Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es fällt Ihnen sicherlich genau wie mir schwer, nach dieser bewegenden
Stunde zur Tagesordnung überzugehen.
Gleichwohl rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Forschungsagenda der Bundesregierung für
den demografischen Wandel - Das Alter hat
Zukunft
- Drucksache 17/8103 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Professor Dr. Schavan.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Frage, wie das Miteinander der Generationen gestaltet und organisiert wird, gehört zu den großen
Gestaltungsaufgaben einer Gesellschaft, der in ihr wirkenden politischen Kräfte, aber auch vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen. Zu allen Prognosen gehört die
Feststellung, dass wir in eine Phase des demografischen
Wandels, der Bevölkerungsentwicklung kommen, die
mit tiefgreifenden Veränderungen verbunden sein wird,
für die Städte ebenso wie für den ländlichen Raum, für
die einen wie für die anderen auf unterschiedliche Weise.
Dieser demografische Wandel wird geprägt sein von drei
Veränderungen: Wir werden weniger, wir werden älter,
wir werden bunter, kulturell vielfältiger.
({0})
- Frau Sitte meint, auch noch klüger und schöner. - Die
Zahlen will ich nicht alle wiederholen. Sie kennen sie.
Die Bevölkerung wird schrumpfen, älter werden und
kulturell vielfältiger sein. Mit diesen drei kurzen Feststellungen lässt sich der demografische Wandel beschreiben.
Die Lebenserwartung der Menschen ist erfreulicherweise gestiegen. Verbunden mit einer anhaltend niedrigen Geburtenrate hat das zur Folge, dass das Durchschnittsalter höher sein wird. Das heißt: Das alte Bild,
das sich uns allen eingeprägt hat, die Alterspyramide als
Symbol für den Altersaufbau einer Gesellschaft, ist
passé. Der Altersaufbau verändert sich. Bis 2030 wächst
der Anteil der über 65-Jährigen auf etwa 29 Prozent, bis
2060 auf etwa ein Drittel. In diesem Zeitraum wird die
Bevölkerung in Deutschland von heute etwa 80 Millionen auf 65 Millionen zurückgehen.
Die Forschungsagenda, die wir vorlegen, ist ein klassisches Beispiel für Begleitprozesse, die die neue Gestaltungsaufgabe prägen sollen, und das in vielfältiger Hinsicht. Neu ist nicht, dass sich die Gesellschaft wandelt.
Neu ist auch nicht, dass sich der Bevölkerungsaufbau
wandelt. Neu ist, zumindest in dieser Zuspitzung - und
deshalb ist das für uns eine besondere Gestaltungsaufgabe -, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren. Sie, die Sie sich damit beschäftigen, kennen unsere
Fachgruppen, unsere Forschergruppen und unsere Institute, das Max-Planck-Institut in Rostock und andere, die
uns in den vergangenen Jahren wichtige Grundlageninformationen geliefert haben. Nun wird es darum gehen,
auf der Grundlage dieser auch von der Forschung erarbeiteten zentralen Fragen und Aufgaben die Forschung
zu verstärken und eine Entwicklung zu ermöglichen und dies gilt sowohl für technologische Entwicklungen
als auch für die Gesundheitsforschung und die Forschung für neue Arbeitswelten.
Deutlich wichtiger ist uns geworden, dass die verschiedenen Disziplinen im Rahmen der vielen Forschungsprogramme untereinander sprechen. Die Ingenieure und Mediziner brauchen für die interdisziplinäre
Forschung das Gespräch mit den Geistes-, den Kulturund den Sozialwissenschaftlern.
Die Antwort auf die Frage, wie wir diese Gesellschaft
bezeichnen, verändert sich. Wir reden sehr viel weniger
von der alternden Gesellschaft und sehr viel mehr - auch
unsere Fachleute - von der Gesellschaft des längeren Lebens. Wir wissen, dass es in dieser Gesellschaft des längeren Lebens eine Menge mentaler Veränderungen geben wird.
Ich habe in dieser Woche das Rahmenprogramm
„Forschung für die zivile Sicherheit“ für die nächsten
Jahre vorgestellt. Das ist ein Beispiel dafür, wo wir in
den nächsten Jahren sehr viele Veränderungen erleben
werden. Wie empfinden die Menschen Sicherheit? Welche Erwartungen haben sie? Welche Ängste werden sich
verstärken? Was sind die Möglichkeiten der vielen gesellschaftlichen Gruppen speziell auf der kommunalen
Ebene, letztlich aber auf allen politischen Ebenen, damit
nicht nur umzugehen, sondern auch Veränderungen hin
zu einer konstruktiven und positiven mentalen Verfassung zu erwirken und die Vorstellung zu entwickeln,
dass nicht nur in einer bestimmten Lebensphase - im
Schnitt sind es immer die Jüngeren -, sondern in allen
Altersphasen ungenutztes wertvolles Potenzial gehoben
werden kann? Mit unserer Agenda wollen wir die Möglichkeit eröffnen, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Mir ist sehr wichtig, dass wir nicht vor allem technologische Entwicklungen fördern. Ein gutes Beispiel ist
das Thema Pflege. Im Rahmen der Pflegeforschung wird
die Technik nur eine untergeordnete Rolle spielen. Daneben müssen und werden Inhalte und Konzepte eine ganz
wichtige Rolle spielen. Dafür gibt es zum Beispiel auch
in Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen ein anwendungsorientiertes Forschungsprogramm zur Lebensqualität im Alter.
Die Programme werden von unterschiedlichen Ressorts verantwortet. Sie sind in einem stimmigen Konzept
gebündelt. Damit wird eine deutliche Erhöhung der Forschungsmittel verbunden sein. Es ist ein Schwerpunkt in
den nächsten Jahren, verborgene Schätze unserer Gesellschaft des längeren Lebens zu heben, durch Forschung
die Entwicklung von neuen Lösungen, Produkten und
Dienstleistungen voranzutreiben und die Lebensqualität
sowie die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen zu
verbessern.
Im Rahmenprogramm „Gesundheitsforschung“ haben
wir bereits einen Schwerpunkt auf Prävention, Diagnose
und Therapie von Krankheiten gelegt, die im Alter besonders häufig auftreten. In diesem Zusammenhang sage
ich auch: Die Forschungsprogramme werden das eine
sein, aber wir werden uns auch um die Weiterentwicklung und den Umbau von Institutionen - auch in der Gesundheitsversorgung - kümmern müssen. In Deutschland gibt es ganze drei Lehrstühle für Altersmedizin,
beispielsweise das große Zentrum hier in Berlin. Nachdem im Bereich der Palliativmedizin schon Veränderungen und Weiterentwicklungen stattgefunden haben, werden wir uns auch darum kümmern müssen, welche
neuen Schwerpunkte in der Prioritätenliste der Medizinerausbildung gesetzt werden, sodass es auch hier zu
entsprechenden Veränderungen kommen wird.
Als einen Leuchtturm dieser Forschung nenne ich das
Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, ein auch europaweit einmaliges Netzwerk, das hier
entstanden ist und auf großes internationales Interesse
stößt. Die Spanne der Arbeit dort reicht von der Ursachenforschung bis zur Beantwortung der Frage, wie wir
Menschen mit Demenz am besten pflegen und betreuen
können. Davon sind heute 1,1 Millionen Menschen in
unserem Land betroffen. Bis 2050 werden es zwischen
2 Millionen und 3,5 Millionen Menschen sein.
Wenn man diese abstrakt wirkenden Zahlen auf die
Stadt, die Gemeinde, in der man lebt, herunterbricht,
dann wird deutlich, dass damit schon auf der kommunalen Ebene große Gestaltungsaufgaben und große Veränderungen, zum Beispiel bei den öffentlichen Dienstleistungen und bei der Neuorganisation der Gesundheitsversorgung, verbunden sein werden. Übrigens betrifft die Neuorganisation der Gesundheitsversorgung in
ganz besonderer Weise die Fläche, den sogenannten
ländlichen Raum.
Die Forschung hat bereits vielversprechende Erfolge
hervorgebracht, die ein selbstbestimmtes Leben im Alter
besser ermöglichen. Im November wurde an der Medizinischen Hochschule in Hannover einem Patienten der
erste Herzschrittmacher implantiert, der die Pumpleistung des Herzens überwacht und die Daten via Mobilfunk an den behandelnden Arzt überträgt. Das ist ein
Beispiel für ein ganzes Bündel an Forschungsarbeiten
und Entwicklungen, die im Moment laufen.
Bei dem Förderschwerpunkt „Altersgerechte Assistenzsysteme“ werden sensitive Bodenbeläge in stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen zur Unterstützung selbstständigen Lebens im Alter entwickelt und
erprobt. Ein zentraler Bereich für Forschung und Entwicklung wird sein: Wie kann möglichst lange selbstbestimmtes Leben und Selbstständigkeit in der eigenen Lebens- und Wohnumgebung erhalten werden? Der erste
Prototyp eines Nothaltassistenten für das Auto wurde im
vergangenen Jahr in die Testphase gebracht.
Die Forschungsagenda zum demografischen Wandel
dient dem Wohle aller Generationen. Sie bezieht sich in
vielen Fragestellungen - das sind die Schwerpunkte natürlich auf den großen Anteil der älteren Menschen in
der Bevölkerung. Aber letztlich geht es um die Organisation des Miteinanders der Generationen unter veränderten demografischen Verhältnissen. Die Forschungsagenda konzentriert sich dabei vor allen Dingen auf die
zweite der drei Aussagen, dass mit einer Gesellschaft
des längeren Lebens, einer Gesellschaft mit deutlich
mehr älteren Menschen, einer Gesellschaft, die stärker
als in der Vergangenheit lernt - und dies bringt sie auch
zum Ausdruck -, wichtige Erfahrungen, Potenziale und
Kompetenzen verbunden sind, die für diese neue Organisation des Miteinanders genutzt werden sollen.
Mobilität und Kommunikation, längere Beschäftigungsfähigkeit, Wohnen, Gesundheit, Pflege, gesellschaftliches und kulturelles Engagement, all das sind die
Fragestellungen, auf die sich die Forschungsagenda bezieht. In diesen Bereichen wollen wir Innovation, und
zwar nicht nur im technologischen Sinne, sondern auch
mit Blick auf die soziale und kulturelle Entwicklung, vor
allem mit Blick auf die mentale Verfassung einer künftigen Gesellschaft des längeren Lebens.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erlauben Sie mir eine Bemerkung, bevor ich mit meiner
Rede beginne. Ich habe kein Problem, zu bekennen, dass
ich von der Gedenkstunde und von den Worten des Zeitzeugen noch sehr beeindruckt bin, die wir gerade gehört
haben. Das geht mir jedes Mal so. Es fällt mir schon sehr
schwer, zur Tagesordnung überzugehen.
Ich möchte von dieser Stelle noch sagen: Alle Themen, die wir jetzt behandeln, sind für sich wichtig. Aber
ich finde, sie verlieren dennoch an Bedeutung vor dem,
was wir vor einer knappen halben Stunde hier gehört haben. Meine Anregung an den Ältestenrat ist, zu überlegen, ob es nicht vielleicht klug wäre, eine solche Gedenkstunde für sich stehen zu lassen und das Plenum
- man sieht das an der Beteiligung - nicht weiterzuführen, sondern auszusetzen.
({0})
Gut, es ist, wie es ist. Wir sind aufgerufen, zum Tagesordnungspunkt „Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel“ zu debattieren.
Ich will vorab ganz herzlich denjenigen danken, die im
Prinzip die Verursacher dieser Forschungsagenda sind.
Das sind nämlich aus meiner Fraktion die Kollegin
Sabine Bätzing-Lichtenthäler und der Kollege Franz
Müntefering. Sie haben im Juni des letzten Jahres, also
vor mehr als einem halben Jahr, eine Große Anfrage mit
sehr vielen wohlüberlegten Fragen an die Bundesregierung gestellt. Nachdem es mehrere Verzögerungen gab,
ist diese Anfrage seitens der Bundesregierung vor wenigen Tagen, im Januar dieses Jahres, beantwortet worden.
Diese Antwort ist sehr lesenswert und enthält viele
Anregungen. Ich habe aber den Eindruck, dass die Tatsache, dass es eine solche Anfrage gegeben hat, die Bundesregierung ein bisschen genötigt hat, auch etwas zu
machen und eine Forschungsagenda aufzulegen. Wir
waren sehr gespannt, was in dieser Forschungsagenda zu
finden ist.
Unter dem Punkt „Ziele der Forschungsagenda“ heißt
es in einer Überschrift: „Fragen bündeln“. Das ist schon
einmal gut. Dann schreiben Sie:
Die Bundesregierung fasst mit der vorliegenden
Agenda relevante Fragestellungen der Forschung
zum demografischen Wandel zusammen und zeigt
wichtige Handlungsfelder auf.
Das war es allerdings auch. Damit ist im Prinzip alles
gesagt.
Wir haben nichts Neues entdeckt. Auch bei unserer
Prüfung - Sie werden mich gleich korrigieren können ist es uns nicht gelungen, zusätzliche Mittel im Haushalt
zu finden, die etwas Neues belegen würden. Sie fassen
Projekte und Programme zusammen, die es schon in unterschiedlichen Ministerien gibt, und verweisen darauf.
Das Rahmenprogramm „Gesundheitsforschung“ ressortiert in Ihrem Ministerium, aber obwohl Sie in Ihrer
Forschungsagenda auf Fragen bezüglich der Auswirkungen des demografischen Wandels auf den medizinischen
Bereich im Gesundheitsforschungsprogramm verweisen,
muss ich bei einem Blick ins Gesundheitsforschungsprogramm feststellen: Fehlanzeige. An drei Stellen taucht
der Begriff demografischer Wandel auf, aber die zentralen Fragen, die damit einhergehen, werden nicht berührt.
Es wird vielmehr zu Recht darauf hingewiesen - das
macht auch Sinn -, dass die großen Volkskrankheiten in
Deutschland untersucht werden sollen. Das ist aber
nichts Neues und hat nicht spezifisch mit dem demografischen Wandel zu tun.
Gut finden wir, dass es in der Bundesregierung Erkenntnisse und auch Erkenntnisfortschritte gibt. Auf
Seite 2 schreiben Sie ausdrücklich:
Wir werden die Forschungsprogramme zum lebenslangen Lernen, zur Arbeitsplatzgestaltung, zu Produktionstechnologien und zu innovativen Dienstleistungen so weiterentwickeln, dass ältere Menschen
künftig ihr Wissen … einbringen können …
Das ist gut und richtig. Es ist seit langem eine Forderung
der sozialdemokratischen Partei. Wir haben in den Haushaltsberatungen immer wieder eingefordert, dass im Bereich innovative Dienstleistungen der Arbeitsforschung
nicht gekürzt wird, sondern dass dieser Bereich ausgebaut wird, um die Bedingungen zu schaffen, dass Menschen die Zeit an ihrem Arbeitsplatz, die durch den demografischen Wandel länger geworden ist, gut überstehen
können.
Wir sind froh, dass Sie endlich darauf eingehen. Aber
wir sind auch gespannt, was letzten Endes aus diesen
Ankündigungen wird.
Durch Ihre Forschungsagenda zieht sich eine Reihe
von spannenden Themen, wie eben schon gesagt wurde.
