim Alten lassen. Eine kleine Änderung will sie allerdings vornehmen. Die zu berücksichtigende Beschäftigungsdauer soll von sechs auf zehn Wochen erhöht
werden. Das ist lächerlich. Sämtliche Stellungnahmen
von Verbänden und Gewerkschaften, die seit langem auf
dem Tisch liegen, belegen, dass bei der Verlängerung der
Frist auf zehn Wochen kaum mehr Menschen in den Genuss von Arbeitslosengeld I kommen würden. Die Ignoranz, die Sie gegenüber den Betroffenen an den Tag legen, hat mich sehr überrascht.
({2})
Ich kann an die Koalition nur appellieren, ihre Pläne
noch einmal zu überdenken. Die Anhörung in wenigen
Wochen wird Gelegenheit dazu geben.
Noch ein Wort zum Antrag der Grünen. Ich freue
mich über diesen Antrag. Ihr Vorschlag geht total in die
richtige Richtung. Rechnerisch kommen wir zum gleichen Ergebnis. Es ist egal, ob sechs Monate Beschäftigung in drei Jahren oder vier Monate Beschäftigung in
zwei Jahren nötig sind, um Arbeitslosengeld I zu erhalten. Das wird auch von den Verbänden so gesehen. Ich
glaube, das ist eine gute Basis. Um das umzusetzen, werden wir bestimmt zusammenkommen.
Auch den Antrag der Fraktion der Linken, der mich
heute erreicht hat, kann ich nur begrüßen. Wir stimmen
in vielen Punkten überein.
Frau Kollegin Krüger-Leißner, können Sie die weitere
Beratung dieser Anträge jetzt tatsächlich in die Ausschüsse verlegen? Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich möchte der Koalitionsfraktion noch etwas ans
Herz legen: Nehmen Sie die Veränderung der Arbeitswelt zur Kenntnis. Überdenken Sie Ihren Vorschlag noch
einmal, und passen Sie ihn der Lebens- und Arbeitswirklichkeit der Menschen, die kurzfristig beschäftigt sind,
an!
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Linnemann für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute über drei Anträge, Frau KrügerLeißner. Auch die Linken haben einen Antrag gestellt.
Es geht um das Thema Arbeitslosenversicherung. Der
Vorwurf lautet, dass die Schutzfunktion in der Arbeitslosenversicherung nicht ausgeprägt genug ist.
({0})
Frau Krüger-Leißner, gestatten Sie mir, bevor ich auf
den Antrag der Grünen und der Linken eingehe, eine
grundsätzliche Bemerkung. Es ist schon ein bisschen
grotesk; denn dies ist der zweite Aufschlag, den Sie in
diesem Jahr machen, um Ihre Arbeitsmarktreformen zurückzudrehen. Auch im Tennis gibt es zwei Aufschläge.
Der erste wird nicht auf Sicherheit gespielt, sondern mit
vollem Risiko, der zweite aber auf Sicherheit. Sie spielen meiner Meinung nach beide mit vollem Risiko
({1})
und setzen damit die arbeitsmarktpolitischen Erfolge
dieses Landes aufs Spiel.
({2})
Anfang Januar war es die Rente mit 67, die Sie infrage gestellt haben.
({3})
Wir haben groteskerweise Herrn Müntefering in Schutz
genommen und an dem festgehalten, was wir gemacht
haben. Mit dem zweiten Aufschlag wollen Sie heute eine
weitere wichtige Arbeitsmarktreform zurückdrehen.
({4})
Noch grotesker wird es, wenn man sich die erfolgreiche
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ansieht. Dieser Erfolg wird insbesondere im internationalen Vergleich
deutlich; denn Sie müssen lange suchen, um Vergleichszahlen anderer Länder zu finden, die auf eine zumindest
ansatzweise so erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik wie die
unsrige hindeuten.
({5})
Das ist übrigens Ausdruck von Verantwortung: Wir
haben damals, bei den Hartz-Reformen, konstruktiv mitgemacht. 2005, als Angela Merkel Bundeskanzlerin
wurde, haben wir diese Arbeitsmarktpolitik zusammen
mit der FDP konsequent und sehr erfolgreich fortgeführt. Das ist meiner Meinung nach Ausdruck von Verantwortung, und die Zahlen sprechen Bände.
({6})
- Nein. Wir können gerne auf die konkreten Vorschläge
eingehen. Das war nicht einfach. Das ist eine komplizierte Materie, gerade wenn es um die Finanzierung
geht.
({7})
- Sie haben es einfach gemacht.
({8})
Frau Krüger-Leißner, jetzt hören Sie doch erst einmal zu.
Sie haben es gemacht, über Finanzierung lese ich in Ihrem Antrag aber überhaupt nichts. Von den Linken höre
ich auch nichts zur Finanzierung. Frau Pothmer, ich
freue mich auf Ihren Beitrag.
({9})
Sie können mir ja einmal sagen, wie Sie das finanzieren
wollen. Das müssen die Beitragszahler übernehmen.
Nach seriösen Schätzungen kostet Ihr Vorschlag über
eine halbe Milliarde Euro.
({10})
- Darüber können wir gleich reden. - Der Vorschlag der
Linken soll 0,7 Milliarden Euro kosten.
Jetzt einmal konkret zu Ihrem Vorschlag.
({11})
- Jetzt hören Sie doch erst einmal zu. Sie haben doch
gleich das Wort. - Sie sagen - das ist der Kerngedanke
Ihres Vorschlages -: Es ist nicht gut, dass viele Arbeitnehmer, die arbeitslos werden, zurück in Hartz IV rutschen. Das sind mehr geworden.
({12})
- Obwohl sie zahlen. Da haben Sie völlig recht. Im Zeitraum von 2009 bis 2011 gab es eine Steigerung um
15 Prozent.
({13})
- Ja, aber das ist nur die halbe Wahrheit. - Sie unterstellen, dass die Zahl derjenigen, die aus dem Hartz-IV-System in den Arbeitsmarkt gewandert sind, gleichgeblieben ist. Das ist aber falsch. Ich habe Ihnen die Zahlen
einmal mitgebracht. Im letzten Jahr sind 920 000 Menschen aus dem Hartz-IV-System in den ersten Arbeitsmarkt gewandert. Im Jahr 2009 - das ist ein Vergleichswert - waren das 730 000 Menschen. Das entspricht
einer Zunahme um 26 Prozent. Das steht im Gegensatz
zu der vorhin genannten Zunahme um 15 Prozent. Es
wandern also mehr Menschen aus dem Hartz-IV-System
in den ersten Arbeitsmarkt als zurückgehen. Das heißt,
Sie ziehen die falschen Schlüsse.
({14})
Sie müssen doch sehen, dass erstens die Chance für
Langzeitarbeitslose, einen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, noch nie so groß war wie
heute. Sie ist nicht groß genug, aber die Zahlen sprechen
Bände. Zweitens muss es jetzt unsere Aufgabe sein, uns
die Frage zu stellen, wie diese Menschen im ersten Arbeitsmarkt bleiben und nicht wieder zurückkommen.
Das ist doch die zentrale Frage.
({15})
Wir dürfen kein neues Sozialsystem schaffen oder Menschen alimentieren, sondern wir müssen versuchen, den
Menschen im ersten Arbeitsmarkt eine Perspektive zu
geben.
({16})
Ich habe mich gestern lange mit Herrn Alt von der Bundesagentur für Arbeit unterhalten, der das bestätigt hat.
Das ist das Problem.
({17})
Ich freue mich auf Vorschläge, wie man die Menschen im ersten Arbeitsmarkt halten kann. Wir müssen
die Menschen intelligenter betreuen, intelligenter coachen und sie auch dann, wenn sie einen Beruf oder auch
nur einen Job haben, noch weiter betreuen.
({18})
Zum Schluss zu Ihrem konkreten Vorschlag mit der
Sechs-Wochen-Frist, Frau Krüger-Leißner: Es gibt eine
Studie, die besagt, dass 80 Prozent der Kulturschaffenden, Schauspieler und anderen Personen, die in diesen
besonderen Bereich fallen, Verträge haben, die auf zehn
Wochen befristet sind. Wir haben uns jetzt die Monitoringberichte angesehen und festgestellt, dass es Nachbesserungsbedarf gibt. Deswegen haben wir diese Monitoringberichte gemacht. Diese Nachbesserungen werden
wir jetzt vornehmen. Karl Schiewerling und Johannes
Vogel haben mir das gerade bestätigt. Wir werden auf
diese Studie reagieren und die Sechs-Wochen-Befristung
auf zehn Wochen erhöhen. Ich denke, das klappt noch
vor dem Sommer.
({19})
- Frau Krüger-Leißner, das ist das Problem: Bei uns gilt
das Prinzip Zielgenauigkeit. Bei Ihnen gilt das Prinzip
Gießkanne.
({20})
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Vor einiger Zeit haben wir uns mit Beschäftigten aus der Film- und Fernsehindustrie getroffen. Sie
alle berichteten mir von ein und demselben Problem: Sie
zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, erhalten
aber, wenn sie arbeitslos werden, kein Arbeitslosengeld I, sondern fallen sofort in Hartz IV, und das ist ungerecht.
({0})
Meist sind ihre befristeten Beschäftigungen zu kurz,
um die entsprechenden Versicherungszeiten zusammenzubekommen. Das heißt, jedes Mal, wenn sie keinen Job
haben, müssen sie ihre Finanzen offenlegen, werden zu
sinnlosen Bewerbertrainings oder zur Arbeit in Callcentern gezwungen. Das ist unzumutbar und geht völlig an
der Berufsbiografie vorbei.
({1})
Es geht hier nicht allein um eine Berufsgruppe. Es
geht um ein allgemeines Problem, das wir in Deutschland haben. Die Arbeitslosenversicherung hat nicht die
Schutzfunktion, die sie haben sollte. Nach Angaben der
Bundesagentur für Arbeit rutscht inzwischen jeder vierte
Erwerbslose direkt in Hartz IV. Wir Linke machen in unserem Antrag ganz konkrete Vorschläge, wie der Zugang
zur Arbeitslosenversicherung erleichtert werden kann.
({2})
Wir sollten uns aber auch einmal fragen: Wie konnte
es so weit kommen? Da müssen wir in das Jahr 2002 zurückgehen, als die damalige rot-grüne Bundesregierung
mit den Hartz-IV-Gesetzen die Weichen auf dem Arbeitsmarkt in eine völlig falsche Richtung gestellt hat.
({3})
- Frau Pothmer, auch Sie waren dabei. - Seitdem sprießen nämlich prekäre Beschäftigungsverhältnisse und
kurzfristige Beschäftigungen wie zum Beispiel Leiharbeit und Minijobs wie Pilze aus dem Boden.
Auf der anderen Seite ist die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung eingeschränkt worden; denn die
Rahmenfrist, also der Zeitraum, in dem Beschäftigte Ansprüche auf das Arbeitslosengeld I erwerben können,
wurde von drei auf zwei Jahre verkürzt. Das war Ihr Verdienst, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
vom Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke fordert eine
grundlegende Korrektur dieser Fehlentscheidungen.
({4})
Völlig unzureichend sind in jedem Fall die heutigen
Sonderregelungen für kurzzeitig Beschäftigte. Eigentlich sollten kurzzeitig Beschäftigte bereits dann Arbeitslosengeld erhalten, wenn sie sechs Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, also nicht
zwölf Monate, wie regulär vorgesehen.
Es gibt jedoch zwei Fußangeln, die eine Mehrzahl der
Betroffenen ausschließen: zum einen die willkürliche
Verdienstgrenze von derzeit monatlich etwa 2 600 Euro
brutto. Wenn jemand mehr verdient, dann hat er Pech
und bekommt kein Arbeitslosengeld. Zum anderen ist im
Gesetz festgelegt, dass nur diejenigen Arbeitslosengeld
erhalten, deren Beschäftigungsverhältnisse mehrheitlich
jeweils nicht länger als sechs Wochen dauern. Hat jemand sechs Wochen und einen Tag gearbeitet, hat er
auch Pech.
Diese restriktiven Zugangsbedingungen führen zu
abstrusen Situationen; denn viele Beschäftigte sind
einerseits nicht lange genug beschäftigt, um regulär
Arbeitslosengeld zu erhalten, aber andererseits zu lange,
um die Sonderregelung zu nutzen. Beispiele dafür gibt
es genug: in der Leiharbeit, in der Gastronomie, auch in
der Wissenschaft, überall dort, wo Menschen in kurzzeitig befristeten Jobs arbeiten.
Unsere Forderungen als Linke sind klar. Wir wollen
erstens eine längere Rahmenfrist. Sie muss wieder drei
Jahre statt zwei Jahre betragen.
({5})
Wir fordern zweitens, in der derzeitigen Sonderregelung
die restriktiven Zugangsbedingungen der Verdienstgrenze und die Beschäftigungsdauer zu streichen; dies
fordert auch die SPD.
({6})
Wenn Sie unsere Vorschläge umsetzen würden, würden viele prekär Beschäftigte erstmals Zugang zum
Arbeitslosengeld I erhalten. Wir sagen zugleich: Es gilt
auch, die prekäre Beschäftigung zu bekämpfen. Wir
können uns nicht damit abfinden, dass Millionen Menschen nur noch befristet, und das oft für kurze Zeit,
beschäftigt werden. Wir brauchen gute und sichere
Arbeitsplätze.
Danke schön.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Johannes Vogel
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den Anträgen der Opposition werden verschiedene
Themen miteinander vermengt. Die Kollegin von der
SPD hat eben den Fakt beschrieben - Kollege
Linnemann hat es ein bisschen erläutert -, dass wir über
eine grundsätzlich sehr gute Nachricht reden. Auf dem
deutschen Arbeitsmarkt ist die Situation unendlich gut:
Beschäftigungsrekorde, Hunderttausende von Menschen bekommen eine neue Perspektive. Das führt natürlich auch dazu, dass Menschen, die langzeitarbeitslos
und im Hartz-IV-System sind, erfreulicherweise häufiger
den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen. Ja, nicht alle
bleiben dann leider lange genug beschäftigt, um Ansprüche auf Arbeitslosengeld zu erwerben.
Wir sollten uns überlegen, wie wir diesen Menschen
eine Perspektive geben, dass sie nicht nur den Einstieg in
den Arbeitsmarkt schaffen, sondern auch im Arbeitsmarkt bleiben und eine Aufstiegsperspektive haben. Das
ist richtig; darüber müssen wir gemeinsam nachdenken.
Dieses Problem löst man aber nicht im Rahmen der
Arbeitslosenversicherung, sondern zum Beispiel durch
Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern; denn
in Wahrheit spaltet ja in erster Linie fehlende Qualifikation den Arbeitsmarkt. Genau dort haben wir mit den
arbeitsmarktpolitischen Instrumenten angesetzt. Und
genau da hätte ich mir dann eine Zustimmung von Ihnen
gewünscht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition; wenn Sie sagen, dass Sie da etwas machen
wollen.
({0})
Das war leider nicht der Fall. Stattdessen legen Sie
uns hier Anträge zur Änderung der Arbeitslosenversicherung vor. Ich will kurz im Einzelnen darauf eingehen.
Zuerst zu den Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
Liebe Frau Kollegin Mast - Frau Kollegin KrügerLeißner musste leider schon weg -,
({1})
Sie machen hier in der Tat etwas Bemerkenswertes - Kollege Linnemann hat eben gesagt, es sei das zweite Mal in
diesem Jahr; ich finde, gefühlt etwa das 223. Mal in dieser Legislaturperiode -: Sie wollen etwas zurückdrehen,
das Sie im Rahmen der Agenda 2010 selber eingeführt
haben. So langsam mache ich mir Sorgen,
({2})
ob da nicht eine Art milder Schizophrenie vorliegt, weil
die SPD in der Regierung immer grundlegend etwas
anderes denkt als die SPD in der Opposition. Besonders
glaubwürdig ist das nicht.
({3})
Sie wollen wieder einmal etwas zurücknehmen, das
Sie im Rahmen der Agenda damals selbst eingeführt
haben, Sie wollen statt der zweijährigen Rahmenfrist
wieder die dreijährige Rahmenfrist.
({4})
Kollegin Krüger-Leißner hat das eben interessant
begründet. Sie hat gesagt: Der Arbeitsmarkt hat sich
gewandelt.
({5})
Ich frage mich ernsthaft: Was hat sich seit 2009 in dieser
Hinsicht Wesentliches auf dem Arbeitsmarkt verändert?
({6})
Sie haben es damals selber eingeführt. Bis 2009 war das
Arbeitsministerium SPD-geführt. Bis dahin sahen Sie
keinen Handlungsbedarf. Schwupp, wenn Sie in der
Opposition sind, muss man es natürlich wieder andersherum machen. Ein Argument dafür, was sich seit 2009
verändert hat - einmal abgesehen von der guten Lage auf
dem Arbeitsmarkt -, habe ich eben nicht gehört. Ich bin
Johannes Vogel ({7})
gespannt, ob dazu im Laufe der weiteren Beratung Ihres
Antrags noch etwas kommt.
({8})
Außerdem wollen Sie die Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte ändern. Diese muss es in der Tat
geben. Ja, es gibt Arbeitsverhältnisse, zum Beispiel für
Filmschaffende, die qua ihrer Natur kurzfristig sind. Das
ist richtig; das sehen auch wir. Für diese muss es ein
passgenaues Angebot in der Arbeitslosenversicherung
geben. Aber warum Sie die Verdienstgrenze abschaffen
wollen, ist mir, ehrlich gesagt, nicht ganz klar. Die Linken nennen die Verdienstgrenze sogar willkürlich. Es
handelt sich sozusagen um eine besondere Regelung
zugunsten einer Gruppe in der Versichertengemeinschaft; dies zahlt die gesamte Solidargemeinschaft.
Warum man hier eine Verdienstgrenze einführen sollte,
hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner,
SPD, in der letzten Legislaturperiode in einem Brief ausgeführt
({9})
- ich will das kurz vorlesen -:
Die Sonderregelung greift nur zugunsten von Personen, die zuletzt ein Jahresentgelt erzielt haben, das
nicht über dem Durchschnitt aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegt. Damit vermeiden wir,
dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die …
ein überdurchschnittlich hohes Jahreseinkommen
erzielen, in ihren beschäftigungsfreien Zeiten zusätzlich Arbeitslosengeld erhalten.
({10})
Dieses müsste durch die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zum Teil mit einem
geringen Jahreslohn auskommen müssen, sowie
durch deren Arbeitgeber finanziert werden.
In meinen Worten: Wer überdurchschnittlich viel verdient, kann nicht auf besondere Solidarität bzw. eine
Sonderregelung zulasten der gesamten Solidargemeinschaft hoffen. Das funktioniert nicht.
({11})
Wer überdurchschnittlich viel verdient, erfährt also keine
besondere Behandlung durch die Solidargemeinschaft.
Dazu sollten Sie sich in meinen Augen weiterhin bekennen.
({12})
In der letzten Legislaturperiode haben Sie das noch verstanden; Ihr eigener Staatssekretär hat das ausgeführt.
Jetzt sagen Sie, das sei nicht mehr nötig. Eine Begründung habe ich dafür nicht gehört, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD.
({13})
Jetzt will ich zum Antrag der Grünen kommen.
({14})
Liebe Frau Kollegin Pothmer, man muss sagen: Sie lassen wenigstens den populistischen Unsinn im Zusammenhang mit der Rahmenfrist. Sie greifen zu Recht
einen anderen Punkt auf und suchen eine Antwort auf
die Frage: Was machen wir für diejenigen, die qua Natur
ihres Beschäftigungsverhältnisses
({15})
- ja, das habe ich verstanden - eine Sonderregelung
brauchen?
({16})
Nur, eines verstehe ich nicht: Warum wollen Sie auch
gleich eine Vermittlungspause einführen? Sie wollen,
dass die Menschen dann gar nicht mehr vermittelt werden.
({17})
Dadurch wollen Sie, wie Sie schreiben, neue Optionen
schaffen. Mir ist nicht ganz klar, was das bedeuten soll.
Ich wäre wirklich froh, wenn Sie das gleich erklären
würden.
Normalerweise funktioniert Vermittlung so, dass sich
zwei Beteiligte bemühen, den Zustand der Arbeitslosigkeit zu beenden: der Betroffene selbst und die Bundesagentur für Arbeit. Wenn Sie die Bemühungen der Bundesagentur streichen, dann sind es nicht mehr zwei, die
sich bemühen, sondern dann ist es nur noch einer. Wie
dadurch mehr Optionen und bessere Perspektiven auf
dem Arbeitsmarkt geschaffen werden sollen, ist mir
nicht einsichtig. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir
das gleich erklären würden, Frau Kollegin Pothmer.
({18})
Grundsätzlich muss ich sagen: Ja, es gibt, zum Beispiel in der Filmindustrie - heute Abend findet die Berlinale statt; es ist ja kein Zufall, dass wir heute über dieses
Thema diskutieren, wenn ich das so sagen darf -, Menschen, für die qua Natur ihres Beschäftigungsverhältnisses eine Sonderregelung gilt. In diesem Bereich gibt es
nämlich viele Jobs, die befristet sind, und zwar deshalb,
weil auch die entsprechenden Projekte befristet sind.
Diesen Menschen müssen wir ein Angebot machen.
Aber: Rot-Grün hat das nie für nötig gehalten; das muss
man dann eben ehrlicherweise auch sagen. Erst die
Große Koalition hat hier eine Sonderregelung eingeführt; der Kollege Linnemann hat eben darauf hingewiesen.
Es ist nicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, als würden wir nicht wissen, dass diese
Johannes Vogel ({19})
Regelung im August dieses Jahres ausläuft. Nein, wir
haben in der Koalition schon vereinbart, diese Regelung
zu verlängern. Im Rahmen dieser Verlängerung wollen
wir die Situation zudem an einer entscheidenden Stelle
verbessern. Wir wollen die zugrunde liegende Beschäftigungsdauer von sechs auf zehn Wochen erhöhen. Das ist
nämlich die entscheidende Stelle, an der es in der Vergangenheit Probleme gab, weil die bestehende Regelung
nicht passgenau war. Die neue Regelung werden wir zudem zunächst evaluieren, bevor wir an der Systematik
der Arbeitslosenversicherung etwas Grundlegendes
ändern.
Ich kann nur festhalten: Die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Linken betreiben wieder einmal nur
Selbstbeschäftigungstherapie im Zusammenhang mit der
Agenda 2010.
({20})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
beschäftigen sich zwar mit einem realen Problem, mit
einer realen Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt. Wir
haben für dieses Problem aber schon eine bessere
Lösung gefunden. Deshalb glaube ich, dass es für Ihren
Antrag - ich denke insbesondere an den mir nicht einsichtigen Unsinn im Zusammenhang mit der Vermittlungspause - keine Notwendigkeit gibt. Auf die weitere
Diskussion im Ausschuss freue ich mich. Vor allem von
der SPD würde ich gerne weitere Begründungen hören.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Arbeitslosenversicherung orientiert sich nach wie vor an
dem alten Bild des Normalarbeitsverhältnisses. Sie ist
dazu da, langjährig Beschäftigten ein Minimum an
Sicherheit zu geben. Ich würde sagen: Das tut sie. Aber,
Herr Linnemann: Bei allen Erfolgen in der Arbeitsmarktpolitik muss man zur Kenntnis nehmen, dass sich
die Situation auf dem Arbeitsmarkt grundlegend verändert hat.
Die Hälfte aller neu begründeten Beschäftigungsverhältnisse ist inzwischen befristet. Die Leiharbeit hat
exorbitant zugenommen.
({0})
Projektarbeit und Kurzzeitmanagement sind Arbeitsverhältnisse, die nicht nur bei Kreativen, sondern auch bei
Nachwuchswissenschaftlern sowie bei Journalistinnen
und Journalisten vorkommen. Auch deren Arbeitsalltag
ist davon geprägt. Sie alle sind im Falle der Arbeitslosigkeit ungeschützt. Im Jahr 2010 - hören Sie sich diese
Zahl einmal an - wurde der Antrag auf Arbeitslosengeld I bei 120 000 Menschen abgewiesen, weil sie die
Rahmenbedingungen nicht erfüllt haben. Daran sehen
Sie, über welche Dimension Sie reden.
({1})
Zum Thema Zielgenauigkeit will ich Ihnen einmal
etwas sagen: Ihre Regelung hat genau 242 Menschen
getroffen. Das ist Zielgenauigkeit à la FDP und CDU/
CSU.
({2})
Meine Damen und Herren, die Situation ist dadurch
gekennzeichnet, dass Leute in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, aber keinen Cent daraus bekommen,
weil die Bedingungen dazu führen, dass sie durch den
Rost fallen. Hier besteht eine riesengroße Gerechtigkeitslücke, und diese Situation müssen wir korrigieren.
({3})
Genau hier verweigern Sie sich. Weder schieben Sie
den ausufernden befristeten Beschäftigungsverhältnissen, der Leiharbeit etc. einen Riegel vor noch sorgen Sie
dafür, dass die betroffenen Menschen im Falle der
Arbeitslosigkeit wenigstens einigermaßen abgesichert
sind. Sie lassen die Leute wirklich im Regen stehen.
Die Erkenntnis, dass Ihre Sonderregelung unwirksam
ist, haben Sie nicht etwa erst jetzt nach der Evaluierung
gewonnen. Ich hatte vor zwei Wochen wirklich ein
Erlebnis der dritten Art.
({4})
Auf einer Podiumsdiskussion haben sich Filmschaffende
zu Recht darüber beklagt, dass die Regelung, die Sie
angeblich für sie getroffen haben, unwirksam ist. Auf
dieser Veranstaltung war auch Frau Connemann, die
heute leider nicht hier ist. Sie hat sich nicht im Geringsten erstaunt gezeigt. Sie hat nämlich ganz unumwunden
zugegeben, dass sie bereits bei der Schaffung der Regelung fest davon überzeugt war, dass diese Regelung
unwirksam ist.
({5})
Meine Damen und Herren, das war ein Gesetz für die
Galerie, und Sie sind im Begriff, ein zweites Gesetz für
die Galerie zu machen.
({6})
So schafft man Politikverdrossenheit. Ich fordere Sie
deswegen auf: Schaffen Sie eine praxistaugliche RegeBrigitte Pothmer
lung, mit der wirklich auch den 120 000 Menschen, die
derzeit durch den Rost fallen, ein Angebot gemacht
wird. Ihr Angebot, die Sechs-Wochen-Regelung auf
zehn Wochen auszuweiten, wird daran nichts Grundlegendes ändern.
Herr Vogel, Sie haben unseren Antrag schon zitiert.
Wir sagen, wir machen eine unbürokratische, einfache
und realitätstaugliche Regelung.
Für Sie komme ich jetzt noch einmal ganz kurz zur
Vermittlungspause. Sie haben hier ja schon einige der
von Kurzzeitbeschäftigungsverhältnissen Betroffenen
genannt. Was macht es für einen Sinn, wenn ein Filmschaffender, der nach einem Engagement arbeitslos
wird, in ein Bewerbungstraining und ähnliche Maßnahmen geschickt wird? Diese Zeit muss er in Absprache
mit der Agentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter dazu nutzen, sich eine neue Perspektive zu schaffen und ein
neues Engagement zu besorgen. Hier kann man mit einer
Vermittlungspause erstens Geld sparen und zweitens die
Betroffenen darin unterstützen, sich selber ein neues
Angebot zu organisieren.
({7})
Kollegin Pothmer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Verehrte Abgeordnete der Regierungsfraktionen, die
Sonderregelung läuft im Sommer aus. Die Vorschläge
der Opposition liegen auf dem Tisch. Die Einzigen, die
die Hausaufgaben nicht gemacht haben, sind Sie, und
das finde ich verantwortungslos.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Vorrednerin hat ausgeführt, sie
habe ein Erlebnis der dritten Art gehabt.
({0})
Liebe Frau Pothmer, ich hatte gestern auch ein Erlebnis
der dritten Art. Ich habe meine Zeitung aufgeschlagen
und sah darin eine ernst schauende Brigitte Pothmer.
Daneben las ich einen Kommentar der B.Z.:
Schlimm genug, dass sich viele Menschen von Job
zu Job hangeln müssen. Noch schlimmer ist die
Konsequenz, die SPD und Grüne ziehen: Statt dafür
zu kämpfen, dass aus Kurzzeit- wieder Dauerarbeitsplätze werden, zementieren sie mit einer
Ausweitung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld
genau jenen Zustand: Firmen wird es umso leichter
fallen, Jobs zu befristen. Und um all das zu finanzieren, werden die Beiträge steigen. Die Diagnose
ist richtig, die Medizin … falsch.
({1})
Wir diskutieren heute Anträge der Grünen, der SPD
und der Linken zur Veränderung des Arbeitslosengeld-I-,
aber auch des ALG-II-Bezuges. Das ist abermals, wie
die Vorredner bereits zum Teil ausgeführt haben, alter
Wein in neuen Schläuchen. Man kann es auch anders sagen: Das ist ein wunderschön geschnitztes trojanisches
Pferd. Es klingt gut, zu sagen: Jeder, der arbeitslos wird,
soll möglichst bald einen Anspruch auf ALG I, also
60 Prozent seines letzten Einkommens haben. - Das
klingt toll, aber Sie lassen in Ihren Anträgen vermissen,
wie Sie das finanzieren wollen.
({2})
Frau Kollegin Krüger-Leißner hat ausgeführt: Bei
kurzfristiger Beschäftigung besteht kein Anspruch auf
ALG I, auch wenn regelmäßig Beiträge gezahlt wurden.
Nun erklären Sie mir doch einmal, wie bei einer Beschäftigungszeit von vier Monaten regelmäßig Beiträge
gezahlt werden, die einen der Gemeinschaft gegenüber
zu rechtfertigenden Anspruch auf ALG-I-Bezug begründen können. Das funktioniert nicht.
Da in Ihrem Antrag nicht steht, wie Sie das finanzieren wollen - es lässt sich trefflich darüber streiten, ob
wir nun über 300 oder 500 Millionen Euro reden; das
werden wir in der Anhörung im Ausschuss sicherlich
kontrovers diskutieren müssen -, gibt es die Möglichkeit, das Geld woanders einzusparen oder die Beiträge
zu erhöhen. Das kann man tun. Von Beitragserhöhungen
steht in keinem der Anträge etwas. Das heißt, das Geld
wird irgendwo eingespart werden müssen. Wo kann man
das Geld einsparen? Bei den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen. Das heißt, es geht hier um den Haushalt der
Bundesagentur für Arbeit. Genau das wollen wir nicht.
Sie kommen zu dem Ergebnis: 50 Prozent der Geringqualifizierten beziehen ALG II. So steht das in dem Antrag der SPD. Das heißt, 50 Prozent der Geringqualifizierten erhielten einen Anspruch auf den Bezug von
ALG I, wenn sie denn tatsächlich arbeitslos würden oder
im Beruf blieben. Hier geht es um eine Veränderung am
Arbeitsmarkt. Von allen Vorrednern der Opposition
wurde hier eben ausgeführt: Es hat maßgebliche Veränderungen am Arbeitsmarkt gegeben. - Ja, das stimmt.
Der Beschäftigungsboom ist auch bei den Langzeitarbeitslosen angekommen.
({3})
Die Kehrseite der Medaille ist, dass jemand nach ein
paar Monaten in Arbeit als Langzeitarbeitsloser noch
nicht die Ansprüche hat wie derjenige, der nur kurz arbeitslos war und danach wieder in Lohn und Brot vermittelt wurde. Genau das sind die 25 Prozent, von denen
Sie mit Krokodilstränen in den Augen in Ihrem Antrag
schreiben und sagen: Jawohl, 25 Prozent rutschen direkt
in den Wirkungskreis von SGB II. - Das sind aber größtenteils Mitbürgerinnen und Mitbürger, die vorher lange
Jahre keine Beschäftigung gehabt haben. Das sollte man
den Leuten ehrlicherweise sagen.
({4})
Jetzt komme ich zu meinen Freunden von der SPD.
Kollege Vogel und Kollege Linnemann haben darauf
hingewiesen: Sie machen abermals einen Kehrtschwenk
von Ihren an sich sehr vernünftigen Reformen. Das, was
Sie damals mit der Agenda 2010 von Schröder/Fischer
gemacht haben, war gar nicht so dumm. Aber wenn Sie
jetzt alles vergessen wollen, was Sie in der Vergangenheit auf den Weg gebracht haben, dann gibt das schon erheblichen Grund zur Sorge. Das, was alle Experten von
den überschuldeten Ländern in Südeuropa jetzt fordern,
arbeitsmarktpolitische und sozialpolitische Reformen
anzugehen, haben Sie mit den Grünen zum Glück zusammen auf den Weg gebracht. Wir haben zugestimmt.
Aber jetzt wollen Sie all das wieder vergessen.
Die Erfolge, die es uns ermöglicht haben, die Krise so
gut zu überstehen, wie wir sie überstanden haben, wollen
Sie vergessen machen. Hier handelt es sich abermals um
einen Fall kollektiver Amnesie bei den Genossinnen und
Genossen von der SPD. So geht das natürlich nicht.
({5})
Ich will aus dem Schreiben eines Staatssekretärs zitieren. Das ist nicht von Staatssekretär Brauksiepe, sondern
es ist von einem seiner Vorgänger:
Eine weitergehende Ausdehnung des Sechs-Wochen-Zeitraums
- hier geht es um die Künstlerregelung -,
wie dies insbesondere die Verbände der Kulturschaffenden gefordert haben, ist sowohl aus arbeitsmarktpolitischen als auch aus finanziellen Gründen
nicht möglich gewesen. Arbeitsmarktpolitisch führt
eine Ausdehnung der als kurz befristet geltenden
Beschäftigungen zu Abgrenzungsschwierigkeiten
gegenüber Saisonarbeitnehmerinnen und Saisonarbeitnehmern, die regelmäßig Beschäftigungen zwischen sechs und acht Monaten ausüben.
Jetzt raten Sie einmal, wer das geschrieben hat. Das
war der bereits vorhin vom Kollegen Vogel zitierte
Staatssekretär Klaus Brandner. Der Mann hat recht.
Gleichwohl ist uns in enger Übereinstimmung mit unserer Koalitionsspitze das Anliegen der Kulturschaffenden
ein großes Anliegen. Kollege Linnemann hat schon darauf hingewiesen: Wir werden überprüfen, ob gerade im
Bereich der Kulturschaffenden die Beschäftigungszeiten von derzeit sechs Wochen ausgeweitet werden können und zehn Wochen möglich sind, sodass wir soziale
Härten abfedern können. Aber das Moratorium, das auch
die Grünen fordern, dass man sich nicht vermitteln lassen muss, wenn man arbeitslos wird, konterkariert Ihre
bisherige, an sich erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik, die
Sie seinerzeit noch unter der Schröder-Regierung auf
den Weg gebracht haben. Wir werden dies nicht mitmachen.
Wir werden die Anhörung konstruktiv begleiten.