Unter der Überschrift „Mobil in der Stadt“ schreiben
Sie:
Wir stärken diese im Alltag so wichtige Mobilität
im persönlichen Umfeld, indem wir bei der Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur ein besonde18710
res Augenmerk auf die Bedürfnisse der älteren Generation legen.
Das ist gut, aber ein Allgemeinplatz.
Dass Sie weiter unten „auf individuelle Bedarfe angepasste Rufbus-Systeme und eine Beförderung bis an die
Haustür“ fordern, ist ebenfalls gut, aber für eine Forschungsagenda zu wenig; denn die eigentlichen Probleme in den Kommunen liegen darin, dass sie den
ÖPNV nicht mehr finanzieren können. Dafür brauchen
wir keine Forschungsagenda, sondern es ist schlicht eine
andere Finanzierung notwendig, die diese Bundesregierung allerdings nicht gewährleisten wird. Dessen bin ich
mir sicher.
({1})
Auf Seite 5 schreiben Sie weiter:
Wir entwickeln die Informations- und Kommunikationstechnologien so weiter, dass älteren Menschen
auch auf Reisen fernab der vertrauten Pfade eine intuitive Orientierung möglich wird …
Ich habe den Eindruck, Sie erfinden gerade das Handy
oder das Navi neu. Aber es ist völlig abseitig von dem,
was ich in meinem täglichen Umfeld erlebe, welche
Schwierigkeiten die Menschen durch den demografischen Wandel im Pflegebereich erfahren. Das hat nichts
mit der Realität zu tun. Es ist, glaube ich, nur eine Hüllformel, um die Seiten Ihrer Forschungsagenda zu füllen.
Es zieht sich durch die Forschungsagenda, dass Sie
die wirklich interessanten Fragen, die die Menschen angehen, nicht berühren oder nur antippen. Wie muss eine
Stadt entwickelt werden, damit sie den durch den demografischen Wandel geänderten Anforderungen gerecht
wird? Dabei geht es nicht nur ums Alter, sondern es bedeutet vielleicht auch weniger Kinder. Gleichzeitig kürzen Sie aber die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“
um 60 Prozent. Ich weiß aus meiner Heimatstadt, dass
die Quartiersentwicklung, bei der es auch um Anpassung
an demografische Verhältnisse, eine veränderte Wohnstruktur und ältere Menschen geht, die anders leben als noch
vor 10 oder 20 Jahren, nicht mehr möglich ist, weil die
Mittel weiter gekürzt werden.
Die Themen, die die Menschen wirklich im Bereich
der Pflegeforschung und der Versorgungsforschung interessieren, berühren Sie nicht. Dabei geht es zum Beispiel
um die Frage, wie man Angehörige von Demenzkranken
und Pflegebedürftigen entlasten und unterstützen kann.
Wir waren schon weiter. Von 2003 bis 2009 gab es
das bundesfinanzierte Modellprojekt HilDe zur Erfassung der Lebensqualität von Demenzkranken und von
2002 bis 2009 das Programm LEANDER, eine Längsschnittstudie, die über die Belastung von Angehörigen,
die demenziell Erkrankte pflegen, Auskunft gibt. Ich bin
ehrlich: Die Tatsache, dass diese Programme während
der rot-grünen Regierungszeit aufgelegt wurden, bedeutet nicht, dass wir das damals auf den Weg gebracht haben. Forschung entwickelt sich unabhängig von der jeweiligen Regierung. Aber die Schlussfolgerungen aus
diesen Studien hätten Sie ziehen und in Ihrer Forschungsagenda berücksichtigen können. Wenigstens das
hätten wir erwartet. Die zweite Förderlinie zur Pflegeforschung ist 2010 leider ohne Ersatz ausgelaufen. So
entgehen uns wichtige Erkenntnisse im Bereich der Pflegeforschung.
Ich finde es spannend, dass Sie einige interessante
Fragen auslassen. Es wird zunehmend mehr alleinstehende Menschen geben, die pflegebedürftig sind und
keine Familie haben. Was bedeutet das? Es wird zunehmend mehr Migranten mit einem anderen kulturellen
Hintergrund geben, die alleine leben und pflegebedürftig
sind. Was bedeutet das? Wo in diesem Bereich muss geforscht werden? Was mich fast entsetzt, ist, dass an keiner Stelle Menschen mit Behinderung erwähnt werden.
Wir erleben die erste Generation von Menschen mit Behinderung, die die Werkstätten verlässt und in Rente
geht. Diese Menschen haben zumeist keine Eltern mehr,
die sich um sie kümmern oder sie betreuen. Das stellt für
uns eine neue Herausforderung dar. Aber mit keinem
einzigen Wort wird das in der Forschungsagenda der
Bundesregierung für den demografischen Wandel erwähnt.
Kollege Röspel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Danke, Frau Präsidentin.
Das Fazit lautet: Diese Bundesregierung fasst - wie
üblich - Bestehendes zusammen, legt einen Wünsch-dirwas-Katalog vor und gibt keine zusätzlichen Mittel. Das
ist nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen eine Forschungsagenda, die zum Ziel hat, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Dafür werden wir uns
einsetzen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demografischer Wandel, Klimawandel und Energiewende, das sind
die Megathemen, derentwegen ich im Jahr 2009 in den
Bundestag und nach Berlin gegangen bin. Ich bin ausgesprochen dankbar, dass ich heute die Gelegenheit habe,
zu diesem Thema hier sprechen zu dürfen. Mich bestätigt das in meiner Einschätzung, dass es richtig ist, sich
für diese Themen einzusetzen. Schon die Worte Wandel
und Wende lassen auf eine hohe Dynamik schließen. Das
heißt, wir werden gemeinsam - es geht zunächst um
nichts anderes, als den Weg vorzuzeichnen - noch viel
voranbringen. Herr Röspel, ich gehe davon aus, dass uns
auf diesem Weg mehr eint als trennt. Ich glaube, darin
sind wir uns einig.
({0})
Wir werden bei den Instrumenten sicherlich viele Gemeinsamkeiten finden.
Der Europäische Rat hat das Jahr 2012 zum Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen
den Generationen ausgerufen. Dass wir uns heute mit
dem demografischen Wandel und seinen Folgen für unsere Gesellschaft befassen, wollen wir als Zeichen dieses
Hohen Hauses verstanden wissen: Das ist unser Thema!
Die Bundesregierung benennt in ihrer Forschungsagenda
die relevanten Handlungsfelder bis zum Jahre 2016. Ich
will auf zwei Erkenntnisse des Sechsten Altenberichts
aus dem Jahre 2010 hinweisen.
Erstens. Die Sachverständigen haben darauf hingewiesen, dass individuelle Altersbilder eng mit dem Bildungsstand zusammenhängen. Das bedeutet, dass wir
mit unserem Konzept des lebenslangen Lernens auf dem
richtigen Weg sind.
Zweitens. Mit Forschung und Innovation wollen und
können wir Lösungen für die Herausforderungen einer
älter werdenden Gesellschaft entwickeln.
Die Altersforschung ist ein außerordentlich spannendes Thema. Verschiedene wissenschaftliche Einrichtungen haben bereits interessante Ergebnisse erarbeitet. Es
wird zum Beispiel untersucht, welche Faktoren beim Altern von lebenden Zellen eine Rolle spielen. Das sind,
wie wir wissen, einerseits Umweltfaktoren; aber, wie wir
neuerdings ebenfalls wissen, sind es insbesondere auch
genetische Faktoren. Wissenschaftlich werden die molekularen Mechanismen ergründet, die dem menschlichen
Alterungsprozess zugrunde liegen und zu altersbedingten Krankheiten führen.
Das Ziel ist es, gesund älter zu werden. Der Wunsch,
im gesunden Zustand und mit guter physischer und mentaler Leistungsfähigkeit ein hohes Alter zu erreichen, ist
ein großes Ziel. Aber häufig stehen dem Widerstände
entgegen, die eben auch damit zu tun haben, dass bei
Fragen von Gesundheit und Krankheit die Wissensbasis
ausbaufähig ist.
Dem trägt auch das Rahmenprogramm „Gesundheitsforschung“ der Bundesregierung Rechnung. Die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen
ist ein Schwerpunkt dieses Programms. Die Erforschung
von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und von Erkrankungen wie Krebs, Diabetes und Demenz wird damit ebenso
schwerpunktmäßig gefördert und unterstützt wie die
Entwicklung innovativer Medizintechnik und Diagnostika. In diesem Zusammenhang spielt auch das Stichwort
individualisierte Medizin für spezifische Alterserkrankungen eine Rolle. Auf die Chancen und Probleme, zum
Beispiel auch der Apparatemedizin, sei in diesem Zusammenhang hingewiesen.
Der Sechste Altenbericht leitet aus dem demografischen Wandel zwei Verpflichtungen ab. Wir können als
Gesetzgeber für die Rahmenbedingungen sorgen, die die
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erlauben: Es geht
aber auch und insbesondere für die ältere Generation um
die Wahrnehmung von Eigenverantwortung, also zum
Beispiel um die Beteiligung an Vorsorgeuntersuchungen
oder um finanzielle Vorsorge. Es ist durchaus erlaubt,
sich in Bezug auf Fragen der Finanzierung Sorgen zu
machen. Für mich ist das Thema Altersarmut kein Tabu,
weil ich mir vorstelle, wie sich die sozialen Strukturen
innerhalb der nächsten 40 bis 50 Jahre entwickeln werden.
({1})
Außerdem meine ich, dass die Wahrnehmung der Verantwortung für das eigene Leben in jedem Alter wichtig
ist.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Carpe
diem, nutze die Zeit - das gilt auch hier am Rednerpult.
({2})
Freuen Sie sich auf das Alter, meine Damen und Herren.
({3})
Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Es lohnt
sich. Es kommen noch viele schöne Stunden auf Sie zu.
Genießen Sie das Gefühl, gebraucht zu werden: im Beruf, in der Familie, insbesondere auch bei der Freizeitgestaltung und im Ehrenamt.
({4})
Sorgen Sie also vor, und unterstützen Sie diese Agenda.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dr. Petra
Sitte das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
es noch einmal sagen: Wir sprechen heute über die „Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel - Das Alter hat Zukunft“, nicht über alles
andere, was noch irgendwo in den Programmen der Bundesregierung steht. Das ist in der Tat ein Megathema, das
große Erwartungen weckt. Wenn man aber genau hinschaut, bleibt die Bundesregierung weit hinter diesen Erwartungen zurück, weil entscheidende Entwicklungen
keine Berücksichtigung gefunden haben. Da kann ich
Herrn Röspel nur zustimmen.
Dabei hätte die Bundesregierung - dass sie es nicht
getan hat, wundert mich schon - eigentlich nur ihren eigenen Demografiebericht umsetzen bzw. übersetzen
müssen. Dieser geht nämlich deutlich weiter und beschreibt fünf Entwicklungen.
Ich möchte diese fünf Entwicklungen noch einmal
nennen: ein dauerhaft zu niedriges Geburtenniveau, der
Anstieg der Lebenserwartung, internationale Zu- und
Abwanderung, regionale Unterschiede in der Bevölke18712
rungsentwicklung - insbesondere im Osten erleben wir
einen dramatischen Bevölkerungsrückgang seit 20 Jahren - und schließlich eine stetig wachsende Zahl von
Menschen mit Migrationshintergrund, die in diesem
Land nicht nur Jahrzehnte gearbeitet haben, sondern die
hier auch ihren Lebensabend in Würde verbringen wollen. Daran hätten Sie anknüpfen können. Ich will schon
sagen: Demografie, also die Bevölkerungswissenschaft,
ist weit mehr als Altersforschung. Man gewinnt beim
Lesen schon ein anderes Verständnis.
({0})
Sie jedoch greifen vor dem Hintergrund der steigenden
Lebenserwartung allein mögliche Innovationen für das
Leben Älterer auf. Wir meinen, dass das viel zu eng gesehen wird, und selbst unter diesem Blickwinkel bleibt
die Forschungsagenda zu unkonkret. Wie bei anderen
Forschungsstrategien beschreiben Sie nämlich auch hier
sozusagen lyrisch nur eine Mission. Konkrete Vorhaben
oder Informationen über Mittelverteilung, Projekte und
dergleichen sucht man vergebens. Wieder wird einem
nicht klar, wohin die vielen Millionen eigentlich fließen.
Das Thema Lebenserwartung, das Sie, Frau Ministerin, vorhin selber angeführt haben, beschränken Sie
weitgehend auf Teilhabe im Sinne von Mobilität und
Kommunikation älterer Menschen. Damit aber nicht genug: Auch diese Themen werden nochmals verengt und
vor allem auf technische Ansätze reduziert. Alles in allem - das muss man schon einmal sagen - umfasst die
gesamte Forschungsagenda 415 Millionen Euro. Das
hört sich gewaltig an. Von diesen 415 Millionen Euro
fließen 360 Millionen Euro nur in den Bereich der Technologieentwicklung.
({1})
- Über fünf Jahre. Da haben Sie recht, Herr Röspel. Hightechhilfen bei der Fortbewegung, Navigationsgeräte,
Assistenzsysteme im Auto, Routenplanungssysteme,
Kommunikationstechnologien für die Auslandsreise, Personenerkennung in der eigenen Wohnung und technische
Erinnerungshilfen und Überwachungstechnik - das alles
mag ein selbstbestimmtes Leben unterstützen. Das ist
überhaupt keine Frage. Aber wenn man in dieser Forschungsagenda tatsächlich davon ausgeht, dass diese
Technik alltagstauglich und bezahlbar werden soll, zugeschnitten auf die Interessen und Fähigkeiten der Anwenderinnen und Anwender, dann gehört dazu viel mehr,
nämlich auch soziale Voraussetzungen.
({2})
Immerhin wird sich die Zahl von Menschen mit verschiedenen Formen von Demenz von heute rund 1 Million Menschen auf rund 2 Millionen Menschen im Jahr
2050 erhöhen. Das ist eine gigantische gesellschaftliche
Herausforderung. Ihren Themenschwerpunkten ist aber
auch zu entnehmen, dass Sie beabsichtigen, wirtschaftlich bedeutende Marktpotenziale zu erschließen. Es ist
kein Zufall, dass wir gerade in dieser Woche über dieses
Thema debattieren. Es findet nämlich zeitgleich eine
große, massiv industriegesponserte Leitkonferenz im Innovationsfeld „Altersgerechte Assistenzsysteme“ statt.
So praktisch diese Hilfen sein können, Technologieentwicklung - ich habe es schon angedeutet - trifft nicht
den Kern des Problems. Ältere Menschen sind doch wie
alle anderen Menschen auch zuerst soziale Wesen. Daraus bestimmt sich ihr Platz in der Gesellschaft.
({3})
Darauf müsste diese Forschungsagenda konsequent ausgerichtet werden. Dann müsste auch die Mittelverteilung
innerhalb der Agenda anders erfolgen. Wir brauchen
Modelle dafür, wie Ältere in die Gesellschaft integriert
werden können, wie wir vermeiden können, dass Ältere
wegen ihres Alters diskriminiert werden.
({4})
Die Linke sagt: Mindestens gleichrangig muss über
soziale Innovationen, um den Begriff aufzugreifen, geforscht werden. Diese spielen jedoch - ich habe es angedeutet - in der Agenda eine viel zu untergeordnete Rolle.
Altersexperten erwarten eine selbstbewusstere, eine gesellschaftlich, kulturell und politisch aktive ältere Generation. Herr Röhlinger hat es uns gerade vorgemacht.
Damit wächst die Vielfalt der Ansprüche beispielsweise
an lebenslanges Lernen. Herr Röhlinger, da haben Sie
recht. Sie haben eine Zielfunktion bestimmt, aber Sie haben nicht berücksichtigt, was im Leben stattfindet. Wort
und Tat fallen bei der Bundesregierung auseinander.
({5})
2004 gab es Vorschläge einer Expertenkommission,
wie die Finanzierung gewährleistet und wie innovative
Instrumente in diesen Bereichen entwickelt werden können. Statt diese nun umzusetzen oder mit Inhalten zu füllen, kürzt die Bundesregierung - Sie wissen es, Herr
Röhlinger - seit Jahren, die Mittel zur „Stärkung des
Lernens im Lebenslauf“. Allein im Haushalt 2012 werden wieder 40 Millionen Euro gekürzt, und das, obwohl
dringender Handlungsbedarf besteht. Wer soll die ganze
Technik im Alter denn anwenden, wenn er gar kein Verständnis davon hat? Das Ganze ist ein Fortbildungsprozess. Herr Altmaier durchläuft ihn im Computerbereich.
Meine Damen und Herren, wie soll eine bessere Integration ins Arbeitsleben aussehen, insbesondere wenn
man schon viele Jahre im Beruf steht? Unsicherheiten und
Umbrüche im Arbeitsleben könnten reduziert werden,
wenn es gelingt, in dieser Zeit tatsächlich neue Qualifikationen zu erwerben. Gelingen keine nahtlosen Anschlüsse, dann reduzieren sich die Anzahl der Beitragsjahre bzw. der anrechnungsfähigen Arbeitsjahre und
damit die Beitragszahlungen in die Rentenkasse. Daraus
ergeben sich nach heutigem Stand der Dinge viel dramatischere Folgen für ein würdevolles Leben im Alter.
Grundvoraussetzung dafür ist nämlich eine angemessene
Rente. Wie wir wissen, bringt das gegenwärtige Rentensystem Tausende Menschen trotz jahrzehntelanger Arbeit
in Altersarmut. Modelle zu entwickeln, wie dem entgegengewirkt werden kann, sollte ebenfalls Gegenstand dieser Forschungsagenda sein.
({6})
Wie ich angedeutet habe, benötigen wir Forschungen
zu weiteren sozialen Innovationen, Stichpunkte: Wie sichern wir Teilhabe an Politik, Kultur, Sport und anderen
gesellschaftlichen Feldern? Wie kann Daseinsvorsorge
für Ältere, gerade in strukturschwachen Regionen, oder
für Menschen mit Behinderungen gesichert werden?
Wie können menschenwürdige Pflege und Gesundheitsversorgung für alle gesichert und finanziert werden? Wie
schaffen wir es, die Vielfalt in Lebensweisen und Lebensformen auch im Alter zu ermöglichen? Auf all diesen Feldern haben wir gewaltigen Forschungs- und noch
mehr Umsetzungsbedarf. Deshalb hoffe ich, dass diese
Forschungsagenda eine Erweiterung in Richtung soziale
Innovationen findet.
Kollegin Sitte, Ihre Redezeit erweitern wir aber jetzt
nicht.
Nein. Ich habe das Wesentliche gesagt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Tabea Rößner das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Forschungsagenda für den demografischen Wandel lohnt es sich
wirklich, zweimal hinzuschauen: Auf den ersten Blick
erscheint es absolut logisch und sinnvoll, dass wir uns in
der Forschung mit den Folgen einer Gesellschaft des längeren Lebens beschäftigen. Der demografische Wandel
führt nicht nur dazu, dass die Bevölkerung Deutschlands
in den nächsten Jahrzehnten schrumpft oder bunter wird;
vor allem wird sich der Altersaufbau massiv verändern.
Die gesellschaftspolitischen Folgen werden beträchtlich
sein. Wir müssen deshalb planen, wie sich die verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche
des Landes auf die Alterung, auf das längere Leben vorbereiten können.
Dann schaue ich die Agenda genauer an. Ich sehe die
Forschungsvorhaben und habe ein Déjà-vu nach dem anderen. Denn das, was Sie uns da als neuen Vorstoß in Sachen Demografiepolitik verkaufen wollen, ist nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen.
({0})
Viele dieser Forschungsvorhaben laufen schon seit Jahren. Allerdings wurde jetzt schnell alles, was auch nur
annähernd thematisch passte, vom Bundesbildungsministerium zusammengeklaubt und mit neuen Etiketten
versehen. Manches der Projekte ist schon kein alter Wein
mehr, sondern längst Essig. Das alles geschieht nur, um
von einem Fakt abzulenken: Der demografische Wandel
ist längst da. Sie haben dazu einen Demografiebericht
und eine Forschungsagenda. Sie haben demnächst möglicherweise sogar eine Strategie. Aber eines hat die Bundesregierung nicht: einen Plan.
({1})
Schlüssige Konzepte gäbe es genug, auch von Ihren eigenen Institutionen. Ein Beispiel: Das Bundesinstitut für
Bau-, Stadt- und Raumforschung hat im Rahmen des Aktionsprogramms „MORO“ zahlreiche Handlungsansätze
erarbeitet, zur Infrastruktur, zur öffentlichen Daseinsvorsorge und, und, und. Die Konzepte enthalten Empfehlungen, wie gesetzliche Rahmenbedingungen verändert werden müssten. Anstatt diese Konzepte umzusetzen, gibt es
jetzt noch ein MORO-Aktionsprogramm, dieses Mal zur
regionalen Daseinsfürsorge. Dessen Empfehlungen können Sie dann umsetzen oder eben auch - wie bisher nicht. Sie drehen sich da gewaltig im Kreis.
Sie haben auch im Jahr 2012 noch immer keine Leitplanken gesetzt, um deutlich zu machen, wie Sie den demografischen Wandel zusammen mit den Ländern und
den Kommunen steuern wollen.
Wissen Sie, wonach Sie wirklich einmal forschen
sollten? Danach, wo der Handlungs- und Gestaltungswille dieser Bundesregierung geblieben ist.
({2})
In der Demografiepolitik ist er jedenfalls nicht zu finden.
Strengen Sie sich da ein bisschen mehr an!
Vielen Dank.
({3})
Für die Unionsfraktion hat jetzt die Kollegin Ewa
Klamt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir, die heute Lebenden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit älter werden als unsere Vorfahren. Das ist
erfreulich.
Wir müssen aber auch konstatieren, dass unsere Gesellschaft erheblich weniger Kinder hat, und das seit
Jahrzehnten. Entsprechend stellt sich diese Bundesregierung den Herausforderungen des demografischen Wandels. Wir wollen, dass Menschen auch im Alter selbstbestimmt leben können. Wir wollen ihren Alltag
komfortabler und sicherer machen.
Mit der Forschungsagenda für den demografischen
Wandel, die den Titel „Das Alter hat Zukunft“ trägt, geht
die Bundesregierung konsequent einen weiteren Schritt
voran, und das unter Federführung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Dass das Alter Zukunft hat, haben wir hier erlebt und
werden es gleich wieder erleben. Ich schaue einfach einmal in die Runde: Ich sehe Franz Müntefering, Peter
Röhlinger und unseren Kollegen Nobert Geis. Diese
Kollegen sind topfit. - Wir haben Zukunft, meine Damen und Herren.
({0})
Die Forschungsagenda thematisiert erstmals die unterschiedlichen Facetten des demografischen Wandels in
einem umfassenden interdisziplinären Ansatz. Dass die
Geistes- und Sozialwissenschaften in der Forschungsagenda explizit adressiert werden, ist aus meiner Sicht
ein wichtiger, vor allem ein sozialer Gesichtspunkt; denn
bei allen Überlegungen zum demografischen Wandel
muss - davon bin ich überzeugt - der Mensch im Mittelpunkt stehen.
Ich bin überzeugt, dass die aufgeworfenen Fragen
nicht mehr nur von Ökonomen, Ingenieuren oder Medizinern beantwortet werden können, die in ihren jeweiligen Fachrichtungen getrennt voneinander forschen. Es
bedarf eines ganz neuen, integrierten und interdisziplinären Forschungsansatzes. Dieser muss Geisteswissenschaftler, Pädagogen sowie Soziologen und auch Arbeitsforscher mit einbeziehen. Das ist die Basis, die uns
Antworten geben wird.
Entsprechend ist es die Aufgabe der neuen Forschungsagenda, die relevanten Fragestellungen zum demografischen Wandel zu bündeln und wichtige Handlungsfelder aufzuzeigen.
Sehr geehrter Herr Röspel, Sie wollten uns klarmachen, dass die Große Anfrage der SPD zu dieser Forschungsagenda geführt hat.
({1})
Das löst natürlich ein Schmunzeln aus, weil allgemein,
über die Fraktionsgrenzen hinweg bekannt war, dass das
Strategiepapier und die Forschungsagenda in der Fertigstellung waren. Zumindest die hier Anwesenden wussten
sehr genau, was dahintersteckte: Sie wollten nur ganz
schnell auf das Thema springen, das die Bundesregierung längst besetzt hatte.
({2})
Deshalb erläutere ich nicht nur Ihnen, Herr Röspel,
sondern auch den anderen Kollegen von der Opposition
gerne noch einmal, was bereits auf den Weg gebracht
wurde, welche Mittel derzeit eingesetzt werden und was
weiterhin geplant ist. Allein das Forschungsministerium
investiert im Jahr 2012 84 Millionen Euro in diesen Bereich. Mit 415 Millionen Euro wird sich wiederum das
Forschungsministerium in den nächsten Jahren an der
Umsetzung der Agenda beteiligen.
({3})
Vor diesem Hintergrund - Herr Röspel, es tut mir leid ist Ihre Erwartungshaltung nach weiteren Mitteln völlig
unangebracht.
({4})
- Herr Röspel, ich bin gerade dabei, Ihnen zu erläutern,
was wir alles auf den Weg gebracht haben. Schauen Sie
sich einmal die Agenda an.
({5})
Ich kann Ihnen unseren Ansatz klar benennen. Wir
haben nicht nur für 2012 erhebliche Gelder für Forschungsmaßnahmen eingesetzt, sondern für die gesamte
Förderperiode. Entsprechend starten allein in diesem
Jahr 20 neue vom Forschungsministerium geförderte
Forschungsprojekte für altersgerechte Assistenzsysteme.
Das fanden Sie alles nicht so wichtig.
({6})
Wir wissen, dass diese Systeme etwas ganz Wichtiges
sind;
({7})
denn sie ermöglichen es, dass Menschen selbstbestimmt
leben können.
({8})
Ich nenne Ihnen gerne einige weitere Beispiele für
Forschungsaktivitäten: Entwicklung technischer Assistenz für die ambulante Pflege in strukturschwachen Regionen. Ich komme aus einer solchen Region. Ich kann
Ihnen bestätigen, dass das ganz dringend notwendig ist.
Dazu gehört das Projekt „Mit 60 plus mitten im Alltagsleben“. Kann das etwas sein, was Sie nicht interessiert?
Leider würde es meine Redezeit weit überschreiten,
wenn ich Ihnen alles aufzählen würde. Ich empfehle Ihnen einen Blick auf die Homepage: www.das-alter-hatzukunft.de. Diese Homepage zeigt Ihnen die ganze
Bandbreite und Fülle aller Forschungsaktivitäten, und
das über Ressortgrenzen hinweg. Diesen Blick würde
ich der Opposition dringend empfehlen; denn aus Ihrer
Kritik muss ich leider die Schlussfolgerung ziehen, dass
Sie wenig Kenntnisse über die Vielfalt der Forschungsaktivitäten im Bereich des demografischen Wandels haben.
({9})
Für uns ist entscheidend, dass wir in einem Handlungsfeld, das nahezu alle Ressorts, also fast alle Ministerien
betrifft, Effektivität gewährleisten und Doppelstrukturen
verhindern. Deshalb ist es richtig und sinnvoll, die Aktivitäten aller beteiligten Ressorts zu bündeln und unter der
Federführung eines Hauses, des Bundesforschungsministeriums, zu koordinieren. Die christlich-liberale Bundesregierung hat den demografischen Wandel zu einem zentralen Schwerpunktthema gemacht.
Kollegin Klamt, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Dittrich?
Nein, ich bin jetzt fertig. - Ich würde mich freuen,
wenn auch die Opposition diese wichtige Aufgabe in Zukunft konstruktiv begleiten würde.
Ich danke Ihnen.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dittrich
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Leider wurde mir
die Frage von der Rednerin nicht zugestanden. Ich
möchte daher sagen: Sie haben hervorgehoben, dass alle
Älteren weiterhin topfit sind. Als Beleg für diese Aussage haben sie Bundestagsabgeordnete genannt. Diese
Aussage trifft für die Mehrheit der Bevölkerung nicht
zu. Sie wissen sicherlich, dass ein Drittel der Menschen
des Geburtsjahrgangs 1945, der 2010 mit 65 Jahren in
Rente gegangen wäre, verstorben ist. Das heißt, Menschen sterben auch, bevor sie die Altersruhegrenze erreicht haben. Deshalb ist es für mich nicht akzeptabel,
ein solches Beispiel zu nennen. Im Gegenteil, selbstständige Augenärzte können mit über 67 Jahren noch arbeiten. Sie können ihre Praxis aber auch mit 50 Jahren an
die Tochter überschreiben. Kein Beschäftigter in einem
Betrieb kann bereits mit 50 Jahren selbstbestimmt in
Rente gehen. Diesen Unterschied erklären Sie nicht. Es
gibt Arme und Reiche in der Gesellschaft. Die armen
Menschen brauchen eine soziale Mindestsicherung. Teilhabe kann nicht nur durch Arbeiten bis zum Umfallen in
dieser Gesellschaft gesichert sein, sondern muss durch
ein gesetzliches Renteneintrittsalter und eine auskömmliche Rente nicht unter 900 Euro, wie sie die Linke fordert, ermöglicht werden.
({0})
Das Wort zur Erwiderung hat Frau Klamt.
Frau Dittrich, ich war am Ende meiner Rede und hatte
nur noch einen Satz zu sprechen. Ich beantworte Ihnen
jetzt natürlich gerne Ihre Frage.
Ich habe als Positivbeispiel für das Alter drei Kollegen im Deutschen Bundestag genannt, wir könnten aber
auch viele Kollegen oder Freunde aus unserem Kreis benennen, die gesund gealtert sind. Das ist doch gar nicht
der Punkt. Der Punkt ist der: Wir freuen uns, dass viele
von uns heute älter werden und dass wir das Alter genießen und auch noch berufstätig sein können.
Ich habe auch die anderen Punkte angesprochen.
Schauen Sie doch einmal, was alles für Demenzkranke,
im Pflegebereich, für Assistenzen für Ältere, also für die
Menschen, die eben nicht so fit und gesund sind wie unsere Kollegen hier oder Freunde zu Hause, erforscht
wird. Genau für diese Menschen werden die Projekte
durchgeführt.