Aber ich glaube - dafür muss ich kein Augur sein -, dass
in den Anträgen nicht so viel enthalten ist, dass wir ihnen zustimmen können.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Kollege Lehrieder, meine ausdrückliche Anerkennung für die Einhaltung der Redezeit ohne irgendeine
Ermahnung! Ich bitte bei den folgenden Tagesordnungspunkten darum, uns das Geschäft hier vorne auch in dieser Weise zu erleichtern.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8574, 17/8579 und 17/8586 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Helga Daub, Horst
Meierhofer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Kinder- und Jugendtourismus unterstützen
und weiter fördern
- Drucksache 17/8451 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte jetzt die Kolleginnen und Kollegen, die nicht
bei uns bleiben können, dafür zu sorgen, dass wir genügend Aufmerksamkeit für die Debatte haben.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Helga Daub für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Kollegen und Kolleginnen! Jeder
neunte Arbeitsplatz in Deutschland hängt inzwischen
vom Tourismus ab - Tendenz steigend, hieß es jüngst im
Tourismusbericht. Damit wurde in einem Jahr ein Einkommen von etwa 97 Milliarden Euro geschaffen. Die
Bedeutung des Tourismus für die deutsche Wirtschaft ist
gestiegen und wird noch weiter steigen.
Denken wir an Tourismus, so denken wir im Allgemeinen an Erwachsene, die touristische Angebote unterschiedlicher Art wahrnehmen. Kinder und Jugendliche
hingegen werden als bedeutende Zielgruppe häufig unterschätzt. Jugendtourismus findet im Wesentlichen im
Dreiklang Klassenfahrten, Jugendaustausch und Jugendherbergen statt. Das sind zweifellos wichtige Pfeiler, die
jungen Menschen den Blick für Neues und anderes erweitern helfen. Die soziale Kompetenz wird gestärkt
oder auch erst richtig erlernt; denn der Anteil der Einzelkinder unter den Jugendlichen steigt.
Nie mehr im Leben ist der Mensch so lernfähig und
aufnahmebereit wie gerade in der Jugend. Genau deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugendtourismus
mehr in den Fokus zu nehmen.
({0})
Besonders engagiert hatten sich in diesem Bereich in
der Vergangenheit die Kirchen und Vereine. Sie erreichen aber heutzutage bei Weitem nicht mehr alle Schichten der Bevölkerung. Übrigens, als Jugendlicher mit den
Eltern zu verreisen, ist völlig uncool. Noch uncooler sind
allerdings Einrichtungen und Angebote, die den Charme
einer vergangenen Zeit ausstrahlen. Dabei hat sich bei
den Jugendherbergen bereits viel getan. Auch mit den
vielen Hostels in den größeren Städten deutet sich eine
leichte Trendwende zugunsten der Jugendlichen an.
Um auch hier auf der Höhe der Zeit zu sein, hilft die
öffentliche Hand bei notwendigen Finanzierungen. Die
Deutsche Zentrale für Tourismus wird 2013 einen Themenschwerpunkt „Junges Reiseland Deutschland“ setzen.
Eine interessante Initiative gibt es auch in Mecklenburg-Vorpommern mit McPom, einem speziellen Angebot für Klassen- und Jugendreisen. Das könnte auch für
andere Bundesländer eine Anregung sein, Ähnliches zu
organisieren. Denn Action am Strand, Rangertouren im
Wald oder paddeln statt pauken kann man nicht nur in
Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch anderswo machen.
Es gibt noch sehr viel Potenzial. Wichtig dabei ist allerdings - darauf sollten wir großen Wert legen - die
Möglichkeit der Teilhabe aller Jugendlichen, was natürlich auch die Barrierefreiheit einschließt. Das bedeutet
aber eine ganz besondere Verantwortung und stellt daher
beispielsweise an Unternehmen und Reiseleitungen hohe
Anforderungen. Sie tragen auch die Verantwortung für
Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung. Ein einheitliches Qualitätssiegel ist dabei hilfreich und ein guter
Leitfaden für Eltern und Jugendliche. Eltern möchten
nämlich gern wissen, ob sie ihre Kinder in gute Hände
abgeben.
Das Bundesforum Kinder- und Jugendreisen hat deswegen für die Entwicklung eines Qualitätsmanagementsystems gesorgt und unsere Anerkennung verdient. Die
positiven Rückmeldungen aus dem ganzen Land sprechen für sich. Mittlerweile sind nach Angaben des Forums über 400 Häuser in Deutschland daran beteiligt.
Hinzu kommt noch eine Zertifizierung der Rahmenbedingungen für die Reisebegleiter. Diese ist absolut wichtig, denn die Jugendlichen brauchen eine gute Begleitung, die gleichzeitig Lernziele und Lerninhalte
vermitteln kann.
Wir wollen das Bundesforum Kinder- und Jugendreisen weiter in seiner Arbeit unterstützen. Wie überall im
Leben gilt aber: Das Bessere ist der Feind des Guten.
Um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, gehört eine Internetplattform absolut dazu. Es gehört aber auch ein Internetzugang in den Einrichtungen für die Jugendlichen
dazu.
Der Kinder- und Jugendtourismus stellt andere Anforderungen als der Tourismus für Erwachsene. Darauf
müssen wir uns zum Beispiel mit einer besseren Vernetzung der Vermittlung einstellen. Die Bundesregierung
wird auch diesen touristischen Bereich weiter unterstützen, und zwar finanziell, aber auch dort, wo es gilt, ausgetretene Pfade zu verlassen und Neues zu wagen. Dort,
wo der notwendige Dialog mit den Verbänden intensiviert werden kann und muss, werden wir das auch tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kinder oder die
Jugendlichen, die lernen, über den Tellerrand hinauszusehen, sind ein Gewinn für die Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Hiller-Ohm
jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, es
ist prima, dass wir heute über Kinder- und Jugendtourismus diskutieren. Das ist eine wirklich wichtige Sache.
Umso mehr wundert es mich, dass Ihr Wirtschaftsminister zu diesem Thema nichts vorgelegt hat. Er ist doch zuständig für den Tourismus.
({0})
Er könnte die Sache gleich richtig anpacken und den
Kinder- und Jugendtourismus mit einer entsprechenden
Vorlage ein ordentliches Stück voranbringen.
({1})
Doch von Ihrem Minister Rösler höre und sehe ich
nichts. Selbst bei diesem wichtigen Thema ist er heute
nicht hier bei uns im Plenum.
({2})
Das ist für einen Wirtschaftsminister mehr als erstaunlich, denn der Tourismus ist mit rund 3 Millionen Beschäftigten und einer Wertschöpfung von fast 100 Milliarden Euro eine der wichtigsten Boombranchen in
Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, nun haben Sie Ihren Antrag vorgelegt, um den
Minister in Sachen Kinder- und Jugendtourismus auf
Trab zu bringen. Das ist an sich lobenswert.
({3})
Ich kann mir jedoch beim besten Willen nicht vorstellen,
wie das mit Ihrem mehr als müden Papier gelingen soll.
Sie haben 13 Forderungen an die Regierung aufgeschrieben. Nimmt man diese unter die Lupe, so wird sehr
schnell deutlich: Hier fehlt der Tiger im Tank.
({4})
Ich habe gerade einmal drei „harte“ Aufträge an die Regierung gefunden: Erstens. Sie soll eine Liste erstellen.
Zweitens. Sie soll den internationalen Jugendaustausch
weiter fördern. Drittens. Sie soll die Qualifizierung von
Mitarbeitern und Ehrenamtlern weiter fördern.
Dann kommt zehnmal „prüfen“, „anregen“, „hinweisen“ und „sich einsetzen“. Das ist kein Antrag, sondern
ein echtes Armutszeugnis, was Sie hier abgeliefert haben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat der Kinder- und Jugendtourismus wirklich nicht verdient.
({5})
Er braucht einen tatkräftigen Minister und starke
Fraktionen, die Steine aus dem Weg räumen und es allen
Kindern und Jugendlichen ermöglichen, auch tatsächlich
zu reisen. Wir haben im Vermittlungsausschuss für diese
Kinder gekämpft und durchgesetzt, dass neben den
Hartz-IV-Kindern weitere 500 000 Kinder aus einkommensschwachen Familien das Geld für Klassenfahrten
erstattet bekommen.
({6})
Für den Kinder- und Jugendtourismus brauchen wir
natürlich auch gute, preiswerte Unterkünfte und hochwertige Bildungsangebote. Wir haben in Deutschland
eine Vielzahl toller Einrichtungen wie die mehr als
400 Naturfreundehäuser und 530 Jugendherbergen.
Ich greife hier einmal die Jugendherbergen heraus.
Sie stehen seit mehr als 100 Jahren für preiswerten und
pädagogisch-programmorientierten Jugendurlaub. Fast
jeder Kollege und fast jede Kollegin dürfte eine solche
Einrichtung im Wahlkreis haben und wird sie zu schätzen wissen. In meinem Wahlkreis in Lübeck an der Ostsee haben wir sogar zwei, und mit Glück kommt bald
eine dritte hinzu. Prima, dass wir diese Häuser haben!
Was machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Regierungsfraktionen? Sie schlagen die so wichtige Förderung für die Jugendherbergen kurz und klein.
({7})
Sie haben beschlossen, dass die Jugendherbergen in diesem Jahr mit sage und schreibe 40 Prozent weniger Mitteln auskommen müssen. Ich wiederhole: 40 Prozent
weniger.
({8})
Sie werden sich hoffentlich erinnern: Die SPD-Fraktion war es, die im Haushaltsausschuss Ende September
beantragt hat, die Summe wieder zu erhöhen.
({9})
Wir wollten den Jugendherbergen Planungssicherheit
geben. Sie haben unser Anliegen nicht unterstützt und
die Jugendherbergen eiskalt im Regen stehen lassen.
({10})
Das ist fatal; denn für Investitionen müssen Bund, Länder und die Träger der Häuser gemeinsam aufkommen.
Fällt die Bundesförderung weg, können die Einrichtungen dies in der Regel nicht auffangen, und dann brechen
auch die Mittel der Länder weg. Das ist das Aus für dringend erforderliche Investitionen, wie sie auch meine
Kollegin Frau Daub eingefordert hat.
({11})
So, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, sieht Ihr Engagement für den Kinder- und Jugendtourismus tatsächlich aus! Sie bringen nichts voran,
nein, schlimmer noch: Sie schwächen den Kinder- und
Jugendtourismus und zerstören Vertrauen. Das können
Sie auch mit Ihrem schlappen Antrag nicht wiedergutmachen.
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich dafür ein, dass das
nötige Geld vom Bund für den Kinder- und Jugendtourismus wieder bereitgestellt wird!
({12})
Treten Sie Ihrem Minister Rösler kräftig auf die Füße,
damit er endlich in die Gänge kommt!
({13})
Wir werden einen Antrag zur Absicherung der Fördermittel vorlegen. Sie haben dann noch einmal die Chance,
Ihre Kürzungsorgie zurückzunehmen.
Warum ist Kinder- und Jugendtourismus so wichtig?
Erstens. Reisen bildet. Junge Menschen lernen so ihr
eigenes Land kennen, bei internationalen Jugendbegegnungen andere Länder und andere Kulturen.
Zweitens. Reisen verbindet und macht toleranter. Gemeinsam auf Reisen zu gehen, schafft Verständnis fürGabriele Hiller-Ohm
einander und stärkt Toleranz gegenüber anderen Menschen und anderen Kulturen.
({14})
- Ich brauche nichts abzuschreiben; ich habe einen eigenen Kopf - im Gegensatz vielleicht zu Ihnen.
Drittens. Reisen stärkt die persönliche Entwicklung.
Kinder und Jugendliche erleben sich in einer neuen
Rolle, werden so selbstbewusster, und ihr soziales Verhalten wird gefördert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rot-Grün hat es
2002 vorgemacht, wie man Kinder- und Jugendreisen
richtig fördert. Wir haben den Aktionsplan zum Kinderund Jugendtourismus in Deutschland ins Leben gerufen.
Wir haben zwei wichtige Grundlagenstudien finanziert.
Wir haben eine bundesweite Zertifizierung von Kinderund Jugendunterkünften für geprüfte Jugendreisequalität
in Gang gesetzt. Wir haben Geld für Fort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveranstaltungen und Publikationen im Bereich Jugendbegegnungen und pädagogische Kinder- und Jugendreisen bereitgestellt.
Dies müssen wir fortsetzen. Packen Sie es an, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, aber richtig und mit Power!
({15})
Schon im kommenden Jahr stellt die Deutsche Zentrale
für Tourismus das junge Reiseland Deutschland in den
Mittelpunkt der Vermarktung. Tragen Sie dazu bei, dass
diese Aktion zum Erfolg wird - für den Deutschlandtourismus und natürlich vor allem für die Kinder und Jugendlichen.
({16})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Ingbert Liebing. Bitte schön, Kollege Ingbert Liebing.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag zum Kinder- und Jugendtourismus
rücken wir, die Koalitionsfraktionen, eine Branche in
den Fokus, die oftmals unterschätzt wird. Dabei ist sie
ein beachtliches Segment des Tourismus in unserem
Land. Kinder- und Jugendtourismus umfasst einen Jahresumsatz von etwa 12 Milliarden Euro. Kinder- und Jugendreisen machen einen Anteil von 20 Prozent des Inlandstourismus aus. Allein Jugendherbergen verzeichnen
über 10 Millionen Übernachtungen und einen Umsatz
von insgesamt über 1 Milliarde Euro an Wertschöpfung,
wie gerade eine aktuelle Studie des Deutschen Jugendherbergswerkes ausdrücklich nachgewiesen hat.
Wer von uns erinnert sich nicht gern an Aufenthalte in
Jugendherbergen in seiner eigenen Jugendzeit, zum Beispiel bei Klassenfahrten, vielleicht mit Lagerfeuer und
Gitarrenmusik? Mir liegen die Jugendherbergen besonders am Herzen, und zwar nicht nur deshalb, weil mein
Wahlkreis der Wahlkreis mit den meisten, nämlich
zwölf, Jugendherbergen ist, sondern auch, weil sie von
einem großen ehrenamtlichen Engagement geprägt sind,
das über 1 000 ehrenamtliche Mitarbeiter erbringen.
({0})
Aber der Blick auf den Kinder- und Jugendtourismus
lohnt nicht nur wegen des wirtschaftlichen Aspektes,
sondern es geht um mehr. Der Kinder- und Jugendtourismus hat pädagogische und soziale Bedeutung: zum einen
im Inland, denn junge Menschen lernen auf diese Weise
die eigene Heimat kennen und lieben, und zum anderen
im Ausland, wo sie Kontakt mit anderen Nationen und
Kulturen bekommen. Jugendtouristische Einrichtungen
stellen sich dieser Herausforderung zum Beispiel mit gezielten Angeboten zur Förderung von gesunder Ernährung und Bewegung. Es gibt beispielsweise konsequent
alkoholfreie Jugendherbergen, das heißt auch für erwachsenes Begleitpersonal.
Die inhaltliche Ausgestaltung ist eine permanente
Aufgabe, die darin besteht, mit attraktiven und sinnstiftenden Freizeitaktivitäten, mit Bildungs- und Erlebnisangeboten immer auf der Höhe der Zeit zu sein. Dies ist
eine Aufgabe, der sich die Einrichtungen stellen.
Die Bundesregierung unterstützt diesen Bereich nach
Kräften. Die Ausfälle in Ihrer Rede, Frau Hiller-Ohm, in
diesem Zusammenhang verstehe ich überhaupt nicht.
({1})
Ich finde es bezeichnend, dass Sie rückwärtsgewandt
vieles kritisieren und auch unseren Antrag in Grund und
Boden verdammen, aber in Ihrer Rede nicht einen einzigen konkreten Vorschlag machen, was Sie anders oder
besser machen wollen.
({2})
Sie haben gerade nichts anderes als Mäkelei abgeliefert,
Frau Hiller-Ohm.
Die Bundesregierung unterstützt den Kinder- und Jugendtourismus in vielfältiger Form. Der Kinder- und Jugendplan des Bundes finanziert internationale Jugendreisen und den Austausch mit über 20 Millionen Euro
sowie deutsch-französische und deutsch-polnische Jugendbegegnungen mit über 15 Millionen Euro und unterstützt das Deutsche Jugendherbergswerk, das die
deutsch-israelischen Jugendbegegnungen organisiert.
Außerdem unterstützen wir überregionale Jugendbegegnungsstätten mit 5 Millionen Euro im Bundeshaushalt.
({3})
Die DZT wird 2013 das Themenjahr „Junges Reiseland
Deutschland“ weltweit vermarkten, und zwar mit Unterstützung aus dem Bundeshaushalt, in dem wir die Finan18952
zierung der DZT auf über 27 Millionen Euro aufgestockt
haben.
({4})
Meine Damen und Herren, dies ist ein ausdrücklicher
Beweis dafür, dass die Bundesregierung dem Segment
des Jugendtourismus große Aufmerksamkeit widmet
und tatkräftige Unterstützung bietet.
Viele Organisationen engagieren sich gerade in diesem Bereich vor allem für Qualitätssicherung und -steigerung. Ich nenne insbesondere das BundesForum
Kinder- und Jugendreisen mit dem Qualitätsmanagementsystem QMJ, aber auch Klassifizierungsinitiativen
zum Beispiel des Landesjugendringes Schleswig-Holstein.
Meine Damen und Herren, das Ende des Zivildienstes
hat auch im Bereich von Jugendbegegnungsstätten, Jugendherbergen eine neue Herausforderung mit sich gebracht. Allerdings war die Bedeutung des Zivildienstes
schon deutlich gesunken; viele Einrichtungen hatten ihn
gar nicht mehr genutzt. Umso positiver kommt dort jetzt
der neue Bundesfreiwilligendienst an; er schafft neue
Möglichkeiten gerade in Jugendeinrichtungen.
({5})
Auch in den Jugendherbergen sind die ersten Bufdis angekommen. Dies entwickelt sich zu einem Erfolgsmodell. Auch das haben wir als Koalition zusammen mit
der Bundesregierung auf den Weg gebracht.
({6})
Es geschieht also viel, aber es gibt auch noch einiges
zu tun, auch in der Zuständigkeit der Bundesländer. Ich
nenne zum Beispiel die Anregung, die wir in unseren
Antrag mit aufgenommen haben, die Anerkennung von
Auslandsschuljahren von Schülern stärker zu fördern,
insbesondere durch die Anerkennung dieser Zeit für die
eigene Schulzeit im Inland. Das ist durch die Verkürzung
der Gymnasialschulzeit auf acht Jahre, die richtig war,
schwieriger geworden, aber trotzdem sollte man die
Möglichkeiten der Anerkennung dieser Auslandsjahre
verbessern.
Ich nenne des Weiteren die Klassenfahrten. Hier ist es
sinnvoll, pädagogische Inhalte noch stärker in den Vordergrund zu stellen.
Und ich nenne das Stichwort der Ausbildung von Jugendreiseleitern, in der die Themen von Gewalt, auch sexueller Gewalt, verstärkt einbezogen werden müssen.
Wir erinnern uns an spektakuläre Schlagzeilen. Dies waren sicherlich spektakuläre Einzelfälle, aber auch jeder
Einzelfall ist ein Fall zu viel. Deswegen lohnt es sich, in
der Ausbildung von Jugendreiseleitern einen stärkeren
Fokus auf diese Themen zu richten.
({7})
Kollegin Daub hat das Thema der Vermarktung angesprochen - die Internetplattform „Jugendtourismus in
Deutschland“. Daran arbeitet die Branche seit langer
Zeit selber, aber der große Durchbruch wurde noch nicht
erreicht. Wir regen an, diese seitens des Bundes durch
Kooperationen zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, Kinder- und Jugendtourismus ist ein Thema mit Zukunft für den Tourismusstandort Deutschland. Viele Familien machen dort Urlaub, wo
sich die Eltern, als sie Kinder waren, wohlgefühlt haben,
wo sie in ihrer Kindheit glücklich waren. Ich erlebe das
gerade auf Sylt, wo ich zu Hause bin, sehr oft. Dort gibt
es viele Jugendeinrichtungen, Schullandheime usw.
Viele kommen mit ihren eigenen Kindern wieder und
zeigen ihnen: Hier habe ich, als ich so alt war wie ihr,
einmal Urlaub gemacht. - Die Förderung von Kinderund Jugendtourismus ist also auch nachhaltig, weil sie
über Jahrzehnte nachwirkt und so den Tourismusstandort
Deutschland stärkt. Der Kinder- und Jugendtourismus
zahlt sich über Jahrzehnte aus und verdient unsere Unterstützung.
Über die Vorschläge in unserem Antrag intensiver zu
diskutieren, lohnt, auch in der Ausschussberatung. Ich
würde mich allerdings freuen, wenn wir das mit etwas
mehr Tiefgang machen könnten, als es eben in Ihrem
Beitrag der Fall war, Frau Hiller-Ohm. In diesem Sinne
freue ich mich und hoffe auf eine breite Unterstützung
für unsere Initiative in diesem Haus.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Ingbert Liebing. - Der nächste
Redner ist Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die
Linke. Bitte schön, Kollege Dr. Seifert.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich Ihren Antrag
in die Hände nahm, war ich richtig begeistert.
({0})
Endlich, dachte ich, unterstützen uns die Koalitionsfraktionen bei der Förderung des Kinder- und Jugendtourismus. Klasse, dachte ich.
({1})
Aber bedauerlicherweise - Kollegin Hiller-Ohm, Sie
haben recht - ging es dann mit dem Text los. Da kam nur
noch der „Wirtschaftsfaktor“ Kinder- und Jugendtourismus vor. Herr Liebing, Sie haben hier vorhin gesagt, das
Wichtigste sei der Umsatz von 12 Milliarden Euro.
Wir sind hier aber nicht die Außenstelle von TUI oder
Neckermann. Wir sind der Deutsche Bundestag. Beim
Kinder- und Jugendtourismus müssen wir uns um etwas
anderes kümmern. Wir dürfen nicht nur den Wirtschaftsfaktor Kinder- und Jugendreisen sehen, sondern beispielsweise auch den Bildungs-, den Erholungs-, den
Gesundheits- und den Weltanschauungsfaktor.
({2})
Das heißt, wir müssen uns um die Jugendherbergen
kümmern. Wir müssen uns um die KiEZe, also die Kinder- und Jugenderholungszentren kümmern. Das müsste
im Mittelpunkt eines Antrags stehen, der sich der Förderung und Unterstützung des Kinder- und Jugendtourismus widmet.
Immerhin haben Sie unter Punkt sieben Ihres Forderungskatalogs gefordert, „die Qualifizierung von im
Kinder- und Jugendtourismus tätigen Mitarbeitern und
ehrenamtlichen Helfern weiter zu fördern“. Das ist positiv. Sie bekennen sich auch zum Ziel der Teilhabe aller
Bevölkerungskreise am Tourismus. Wunderbar! Aber
Sie verschweigen ganz diskret, dass 30 Prozent aller
Kinder und Jugendlichen in diesem Land überhaupt
nicht reisen können. Hier muss die Politik ansetzen und
nicht da, wo es sowieso läuft.
({3})
Es gibt drei große Barrieren im Tourismus: die finanziellen, die kulturellen und die baulichen Barrieren. Auf
meine Frage zu den finanziellen Barrieren antwortete
Staatssekretär Hintze vor Monaten, dass Reisen nicht regelbedarfsrelevant sei. Also müssen die armen Leute
und die Hartz-IV-Kinder zu Hause bleiben und können
nicht reisen.
Dann erklärte mir Staatssekretär Heitzer, dem ich vorgestern viele Fragen gestellt habe, auf die Frage, welche
Erkenntnisse denn die Bundesregierung hinsichtlich des
Reisens von Kindern mit Migrationshintergrund habe
- hier sind wir bei den kulturellen Barrieren -, die Bundesregierung habe hierüber „weiterhin keine Erkenntnis“
und eine personengruppenspezifische Statistik gebe es
nicht. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, wollen Sie weiterentwickeln?
Ich habe den Staatssekretär auch nach Erkenntnissen
über die Teilhabe von Kindern mit Behinderungen am
Tourismus gefragt. Die Antwort des Staatssekretärs war,
der Bundesregierung lägen „keine Erkenntnisse“ vor und
entsprechende Daten würden nicht erhoben. Und das
wollen Sie weiterentwickeln? Wie soll das gehen, wenn
Sie überhaupt nicht wissen, was Sie erreichen wollen?
({4})
Ich empfehle Ihnen diesbezüglich einen Blick in die UNBehindertenrechtskonvention. Da sind insbesondere die
Art. 7, 24 und 30 zu nennen.
Die Linke schlägt Ihnen vor: Setzen Sie die Losung
„Reisen für alle“ um und denken Sie an die 30 Prozent
Kinder und Jugendliche, die dies bis jetzt nicht können.
Nicht nur der Markt, sondern auch - ich sage es noch
einmal - Bildung, Erholung, Gesundheit und Weltanschauung sind wichtig. Machen Sie aus Klassenfahrten
Bildungsaufträge! Machen Sie solche Fahrten zur Pflicht
an Schulen! Sorgen Sie mit uns gemeinsam für einen
Mix aus Objekt- und Subjektförderung, damit die armen
Leute reisen und die KiEZe überleben können!
({5})
Schließlich: Machen Sie Barrierefreiheit in allen Bereichen zum übergreifenden Prinzip unserer gemeinsamen Arbeit. Dann werden wir vorankommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Seifert. - Nächster Redner
in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unser Kollege Markus Tressel. Bitte schön, Kollege Markus Tressel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich freue mich außerordentlich, dass wir heute die
Debatte über den Kinder- und Jugendtourismus in diesem Hause führen. Es ist eine ausgesprochen wichtige
Debatte; denn - die Kollegin Hiller-Ohm hat es gesagt Reisen bildet und Reisen trägt zu einer positiven Persönlichkeitsentwicklung bei. Wir haben im Jahr 2002 mit
dem Aktionsplan eine gute Grundlage gelegt.
({0})
Die Debatte ist aber nicht nur wichtig, weil der Kinder- und Jugendtourismus ein bedeutender Faktor der
deutschen Reisebranche ist, sondern vor allem auch,
weil die Debatte unter sozialen Aspekten geboten ist.
Meine Vorredner haben es bereits angesprochen. Ein
Blick auf die Zahlen zeigt uns ganz schnell, wo die Probleme immer noch liegen. Die Zahlen muss man sich an
dieser Stelle noch einmal deutlich vor Augen führen:
Etwa 2,2 Millionen Kinder in diesem Land können nicht
am Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen. Während
die Urlaubsintensität der Deutschen ab 14 Jahren zunimmt, geht die Zahl der Urlaubsreisen mit Kindern bis
zu 13 Jahren seit 1996 kontinuierlich zurück. Es können
viel weniger Kinder aus einkommensschwachen Familien am Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen. Das
größte Problem in diesem Bereich ist, dass das öffentlich
geförderte Kinder- und Jugendreisen, insbesondere im
Kontext der Kinder- und Jugenderholung, seit den 90erJahren rückläufig ist. Staatliche Förderungen im Kinderund Jugendreisebereich sind um bis zu 30 Prozent gesunken. Die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen hat
sich in den Jahren 2000 bis 2004 um 23 Prozent reduziert. Das sind eklatante Zahlen, die man in diesem Zusammenhang in der Debatte nennen muss.
({1})
Aufgrund dieser Kürzungen besteht nicht nur die Gefahr, dass Kinder- und Jugendreisen teurer werden. Es
besteht auch die Gefahr, dass sich die soziale Schere
weiter öffnet. Das hat gerade gestern die GfK-Studie
zum Tourismus noch einmal deutlich gemacht. Die soziale Schere öffnet sich.
Wenn wir die Bedeutung - ich meine nicht nur die
ökonomische - dieses Reisesegments wirklich ernst nehmen, dann muss sich die öffentliche Hand wieder stärker
engagieren. Das fehlt in Ihrem Antrag komplett, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Darauf hat die Kollegin
Hiller-Ohm hingewiesen.
({2})
Wenn wir es schafften, die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen zu erhöhen, dann hätte es den schönen
Nebeneffekt, dass man auch die innerdeutsche Reiseaktivität von Jugendlichen steigern könnte. Es wäre also
nicht nur aus sozialen Aspekten sinnvoll, die eigene Region oder das europäische Umfeld in den Blick zu nehmen, insbesondere bei Klassenfahrten. Wir wissen, hier
sind die Länder gefordert. Der eine oder andere hat aber
durchaus Einflussmöglichkeiten in den Ländern. Ich
glaube, das müssen wir auf die Agenda setzen. Angebote, wie etwa die der National- und Naturparke, der Jugendherbergen, der Schullandheime, müssen besser vernetzt und vermarktet werden. Hier braucht es eine
bessere Koordinierung der Länder und entsprechende
Angebote. Wir alle wissen, Mecklenburg-Vorpommern
geht mit einem sehr guten Beispiel voran.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition ich sage das jetzt freundlich, nachdem es in dieser Debatte so viele unfreundliche Worte gegeben hat -, Sie
machen mit Ihrem Antrag einen Aufschlag. Der ist an
vielen Stellen
({3})
sehr unkonkret und mit sehr vielen Prüfaufträgen versehen. Deswegen gibt es noch einiges zu tun.
Es gibt aber auch Punkte, wo wir nah beieinander
sind, etwa das Thema Qualifizierung von Jugendreiseleitern oder die Thematisierung von sexueller Gewalt in der
Ausbildung von Jugendreiseleitern. Das haben Sie, Herr
Kollege Liebing, auch angesprochen. Ich glaube, hier
gibt es auch die Möglichkeit, sich zu einigen.
Uns fehlen - das ist auch angesprochen worden klare Anforderungen an die Bundesregierung. An vielen
Stellen werden komplette Aspekte in Ihrem Antrag, wie
etwa das Thema nachhaltige Mobilität oder Gesundheitsprävention, vollkommen ausgeblendet. Wir brauchen keine Prüfaufträge, sondern es muss gehandelt werden. Das ist die Devise.
({4})
Ich sage ganz deutlich - der Tourismusausschuss ist
für seine konsensuale Arbeit bekannt -: Ihr Antrag
braucht noch etwas Zuwendung und Konkretisierung
seitens der Opposition. Wie wir das letztlich im Verfahren regeln, müssen wir sehen.
({5})
- Lieber Herr Liebing, wir werden das diskutieren. Wir
haben viele Vorschläge.
Im Interesse der Sache wäre es mir am liebsten, wenn
wir zu einem fraktionsübergreifenden Antrag kämen.
Oder wir bringen einen eigenen Antrag ein. Wir haben
viele Vorschläge. Die werden wir dem Ausschuss unterbreiten, und dann können wir noch einmal diskutieren.
In diesem Sinne, vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Markus Tressel. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Klaus Brähmig. Bitte schön, Kollege
Klaus Brähmig.
({0})
Hochgeschätzter Herr Präsident Oswald! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Art und Weise, wie, wohin
und mit wem wir in Kindertagen und in unserer Jugend
verreisen, prägt für gewöhnlich unser gesamtes späteres
Reiseverhalten. In großem Maße wird aber auch unsere
Sicht auf Fremdes und Eigenes durch diese ersten Erfahrungen bestimmt.
Gerade für uns Politiker muss es daher ein ganz besonderes Bestreben sein, den Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland auf ein solides, verlässliches und
überprüfbares Fundament zu stellen. Dies beabsichtigt
der gemeinsame Antrag der Koalitionsfraktionen. Ich
darf von dieser Stelle aus ein herzliches Dankeschön unseren Kollegen Marlene Mortler und Jens Ackermann
stellvertretend für die beiden Koalitionsfraktionen, aber
auch für die gesamte Arbeitsgruppe aussprechen.
({0})
Meines Erachtens hat das starke Segment des Kinderund Jugendtourismus neben Aspekten der Erholung, Bewegung und Freude für die Kinder und Jugendlichen vor
allem ein gewichtiges soziokulturelles Bildungsmoment.
Dies können wir bei aller Diskussion über Zuständigkeiten und Standards nicht außer Acht lassen. Wir Tourismuspolitiker dürfen nicht müde werden, immer wieder
zu betonen: Reisen bildet, erweitert den eigenen Horizont und schmiedet Freundschaftsbande über Grenzen,
Religionen und Herkunft hinweg.
Der Umstand, dass zwischen den großen Nationalstaaten Europas mehr als ein halbes Jahrhundert, genauer gesagt 67 Jahre, durchgehend Frieden herrscht, ist
ein bislang nie dagewesenes Phänomen in der Geschichte unseres Kontinents, unseres geeinten Europas.
({1})
In einer Atmosphäre von Frieden, Stabilität, Demokratie, gegenseitigem Respekt und Toleranz kann man
durch diese Form des Tourismus noch weitere Vorurteile
abbauen und aufeinander zugehen. Es gilt, sich bereits
früh auf den Weg zu machen, neugierig und offen für unbekannte Kulturen, Lebensweisen und Ansichten zu
sein. So lernen wir die Vielfalt der Landschaften und Regionen, der Völker sowie ihre Sprachen und Traditionen
als kostbaren Wert zu begreifen und erkennen Gemeinsamkeiten im Unterschied.
Der Nährboden von Vorurteilen und Ablehnung ist
Unkenntnis und fehlender Kontakt mit anderen Kulturen. Wer auf Reisen durch persönliche Erfahrungen gelernt hat, wie spannend und bereichernd das Miteinander
der Kulturen ist, wird gewiss keine Vorbehalte gegenüber anderen Ländern, Kulturen und Religionen entwickeln. Daher sollen und müssen wir unsere Kinder und
die Jugend Europas auf Reisen schicken, damit sie sich
kennenlernen, gegenseitig achten und anfreunden.
Dieser Aspekt ist nach meiner festen Überzeugung
mehr denn je notwendig, damit wir nicht erleben müssen, wie kürzlich im Fernsehen zu beobachten, dass unsere Fahnen in Nachbarstaaten verbrannt werden.
({2})
Warum nicht zum Beispiel Klassenfahrten nach Griechenland?
Eine Vielzahl von Initiativen und Akteuren leistet auf
dem Gebiet der Kinder- und Jugendreisen hierzulande
seit Jahrzehnten vorbildliche Arbeit. Die Jugendwerke
der Kirchen und Wohlfahrtsverbände erbringen durch
ihre Jugendreiseangebote für die Völkerverständigung,
für die Toleranz und Solidarität in unserer Gesellschaft
einen unschätzbar großen Dienst. So wird es aus meiner
festen Überzeugung zum Beispiel auch zum Luther-Jubiläum 2017 sein.
Ebenso sorgen die unzähligen Jugendherbergen, Naturschutzgruppen, Sportvereine, Geschichtswerkstätten
oder Ortsgruppen von freiwilliger Feuerwehr, THW etc.
in diesem Land überwiegend ehrenamtlich dafür, dass
unsere Kinder und Jugendlichen ein kollektives Gruppenerlebnis auch außerhalb der gewohnten Umgebung genießen können. Feriencamps, Auslandsaufenthalte, Sprachreisen und Klassenfahrten sind unerlässlich, um Werte
wie Gemeinschaft, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft zu fördern. Unter anderem ist auch Urlaub auf dem
Bauernhof sehr beliebt. Er erfreut sich einer absolut großen Nachfrage und hat in allen Preissegmenten für alle
Gruppen dieser Gesellschaft etwas im Angebot.
„In Vielfalt geeint“ lautet der Leitspruch unserer Europäischen Gemeinschaft. Wir wollen mit unserem Antrag dazu beitragen, dass sich sowohl Anbieter als auch
Teilnehmer von Kinder- und Jugendreisen der Unterstützung des Bundes und der Länder sicher sein können.
Durch qualitativ hochwertige Produkte soll diese Vielfalt
und Einheit auf Reisen für Kinder und Jugendliche noch
besser erfahrbar werden. Wie hat Alexander von
Humboldt so trefflich gesagt:
Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die
Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht
angeschaut haben.
({3})
- Danke schön, Herr Kollege Hacker. - Der Kinder- und
Jugendtourismus kann einen wesentlichen Beitrag dazu
leisten, selbstbewusste, tolerante und kritische sowie solidarische junge Menschen heranwachsen zu lassen.
Unterstützen Sie daher bitte unseren Antrag zur Stärkung des Kinder- und Jugendtourismus, der eine wertvolle Investition in die Zukunft und die Völkerverständigung ist. Wir als politisch Verantwortliche müssen
angemessene Rahmenbedingungen schaffen, die es den
Organisatoren, Anbietern, Teilnehmern und Betreuern
erleichtern, solche Erfahrungen für Kinder und Jugendliche in der Gruppe auf Reisen erlebbar zu machen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss ein Dankeschön an den Tourismusbeauftragten
Ernst Burgbacher aussprechen, der sich nun schon seit
über zwei Jahren außerordentlich engagiert mit den vielfältigen Themen aus den Bereichen Mittelstand, Tourismus und Dienstleistungen beschäftigt. Weil ich schon
seit vielen Jahren - man kann sagen: seit fast 20 Jahren engstens mit dir zusammenarbeite, will ich dir ganz bewusst ein großes Dankeschön für deine Arbeit aussprechen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Klaus Brähmig. - Wir sind am
Ende unserer Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8451 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rüdiger
Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Staatsangehörigkeitsrecht modernisieren Mehrfache bzw. doppelte Staatsbürgerschaft
ermöglichen
- Drucksache 17/7654 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner unserer
Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Rüdiger Veit. Bitte schön, Kollege Veit.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Um gleich die Antwort auf eine mir eben auf
dem Weg hierher von der Kollegin Dağdelen gestellte
Frage zu geben: Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD genauso wie vom Bündnis 90/Die Grünen
und von der Linkspartei, müssen zum vermehrten Male
diese Koalition oder das, was von ihr vielleicht noch
wahrnehmbar übrig ist, darauf hinweisen, dass es allerhöchste Zeit ist, endlich das Staatsbürgerschaftsrecht
vernünftig zu reformieren.
({0})
Wir wollen, dass die Hinnahme von Mehrstaatigkeit,
die sogenannte doppelte Staatsbürgerschaft, generell zulässig ist. Wir wollen die Optionspflicht abschaffen und
die Voraussetzungen für die Einbürgerung nachhaltig erleichtern. Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, für uns Sozialdemokraten ist die Einbürgerung nicht
etwa der ins Schaufenster gestellte, krönende Abschluss
der Integration, sondern ein ganz wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur vollständigen Integration in unsere Gesellschaft, in unser Gemeinwesen. Das wollen
wir befördern. Wir wollen eben nicht nur auf Integrationsgipfeln oder bei anderen Anlässen Reden schwingen und Lippenbekenntnisse abgeben, sondern konkrete
Taten sehen - wenn es geht, eben auch von dieser Koalition.
Sie haben leider unseren Gesetzentwurf am 10. November 2011 abgelehnt, mit dem wir die gleiche Intention verfolgt haben, und zwar in namentlicher Abstimmung mit sämtlichen Stimmen der Abgeordneten von
CDU/CSU und FDP; der Rest des Hauses hat freundlicherweise zugestimmt. Wir müssen Sie jetzt auffordern,
endlich einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Ich sage auch deswegen „endlich“, weil spätestens
im nächsten Jahr die Frist für diejenigen, die dann 23
werden, abläuft, um sich in der Frage der Staatsbürgerschaft - entweder die deutsche oder die ausländische
Staatsbürgerschaft - zu entscheiden. Spätestens dann
wird sich erweisen, dass wir mit dem Optionsmodell
eine Art Bürokratiemonster geschaffen haben; darauf
komme ich noch zurück.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, manchmal hat man
bei den Debatten um die Staatsbürgerschaft den Eindruck, dass das, was Rot-Grün dem Haus in den Jahren
1998 und 1999 präsentiert hat, etwas völlig Neues war.
Dabei würde ich gerne einmal daran erinnern, dass die
doppelte Staatsbürgerschaft bzw. die Hinnahme von
Mehrstaatigkeit - so lautet der Fachausdruck - keineswegs so furchtbar neu und revolutionär ist. Manchmal ist
ein geschichtlicher Rückblick ganz nützlich. Da habe ich
etwas gefunden, das ich Ihnen gerne einmal hier zum
Besten geben möchte. Ich zitiere aus einem Einbürgerungsantrag von Herrn Domenico Costa aus Furtwangen, der in einem Brief an den Landeskommissär von
Konstanz Folgendes schreibt:
Großh. Herrn Landeskommissär bitte ich ergebenst,
von der Beibringung des Nachweises meiner Entlassung aus dem italienischen Staatsverband Abstand nehmen zu wollen, da ich neben der badischen Staatsangehörigkeit auch die italienische
beibehalten will. Zur Begründung meiner Bitte füge
ich bei, dass mein 70 Jahre alter Vater in Asiago
({1}) ein Bauerngut … besitzt und betreibt, welches evtl. n. A. meines Vaters durch Erbschaft mir
zufallen würde. … Zudem ist meine Heimatgemeinde Asiago eine ziemlich reiche Gemeinde, sodaß die Angehörigen derselben immer noch in finanzieller Hinsicht gewisse Vorteile haben, welche
ich auch nicht gerne preisgeben möchte.
Dieser Antrag auf doppelte Staatsbürgerschaft liegt
ziemlich genau 99 Jahre zurück. Klar wird das mit dem
eigenen Interesse begründet, keineswegs werden übergeordnete Gesichtspunkte angeführt. Wir sollten uns
99 Jahre später nicht so furchtbar schwertun und einigermaßen flexibel mit dieser Situation umgehen, zumal bis
zum Beginn des 19. Jahrhunderts das sogenannte Geburtsortprinzip durchaus auch im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht üblich war. Es war nur konsequent, dass
wir 1998/1999 versucht haben, das alte, von 1913 stammende Gesetz zu verändern. Wir sind an der Mehrheit
im Bundesrat gescheitert, die sich durch die hessische
Landtagswahl verändert hatte. Dazu möchte ich ein paar
Worte sagen; das sei mir als Hesse, der das damals nicht
zuletzt im Straßenwahlkampf selbst miterlebt hat, erlaubt.
Bevor die Doppelpasskampagne des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch losgetreten
wurde, wurde von der hessischen CDU eine Werbeagentur beauftragt, eine Kampagne zu entwerfen, durch die
sich das Blatt zugunsten der CDU wenden könnte. Man
hat sich dann dieses emotionalisierende Thema ausgesucht. Übrigens hat die SPD damals nicht deswegen verloren. Wir haben im Februar 1999 sogar noch 1,2 Prozent dazugewonnen. Leider haben die Grünen aus
verschiedenen Gründen erheblich verloren, und das
konnten wir nicht mehr kompensieren. So ging dann
auch die Mehrheit dahin.
Ich will Ihnen sagen, warum die damalige Kampagne
so unglaublich hinterhältig und doppelbödig war. Bis
zum Inkrafttreten des von uns initiierten Rechtes war es
in Deutschland fast ausnahmslos die Regel, dass jemand
türkischer Herkunft, der zum Konsulat gegangen ist, um
seine türkische Staatsbürgerschaft abzugeben, und der
anschließend die deutsche erworben hat, auf ausdrückliches Bitten des Konsulatsmitarbeiters hinterher noch
einmal erschienen ist, um seine türkische Staatsbürgerschaft wieder zu beantragen.
Ich habe im letzten Herbst zum ersten Mal einen
Menschen türkischer Abstammung getroffen, der vor
dem Jahr 2000 eingebürgert wurde und dann hinterher
nicht wieder die türkische Staatsbürgerschaft erworben
hat. Das war eine junge Frau, die erzählt hat, ihre Eltern
hätten damals Angst gehabt, diesen Schritt zu tun. Das
war die einzige Person. Es war niemand anderer als
Helmut Kohl - der bekanntermaßen nicht der rot-grünen
Regierung, sondern der Regierung einer anderen Mehrheit vorgestanden hat -, der anlässlich eines Staatsbesuches seinen türkischen Amtskollegen darum gebeten hat,
mit dem offensiven Werben in den Konsulaten aufzuhören nach dem Motto: Wenn du einen deutschen Pass
hast, dann kommst du wieder hierher, dann kriegst du
auch den türkischen. - Deswegen spreche ich davon,
dass es in besonderer Weise doppelbödig, hinterhältig
und auch verlogen war, dass mit dieser Kampagne seiRüdiger Veit
nerzeit gegen die Hinnahme von Mehrstaatigkeit Stimmung gemacht wurde.
Wir wollen das generell ermöglichen, auch deswegen,
weil wir das integrationspolitische Ziel verfolgen, möglichst viele der bei uns lebenden Bürgerinnen und Bürger
im Sinne eines einheitlichen Wahlvolkes zu Staatsbürgern zu machen. Wir wollen, dass sich die Betreffenden
stärker, besser und intensiver mit der deutschen Kultur
identifizieren. Das würde uns jedenfalls sehr freuen.
Dazu kann der Erwerb der Staatsbürgerschaft einen
wichtigen Beitrag leisten. Deswegen sollten wir den
Menschen keine Hindernisse in den Weg legen.
Bitte beachten Sie, dass die Zahl der Einbürgerungsanträge nach Inkrafttreten des neuen Rechts im Jahre
2000 zwar kurzzeitig auf ungefähr 180 000 pro Jahr
hochgeschnellt ist, mittlerweile aber wieder drastisch auf
rund 100 000 Anträge zurückgegangen ist, und das, obwohl es Millionen von Menschen in Deutschland gibt,
die die Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen
würden, worüber wir uns eigentlich freuen sollten.
Wir sollten nicht nur Sonntagsreden über Integration
halten. Wir sollten einen Beitrag dazu leisten. Dazu gehört in erster Linie die Beseitigung von Hindernissen für
die Einbürgerung und die Abschaffung der Optionspflicht, damit nicht jene jungen Menschen, die demnächst, also 2013 - ich habe das Datum bereits genannt -,
23 Jahre alt werden, in einen Loyalitätskonflikt zwischen
ihrer Abstammung und dem Herkunftsland der Eltern
und der deutschen Kultur, in der sie aufgewachsen sind,
geraten. Vielmehr sollten wir uns freuen, dass sie einen
Beitrag zur Integration leisten, indem sie weiterhin deutsche Staatsbürger bleiben. Das ist unser Anliegen. Wir
werden nicht lockerlassen. Darauf können Sie sich verlassen.
({2})
Vielen Dank, Kollege Rüdiger Veit. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Stephan Mayer. Bitte schön, Kollege Stephan Mayer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zu dem heute zu debattierenden Antrag der SPD-Fraktion kann man nur sagen:
alter Wein in alten Schläuchen.
({0})
Meine sehr geehrten Kollegen von der SPD, es ist
nicht neu, dass Sie für die Abschaffung des Optionsmodells sind, dass Sie für die generelle Zulassung der
Mehrstaatigkeit sind. Mich wundert nur, dass Sie in regelmäßigen Abständen mit den gleichen Anträgen oder
Gesetzentwürfen kommen. Ich kann mir das - mit Verlaub - nur so erklären, dass Sie, lieber Herr Kollege Veit,
immer noch traumatisiert sind, weil Sie 1999 dem Kompromiss beim Staatsangehörigkeitsrecht zugestimmt haben. Sie kommen immer wieder mit alten Kamellen über
vergangene Landtagswahlen. Ich glaube, dass es Zeit ist,
sich mit den aktuellen Themen, insbesondere mit den
Problemen der Integration, auseinanderzusetzen. Das ist
sinnvoller, als hier immer wieder in steter Regelmäßigkeit die gleichen Anträge zu stellen.
({1})
Sie wollen mit Ihrem Antrag den mühsam geschlossenen gesellschaftspolitischen Kompromiss aus dem Jahr
1999 aufkündigen. Herr Kollege Veit, in Ihrer Rede haben Sie den entscheidenden Unterschied zwischen Ihnen
und uns deutlich herausgestellt. Sie sagen: Die Ausreichung der deutschen Staatsangehörigkeit ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Integration in die
deutsche Gesellschaft. Ich sage Ihnen ganz offen: Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dezidiert anderer Auffassung. Wir sind der Meinung: Die Ausreichung der
deutschen Staatsangehörigkeit kann erst am Ende eines
erfolgreichen Integrationsweges stehen. Dabei bleiben
wir.
({2})
Auch wenn gewisse Fragen mittlerweile nicht mehr
akut sind - beispielsweise aufgrund der Aussetzung der
Wehrpflicht in Deutschland -, bleiben eklatante rechtliche Schwierigkeiten für den Fall bestehen, dass man generell die Mehrstaatigkeit zulässt.
({3})
Dann würden zunehmend sogenannte hinkende Rechtsverhältnisse entstehen, zum Beispiel im Bereich des Erbund Familienrechts, etwa wenn es um die Anerkennung
von Eheschließungen, um Scheidungen oder Namensänderungen geht.
({4})
Es kann natürlich sein, dass wir diese Fragen dann,
zumindest wenn es nach dem Justizminister von Rheinland-Pfalz geht, nach der Scharia regeln.
({5})
Ich sage Ihnen ganz offen: Wir von der CDU/CSU-Fraktion werden Ihnen hierzu eine ganz klare Absage erteilen. Die Scharia hat auf deutschem Boden nichts verloren.
({6})
Wir sind dezidiert der Auffassung, dass wir aufgrund unserer abendländisch-christlich-jüdischen Kultur eine gewachsene Rechtsordnung, eine gewachsene Rechtsstruktur haben, sodass überhaupt keine Notwendigkeit
besteht, auch nicht in Ausnahmefällen, Rechtsstreitig18958
Stephan Mayer ({7})
keiten nach dem islamischen Recht, nach der Scharia, zu
lösen.
Es gibt schon heute die Möglichkeit, Mehrstaatigkeit
zuzulassen. Es gibt die Härtefallregelung des § 12 des
Staatsangehörigkeitsgesetzes. Wenn die Aufgabe der
bisherigen Staatsangehörigkeit eine besondere Härte
darstellt, wenn das andere Land jemanden nicht aus der
Staatsangehörigkeit entlässt, wenn unzumutbare Bedingungen erhoben werden oder erhebliche Nachteile drohen, dann gibt es auch heute schon die Möglichkeit,
Mehrstaatigkeit zuzulassen. Es besteht deshalb aus meiner Sicht überhaupt keine Notwendigkeit, die Mehrstaatigkeit auf deutschem Boden generell einzuführen.
Die Einbürgerungsstatistik zeigt sehr eindrucksvoll,
dass sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund
durchaus bereit sind, sich für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Im Jahr 2010 zum Beispiel hatten
25 Prozent derjenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben, einen türkischen Migrationshintergrund. Lieber Herr Kollege Veit, Sie haben gesagt,
dass es Millionen von Menschen auf deutschem Boden
gibt, die die formalen rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten,
dass sie sie nur nicht beantragen. Dazu sage ich Ihnen
ganz offen: Vielleicht wissen sie ganz genau, warum sie
sie nicht beantragen. Sie wollen es eben nicht. Es gibt
doch überhaupt keine Notwendigkeit, jemandem die
deutsche Staatsangehörigkeit aufzudrängen. Ich glaube,
wir sind bisher gut damit gefahren, die Mehrstaatigkeit
nicht generell zuzulassen. In Ausnahmefällen ist dies
aber sehr wohl der Fall und möglich.
Ich sage Ihnen ganz offen, dass es auch unsere Aufgabe ist, Privilegierungen im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts zu vermeiden. Ich meine zum Beispiel das
Wahlrecht. Gerade wir sind aufgerufen, für eine möglichst gleiche Behandlung aller Bürgerinnen und Bürger
in Deutschland zu sorgen. Es ist unbestreitbar so, dass
Personen, die die doppelte Staatsangehörigkeit haben
bzw. über mehrere Staatsangehörigkeiten verfügen, in
einer gewissen Weise privilegiert werden.
Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir zunächst
einmal die Erfahrungen abwarten, die wir mit dem Optionsmodell machen werden. Ich spreche ungern - auch
das sage ich ganz offen - von Optionspflicht; denn an
sich ist das ja eine zusätzliche Möglichkeit, unter verschiedenen Alternativen zu wählen.
({8})
Sie wissen ganz genau: Wenn man sich bis zum
23. Lebensjahr nicht entscheidet - man muss sich nicht
entscheiden -, dann entfällt automatisch die deutsche
Staatsangehörigkeit. Auch de jure besteht also keine Optionspflicht, sondern es gibt eine Optionsmöglichkeit.
Wir haben ein Optionsmodell.
({9})
Erst seit 2008 gibt es Menschen in Deutschland, die
diese Option überhaupt wahrnehmen können. Es werden
jetzt zwischen 3 800 und 6 700 Personen im Jahr sein.
Ab dem Jahr 2018 wird es sich um ungefähr 40 000 Personen im Jahr handeln, die sich entscheiden können, das
heißt, die dann fünf Jahre lang Zeit haben, sich zu entscheiden. Bis dahin wird es umfangreiche Evaluierungen
geben.
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben uns darauf verständigt, verschiedene Studien anfertigen zu lassen. So werden unter anderem zwei Studien von der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge durchgeführt. Sehr viel erwarte ich mir von
der Überprüfung des Einbürgerungsrechts und des Verfahrens aufgrund der Zahlen, die die Länder bis Ende
des Jahres zu liefern haben.
Ich glaube, wir sind gut beraten, diese Studien, die
jetzt auf verschiedenen Ebenen gemacht werden, erst
einmal abzuwarten. Dann können wir uns im Wissen um
diese Erfahrungen und Zahlen wieder mit dieser Thematik beschäftigen. Aber bis dahin besteht überhaupt keine
Notwendigkeit zum Aktionismus und zu vorschnellen
Entscheidungen. Deswegen ist dem Antrag der SPDFraktion in aller Entschiedenheit die Absage zu erteilen.
({10})
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. - Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Sevim Dağdelen. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich habe mich gefragt, warum
die SPD diesen Antrag kurz nach der Beratung im November jetzt noch einmal eingebracht hat. Man kommt
zu dem Schluss: Nur der stete Tropfen höhlt den Stein.
Das Problem ist: Hier geht es nicht um einen Stein; das
ist anscheinend ein Fels, an dem man wirklich viele
Jahre knacken muss, damit man ein so unsinniges Gesetz
kippen kann.
({0})
Denn anders kann ich mir diese ideologische Borniertheit der CDU/CSU und der FDP nicht erklären, vor allen
Dingen auch deshalb nicht, weil ich von der FDP erkennbar auch andere Stimmen zur Kenntnis nehme. So
hat zum Beispiel die FDP im Niedersächsischen Landtag
eine komplett andere Position und sagt in ihrem Papier
zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik, dass die Situation
in Niedersachsen unerträglich sei. Sie sagt, der Umgang
mit türkischen Staatsangehörigen sei nicht hinnehmbar.
Ihnen werde in Niedersachsen die Mehrstaatigkeit verweigert, und auch die Optionspflicht sei unerträglich.
Deshalb müsse eine bundeseinheitliche Änderung vorgenommen werden. Ich wünsche mir, dass man diesen
Kolleginnen und Kollegen und auch dem Doppelstaatler,
dem niedersächsischen Ministerpräsidenten McAllister
von der CDU, entgegenkommt und sagt: Wir schaffen
diese blöde Optionsregelung ab.
Herr Mayer, Sie haben gesagt, in Ausnahmefällen
gibt es in Deutschland die Mehrstaatigkeit. Demgegenüber muss ich Sie daran erinnern, dass die Mehrstaatigkeit in Deutschland längst Realität und allgemeine
Praxis ist. Über 57 Prozent aller Eingebürgerten in
Deutschland sind Doppelstaatler. Das sind über 4,5 Millionen Menschen.
({1})
Das sind doch dann in Deutschland überhaupt keine
Ausnahmen, sondern das ist längst Praxis. Deshalb fragt
man sich: Was ist eigentlich Ihr Problem mit der Optionspflicht und der generellen Hinnahme der Mehrstaatigkeit? Dazu muss ich sagen: Offensichtlich geht es Ihnen um etwas anderes. In Ihrer Rede haben Sie die
Scharia erwähnt; ich wüsste nicht, welche Bundestagsfraktion die Einführung der Scharia gefordert hat. Sie
versuchen hier, einen Popanz aufzubauen.
({2})
- Hier im Bundestag in dieser Diskussion heute hat niemand die Scharia gefordert, Herr Mayer.
({3})
Nehmen Sie das zur Kenntnis! Das ist die Realität. Ich
weiß nicht, wovon Sie nachts träumen.
({4})
Dies hat hier jedenfalls nicht stattgefunden, Herr Mayer.
Was ist das Problem? Offensichtlich geht es Ihnen um
die Verhinderung der Einbürgerung von Türkinnen und
Türken in Deutschland. Anders sind die unterschiedlichen Quoten der einzelnen Bundesländer trotz bundeseinheitlicher Rechtsgrundlagen nicht zu erklären.
({5})
Die Quote der akzeptierten Mehrstaatigkeit bei Einbürgerungen beträgt bundesweit über 53 Prozent. Bei türkischen Staatsangehörigen liegt sie bei nur 28 Prozent.
Das heißt, Mehrstaatigkeit wird bei nichttürkischen
Staatsangehörigen in Deutschland mehr als doppelt so
häufig akzeptiert wie bei türkischen.
Kommen wir einmal zu Ihrem Bundesland, zu Bayern. In Bayern wird die doppelte Staatsangehörigkeit gerade einmal zu 3,7 Prozent anerkannt. Das waren im
Jahre 2010 ganze 78 Personen.
({6})
Die Doppelstaatlerquote nichttürkischer Staatsangehöriger beträgt in Bayern 64,5 Prozent. Die gezielte Einbürgerung zum Beispiel türkischer Staatsangehöriger wird
extrem erschwert. Diese ausgrenzende Praxis, die gezielte Verweigerung der Einbürgerung vor allem türkischer Staatsangehöriger - dies geschieht besonders in
Bayern, aber auch zum Beispiel in Baden-Württemberg -,
({7})
trägt zu dieser extremen Einbürgerungsquote bei. Ja, das
ist so. Ich finde, das ist ein Skandal.
({8})
Diese Menschen haben einen Anspruch auf Einbürgerung. Es handelt sich um bundeseinheitliche Gesetze.
Diese Menschen wollen deutsche Staatsangehörige und
nicht irgendwelche Bayern werden. Es darf nicht anhand
irgendwelcher bayerischen Maßstäbe entschieden werden, ob ihnen die Staatsangehörigkeit gegeben wird.
({9})
Insofern kann ich nur an Sie appellieren: Hören Sie in
diesem Land mit Ihrer Türkenfeindlichkeit auf! Hören
Sie damit auf, trotz bundeseinheitlicher Rechtsgrundlagen unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen! Das ist überhaupt nicht tragbar.
({10})
Ich meine, es ist auch nicht zeitgemäß, dass das
Staatsangehörigkeitsgesetz so rigide ist. Es geht nicht
nur um die Optionspflicht. Das ist unsere Kritik an dem
Antrag der SPD: Sie glauben, durch die Abschaffung der
Optionspflicht wäre das Thema gegessen. - Wir haben
seit der Reform von 1999 eine Trendwende; die Zahlen
der Einbürgerungen sind in den letzten zehn Jahren gesunken, und sie werden nicht besser. So werden wir das
Demokratiedefizit - dies hat auch das Bundesverfassungsgericht konstatiert - bei der Problematik nicht beseitigen, dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland
leben, ausgegrenzt werden, indem sie nicht an Wahlen
teilnehmen können. Dieses Problem werden wir nicht allein dadurch beheben, dass wir die Optionspflicht abschaffen. Dazu müssen wir zum Beispiel die Voraussetzungen für Einbürgerungen ändern.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir müssen zum Beispiel die Vorgabe bezüglich der
Aufenthaltsdauer ändern. Fünf Jahre reichen. Warum
sollen es sechs oder sieben Jahre sein? Warum bleiben
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
wir nicht bei den einfachen Sprachkenntnissen als Voraussetzung, wie es früher der Fall war? Vor allen Dingen: Warum verzichten wir nicht komplett auf die Einbürgerungsgebühren oder senken sie insoweit, dass wir
nur einen symbolischen Betrag verlangen?
Ich darf Sie wirklich bitten, auf die Redezeit zu achten.
Vielen Dank, Herr Präsident, für die Geduld und das
Verständnis.
Danke.
({0})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Hartfrid Wolff.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Und täglich grüßt die SPD. Wieder einmal fordern die Sozialdemokraten die Abschaffung des Optionsmodells. Klasse!
Das hat die SPD erst vor zehn Jahren selbst beschlossen.
Im vergangenen Herbst überraschte Rüdiger Veit die Nation mit der angeblich neuen Forderung nach Hinnahme
von Mehrfachstaatsangehörigkeiten.
({0})
Wir haben Ende letzten Jahres einen SPD-Antrag
vom Februar 2010 beraten. Jetzt kommt erneut aufgegossener Tee, diesmal vom November letzten Jahres. Offenbar sind unsere sozialdemokratischen Kollegen etwas
unterbeschäftigt. Wer immer wieder denselben Antrag
auf die Tagesordnung setzt, hat offenbar keinerlei neue
Ideen, Kollege Veit. Der Eindruck bleibt: Der Opposition fällt nichts mehr ein.
({1})
Dass sich die SPD von den Ergebnissen ihrer eigenen
Regierungsarbeit abwendet, haben wir in den letzten beiden Jahren schon sehr oft erlebt, und es erstaunt nicht
wirklich.
Sachlich bleibt es dabei: Es macht einfach keinen
Sinn, ein Gesetz zu ändern, zu dessen Wirkung es praktisch noch keine verwertbaren Daten gibt; auch das
wurde schon gesagt. Der Kollege Mayer hat recht: Es ist
sinnvoll, erst einmal Erfahrungen zu sammeln, wie sich
diese Regelung auswirkt, und danach die rechtlichen
Anpassungsmöglichkeiten zu prüfen. Alles anderes wäre
Aktionismus. Die Koalition hat vor, diese Prüfung bald
durchzuführen.
Wir Liberalen haben seinerzeit das Optionsmodell
vorgeschlagen, um den Weg hin zu einer Öffnung des
deutschen Staatsangehörigkeitsrechts in Richtung auf
das Jus Soli zu ermöglichen. Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen ist es nach Auffassung von
Rot-Rot-Grün aber unzumutbar, sich bei Volljährigkeit
für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Die
Partei Die Linke tut sich mit der Wahlfreiheit, der Kompetenz des Individuums, sich entscheiden zu dürfen, ja
generell schwer.
({2})
Anders als die Kinder deutscher Eltern sollen die Betreffenden durch eine Mehrfachstaatsangehörigkeit privilegiert werden. Im SPD-Antrag heißt es ausdrücklich, es
solle fürderhin ein konsequentes Bekenntnis zur doppelten oder mehrfachen Staatsbürgerschaft geben.
Meine Damen und Herren, die SPD frohlockte einst
über die Abschaffung des Abstammungsprinzips bei der
Staatsangehörigkeit. Für Migranten will sie es jetzt beibehalten. Das ist verkehrte Welt.
({3})
Wer die doppelte Staatsangehörigkeit fordert, stoppt die
Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Galt
Linken, Grünen und Sozialdemokraten das Abstammungsrecht bei deutschen Aussiedlern jedenfalls noch
als reaktionäres Rechtsprinzip, ist es im Hinblick auf die
Doppelstaatsangehörigkeit, etwa für Araber, plötzlich
wieder erwünscht.
Es ist in der Tat absurd, in dem Land, in dem man geboren ist und in dem man dauerhaft leben will, Ausländer zu sein. Allerdings: Niemand hier im Haus will Menschen, die sich für Deutschland entscheiden, die die
deutsche Sprache beherrschen und sich auf unsere
Grundwerte verpflichten, daran hindern. Aber einen
Herkunftsnationalismus zu beschwören, ist reaktionär.
({4})
Dass sich die Oppositionsparteien dabei vor diesen Karren spannen lassen, ist jedenfalls aus meiner Sicht ein
Armutszeugnis. Fortschrittlich dagegen wäre es, das Jus
Soli tatsächlich weiterzuentwickeln.
({5})
Die Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur
gelingen, wenn man sich zu gleichen Rechten und
Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche
Gesellschaft integriert. Rot-Rot-Grün tut so, als ob Migration allein eine geografische Standortveränderung
wäre - und damit basta.
({6})
Das ist Unfug. Jeder, der sich mit dem Thema Migration
auseinandersetzt, weiß, dass Zuwanderung nicht einfach
in ein neues Territorium erfolgt, sondern in ein Land mit
anderen Menschen, mit eigener Tradition, eigener SpraSevim DaðdelenSevim Dağdelen
Hartfrid Wolff ({7})
che und eigener Kultur; das weiß niemand besser als unsere bayerischen Freunde.
({8})
Wer das verschweigt oder kleinreden will, zerstört die
Zukunftschancen von Migranten.
Eine Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen
der Bevölkerung abgelehnt wird, stärkt keinesfalls die
Akzeptanz von Migranten.
({9})
Wer eine Zukunft anstrebt, in der nicht Hautfarbe oder
Abstammung, sondern allein der Wille und die freiwillige Verpflichtung, dazuzugehören, für die Zugehörigkeit zur deutschen Nation entscheidend sind, der muss
verhindern, dass Abstammungsfragen in Deutschland
wieder salonfähig werden, wie es durch das Instrument
der mehrfachen Staatsangehörigkeit im Prinzip geschieht.
Meine Damen und Herren, die FDP wird weiterhin
die freie Entscheidung des Individuums und die Integrationsleistungen jedes Einzelnen höher schätzen als die
Beschwörung von Herkunft und ethnischen Milieus. So
gestalten wir in der Koalition den überfälligen Neuanfang in der Integrationspolitik: auf dem Weg hin zu einer
neuen Kultur des Willkommens
({10})
und auf der Basis von Gleichberechtigung, gegenseitiger
staatsbürgerlicher Loyalität und fairem Miteinander.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Hartfrid Wolff. - Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Memet Kilic. Bitte schön, Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe in dieser Debatte schon gemerkt,
dass ich einiges richtigstellen muss. Deutschland hat im
europäischen Vergleich eine der schlechtesten Einbürgerungsquoten. Fast jeder Neunte in unserer Bevölkerung
hat keinen deutschen Pass. Viele von ihnen wollen sich
einbürgern lassen, scheitern aber an den hohen Einbürgerungshürden. Stellen Sie sich vor, Sie wären einer von
ihnen: Welches Bild hätten Sie in dieser Debatte von Ihrer eigenen Partei?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Art. 2 Abs. 1 unseres Grundgesetzes heißt es:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit …
In unserer zivilen Gesellschaft braucht das Individuum
staatsbürgerschaftliche Rechte, um sich entfalten zu können. Einwohner ohne deutsche Staatsbürgerschaft bleiben deswegen oft Zaungast. Eine der besten Maßnahmen
gegen Rassismus ist die Stärkung der Rechte der potenziellen Opfer. Die Erleichterung der Einbürgerung ist die
richtige Antwort auf die rassistische Mordserie der NSU.
({0})
An dieser Stelle möchte ich den Antrag der SPD loben. Darin fordert die SPD größtenteils die inhaltliche
Umsetzung unserer Gesetzentwürfe aus dem Jahr 2010.
Unsere Kernforderungen sind: erstens die Abschaffung
des Optionszwangs. Es ist integrationspolitischer Unsinn, in Deutschland geborene Jugendliche vor die
Zwangswahl zwischen ihren zwei Staatsbürgerschaften
zu stellen.
Zweitens. Einbürgerungsanträge von Rentnern dürfen
nicht wegen fehlender Lebensunterhaltssicherung abgelehnt werden. Wenn Renten nach 30-jähriger Berufstätigkeit unter dem Sozialhilfeniveau liegen, ist das kein
individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem.
({1})
Drittens fordern wir die uneingeschränkte Hinnahme
der Mehrstaatigkeit. In Deutschland lebt seit Jahrzehnten
eine Vielzahl von Menschen ohne Probleme mit zwei
Staatsangehörigkeiten. So haben Millionen von Spätaussiedlern die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, ohne
dass sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben
mussten.
({2})
Ebenso haben alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger das
Recht auf Mehrstaatigkeit. 2010 erfolgten 53,1 Prozent
aller Einbürgerungen unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit. In vielen europäischen Staaten wird die Mehrstaatigkeit generell hingenommen. Probleme verursacht die
Mehrstaatigkeit dort nicht. Lassen Sie uns diese integrationspolitische Katastrophe endlich gemeinsam beenden
und die Mehrstaatigkeit uneingeschränkt hinnehmen.
({3})
Im August 2008 habe ich mit der GAL in Heidelberg
eine Quizshow mit Fragen aus dem Einbürgerungstest
veranstaltet. Die überwiegende Mehrheit der Einheimischen fand die Sprache des Testes zu kompliziert. Viele
hatten Schwierigkeiten, den Kontext der Fragen zu verstehen. Durch den hohen intellektuellen Anspruch der
Fragen werden Menschen mit niedrigem Bildungsniveau
von der Einbürgerung ausgeschlossen. Der Test hat seine
abschreckende Wirkung besonders bei älteren Menschen
gezeigt. Daher muss der Test abgeschafft werden, liebe
Freundinnen und Freunde.
({4})
Die SPD hat vor wenigen Jahren, in der Großen
Koalition, gegen jegliche Vereinfachungen bei der Einbürgerung gestimmt. Nun hat sie in ihrer Zeit auf der
Oppositionsbank gleich zwei fast wortgleiche Anträge
eingebracht, mit denen sie die Einbürgerung vereinfachen möchte. Die letzte Initiative der SPD haben wir unterstützt, diese werden wir auch unterstützen. Selbst
wenn die SPD in dieser Wahlperiode noch zehnmal den
gleichen Antrag einbringen wird, werden wir sie zehnmal unterstützen.
({5})
Abschließend möchte ich der SPD einen Tipp mit auf
den Weg geben: Liebe SPD, wenn Sie es mit der Sache
ernst meinen, dann sollten Sie nicht mit einer Großen
Koalition liebäugeln; denn mit der Union - Sie haben es
gesehen - können Sie auf diesem Gebiet nur weitere
Verschärfungen durchführen, aber keine Vereinfachungen. Lassen Sie es deshalb sein!
({6})
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Kollege Memet Kilic. - Letzter Redner
in unserer Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt
ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ingo
Wellenreuther. Bitte schön, Herr Kollege Wellenreuther.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wieder einmal hat die SPD das Thema Staatsangehörigkeitsrecht auf die Tagesordnung gesetzt. Sie wollen mit
Ihrem Antrag die Optionspflicht abschaffen und die
mehrfache bzw. doppelte Staatsbürgerschaft, Herr Veit,
ermöglichen. Bereits viermal haben wir in den letzten
zwei Jahren im Deutschen Bundestag über entsprechende Anträge der Opposition debattiert, zuletzt - es
wurde angesprochen - vor genau drei Monaten.
Jedes Mal haben die Regierungsfraktionen erklärt, am
Grundsatz, mehrfache Staatsangehörigkeiten prinzipiell
zu vermeiden, festzuhalten. Dieser Grundsatz ist völkerrechtlich anerkannt und prägt das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. Sie kennen unsere überzeugenden Argumente dazu.