Wenn Sie behaupten, dass ein normaler Mensch nicht
mit 50 in Rente gehen kann, dann täuschen Sie sich. Jeder kann mit 50 in Rente gehen.
({0})
Wenn Sie genügend Ersparnisse zurückgelegt haben,
dann können Sie das tun. Der Arzt, der mit 50 in Rente
geht, wird ja auch wissen, woher sein Geld ab diesem
Zeitpunkt kommt. Frau Dittrich, ich fand dieses Beispiel
ziemlich daneben. Darum wollen wir uns darauf konzentrieren, was für unsere Bevölkerung ansteht. Alter hat
Zukunft!
({1})
Das Wort hat der Kollege Franz Müntefering für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema Demografischer Wandel ist in der deutschen
Politik - auch bei dieser Bundesregierung - in einem Zustand, der eine harte Kritik rechtfertigen würde.
({0})
Es ist jetzt aber nicht der Zeitpunkt, zu wüten; deshalb
will ich meine Anmerkungen in Ratschläge kleiden.
Johannes Rau hat dazu gesagt: Ratschläge sind immer
auch Schläge. - So ist meine Rede jetzt auch gemeint,
nur damit Sie das wissen; wenngleich ich es freundlicher
formuliere.
({1})
Sie haben unsere Große Anfrage beantwortet. Wir
hatten gefragt, mit welchem Gesellschaftsentwurf die
Bundesregierung für die Jahre 2050, 2060 rechnet, wovon sie ausgeht. Die Antwort lautete:
Die Bundesregierung geht davon aus, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie die
im Grundgesetz festgelegten Werte und grundlegenden Prinzipien auch im Jahr 2050 die Grundlage
der bundesdeutschen Gesellschaft bilden werden.
Das ist richtig, geht aber dicht an eine Karikatur. Ihr
Problem ist, dass Sie keine Vorstellung davon haben, wie
der Gesellschaftsentwurf für die nächsten 30 oder
50 Jahre aussehen wird.
({2})
Wenn Sie das aber nicht wissen, dann werden Sie keine
nachhaltige Politik im Sinne einer demografischen Entwicklung machen können. Man muss wissen, wo man
2030 oder 2050 sein will.
Wenn Sie diese Frage nicht beantworten, dann kann
das zwei Gründe haben: Entweder Sie können sich in der
Koalition nicht verständigen - ich unterstelle Ihnen
schon, dass Sie eine Vorstellung davon haben, wohin Sie
wollen -, oder Sie haben nicht den Mut, sich mit den
Ländern und Kommunen anzulegen und sozusagen die
vertikale Linie aufzumachen.
Wir werden den demografischen Wandel nur vernünftig gestalten können, wenn wir gemeinsam in Bund,
Ländern und Gemeinden - auch Europa gehört dazu die Antwort suchen.
({3})
Diese Debatte werden wir uns, auch wenn sie schwierig
ist, für die Zukunft nicht ersparen können.
Der Untertitel heißt: „Das Alter hat Zukunft“, und im
Text steht: „Im Fokus stehen ältere Menschen“. Das ist
falsch und hochgefährlich. Zum demografischen Wandel
gehören alle Generationen.
({4})
Wenn wir nicht verstehen - einige haben es bereits
angesprochen -, dass alle Generationen in einem Boot
sitzen, dass es um das Miteinander der Generationen
geht, dass es nicht nur um die Älteren geht, sondern um
alle, dann haben wir nicht verstanden, was demografischer Wandel eigentlich bedeutet.
Deshalb ist Ihre Fokussierung nur auf die Älteren
falsch. Sie ist auch nicht im Sinne oder zum Nutzen der
Älteren. Wir müssen vielmehr die Gesellschaft in ihrer
ganzen Breite erfassen und die Entwicklung beobachten.
Diejenigen, die heute 10 Jahre sind, sind eben in 40 Jahren 50. Sie haben eine Funktion. Nur dann, wenn wir in
die Köpfe und in die Herzen der Jungen investieren,
werden wir auch morgen und übermorgen noch eine Alterssicherung in diesem Land haben.
({5})
Deshalb, aber auch, weil wir den jungen Menschen eine
Chance geben wollen, müssen wir handeln.
In den Altenberichten der letzten Jahre ist bereits vieles
zu den Potenzialen der Alten und zu Altenbildern gesagt
worden. Zivilgesellschaftliches Engagement, Sicherheit
bei der Pflege, Alterssicherung durch Renten, Chancen
am Arbeitsmarkt: Das sind Bereiche, in denen man handeln kann. Hier muss man für die nächsten Jahre nicht neu
forschen; das ist ganz klar. Das muss auf den Punkt gebracht werden.
Die Vorschläge zu den technischen Assistenzen für
alte Menschen sind gut. Wir müssen Computer und die
entsprechenden Möglichkeiten nutzen. Ich warne aber
vor einer Sache: Opa und Oma brauchen mit 70 oder 80
nicht unbedingt einen Computer oder ein technisches
Gerät - sie brauchen Zuwendung.
({6})
Die älteren Menschen bilden eine zeitreiche Gesellschaft. Wir haben viele, viele Menschen, die 60, 65, 70
oder 80 sind und sich um die anderen kümmern können.
Wichtiger als alles andere ist, dass wir verhindern, dass
die Menschen, die alt sind, Beschwerden haben und pflegebedürftig sind, allein gelassen werden und einsam
sind. Dieses Land braucht nicht zuzulassen, dass es
Menschen gibt, die einsam sind, weil sich andere nicht
um sie kümmern. Das müssen wir politisch aufnehmen,
da müssen wir reden, handeln und deutlich machen, um
was es geht.
({7})
Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin Dittrich?
Nein, im Moment will ich meine Ratschläge weiterführen.
({0})
Der nächste Ratschlag bezieht sich auf die erste große
Welle, die uns im Augenblick erreicht: auf die Fach- und
Arbeitskräfteproblematik. Da muss man dann einmal erforschen: Was können wir tun, damit nicht 60 000 junge
Menschen jedes Jahr ohne Abschluss von der Schule gehen, damit nicht 25 Prozent ihre Ausbildung abbrechen,
damit an den Universitäten nicht so viele ihr Studium abbrechen? Was können wir tun, damit die Frauen wirklich
eine Chance haben, in den Beruf zu kommen, damit
diese Generation junger Frauen endlich nicht nur mal
eben dabei ist, sondern wirklich mittendrin im Beruf?
Wir müssen die Erwerbsquote von 75 Prozent auf 78
oder 80 Prozent steigern. Das ist möglich, wenn wir diesen jungen Frauen eine wirkliche Chance geben.
({1})
Das gehört zum demografischen Wandel ganz zentral
dazu.
Natürlich gehört auch dazu, dass die Älteren nicht zu
früh herausgeschubst werden. In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage wird das Ganze
so beantwortet: Sie gehen davon aus, dass jährlich netto
100 000 bis 200 000 Menschen zuwandern. Das sind in
40 Jahren 4 oder 8 Millionen Menschen. So wollen Sie
das Problem lösen. Ich sage: Ja, wir werden auch Zuwanderung haben; aber wenn wir nicht zunächst einmal
die eigenen Potenziale im Lande nutzen und sie nicht
mobilisieren - da beziehe ich mich in ganz besonderer
Weise auf die Frauen -, werden wir dem Problem nicht
vernünftig begegnen können.
({2})
Die Familienministerin ist bei der Forschung mit dabei: Sie lässt zum Wohnen im Alter und zur Demenz forschen. Das ist auch okay. Aber ist ihr denn nichts zur Familie, zu Frauen und zur Jugend eingefallen, nichts dazu,
dass mit jeder neuen Generation die Zahl der Mädchen
um ein Drittel sinkt, dass 33 Prozent der Männer und
Frauen, die 1970 geboren sind, keine Kinder haben? Was
können wir eigentlich tun, damit sie Kinder haben können und wollen? Wenn man mit den 28-, 30- oder
35-Jährigen spricht und sie fragt, ob sie Kinder haben
wollen, sagen sie: Ja, aber ich habe einen Job für ein
Jahr, und meine Freundin wohnt in Hamburg; auf der
Basis wollen wir damit nicht anfangen. - Es ist ja nicht
der blanke Hedonismus, dass die jungen Menschen
keine Kinder bekommen, sondern ein praktisches Problem, das wir bisher nicht lösen. Wir müssen ihnen Sicherheit geben. Dann werden wir in Deutschland auch
wieder mehr Kinder haben. Das ist besser als viele Ansätze, die Sie in Ihrem Konzept aufgeschrieben haben.
({3})
Ich sage abschließend: Was der Bundesminister für
Bau und Stadtentwicklung da macht, ist ein glatter Ausfall. Darum sollten Sie sich wirklich einmal kümmern.
Das sind keine Antworten. Die Städte und Gemeinden
liegen im Zentrum der Lösung. Wir werden das Problem
nur lösen, wenn wir die Kommunen von der Struktur
und von der Finanzkraft her stärken. Die großen Kommunen expandieren und wachsen, aber die kleinen sollen
es auch. Was macht der Minister? Er macht ein Programm für 21 Modellregionen, die zwei Jahre lang bis
zu 160 000 Euro jährlich bekommen; das sind gut
300 000 Euro in zwei Jahren, 1 Euro für jede Person.
Damit sollen die Kommunen ihre Strukturen für die Zukunft verbessern. Das ist doch der blanke Hohn. Ich sage
Ihnen: Wenn man die Herausforderungen bei den Kommunen nicht wirklich ernst nimmt und ihnen nicht hilft,
werden sie ihren Aufgaben nicht gerecht werden können. Abschließende Bemerkung: Handeln wäre angebracht.
Kollege Müntefering, Sie haben die Chance auf eine
abschließende Bemerkung, wenn Sie eine Frage zulassen. Ansonsten wäre Ihre Redezeit jetzt vorbei.
Ja, das machen wir. Bitte schön.
Geschätzter Kollege Müntefering, wollen Sie zur
Kenntnis nehmen, dass die Mittel für die Städtebauförderung jetzt wieder auf 455 Millionen Euro angewachsen sind,
({0})
gerade ein Aufwuchs beim Programm „Soziale Stadt“
beschlossen wurde und über ein KfW-Programm 92 Millionen Euro für die Stadtquartiere zur Verfügung gestellt
werden? Wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass die
christlich-liberale Bundesregierung und Koalition diese
Mittel auch gerade für die älteren Menschen zur Verfügung stellt, um ihren Anliegen Rechnung zu tragen?
({1})
Lieber Kollege, da haben Sie ein schlechtes Beispiel
gewählt.
({0})
Wenn Sie mit dem Programm „Soziale Stadt“ anfangen
wollen, dann sollten Sie das nicht bei mir machen. Ich
war dabei, als wir das Programm 1998/1999 erfunden
haben, mit einem Umfang von 100 Millionen. Mit dem
Programm soll in die sozialen Strukturen der Stadt investiert werden. Sie haben die Mittel von 100 Millionen
auf 29 Millionen gesenkt; jetzt heben Sie die Mittel auf
40 Millionen an und loben sich dafür.
({1})
Wenn Sie an der Stelle den Städten keine Möglichkeit
geben, Präventionsarbeit zu betreiben, müssen Sie sich
über die nachfolgenden Kosten nicht wundern. Sie entstehen auch wegen unzureichender Prävention. Jugendarbeit in den Regionen, Städten und Kiezen ist besser, als
anschließend Jugendstrafvollzugsanstalten zu bezahlen.
Deshalb müssen wir den Städten und Gemeinden bessere
Möglichkeiten bieten.
({2})
Ich mache eine abschließende Bemerkung; so viel
Zeit habe ich ja noch.
Kollege Müntefering, ich muss Sie fragen, ob Sie eine
zweite Frage zulassen, nämlich der Kollegin Dittrich.
Bitte schön. - Ich nehme an, Sie wollen nach
Hartz IV fragen. Das machen Sie immer.
({0})
Danke schön, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben
darüber berichtet, wie sich die Generationen gegenseitig
unterstützen wollen. Da gibt es keinen Unterschied zur
CDU/CSU. Sie sind ein Politiker im Seniorenalter, der
schon viel Erfahrung gesammelt hat. Deshalb macht es
mich stutzig, dass ausgerechnet Sie nicht mehr von den
Möglichkeiten des Sozialstaates sprechen.
Der Staat muss umgebaut werden. Die SPD hat eine
Enquete-Kommission eingerichtet. Sie sagen, ein geplantes Leben mit Kindern sei nicht möglich, wenn prekäre
Beschäftigungsverhältnisse bestehen. Es ist aber doch die
Koalition aus Rot und Grün gewesen, die die Hartz-IVGesetze eingeführt hat, welche zu diesen nicht abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen geführt haben,
({0})
weshalb keine Kinder geplant werden können. Die Linke
sagt: Hier muss zurückgerudert werden, und zwar komplett: mit Arbeitszeitverkürzung und mit unbefristeten
Arbeitsverträgen.
Wenn Sie die Steuereinnahmen des Staates nicht
durch eine Reichensteuer erhöhen wollen - ich will nicht
das ganze Programm aufführen -, dann kann der Sozialstaat nicht aufgebaut werden. Verstehe ich Sie richtig,
dass die SPD es hinnimmt, dass keine Steuereinnahmen
in soziale Dienstleistungen fließen, dass die älteren und
die jüngeren Menschen sich sozusagen freiwillig engagieren und sich gegenseitig helfen müssen?
Frau Kollegin Dittrich, versuchen Sie, die Frage zu
formulieren.
Das wäre in der Tat eine sehr große Sparmaßnahme.
Stimmen Sie mir zu, dass Sie bei einem Frühstück mit
der Diakonie, bei dem auch ich anwesend war, gesagt
haben: „Die Pflege, die jetzt zu organisieren ist, ist ein
riesengroßer Markt; wir müssen überlegen, wie wir hier
mithelfen können“?
({0})
Liebe Kollegin, der Sozialstaat ist ein großer menschheitsgeschichtlicher Fortschritt. Wir werden diesen Weg
nicht verlassen. Sozialdemokraten - ich unterstelle einmal, die anderen Demokraten auch - wissen, was sie daran haben.
({0})
Aber wir werden den Herausforderungen des demografischen Wandels nicht begegnen können, wenn uns nicht
bewusst ist: Der Staat muss den Sozialstaat organisieren,
aber vor Ort brauchen wir die soziale Gesellschaft. Es
kommt auf die Menschen in den Städten und Gemeinden
an. Wir müssen die Städte in den Stand setzen, dies zu
organisieren. Wir brauchen Menschen, die sich in den
Städten und Gemeinden engagieren. Ohne diesen Teil einer sozialen Gesellschaft wird das nicht funktionieren.
Das ist kein Gegensatz. Das Einander-zugewandt-Sein in
den Städten und Gemeinden, das Verhindern von Einsamkeit, das Sich-um-Menschen-Kümmern kann man
zwar in ein Gesetz schreiben; aber man kann dies nicht
sanktionieren, man kann es nicht durchsetzen. Die Frage
ist, ob es genügend Menschen gibt, die bereit sind, sich
zu engagieren. Ich sage: Es gibt sie, aber wir müssen sie
unterstützen, wir müssen ihnen helfen. Das wird im Wesentlichen in den Städten und Gemeinden vor Ort passieren.
({1})
Ich komme zu meinem abschließenden Satz. Wir
müssen handeln. Die Forschungsagenda ist nicht falsch.
Aber am meisten gestutzt habe ich, Frau Schavan, als ich
ganz am Ende der Agenda gelesen habe, dass sie 2016
evaluiert werden soll. Das müssten dann wir machen
- das ist klar -; das werden wir auch gut machen.
({2})
Aber bis dahin muss ein bisschen passieren. Sie haben
angekündigt, dass Sie Ende März/Anfang April ein
Handlungskonzept für den demografischen Wandel vorlegen. Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns eine Diskussion
darüber führen, was das eigentlich sein soll. Es ist wirklich allerhöchste Zeit, dass die Dinge in Bewegung gesetzt werden. Die Dynamik und die Wirkungsweise des
demografischen Wandels sind von allergrößter Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat sich
entschlossen, seinen heutigen Geburtstag mit uns gemeinsam mit einer Rede im Deutschen Bundestag zu begehen. Ich gratuliere Ihnen
({0})
und gebe Ihnen das Wort.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Vielen Dank, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Alter hat Zukunft - das sage
ich nicht nur, weil ich heute Geburtstag habe, sondern
auch, weil ich mir in der Tat dessen bewusst bin, dass der
demografische Wandel vielfältige Probleme und Diskussionen aufwirft. Dass von daher eine ganzheitliche Diskussion zu führen ist, wie Sie es angeregt haben, Herr
Müntefering, ist sicherlich unbestritten. Die heutige Diskussion - das will ich an der Stelle deutlich sagen - ist
dafür ein Baustein.
Doch heute und auch mir persönlich geht es um die
Forschungsagenda „Das Alter hat Zukunft“, eine Agenda,
die sich ganz bewusst auf Forschungsfragen und Forschungsgebiete konzentriert, die bisher vereinzelt und
wenig beachtet blieben. Bereits seit Anfang der 90erDr. Martin Neumann ({0})
Jahre existiert die wichtige Debatte um den demografischen Wandel. 1992 gab es bereits, wenn ich es richtig
recherchiert habe, eine Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag, die die Aufgabe hatte, die zukünftigen
Herausforderungen zu analysieren. Wir stellen heute fest,
dass diese Herausforderungen aktueller denn je sind und
in der tagesaktuellen Politik angekommen sind. Die steigende Lebenserwartung und viele andere Dinge, die
meine Vorredner hier schon deutlich gemacht haben,
zwingen zur Anpassung in den Bereichen Fachkräftepotenzial, Infrastruktur, Städtebau und Wohnen.
Wenn wir heute über die steigende Lebenserwartung
und den demografischen Wandel nachdenken, stellen wir
vor allen Dingen eines fest - und das will ich in den Vordergrund rücken -, nämlich dass sich das gesellschaftliche Bild vom Alter und vom Älterwerden geändert hat.
Heute herrscht das Bild von älteren Menschen vor, die
selbstbestimmt und unabhängig leben wollen. In einer
Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2011 wurde ermittelt, dass
zwei Drittel der über 50-Jährigen im Alter selbstständig
wohnen bleiben wollen. Knapp 90 Prozent der Befragten
äußerten, dass sie das Alter als einen aktiven und selbstbestimmten Lebensabschnitt betrachten. Das sind Aussagen, die auch durch den Demografiebericht 2011 unterfüttert werden.
Die nun vorgelegte Forschungsagenda richtet sich genau nach diesem Altersbild:
({1})
Selbstständigkeit und Selbstbestimmung sind Kernanliegen. Die Forschung zum Beispiel im Bereich technische
Assistenzsysteme, die schon angesprochen wurde, schafft
wichtige Voraussetzungen dafür. Wie wollen Sie soziales
Leben organisieren, wenn technische Voraussetzungen
für Mobilität und Kommunikation nicht gegeben sind?
Für uns steht deshalb ein ganz wichtiger Ansatz im Mittelpunkt: ein Leben in Unabhängigkeit bei gleichzeitiger
Sicherung der Grundbedürfnisse zu fördern. Ich betone
diese Assistenzsysteme deshalb ganz besonders, weil sie
wirklich eine hohe Bedeutung und einen hohen Wert für
die Lebensqualität älterer Menschen besitzen. Wir schaffen damit tatsächlich die Möglichkeit uneingeschränkter
Teilhabe an der Gesellschaft. Das ist die Kernbotschaft.
Das stellt - das möchte ich extra betonen - tatsächlich
eine neue Qualität dar und stellt vor allen Dingen die Forschung vor neue innovative Herausforderungen.
Ich begrüße deshalb auch im Namen meiner Fraktion
ausdrücklich die uns hier vorgelegte Forschungsagenda
„Das Alter hat Zukunft“ und sehe mit großem Interesse
den Ergebnissen der geförderten Ideen und Forschungsprojekte entgegen.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Menschen fühlen sich noch immer aufgrund ihres
Alters diskriminiert. Das trifft nicht nur auf Alte, sondern
auch auf Junge zu. Das geht aus der jüngsten Umfrage
hervor, die im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des
Bundes vorgenommen wurde. Umso bedauerlicher ist es,
dass die Forschungsagenda zum Thema Das Alter hat
Zukunft, die wir soeben vorgelegt bekommen haben, das
Thema Altersdiskriminierung nicht wirklich ernst
nimmt. Diese Agenda ist eine einzige Absichtserklärung.
Diese Agenda ist ein Sammelsurium an Schlagworten
und wohlklingenden Floskeln aus dem Bereich der gerontologischen Forschung.
Uns allen, die wir hier sitzen, ist aber doch klar: Wir
sind schon längst im demografischen Wandel angekommen. Wir brauchen keine Agenda, die einfach nur alle
Projektansätze aller Ministerien aufzählt. Wir brauchen
keine Agenda, die uns Altbekanntes als Neues verkauft.
({0})
Wir brauchen vielmehr eine Demografiestrategie, eine
Strategie, die festlegt, was getan werden muss, bis wann
es getan werden muss, von wem es getan werden muss
und wie es getan werden muss. Wir brauchen ein konzertiertes Vorgehen der Ressorts. Nur so werden wir Doppelstrukturen vermeiden und dafür sorgen, dass sie gar
nicht erst aufgebaut werden.
Ein Beispiel ist das Thema Demenz. Heute wird das
Thema Demenz vom Gesundheitsministerium, vom Forschungsministerium und vom Familienministerium bearbeitet. Was fehlt, ist die wirklich ernsthafte Koordination
und Kooperation der Ministerien. Alle wurschteln vor
sich hin. Ich hoffe, dass man sich zumindest über die Ergebnisse verständigt und austauscht. Sonst bringt das alles überhaupt nichts.
({1})
Ich denke, in dieser Agenda fehlen einige zentrale
Themen. Wir müssen zum Beispiel über den Umgang mit
älteren Migrantinnen und Migranten reden. Wir müssen
aber auch darüber reden, wie wir die Kommunen als
Handlungsebene vor Ort wieder stärker ins Boot holen
können; denn dort findet die Zukunft im Alter statt. Frau
Ministerin, Sie haben das in Ihrer Rede erwähnt. Sie haben das also durchaus erkannt. Aber was nützt uns der Erkenntnisgewinn durch die Agenda, wenn die guten Ideen
nicht im Alltag der Gesellschaft und vor Ort in den Kommunen ankommen?
Dann ist da noch ein Punkt: die Entlastung von Pflegebedürftigen und Pflegenden. Herausgekommen ist dabei bis jetzt noch nicht viel mehr als das nutzlose Familienpflegezeitgesetz von Frau Schröder,
({2})
ein Gesetz, das nur auf Appellen beruht und sich auf das
Wohlwollen der Wirtschaft verlässt.
In der Agenda setzt man auf Technik, auf Assistenzsysteme. Ja, es stimmt: Diese Systeme können eine Hilfe
sein. Aber sie stehen nicht im Mittelpunkt, wenn es um
die Entlastung pflegender Angehöriger geht. Wenn Sie
pflegende Angehörige danach fragen, werden sie Ihnen
das sehr klar sagen.
({3})
Alle Themen, die in der Agenda angesprochen werden,
sind wichtig. Aber eine Auflistung allein reicht nicht.
Wir brauchen einen Maßnahmenplan. Unter SchwarzGelb erleben wir aber leider eine Politik des totalen Stillstands.
Meine Damen und Herren, in der Süddeutschen Zeitung konnten wir einen treffenden Kommentar zur Demografiepolitik dieser Regierung lesen. Die Süddeutsche
Zeitung ist der Auffassung, Schwarz-Gelb habe mehr
Angst vor den Wählern heute als vor den Problemen
morgen. Ich zitiere das gerne:
Politik verlangt aber: Zukunft gestalten. Wenn die
Zukunft versaut ist, ist es mit der Gestaltung vorbei.
Ich denke, klarer und besser kann man das nicht ausdrücken.
Vielen Dank.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Norbert
Geis das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrte Frau Kollegin, ich habe längst aufgegeben, alles zu glauben, was in den Zeitungen steht.
({0})
Ich möchte das Thema demografischer Wandel, das
uns beschäftigt, unter verschiedenen Aspekten beleuchten. Es ist in der Tat so, Herr Müntefering, dass der
demografische Wandel in erster Linie durch das Älterwerden unserer Gesellschaft bestimmt wird. Das ist augenfällig, und dadurch entsteht auch die Diskussion über
den demografischen Wandel.
Es ist natürlich von entscheidender Bedeutung, dass
wir die verschiedenen Phasen des Älterwerdens erforschen und den Fragen nachgehen: Wie ist es möglich,
auch im Alter ein gesundes und vielleicht sogar agiles
Leben zu führen? Wie können wir älteren Menschen, die
krank oder hilfsbedürftig sind - das bleibt im Alter nicht
aus -, beistehen? Welche Regularien und Möglichkeiten
können wir schaffen? Ich stimme Ihnen zu, dass wir vor
allen Dingen die Gemeinden mobilisieren müssen. In der
Tat richtet sich diese Frage insbesondere an die Kommunalpolitik; das ist sehr wahr.
({1})
Von Bedeutung ist allerdings auch die Phase des Älterwerdens, in der viele Menschen rundum pflegebedürftig
sind.
Diese Themen sind, wie ich meine, noch nicht ausreichend erforscht. Deswegen begrüßen wir die Initiative
der Bundesregierung, gerade diese Aspekte des demografischen Wandels zu erforschen und sich insbesondere
mit diesen Themen zu beschäftigen. Wir müssen Möglichkeiten und Wege finden, wie diese Herausforderungen am besten zu bewältigen sind. Natürlich spielt auch
die Tatsache, dass wir eine niedrige Geburtenquote haben, eine entscheidende Rolle in der Diskussion über
den demografischen Wandel, auch die Frage, wie es
möglich ist, der mittleren Generation, die die ganze Last
zu tragen hat, zu helfen.
Diese Fragen betreffen nicht nur Deutschland, obgleich wir Spitzenreiter sind; neben Japan hat Deutschland die älteste Bevölkerung. Das ist eine Frage, der sich
ganz Europa stellen muss. In allen Industrieländern, insbesondere aber in Europa, stellen sich diese Fragen. Der
alte Kontinent Europa wird tatsächlich zu einem Land
der Alten. Wir geraten zunehmend in die Situation, dass
uns die Innovationskraft und die Kreativität der jungen
Leute fehlen. Durch diesen demografischen Wandel geraten wir unter Umständen in eine Winterstarre, die uns
mit Sicherheit unsere führende Stellung in der globalen
Welt nehmen wird.
Diesem Problem muss sich die Politik stellen. Das
können wir nicht einfach so über uns ergehen lassen. Wir
müssen uns vielmehr dagegen wenden und Wege finden,
trotz dieser Entwicklung an der Spitze der Welt zu bleiben. Deswegen müssen wir uns natürlich auch Gedanken
darüber machen, wie wir die Menschen, die jetzt mit 65
Jahren in den Ruhestand gehen, aber noch leistungsfähig
sind - die Statistik zeigt, dass viele bis 85 leistungsfähig
sind -, heranziehen können. Wie können wir das Potenzial dieser älteren Menschen nutzen? Das ist eine wichtige Frage, der im Rahmen dieser Forschungsagenda
nachgegangen wird.
({2})
Wir brauchen den Einsatz der älteren Menschen in der
Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft, im Freiwilligendienst.
({3})
Die älteren Menschen sind auch bereit dazu. Sie wollen
sich gar nicht auf die Zuschauertribüne setzen und sich
aufs Beifallklatschen beschränken. Sie wollen mitspielen, und sie können es auch.
({4})
Wir müssen anfangen, unser Bild von den Alten zu
ändern. Vor acht Tagen haben wir genau darüber im Plenum des Bundestages diskutiert. Wir müssen diese Bilder korrigieren. Wir haben Vorstellungen, die 20, 30
Jahre alt sind. Wir müssen berücksichtigen, dass wir eine
ganz neue Lebensphase hinzugewonnen haben, in der
wir agil und leistungsfähig sind. Dieser Frage muss sich
natürlich auch die Forschung stellen.
({5})
Es ist richtig, dass wir eine zu geringe Geburtenquote
haben; dieses Lamento hören wir schon jahrelang. Dafür
gibt es viele Gründe. Ich kann die Gründe heute hier
nicht alle darlegen. Richtig ist, dass wir die Alten in Arbeit halten müssen. Richtig ist aber auch, dass wir Zuwanderung brauchen und mehr Frauen in Arbeit bringen
müssen. Wir brauchen mehr Frauen in Arbeit als derzeit,
wenn wir unseren Stand halten wollen.
({6})
Frauen, die Vollzeit beschäftigt sind - das entspricht der
Erfahrung -, bekommen aber kein Kind oder nur noch
ein Kind.
({7})
Der Anteil der Männer und Frauen, die nie ein Kind erzogen haben, steigt immer mehr. Inzwischen sind es 20
bis 30 Prozent; darauf wurde hingewiesen. Die Tendenz
ist steigend. Damit können sich unsere Gesellschaft und
unsere Politik nicht zufriedengeben.
({8})
Das ist nämlich der wichtigste Grund für die Verschiebung bei der demografischen Entwicklung. Wir haben zu
wenige Kinder. Der Schwund bei der nachwachsenden
Generation ist der Grund für den demografischen Wandel, und der hat revolutionäre Ausmaße. Deswegen ist es
eine ganz entscheidende Frage, wie wir die Rahmenbedingungen gestalten müssen, damit es wieder mehr Kinder gibt. Wir brauchen eine höhere Geburtenquote.
Ein Schlussgedanke zum Drei-Generationen-Vertrag:
Die mittlere Generation wird am meisten belastet werden. Sie muss die Last der Alten tragen - sie muss die
Renten erwirtschaften -, sie muss die Last der jungen
Menschen tragen - sie muss die Kinder versorgen -, und
sie trägt die Hauptlast des Sozial- und Staatshaushalts.
Diese Last trägt die mittlere Generation vor allem durch
die Steuern, die sie zahlt. Das ist eine gewaltige Last.