({0})
Sie wissen, dass wir Ihren Antrag heute ablehnen
werden. Trotzdem stellen Sie ihn. Das ist natürlich Ihr
gutes Recht, aber es zeigt doch nur eines: Es geht Ihnen
nicht um Integration, sondern Sie schielen nur nach
Wählerstimmen. Sie wollen bei unseren Mitbürgern mit
ausländischem Pass punkten, um angesichts ihrer
schlechten Umfragewerte wieder Boden gutzumachen.
({1})
Das ist allerdings so plump und offensichtlich, dass Ihnen das nichts nutzen wird. Sie haben in keiner Weise
die Sache im Blick. Ihnen geht es allein um die Show.
Deshalb leisten Sie, Herr Veit, mit Ihrem Antrag gerade
keinen Beitrag, das Zusammenleben der Menschen in
unserer Gesellschaft zu fördern. Integrationspolitisch
sind Sie mit Ihrem Vorschlag auf dem Holzweg.
Rot-Grün hat noch immer nicht begriffen, dass es bei
der Integration ausländischer Mitbürger oder Menschen
mit Migrationshintergrund nicht darum gehen kann, die
deutsche Staatsbürgerschaft gleichwohl mit der Gießkanne zu verteilen. Integration gelingt nicht mit der Aushändigung eines deutschen Passes. Sie lösen damit kein
einziges Problem, das im Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher
Kulturen entstehen kann. Integration ist vielmehr eine
Sache des Kopfes und des Herzens; darauf habe ich
schon im November 2011 hingewiesen. Deshalb muss
die Staatsbürgerschaft am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen und nicht an dessen Anfang.
({2})
Vollkommen kontraproduktiv ist daher auch das, was
die neue grün-rote Landesregierung in meinem Heimatland Baden-Württemberg gerade vollzogen hat. Durch
Änderungen bei der Ausführung des Staatsangehörigkeitsrechts sollen künftig insbesondere mehr Fälle der
Mehrstaatigkeit hingenommen und Abstriche beim Erfordernis der Deutschkenntnisse gemacht werden.
({3})
Das ist kein Beitrag, Integration zu fördern. Ganz im Gegenteil: Das baden-württembergische Integrationsministerium wird hier seinem Namen nicht gerecht.
Richtig ist dagegen unser Ansatz. Wir wollen gut integrierte Ausländer, die Deutschland als ihre Heimat
empfinden und sich einbürgern lassen, weil sie Deutsche
werden wollen, und nicht nur deshalb, weil sie unter Beibehaltung ihrer Staatsbürgerschaft die Vorteile der deutschen Staatsbürgerschaft zusätzlich in Anspruch nehmen
wollen.
Integration ist im Wesentlichen ein innerer Prozess.
Diesen hat der Staat zu fördern, insbesondere durch Angebote an Deutsch- und Integrationskursen. Dafür
nimmt der Staat zu Recht viel Geld in die Hand; denn es
ist uns schon immer klar: Entscheidend für eine gelungene Integration ist, dass die hier lebenden Ausländer
die deutsche Sprache lernen und beherrschen. Das ist der
Schlüssel für eine gute Bildung und Ausbildung und dies
wiederum für gesellschaftliche und berufliche Teilhabe.
Deshalb zielen die integrationspolitischen Bemühungen
der unionsgeführten Bundesregierung seit dem Jahr
2005 in genau diese Richtung. Damit haben wir schon
große Erfolge erzielt.
Wenn Integration gelingt, werben wir sehr dafür, dass
möglichst viele derer, die die Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen; denn dadurch wird die Zugehörigkeit zu unserem
Land und zur wechselseitigen Verantwortung seiner Bürger am stärksten ausgedrückt. Vor diesem Hintergrund
freut es uns wirklich sehr, dass im Jahre 2010 die Zahl
der Einbürgerungen um 5,6 Prozent gestiegen ist und der
Anteil der Einbürgerungen mit fortbestehender ausländischer Staatsangehörigkeit erfreulicherweise leicht zurückgegangen ist. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die
Zahl der Einbürgerungen im letzten Jahr weiter gestiegen ist.
Auch zum zweiten Punkt, der von der Opposition geplanten Abschaffung der Optionspflicht, kennen Sie aus
den Debatten unsere klare Haltung. In der Koalitionsvereinbarung ist vorgesehen, die Erfahrungen mit einer nennenswerten Zahl der ersten Optionsfälle auszuwerten
und einen möglichen Verbesserungsbedarf zu prüfen.
Diese Prüfungen betreffen zum einen das Verwaltungsverfahren. Hier liegt der Schwerpunkt bei den Ländern, wobei das Bundesinnenministerium die Maßnahmen koordiniert und die Ergebnisse zusammenfasst. Die
Länder waren gebeten worden, dazu entsprechende Angaben bis zum 31. Januar dieses Jahres zu übersenden.
Sie von der SPD können nicht einmal eine Woche stillsitzen und stellen schon heute einen Showantrag in das
Schaufenster des Bundestages.
Die Evaluierung betrifft zum anderen die Evaluierung
der Maßnahme selbst. Hier werden erstens die von den
Ländern zum 31. Januar dieses Jahres zur Verfügung gestellten Zahlen über das Entscheidungsverhalten der Optionspflichtigen ausgewertet. Auch wenn diese Auswertung gerade erst begonnen hat, zeichnet sich bisher die
Tendenz ab - Herr Veit, Sie wissen das wahrscheinlich -,
dass sich 95 Prozent der Optionspflichtigen, die sich bisher gemeldet haben, für die deutsche Staatsbürgerschaft
entschieden haben. Fast alle geben also ein ganz klares
Bekenntnis zu unserem Land ab. Ich halte das für ein
wunderbares, eindeutiges Zeichen dafür, dass sich Menschen anderer Herkunft in unserem Land wohlfühlen.
Zugleich ist es ein erfreuliches Zeichen dafür, dass wir in
Deutschland ganz überwiegend eine offene und tolerante
Gesellschaft haben. Ich finde, gerade in Zeiten, in denen
menschenverachtende Straftaten von Neonazis die
Schlagzeilen beherrschen, ist dies eine sehr wichtige
Nachricht.
({4})
Bei der Evaluierung der Maßnahme selbst wird zweitens die Wahrnehmung der Optionsregelung durch die
Betroffenen selbst untersucht. Uns ist es wichtig, wie die
optionspflichtigen jungen Menschen diese Pflicht zur
Entscheidung empfinden. Deshalb sind die zwei bereits
angesprochenen umfassenden Studien der Forschungsgruppe des BAMF in Auftrag, die derzeit durchgeführt
werden. Die Untersuchung der Forschungsgruppe umfasst darüber hinaus auch das Einbürgerungsverhalten
allgemein und stellt deshalb eine wesentliche Grundlage
für die Prüfung möglicher Hemmnisse im Einbürgerungsrecht dar.
({5})
- Noch nicht, Herr Winkler. Warten wir ab!
Die Ergebnisse dieser umfassenden Prüfungen und
wissenschaftlichen Studien werden in der ersten Hälfte
dieses Jahres erwartet. Auch das ist schon mehrfach gesagt worden, und Sie von der SPD wissen das auch, Herr
Veit. Deshalb gilt erneut: Sie sind mit Ihrem Antrag wieder einmal zu früh dran. Um die Sache geht es Ihnen
auch heute wenig. Sie wollen aus taktischen Gründen
mit Ihrem Aktionismus für Ihre Fraktion Kapital schlagen. Das ist zu durchschaubar, als dass jemand darauf
hereinfallen könnte. Ihren Antrag lehnen wir schon aus
diesem Grund ab, aber vor allem aufgrund der bereits
mehrfach genannten inhaltlichen Argumente.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Kollege Wellenreuther.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7654 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
18. Oktober 2011 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz der Europäischen
Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen
und die betriebliche Altersversorgung
- Drucksache 17/8236 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/8506 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Vizepräsident Eduard Oswald
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der
Finanzen, Kollege Hartmut Koschyk. Bitte schön, Herr
Staatssekretär.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Eine der Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise war
die Schaffung neuer, stringenter Aufsichtsstrukturen für
das Finanzwesen in Europa. Wer die Verhandlungen
über den Sitz dieser Behörden miterlebt hat, der weiß,
dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass es der Bundesregierung gelungen ist, eine dieser drei Aufsichtsbehörden nach Deutschland zu holen. Es wurden
Aufsichtsbehörden für das Bankenwesen und das Wertpapierwesen und eine für das Versicherungswesen und
die betriebliche Altersversorgung geschaffen. Nachdem
Frankfurt am Main schon Sitz der Europäischen Zentralbank geworden ist, war es ein großer Verhandlungserfolg der Bundesregierung, die wichtige Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche
Altersversorgung, die das schöne europäische Kürzel
EIOPA hat, auch nach Frankfurt zu bekommen. Traditionell - das wissen wir - spielt die Versicherungswirtschaft
für die deutsche Volkswirtschaft eine herausgehobene
Rolle. Mit dem Sitz von EIOPA in Frankfurt ist auch die
Bedeutung der Stadt Frankfurt als wichtiges europäisches Finanzzentrum unterstrichen worden.
({0})
Mit dem heute im Bundestag zu verabschiedenden
Entwurf eines Vertragsgesetzes werden die rechtlichen
Grundlagen für das völkerrechtliche Inkrafttreten des
Abkommens zwischen der Bundesregierung und EIOPA
über deren Sitz in Frankfurt am Main geschaffen.
Gleichzeitig soll das Abkommen jetzt auch die Zustimmung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften erhalten.
Ich durfte gemeinsam mit dem damaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Werner Hoyer, und
Carlos Montalvo, dem Exekutivdirektor von EIOPA, am
18. Oktober 2011 im Auswärtigen Amt in Berlin das
Sitzabkommen unterzeichnen. Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Staatsminister Link, und den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes für die gute
Federführung bei der Aushandlung des Sitzabkommens
und die gute Kooperation bedanken. Es war ein mustergültiges Zusammenwirken verschiedener Ressorts bei
der Abschlussverhandlung zu diesem Sitzabkommen.
({1})
EIOPA ist Teil des europäischen Finanzaufsichtssystems. Sie ist, wie bereits gesagt, eine von drei im Zuge
der europäischen Aufsichtsreform geschaffenen Aufsichtsbehörden. Sie hat ihre Tätigkeit bereits am 1. Januar 2011 aufgenommen. Mit dem heute vom Bundestag
zu verabschiedenden Sitzabkommen kommen wir als
Bundesrepublik Deutschland unseren Verpflichtungen
als Sitzstaat nach. Durch dieses Abkommen werden
klare rechtliche Rahmenbedingungen für EIOPA geschaffen, um ein reibungsloses Funktionieren der Behörde und die unabhängige Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewährleisten. Wir orientieren uns dabei am
Sitzabkommen der Europäischen Zentralbank. Im Hinblick auf die haushälterische Situation ist eines wichtig:
Durch dieses Abkommen kommen keine zusätzlichen finanziellen Belastungen auf die Bundesrepublik Deutschland zu.
({2})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Sitz
einer solchen Behörde ist das eine. Der Geist, in dem
eine solche Behörde ihre Arbeit aufgenommen hat, ist
das andere. Dass EIOPA nicht nur eine Aufsichtsbehörde
ist und dass sie für die Branche in Europa und auch in
Deutschland nicht immer ein bequemer Partner sein
wird, merken wir bei der aktuellen Debatte über Solvency II. Hier müssen wir im Hinblick auf die aktuellen
Verhandlungen auf Brüsseler Ebene dafür Sorge tragen,
dass das bewährte System der betrieblichen Altersvorsorge in Deutschland nicht unter die Räder kommt.
Welche wichtige Rolle EIOPA neben den Aufsichtsaufgaben jetzt schon im Bereich der legislativen Rechtssetzung auf europäischer Ebene spielt, merken wir. Ich
habe es mit dem Exekutivdirektor bei der Unterzeichnung des Sitzabkommens besprochen: Die Bundesrepublik möchte einen offenen und zielführenden Dialog mit
dieser wichtigen Behörde mit Sitz in Deutschland. Ich
möchte auch den Deutschen Bundestag einladen, mit
dieser Behörde einen offenen Dialog zu führen. An die
anwesenden Kolleginnen und Kollegen des Finanzausschusses des Bundestages gerichtet, sage ich: Vielleicht
könnte der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages
diese wichtige Behörde mit Sitz in Frankfurt einmal besuchen, um deutlich zu machen, dass der Deutsche Bundestag, vertreten durch seinen Finanzausschuss, an einem lebendigen Dialog mit EIOPA interessiert ist.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Sitzabkommen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Manfred Zöllmer. Bitte schön,
Kollege Manfred Zöllmer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es muss schon ein wenig erstaunen, dass wir heute in
diesem Hohen Haus über den Dienstsitz einer neuen Behörde debattieren sollen. Ich habe nichts dagegen, ein
paar Minuten über die neue europäische VersicherungsManfred Zöllmer
aufsichtsbehörde mit Sitz in Frankfurt zu sprechen. Eigentlich könnte ich mich hier hinstellen und sagen:
Frankfurt, Frankfurt, Frankfurt. Mehr steht in dem Gesetzentwurf nicht drin.
({0})
Mir und meinen Kolleginnen und Kollegen in der Opposition drängt sich allmählich der Eindruck auf, wir sollen
jetzt eine halbe Stunde über Frankfurt am Main reden,
weil die Koalition in ihrer permanenten Zerstrittenheit
- besonders beim Thema Regulierung - kaum noch etwas entscheidet und das Problem hat, Debattenzeit zu
füllen. Offensichtlich ist das in der Regierungskoalition
aber niemandem mehr peinlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Art. 59 Abs. 2
des Grundgesetzes bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die
Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der
Form eines Bundesgesetzes. Dies ist der verfassungsrechtliche Hintergrund. Deswegen müssen wir heute
über diesen Gesetzentwurf abstimmen.
Der faktische, der ökonomische Hintergrund ist natürlich ein anderer. Die Finanzkrise 2007/2008 hat uns allen
gezeigt, dass es erhebliche Defizite bei der Finanzaufsicht in Europa gab. Die Analyse belegte, dass es Mängel bei der Zusammenarbeit, der Koordinierung und der
Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten beim nationalen
Umgang mit den Praktiken der Finanzinstitute gab. Finanzmärkte und Banken agieren global; die Aufsicht war
national. Die daraus resultierenden Defizite wurden in
der Finanzmarktkrise offenkundig.
({1})
Das Europäische Parlament hat daher eine Reform
der europäischen Finanzaufsicht auf den Weg gebracht,
die erstmals bisher ausschließlich nationale Befugnisse
auf die europäische Ebene verlagert. Wir begrüßen diese
Entwicklung ausdrücklich. Die Etablierung dieser Aufsichtsbehörden wird das Vertrauen fördern und das Risiko einer Destabilisierung des globalen Finanzsystems
auch in Bezug auf das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung vermindern.
Ziel der europäischen Versicherungsaufsicht, der
EIOPA - das ist eine wirklich merkwürdige Abkürzung -,
ist die Wahrung der Stabilität und Effizienz des Finanzsystems. Sie wird sich die Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen, Finanzkonglomerate, Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung sowie die
Versicherungsvermittler genauer ansehen und entsprechend kontrollieren. Gleichzeitig übernimmt die EIOPA
Tätigkeiten im Bereich des Verbraucherschutzes, indem
sie etwa Verbrauchertrends analysiert und passende Ausbildungsstandards für die Wirtschaft entwickelt. Das begrüßen wir sehr.
Die Struktur der EIOPA ist insgesamt sinnvoll. Sie ist
durch gemeinsame Gremien mit den anderen europäischen Aufsichtsbehörden verknüpft. Hier seien der Gemeinsame Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden und der Beschwerdeausschuss der EIOPA genannt.
Die laufende Aufsicht über die Unternehmen verbleibt im Wesentlichen auf nationaler Ebene, in Deutschland bei der BaFin. Dies bedeutet, dass beide Einrichtungen kollegial zusammenarbeiten müssen. Das braucht
notwendigerweise etwas Zeit und den Willen zur kollegialen Zusammenarbeit. Das ist nicht immer so ganz einfach, weil neue Institutionen entstehen, die dann Bereiche bereits bestehender Organisationen übernehmen. Ich
bin mir aber sicher, dass dieser Wille zur kollegialen Zusammenarbeit bei der BaFin unter der Leitung ihrer
neuen Chefin, Frau König, vorhanden ist. Ich habe auch
sehr begrüßt, dass Frau König in einem Interview deutlich gemacht hat, dass man zwischen Banken und Versicherungen unterscheiden sollte und die Regeln, die für
Banken sinnvoll und notwendig sind, nicht einfach eins
zu eins auf Versicherungen übertragen sollte. Ich denke,
das ist ein vernünftiger Ansatz.
Die Aufsichtsbehörden in Europa werden für die notwendige Harmonisierung und eine kohärentere Anwendung von Vorschriften auf Finanzinstitute und -märkte
der Europäischen Union sorgen. Für die neuen EU-Behörden bedeutet dies im Vergleich zu ihren Vorgängergremien einen erheblichen Aufgabenzuwachs.
Damit sind wir bei einem sehr aktuellen und wichtigen Thema aus dem Bereich der betrieblichen Altersversorgung, einem Thema, das eben auch von Staatssekretär
Koschyk angesprochen wurde. Ich darf zu diesem
Thema einfach einmal aus der Presse dieser Tage zitieren:
Die EU-Kommission betrachtet unser Betriebsrentensystem künftig als Versicherung. Daher müssten
für sie auch die in Solvency II festgelegten strengen
Eigenkapitalvorschriften von bis zu 40 % gelten.
Weiter heißt es:
Folge: Vielen deutschen Pensionskassen droht die
Pleite. Andere müssen ihre Rentenzahlungen drastisch kürzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht
sein, dass aus der Harmonisierungsnotwendigkeit ein
Harmonisierungswahn und eine Zerstörung etablierter
Strukturen deutscher betrieblicher Altersversorgung
werden. Das deutsche Drei-Säulen-Modell staatlicher,
betrieblicher und privater Altersvorsorge empfiehlt sich
durchaus auch für Europa.
({2})
Es hat sich bewährt, und es muss geschützt werden. Die
Anwendung von Solvency II muss mit Augenmaß geschehen und sollte nicht dazu führen, dass die gut funktionierende betriebliche Altersversorgung hier in
Deutschland zerstört wird.
Gleiches sollte in Europa gleich behandelt werden.
Dafür braucht man gemeinsame Normen, Transparenz
und Kennzahlen zur Bewertung. Die betriebliche Altersversorgung ist aber mit vielen nationalen Besonderheiten
im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht verbunden. Sie ist
nicht mit großen Versicherungskonzernen zu vergleichen. Eine undifferenzierte europaweite Vereinheitlichung hilft hier nicht weiter. In einer Stellungnahme an
den Finanzausschuss hat das Bundesfinanzministerium
deutlich gemacht, dass es Verhandlungslinie der BaFin
sei, Solvency-II-Eigenkapitalvorschriften möglichst
nicht bei der betrieblichen Altersversorgung anzuwenden. Staatssekretär Koschyk hat diese Position eben dankenswerterweise für die Bundesregierung bekräftigt. Wir
begrüßen dies ausdrücklich, fordern die Bundesregierung aber auf, entsprechend tätig zu werden und dafür zu
sorgen, dass das auch umgesetzt wird.
({3})
Wir wünschen der neuen europäischen Aufsichtsbehörde einen guten Start und erfolgreiche Arbeit.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. - Als Nächs-
ter steht auf meiner Rednerliste Kollege Holger Krestel,
der seine Rede zu Protokoll gibt.1)
({0})
Somit erteile ich für die Fraktion Die Linke unserem
Kollegen Harald Koch das Wort. Bitte schön, Kollege
Harald Koch.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen der drei Eckpfeiler im
Europäischen Finanzaufsichtssystem, nämlich über die
Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, kurz EIOPA.
Im Januar 2011 nahm diese Behörde ihre Arbeit auf, mit
Sitz in Frankfurt am Main. Die Europäische Bankaufsichtsbehörde, EBA, sitzt in London, die Europäische
Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, in Paris. Ich bezweifle, dass diese örtliche Zersplitterung wirklich nötig
ist. Gewiss möchten verschiedene Staaten etwas vom
Aufsichtskuchen abhaben und sich damit brüsten. Doch
Egoismen sind hier fehl am Platze.
({0})
Die Linke fordert: Stellen Sie lieber Arbeitsfähigkeit,
gute Zusammenarbeit über kurze Wege sowie Effizienz
in den Mittelpunkt! Wir brauchen keinen Bonn/Berlin-
Streit für Europa.
Für die EIOPA werden nun gemäß Sitzabkommen zur
Gewährleistung der unabhängigen Wahrnehmung ihrer
Aufgaben rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen.
So gibt es zum Beispiel spezielle begünstigende Rege-
lungen für das beamtete Personal der Behörde. Art. 13
1) Anlage 4
des Abkommens stellt klar, dass die Gehälter, Löhne und
anderen Bezüge des Behördenpersonals der EU-internen
Steuer unterliegen. Diese sind im Gegenzug von innerstaatlichen Steuern befreit.
Die Linke vertritt auch bezüglich des beamteten Behördenpersonals unzweifelhaft die Auffassung: Gute Arbeit muss auch gut bezahlt werden.
({1})
Dennoch müssen wir ein wachsames Auge darauf haben,
dass die Behörde nicht zu einem Selbstbedienungsladen
wird. Seit Jahren sind die irrealen Gehaltsstrukturen auf
EU-Ebene Gegenstand mannigfaltiger Kritik. Das Personalstatut für EU-Beamte, das auch für das EIOPA-Personal gelten soll, muss daher dringend überarbeitet werden.
({2})
Veraltete Privilegien und Dutzende Zulagen sowie Sonderregelungen gehören abgeschafft. Die dort arbeitenden
Beamten sollen gut verdienen, und sie tun es ja auch.
Die krasse Differenz zum durchschnittlichen Einkommen einer hiesigen Angestellten kann man aber niemandem plausibel erklären. Es müssen endlich sozial gerechte Gehaltsstrukturen geschaffen werden.
({3})
Anstößig sind aber erst recht die ganz besonderen
Steuerregelungen. EU-Beamte mit einem Grundgehalt
von 7 600 Euro zahlen gerade einmal rund 12 Prozent
Steuern.
({4})
Ich denke, jeder sollte zumindest die Steuern zahlen, die
er auch in seinem Heimatland zahlt,
({5})
oder man sollte wenigstens auf deutlich höherem Niveau
einen gemeinsamen Steuersatz finden; Stichwort: „Harmonisierung“. Für die Menschen draußen, die zuschauen, mutet das gerade in Zeiten der Euro-Krise mehr
als paradox an: Zig Staaten werden Schuldenbremsen
aufgedrückt; Spardiktate zwingen unter anderem zum
späteren Renteneintritt und Verzicht auf Lohnerhöhungen. Auf der anderen Seite haben sich EU-Beamte ihr eigenes Steuerparadies geschaffen und wollen nicht davon
abrücken. Eines ist klar: Die EU darf in dieser Hinsicht
nicht länger Steueroase bleiben.
({6})
Grundsätzlich darf man auf die weitere Arbeit der
EIOPA gespannt sein. Genauso wie bei den anderen beiden Aufsichtsbehörden gab ihr die Kommission leider
keine politisch-ökonomischen Leitlinien mit auf den
Weg. Auch muss man die Erkenntnisse und Maßnahmen
der EIOPA transparent machen. Ob das bei dem allgegenwärtigen Lobbyismus gelingt, ist fraglich, ebenso ob
die EIOPA in Krisenfällen tatsächlich über effektive
Befugnisse verfügt.
Alles in allem brauchen wir ein schlagkräftiges und
weitreichendes Aufsichtssystem auch auf EU-Ebene.
Grundpfeiler sind eingeschlagen. Um einen dauerhaft
sicheren Stand zu gewährleisten, sind aber noch einige
Konstruktionsfehler auszumerzen.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Kollege Harald Koch. - Der nächste
Redner ist jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das, was hier vorliegt, ist nicht wirklich strittig und kann
auch nicht mehr stark geändert werden. Wir haben die
Beratungen im Ausschuss deswegen auch sehr knapp
halten können. Das ist einfach ein Standardvertrag, wie
er üblich ist. Deswegen ist die Debatte hier auch nicht
von großen Differenzen bezüglich des Sachverhalts dieses Gesetzes geprägt. Aber es lohnt sich natürlich, einmal einen Blick darauf zu werfen, was wir in Europa
eigentlich gerade machen. Man sieht, dass dort eine Aufsichtsstruktur entstanden ist, die in zwei Dimensionen
noch nicht zufriedenstellend ist. Die eine ist die Dimension der räumlichen Aufteilung. Es gibt eine Aufsichtsbehörde für Banken in London, eine Aufsichtsbehörde
für das Versicherungswesen in Frankfurt - mit dieser
befassen wir uns gerade - und die Aufsichtsbehörde für
Fonds in Paris. Das Zusammenwirken dieser verschiedenen Institutionen wird natürlich dadurch erschwert, dass
in drei verschiedenen Ländern und in drei verschiedenen
Sprachkulturen verhandelt werden muss. Auf diese Art
und Weise - darin besteht das Problem - kommen wir
nicht zu einer einheitlichen Finanzaufsicht und einer
intensiven Kooperation.
Die zweite Dimension ist, dass die Aufgabenteilung
mit den nationalen Behörden an vielen Stellen nicht so
klar definiert ist, dass sie einen Sinn ergibt. Es ergibt keinen Sinn, eine kleine, rein regional tätige Bank oder Versicherung von europäischen Institutionen beaufsichtigen
zu lassen, während gleichzeitig Durchgriffsrechte der
europäischen Aufsichtsbehörden bei grenzüberschreitend tätigen Banken und Versicherungen fehlen. Wir
müssen in Europa unbedingt zu einem besseren Aufsichtssystem kommen.
({0})
Dabei bleibt es aber nicht. Auch inhaltlich gibt es
massive Probleme. Das Problem besteht nicht nur darin,
dass die Bankenaufsicht in London und die Versicherungsaufsicht in Deutschland sitzt. Vielmehr gibt es bei
den beiden Regulierungsprojekten - Basel III für die
Banken und Solvency II für die Versicherungsunternehmen - keinen einheitlichen Regulierungsansatz. Wenn
man die Kapitalanforderungen für bestimmte Anlagen in
Solvency II und Basel III vergleicht, dann kommt man
zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Für eine zehn
Jahre laufende Unternehmensanleihe, die mit BB bewertet ist, wird in Basel III eine Kapitalunterlegung von
11,8 Prozent, von den Versicherern in Solvency II aber
eine von 45 Prozent verlangt. Ein Portfolio mit gewerblichen Immobilienkrediten muss in Basel III mit 8 Prozent, in Solvency II aber mit nur 5 Prozent Eigenkapital
unterlegt werden. Dabei könnte es grundsätzlich sogar
Sinn ergeben, Banken und Versicherer unterschiedlich
zu behandeln. Allerdings müssten sich die Kriterien
dann danach ausrichten, welche Risiken von der jeweiligen Branche am besten getragen werden können. So
könnten Lebensversicherer aufgrund der langfristigen
Verpflichtungen wesentlich besser in der Lage sein,
kurzfristige Marktpreisschwankungen abzufedern und
langfristige Geschäfte einzugehen. So wären Versicherer
sicherlich als Investor für langjährige Anleihen und
Aktivitäten gut geeignet. Doch das Aufsichtsrecht setzt
hier leider einen gegenteiligen Anreiz. Eine 30 Jahre
laufende Infrastrukturanleihe muss in Basel III mit
7,1 Prozent, in Solvency II aber mit 32,5 Prozent unterlegt werden. So ist ziemlich klar, dass die Versicherungsunternehmen gerade in diese Projekte nicht verstärkt einsteigen werden. Damit entsteht insgesamt gesehen eine
Regulierung, bei der aufgrund des mangelnden Zusammenwirkens der Versicherungs- und Bankenregulierung
eine Verortung der Risiken an der richtigen Stelle des
Finanzsystems nicht gelingen wird.
Wir haben die wichtige Aufgabe, die Vorgaben zur
Versicherungsregulierung in deutsches Recht umzusetzen und dabei zu schauen, an welcher Stelle eine Kohärenz von Banken- und Versicherungsregulierung möglich ist.
({1})
Es darf nicht passieren, dass bei der inhaltlichen Regulierung das repliziert wird, was wir bei den behördlichen
Strukturen finden, nämlich dass die Bankenaufsicht in
London und die Versicherungsaufsicht in Frankfurt
räumlich so weit voneinander entfernt sind wie die
Logik der Bankenregulierung und die Logik der Versicherungsregulierung. An dieser Stelle sehe ich noch großen Handlungsbedarf.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. - Letzter
Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege Ralph
Brinkhaus für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,
Kollege Ralph Brinkhaus.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob das,
was wir hier machen, peinlich ist, möchte ich bezweifeln. Zu einer Peinlichkeit komme ich später noch, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Obwohl das
Gesetz relativ einfach ist, ist es aus drei Gründen sinn18968
voll, dass wir uns an dieser Stelle mit diesem Gesetz
beschäftigen.
Der erste Grund ist, dass dieses Gesetz mittlerweile
das zwölfte ist, das im Bereich der Bankenregulierung
von der Regierungskoalition auf den Weg gebracht wird.
Das alles geschah innerhalb der letzten 22 Monate.
({0})
Dies ist meines Erachtens deswegen bemerkenswert,
weil mit dem Prozess der Errichtung der EIOPA in
Frankfurt durchaus Arbeit verbunden war. Das sollte
man an dieser Stelle einmal würdigen. Ich glaube, diese
Debatte ist eine gute Gelegenheit dafür.
({1})
Der zweite Grund, warum es wichtig und gut ist, dass
wir diese Debatte führen, ist, dass es durchaus Sinn
macht, sich ein wenig mit den europäischen Aufsichtsbehörden zu beschäftigen. Eine große Erkenntnis aus der
Finanzkrise 2008 war, dass die Aufsicht europäisiert
werden muss. Wir haben dies zusammen mit unseren
europäischen Partnern innerhalb von zwei Jahren sehr
schnell umgesetzt. Wir haben einen European Systemic
Risk Board, also eine Risikoaufsicht, gegründet. Es ist
die EBA, die Bankenaufsicht, die ihren Sitz in London
hat, gegründet worden. Außerdem gibt es die ESMA, die
Wertpapieraufsicht in Paris. Daneben gibt es - das habe
ich bereits gesagt - die EIOPA, die Versicherungsaufsicht in Frankfurt. Diese Aufsichtsbehörden haben relativ schnell ihre Arbeit aufgenommen.
Man muss allerdings sagen, dass es an diesen Behörden auch Kritik gab und noch gibt. Dieser Kritik müssen
wir uns stellen; denn als Mitglieder des Deutschen Bundestages sind wir an der Durchführung der Aufgaben,
die diese Behörden haben, durchaus beteiligt. Der erste
Kritikpunkt ist, dass diese Aufsichtsbehörden viel zu
mächtig sind, dass sie viel zu viel dürfen, dass sie technische Standards setzen dürfen und dass sie im Zweifelsfall sogar in das Geschäft der Mittelständler in Deutschland, der Volksbanken und der Sparkassen, eingreifen
dürfen. Das ist so nicht gewollt. Wir wollen eine demokratische Kontrolle und eine Proportionalität in der Aufsicht. Wir wollen außerdem, dass die Aufsichtsbehörden
das europäisch Notwendige regeln. Ein gutes Beispiel
hierfür ist die HRE. Wir wollen aber nicht, dass der Eingriff kleinteilig bei unseren Versicherungsvereinen auf
Gegenseitigkeit, bei den Sparkassen und bei den Volksbanken erfolgt. Da sind wir als Parlamentarier gefordert.
Ich glaube, diese Debatte ist ein guter Anlass, diesen
Punkt heute einmal zu betonen.
Der zweite Kritikpunkt ist, dass die ersten Schritte,
die von diesen Aufsichtsbehörden gemacht worden sind
- insbesondere ist da die EBA mit dem Bankenstresstest
zu erwähnen -, nicht ganz ruckelfrei waren. Es gab eine
Menge Beschwerden, dass die Kommunikation nicht gut
war und dass Parameter geändert worden sind. Das ist
richtig. Diese Kritik nehmen wir sehr ernst. Wir sind als
Bundestag gefordert, aufzupassen, dass die Arbeit der
Behörden richtig läuft. Ich möchte aber nichtsdestotrotz
um Verständnis, was die Arbeit dieser Behörden angeht,
werben. Denn wenn man sich einmal die Arbeit der EBA
in London anschaut - wir waren letzte Woche dort -,
dann sieht man, dass es sich um Start-ups handelt, die
erst seit anderthalb Jahren auf dem Markt sind und die
erst noch ihr Personal und ihre Organisationsstruktur finden müssen. Parallel dazu müssen sie Aufsicht nach
hohen Qualitätsstandards durchführen. Wir sollten diesen Prozess positiv, aber auch kritisch begleiten.
({2})
Der dritte Punkt - da wende ich mich an die Kollegen
von der SPD; Herr Sieling, bleiben Sie ruhig sitzen; das
geht auch Sie an -, warum es gut und richtig ist, diese
Finanzmarktdebatte zu führen, ist der Wahlkampfauftakt
der SPD für die Bundestagswahl 2013 nach dem Motto
„Demokratie gegen Bankenmacht“ oder „Wer bin ich,
und, wenn ja, wie viele?“. Es ist der SPD gelungen, eine
Website zu installieren und eine Kampagne zu starten,
die vom Ansatz her eigentlich gar nicht so unintelligent
ist. Denn Sie haben brillant analysiert, dass es sich nicht
lohnt, gegen Angela Merkel Wahlkampf zu machen,
weil sie einfach zu stark und zu gut für Sie ist.
({3})
Sie haben weiterhin brillant analysiert, dass eigentlich
alle sozialdemokratischen Themen quasi abgeräumt
sind. Wir haben das Thema Arbeit erledigt, wir haben
das Thema Gerechtigkeit erledigt, und wir sind dabei,
andere Themen zu erledigen.
({4})
Dementsprechend versuchen Sie verzweifelt, noch ein
Thema zu finden. Es ist vielleicht gar nicht schlecht,
dass Sie das Thema Finanzmarkt aufgreifen. An dieser
Stelle habe ich schon oft gesagt, dass hier noch einiges
zu tun ist. Wenn man sich aber anschaut, in welcher
Form Sie sich inhaltlich damit auseinandersetzen, dann
muss man sagen, dass das mehr als peinlich ist. Es ist
Ihre Sache, dass Sie auf Ihren Parteiwebseiten schlecht
gemachte Trickfilmchen zeigen. Sie selber müssen wissen, ob es nicht unter Ihrer Würde ist, auf Flugblättern
das Parteilogo nicht abzubilden und sich so den NGOs
anzubiedern. Aber ich dachte, dass wir in der Politik
darüber hinweg sind, dumpfe Feindbilder aufzubauen.
Mit dem dumpfen Feindbild, das Sie aufbauen, diskreditieren Sie nicht nur die auf dem Finanzmarkt tätigen
Menschen, die ohne Zweifel vieles falsch gemacht
haben, sondern auch Hunderttausende Menschen in
Deutschland, die auf dem Finanzmarkt ihrer Arbeit ehrlich nachgehen. Das haben diese Menschen nicht verdient. So viel zur Form.
({5})
Kommen wir zum Inhalt. Auf Ihren Flugblättern verkürzen Sie die Lösungen auf vier Punkte. Sie schreiben,
man müsse den Finanzmarkt schärfer regulieren. Oh
Wunder! Darauf sind wir auch gekommen. Deswegen
liegt unser Gesetzentwurf vor. Ihre Schlussfolgerung ist
wahrlich keine intellektuelle Spitzenleistung. Weiter fordern Sie, dass Banken, denen geholfen wird, verstaatlicht werden müssen. Leider sind die meisten Banken,
denen wir geholfen haben, staatliche Banken. Dann
sagen Sie: Wir müssen ein Trennbankensystem einführen. - Sie erklären dabei nicht, was die deutschen Universalbanken mit der Krise zu tun hatten, wie ein Trennbankensystem organisiert werden soll und wie es künftig
das Entstehen von Krisen verhindern soll. Zum Schluss
kommt wieder die alte Leier: Wir brauchen eine Spekulationsteuer. - Ich möchte nur darauf hinweisen: Kein
anderer Finanzminister hat sich so sehr für die Einführung einer Finanztransaktionsteuer eingesetzt wie
Wolfgang Schäuble. Sie sagen den Menschen in diesem
Land: Diese Steuer löst alle Probleme. - Das ist schlichtweg falsch.
Wir gehen einen anderen Weg. Wir arbeiten konstruktiv. Wir wollen die Mühen der Ebene bewältigen. Das
tun wir mit diesem Gesetz. Deswegen kann ich Sie nur
aufrufen, diese unselige Wahlkampfkampagne zu beenden, konstruktiv mitzuarbeiten und sich der Union und
den Liberalen anzuschließen. Dann kommen wir auf den
Finanzmärkten auch voran.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. - Kollege
Brinkhaus war der letzte Redner in dieser Aussprache.
Diese schließe ich nun.
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem
Abkommen mit der Europäischen Aufsichtsbehörde für
das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz dieser Aufsichtsbehörde. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8506, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/8236 anzunehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/
Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Die Fraktion Die
Linke. - Damit ist der Gesetzentwurf mit der von mir
festgestellten Mehrheit angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 14:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Gehrcke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nach 40 Jahren - Berufsverbote aufheben und
Opfer rehabilitieren
- Drucksache 17/8376 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache ein halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist dies so
beschlossen.
Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion
Die Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. Bitte
schön, Kollege Wolfgang Gehrcke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt sehr viele Menschen in diesem Land, die über
40 Jahre darauf gewartet haben, dass dieses Parlament
- von der Regierung hat man das kaum erwartet - den
einfachen Satz ausspricht: Entschuldigung, euch ist Unrecht geschehen.
({0})
Ich glaube, diese Menschen haben einen Anspruch darauf.
Der Radikalenerlass hat viel Demokratie in unserem
Lande zerstört. Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen in Erinnerung rufen. 3,5 Millionen Menschen sind per Regelanfrage vom Verfassungsschutz überprüft worden. Wenn
das kein Beleg für einen Spitzelstaat ist, dann weiß ich
nicht, was ein Spitzelstaat ist.
({1})
11 000 Berufsverbotsverfahren haben stattgefunden.
1 256 Menschen ist die Einstellung in den öffentlichen
Dienst verweigert worden. Es hat viele Entlassungen gegeben. Bringen wir nicht einmal die Courage auf, diesen
Menschen zu sagen: „Wir haben euch geschadet; das
war Unrecht, und das wollen wir korrigieren“?
Ich sage Ihnen: Ein Großer Ihrer Partei, Willy Brandt,
der den Radikalenerlass mit zu verantworten hat, hat öffentlich festgestellt: Der Radikalenerlass war ein Fehler.
({2})
Warum können dieses Parlament und insbesondere Ihre
Partei das nicht eingestehen? Ich halte ein solches Eingeständnis für unbedingt notwendig. Das ist eine Frage der
Demokratie. Die Bundesregierung hat sich anders entschieden. Die Erklärung der Bundesregierung ist relativ
simpel: Alles war rechtens; nichts ist passiert. - Man ist
nicht bereit, über das Unrecht zu reden, das einigen
Menschen angetan worden ist.
Man darf den Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung, die die Bundesrepublik zutiefst verändert hat,
und dem sogenannten Radikalenerlass und den dann erfolgten Berufsverboten nicht außer Acht lassen. Man
wollte den rebellischen Geist der 68er in diesem Lande
eindämmen. Ich habe die Sorge, dass die jetzige Debatte
über den Verfassungsschutz und all das, was in diesem
Zusammenhang hochgepusht wird, ein wenig mit der
derzeitigen sozialen Lage zu tun hat. Man ist unsicher,
weil man nicht weiß, welche politischen Bewegungen in
diesem Lande noch entstehen werden. Mich selber betrifft das nicht so sehr. Ich werde seit über 50 Jahren vom
Verfassungsschutz überwacht; daran hat sogar meine
Parlamentsmitgliedschaft nichts geändert. Ich möchte
aber nicht, dass sich der Ungeist der Berufsverbote in
Deutschland wieder verbreitet.
({3})
Berufsverbote stehen im Widerspruch zum Grundgesetz.
Ich finde, dass man sehr engagiert für das Grundgesetz
kämpfen muss und kämpfen kann. Man war so klug, im
Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsordnung festzulegen. Das Grundgesetz ist offen und ermöglicht, privates Eigentum zum Zwecke des Gemeinwohls in öffentliches Eigentum zu überführen.
Wolfgang Abendroth, ein großer Jurist, hat zwischen
Staatsräson und Verfassungstreue unterschieden; er war
immer für Verfassungstreue. Auch die Linke ist für Verfassungstreue und dafür, dass das Grundgesetz eingehalten wird.
({4})
Das ist unsere Botschaft.
({5})
Ich möchte, dass endlich der Kalte Krieg beendet
wird. Zum Ende des Kalten Krieges gehört es, die Berufsverbote aufzuheben und festzustellen, dass diese Unrecht sind. Ich möchte, dass junge Menschen in unserem
Land wieder mit rebellischem Geist - dafür werden sie
selber sorgen - sowie mit der Bereitschaft zum Widerspruch und der Erkenntnis aufwachsen, dass man nicht
zu oft Ja sagen darf. Ich möchte, dass sie in dem Bewusstsein aufwachsen, dass Alternativen möglich und
nötig sind. Berufsverbote waren immer das Gegenteil;
sie waren stets Ausdruck einer Politik des Duckmäusertums und des Abgewöhnens von Demokratie. Darüber
müssten wir inzwischen hinweg sein. Lassen Sie bitte
diesen vielen Menschen Gerechtigkeit widerfahren, indem Sie ihnen sagen: Es war Unrecht, was euch geschehen ist. Wir entschuldigen uns. Wir werden euch rehabilitieren. - Darauf haben diese Menschen einen
Anspruch, genauso wie die Demokratie in diesem Land;
das ist viel wichtiger.
Danke sehr.
({6})
Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Helmut
Brandt. Bitte schön, Kollege Helmut Brandt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Beim ersten flüchtigen Durchsehen
der Tagesordnung dieser Woche habe ich gedacht: Mein
Gott! Die Linke wacht auf. Berufsverbote aufheben, Opfer rehabilitieren - jetzt wird der Unrechtsstaat DDR
aufgearbeitet. - Ich musste mich dann eines Besseren
belehren lassen, als ich die Vorlage studierte. Das, was
Herr Gehrcke hier eben zum Besten gab, hat meine Einschätzung bestätigt.
Was wollen die Linken mit ihrem Antrag erreichen?
Es geht um den sogenannten Radikalenerlass vom Januar 1972. Die Linke beantragt unter Bezug auf diesen
Erlass,
… alle erforderlichen Maßnahmen zur Rehabilitierung der Betroffenen einzuleiten,
… dafür einzutreten, dass Verfassungsschutzakten,
die auf dem Radikalenerlass beruhen, … den Betroffenen und der Wissenschaft zugänglich gemacht
werden und dass gesetzliche Regelungen zur materiellen Entschädigung der Betroffenen geschaffen
werden;
… die mit der Bewilligung von Mitteln aus den
Programmen gegen Rechtsextremismus verbundene Extremismusklausel ersatzlos zu streichen.
({0})
Der Antrag wird mit Hinweis auf folgende Aspekte
begründet: Das seit 2006 geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbiete eine Diskriminierung wegen
politischer Überzeugungen. Aus einer Verurteilung der
Berufsverbotspraxis durch den Europäischen Gerichtshof ergebe sich, dass der Radikalenerlass Unrecht gewesen sei. Dies sei nie - Herr Gehrcke hat das wiederholt öffentlich eingestanden worden. Es handle sich um Berufsverbote, die zu verurteilen seien. Dann folgt der Opferbegriff, der für mich entlarvend ist, zeigt er doch, was
Sie eigentlich beabsichtigen.
Meine Damen und Herren Kollegen von der Linken,
angesichts der erschütternden Mordserie der sogenannten Zwickauer Zelle und des Anstiegs der Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten - im letzten Jahr hatten wir
allein 14 000 Straftaten zu verzeichnen, die von der
rechten Szene zu verantworten sind - bin ich über Ihren
Antrag doch sehr überrascht.
({1})
Die Morde der Zwickauer Zelle zeigen doch gerade,
dass auch aus heutiger Sicht die Forderung nach einer
wehrhaften Demokratie aktueller denn je ist.
({2})
Ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist angesichts der immer noch währenden Gefahr des Links- und Rechtsextremismus nach wie vor erforderlich.
({3})
- Das ist keineswegs absurd. Das ist unserem Grundrechtssystem immanent. Herr Gehrcke sprach hier von
Verfassungstreue; wir erwarten sie gerade von denen, die
für dieses Land arbeiten.
({4})
So heißt es im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
vom 22. Mai 1975:
Ist auf die Beamtenschaft kein Verlaß mehr, so sind
die Gesellschaft und ihr Staat in kritischen Situationen „verloren“ …
Offensichtlich wollen Sie genau dies erreichen. Der Europäische Gerichtshof hat aus dem Grund, den ich zitiert
habe - anders als Sie es glauben machen wollen -, ausdrücklich anerkannt:
Der demokratische Staat hat das Recht,
- er hat auch die Pflicht von seinen Beamten Verfassungstreue zu verlangen.
Die Verfassungstreue ist ein althergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne
des Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes. Den Beamten obliegt hiernach eine besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und der Verfassung.
({5})
- Hören Sie mir doch zu. Vielleicht können Sie dann
nachvollziehen, weshalb ich so radikal anderer Auffassung bin als Sie.
Der als Radikalenerlass bezeichnete Extremistenbeschluss wurde durch die am 19. Mai 1976 beschlossenen
und am 17. Januar 1979 bekräftigten „Grundsätze für die
Prüfung der Verfassungstreue“ ersetzt, die bis heute fortgelten. Seither wird im Zusammenhang mit der Einstellung in den öffentlichen Dienst beim Verfassungsschutz
keine Regelabfrage zur Verfassungstreue mehr vorgenommen. Nur wenn konkrete Ansatzpunkte für eine fehlende Verfassungstreue vorliegen, kann in Einzelfällen
eine Abfrage gemäß § 19 Abs. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes erfolgen. Ich füge hinzu: Dann muss sie
auch erfolgen.
Die Gewähr, jederzeit für die demokratische Grundordnung einzutreten, ist Teil der von der Verfassung geforderten Eignungsvoraussetzungen für die Einstellung
in den öffentlichen Dienst; auch hier kann ich mich auf
das Bundesverfassungsgericht berufen. Diese Rechtslage bestand bereits zum Zeitpunkt des sogenannten Extremistenbeschlusses und gilt bis heute fort. Trotz der
grundsätzlichen Vermutung der Verfassungstreue zugunsten der Bewerber für den öffentlichen Dienst verpflichtet diese Rechtslage den Dienstherrn bei Vorliegen
von Anhaltspunkten zur Prüfung der Verfassungstreue.
Beim Bundesamt für Verfassungsschutz wurden seit
1980 keine entsprechenden Anfragen bei Bewerbern für
den öffentlichen Dienst mehr vorgenommen. Es ist
gleichwohl weiterhin notwendig, in entsprechenden Fällen eine solche Überprüfung durchzuführen.
Die Mitgliedschaft eines Beamten in einer Vereinigung, die Pläne zur Systemüberwindung hatte oder hat
- Herr Gehrcke, ich glaube, dass Sie einer solchen Partei
zumindest angehört haben - und deren Schriften zur
Systemüberwindung aufriefen bzw. aufrufen, ist mit dem
Verhältnis eines Beamten zum Staat nicht vereinbar.
Eine wehrhafte Demokratie kann so ein Verhalten insbesondere denen gegenüber, die sich in einem besonderen
Treueverhältnis an den Staat gebunden fühlen, nicht akzeptieren.
Soweit ein Bewerber in der Vergangenheit nicht in
den öffentlichen Dienst aufgenommen wurde, weil eine
Abfrage beim Verfassungsschutz begründete Zweifel an
der Verfassungstreue ergaben, ist dies mit den Grundrechten vereinbar und entschädigungslos hinzunehmen.
Ich vermag darin keine unbillige Härte zu erkennen.
Niemand wird gezwungen, als Beamter in den öffentlichen Dienst einzutreten. Niemand wird gezwungen, Mitglied einer Vereinigung zu sein, die Pläne zu einer Systemüberwindung hat oder deren Schriften zur Systemüberwindung aufrufen. Aber beides geht nicht. Man
muss sich schon überlegen, was man will. Eine Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung signalisiert auch eine
Identifikation mit deren Zielsetzungen. Wenn die Zielsetzungen einer Vereinigung im Widerspruch zu unserer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, dann
ist die Mitgliedschaft in dieser Vereinigung mit der Treuepflicht eines Beamten zum Staat nicht vereinbar. Im Gegenteil: Die Treuepflicht erfordert eine klare Distanz zu
Gruppen, die den Staat, seine Institutionen und die bestehende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen oder
diffamieren.
Ich sage es noch einmal: Auch aus heutiger Sicht ist
die Forderung nach einer wehrhaften Demokratie aktuell. Ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung ist angesichts der immer noch währenden
Gefahr von Links- wie Rechtsextremismus nach wie vor
erforderlich, und es liegt an der Person des Bewerbers
für den öffentlichen Dienst, ob er die an ihn gestellten
Voraussetzungen erfüllen will oder nicht.
Wir lehnen Ihren Antrag ab.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Kollege Helmut Brandt. - Nächster
Redner für die sozialdemokratische Fraktion ist unser
Kollege Michael Hartmann. Bitte schön, Kollege
Michael Hartmann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Antrag, mit dem wir uns zu dieser späten
Stunde befassen dürfen, hatte ich zunächst als einen eingestuft, der eher folkloristischer Natur ist oder zeitgeschichtlichen Aufarbeitungswünschen entspricht. Aber
ich befürchte fast, dass manches, was darin steht, doch
ernst gemeint ist. Wenn Sie wollen, dass Ihr Antrag ernst
genommen wird, sollte sich ein Redner wie Sie, Herr
Gehrcke, der 1961 in die KPD eingetreten ist, der Mitbegründer der SDAJ und bis 1990 Mitglied der DKP war,
({0})
von diesem Pult aus erst einmal für all das Unrecht, das
er direkt oder indirekt zu verantworten hat, entschuldigen. Erst dann kann er Entschuldigungen von anderen
verlangen.
({1})
- Ich weiß, dass ich das bei Ihnen nicht erleben werde.
Aber Sie müssen das, was ich von diesem Pult aus sage,
ertragen.
({2})
Wenn es uns Sozialdemokraten nicht möglich ist, etwas unverkrampfter mit Ihrer Fraktion umzugehen, liegt
das auch an Personen wie Ihnen, die eine bestimmte Haltung einnehmen, sehr geehrter Herr Gehrcke.
Eine weitere Bemerkung. Ich will ernsthaft auf das
Thema eingehen. 1972 gab es den sogenannten Radikalenerlass, der vom Bundeskanzler und von den Ministerpräsidenten gemeinsam verabschiedet wurde. Das war
- man wird sich erinnern, manche sogar sehr persönlich die Hoch-Zeit des RAF-Terrorismus, die Zeit, in der der
Kalte Krieg tobte. Man hat dabei ohne Zweifel das Kind
mit dem Bade ausgeschüttet. Man hat Menschen beobachtet, ausgeforscht und nicht für den öffentlichen
Dienst zugelassen. Aus heutiger Sicht ist es schwierig,
die diesem Vorgehen zugrunde liegende Haltung nachzuvollziehen. Deshalb war es richtig und konsequent,
dass der sogenannte Radikalenerlass nach einem Urteil
des Verfassungsgerichts seine Gültigkeit verloren hat.
Ohne Frage entsprach das alles nicht unseren heutigen
Maßstäben. Das ist keine Praxis, die wir uns in irgendeiner Weise wieder wünschen würden.
Allerdings ist auch klar - gestern wie heute -, dass
Beamtinnen und Beamte, dass Menschen, die in den
öffentlichen Dienst eintreten wollen, selbstverständlich
eine besondere Treuepflicht gegenüber diesem Staat und
gegenüber diesem Grundgesetz haben. Ich weiß nicht,
warum man sich auf einer Seite dieses Hauses so
schwertut, diese Aussage als eine richtige, notwendige
und unabdingbare anzuerkennen.
({3})
Es war Willy Brandt - wenigstens ihn haben Sie
erwähnt -, der von einem großen Fehler gesprochen hat,
und es war Helmut Schmidt, der mit Recht gesagt hat,
dass damals mit Kanonen auf Spatzen geschossen
wurde.
({4})
Das alles wurde ausgesprochen. Das alles war richtig.
Wissen Sie, Sie mögen sich in Ihrer Rolle als Verfolgte oder Verfemte gefallen: aber diese Rolle steht
Ihnen wahrhaftig nicht so gut zu Gesicht. Kämpfen Sie
politisch mit uns. Wir kämpfen politisch mit Ihnen. Aber
führen Sie nicht biografische Schlachten der Vergangenheit.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es spricht in gewisser Weise für sich, dass die Redner von SPD und CDU/CSU - ich nehme an, dass gilt
auch für die Rednerin der Grünen, die gleich spricht Ihrem Antrag, dem der Linken, mit einer gewissen Skepsis begegnen. Das liegt nicht daran, dass Sie die historische Situation der 70er-Jahre und die Situation, in der
es zum Radikalenerlass kam, gerne wiederhätten und
alles wiederholen möchten, sondern daran, dass aus
jeder Zeile Ihres Antrags parteipolitisches Kalkül
spricht.
Gerade wenn es darum geht, historisch brisante und in
dem einen oder anderen Fall nicht ganz adäquate Vorgehensweisen aufzuarbeiten, wenn es darum geht, sich der
Geschichte und der Situation, die in den 70er-Jahren
herrschte, zu stellen, gegebenenfalls auch zuzugeben,
dass damals über das Ziel hinausgeschossen wurde, dann
verträgt sich das überhaupt nicht mit einem Antrag, der
ausschließlich parteipolitischem Kalkül dient, was bei
Ihrem Antrag der Fall ist. Damit leisten Sie keinen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte. Der Gerechtigkeit
und den zu Unrecht Betroffenen leisten Sie einen Bärendienst, wenn Sie so vorgehen.
({0})
Ich glaube, alle Demokraten sind sich darüber einig,
dass man damals über das Ziel hinausgeschossen ist. Die
Äußerung von Helmut Schmidt, dass man mit Kanonen
auf Spatzen geschossen hat, die Herr Hartmann genannt
hat, aber auch die Äußerungen von führenden FDP-Politikern oder auch von Willy Brandt, wurden vielfach
genannt. Aber auch heute gilt, dass ein Staat darauf achDr. Stefan Ruppert
ten muss, dass die Beamten, dass die Menschen, die für
diesen Staat arbeiten - das ist geltendes Beamtenrecht -,
fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung stehen müssen. Dieser Kern ist bis heute
gültig, und er ist auch heute noch richtig. Bei dem einen
oder anderen von Ihnen hat man leider den Eindruck,
dass Sie auch an dieser Stelle nicht einer Meinung mit
uns sind.
Weil Herr Brandt und Herr Hartmann schon viel
Richtiges gesagt haben, will ich mich kurzfassen. Wenn
Sie ein Interesse daran hätten, diese Sache sauber aufzuarbeiten, wenn Sie wirklich ein Interesse daran hätten,
festzustellen, wo im Einzelnen übers Ziel hinausgeschossen wurde, dann hätten Sie Ihren Antrag nicht mit
parteipolitischen Spitzen gespickt, dann hätten Sie keine
Nebenkriegsschauplätze aufgemacht, die nicht dazugehören. Insofern ist der Antrag unsauber erarbeitet, und
darüber hinaus werden Sie dem eigentlichen Thema
damit auch nicht gerecht.
({1})
- Sie befassen sich beispielsweise mit der Extremismusklausel von heute, über die man sicherlich streiten kann.
Sie berühren also Themen, die mit dem eigentlichen
Gegenstand des Antrags gar nichts zu tun haben.
Insgesamt ist das eine Sache, die man sicherlich nur
aus der Geschichte heraus verstehen kann: RAF, Deutscher Herbst, viele Ereignisse, die damals Millionen von
Deutsche bedroht haben und bei denen der Staat sicherlich etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Ihr Antrag
ist zur Aufarbeitung dieser Geschichte schlicht kein Beitrag, sondern kontraproduktiv; insofern ist er abzulehnen.
Vielen Dank.
({2})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich der Kollegin Ingrid Hönlinger von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
28. Januar 1972 verabschiedete sich Bundeskanzler
Willy Brandt gemeinsam mit den Regierungschefs der
Bundesländer von seinem ursprünglichen Motto „Mehr
Demokratie wagen“. An diesem Tag wurde der
Beschluss zu den „Grundsätzen über die Mitgliedschaft
von Beamten in extremen Organisationen“ gefasst, auch
„Radikalenerlass“ genannt. Damit wurde die sogenannte
aktive Verfassungstreue zur Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst. Eine Mitgliedschaft
in einer verfassungsfeindlichen Organisation genügte
zur Begründung der Verfassungsfeindlichkeit.
Für eine große Anzahl von Menschen hatte das
schwerwiegende Folgen. Bereits die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der Bund der Antifaschistinnen
und Antifaschisten, die Deutsche Friedensgesellschaft/
Vereinigte Kriegsdienstgegner oder die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen waren dem Staat zu
radikal. Im Antrag der Linksfraktion ist dargelegt, dass
der Radikalenerlass zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst führte.
Heute verbietet das seit 2006 geltende Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz, das AGG, eine Diskriminierung aufgrund der politischen Überzeugung. Berufsverbote greifen unmittelbar und direkt in die Berufsfreiheit
nach Art. 12 GG ein und unterliegen deshalb hohen verfassungsrechtlichen Hürden. Berufsverbote können
einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellen.
({0})
Die Lehrerin Dorothea Vogt wurde aufgrund ihrer
Mitgliedschaft in der DKP aus dem Staatsdienst entlassen und später wieder eingestellt. Im September 1995
entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dass dieses Vorgehen einen Verstoß
gegen Art. 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstelle, also einen Verstoß gegen das Recht
auf Meinungsfreiheit und das Recht auf Versammlungsfreiheit. Die Bundesrepublik wurde vom Straßburger
Gerichtshof zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt.
Allerdings bezog sich das Urteil nur auf bereits eingestellte Beamtinnen und Beamte und nicht auf Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst. Es
wäre deshalb ein anständiger Zug der Bundesregierung
und des gesamten Bundestages, sich für das Unrecht, das
durch den Radikalenerlass an den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern begangen wurde, zu entschuldigen.
({1})
Noch ein Rückblick in die Geschichte. 1976 wurde
der Radikalenerlass auf Bundesebene von SPD und FDP
aufgehoben; auf Landesebene erst sehr viel später. Willy
Brand selbst nannte den Radikalenerlass später einen
Fehler seiner Regierung. Dieser Sinneswandel hatte
sicherlich mit der damaligen sozial-liberalen Regierungskoalition zu tun.
({2})
Damals war die FDP eben noch eine rechtsstaatsliberale
Partei.
({3})
Auf ähnliche Werte kann man in der heutigen christlichliberalen Koalition leider nicht mehr hoffen. Wäre das
nämlich so, würde die unsinnige Extremismusklausel
der Familienministerin längst der Vergangenheit angehören - die Klausel, die staatliche Förderung für demokratische Organisationen ausschließt, wenn diese nicht die
politische Haftung für ihre Partnerorganisationen übernehmen können oder wollen.
({4})
Als grüne Bundestagsfraktion begrüßen wir die Initiative der Linksfraktion. Auch wir wollen, dass Maßnahmen zur Rehabilitierung der Betroffenen eingeleitet und
dass die entsprechenden Unterlagen des Verfassungsschutzes über das Bundesarchiv für die Betroffenen und
für die Wissenschaft zugänglich gemacht werden.
Außerdem - das kann man nicht oft genug fordern muss endlich die unsägliche Extremismusklausel der
Familienministerin abgeschafft werden;
({5})
denn diese Klausel stärkt nicht die Demokratie. Mit solchen Maßnahmen schwächt man - und Frau - die Demokratie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8376 mit dem
Titel „Nach 40 Jahren - Berufsverbote aufheben und
Opfer rehabilitieren“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
abgelehnt bei Zustimmung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung aller anderen
Fraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union
und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG
KOM({1}) 824 endg.; Ratsdok. 18008/11
- Drucksachen 17/8426 Nr. A.44, 17/8617 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Wichtel
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2}) zu dem
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln
und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im
Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie
zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates
KOM({3}) 828 endg.; Ratsdok. 18010/11
- Drucksachen 17/8426 Nr. A.46, 17/8618 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Wichtel
Zu dem zweiten Verordnungsvorschlag liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Es ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu nehmen.
Es handelt sich um die Beiträge von Peter Wichtel,
CDU/CSU, und Daniela Ludwig, CDU/CSU, Kirsten
Lühmann, SPD, Patrick Döring, FDP, Herbert Behrens,
Die Linke, Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen1).
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 17/8617. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Vorschlags für
eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des
Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der
Union und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG eine
Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes
anzunehmen. Wer stimmt für diese Entschließung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Das ist einstimmig so
beschlossen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/8618. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in
Kenntnis des Vorschlags für eine Verordnung des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über Regeln und Ver-
fahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf
Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen
Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/
EG des Europäischen Parlaments und des Rates eine
Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion und Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/8620. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion
und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen.
1) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pakistan - Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte
und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 17/8492 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Beiträge von Roderich
Kiesewetter, CDU/CSU, Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU,
Johannes Pflug, SPD, Dr. Bijan Djir-Sarai, FDP,
({6})
Jan van Aken, Die Linke, Ute Koczy, Bündnis 90/Die
Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8492 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 17/8320 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Auch diese Reden gehen zu Protokoll: Manfred
Kolbe, CDU/CSU, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, SPD,
Dr. Daniel Volk, FDP,
({8})
Richard Pitterle, Die Linke, Dr. Thomas Gambke, Bündnis 90/Die Grünen.
Vor gerade einmal knapp vier Monaten hatten wir
hier an dieser Stelle das letzte Mal über eine Änderung
des Umsatzsteuergesetzes debattiert. Damals ging es um
die dauerhafte Einführung der Istbesteuerung für Unter-
nehmen mit einem Jahresumsatz bis 500 000 Euro. Die
war richtig, um kleine und mittelständische Unterneh-
men zu stützen, Bürokratie abzubauen und eine einfa-
1) Anlage 6
chere Systematik einzuführen. Wir hatten die unterschiedlichen Regelungen in Ost und West sowie die
immer nur zwei Jahre geltenden Regeln der Umsatzgrößen abgeschafft und eine Systematik verankert, bei der
jetzt dauerhaft klar ersichtlich, einfach und auf Dauer
gesichert ist, wie und wann die Umsatzsteuer an den
Fiskus zu entrichten ist. Dies war ein Schritt zu Einfachheit, Systematik und Ordnung.
Zum aktuellen Gesetz. Heute debattieren wir wieder
über den Punkt für ein einfacheres und gerechtes System
der Umsatzsteuer, nämlich die Frage, ob die Beförderung von Fahrgästen auf Schiffen nun ermäßigt oder
voll besteuert werden soll und ob diese Art der Dienstleistung einen menschlichen Grundbedarf darstellt bzw.
dem Gemeinwohl dienlich ist. So fordert es ja auch die
SPD seit langem für die Umsatzsteuer - allen voran
SPD-Ministerpräsident Beck, der ja die ermäßigte Umsatzsteuer für die Hotellerie als „jämmerliches Stück
Klientelpolitik“ bezeichnet und ein Umsatzsteuersystem
vorgeschlagen hat, bei dem „wir den ermäßigten Mehrwertsteuersatz nur für Grundnahrungsmittel und einige
Grundbedarfe“ erheben. Beginnen wir also nun mit der
Prüfung, ob auch die Personenbeförderung mit Schiffen,
Fährverkehr ausgenommen, einen Grundbedarf darstellt.
Zum Regelungsinhalt. Lassen Sie mich noch einmal
kurz die Geschichte der Regelung über die Besteuerung
der Umsätze in der Fahrgastschifffahrt Revue passieren:
Bis Anfang der 1980er gab es keine Umsatzbesteuerung
bei der Personenbeförderung mit Schiffen in der Bundesrepublik. Die 6. Umsatzsteuerrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft von 1977 sollte dies ändern. Diese
sah vor, dass die Beförderung von Personen mit Schiffen
nicht mehr grundsätzlich umsatzsteuerfrei sein darf, da
diese Transportart nicht eine dem Gemeinwohl dienende
Tätigkeit war. So war die Bundesrepublik gezwungen,
die Umsatzsteuer bei der Personenschifffahrt einzuführen. Dies geschah allerdings schrittweise, damit sich die
Reedereien auf die Besteuerung wirtschaftlich einstellen
konnten und damit auch entsprechende Regelungen in
den anderen EG-Ländern beschlossen werden konnten,
um wirtschaftliche Nachteile für deutsche Unternehmen
in Grenzen zu halten.
Insbesondere bei der Ausflugs- und Kabinenschifffahrt auf dem Rhein wäre folgendes Problem aufgetreten: Bei den Flusskreuzfahrten, beispielsweise von Basel
nach Amsterdam über den Rhein, liegt der Hauptteil der
Strecke auf deutschem Besteuerungsgebiet. Ein niederländischer Reeder hätte damals nach den Gesetzen seines Landes nur Umsätze besteuern müssen, die in den
Niederlanden anfallen, da nach den dortigen Gesetzen
ein voller Vorsteuerabzug auf Umsatzsteuer im Ausland
gewährt worden war. Aufgrund dessen, dass deutsche
Schiffe für den Großteil der Strecke keine Steuerrückerstattung erhalten hätten, wäre es hier zu großen Nachteilen für die in der Bundesrepublik zugelassenen Fahrgastschiffe gekommen.
Aus diesem Grund wurde bis 1984 die Personenbeförderung mit Schiffen gar nicht besteuert. Aus den bereits zuvor genannten Gründen sahen sich die Betreiber
von Ausflugs-, Tanzschiff- und Hafenrundfahrten sowie
die Kabinenschifffahrt nicht in der Lage, die ab 1984
geltende volle Umsatzsteuerbelastung sofort auf die Verbraucher umzulegen. So wurde zunächst eine fünfjährige Übergangszeit mit der Anwendung des ermäßigten
Umsatzsteuersatzes durch den Gesetzgeber geschaffen.
Diese Regelung wurde dann insgesamt siebenmal verlängert, zuletzt durch das Jahressteuergesetz 2008 bis
31. Dezember 2011.
Dies wurde getan, obwohl die Voraussetzungen mittlerweile andere sind als Ende der 1970er-Jahre. Seit
dieser europäischen Harmonisierungsphase in den
1980er müssen europaweit bei der Personenbeförderung die jeweiligen länderspezifischen Umsatzsteuern
gezahlt werden; also auch der niederländische Reeder
muss die volle deutsche Umsatzsteuer zahlen und kann
sie nicht mehr als Vorsteuer in den Niederlanden abziehen. Wettbewerbsnachteile wurden dadurch abgebaut,
sodass dieses Argument für die Wiedereinführung des
ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf die Personenbeförderung mit Schiffen entfällt.
Wie der Bundesrechnungshof in seinem Bericht über
den ermäßigten Umsatzsteuersatz 2010 festgestellt hat,
wurde bereits 2005 der deutschen Binnenschifffahrt
durch das Bundesfinanzministerium mitgeteilt, dass die
ermäßigte Besteuerung alsbald auslaufen werde. Die
Harmonisierung war gut vorangeschritten, die Wettbewerbsnachteile waren weiter abgebaut und weiterhin
galten Hafen-, Ausflugs- und Flusskreuzfahrten nicht als
lebensnotwendig und Grundbedürfnis der Gesellschaft.
Zwar hat der Gesetzgeber 2008, wie bereits erwähnt,
noch einmal die Übergangsregelung verlängert, aber es
wurde deutlich gemacht, dass der Anpassungsprozess an
die volle Besteuerung demnächst abgeschlossen werden
wird, sodass die Schifffahrtsbranche ausreichend Zeit
hatte, entsprechend zu kalkulieren.
Weiterhin ermäßigt besteuert wird selbstverständlich
der Fährverkehr, der im Rahmen des dem Allgemeinwohl dienenden öffentlichen Nahverkehrs agiert.
Zur politischen Zielsetzung. Da die christlich-liberale Koalition das Ziel verfolgt, dass System der Umsatzsteuer einfacher und systematischer zu gestalten,
war die endgültige Aufhebung dieser Ermäßigung nur
ein logischer Schritt. Wir wollen, dass die Umsätze aus
Güterhandel und Dienstleistung dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegen, welche dem Gemeinwohl dienen und zuträglich sind. Wir arbeiten an der Reform dieser Steuer und nehmen jede aktuelle Änderung zum
Anlass, die Umsatzsteuer entsprechend auszurichten.
Dabei wollen und dürfen wir natürlich die weitere
Harmonisierung der Umsatzsteuer auf EU-Ebene nicht
aus den Augen verlieren, um Wettbewerbsnachteile für
unsere Unternehmen so gering wie möglich zu halten.
Wir wollen dabei europaweit definieren, was ein Grundbedarf ist und was nicht. Eine Stadtrundfahrt auf der
Spree oder ein Nachmittagsausflug auf der Elbe zählen
sicherlich nicht dazu.
Für den Bereich der Personenbeförderung bleibt deswegen hier noch einmal festzuhalten, dass von Basel bis
Amsterdam jeder Reeder den jeweils länderspezifischen
Steuersatz für seine Dienstleistung der Beförderung entrichtet. Also zahlt der deutsche wie der niederländische
Unternehmer für seine Beförderungsleistung 19 Prozent
in der Bundesrepublik und später dann nach Grenzübertritt 6 Prozent im Königreich. Umsatzsteuererstattungen
für Unternehmen innerhalb der EU gibt es nicht mehr.