Noch nie ist eine mittlere Generation so belastet worden,
wie es bei den jetzt kommenden mittleren Generationen
der Fall sein wird. Auch das ist ein Problem, dem wir
uns stellen müssen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8103 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla
Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen
- Drucksachen 17/1556, 17/4468 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({1})
Michael Hartmann ({2})
Hartfrid Wolff ({3})
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist dies auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Manfred Grund.
Bitte schön, Kollege Manfred Grund.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir haben heute in einer beeindruckenden Gedenkstunde mit der Rede von Marcel ReichRanicki der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Ich
glaube, durch diese Rede ist uns allen noch einmal deutlich geworden, was dies für uns Nachgeborene bedeutet,
nämlich: nie wieder Faschismus, nie wieder Totalitarismus und nie wieder Gleichschaltung. Seine Geschichte
begründet unsere Verantwortung zu umfassender, tiefgehender, aber auch handwerklich solider Aufarbeitung
unserer Geschichte.
Einer wissenschaftlich soliden Aufarbeitung der Geschichte wollen und müssen wir uns stellen. Sie sollte
aber nie losgelöst von den Umständen ihrer Zeit, den damaligen Herausforderungen und Lebensumständen, erfolgen. Wer die Ereignisse der späten 40er- und der 50erJahre nur aus der Flughöhe der Erkenntnisse von heute
betrachtet und beurteilt, dem wird sich die Frühphase der
Bundesrepublik Deutschland nicht gänzlich erschließen.
Denn bereits lange vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges und angesichts der sich abzeichnenden totalen Niederlage des Deutschen Reiches planten und organisierten
die Siegermächte die neue Weltordnung und traten miteinander in eine Konkurrenz der Systeme. Eine neue Bedrohungslage entstand und prägte als Kalter Krieg die
nächsten vier Jahrzehnte. Ein Eiserner Vorhang teilte
Europa. Die junge Bundesrepublik Deutschland, aus den
Trümmern dieser totalen Niederlage innerhalb von wenigen Jahren entstanden, hatte vor diesem Hintergrund
schnell als Staatswesen zu funktionieren.
In dieser Zeit herrschte ein Mangel an Personen, die
in der Lage waren, ein Staatswesen zu organisieren, und
angesichts der totalen Durchdringung und Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes durch das nationalsozialistische Regime zugleich unbelastet genug waren. Auch
deshalb sind beim Aufbau demokratischer Strukturen
und Institutionen Personen wieder herangezogen worden, denen bei Lichte betrachtet kein Neuanfang in einem demokratischen Staatswesen mehr hätte ermöglicht
werden dürfen. So konnten neben vielen unbelasteten
und gering belasteten auch immer wieder erheblich belastete Personen den Weg in die Institutionen des neuen
Staates finden. Manche gelangten durch Unachtsamkeit,
andere aber auch durch Seilschaften und Fehlverhalten
Dritter in ihre Positionen. Begünstigt wurde das dadurch,
dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft bis weit in die
50er-Jahre hinein zu einer tiefgreifenden Aufarbeitung
des Dritten Reiches noch nicht bereit war.
Der Historiker Heinrich August Winkler beschreibt
das in seinem Buch Der lange Weg nach Westen sehr
klar - ich zitiere -:
Wohl aber kann man von einer verbreiteten Weigerung sprechen, sich mit der eigenen Vergangenheit
auseinanderzusetzen. Da viele Nachkriegskarrieren
davon abhingen, daß bestimmte Taten und Äußerungen nicht bekannt wurden, schlug eine solche
Weigerung über kurz oder lang meist in individuelle Verdrängung um. Da dies eine massenhafte und
gesellschaftlich respektierte Erscheinung war, trugen ihr auch Politiker und Publizisten Rechnung,
die selbst nicht „belastet“ waren. Das Ergebnis war
ein widersprüchliches Verhältnis zum Nationalsozialismus: Wer sich öffentlich zum „Dritten Reich“
bekannte, verletzte ein bundesdeutsches Tabu.
Doch dasselbe tat, wer bohrende Fragen nach der
Verantwortung der Überlebenden im zweiten, dritten oder vierten Glied stellte.
In der Abwägung zwischen Belastung und vermeintlicher Fachkompetenz wurde zu oft zugunsten der Fachkompetenz entschieden. Zu denken ist hier auch an die
Organisation Gehlen als Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes. Reinhard Gehlen, der als General der Wehrmacht und Leiter der Abteilung „Fremde
Heere Ost“ des deutschen Generalstabs über ausgewiesene Informationen über Stalins Sowjetunion verfügte,
war den westlichen Alliierten im Hinblick auf die neuen
Machtstrukturen so wichtig, dass der Kontakt noch während des Krieges entstand.
Der Bundesnachrichtendienst hat sich die Aufarbeitung seiner Vor- und Frühgeschichte zur Aufgabe gemacht. Der Ansatz, den der BND dabei wählt, wird von
meiner Fraktion unterstützt; denn er ist sinnvoll und anspruchsvoll zugleich.
({0})
So hat der damalige Präsident, Ernst Uhrlau, am 15. Februar 2011 eine unabhängige Historikerkommission ins
Leben gerufen. Durch die Berufung der Professoren
Dülffer, Henke, Krieger und Müller konnte eine Kommission gewonnen werden, die über unbestreitbare Fachexpertise verfügt und zugleich ein breites Meinungsspektrum repräsentiert, welches den notwendigen Diskurs auf
dem Weg zu einer Darstellung und Deutung der historischen Ereignisse garantiert. Die Unabhängige Historikerkommission hat sich ein hohes wissenschaftliches Ziel
gesetzt. Ich denke, ihr Erfolg wird durch die umfassende
Einsichtnahme in die Aktenbestände des Bundesnachrichtendienstes gewährleistet.
Unterstützt wird die Historikerkommission durch eigene wissenschaftliche Mitarbeiter sowie durch die interne Forschungs- und Arbeitsgruppe „Geschichte des
BND“, die aus sieben Mitarbeitern des Dienstes unter
der Leitung des Historikers Bodo Hechelhammer besteht. Diese interne Arbeitsgruppe hilft, Akten aufzufinden und für die wissenschaftliche Arbeit nutzbar zu machen. Das ist wichtig - und das muss der Öffentlichkeit
einmal gesagt werden -: Der Bundesnachrichtendienst
hatte immer ein Archivierungswesen, das für die Erfordernisse der laufenden Arbeit des Dienstes gestaltet war.
Das ist nicht zu vergleichen mit dem politischen Archiv
des Auswärtigen Amtes, welches seit Jahrzehnten auf
die Tätigkeit von Wissenschaftlern ausgerichtet ist.
Beim BND müssen viele Akten und Unterlagen erst zusammengestellt und für die wissenschaftliche Arbeit aufbereitet werden. Wir unterstützen diesen ambitionierten
Prozess sehr nachdrücklich. Er kostet Zeit und Mühe.
Das Ziel aber rechtfertigt den hohen Aufwand. Haushaltsmittel in einer Höhe von 1,5 Millionen Euro sind
dafür vorgesehen. Der Zeitaufwand bis zum Jahr 2015
erscheint der Größe der Aufgabe angemessen. Es gilt:
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
Betrachtet man die Themen, die die einzelnen Mitglieder der Historikerkommission bearbeiten, so stellt
man fest, wie umfassend vorgegangen wird. So wird die
Geschichte der Organisation Gehlen mit ihren Verflechtungen, ihrem Berichtswesen, ihrer Zusammenarbeit mit
befreundeten Diensten aufgearbeitet, und es wird der
Aufnahme von NS-belasteten Mitarbeitern nachgegangen. Das Verhältnis zwischen Bundesnachrichtendienst
und Bundeswehr, die innenpolitische Einflussnahme der
Organisation Gehlen bzw. des BND in den 50er- und
60er-Jahren, ihre Kontrolle durch die Regierung und das
Parlament sind weitere Themen der Kommission.
Das soeben beschriebene Vorgehen bedeutet nicht,
dass man bis zum Jahr 2015 weder etwas sehen noch erfahren kann. So werden weitere einzelne Projekte an
externe Historiker vergeben, und auch die interne Forschungs- und Arbeitsgruppe trägt mit laufenden Veröffentlichungen zu bereits abgeschlossenen Projekten zur
Transparenz bei. Ferner ist es bereits heute jedermann
möglich, nach Maßgabe des Bundesarchivgesetzes Einsicht in deklassifizierte Archivunterlagen zu nehmen.
Grenzen - das soll nicht unerwähnt bleiben - erfährt das
Einsichtsrecht durch gesetzliche Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes, durch das Persönlichkeitsrecht oder
durch Vorgaben des Geheimschutzes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU und CSU unterstützen den begonnenen Aufarbeitungsprozess und
das zugrundeliegende Konzept.
({1})
Wir lehnen den heute zur Debatte stehenden Antrag der
Linksfraktion ab. Eine solide und umfassende Aufarbeitung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes ist
ein Gewinn für uns alle. Das unterstützen wir. Ich denke,
dazu brauchen wir keine Ratschläge einer Linken, die
selbst aus einer totalitären Partei hervorgegangen ist.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Manfred Grund. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Michael Hartmann. Bitte
schön, Kollege Michael Hartmann.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der 27. Januar, der Tag des
Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Deshalb möchte ich ähnlich wie der Kollege Grund an dieses
Erinnern und an die Betroffenheit anknüpfen, die nachklingt, wenn man noch die Worte von Marcel ReichRanicki im Ohr hat. So leise und schwach sie gesprochen waren, so anrührend und doch treffend waren sie,
was die Schilderung dieser schrecklichsten deutschen
Zeit anbelangt.
Deshalb möchte ich nicht der Versuchung nachgeben,
in die üblichen parlamentarischen rhetorischen Auseinandersetzungen einzusteigen, sondern darauf hinweisen, dass gerade angesichts dieser Geschichte, die wir erlebt haben, die Lehren aus dieser dunklen deutschen Zeit
sehr wichtig und prägend für unser Grundgesetz und für
unseren politischen Alltag in dieser zweiten deutschen
Republik waren und sind, nachdem die Weimarer Republik auch daran gescheitert war, dass es in ihr zu wenige
Demokraten gab.
Deshalb ist eines klar - insofern gilt meine Anerkennung der Fraktion der Linken -: Jede kritische Nachfrage ist erlaubt. Jede kritische Beschäftigung mit dem
Agieren des geheimen Nachrichtendienstes, in dem Fall
unseres Auslandsnachrichtendienstes, ist sogar geboten.
Denn in dieser Geschichte, die wir alle in unserem kollektiven Unterbewusstsein haben, spielte die Anatomie
des SS-Staates - der Geheimdienst, die Gestapo und andere geheime Einrichtungen - eine sehr große Rolle.
Weil wir Lehren gezogen haben und weiter Lehren ziehen wollen, ist eine uneingeschränkte Aufarbeitung unerlässlich und geboten.
({0})
Ich sage allerdings genauso deutlich: Viele Konsequenzen wurden bereits gezogen. Wir haben heute ein
ganz anderes Nachrichtendienstwesen und ganz andere
Formen der parlamentarischen Kontrolle. Bei allem, womit man vielleicht auch als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums da und dort im Alltag unzufrieden sein muss, sehr geehrter Herr Ströbele: Diese
weitgehende, sogar in der Verfassung verankerte Möglichkeit, in jeden einzelnen Vorgang der Nachrichtendienste Einsicht zu nehmen und Fragen zu stellen, der
Umstand, dass sich Mitarbeiter und Betroffene unmittelbar an uns wenden können, und Ähnliches mehr gereichen uns zur Ehre im Reigen westlich geprägter parlamentarischer Demokratien.
({1})
Das heißt aber nicht, dass alles Gold ist, was da
glänzt. In der Tat ist die Aufarbeitung auch aus zeitgeschichtlichen Umständen und Gründen nötig. Denn wir
wissen, dass es da und dort eine ungute personelle Kontinuität gab. Es gab - Herr Grund hat es ebenfalls angesprochen - ungute Seilschaften, die sozusagen direkt
von der SS, der Waffen-SS und der NSDAP in die Organisation Gehlen und dann in den Bundesnachrichtendienst hineingeführt haben.
Deshalb ist es wahr: Was das anbelangt, gab es in
Wirklichkeit nach 1945 oder mit der Regierungsbildung
unter Konrad Adenauer im Jahr 1949 keine Stunde null.
Es gab vielmehr Kontinuitäten, übrigens nicht nur in der
Bundesrepublik Deutschland, die damals entstand, sondern auch in der entstehenden DDR, wo auch später im
Ministerium für Staatssicherheit und in der Stasi selbst
NS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter integriert wurden
und in hohe und höchste Positionen gelangt sind.
Die Aufarbeitung hat begonnen. Am 15. Februar 2011
hat der damalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, einen Vertrag unterzeichnet, der dem
Anspruch nach vier sehr kritischen Wissenschaftlern alle
Türen öffnet und Zugang zu den Akten - natürlich keinen beliebigen, aber einen vollständigen - ermöglicht.
Ich rate allen, die vielleicht ein altes Verständnis von
dem Agieren eines Dienstes in ihren Köpfen und in ihrer
Seele haben, nicht an eine Kameraderie im Dienst zu
denken, sondern daran, dass mit den Fällen Eichmann
und Barbie und vielen anderen historischen Komplexen
Zeitgeschichte geschrieben wird. Diese Zeitgeschichte
kann nur dann korrekt geschrieben werden, wenn alle
Archive offen sind und alle Akten zur Verfügung gestellt
werden.
({2})
Ich sehe durchaus die Bereitschaft dazu. In einem Abwägungsprozess müssen wir aber anerkennen, dass da
und dort Informationen von anderen Diensten an unsere
gelangen, die wir nicht einfach freigeben können. Es gibt
auch Situationen, in denen Personen um Wahrung ihrer
Integrität bitten. Aber das muss abgewogen werden und
Michael Hartmann ({3})
darf nicht von vornherein zugunsten des Geheimschutzes entschieden werden.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit des Bundesnachrichtendienstes, des Auswärtigen Amtes sowie oberster
und oberer Bundesbehörden hat spät begonnen; das
stimmt. Aber sie findet statt und muss stattfinden. Bei
der hervorragenden Aufarbeitung der Vergangenheit des
Bundeskriminalamtes beispielsweise ist niemand geschont worden. Wenn unsere Sicherheitsbehörden heute
stark sein wollen, dann müssen sie auch so stark sein,
zuzugeben, was sowohl damals als auch in ihrer jüngeren und jüngsten Geschichte falsch gelaufen ist. Das
macht sie nur stärker und schwächt sie in einer offenen
und kritischen Gesellschaft keineswegs.
({4})
Ich gehöre zu jenen, die mit großer Anerkennung und
großem Respekt auf das blicken, was die Nachrichtendienste leisten. Gerade der BND hat sich geöffnet und
einen großen Schritt hin zur Offenheit vollzogen. So offen wie derzeit war der Bundesnachrichtendienst noch
nie, auch wenn das manchem in diesem Saal niemals genügen wird.
({5})
Wir haben den Umzug des BND auf den Weg gebracht
und damit ein neues Kapitel der Transparenz eingeläutet.
Wir haben die alte Denkweise aus den Zeiten des OstWest-Konfliktes zunehmend, wenn auch nur schrittweise, in diesem Dienst abgebaut. Wir zeigen mit dem
angesprochenen Projekt, dass der BND von heute nicht
mehr der BND aus der Zeit des Kalten Krieges ist.