Auch unter gesellschaftlichen Aspekten ist es meines
Erachtens wichtig, dass wir Flusskreuz- oder Hafenrundfahrten nicht mehr mit dem gleichen Steuersatz belegen wie Lebensmittel oder wirkliche Lebensgrundbedarfe. Auch müssen wir davon abkommen, mit der
Umsatzsteuer Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Aber wir sind hier im Bundestag noch am Anfang dieser Debatte. Mit der heutigen Überweisung dieser Gesetzesvorlage in den Finanzausschouss werden wir uns
noch gründlicher mit der Thematik beschäftigen. Hier
bin ich mir sicher, dass bei diesem Bundesratsgesetzentwurf von SPD-Ministerpräsident Beck seitens der SPDFraktion sicherlich sehr gute fachliche Erfahrungen
kommen werden, da die Sozialdemokraten über ihre Beteiligungsgesellschaft DDVG auch SPD-Reiseservice
betreiben und hier ja auch bereits umfängliche Erfahrungen mit Flussreisen haben.
Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der aus meinem Heimatland Rheinland-Pfalz
stammt.
Worum geht es in diesem Gesetzentwurf? Es geht um
die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Beförderung von Personen mit Schiffen. Der ermäßigte
Steuersatz konnte langjährig angewendet werden, weil
dies aufgrund einer zeitlich befristeten, insgesamt siebenmal verlängerten Regelung ermöglicht wurde.
Der Bundesrat wollte mit seinem Gesetzentwurf erreichen, dass diese einzelne Regelung zu einer ermäßigten Mehrwertsteuer nicht einzeln, sondern im Rahmen
einer grundsätzlichen Überarbeitung der ermäßigten
Mehrwertsteuer behandelt wird. Der Bundesrat will
nicht die „Pfründe der SPD sichern“. Herr Wissing, ich
wette, dass die Quote der Hotelbesitzer bei der FDP höher ist als die Quote der Schiffbesitzer bei der SPD.
Nein, dem Bundesrat und damit allen Ländern, die
dem Gesetzentwurf zugestimmt haben, geht es darum,
nicht an einzelnen Symptomen herumzudoktern, sondern
die Krankheit zu behandeln. Komisch, das will doch die
Regierung auch. Jedenfalls sagt sie uns das jedes Mal,
wenn wir eine Anfrage zur Mehrwertsteuer stellen. Wir
hören immer wieder: Das können wir nicht ohne die
Kommission zur Neuordnung des Mehrwertsteuersystems entscheiden. Und wenn wir fragen: Wann tagt die?,
kriegen wir zur Antwort: Wissen wir nicht. - So geht es
nun schon die ganze Legislaturperiode.
Die Regierung will also nicht ein einzelnes Thema herausgreifen - mit Ausnahme der Hotelsteuer natürlich -,
sondern systematisch handeln und alle Ermäßigungstatbestände gemeinsam überprüfen. Das will der Bundesrat auch.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wieso will dann der Bundesrat etwas tun und die Regierung nicht? Recht hat der Bundesrat. Wenn man nicht
etwas einzeln herausgreifen will, dann kann man nicht
eine einzelne Regelung auslaufen lassen; denn damit
verändert man an dieser Stelle etwas und verstößt gegen
das Prinzip „keine Einzeländerung“.
Verstehen Sie mich richtig: Das ist keine Bewertung
der Frage, ob der einzelne Ermäßigungstatbestand gut
oder schlecht, richtig oder falsch ist. Es geht lediglich
darum, dass Sie, die Regierung und die Regierungsfraktionen, uns bei jeder Anfrage zur Mehrwertsteuer mit
der Kommission und der Einheitlichkeit des Handelns
hinhalten und dann doch einzeln abändern. Sie werden
damit unglaubwürdig, ich korrigiere: noch unglaubwürdiger.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates machte also
durchaus Sinn aus dem Gedanken heraus, dass man
nicht Einzeltatbestände verändert. Dies tut er aber jetzt
nicht mehr; denn die Änderung ist bereits zum 1. Januar
2012 eingetreten, und eine Befolgung des Gesetzentwurfes des Bundesrates wäre eine erneute Änderung. Diesbezüglich könnten und sollten wir nun tatsächlich auf
die umfassende Neuregelung warten.
Bitte: Sie sind am Zug. Sehr lange Zeit haben Sie
nicht mehr.
Dem Vorschlag des Bundesrates, die Übergangsregelung zur Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes von 7 Prozent auf die Umsätze im Bereich der Personenbeförderung mit Schiffen auch bei Beförderungen
außerhalb einer Gemeinde und bei einer Beförderungsstrecke von mehr als 50 Kilometern bis zum 31. Dezember 2013 zu verlängern, werden wir uns nicht anschließen.
Es ist dabei sehr verwunderlich, dass der Bundesrat
im Jahr 2008 das Auslaufen der Übergangsregelung erst
unterstützt und nun zurückrudert und das Gegenteil fordert. Ebenfalls ist das Einbringen des Gesetzesvorschlages kurz vor Jahresende zu kritisieren, da das Auslaufen
der Regelung seit Jahren bekannt war und eine nachträgliche Rückgängigmachung für den Verbraucher keinerlei Nutzen hätte.
Für Personenbeförderungen mit Schiffen im genehmigten Linienverkehr und im Fährverkehr innerhalb einer Gemeinde oder bei Beförderungen von nicht mehr
als 50 Kilometern verbleibt es auch nach Auslaufen der
Übergangsregelung beim ermäßigten Steuersatz.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist eine einseitige
Subvention zugunsten einer bestimmten Gruppe und widerspricht unserem Anspruch, das Steuersystem einfacher und gerechter zu machen.
Beim Auslaufen der Regelung hatte die Bundesregierung nicht vor, eine Mehrwertsteuererhöhung für die
Binnenschifffahrt zu beschließen. Es wurde nur das umgesetzt, was in dem von der SPD initiierten Jahressteuergesetz 2008 steht. Darin ist ein Auslaufen des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für die Binnenschifffahrt
für das Ende des Jahres 2011 vorgesehen. Nachdem die
Ausnahmeregelung nun schon seit 1984 besteht und siebenmal verlängert wurde, gibt es keinen Grund mehr,
dieses ein weiteres Mal zu tun. Es ist erstaunlich, wie die
SPD-Finanzminister nun wieder eine Ausnahmeregel
durchsetzen wollen.
Die unberechtigte Kritik an dem Auslaufen der Subvention ist daher an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten
und ein deutlicher Beleg dafür, dass das finanzpolitische
Konzept der SPD das Papier nicht wert ist, auf dem es
gedruckt wurde. Es geht der SPD wohl nur darum, ihre
eigenen Schiffe, wie die „MS Princess Daphne“, zu subventionieren, um jedes Jahr schöne Gewinne für die
Partei einzufahren.
Es ist schon erstaunlich, dass, sobald ein ermäßigter
Umsatzsteuersatz zur Disposition steht, die SPD für die
Beibehaltung der Subvention eintritt. Ein Subventionsabbau kann und wird mit der SPD niemals gelingen. Die
FDP hat einer achten Verlängerung dieser Mehrwertsteuersubvention nicht zugestimmt und wird deshalb
diesen Gesetzesvorschlag ablehnen. Es bleibt bei dem
auch von der SPD beschlossenen Auslaufen 2011.
Wenn der Bundesrat die Bürgerinnen und Bürger entlasten will, dann täte er gut daran, dem Gesetz zum Abbau der kalten Progression zuzustimmen; denn dann
würde nicht nur die SPD-Parteikasse profitieren, sondern alle Menschen in diesem Land.
Vom Bundesrat bekommen wir normalerweise eher
selten einen Gesetzentwurf. Meist kommt er aus den Reihen der Bundesregierung. Aber das, was uns der Bundesrat heute vorlegt, kann nur abgelehnt werden.
Die Antragsteller fordern, dass die Beförderung von
Personen mit Schiffen auch im Jahr 2012 mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent besteuert wird,
statt mit dem vollen Satz von 19 Prozent. Was sie aber
nicht schreiben, ist, dass es hier um Kreuzfahrtschiffe
und Tagesausflugsschiffe für Touristen geht. Denn die
Personenbeförderung mit Schiffen im genehmigten
Linienverkehr oder im Fährverkehr innerhalb einer Gemeinde bzw. von nicht mehr als 50 Kilometern bleibt
weiterhin ermäßigt besteuert.
Und warum fordern die Antragsteller eine Steuerermäßigung für Kreuzfahrtschiffe und Tagesausflugsschiffe für Touristen? Dafür geben sie zwei Begründungen:
Erstens heißt es in der Gesetzesbegründung: „Ein ermäßigter Steuersatz von 7 Prozent für die Fahrgastschifffahrt wurde erstmals im Jahr 1984 durch das
Steuerentlastungsgesetz eingeführt und ist seit dieser
Zeit kontinuierlich verlängert worden.“ Ein klarer Fall
von: Haben wir erst einmal ein Privileg, dann für immer.
Aber seit 1984 haben die Verbraucher zweimal erhöhte
Steuersätze zahlen müssen. Daher ist für die Betreiber
von Tourismusschiffen eine Änderung zumutbar.
Die zweite Begründung ist nicht viel besser. Da heißt
es, dass im Zuge der geplanten Mehrwertsteuerreform
Zu Protokoll gegebene Reden
vom Bund eine Kommission eingesetzt worden sei, die
ein Gesamtkonzept zur Neufestsetzung aller Mehrwertsteuersätze erarbeite und der nicht vorgegriffen werden
solle. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann warten
sie noch heute. Denn die besagte Kommission gibt es
nicht. Zwar wurde ihre Einsetzung im Koalitionsvertrag
in Aussicht gestellt und wurde sie vor ziemlich genau einem Jahr mehrmals angekündigt, aber bis heute hat sie
sich nicht konstituiert. Bundesfinanzminister Schäuble
selbst hat mehrmals verlauten lassen, dass er eine Reform der Mehrwertsteuer mittlerweile für aussichtslos
hält. Wer auf die Mehrwertsteuerreformkommission
wartet, kann bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.
Statt die Personenbeförderung mit Kreuzfahrtschiffen
und Tagesausflugschiffen zu ermäßigen, fordern wir,
dass der öffentliche Personennah- und Personenfernverkehr für die Bürgerinnen und Bürger bezahlbar ist.
Die Steuerbefreiung des internationalen Flugverkehrs
soll abgeschafft werden und stattdessen der öffentliche
Personennahverkehr langfristig kostenlos werden. Auch
der öffentliche Schienenpersonenfernverkehr soll mit
dem ermäßigten Satz besteuert werden. Davon profitieren viel mehr Bürgerinnen und Bürger als von einer
Steuerbefreiung für den internationalen Flugverkehr
oder einer Steuerermäßigung für die Beförderung von
Touristen auf Kreuzfahrtschiffen und Tagesausflugsschiffen. Die Verlängerung der Regelung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für die Personenschifffahrt
um ein Jahr ist nichts anderes als die Verlängerung eines Privilegs für eine Branche, die erfolgreiche Lobbypolitik betrieben hat.
Die Linke hat den vorliegenden Gesetzentwurf im
Bundesrat abgelehnt, und wir werden ihn auch hier ablehnen.
Zum wiederholten Male rufen wir das Thema „Um-
satzsteuergesetz“ hier im Deutschen Bundestag auf. Zu
Recht, sind doch die Einnahmen aus der Umsatzsteuer
- inklusive der Einfuhrumsatzsteuer - mit insgesamt
mehr als 180 Milliarden Euro neben der Einkommen-
steuer die wichtigste Einnahmequelle der öffentlichen
Hand zur Finanzierung ihrer Aufgaben. Umso wichtiger
ist es, mit dieser Steuer wirklich verantwortungsvoll um-
zugehen. Auf dem Papier hat die Regierungskoalition
dies auch anerkannt, heißt es doch im Koalitionsver-
trag: „Auch die Umsatzsteuer muss an die modernen
Anforderungen angepasst werden.“ Und weiter: „Es
gibt Handlungsbedarf bei den ermäßigten Mehrwert-
steuersätzen.“
Aber hat die Koalition auch geliefert? Zunächst hat
sie vollkommen unsystematisch und gegen die Intentio-
nen des eigenen Koalitionsvertrags einen weiteren er-
mäßigten Mehrwertsteuersatz eingeführt. Da musste
wohl zunächst eine Wahlkampfunterstützungsrechnung
beglichen werden. Als Betriebsunfall der Koalitions-
nacht, an deren Ende „Horst und Guido“ sich duzten,
fielen scheinbar noch mehr Hemmungen: Es wurden
nicht die ursprünglich ins Auge gefassten Gastwirte mit
dem verminderten Mehrwertsteuersatz beglückt, son-
dern vollkommen unsinnigerweise das Übernachtungs-
gewerbe. Das hat zwar der Hotelbranche zusätzlich eine
knappe Milliarde in die Kassen gespült, hatte aber kei-
nen nennenswerten positiven wirtschaftspolitischen Ef-
fekt und führte darüber hinaus zu erheblichen Bürokra-
tiekosten für die Wirtschaft. Außerdem stieg das Defizit
im Staatshaushalt. Volkswirtschaftlich war diese Maß-
nahme ein Schuss in den Ofen: viel Rauch, großer Lärm,
aber keine Wirkung.
Nun hat die Mehrheit im Bundesrat beschlossen, die
zum Ende 2011 bereits ausgelaufene Regelung zum ver-
minderten Mehrwertsteuersatz für Binnenschiffe wieder
einzuführen. Das Argument der Länder dafür lautet, sie
wollen keine singuläre Lösung, sondern Änderungen
sollten nur im Zusammenhang mit einer generellen Um-
satzsteuerreform und insbesondere einer Abschaffung
vieler Einzelregelungen vorgenommen werden. Es ist
richtig, dass das Auslaufen der Regelung für die Binnen-
schifffahrt mit dem Ende des verminderten Mehrwert-
steuersatzes für Übernachtungen, Schnittblumen, Pferde,
Skilifte, Außer-Haus-Umsätze in der Gastronomie - um
die wichtigsten branchenspezifischen Regelungen zu
nennen - hätte zusammenfallen müssen. Zu solch einer
Regelung hat sich die schwarz-gelbe Koalition aber
nicht durchringen können.
Viel schlimmer ist, dass sie noch nicht einmal begon-
nen hat, über eine Reform der Umsatzsteuer nachzuden-
ken. Die im Koalitionsvertrag zu diesem Thema verein-
barte Arbeitsgruppe hat nicht ein einziges Mal getagt,
und die bemerkenswert klare Aussage aus dem Finanz-
ministerium zu Fragen nach der Mehrwertsteuerreform
lautet: „Weiß nicht“. Man lasse sich das noch mal auf
der Zunge zergehen: Zur längst überfälligen Reform der
wichtigsten Steuerart sagt das Finanzministerium:
„Weiß nicht“. Wenn man sich in der Koalition mit dem
Thema Umsatzsteuer befasst, dann nur deshalb, weil wie
im vorliegenden Fall die Länder es verlangen oder, wie
bei der aktuell im Finanzausschuss diskutierten Aufhe-
bung des verminderten Mehrwertsteuersatzes für
Pferde, weil ein Gerichtsurteil des Europäischen Ge-
richtshofes es erzwingt und ein Nichtreagieren des Ge-
setzgebers unter Strafe stellt.
Die Bundestagsfraktion der Grünen lehnt den Vor-
schlag des Bundesrates ab. Das Auslaufen der Sonder-
regelung für Binnenschiffer ist zwar nur ein kleiner
Schritt, aber er geht in die richtige Richtung. Wir wollen
den verminderten Mehrwertsteuersatz nur dort einset-
zen, wo er eine soziale Wirkung hat. Da die Mehrwert-
steuer eine degressive Wirkung hat, das heißt, dass sie
Geringverdiener mehr belastet als Gutverdiener, muss
diese Wirkung abgeschwächt werden. Das ist das
wesentliche Kriterium zur Begründung von Mehrwert-
steuerermäßigungen. Andere Begründungen, wie eine
gezielte Unterstützung einer Branche oder einer Tech-
nologie, sind nicht nachvollziehbar. Denn es ist erwie-
sen, dass eine Förderung mithilfe des verminderten
Mehrwertsteuersatzes immer eine Krücke ist, weil sie in-
effektiv und nicht zielgerichtet ist und außerdem große
Mitnahmeeffekte und ein erhebliches Missbrauchs-
potenzial hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und damit es hier an dieser Stelle gesagt sei: Der
verminderte Mehrwertsteuersatz für Binnenschiffer wird
nach wie vor im öffentlichen Nahverkehr wirksam: Die
Hafenfähre in Hamburg und die Radlfähre am Rhein un-
terliegt nach wie vor dem verminderten Mehrwertsteu-
ersatz. Das macht auch Sinn; denn hier ist die soziale
Komponente der Regelung wie im gesamten öffentlichen
Personennahverkehr wirklich relevant.
Die Beispiele zeigen, dass der Reformbedarf im Um-
satzsteuerrecht nach wie vor hoch ist. Durch die Ab-
schaffung der ungerechtfertigten Branchensubventionen
bei der Mehrwertsteuer entstehen jährlich Einnah-
meausfälle von 3 bis 4 Milliarden Euro. Die Koalition
handelt verantwortungslos, wenn sie die längst überfäl-
lige Reform der Mehrwertsteuer nicht angeht. Diese Re-
form darf dann aber nicht im Sinne des Bundesrates Er-
mäßigungen konservieren, sondern muss sie endlich
abschaffen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8320 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b und c auf:
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Patentierung von konventionell ge-
züchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und
-pflanzen
- Drucksachen 17/8344, 17/8614 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Dr. Matthias Miersch
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Keine Patente auf Leben
- Drucksache 17/8584 Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, kommen
von Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU, und Dr. Max
Lehmer, CDU/CSU, Dr. Matthias Miersch, SPD,
Stephan Thomae, FDP,
({1})
Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, und Harald Ebner,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
1) Anlage 8
Wir kommen zur Abstimmung.
Zunächst Tagesordnungspunkt 26 b. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8614, den Antrag der Fraktionen von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/8344 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist einstimmig so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26 c. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8584.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke
und Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi
Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die soziale Dimension von Bologna stärken
- Drucksache 17/8580 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, kommen
von Tankred Schipanski, CDU/CSU, Axel Knoerig,
CDU/CSU, Ulla Burchardt, SPD, Dr. Martin Neumann,
FDP, Nicole Gohlke, Die Linke, und Kai Gehring, Bünd-
nis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8580 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Diana Golze, Paul Schäfer ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Militärische Verwendung von Minderjährigen beenden - Ehemalige Kindersoldatinnen
und Kindersoldaten unterstützen
- Drucksache 17/8491 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, kommen
von Ute Granold, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD,
2) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Karin Roth, SPD, Pascal Kober, FDP, Katrin Werner,
Die Linke, und Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir debattieren heute über den Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Militärische Verwendung von
Minderjährigen beenden - Ehemalige Kindersoldatinnen und Kindersoldaten unterstützen“.
Zu Beginn meiner Ausführungen will ich zunächst
noch einmal die Dimension des Themas verdeutlichen:
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden weltweit noch immer 250 000 Kinder als Soldaten missbraucht. Auf der jährlich von der UNO veröffentlichten
„Liste der Schande“ stehen aktuell 22 Länder, in denen
Minderjährige vom Staat oder von Rebellen rekrutiert
werden. Auch der jährliche Bericht des UN-Generalsekretärs gibt Auskunft über den Einsatz von Kindersoldaten. Besonders gravierend ist die Situation in Ländern
wie Burma, Kolumbien, Angola, Somalia, Uganda und
auch in Afghanistan, Irak oder Indien.
Entgegen den Behauptungen Ihres Antrages engagiert sich die Bundesregierung mit Nachdruck gegen
dieses bedrückende Unrecht. Kinder sind die schwächsten Mitglieder in einer Gesellschaft. Wir alle verurteilen
den Missbrauch von Kindern als Kindersoldaten zutiefst. Niemand kann ernsthaft wollen, dass Kinder in
Konflikten benutzt und zum Kämpfen gezwungen werden. Sie brauchen unseren besonderen Schutz.
Der vorliegende Antrag zeigt einmal mehr, dass es Ihnen im Kern gar nicht um die Unterstützung von ehemaligen Kindersoldaten geht. Sie instrumentalisieren die
Schicksale der Opfer, um damit ihre ideologische Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung
fortzuführen.
In Ihrem Antrag sprechen Sie das Fakultativprotokoll
an. Das Fakultativprotokoll vom 12. Februar 2002 zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend
die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten
ergänzt die Kinderrechtskonvention um den Schutz von
Kindern in bewaffneten Konflikten. Es setzt das Mindestalter für die Teilnahme an Kampfhandlungen von
bisher 15 auf 18 Jahre herauf und verbietet die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen unter 18 Jahren. Am
13. Dezember 2004 hat Deutschland dieses zweite Zusatzprotokoll ratifiziert und beim Generalsekretär der
Vereinten Nationen hinterlegt.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie daran erinnern, dass sich der UN-Sicherheitsrat auf Initiative
Deutschlands unter Federführung von Außenminister
Westerwelle im Juli 2011 mit dem Schicksal von Kindersoldaten intensiv auseinandergesetzt hat. Einstimmig
wurde die Resolution 1998 zum Schutz von Kindern verabschiedet. Dank des deutschen Engagements vor den
Vereinten Nationen sind Millionen Kinder in Konflikten
künftig besser geschützt. Bei Angriffen auf Schulen oder
Krankenhäuser sieht die Resolution vor, Sanktionen wie
Reiseverbote oder Kontosperrungen zu verhängen. Damit wurde ein zentrales deutsches Anliegen, nämlich der
bessere Schutz von Kinderrechten - auch in Konflikten -,
durchgesetzt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Absatz aus Ihrem Antrag zitieren, in dem Sie auf das Fakultativprotokoll eingehen: „Trotz des deutschen Vorsitzes in der Arbeitsgruppe ,Kinder in bewaffneten Konflikten‘ der UN
2011 wurden bislang keinerlei Anstrengungen unternommen, um jenseits von diplomatischen Bemühungen
zumindest im eigenen, nationalen Rahmen konkrete
Maßnahmen zur wirksamen Umsetzung der UN-Konvention und des dazugehörigen Fakultativprotokolls
durchzuführen. Während die Mehrheit der 141 Unterzeichnerstaaten den Empfehlungen nachgekommen ist
und auf die Rekrutierung von Minderjährigen für ihre
regulären Streitkräfte verzichtet, hält die Bundesregierung an dieser bedenklichen Praxis fest.“
Damit erwecken Sie den Anschein, als gehöre
Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten in Deutschland
zur Tagesordnung. Nach Art. 3, Abs. 3 des Protokolls
müssen Vertragsstaaten, die die Einziehung von Freiwilligen unter 18 Jahren zu ihren nationalen Streitkräften
gestatten, entsprechende Schutzmaßnahmen treffen.
Dazu zählen:
Erstens. Die Einziehung erfolgt tatsächlich freiwillig.
Zweitens. Die Einziehung erfolgt mit der in Kenntnis
der Sachlage abgegebenen Zustimmung der Eltern oder
eines Vormunds.
Drittens. Die Person wird über die mit dem Militärdienst verbundenen Pflichten umfassend aufgeklärt.
Viertens. Die Person muss vor Aufnahme in den staatlichen Militärdienst einen verlässlichen Altersnachweis
erbringen.
Das Wehrrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr 2011
eröffnet deutschen Staatsbürgern, die das 17. Lebensjahr vollendet und die Vollzeitschulpflicht erfüllt haben,
die Möglichkeit, freiwillig - ich betone: freiwillig Wehrdienst zu leisten. Minderjährige Soldaten unterliegen dabei einem besonderen Schutz. Sollte die Tätigkeit
als Soldaten oder Soldatinnen nicht ihren Vorstellungen
entsprechen, können sie während der sechsmonatigen
Probezeit jederzeit aus dem Wehrdienst entlassen werden. Des Weiteren ist der Gebrauch der Waffe für sie allein auf die Ausbildung beschränkt und unter eine besondere Aufsicht gestellt. Ferner nehmen sie nicht an
Auslandsverwendungen und Einsätzen teil. Sie dürfen
darüber hinaus eigenverantwortlich und außerhalb der
militärischen Ausbildung keine Funktion ausüben, in denen sie zum Gebrauch der Waffe gezwungen sein könnten.
Was Sie in Ihrer Ausführung ebenfalls ausblenden, ist
die Tatsache, dass Jugendliche bei der Bundeswehr im
direkten Anschluss an ihre schulische Ausbildung häufig
eine ganz normale Berufsausbildung absolvieren. Mit
den rund 1 400 Ausbildungsplätzen, die die Bundeswehr
jährlich bereitstellt, zählt sie zu den größten zivilen Arbeitgebern in Deutschland. Durchschnittlich befinden
sich dort 5 000 Jugendliche in einer zivilen Ausbildung.
Die Berufsausbildung bei der Bundeswehr unterliegt
dem Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung
sowie der jeweils gültigen Ausbildungsverordnung.
Ich will noch auf einen weiteren Punkt Ihres Antrages
eingehen. Darin wird behauptet, Deutschland verletze
mit seiner asylverfahrensrechtlichen Praxis grundlegende Vertragspflichten, indem es die besondere Schutzwürdigkeit von ehemaligen Kindersoldaten und anderen
minderjährigen Flüchtlingen missachte.
Fakt ist, dass die Bundesregierung der Auffassung ist,
dass ehemalige Kindersoldaten besonders schutzwürdige Personen darstellen. Richtig ist aber auch - und
das belegen die Gutachten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge -, dass bei Asylverfahren, die Kindersoldaten betreffen, die häufigsten Ablehnungen aus
der fehlenden Glaubwürdigkeit der Betroffenen resultieren. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass in vielen
dieser Fälle wegen einer drohenden Verschlechterung
des Gesundheitszustandes oder eines fehlenden Existenzminimums ein Abschiebungsverbot festgestellt wird.
Nach Einschätzung des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge liegen die praktisch relevanten Ablehnungsgründe meist dann vor, wenn keine konkret drohende
Gefahr vorliegt oder wenn mithilfe von Sprach- oder
Textanalysen festgestellt wird, dass eine Täuschung über
die Staatenangehörigkeit vorliegt.
Eine praktische Schwierigkeit im Umgang mit ehemaligen Kindersoldaten liegt darin, dass sie beim Eintreffen in Deutschland nicht als solche identifiziert werden
können, wenn sie entweder aus Scham wegen begangener Taten oder Furcht vor Strafverfolgung nicht entsprechend vortragen oder wegen eines möglicherweise erlittenen Traumas hierzu gar nicht fähig sind.
Die Identifizierung als ehemaliger Kindersoldat ist in
erster Linie Aufgabe des Clearingverfahrens, das im
Rahmen der Inobhutnahme durch das Jugendamt nach
der Einreise durchgeführt wird. Denn dort finden die
ersten diesbezüglichen Gespräche - etwa über Fluchtgründe - statt. Im Clearingverfahren erfolgt eine Erhebung des vollständigen sozialen Hintergrundes, die zeitlich auch abhängig von der aktuellen Situation und der
Fähigkeit des Jugendlichen ist, über das Erlebte offen zu
sprechen.
Die Zuständigkeit für das Clearingverfahren liegt bei
den Jugendämtern. Ein Asylverfahren schließt sich nicht
zwingend an. Beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge können nur Verhaltensauffälligkeiten oder
ein konkreter Sachvorgang während der Anhörung zum
Erkennen einer besonderen Schutzbedürftigkeit führen.
Bei positiver Bewertung und vorliegenden sonstigen Anerkennungsvoraussetzungen erfolgt die Anerkennung
als Flüchtling. Es handelt sich um Einzelfallentscheidungen, die nicht verallgemeinert werden können.
In Ihrem Antrag kritisieren Sie darüber hinaus, die
Bundesregierung sei bislang ihrer Verantwortung, zur
Beendigung des Einsatzes von Kindern in bewaffneten
Konflikten beizutragen, nur unzureichend nachgekommen. Tatsache ist jedoch, dass die Bundesregierung die
Bestrebungen auf EU-Ebene unterstützt, unbegleiteten
Minderjährigen als besonders schutzbedürftige Gruppe
die nötige besondere Aufmerksamkeit und spezielle Maßnahmen zukommen zu lassen. Bei den gegenwärtigen
Verhandlungen über die Vorschläge der Kommission zum
gemeinsamen europäischen Asylrecht orientieren sich
die Verhandlungspositionen der Bundesregierung an der
nationalen bzw. geltenden Rechtslage. Und diese zielen
darauf ab, der Wahrung des Kindeswohls in allen Mitgliedstaaten in angemessenem Umfang Rechnung zu
tragen.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur vierten
zentralen Forderung Ihres Antrages sagen. Darin fordern Sie die Bundesregierung dazu auf, den Export von
Kleinwaffen und leichten Waffen in Staaten und Konfliktregionen zu untersagen, in denen Kindersoldaten
tatsächlich oder potenziell rekrutiert werden können. Sie
fordern zu etwas auf, was längst getan wird: Maßgeblich
für die Bewilligung von Rüstungsexporten sind die Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Danach wird der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland besonderes Gewicht
beigemessen. In diesem Rahmen ist gemäß dem Leitfaden zur Anwendung des Gemeinsamen Standpunkts unter anderem zu prüfen, ob im Endbestimmungsland ein
Mindestalter für die Rekrutierung zum Wehrdienst festgelegt worden ist und ob gesetzliche Maßnahmen getroffen worden, mit denen die Rekrutierung von Kindern und
deren Einsatz bei Feindseligkeiten untersagt und geahndet werden. Bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass zur
Ausfuhr vorgesehene Kleinwaffen oder leichte Waffen
unter Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention
oder das Fakultativprotokoll gegen Kinder bzw. Minderjährige eingesetzt oder an Kindersoldaten ausgehändigt
werden, wird die Ausfuhrgenehmigung versagt. Das
zeigt, dass der Schutz von Kindern bei rüstungsexportkontrollpolitischen Entscheidungen bereits berücksichtigt wird. Durch die Ex-ante-Prüfung wird von vornherein gesichert, dass Rüstungsgüter nicht an Empfänger
geliefert werden, bei denen die Gefahr besteht, dass die
Güter umgeleitet werden. Wenn Zweifel am gesicherten
Endverbleib beim Empfänger bestehen, werden Ausfuhranträge abgelehnt.
Wie Sie sehen, befassen sich die Koalitionsfraktionen
und die Bundesregierung bereits intensiv mit diesem
Thema und konnten dabei wesentliche Verbesserungen
bewirken. Diesen Weg wollen wir auch in Zukunft konsequent weitergehen. Die Forderungen des vorliegenden
Antrages sind dabei in der Sache nicht hilfreich.
Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen für
militärische Zwecke muss geächtet werden. Das Verbot
der Vereinten Nationen, Kinder als Soldaten zu missbrauchen, hat nur dann einen Wert, wenn es auch praktisch durchgesetzt wird. Kinder sind wehrlos, sie sind
immer Opfer. Deshalb muss es darum gehen, sie vor diesem schlimmen Schicksal zu bewahren und ihnen und ihren Familien Perspektiven für eine lebenswerte Zukunft
zu eröffnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Immer noch werden weltweit Kinder in Kriegsgebieten als Soldaten eingesetzt und damit ihrer Kindheit, ihrer Lebensperspektive und ihrer Würde beraubt. Dabei
wird die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die als Soldaten rekrutiert werden, auf fast 300 000 geschätzt. Gerade vor dem Hintergrund des internationalen Red
Hand Day, der jährlich am 12. Februar auf die schlimmen Schicksale dieser unzähligen Kinder aufmerksam
macht und so ein Zeichen gegen den Einsatz von Kindersoldaten setzt, begrüßen wir die Initiative zu diesem Antrag. Und vor allem begrüßen wir den intensiven Einsatz
des Deutschen Bündnisses Kindersoldaten, das aus elf
Nichtregierungsorganisationen besteht und eng mit weiteren internationalen Organisationen wie Child Soldiers
International zusammenarbeitet, um gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten zu kämpfen.
Umso erstaunlicher und nicht hinnehmbar ist es, dass
die Bundesregierung ihre freiwilligen Leistungen an das
Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, im
letzten Jahr um fast 30 Prozent gekürzt hat. Nicht hinnehmbar ist dies unter anderem deshalb, weil UNICEF
sich unter anderem darum kümmert, Kindersoldaten
- Jungen wie Mädchen - aus Armeen und Rebellengruppen zu befreien und wieder in ein normales Leben zurückzuführen. Dies ist nicht einfach. Familiär entwurzelt
und häufig drogenabhängig mussten die Kinder für
skrupellose Armeen- und Milizenführer kämpfen und
auch morden. Viele sind durch das Erlebte schwer traumatisiert, manchmal weigern sich ihre Familien, sie
wieder bei sich aufzunehmen. Sie brauchen psychotherapeutische Behandlung, Bildung und eine zivile berufliche Perspektive. Deshalb ist eine Kürzung der Unterstützung schlicht verantwortungslos.
Seit 2002 ist gemäß einem Zusatzprotokoll zur UNKinderrechtskonvention der Missbrauch von Kindern
als Soldaten verboten. Über 100 Staaten haben es ratifiziert. Trotzdem gibt es immer noch unzählige Kindersoldaten weltweit, vor allem im Tschad, im Sudan, in
Uganda, im Kongo, im Jemen, in Kolumbien und in
Birma. Eine konsequente bilaterale und internationale
Politik gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten
könnte viel bewirken. Beispielsweise sollten Staaten, die
Kindersoldaten einsetzen, keine Militärhilfe mehr erhalten.
Der Kampf gegen den Einsatz von Kindersoldaten
muss mit Initiativen zur Begrenzung des Handels mit
Kleinwaffen einhergehen. Mit diesen flexiblen und leicht
handhabbaren Kampfmitteln werden auch Kinder ausgerüstet, die oft nicht älter als acht Jahre sind. Auch bedarf es eines Asylrechtes, welches den besonderen Umständen, in denen diese Kinder waren, Rechnung trägt.
Denn es gilt, alles dafür zu tun, dass die von den einzelnen Staaten eingegangenen Selbstverpflichtungen im
Kampf gegen den Einsatz von Kindersoldaten umgesetzt
werden. Dies betrifft nicht nur Maßnahmen im Ausland,
sondern auch ihre Behandlung als Flüchtlinge in den jeweiligen Aufnahmeländern. Und das betrifft auch uns.
Deshalb strebt die SPD-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation Minderjähriger
im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht auch eine Verbesserung der Situation für asylsuchende ehemalige
Kindersoldaten an. In diesem Gesetzentwurf fordern wir
deswegen unter anderem, dass im Aufenthalts- und im
Asylverfahrensgesetz bei der Rechtsanwendung das
Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist, dass
das Flughafenverfahren keine Anwendung auf unbegleitete Minderjährige finden darf und dass stattdessen die
Kinder im Alter bis zu 18 Jahren durch das Jugendamt in
Obhut zu nehmen sind, um so die Durchführung eines
Clearingverfahrens zu gewährleisten. Dadurch entfällt
auch der umstrittene Aufenthalt im Flughafentransit für
diese Kinder. Wir wollen außerdem, dass bei der Gewährleistung eines Clearingverfahrens die Zurückweisung an der Grenze für unbegleitete Minderjährige ausgeschlossen ist.
Grundsätzlich unterstützen wir insofern das Anliegen
der Linken, dem Schicksal der Kindersoldaten weltweit
mehr politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit
zu widmen, um auch konkrete politische Maßnahmen
daraus abzuleiten. Ob die Maßnahmen und Instrumente,
die im Antrag der Linken angesprochen und vorgeschlagen werden, tatsächlich effektiv und die richtigen sind,
sollten wir ausführlich in den Ausschüssen diskutieren.
In Art. 38 der UN-Kinderrechtskonvention, die 1989
von der UN-Generalversammlung angenommen wurde,
steht: „Im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem
humanitären Völkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, dass von einem bewaffneten Konflikt betroffene
Kinder geschützt und betreut werden.“
Heute - 23 Jahre später - haben rund 2 Millionen
Kinder in den letzten zehn Jahren im Zuge gewaltsam
ausgetragener Konflikte ihr Leben verloren. Die Zahl
der verletzten Kinder liegt noch um ein Vielfaches höher.
Laut Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der
Vereinten Nationen sind von den weltweit 15,2 Millionen
Flüchtlingen, 27,1 Millionen Binnenvertriebenen und
983 000 Asylsuchenden mehr als 40 Prozent Kinder und
Jugendliche unter 18 Jahren. In Zahlen ausgedrückt:
Über 17 Millionen Kinder und Jugendliche leben derzeit
als Flüchtlinge, Vertriebene oder Asylsuchende.
Aber nicht nur das: Laut dem Kinderhilfswerk der
Vereinten Nationen, UNICEF, kämpfen etwa 250 000
Kinder in 22 Staaten als Soldatinnen und Soldaten in
Regierungsarmeen oder bewaffneten Gruppen. Der Einsatz von Kindern im Krieg ist Kindesmissbrauch. Entweder werden sie zwangsrekrutiert, oder sie schließen sich
den Truppen aufgrund von Armut und Perspektivlosigkeit freiwillig an. Kindersoldatinnen leiden besonders,
sie werden häufig Opfer sexueller Gewalt, viele müssen
Zwangsehen mit Kämpfern eingehen.
Und das, obwohl ein Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention festlegt, dass Kinder unter 18 Jahren
nicht unmittelbar an kriegerischen Auseinandersetzungen teilnehmen dürfen. Vor zehn Jahren, am 12. Februar
2002, trat das Zusatzprotokoll über die Beteiligung von
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
Kindern an bewaffneten Konflikten in Kraft, das inzwischen über 140 Länder ratifiziert haben. In dem Protokoll verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, keine
Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren zu rekrutieren.
Das Zusatzprotokoll ist ein wichtiger Meilenstein im
Kampf gegen die Rekrutierung von Kindern. Dennoch
müssen wir uns weiter anstrengen, damit kein Kind mehr
Kindersoldat werden muss. Diese Kinder erleiden seelische Traumata und Demütigungen, müssen bedingungslos gehorchen und morden. Deshalb müssen wir weiterhin unser Augenmerk auf diese Kinder richten und
darauf, dass die Verpflichtungen im Kampf gegen den
Einsatz von Kindersoldaten eingehalten werden.
Inzwischen gibt es in der Strafverfolgung von mutmaßlichen Tätern Erfolge. Der ehemalige Staatspräsident Liberias, Charles Taylor, und ehemalige Kommandeure aus dem Kongo sind vor dem Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt, weil sie Kinder
rekrutiert haben sollen. Dennoch gehen viel zu viele Täter noch immer straffrei aus, wie es beispielsweise in
Myanmar oder Kolumbien geschieht. Auf diese Regierungen muss die Staatengemeinschaft den Druck erhöhen, um endlich diese Verbrechen an Kindern zu bestrafen und zu stoppen.
Gerade Deutschland muss hier eine Vorreiterrolle
einnehmen, nicht zuletzt als derzeitiges Mitglied im UNSicherheitsrat und Vorsitzender der UN-Arbeitsgruppe
„Kinder und bewaffnete Konflikte“. Bundesentwicklungsminister Niebel ist dieser Tage in Myanmar. Herr
Minister, zeigen Sie klare Kante, und machen Sie der Regierung in Myanmar klar, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen und alle Kinder aus der
Armee entlassen werden müssen!
Wenn wir es wirklich ernst meinen im Kampf gegen
den Einsatz von Kindern im Krieg, dann muss die Entwicklungszusammenarbeit einen größeren Beitrag dazu
leisten als bisher. Es müssen mehr Mittel bereitgestellt
werden für konkrete Reintegrationsprogramme von Kindersoldatinnen und Kindersoldaten. Nur so erhalten
diese traumatisierten Kinder wirklich eine Chance, ein
geordnetes und hoffentlich friedliches Leben zu führen.
Besonders die Situation der Mädchen muss dabei beachtet werden. Viele wurden während der kriegerischen
Auseinandersetzungen vergewaltigt und werden deshalb
von der Gesellschaft stigmatisiert. Wir brauchen gezielte Eingliederungsprogramme, die die Mädchen und
Jungen psychologisch betreuen.
Noch einmal: Der Einsatz von Kindern im Krieg ist
Kindesmissbrauch und ein Menschenrechtsverstoß.
Kinder gehören zu den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft und sind Hauptopfer von bewaffneten
Konflikten und Kriegen. Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, haben
2 Millionen Kinder in den vergangenen zehn Jahren
durch gewaltsam ausgetragene Konflikte ihr Leben verloren. Die Zahl verletzter Kinder ist noch um ein Vielfaches höher.
Eine besonders grausame Art von Gewalt gegen Kinder ist deren Einsatz als Soldaten, was in vielen Ländern
noch immer trauriger Alltag ist. Die Zahl der Kindersoldaten wird derzeit auf weltweit 250 000 bis 300 000 geschätzt, wobei nicht nur nichtstaatliche Gruppierungen,
Milizen und Bürgerkriegsparteien Kinder rekrutieren,
sondern auch einige reguläre Armeen. Ein großer Teil
dieser Länder befindet sich in Afrika, beispielsweise Sudan, Somalia und Uganda. Druck, Ängste und Perspektivlosigkeit zwingen dort Kinder an die Waffe. Für die
Konfliktparteien ist dies eine zynische Rechnung - denn
Kinder sind anspruchsloser und billiger als erwachsene
Soldaten, zudem sind sie leichter zu manipulieren. Diese
menschenverachtende Praxis steht jedoch in eklatantem
Widerspruch zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung
der Vereinten Nationen und zum Zusatzprotokoll zur
UN-Kinderrechtskonvention.
Die direkten Auswirkungen auf diese Kinder sind exzessive Gewalterfahrungen, sexueller Missbrauch,
Flucht, Vertreibung und das Zerreißen von Familien.
Zurück bleiben schwer traumatisierte, von Gewalt, Entbehrungen und sozialer Isolation gezeichnete Kinder.
Viele sind durch die Folgen von Kriegen auf sich allein
gestellt. Oftmals ist Gewalt die einzige Methode, die sie
zur Lösung von Konflikten erlernt haben. Sie leiden ein
Leben lang unter ihren Erlebnissen und unter dem, was
sie anderen antun mussten, häufig sogar ihren engsten
Freunden und ihren eigenen Familienangehörigen.
Hinzu kommen die indirekten Folgen von bewaffneten
Konflikten. Besonders hart trifft Kinder der Hunger, die
fehlende Schulbildung und Gesundheitsversorgung
durch Zerstörung von Schulen und Krankenhäusern.
Denn damit werden sie auch ihrer Zukunftsperspektiven
jenseits des Soldatendaseins beraubt. Die Rückkehr in
ihre Heimatorte ist für viele ehemalige Kindersoldaten
unmöglich, weil sie dort nicht als Opfer, sondern als Täter angesehen werden. Diese Ablehnung treibt viele der
Kinder erneut in die Arme von Soldaten oder bewaffneten Gruppen. Dabei ist die Wiedereingliederung ehemaliger Kindersoldaten von besonderer politischer Relevanz; denn sie ist eine unabdingbare Voraussetzung für
gesamtgesellschaftliche Versöhnungs- und Wiederaufbauprozesse.
Darum führt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Dirk Niebel
vor Ort, also in den Ländern, wo der Einsatz von Kindersoldaten ein vordringliches Problem ist, zahlreiche
Maßnahmen durch. Kindersoldaten bilden dabei eine eigenständige Zielgruppe deutscher Entwicklungsprojekte. Beispielsweise fördert das Ministerium in großem
Umfang Projekte zur Entwaffnung, Demobilisierung und
Reintegration von Kindersoldaten in der zentralafrikanischen Region der Großen Seen und in Sierra Leone.
Im Jahr 2010 finanzierte das Ministerium insgesamt
neun bilaterale und ein überregionales Vorhaben zur
Reintegration von Kindersoldaten in Afrika. Die Entwicklungszusammenarbeit mit den betroffenen Partnerländern beinhaltet dabei gezielte Maßnahmen der
Zu Protokoll gegebene Reden
Schul- und Berufsausbildung sowie der Beschäftigungsförderung. Um diesen Kindern eine langfristige Perspektive zu eröffnen, müssen sie Zugang zur Grundbildung und eine Qualifizierung für den Arbeitsmarkt
erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch
darauf hinweisen, dass Bundesminister Niebel den Bildungsbereich zu einem Schwerpunkt deutscher entwicklungspolitischer Arbeit gemacht hat. Denn die Gewährleistung einer Grundbildung für möglichst viele Kinder
bildet nicht nur eine Reintegrationschance, sondern
stellt auch zugleich die beste Prävention dar, indem sie
Kindern eine berufliche Alternative und den Ländern
eine langfristige positive Entwicklung ermöglicht.
Darüber hinaus unterstützt die Bundesregierung
nachdrücklich die Arbeit der UN-Sonderbeauftragten
für Kinder und bewaffnete Konflikte, Radhika
Coomaraswamy, und die Arbeit des Internationalen
Strafgerichtshofs in diesem Bereich. Im Juli 2011 hat der
UN-Sicherheitsrat außerdem eine unter deutscher
Federführung erarbeitete Resolution zum Schutz von
Kindern in Konflikten einstimmig verabschiedet. Unter
Leitung von Bundesaußenminister Guido Westerwelle
stimmte das höchste UN-Gremium für die Resolution, die
den Angriff auf Schulen und Krankenhäuser ächtet. Auch
die UN-Sonderbeauftragte Radhika Coomaraswamy hat
diesen Einsatz der deutschen Regierung ausdrücklich
gelobt.
Die Weltgemeinschaft muss sich verstärkt für Kinder
einsetzen, gegen deren Einsatz in Streitkräften oder bewaffneten Gruppen vorgehen und ein besonderes Augenmerk auf ihre Situation in Kriegs- und Konfliktgebieten
legen, wie es der vorliegende Antrag der Linken fordert.
Jedoch übersieht der Antrag geflissentlich das bereits
bestehende umfangreiche Engagement der Bundesregierung in diesem Bereich, das ich Ihnen soeben dargelegt
habe. Somit scheint mir die Forderung Ihres Antrags,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Demobilisierungs- und Wiedereingliederungsprogramme für
Kindersoldaten als eigenen Schwerpunkt der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit zu etablieren, überflüssig; denn es würde für die Betroffenen nichts bewirken.
Angesichts dessen kann ich Ihrem Antrag daher leider
nicht zustimmen.
Kinder sind unsere Zukunft und bedürfen besonderen
Schutzes. Aus diesem Grund hat die Linke die
Rücknahme des deutschen Vorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesregierung stets als
wichtigen Schritt begrüßt. Allerdings müssen aus der
Rücknahme des Vorbehalts auch entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Dies erfordert insbesondere
Gesetzesanpassungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht, die
in weitaus stärkerem Maß dem Schutz des Kindeswohls
dienen müssten. Kinder, die schon in jungen Jahren unter extrem widrigen oder sogar lebensgefährlichen Verhältnissen aufwachsen mussten, bedürfen besonderer
Fürsorge.
Ich meine vor allem Kinder, die trotz ihres minderjährigen Alters Gefahren für Leib und Leben riskieren, um
vor bewaffneten Konflikten in ihrem Herkunftsland zu
fliehen. Dies betrifft neben anderen Fällen von sogenannten unbegleiteten Minderjährigen vor allem ehemalige Kindersoldatinnen und Kindersoldaten. Gegenwärtig werden in mindestens 22 Staaten insgesamt circa
250 000 Kinder als Soldatinnen und Soldaten eingesetzt.
Ihr Einsatz ist Ausdruck der Verrohung einer Gesellschaft, in der Krieg herrscht. Eine Gesellschaft, die
nicht davor zurückschreckt, Kinder für schlimmste Verbrechen gegen andere zu missbrauchen, aber die Kinder
eben auch dazu zwingt, sich selbst Verbrechen auszusetzen.
Kindersoldaten sind meist beides: traumatisierte Opfer und brutale Gewalttäter. Im Krieg ist scheinbar alles
erlaubt. Es ist aber die höchste Stufe der Entmenschlichung erreicht, wenn Kinder lernen müssen, zu töten, zu
foltern und zu vergewaltigen. Auch bei unterstützenden
Tätigkeiten als Sanitäter, Nachrichtenbote oder Küchenhilfe werden sie oft Zeugen schrecklichster Geschehnisse, die sich tief in ihre Seelen einbrennen und die ihr
gesamtes Leben zeichnen.
In der Demokratischen Republik Kongo und in Nepal
wurden Kinder von regierungsnahen wie von aufständischen, bewaffneten Gruppierungen rekrutiert und für
den Krieg gedrillt. Noch in der Schlussphase des Bürgerkriegs in Sri Lanka meldeten sich, trotz der absehbaren Niederlage, Kinder sogar als Kriegsfreiwillige bei
den tamilischen Rebellen, ebenso wie auch singhalesische Paramilitärs Minderjährige als Kämpfer rekrutierten.
Jedes Kind, das dem Krieg entkommt, darf sich zwar
glücklich schätzen, wenigstens überlebt zu haben. Doch
damit sind die Probleme keineswegs gelöst. In den meisten Bürgerkriegsländern und Krisenregionen mangelt es
an geeigneten therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten für die erlittenen Kriegstraumata und an einem familiären und gesellschaftlichen Umfeld, das ehemalige
Kindersoldaten wieder aufnehmen und ihnen soziale
und berufliche Perspektiven im normalen zivilen Leben
zurückgeben würde.
Doch selbst wenn es ihnen gelingt, zu fliehen, bestehen häufig nur geringe Aussichten auf Besserung. Wer
nach Deutschland flieht, wird als Fahnenflüchtiger ohne
politische Verfolgung eingestuft, der keinen besonderen
Schutz benötigt. Geflohene Kindersoldaten werden regelmäßig in nicht kindergerechte Asylverfahren gedrängt und wie andere unbegleitete Minderjährige
bereits mit Vollendung des 16. Lebensjahres als verfahrensmündig, also wie Erwachsene, behandelt. Sie werden üblicherweise weder in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht noch durch ausgebildetes
Fachpersonal angemessen betreut. In den Sammelunterkünften herrschen oft katastrophale humanitäre und hygienische Zustände: Dächer sind undicht, Wände feucht
und schimmlig, und Duschanlagen und Toiletten sehen
mitunter noch aus, als stammten sie aus Kaisers Zeiten.
Im Menschenrechtsausschuss erlebe ich oft, dass die
Regierungsfraktionen argumentieren, die Bundesregierung arbeite bereits an einer Lösung der Probleme und
deshalb müssten sie unsere Anträge ablehnen. InternaZu Protokoll gegebene Reden
tionale Experten und Institutionen sehen dies beim
Thema Kindersoldaten deutlich anders. Nicht nur der
vierjährig erscheinende „Weltbericht Kindersoldaten“
({0}) bescheinigte Deutschland 2008 erhebliche Defizite beim Umgang mit Kindersoldaten. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte des
Kindes sah 2008 große Umsetzungsdefizite bei den
Staatenpflichten Deutschlands bezüglich der UN-Kinderrechtskonvention und dem dazugehörigen Fakultativprotokoll über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten.
Neben den schon erwähnten Missständen bei Asylund Aufenthaltsfragen, an denen sich bislang jedenfalls
nichts geändert hat, betrifft dies auch die Praxis der
Nachwuchsrekrutierung der Bundeswehr. Demnach gehört Deutschland nicht nur zu den Ländern, in denen
Freiwillige unter 18 Jahren für den Militärdienst angeworben werden, sondern auch zu denjenigen Ländern, in
deren regulären Streitkräften tatsächlich auch Minderjährige den Dienst an der Waffe ausüben. Damit ist
Deutschland sogar selbst in der EU weitgehend isoliert;
denn dies ist nur noch in Großbritannien, Irland, den
Niederlanden, Luxemburg und Österreich erlaubt. Alle
anderen EU-Mitglieder haben diese Praxis längst beendet.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Beenden
Sie unverzüglich die Anwerbung und den Einsatz von
Minderjährigen in der Bundeswehr!
In Sonntagsreden wie am Red Hand Day singt die
Bundesregierung gern das Hohelied der Menschenrechte, während sie gleichzeitig durch ihr politisches
Handeln zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Die Bundesregierung weigert sich, die
2008 vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes an
Deutschland gerichtete Empfehlung umzusetzen, keine
Waffenexporte an Staaten zu genehmigen, die Kindersoldaten für bewaffnete Konflikte rekrutieren und einsetzen. Dies beweist eindeutig: Die Profitinteressen der
Rüstungsindustrie sind der Bundesregierung wichtiger
als die Rechte von Kindern! Das ist kein Wunder; denn
schließlich zieht die Rüstungslobby gegenüber den sie
unterstützenden Parteien gern die Spendierhosen an.
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung im Bereich
der Entwicklungszusammenarbeit nur wenig Engagement zeigt, die berufliche und zivile Rehabilitierung von
ehemaligen Kindersoldaten in den Herkunftsländern aktiv zu unterstützen. Nach Berichten des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ ist Bundesminister Dirk Niebel
wohl vor allem damit beschäftigt, das Entwicklungshilfeministerium zu einem Arbeitsbeschaffungsministerium
für altgediente FDP-Funktionäre umzubauen. Mit dieser Amigopolitik disqualifiziert sich die FDP entwicklungs- und menschenrechtspolitisch.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Beenden
Sie unverzüglich die militärische Zusammenarbeit mit
autoritären Regimen und sämtliche Waffenexporte in
alle Länder, in denen Kinder als Soldatinnen und Soldaten missbraucht werden! Gewähren Sie den in Deutschland lebenden Kindersoldaten politisches Asyl, und
unterstützen Sie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit Rückkehrer in den Herkunftsländern mit
Demobilisierungsprogrammen und nachholenden Bildungs- und Ausbildungsangeboten! Alle Kinder haben
ein Recht darauf, in Frieden aufwachsen zu dürfen. Kinder sind keine Soldaten!
Am 12. Februar 2012 feiern wir zehnjähriges Jubiläum des Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Das Protokoll hat die Altersgrenze für eine Beteiligung in
bewaffneten Konflikten von 15 auf 18 Jahre angehoben
und weltweit dazu beigetragen, dass der Missbrauch von
Kindern als Soldaten geächtet wird. Dennoch werden
mehr als 250 000 minderjährige Mädchen und Jungen in
über 20 Ländern weiterhin zum Kämpfen gezwungen,
sexuell missbraucht und gefoltert. In den letzten zehn
Jahren sind dabei mehr als 2 Millionen Kinder ums Leben gekommen. Allein in Myanmar gehören Schätzungen zufolge mehrere Zehntausend Kinder zur staatlichen
Armee und Tausende zu bewaffneten Oppositionsgruppen. Ich erwarte von Bundesentwicklungsminister
Niebel, dass er sich bei seinem Besuch in Myanmar vom
12. bis 14. Februar 2012 gegenüber der Regierung dafür ausspricht, alle Kinder aus der Armee zu entlassen
und ins zivile Leben zu reintegrieren.
Verbesserte internationale Schutzmaßnahmen sind
weiterhin dringend geboten. In diesem Zusammenhang
würdige ich das unermüdliche Engagement des deutschen Botschafters bei den Vereinten Nationen in New
York, Botschafter Wittig. Seit Januar 2011 hat er den
Vorsitz der Sicherheitsrats-Arbeitsgruppe „Kinder und
bewaffnete Konflikte“, Security Council Working Group
on Children and Armed Conflict, inne. Die Arbeitsgruppe listet staatliche und nichtstaatliche Konfliktparteien, die Kinder töten, sexuell missbrauchen oder als
Soldaten rekrutieren. Dadurch sollen Täter erstens zur
Rechenschaft gezogen werden können und zweitens unter Druck gesetzt werden, Schutzmaßnahmen für Kinder
einzuführen. Wenn die Täter nicht mit den Vereinten Nationen kooperieren - etwa durch Aktionspläne zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kindersoldaten - kann ihre Listung zu Sanktionen führen.
Es ist dem beharrlichen Einsatz von Botschafter Wittig
zu verdanken, dass der Sicherheitsrat nun auch gezielte
Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser als Tatbestände für diese Listung aufgenommen hat. Im Juli 2011
wurde eine von Deutschland erarbeitete Sicherheitsratsresolution - 1998 ({0}) - einstimmig angenommen.
Damit hat Deutschland die internationalen Schutzmechanismen für Kinder und die Rolle der Vereinten Nationen insgesamt gestärkt. Ein solches Engagement wünsche ich mir in allen Gremien und auf allen Ebenen der
Vereinten Nationen.
Die Politik der Bundesregierung auf nationaler
Ebene steht in Widerspruch zu ihrem Engagement auf
UN-Ebene. Hierzulande verletzt die Bundesregierung
ihre Fürsorgepflicht gegenüber traumatisierten ehemaligen Kindersoldaten. Das hat auch der für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und das Fakultativprotokoll zuständige UN-Ausschuss für die Rechte des
Zu Protokoll gegebene Reden
Kindes in seinen Empfehlungen an Deutschland kritisiert. Nach dem Asylverfahrensgesetz werden geflohene
Kindersoldaten ab dem vollendeten 16. Lebensjahr als
verfahrensmündig angesehen und in nicht kindergerechte Asylverfahren gedrängt. Ihr Zugang zur medizinischen Versorgung und zu Bildung ist eingeschränkt. Da
ehemalige Kindersoldaten nicht als politisch Verfolgte
angesehen werden, erhalten sie keine Asylberechtigung.
Oft droht geflohenen Kindersoldaten in Deutschland
Abschiebehaft. Diese Verhältnisse sind peinlich und widersprechen dem Geist der UN-Kinderrechtskonvention
und des Zusatzprotokolls.
Die gesetzlichen Vorgaben, insbesondere des Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetzes, müssen an die
UN-Kinderrechtskonvention angepasst werden. Auch
zwei Jahre nach Rücknahme des deutschen Vorbehalts
zur UN-Kinderrechtskonvention ist hier noch nichts geschehen. Die Bundesjustizministerin hat am 5. Mai 2010
erklärt, es gebe „keine legislative Handlungsnotwendigkeit und keine Verpflichtung, Gesetze zu ändern ... Unsere Situation entspricht vielmehr den Forderungen der
Konvention.“ ({1})
Ich sehe das anders, und ich bin da nicht allein. Laut
Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention ist „bei allen
Maßnahmen, die Kinder betreffen, … das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen“. In diesem Sinne sollen die Vertragsstaaten „in größtmöglichem Umfang …
die Entwicklung des Kindes“ gewährleisten ({2}) und „das Recht des Kindes auf das erreichbare
Höchstmaß an Gesundheit“ ({3}) sowie das Recht
auf Bildung anerkennen ({4}). Flüchtlingskinder sollen „angemessenen Schutz … bei der Wahrnehmung der
Rechte“ erhalten, zu denen sich die Vertragsstaaten verpflichtet haben ({5}).
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, die Rekrutierung als Kindersoldat endlich als Asylgrund anzuerkennen, das Kindeswohl als vorrangiges Prinzip im
Asyl- und Aufenthaltsrecht zu verankern, die Verfahrensmündigkeit im Asylverfahren auf 18 Jahre heraufzusetzen, Minderjährige in kindergerechten Einrichtungen
unterzubringen und besonders zu betreuen, das Asylbewerberleistungs- und das Aufenthaltsgesetz zu ändern,
damit das Recht auf Schulbildung und Gesundheit für
alle in Deutschland lebenden Kinder gilt, und die Abschiebungen von minderjährigen ehemaligen Kindersoldaten zu unterlassen.
Außerdem erwarte ich von der Bundesregierung, dass
sie das 3. Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, das am 19. Dezember 2011 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde und ein Individualbeschwerdeverfahren vorsieht, rasch zeichnet und
ratifiziert. Damit sollte sie nicht so lange warten wie mit
dem Zusatzprotokoll zum Sozialpakt, dessen Ratifizierung sie seit dem 24. September 2009 vor sich herschiebt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8491 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Opfer des Brustimplantate-Skandals unterstützen - Keine Kostenbeteiligung bei medizinischer Notwendigkeit
- Drucksache 17/8581 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen. Es sind die Reden von Dietrich Monstadt, CDU/
CSU, Dr. Marlies Volkmer, SPD, Mechthild Rawert,
SPD, Jens Ackermann, FDP,
({0})
Harald Weinberg, Die Linke, und Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir debattieren heute die Konsequenzen des Skandals
um die gefährlichen Brustimplantate des französischen
Herstellers PIP. Dabei muss unser Augenmerk nicht nur
auf die Minderung des bereits eingetretenen Schadens
gerichtet sein. Vielmehr gehört es zur Verantwortung des
Gesetzgebers, zu prüfen, ob sich aus dem Geschehen
Verbesserungsansätze im Medizinprodukterecht ableiten
lassen, die ähnlichen Fällen in der Zukunft vorbeugen
oder diese rascher entdecken lassen.
Bevor ich über Konsequenzen spreche, wollen wir die
Situation betrachten, wie sie sich nach heutigem Kenntnisstand darstellt. In seiner ersten Sitzung im neuen Jahr
hat sich der Gesundheitsausschuss des Bundestages eingehend damit befasst. Dabei hat das Bundesgesundheitsministerium einen ausführlichen Bericht vorgestellt, der den bislang ermittelten Sachstand sowie die
Maßnahmen und Empfehlungen der zuständigen Behörden des In- und Auslands enthält.
Medizinprodukte werden, je nach Zweckbestimmung
der Produkte und dem Gefährdungspotenzial für den
Patienten, den vier Risikoklassen I, IIa, IIb oder III zugeordnet. Brustimplantate gehören wie etwa auch Herzklappen zur Klasse III, es handelt sich um sogenannte
Hochrisikoprodukte, für die ein höchstmögliches Sicherheitsniveau erforderlich ist.
Kern des Geschehens ist ein bislang ungekanntes
Maß an krimineller Energie aufseiten der Herstellerfirma. Der Hersteller PIP hat mit erheblicher krimineller Energie etwa 75 Prozent seiner Produktion mit einem
nicht der CE-Zertifizierung des Originalproduktes entsprechenden Material vermarktet. Der Benannten Stelle
TÜV Rheinland wurden bei Audits die einwandfreien
25 Prozent der Produktion vorgeführt. Unbestritten ist,
dass der französische Hersteller sich vorsätzlich krimiDietrich Monstadt
nell verhalten und in Betrugsabsicht gegen Gesetze und
andere Vorschriften verstoßen hat.
Was bedeutet dieses kriminelle Handeln hinsichtlich
des Inverkehrbringens von Produkten der Klasse III?
Eine andere Regelung des Marktzugangs - etwa ein
behördliches Zulassungsverfahren anstelle des seit
25 Jahren praktizierten New Approach - hätte dieses
vorsätzliche kriminelle Verhalten nicht mit Sicherheit
verhindert. Denn auch einer Zulassungsbehörde hätte
der Hersteller eine gefälschte Dokumentation und eine
unbedenkliche Probe vorlegen können. Die Problematik
liegt daher nicht in den Voraussetzungen für das erstmalige Inverkehrbringen, sondern in der Kontrolle der laufenden Produktion und der Überwachung der Anwendung.
Der TÜV Rheinland als Benannte Stelle sowie deutsche und französische Behörden haben sich im Konformitätsbewertungsverfahren bzw. bei der Überwachung,
soweit ich es übersehen kann, korrekt verhalten.
Nach der Information durch die französische Behörde
hat das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte dem jeweiligen Informationsstand entsprechend gehandelt. Die gegenwärtige Empfehlung des
BfArM lautet, Implantate des Herstellers PIP in jedem
Fall entfernen zu lassen.
Natürlich wird jetzt die Frage gestellt, ob man das
Gefährdungspotenzial der betroffenen Brustimplantate
nicht früher hätte erkennen können.
Die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung,
MPSV, verpflichtet unter anderem Händler, Ärzte und
Krankenhäuser, die „Medizinprodukte beruflich oder
gewerblich betreiben oder anwenden“, zur Meldung von
„Vorkommnissen“. Die Definition eines „Vorkommnisses“ steht in § 2 Nr. 1 MPSV: „Vorkommnis“ ist „eine
Funktionsstörung, ein Ausfall oder eine Änderung der
Merkmale oder der Leistung oder eine Unsachgemäßheit der Kennzeichnung oder der Gebrauchsanweisung
eines Medizinprodukts, die unmittelbar oder mittelbar
zum Tod oder zu einer schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten, eines
Anwenders oder einer anderen Person geführt hat, geführt haben könnte oder führen könnte ...“
Die Ruptur eines Brustimplantats, das Auslaufen bzw.
Ausschwitzen des Silikongels und die gesundheitlichen
Folgen, die eine operative Entfernung erforderlich machen, genügen der Definition eines „Vorkommnisses“.
Sie müssen daher entsprechend den Regelungen der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung gemeldet werden.
Dennoch wurden in Deutschland bis zum 22. Dezember 2011 nur insgesamt 19 Fälle von Rupturen gemeldet,
was bei geschätzten 10 000 Implantationen auf ein hohes Meldedefizit hindeutet. Die Verringerung dieses
Meldedefizites dient mittelbar dem Schutz von Patienten
und gegebenenfalls Anwendern, da die Bundesoberbehörde frühere und konkretere Produktwarnungen aussprechen kann.
Daher ist zur effektiveren Durchsetzung der Meldepflichten die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung um eine Bußgeldvorschrift zu ergänzen, die sich an
der entsprechenden Vorschrift der GCP-Verordnung
orientieren sollte.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Überwachung
durch die Landesbehörden, die eben nicht erst dann tätig werden sollen, wenn bereits zahlreiche Menschen gesundheitlich geschädigt worden sind. Von daher ist es
richtig und begrüßenswert, dass nach der neuen, im Dezember vom Bundeskabinett verabschiedeten Medizinprodukte-Durchführungsvorschrift, MPGVwV, die zuständigen Behörden anlassunabhängig zu inspizieren
haben. Dabei können beispielsweise bei Herstellern,
Handel und Gesundheitseinrichtungen Stichproben von
Medizinprodukten genommen werden.
Auch sollten Benannte Stellen zu unangekündigten
Fertigungsstättenkontrollen mit Stichprobenziehungen
sowohl im Fertigungsprozess als auch bereits vermarkteter Produkte verpflichtet werden. Damit dies für in der
ganzen EU verkehrsfähige Produkte Wirkung entfaltet,
bedarf es klarer Vorgaben im europäischen Recht.
Darüber hinaus wäre es sinnvoll, im europäischen
Recht stichprobenartige Kontrollen direkt vor der Anwendung bzw. der Implantation des Medizinproduktes
vorzuschreiben. Solche Kontrollen sind bei Arzneimitteln seit 1968 vorgesehen. Apotheker sind verpflichtet,
Fertigarzneimittel stichprobenweise zu überprüfen und
das Ergebnis ist in einem Prüfprotokoll festzuhalten.
Nach geltendem europäischen Recht kann der Hersteller eines Medizinproduktes der Klasse III zwischen
zwei Konformitätsbewertungsverfahren wählen. Einerseits gibt es die Baumusterprüfung, wobei die Benannte
Stelle die Produktdokumentation prüft und auch am Produkt selbst Prüfungen durchführt. Im Gegensatz dazu
wird bei der Konformitätserklärung das Produkt von der
Benannten Stelle nur anhand des vom Hersteller eingereichten Dossiers bewertet. Zusätzlich erfolgt eine regelmäßige Überprüfung des Qualitätssicherungssystems
des Herstellers durch die Benannte Stelle. Wichtig ist,
dass bei der Konformitätserklärung das Produkt selbst
von der Benannten Stelle nicht geprüft wird. Im Interesse
der Sicherheit von Patienten und der Vertrauenswürdigkeit europäischer Medizinprodukte sollte jedoch die
Baumusterprüfung für die Klasse III obligatorisch werden. Dafür ist die Änderung europäischen Rechts erforderlich.
Schließlich erscheint es unerlässlich, dass nicht nur
die Benannten Stellen zur Meldung von Vorkommnissen
an die zuständigen Behörden verpflichtet sind, sondern
auch umgekehrt die Benannten Stellen von den Behörden unterrichtet werden, falls eines der von ihnen bewerteten Produkte auffällig wird.
Der Vorschlag im Antrag der Linken verlangt die Abschaffung von § 52 Abs. 2 SGB V, der Kostenbeteiligung
bei Folgeerkrankungen medizinisch nicht indizierter
Schönheitsoperationen. Dies ist eine alte Position der
Linken, die niemanden überraschen wird. Vor allem
aber ist sie als einzige Konsequenz aus den durch den
Zu Protokoll gegebene Reden
PIP-Skandal bekanntgewordenen Problemen völlig ungenügend. Denn schließlich kann der Lerneffekt nicht
nur darin bestehen, in Zukunft die Opfer von kriminellem Handeln und teilweisen Insuffizienzen des Systems
zulasten der gesetzlichen Krankenkassen zu behandeln.
Es kommt doch vielmehr darauf an, solchem kriminellen
Handeln für die Zukunft durch zielgenaue Nachbesserungen etwa bei Kontroll-, Informations- und Meldepflichten vorzubeugen.
Es bleibt deshalb dabei: Bei gesetzlich Krankenversicherten übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Explantation. Soweit die ursprüngliche Implantation aus
medizinischen Gründen erfolgt war, etwa nach einer
Brustkrebsbehandlung, gibt es keine Kostenbeteiligung
der Patientin.
Wenn jedoch die ursprüngliche Implantation nicht
aus medizinischen Gründen, sondern als Schönheitsoperation vorgenommen wurde, müssen die Kassen die Betroffenen in angemessener Höhe an den Kosten beteiligen. Für diese Kostenbeteiligung haben sich die
Krankenkassen auf eine Beteiligung von 50 Prozent bei
Einhaltung von Zumutbarkeitsobergrenzen verständigt,
die je nach Einkommen und Kinderzahl zwischen 1 und
7 Prozent des Jahreseinkommens liegen.
Im Übrigen trägt hinsichtlich von Schönheitsoperationen die Begründung zu § 52 Abs. 2 SGB V im GKVWettbewerbsstärkungsgesetz unverändert: „Da sich
Versicherte, die derartige Maßnahmen durchführen lassen, aus eigenem Entschluss gesundheitlichen Risiken
aussetzen, ist es nicht sachgerecht, diese Risiken durch
die Versichertengemeinschaft abzudecken. Hier ist von
den betroffenen Versicherten die Übernahme von Eigenverantwortung einzufordern.“
Ich habe einige Ansätze vorgestellt, die geeignet sind,
ähnlichen Fällen wie dem PIP-Skandal in der Zukunft so
weit wie möglich vorzubeugen. Wir werden in der christlich-liberalen Koalition und in Zusammenarbeit mit unseren Partnern auf EU-Ebene die geeigneten Umsetzungswege sorgfältig prüfen.