Der Bundesnachrichtendienst leistet insgesamt wertvolle Arbeit nicht nur beim Schutz unserer Soldatinnen
und Soldaten im Ausland und dadurch, dass er uns Informationen über die Weltlage liefert, sondern auch dadurch, dass er uns vor drohenden Angriffen von Terroristen warnt. Diese Liste könnte ich beliebig fortsetzen.
Bei weitem nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden nach B 6, B 9 oder noch höheren Besoldungsgruppen bezahlt. Nichtsdestotrotz sind die Beamtinnen
und Beamten mit viel Engagement und der Bereitschaft,
für unser Land ihre Pflicht zu tun, oft in gefährlichen
Missionen unterwegs. Diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möchte ich im Namen des Parlaments heute ein
Dankeschön aussprechen.
Danke sehr.
({6})
Vielen Dank, Kollege Michael Hartmann. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Stefan Ruppert. Bitte schön, Kollege Dr. Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bewegende der heute Morgen von uns allen erlebten Gedenkstunde war, dass der Redner ReichRanicki keine Einordnung durch seine Worte vorgenommen hat, sondern den historischen Sachverhalt wie ein
Chronist und doch aus subjektiver Sicht - weil er eben
selbst Betroffener und Beteiligter war - schlicht dargelegt hat. Gerade weil keine großen Worte darüber verloren wurden, welches Leid er damals empfunden hat, hat
das historische Ereignis auf uns alle unmittelbar gewirkt.
Das ist der Wert guter historischer Beschreibung, ob nun
durch Zeitzeugen oder durch Historiker. Dieser Wert ist
ein Eigenwert, wie wir heute alle empfunden haben.
Was bedeutet das für den Umgang mit der Geschichte
unserer Behörden und Ministerien? Der Umgang mit unserer Geschichte hat mittlerweile ihre eigene Geschichte.
Der Historiker Norbert Frei hat im Hinblick auf die 50erJahre von Vergangenheitspolitik gesprochen.
({0})
Er hat in einem sehr guten Buch deutlich gemacht, dass
die junge Adenauer’sche Bundesrepublik eine eigene
Vergangenheitspolitik hatte, dass es bei den Bürgern
über die Parteigrenzen hinaus eine spezielle Form des
Umgangs mit der Vergangenheit gab,
({1})
die wir heute nicht mehr teilen.
Interessanterweise hat dann Ulrich Herbert, ein weiterer Historiker, festgestellt, dass sich nicht erst 1968, sondern bereits in den Jahren zuvor der Umgang mit dieser
Geschichte gewandelt hat. Aber die Geschichte war für
die Wissenschaftler und Historiker, die sich dieses Themas widmeten - ich selbst bin Rechtshistoriker und war
am Max-Planck-Institut am Rande an der Aufarbeitung
der Geschichte des BKA beteiligt -, noch risikobehaftet.
Man erinnere sich an die Arbeiten von Bernd Rüthers,
von Michael Stolleis oder auch von Alexander von
Brünneck, die in frühen Habilitationen in den 60er- und
70er-Jahren die NS-Vergangenheit aufgearbeitet haben
und dann teilweise Schwierigkeiten mit ihrer eigenen beruflichen Karriere hatten. Damals bestand eine aufgeladene Situation.
Diese Form des Umgangs hat sich dann wiederum gewandelt, und im deutschen Historikerstreit in den 80erJahren ist eine Auseinandersetzung aufgeflammt, in der
es darum ging, dass einzelne Historiker - Nolte und
andere - zu zeigen versucht haben, dass die Geschichte
des Nationalsozialismus eine spezifische Vorgeschichte
hatte. Sie wollten sozusagen einen Abgleich von zwei
Unrechtssystemen herbeiführen, was von vielen - zu
Recht, wie ich finde - als problematisch empfunden
wurde.
Heute sind wir noch einen Schritt weiter: Wir wollen
verstehen, wie diese Behörden damals funktioniert haben. Wir wollen nicht zuvorderst sagen - auch wenn wir
es natürlich feststellen -: Da gibt es Kontinuitäten im
Personal zwischen dem Nationalsozialismus und der früDr. Stefan Ruppert
hen Bundesrepublik. Das wissen wir alle. Das ist für den
Bundesgerichtshof aufgearbeitet worden, das ist auch für
meine Partei aufgearbeitet worden. Ich kann ganz offen
sagen: In Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen
gab es personelle Kontinuitäten, und es ist wichtig, dies
zu wissen und offenzulegen.
({2})
Warum ist es aber wichtig? - Da habe ich manchmal
meinen Zweifel an dem Umgang der Linken mit diesem
Thema. - Es ist wichtig, weil wir verstehen wollen, wie
solche Dinge funktionieren, weil wir verstehen wollen,
warum es diese Kontinuitäten gab, warum Menschen in
der frühen Bundesrepublik das Bedürfnis hatten, diese
Leute wieder zu integrieren. Ob das aus unserer heutigen
Sicht moralisch richtig oder falsch war, ist eine andere
Frage. Ich will verstehen, warum es solche personellen
Kontinuitäten gab.
Ich denke, diesbezüglich sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir haben sowohl den verdrängenden Charakter der frühen Bundesrepublik als auch den teilweise
vorrangig moralisierenden Drang abgelegt, den wir in
den 60er-Jahren und besonders 1968 in dieser Frage hatten. Das war aus der Zeit heraus durchaus verständlich
und ist von mir gar nicht zu kritisieren. Aber heute sind
wir in Deutschland in der, wie ich finde, komfortablen
Situation, dass wir es aus der historischen Distanz wie
kein anderes Land in der Welt schaffen, uns einerseits
unserer eigenen Vergangenheit zu stellen, aber andererseits auch genau aufzuarbeiten, warum es damals so war.
Dabei gibt es kein Schwarz oder Weiß, kein Moralisch
oder Unmoralisch, sondern dabei geht es einzig und allein darum, nachzuweisen, wie diese Kontinuitäten aussahen und wie diese Netzwerke - auch in unseren Behörden - funktionierten.
({3})
Ich denke, wir tun gut daran, diesen historisierenden,
verstehenden Ansatz hochzuhalten und ihn nicht in ein
Rechts-Links-Schema zu zwängen, indem die Linkspartei die Koalition anklagt, sie habe zu wenig Vergangenheitsbewusstsein, und wir dann sagen: Nein, das war alles gar nicht so schlimm. - Wir wollen es vielmehr
verstehen. Das sollten wir konsensual tun. An manchen
Stellen Ihres Antrags beschleicht mich das Gefühl, dass
dieser eher noch das politisch Wertende, Moralisierende
und uns anklagen Wollende - ich habe überhaupt kein
Problem mit diesen Verhältnissen in der frühen Bundesrepublik - anstatt die saubere historische Erkenntnis und
das Historisieren der Akten in den Vordergrund stellt.
({4})
Ich denke, in diesem Punkt sind wir uns alle einig. Da
sollten wir ansetzen. Herr Grund und auch Herr
Hartmann haben ja die bisherigen, wie ich finde, hervorragenden Bemühungen geschildert. Wenn wir da Gemeinsamkeiten entwickeln, anstatt uns gegenseitig Verdrängung oder Geheimhaltungsinteressen vorzuwerfen,
kommen wir wesentlich weiter, auch im Sinne der historischen Erkenntnis.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ruppert. - Jetzt spricht für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte
schön, Kollege Jan Korte.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bis jetzt wurden in der Tat, so finde ich,
durchaus bedenkenswerte Beiträge geliefert.
({0})
Ich glaube allerdings - da stellt sich die Frage, worüber
wir diskutieren -, dass eine kritische Vergangenheitspolitik in der Geschichte der Bundesrepublik immer nur
dann überhaupt stattgefunden hat, wenn marginalisierte
Einzelpersonen - das darf man nicht vergessen -, wie in
den 50er-Jahren, ihre Stimme erhoben haben. Ich denke
an Martin Niemöller und Eugen Kogon, Fritz Bauer
nicht zu vergessen. Die standen auf einsamem Posten. In
der Tat gab es also diese Gegenposition. Das dürfen wir
nicht vergessen.
Wenn man an einem Tag wie diesem an die Opfer und
ihre Angehörigen denkt, darf man auch nicht über die
Täter, die es massenhaft gegeben hat, schweigen. Ich bin
fest davon überzeugt, dass die Opfer, ihre Angehörigen,
die Wissenschaft und die gesamte Öffentlichkeit ein
Recht darauf haben, vollumfänglich zu erfahren, was aus
diesen Tätern geworden ist. Sie sind nämlich fast alle
nicht vor Gericht gestellt worden, fast alle ihre Straftaten
sind nicht verfolgt worden.
In den letzten zwei Jahren kamen Namen und Vorgänge ans Tageslicht. Ich will einige Namen nennen:
Adolf Eichmann, Alois Brunner, Klaus Barbie, Walter
Rauff. Diese Massenmörder - das muss man sich einmal
vorstellen - standen zeitweise im Sold des BND oder
wurden von ihm gedeckt. Zum Teil glich damals der
BND bzw. seine Vorläuferorganisation, die Organisation
Gehlen, einer einzigen großen Resozialisierungszentrale
für schwerstkriminelle Massenmörder. Das waren nicht
irgendwelche Mitläufer, sondern das waren zentrale Figuren in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Das
waren keine Ausnahmen; denn es war die Zeit der Rückkehr der alten Eliten in Amt und Würden.
Es ist kein Zufall, dass der große hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer - ich habe ihn eben genannt seine umfangreichen Ermittlungsergebnisse zum Fall
Eichmann eben nicht einer deutschen Behörde übergeben hat, sondern dass er - man kann sich das heute kaum
mehr vorstellen - mit einem Koffer nach Israel geflogen
ist, um sie seinen israelischen Kollegen zu übergeben.
({1})
So ist die Situation damals gewesen. Das war der große
Frieden mit den Tätern. Damit hat Ralph Giordano sehr
recht.
Seit einigen Jahren - Sie haben eben Norbert Frei und
andere genannt - gibt es in der Tat eine hervorragende
Forschungslage zum Umgang mit der NS-Vergangenheit
in der Bundesrepublik. Es ist gut, dass es sie gibt. Vor allem viele junge Wissenschaftler sind auf diesem Feld aktiv. Ich glaube allerdings - deswegen ist unser Antrag
notwendiger denn je -, dass die Politik der Wissenschaft
sehr hinterherhinkt, was den Willen zur Erforschung und
zur Aufarbeitung angeht. Deswegen dieser Antrag.
({2})
Es geht ganz konkret um die Gewährung eines freien Zugangs zu all den betreffenden Akten des Bundesnachrichtendienstes und übrigens auch des Kanzleramtes, um
das deutlich zu sagen. Auch dort gilt es, einiges aufzuarbeiten, was diese Zeit angeht.
Ich will zwei Gründe nennen, warum dieser Antrag
ganz praktisch für Historiker und übrigens auch für die
Historikerkommission von Vorteil sein kann. Wir haben
mitbekommen, dass - am 29. November 2011 ging es
durch die Presse - offenbar 253 Personalakten vernichtet
worden sind. Das ist ein irrer Vorgang. Man setzt eine
Historikerkommission ein, die das aufarbeiten soll, und
253 Akten werden vernichtet. Was ist denn da bitte
schön los? Das Kanzleramt geht davon aus - das wurde
auf unsere mehrfache Nachfrage erklärt -, dass offenbar
1996 und 2007 Akten vernichtet wurden, die dieser
Kommission nun fehlen.
Ganz konkret gibt es offenbar den Fall von 1994, als
581 Seiten der Akte von Alois Brunner - das war die
rechte Hand von Adolf Eichmann - vernichtet worden
sind. Man muss an einem Tag wie dem heutigen im
Deutschen Bundestag danach fragen, warum diese Akten vernichtet wurden, ob das jemand politisch angeordnet hat und wer dafür die politische Verantwortung trägt.
Auch das muss gefragt werden.
({3})
Es gibt zu diesem Thema Berichte der Historikerkommission und Artikel im Spiegel und in der Bild-Zeitung,
die im Monatsrhythmus veröffentlicht werden. Wenn wir
parlamentarische Anfragen stellen oder wenn Historiker
Nachfragen zu diesem Thema stellen, dann gibt es zu oft
die Auskunft, dass die Akten entweder nicht gefunden
werden können oder dass sie vernichtet worden sind.
Angesichts dessen muss sich auch die Historikerkommission - wenn sie denn eine unabhängige Kommission
sein will - fragen, wie lange sie diese Zustände eigentlich noch akzeptieren will.
({4})
Ich glaube, dass das Kanzleramt als politisch verantwortliche Instanz hier in der Tat am Zuge ist, diesen Historikern und der Öffentlichkeit einen freien und völlig
unbehinderten Zugang zu gewähren.
Alle, die an diesem Thema interessiert sind, sollten
die Mahnung des unumstritten hervorragenden Zeithistorikers Michael Wildt zur Kenntnis nehmen. Er fragte
im Spiegel im Januar 2012, ob die ganze Konstruktion
von - ich zitiere - „sicherheitsüberprüften Kommissionen mit streng begrenztem Aktenzugang“ eigentlich einer unabhängigen und kritischen Wissenschaft angemessen ist. Ich glaube, er hat mit dieser Frage sehr recht.
({5})
Ich schließe mit zwei Einzelfällen. Schon 1952, so
geben es die bis jetzt aufgearbeiteten Akten her, wusste
der BND offenbar, wo sich Adolf Eichmann aufhält 1952! Noch etwas will ich in diesem Zusammenhang sagen: 1953 wurde Hans Globke Kanzleramtsminister.
Auch das kann man in so einem Prozess nicht außen vor
lassen.
Klaus Barbie wurde beim BND geführt, weil er - ich
darf zitieren - „kerndeutscher Gesinnung“ und ein „entschiedener Kommunistengegner“ sei. Das sind doch Zustände, die uns hier alle gemeinsam über alle Fraktionsgrenzen hinweg zutiefst empören sollten.
({6})
Ich glaube, unser Antrag ist aktueller denn je. Seine
Verabschiedung kann für die Historikerkommission eine
politische Unterstützung sein, um sich gegenüber denjenigen, die offenbar nicht alles herausgeben wollen, politisch zur Wehr zu setzen und um wirklich Unabhängigkeit zu generieren.
Ich habe mit Ralph Giordano angefangen und will
auch mit ihm enden. Er hat in seiner berühmten Streitschrift die Rückkehr der Funktionseliten als „die zweite
Schuld“ bezeichnet. Wenn wir jetzt mit großer Mehrheit
dafür sorgen würden, dass alles, alle Akten und alle personellen Kontinuitäten, auf den Tisch kommt, dann
könnten wir zumindest ein kleines Stückchen dieser
zweiten Schuld abzutragen beginnen. Es ist jetzt, im
Jahre 2012, wirklich an der Zeit, alles auf den Tisch zu
legen und Verzögerungen und Behinderungen endlich zu
unterlassen.
Danke.
({7})
Vielen Dank, Kollege Jan Korte. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Hans-Christian Ströbele.
Bitte schön, Kollege Ströbele.