Wir sind uns hier alle einig, dass den durch den sogenannten Brustimplantateskandal geschädigten Frauen
schnell und unbürokratisch geholfen werden muss. Von
den fehlerhaften, aus Industriesilikon hergestellten Implantaten geht eine direkte Gefahr für die Gesundheit
der Betroffenen aus. Anfang Januar 2012 hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aufgrund der bestehenden Risiken empfohlen, alle betroffenen Implantate zu entfernen.
Und die Risiken sind offensichtlich: Das vom Hersteller verwendete billige Industriesilikon ist nicht nur besonders reißanfällig; selbst ohne Risse können die Implantate gesundheitsgefährdende Stoffe an den Körper
abgeben. Diese Stoffe verursachen schmerzhafte Entzündungen und können auch in die Lymphknoten diffundieren, so kann es zu gesundheitlichen Schäden außerhalb der Brust kommen. Es gibt auch Hinweise darauf,
dass sich dadurch die Gefahr einer Krebserkrankung erhöht.
Das Entfernen oder Ersetzen der gefährlichen Implantate ist hierbei die einzig sichere Lösung, da sich
auch auf bildgebenden Verfahren Risse oder ausgetretene Stoffe nicht erkennen lassen.
Wir als SPD-Fraktion sprechen uns in diesem besonderen Fall für die vollständige Übernahme der entstehenden Kosten durch die gesetzliche Krankenversicherung aus, das heißt also der Kosten, die bei der
Entfernung der Implantate und einer möglicherweise
notwendigen medizinischen Behandlung anfallen, auch
wenn ursprünglich eine Schönheitsoperation durchgeführt wurde. Einige Krankenkassen haben diese Verfahrensweise bereits zugesagt. Wir appellieren an die übrigen, es im Interesse ihrer Versicherten ebenfalls zu tun.
Hier sind Frauen zu Opfern eines betrügerischen Unternehmens geworden, das ohne Rücksicht auf die Gesundheit von Menschen Profite machen wollte. Jahrelang
wurden die zuständigen Behörden und Kontrolleure bewusst getäuscht. Keine der betroffenen Frauen hatte im
Vorfeld dieses Eingriffs ahnen können, dass für sie durch
kriminelle Machenschaften derartige gesundheitliche
Risiken entstehen. Leider kann der französische Hersteller der Implantate nicht zur finanziellen Wiedergutmachung herangezogen werden, da er Insolvenz angemeldet hat.
Möglicherweise hätten unangekündigte schärfere
Kontrollen des Medizinprodukteherstellers die kriminellen Machenschaften verhindern oder zumindest einschränken können.
Die Bundesregierung blieb bei dem ganzen Fall erschreckend untätig, das Bundesgesundheitsministerium
sieht nach eigenen Aussagen keinen Handlungsbedarf.
Das steht in Kontinuität dazu, dass erst mehr als zwei
Jahre nach der letzten Novelle des Medizinproduktegesetzes, nämlich im Dezember letzten Jahres, die dazugehörigen allgemeinen Verwaltungsvorschriften durch das
BMG erlassen wurden. Diese Verwaltungsvorschriften
regeln unter anderem die Überwachung der Medizinprodukte und die Inspektionen bei den Herstellern und würden unangemeldete Kontrollen ermöglichen. Sie sollen
nach dem Willen des BMG erst 2013 in Kraft treten.
Hier werden dringend notwendige Änderungen verschleppt. Die Konsequenzen haben jedoch alleine die
durch fehlerhafte Medizinprodukte geschädigten Menschen zu tragen.
Neben den Kontrollen ist im Bereich der Medizinprodukte auch wesentlich mehr Transparenz nötig. Transparenz heißt, dass die Aufklärung der Patientinnen und
Patienten vor Eingriffen über mögliche Folgekosten und
Komplikationen verbessert werden muss. Wenn Medizinprodukte verwendet werden, ist auch über diese eine
Aufklärung geboten - ein wichtiger Punkt, den ich im
Referentenentwurf zum Patientenrechtegesetz noch vermisse.
Transparenz heißt auch, dass klar sein muss, bei wem
wo welche Implantate eingesetzt wurden. Wir wissen ja
nicht einmal, wie viele Frauen sich jedes Jahr für einen
Zu Protokoll gegebene Reden
derartigen Eingriff unters Messer legen; die genannten
Zahlen schwanken zwischen 20 000 und 60 000. Weiterhin weiß niemand, was für Implantate jeweils verwendet
worden sind.
Das Medizinproduktegesetz sieht in der Sicherheitsplanverordnung vor, dass essenzielle Daten, wie Namen
der Patientinnen und Patienten, bei denen Medizinprodukte implantiert wurden, 20 Jahre lang aufzubewahren
sind. Es soll sichergestellt werden, dass im Falle eines
Rückrufs aufgrund eines schadhaften Implantates die
Betroffenen identifiziert und benachrichtigt werden
müssen. Wir haben dafür auch ein Meldesystem. Doch
die gesamte Kette funktioniert offensichtlich überhaupt
nicht: Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte lagen nach letzten Informationen gerade mal
25 Meldungen über schadhafte Implantate vor. Das ist
natürlich viel zu wenig angesichts der schätzungsweise
7 500 in Deutschland Betroffenen.
Was im Bereich der Medizinprodukte zwingend gebraucht wird, ist ein Zentralregister, wie es die SPD
schon seit langer Zeit fordert - zuletzt im Rahmen eines
Patientenrechtegesetzes im letzten März -, und die Meldepflicht für schadhafte Medizinprodukte. Nur durch
diese Maßnahmen kann überhaupt eine Nachverfolgbarkeit und eine zeitnahe Information der Patientinnen und
Patienten erreicht werden. Bei den Mängeln mit Endoprothesen im Knie- und im Hüftbereich haben wir gesehen, dass sich mögliche Nebenwirkungen oft erst im Einsatz zeigen und sich nicht durch Zulassungsverfahren
ausschließen lassen.
All dies findet sich im Antrag der Linke-Fraktion
nicht wieder. Die vorgebrachten Vorschläge leisten
nichts zur Lösung der angesprochenen Probleme.
Die Fraktion Die Linke reagiert mit ihrem Antrag
„Übernahme der Behandlungskosten infolge des Brustimplantate-Skandals“ auf einen Skandal, der tagtäglich
größere Dimensionen annimmt. Es geht mittlerweile nur
noch vordergründig, quasi anlassbezogen, um die mit
minderwertigem Industriesilikon hergestellten Brustimplantate der französischen Firma PIP, Poly Implant
Prothèse, bzw. um die baugleichen Implantate der niederländischen Firma Rofil Medical Nederland B.V. Seit
dem 31. Januar warnt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nun auch vor den titanbeschichteten Implantaten des Typs TiBREEZE der Nürnberger Firma GfE Medizintechnik GmbH. Ich bin
überzeugt, die Liste der Unternehmensnamen wird sich
noch erweitern.
Es geht um einen aus Profitgier mit viel krimineller
Energie verursachten Skandal, der bei Hunderttausenden Frauen zur Angst führt, ein erhöhtes Krebsrisiko zu
haben. Es geht aber auch um den Skandal, dass unsere
nationalen und europäischen Gesetze nicht ausreichen,
um die Sicherheit von Patientinnen zu gewährleisten. Es
geht um einen Skandal, der mit den unterschiedlichsten
Klagepunkten zu unsäglich vielen Gerichtsverfahren
- viele davon auch grenzüberschreitend - führen wird.
Die Juristen haben zu tun - doch was ist mit den betroffenen Frauen, was ist mit ihrem gesundheitlichen Risiko,
was mit ihren Rechten auf Schadensersatzansprüche,
was mit der Übernahme der auf sie zukommenden Kosten?
Die Angst der Frauen ist losgelöst davon, ob es sich
um eine medizinisch indizierte oder um eine ästhetische
Operation, Schönheitsoperation, handelt, ob diese in
Deutschland, in Europa oder beispielsweise Israel oder
Brasilien durchgeführt wurde. Sie alle müssen sich auf
jeden Fall mit der Frage einer weiteren Operation, der
Übernahme der Kosten für die medizinische Behandlung
- Entfernung des Implantats, gegebenenfalls Erneuerung eines Implantats - und den Kosten für das Produkt
beschäftigen.
Ausdrücklich bedanken möchte ich mich bei all den
Ärztinnen und Ärzten, den Kliniken und Krankenkassen,
die sich frühzeitig mit den betroffenen Frauen in Verbindung gesetzt haben und ihnen von sich aus Unterstützung gaben - im Sinne einer guten medizinischen Beratung und Betreuung. Mich empört, dass dies 2011 nur in
Einzelfällen geschehen ist.
Der Presse war zu entnehmen, dass das Bundesministerium nach der Empfehlung des Bundesinstituts für
Arzneimittel und Medizinprodukte, Billig-Brustimplantate sicherheitshalber entfernen zu lassen, die Kassen in
der Pflicht sieht. Diese Meinung gelte grundsätzlich sowohl für aus medizinischen als auch aus ästhetischen
Gründen eingesetzte Implantate. Gesundheitsexpertinnen von Verbraucherzentralen sind der Meinung, dass
die nach Schönheitsoperationen ansonsten gesetzlich
festgelegte Eigenbeteiligung in diesem Ausnahmefall
nicht gerechtfertigt ist. Schließlich hätte keine der betroffenen Frauen mit der kriminellen Energie von PIP
rechnen können.
Die durch den vorgelegten Antrag der Linksfraktion
zu führende Debatte begrüße ich. Ich finde aber die damit verbundenen Forderungen als zu kurz gesprungen.
Gerne greife ich zu einem anderen Zeitpunkt die schon
zu Zeiten der Großen Koalition geführten Debatten zu
Schönheitsoperationen, Tattoos und Piercing etc. wieder
auf. Als damalige Berichterstatterin bedauere ich es
noch heute, dass der erarbeitete Gesetzentwurf hierzu
gegen Ende der Legislaturperiode seitens der CDU/
CSU-Fraktion dann doch abgelehnt wurde. Die SPDFraktion hatte sowohl Maßnahmen zum Komplex „kritischer Umgang mit Schönheitsoperationen“ vorgesehen
als auch im Interesse von Patientinnen und Patienten,
von Verbraucherinnen und Verbrauchern Lücken in den
Haftungsketten schließen wollen. Eines muss uns allen
klar sein: Jede Operation, ob mit medizinischer Indikation oder als Schönheitsoperation durchgeführt, birgt
gesundheitliche Risiken.
Von den minderwertigen Brustimplantaten sind allein
europaweit Hunderttausende Frauen betroffen. Um für
Deutschland zu klären, wie viele Frauen Trägerinnen
von schadhaften Brustimplantaten sind, läuft seit dem
30. Januar eine bundesweite Abfrage. Erste Ergebnisse
sollen Ende Februar vorliegen. Ob „nur“ nach in
Deutschland erfolgten Operationen gefragt wird oder
ob die vielen Frauen, die die Operation im Ausland haZu Protokoll gegebene Reden
ben vornehmen lassen, auch erfasst werden sollen, ist
mir nicht bekannt.
Die Bundesregierung zeichnet sich nicht durch besondere Schnelligkeit hinsichtlich Patientinneninformation und Patientinnensicherheit aus; das hat auch die
Antwort der Bundesregierung auf meine Ende Dezember
gestellte schriftliche Frage an die Bundesregierung gezeigt. Schon mindestens seit März 2010 ist dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und den zuständigen
Überwachungsbehörden der Länder bekannt, dass seit
Jahren fehlerhafte Implantate auf dem Markt gewesen
sind. Aber erst vor wenigen Wochen hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, eine
staatliche Aufsichtsbehörde, die Entfernung dieser
Brustimplantate empfohlen. Viele - auch die zuständigen ärztlichen Fachgesellschaften - haben also von einem Risiko für die Frauen gewusst - am wenigsten aber
die Frauen selbst, die Trägerinnen dieser Brustimplantate. Staatliche Stellen haben sich hinsichtlich der Aufklärung und des Informationsflusses unter Einbeziehung
der Patientinnen also ebenso wenig mit Ruhm bekleckert
wie viele Fachgesellschaften.
Nur mehr als zögerlich wird nun sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene über Verschärfungen gesetzlicher Vorgaben für die Zulassung von Medizinprodukten
als auch für die entsprechenden Sicherheitskontrollen
diskutiert. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert schon
seit langem eine bessere, vor der Zulassung von unabhängigen wissenschaftlichen Stellen vorzunehmende Risiko-Nutzen-Bewertung von Medizinprodukten und ein
verpflichtendes Register unter anderem für Hochrisikoprodukte.
Ich fordere die Bundesregierung, insbesondere den
Bundesminister für Gesundheit, Daniel Bahr, und die
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ilse Aigner,
auf, ihr vorgelegtes Patientenrechtegesetz zu überarbeiten, damit dieses tatsächlich zu einer Stärkung der medizinischen, aber auch haftungsrechtlichen Rechte von
Patientinnen und Patienten führt, auf nationaler und
EU-Ebene durch gesetzliche Verschärfungen die Sicherheit von Medizinprodukten vor ihrer Zulassung zu erhöhen und durch schärfere Qualitäts- und Sicherheitskontrollen, unter anderem durch zusätzliche unangemeldete
Inspektionen, auch den Produktionsprozess besser zu
kontrollieren. Ich erinnere noch einmal: Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 2010 in ihrem Antrag
„Für ein modernes Patientenrechtegesetz“, Drucksache
17/907, gefordert, das Medizinproduktegesetz weiterzuentwickeln.
Ich hoffe im Interesse der Patientinnen und Patienten
sehr, dass die Bundesregierung den Skandal um die
Firma PIP zum Anlass nimmt, sich jetzt endlich in diesem Sinn zu engagieren und sowohl nationale als auch
europäische Regelungen für Zulassungsverfahren für
Medizinprodukte auf den Weg zu bringen.
Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis die Linkspartei versucht, auf populistische Art und Weise politisches Kapital aus dem Skandal um mangelhafte Brustimplantate zu schlagen. Auch wenn die Antragsteller
hier suggerieren, es ginge ihnen um die betroffenen
Frauen, handelt es sich um nichts anderes als ein böses
Spiel mit ihren Ängsten und Sorgen. Zudem schüren Sie
mit Ihrem Antrag Hoffnungen, die Sie niemals erfüllen
werden.
Es handelt sich bei dem Skandal um die fehlerhaften
Brustimplantate schlichtweg um eine hochkriminelle
Handlung ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Trägerinnen der minderwertigen Brustimplantate. Diesbezüglich ist die Aufarbeitung dieses Skandals zunächst eine
Frage des Strafrechts. Ich wünsche mir, dass die französischen Strafgerichte hier ein Zeichen setzen, das zukünftig andere davon abhält, aus reinem Gewinntrieb
die Gesundheit von Tausenden Menschen aufs Spiel zu
setzen.
Dieser Skandal muss uns veranlassen, zu überprüfen,
was bei uns besser gemacht werden muss, um in Zukunft
die Wahrscheinlichkeit solch krimineller Handlungen zu
verringern oder diese früher aufzudecken. Schnellschüsse aus der Hüfte, wie sie im Januar an der Tagesordnung waren, helfen uns da nicht weiter. Bei der
Aufarbeitung des Skandals zählt Gründlichkeit vor
Schnelligkeit. Es muss jedoch überprüft werden, inwieweit in der Zulassung und Kontrolle von Medizinprodukten Verbesserungen notwendig sind. Mich überraschte,
dass es keinerlei unangekündigte Kontrollen bei den
Herstellern gab. Hier sehe ich einen Ansatzpunkt zur zukünftigen Vermeidung solcher Delikte. Wir dürfen
jedoch nicht zulassen, dass durch eine Überbürokratisierung der Zulassungs- und Kontrollverfahren medizinische Innovationen nicht zügig zu den Patienten kommen. Denn wir müssen uns vor Augen führen, dass der
Primärzweck medizinischer Produkte - dazu gehören
eben auch Brustimplantate - nicht die Verschönerung
des Körpers ist, sondern das Lindern von menschlichem
Leid und Schmerzen.
Zurück zum Antrag der Linkspartei. Der Grund, seinerzeit mit dem § 52 Abs. 2 SGB V die Selbstverschuldensregelung einzuführen, war der, mehr Eigenverantwortung im System zu implementieren bzw. diese zu
verdeutlichen. Der Passus, den Sie streichen wollen, ist
eigentlich logische Konsequenz aus § 1 Satz 2 SGB V,
der verdeutlicht, dass die Versicherten für ihre Gesundheit mitverantwortlich sind. Zu dieser Mitverantwortung
gehört auch, unnötige gesundheitliche Risiken zu vermeiden.
Durch Piercing, Tätowierungen oder nicht medizinisch indizierte Schönheitsoperationen, wie zum Beispiel Brustvergrößerungen, entstehen oft gravierende
Gesundheitsstörungen, die erhebliche Kosten für die Solidargemeinschaft der Versicherten verursachen können.
Da sich Versicherte diesen gesundheitlichen Risiken aus
eigenem Entschluss aussetzen, ist es nicht gerecht, diese
Risiken durch die Solidargemeinschaft der Versicherten
abzudecken. Die Krankenkassen haben sie daher an den
Behandlungskosten angemessen zu beteiligen und Krankengeld gegebenenfalls ganz oder teilweise zu versagen
oder zurückzufordern. Die Einforderung von EigenverZu Protokoll gegebene Reden
antwortung der betroffenen Versicherten ist nicht nur
gerecht, sondern auch sozial.
Dementsprechend ist das Anliegen des vorliegenden
Antrags zutiefst unsozial. Mit Ihrem Antrag wollen Sie,
dass auch Geringverdiener, Rentner oder Arbeitslose,
denen wir weder Praxisgebühr noch andere Zuzahlungen ersparen, mit ihren Beiträgen die Kosten für verpfuschte ästhetische Eingriffe bei Menschen, die zum
Beispiel mit ihrem Einkommen an der Beitragsbemessungsgrenze liegen, finanzieren. Überlegen Sie mal, wie
Sie das diesen Menschen erklären wollen.
Dass Ihnen diese Erklärung und die Legitimation für
einen solch unsozialen und unsolidarischen Antrag
schwerfällt, merkt man der dünnen Begründung an. Ihr
Verweis auf die privaten Krankenversicherungen zielt
ins Leere. Wenn wir jetzt beginnen, den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung dem Leistungsspektrum der privaten anzupassen, werden uns die
Kosten zukünftig um die Ohren fliegen. Sie vergessen
dabei auch, zu erwähnen, dass auch die Beihilfe die
Kosten des Ausbaus des Implantats im Regelfall nicht
übernimmt, wie der Bericht der Bundesregierung zu den
fehlerhaften Brustimplantaten ergab.
Zuweilen frage ich mich beim Lesen der Begründung,
ob ein Karnevalsscherz oder eine Büttenrede aus Versehen den Weg in Ihre parlamentarischen Initiativen gefunden hat. Sie wollen doch nicht ernsthaft das medizinische Risiko von nicht medizinisch indizierten Eingriffen
mit denen des Tragens hochhackiger Schuhe oder denen
des Fahrradfahrens oder Sporttreibens vergleichen? Bei
den beiden Letzteren steht einem überschaubaren Risiko
ein erheblicher gesundheitlicher Nutzen gegenüber. Das
ist bei Piercing, Tätowierungen und nicht notwendigen
Schönheitsoperationen nicht der Fall.
Sicherlich ist es bedauerlich für betroffene Frauen,
wenn sie neben der gesundheitlichen Schädigung oder
der Sorge davor auch noch einen finanziellen Schaden
durch das fehlerhafte Implantat haben. Wir reden hier
jedoch nicht über Summen, die die Betroffenen in die
Privatinsolvenz stürzen. Laut den Empfehlungen der
Verbände der Krankenkassen zur Beteiligung an den
Folgekosten medizinisch nicht indizierter Eingriffe sollen die Krankenkassen die finanzielle Situation ihrer
Mitglieder berücksichtigen. Je weniger die Betroffenen
an Einkommen zu Verfügung haben und je mehr Familienmitglieder von diesem Einkommen versorgt werden
müssen, desto mehr vermindert sich die Selbstbeteiligungsquote.
Was das konkret bedeutet, wird am folgenden Beispiel
deutlich: Eine Frau aus einer dreiköpfigen Familie mit
einem Jahreseinkommen von 30 000 Euro würde mit
nicht mehr als 900 Euro an den Folgekosten beteiligt.
Wäre sie alleinstehend mit diesem Einkommen, wären es
1 500 Euro. Das sind aus meiner Sicht Beträge, die in
Anbetracht des Jahreseinkommens durchaus tragbar
sind. Wer einen hohen vierstelligen Betrag für die Vergrößerung der Brust aus rein ästhetischen Gründen aufwendet, kann auch einen erheblich geringeren Betrag
aufwenden, wenn sich aus diesem freiwilligen Eingriff
Komplikationen ergeben.
Der Antrag der Linken ist abzulehnen, da er weder
die richtigen Schlüsse aus dem Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate zieht noch eine nachhaltige Hilfeleistung für die betroffenen Frauen anbietet. Nicht
Geld ist für die Betroffenen das Problem, sondern Ungewissheit über und Angst vor Folgeschäden. Hier sollten
entsprechende Angebote der Aufklärung und Beratung
ansetzen, damit die betroffenen Frauen nicht allein im
Regen stehen gelassen werden.
Insgesamt ist zu überlegen, inwieweit wir den Trend,
den Menschen als modellierbaren Körper zu betrachten,
eindämmen können. Insbesondere die Medien stehen in
der Pflicht, die Schönheitsideale, die sie verbreiten, zu
hinterfragen. Manchmal frage ich mich auch, ob jeder
Arzt, der solche Eingriffe durchführt, seine Patientinnen
umfassend über die Risiken berät und den Entschluss
zum Eingriff nicht zu selten hinterfragt.
Letztendlich liegt es aber in der Verantwortung jedes
Einzelnen, inwieweit er sich bestimmten Schönheitsidealen unterwirft und in welchem Maß er oder sie sich gesundheitlichen Risiken aussetzt. Zur Eigenverantwortung gehört dann auch, diese Risiken mitzutragen und
sie nicht in die Verantwortung der Solidargemeinschaft
zu legen.
Stellen Sie sich vor, Sie spielen in einer Hobbymannschaft auf dem Bolzplatz Fußball und brechen sich das
Bein. Wer kommt dann für die Behandlungskosten auf?
Die gesetzliche Krankenversicherung. Stellen Sie sich
vor, Sie fahren Auto, haben es eilig, beachten nicht die
Höchstgeschwindigkeit und verursachen einen Unfall.
Auch hier zahlt die gesetzliche Krankenversicherung
selbstverständlich Ihre Behandlung, auch wenn Sie an
dem Unfall selbst schuld waren. Gleiches gilt für die Behandlungskosten von Übergewichtigen, Rauchern, Menschen, die sich ungünstig ernähren, Radfahrern und Motorradfahrern, Kletterern, Menschen, die zu viel oder zu
wenig Sport machen oder nach Alkoholkonsum gestolpert und hingefallen sind. Sie sehen selbst: Diese Liste
könnte man noch sehr lange fortsetzen. Fast jeder gehört zu einer Gruppe, die selbst eine Verantwortung für
das eigene Leid trägt, und trotzdem zahlt die Kasse die
Rechnung.
Denn ein Grundprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dass sie nicht nach dem Schuldigen für
eine Verletzung oder Erkrankung fragt, sondern schlicht
nach dem Bedarf.
Es gibt aber mittlerweile drei Ausnahmen, bei denen
die Versicherten an den Kosten beteiligt werden: Erstens
bei Folgeerkrankungen von Tätowierungen, also Entzündungen oder Unverträglichkeiten. Man muss ja Tätowierungen nicht gut finden, aber immerhin 25 Prozent
der 16- bis 29-Jährigen haben Tätowierungen. Zweitens
bei Folgeerkrankungen von Piercings. Da sind es vor allem Minderjährige, die da an den Kosten beteiligt werden sollen, zumal nach einer 2008 veröffentlichten Studie über die Hälfte der Gepiercten unter 18 Jahren sind.
Ein Jugendparlament jedenfalls hätte einer solchen Diskriminierung von Gepiercten sicher nicht zugestimmt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und der dritte Bereich, wo Versicherte für ihr Verhalten an den Kosten beteiligt werden sollen, sind Schönheitsoperationen. Der PIP-Skandal war ja zu Recht
überall in den Medien zu finden. PIP, das war eine
Firma, die die Kontrollbehörden, die behandelnden Ärztinnen und Ärzte sowie die Patientinnen betrogen hat.
Das war kriminell; das muss man ganz klar sagen.
Den betrogenen Frauen nützt diese Feststellung jedoch wenig. Denn die Firma ist pleite, da ist nichts zu
holen. Sie haben diese Implantate - bestehend aus billigem und gefährlichem Industriesilikon und einer mangelhaften Hülle - im Körper. Die zuständigen Behörden
empfehlen, die Implantate zu entfernen. Das kostet Tausende Euro. Die übernimmt zwar die Krankenkasse. Sie
ist aber nach dem Selbstverschuldensparagrafen gezwungen, die Patientinnen an den Kosten zu beteiligen;
denn sie sind ja selbst schuld, dass die Implantate überhaupt eingesetzt wurden. Die Linke findet das falsch.
Niemand soll an den Kosten einer medizinisch notwendigen Behandlung beteiligt werden, schon gar nicht
Betrugsopfer. Der Fall PIP zeigt eindrücklich, wie absurd diese Regelung ist. Deswegen fordern wir in dem
Antrag, der hier zur Debatte steht, dass diese Regelung
abgeschafft wird.
Eines gilt es dabei aber zu bedenken: Brustimplantate
beispielsweise haben, wie viele Implantate, eine begrenzte Haltbarkeit. Ist diese überschritten, zum Beispiel zehn Jahre nach der Operation, spätestens aber
wenn das Implantat defekt ist, dann wird es medizinisch
notwendig, es zu tauschen und dann müsste im Zweifel
die gesetzliche Krankenversicherung die Entnahme oder
gar den Austausch zahlen. Wir wollen aber nicht, dass
die Implantatehersteller an einer einmal auf eigene Kosten operierten Frau lebenslang auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung neue Implantate einsetzen
können und damit Profit machen. Die gesetzliche Krankenversicherung darf nicht zum Finanzier der Schönheits-OP-Industrie werden.
Deshalb fordern wir Regelungen, die dazu führen,
dass weder die Frau noch die gesetzliche Krankenversicherung für Folgeoperationen aufkommen muss. Denkbar wäre da zum Beispiel, dass die Hersteller und die
Ärzteschaft eine lebenslange Garantie gewährleisten
müssen, die über eine Versicherung abgesichert ist. Es
gibt sogar schon einen Hersteller, der das anbietet, wie
wir im Ausschuss gehört haben. Das wäre ein Anreiz,
hochqualitative Produkte herzustellen, die lange halten.
Zurück zur Selbstverschuldensregelung: Aus unserer
Sicht widerspricht sie dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes und ist damit verfassungswidrig. Das will ich
begründen: Die Regelung sollte bei ihrer Einführung
2007 alle medizinisch nicht notwendigen Körperveränderungen, wie zum Beispiel Tätowierungen, Piercings
oder Schönheitsoperationen, umfassen. 2008 merkte die
Große Koalition, dass damit ja auch jeder Ohrring gemeint wäre und schlimmstenfalls auch jeder Übergewichtige und jede Raucherin. Still und heimlich änderte
man den Paragrafen. Nun waren es nur noch diese drei
Gruppen, die belastet werden sollten. Das aber ist juristisch eine Ungleichbehandlung, die Art. 3 des Grundgesetzes widerspricht. Denn ein Gesetz darf nicht gleiche
Sachverhalte bevor- oder benachteiligen. Das tut das
Gesetz aber: Brandings, also das Einbrennen von Symbolen oder Schriftzeichen auf der Haut, Subdermals,
also Metalle, die unter die Haut eingebracht werden,
Cuttings, also bewusst herbeigeführte Schnittmuster,
oder auch Tongue Cutting, also das Aufspalten der
Zunge, damit sie amphibisch anmutet, sind mit Piercings
durchaus zu vergleichen oder sogar noch größere, spektakulärere und weniger gesellschaftlich übliche Techniken. Trotzdem zahlt hier die Kasse vollständig für Folgeerkrankungen. Das widerspricht dem Gleichheitsgebot.
Ebenso werden Kosten für die Behandlungen von
Entzündungen aufgrund eines Ohrrings wohl übernommen, und er zählt im Sinne des Selbstverschuldensparagrafen nicht als Piercing. Auch das widerspricht dem
Gleichheitsgebot. Wenn jemand lieber einen Augenbrauenring oder einen Ring in der Lippe mag, warum
sollte der dann bei der Krankenversicherung gegenüber
Ohrringträgern benachteiligt werden? Was man sich
auch fragen kann: Gilt diese Ausnahme eigentlich für
das ganze Ohr, also auch den Knorpel, oder aber nur für
das Ohrläppchen?
Und noch ein weiteres Problem spricht gegen den
Selbstverschuldensparagrafen. Damit die Kassen den
Patientinnen und Patienten überhaupt eine Rechnung
präsentieren können, muss der Arzt den Kassen mitteilen, dass der Patient zum Beispiel ein Genitalpiercing
hat. Ich meine, das geht eindeutig zu weit und geht niemanden außer den Arzt etwas an. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird hier verletzt. Selbst
wenn es möglich wäre, eine gleichheitskonforme Selbstverschuldensregelung zu schaffen, die die Linke generell
ablehnt, dann wäre immer noch die Verpflichtung des
Arztes zur Mitteilung an die Krankenkasse grundrechtswidrig.
Wenn dieser Antrag von einer Mehrheit des Hauses
abgelehnt wird, dann wäre zu wünschen, dass eine der
Tausenden Opfer des PIP-Skandals gegen diese Regelungen bis vor das Bundesverfassungsgericht klagt. Die
Aussicht auf Erfolg ist überaus gegeben.
Der Skandal um schadhafte Brustimplantate hat die
Tageszeitungen gefüllt, war Thema im Gesundheitsausschuss, die Bundesregierung hat - soweit es ihr möglich
war - auf die Fragen unserer Kleinen Anfrage geantwortet. Wer das hört, könnte das Gefühl haben, dass nun
alle Informationen auf dem Tisch liegen müssten. Aber
das ist noch lange nicht so. Dies zeigt, dass uns die Themen Brustimplantate, Schönheitsoperationen, Selbstverschuldensprinzip und Medizinprodukte noch einige Zeit
beschäftigen werden.
Zum Themenkomplex Medizinprodukte werden wir
Grünen in Kürze einen Antrag in den Bundestag einbringen. Bereits seit längerem habe ich auch gegenüber
Herstellern darauf hingewiesen, dass das CE-Kennzeichen bei hochspezialisierten und bei implantierbaren
Medizinprodukten nicht ausreicht. Wir fordern für implantierbare Medizinprodukte aus Hochrisikoklassen
Zu Protokoll gegebene Reden
eine an die Arzneimittel angelehnte Zertifizierung und
Nutzenbewertung. Nachdem Minister Bahr in ersten
Presseäußerungen rundherum ablehnte, das europäische Medizinprodukterecht zu aktualisieren, lesen sich
die Antworten auf unsere Kleine Anfrage sehr viel differenzierter. Dort liest man: verbindlichere Regelungen
für „Benannte Stellen“, unangekündigte Kontrollen der
Produkte und bessere Rückverfolgbarkeit. Ein Medizinprodukteregister und eine ausreichende Deckungsvorsorge in Schadensfällen werden nicht mehr rundweg abgelehnt. Das reicht uns noch nicht aus, aber immerhin:
Der Minister befindet sich offenbar in einem Lernprozess. Das begrüßen wir.
Der Antrag der Linken hat ein weiteres Fass des Gesamtthemas aufgemacht: die Selbstverschuldensregelung in § 52 Abs. 2 SGB V. Es war schon auffällig, wie
sich das Gesundheitsministerium und die Koalitionsfraktionen darum gedrückt haben, der Öffentlichkeit
darzustellen, was dort geregelt ist. Wer damals für diese
Regelung kämpfte - und da sind auch die SPD und der
Kollege Lauterbach angesprochen -, darf sich nicht verkriechen, wenn das eigene Gesetz nicht nur in Einzelfällen, sondern plötzlich bei einer größeren Zahl von
Frauen greift.
Gleichzeitig sollte man es sich auch nicht ganz so einfach machen wie die Linke in ihrem Antrag. Der Vorschlag der Linken bedeutet, dass rückwirkend alle Risiken im Zusammenhang mit Schönheitsoperationen
- nicht nur im Zusammenhang mit den schadhaften
Brustimplantaten - auf die Solidargemeinschaft abgewälzt werden. Wollen wir wirklich, dass Frauen viel
Geld für solche Operationen ausgeben, „Schönheitsdoktoren“, bei denen es bei einigen große Fragezeichen bei
der fachlichen Qualität gibt, gut verdienen, und bei allem, was schiefgeht, die Solidargemeinschaft zahlen
soll? Dass auch der Linken hierbei nicht ganz wohl ist,
zeigt, dass die Bundesregierung hier oder in Europa irgendwie regeln soll, dass weder Betroffene noch die gesetzlichen Kassen durch medizinisch notwendige Folgebehandlungen von Schönheitsoperationen finanziell
belastet werden sollen. Dass die Linke hier nach Europa
schielt, wundert mich doch sehr. Da spielt die Musik bei
den Medizinprodukten, aber dazu finden sich keinerlei
Forderungen in ihrem Antrag. Es geht um das Leistungsrecht bei Schönheitsoperationen, und da spielt die
Musik definitiv in Deutschland.
Und schon sind wir mitten im dritten Themenkomplex: bei den Schönheitsoperationen. Dass hier dicke
Bretter gebohrt werden müssen, zeigen die Erfahrungen
aus der letzten Wahlperiode. Selbst Vorstöße aus der Koalition kamen hier nicht voran.
Daher sollte dieser Skandal um Brustimplantate genutzt werden, hier zu Lösungen zu kommen. Anders als
die Linke mit dem vorgeschlagenen Fonds denken wir
eher an eine verpflichtende Produkthaftpflichtversicherung oder eine damit vergleichbare Deckungsvorsorge,
wie es das Arzneimittelgesetz kennt. Die von der Linken
vorgeschlagenen verpflichtenden schönheitschirurgischen Komplettpakete, die alle Folgebehandlungen umfassen, gehen in eine ähnliche Richtung wie die Debatte,
ob bei medizinisch nicht indizierten Schönheitsoperationen nicht ein ärztlicher Werk- und kein Dienstvertrag
abzuschließen ist. Damit würden, wie bei der prothetischen Versorgung durch Zahnärztinnen und -ärzte, dann
entsprechende Gewährleistungsregelungen gelten. Und
ein weiterer Hinweis: Wir müssen endlich dafür sorgen,
dass alle Ärztinnen und Ärzte ausreichende Haftpflichtversicherungen für alle Tätigkeitsfelder abschließen.
Brustimplantate im Speziellen, Medizinprodukte im
Allgemeinen, Schönheitsoperationen im Gesamten und
die Frage der Selbstverschuldensregelung im Speziellen
werden den Gesundheitsausschuss mit Sicherheit noch
einige Zeit beschäftigen. Hoffen wir, dass dabei etwas
Produktives im Interesse aller Versicherten herauskommt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8581 an den Ausschuss für Gesundheit
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Februar 2012, ein.
Wegen der Durchführung von Fraktionssitzungen beginnt die Sitzung erst um 10.30 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.