Danke. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang der 80er-Jahre - ich glaube, es war im
Sommer 1982 - war ich in La Paz in Bolivien und habe
dort vor dem Café „La Paz“ auf Klaus Barbie gewartet.
Klaus Barbie ist der „Schlächter von Lyon“. Er ist während der Kriegszeit in Frankreich der Chef eines SS-Jägerkommandos gewesen, das Juden und Widerstandskämpfer im Untergrund aufgespürt und ermordet hat. Er
ist nach dem Krieg in Frankreich in Abwesenheit zum
Tode verurteilt worden, unter anderem deshalb, weil er
in Südfrankreich 44 jüdische Kinder, die in einem Kinderheim versteckt waren, entdeckt, in einen Waggon verladen und nach Auschwitz gebracht hat. Keines von diesen 44 Kindern hat überlebt.
Über diesen Klaus Barbie habe ich mich in den 70erJahren in Deutschland zu informieren versucht. Ich
wollte wissen, was er treibt und wo er geblieben ist. Es
gab Gerüchte, dass er sich in Südamerika aufhält, und es
gab - nicht in Deutschland, aber in Frankreich - durch
die deutsche Staatsbürgerin Beate Klarsfeld und ihren
französischen Ehemann Serge Klarsfeld Recherchen
über sein Leben, über seinen Werdegang, auch nach dem
Krieg, und über seinen Aufenthalt in Südamerika.
Ich wäre damals nie auf den Gedanken gekommen, bei
deutschen Behörden, etwa beim BND oder beim Auswärtigen Amt, nachzufragen. Es war für uns damals nicht nur
ganz generell völlig undenkbar, dass sie Auskunft gegeben hätten, sondern ich hatte schon seinerzeit in einer
französischen Zeitung gelesen, dass der Verdacht besteht,
dass der Bundesnachrichtendienst der Bundesrepublik
Deutschland noch nach dem Krieg, noch in den 60er-Jahren mit Klaus Barbie zusammengearbeitet und ihn in Lateinamerika zu einem Monatslohn von 500 D-Mark beschäftigt hat. Insgesamt soll er damals eine ganze Reihe
von Berichten - ich glaube, 40 oder 50 - an den Bundesnachrichtendienst geliefert haben.
Inzwischen wissen wir, dass das wahr ist. Durch die
Akten des Bundesnachrichtendienstes, die im Jahr 2010
durch den deutschen Historiker Hammerschmidt aufgedeckt worden sind und die sich inzwischen im Bundesarchiv befinden, ist belegt, dass Barbie der Agent des
Bundesnachrichtendienstes mit der Nummer 43118 in
Lateinamerika gewesen ist.
Klaus Barbie hat im Jahr 1980, also zwei Jahre bevor
ich in jenem Café auf ihn gewartet habe, den Militärputsch in Bolivien unterstützt, er hat für die Militärs dort
die Geheimpolizei ausgebildet, und er hat Kommandos
organisiert, die die Oppositionellen im Untergrund aufgespürt und zum Teil getötet haben. Das war ein Teil der
Karriere des deutschen NS-Täters Klaus Barbie nach
dem Krieg.
Ich habe damals vergeblich gewartet. Ich hatte die
Mitteilung, dass er sich in Bolivien aufhält - das stimmte
offenbar auch - und dass er fast jeden Vormittag im Café
„La Paz“ am Prado in La Paz seinen Kaffee trinkt. Ich
wollte ihn. Was ich damals gemacht hätte, wenn er gekommen wäre, weiß ich nicht.
Ein halbes Jahr später ist Klaus Barbie unter anderem
aufgrund der Recherchen von Beate Klarsfeld und ihrem
Mann in Bolivien verhaftet worden. Inzwischen war die
Militärregierung gestürzt worden, und es gab eine Zivilregierung unter Siles Zuazo, die Klaus Barbie im Februar 1983 an Frankreich ausgeliefert hat, wo er erneut
vor Gericht gestellt werden sollte.
Was zeigen dieses und viele andere solcher Beispiele?
Sie haben das Beispiel Eichmann genannt. Der Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer, einer der verdientesten Juristen der Nachkriegszeit in Deutschland, hat
seine aus Unterlagen gewonnenen Erkenntnisse über den
Aufenthalt von Eichmann in Argentinien gerade nicht an
das Bundeskriminalamt und schon gar nicht an den BND
weitergegeben, sondern er hat sie nach Israel gebracht
und dort dem Mossad gegeben. Das hat dazu geführt,
dass Eichmann 1960 vom Mossad aus Argentinien entführt und in Israel vor Gericht gestellt und verurteilt
worden ist.
Das Ganze zeigt uns, dass es nicht nur die schreckliche deutsche Vergangenheit bis 1945 gegeben hat, sondern dass es noch einen zweiten Teil einer schlimmen
Vergangenheit als Folge der Nazizeit in Deutschland gegeben hat. Und die ist bis heute nicht ganz zu Ende.
({0})
Ein Anlass Ihres Antrages ist - auch wir haben einen
Antrag gestellt, Akten offenzulegen, der aber noch im
Innenausschuss liegt -, dass es der Journalistin Gaby
Weber selbst noch im Jahr 2009, also vor wenigen Jahren, verweigert worden ist, die Akten zum Fall
Eichmann vom BND zu bekommen. Das musste sie
dann vor dem Bundesverwaltungsgericht einklagen.
Diesen Prozess hat sie gewonnen. Eigentlich sollten
3 400 Blatt Akten herausgegeben werden. Sie wurden
aber weiterhin geschwärzt und aussortiert und ihr bis
heute nur zum Teil zur Verfügung gestellt. Das heißt,
auch bis heute dauert die partielle Aktenverweigerung
an.
({1})
Deshalb sage ich zum Schluss: Deutschland wird in
der Welt für die neue Art der Aufarbeitung, nämlich bei
der deutschen Vergangenheit DDR, viel geehrt. Wir haben zum Beispiel Fachleute nach Ägypten geschickt, die
das dort erklären. Aber wir Deutschen mussten uns von
den Bürgerrechtlern in der DDR sagen lassen, wie man
die Vergangenheit aufarbeitet. Wir mussten uns geradezu
dazu zwingen lassen, dass die Akten der Staatssicherheit
- das wollte Herr Schäuble zum Beispiel nicht - für alle
Betroffenen, vor allem für die Journalisten und Historiker, zur Aufarbeitung offengelegt werden.
({2})
Eine Forderung der Bürgerrechtsbewegung, die noch offen ist, war, alle Akten in Deutschland, auch die der
westdeutschen Geheimdienste, offenzulegen. Das hat sie
immer wieder betont, auch nach der Erstürmung der Stasizentrale. Wir warten heute noch darauf, dass dieses
Versprechen wahrgemacht wird.
Ich schließe mich dem Lob für den Bundesnachrichtendienst an, vor allen Dingen für Herrn Uhrlau, der die
Historikerkommission eingesetzt hat. Ich habe den Vertrag hier. Er ist gut.
Haben Sie bitte Ihre Redezeit im Auge.
Die Wissenschaftler, die er beauftragt hat, sind in
Ordnung. Die sollen das machen.
({0})
Es müssen aber gleichzeitig - und das ist dringend erforderlich - sämtliche Akten anderen Wissenschaftlern,
Journalisten und der Bevölkerung, die sich dafür interessiert, offengelegt werden, wie die USA dies bereits vor
vielen Jahren mit Akten über NS-Täter getan hat. Was
die USA können, muss auch unser Geheimdienst, der
Bundesnachrichtendienst, können.
({1})
Vielen Dank, Kollege Ströbele. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. HansPeter Uhl. Bitte schön, Kollege Uhl.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich habe mir gerade noch einmal den Antrag der
Linken angeschaut und der Rede des Kollegen Korte zugehört. Dabei habe ich mich gefragt: Was wollen Sie eigentlich für einen Eindruck hier erwecken? Was ist Ihr
Begehren? Was wollen Sie durchsetzen? Wer hindert Sie
daran? Alle Fraktionen sind sich doch einig, dass wir
alle unsere Behörden, auch den Bundesnachrichtendienst, auf mögliche Verstrickungen in den Jahren nach
der NS-Diktatur, in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland, untersuchen und die Akten aufdecken.
So machen wir es auch hier. Mit hohem personellen,
materiellen und wissenschaftlichen Aufwand ist eine Expertenkommission tätig und wühlt sich durch den Aktenberg der Archive, die, wie ich aus Insiderkreisen höre,
reichlich ungeordnet sind. Das ist kein Wunder. Wer jemals in Behörden tätig war, weiß, dass es im Archiv
meistens so zugeht. Beim Bundesnachrichtendienst
herrscht vielleicht noch etwas mehr Unordnung als in
anderen Behörden, zum Beispiel dem Grundbuchamt
oder anderen Behörden. Das ist so.
({0})
Das hat mehr menschliche Gründe als politische Gründe.
Ich möchte einen ganz banalen Gedanken in die Diskussion der politischen Unterstellungen einführen. Wer Behördenleiter ist und einen mäßig befähigten Mitarbeiter
hat - so etwas soll es geben -, der fragt sich: Wo soll der
arbeiten? Im Archiv!
({1})
Wir wissen, was dabei herauskommt. Man muss hinterher suchen, um zu finden, was man braucht.
Sie haben von der Vernichtung von Akten gesprochen. Sie haben das so vorgetragen, als wäre damit - das
wird natürlich insinuiert - eine politische Absicht verbunden gewesen.
({2})
Dieses werden die Wissenschaftler aufklären müssen
und hoffentlich auch aufklären können. Bis zum Beweis
des Gegenteils glaube ich nicht daran, und ich möchte
mich auch nicht an anderen Verdächtigungen oder Unterstellungen beteiligen.
Ich möchte aber eines sagen: Nach jeder Beendigung
einer Diktatur mit großen Apparaten stellt man fest, dass
es Menschen gab, die darin auf unterschiedliche Weise
tätig waren: kleine Mitläufer, Opportunisten, Engagierte,
Schreibtischtäter, und das geht bis hin zu Verbrechern
wie Adolf Eichmann. Das alles hat es gegeben, auch bei
der Abwicklung der DDR. Das alles wird es immer wieder geben, weil es in der Natur des Menschen liegt. Die
Nachfolgeregierung muss sich bei jedem einzelnen Fall
entscheiden: Wen können wir wieder verwenden und
wen auf keinen Fall? Wem geben wir eine Chance?
Wir werden vermutlich am Ende der wissenschaftlichen Untersuchungen feststellen, dass man nach dem
Ende der Nazizeit, zum Beginn des Kalten Krieges, neue
Feindbilder hatte und dass vor allem die Amerikaner
großen Wert darauf gelegt haben, Erkenntnisse zu gewinnen über das, was sich in der Sowjetarmee getan hat
und weiter tun wird.
Wer wusste mehr über die Sowjetarmee als Herr
Gehlen mit seiner Abteilung „Fremde Heere Ost“?
({3})
Niemand wusste so viel wie er. Es lag im Interesse der
Amerikaner, nach der Niederschlagung der Nazidiktatur
so viel wie möglich über den neuen Gegner zu erfahren.
Dazu war er nützlich, einfach nützlich. Da er für die
Amerikaner nicht allein nützlich war, war der eine oder
andere Mitarbeiter aus der früheren Zeit wahrscheinlich
auch nützlich.
Es würde mich also überhaupt nicht wundern, wenn
wir hier und dort auf Namen von Leuten stoßen würden,
die wir heute garantiert niemals einstellen würden.
({4})
- Das muss alles aufgeklärt werden, Herr Ströbele.
({5})
Woran mir liegt, ist, dass hier von keiner Seite der Eindruck erweckt wird, als wolle jemand etwas verheimlichen. Weder die SPD noch die Grünen noch die Union
noch die FDP - niemand von uns allen will so etwas verheimlichen.
({6})
Deswegen hören Sie bitte auf, an einem Bild zu malen,
auf dem nur Sie um wirklich effektive Aufklärung
kämpfen und sonst niemand. Das ist nicht richtig.
({7})
Kollege Dr. Uhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Jan Korte?
Ja, bitte.
Bitte schön, Kollege Korte.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich möchte nachfragen:
Sie haben eben sinngemäß gesagt - korrigieren Sie mich
bitte, wenn ich Sie falsch wiedergebe -, dass es nach
dem Ende der Diktatur aus Gründen des Verwaltungsablaufs etc. pp. notwendig gewesen sei, Minderbelastete,
Opportunisten oder eben auch andere zu übernehmen.
({0})
Mich würde Folgendes interessieren: Wie schätzen
Sie es denn ein, dass das eben nicht nur für Opportunisten oder andere, sondern insbesondere für die Funktionsträgereliten des Nationalsozialismus - Auswärtiges Amt,
der komplette Justizapparat, Teile der Gestapo und anderes - galt?
Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang - das ist
zeithistorisch aufgearbeitet -, dass in der Zeit gerade all
die Exilierten, die Widerstandskämpfer nicht mit roten
Teppichen empfangen wurden? Wie erklären Sie sich in
dem Zusammenhang, dass die anderen gar nicht erwünscht gewesen sind?
({1})
Herr Kollege Korte, das ist die alte, uns sattsam bekannte SED-Propaganda, als hätte es nach der Nazizeit
zwei Sorten von Staaten gegeben:
({0})
den Nachfolgestaat der Nazidiktatur - das ist die westdeutsche Bundesrepublik - und dann den DDR-Staat,
der damit nichts zu tun hat.
({1})
- Nein, aber das ist die Propaganda, an der Sie hier immer noch arbeiten.
({2})
Da ist die alte Propaganda, und die sollten Sie bitte ablegen. Diese SED-Propaganda sollten Sie ablegen.
({3})
Beide Seiten, Ost- wie Westdeutschland, haben gleichermaßen eine Verantwortung zu tragen. Die NS-Verbrecher finden Sie nach dem Ende der Nazizeit auf beiden Seiten, in Ostdeutschland wie in Westdeutschland,
selbst in den Kreisen, die später die DDR regiert haben.
({4})
Deswegen sollten Sie gemeinsam mit uns allen objektiv
bemüht sein, keinen Keil in die Aufklärungsarbeit zu
treiben, so als wolle die eine Seite mehr aufklären und
die andere vertuschen
({5})
oder als wolle die eine Seite Akten vernichten und die
andere Seite Akten aufdecken. Das ist nicht das Thema.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben
wirklich ein Problem beim Thema der Aufklärung im
Bereich eines Nachrichtendienstes. Es kann nicht alles in
die Öffentlichkeit gezogen werden, es gibt zwei Ausnahmen:
Erste Ausnahme. Es gibt einen Informanten des
Nachrichtendienstes, der noch lebt. Der muss natürlich
geschützt werden. Diese Akten können nicht aufgedeckt
werden.
Zweite Ausnahme: Akten, die auch mit Informationen
von westlichen oder anderen Geheimdiensten bestückt
sind. Wir dürfen zum Schutz der Zusammenarbeit mit
anderen Nachrichtendiensten diese Akten nicht ohne deren Zustimmung aufdecken.
Ich bitte, dies zu respektieren und damit nicht wiederum eine Unterstellung zu verknüpfen, als gäbe es
Kräfte, die an einer wahren, kompletten Aufdeckung
kein Interesse haben; das ist bei keiner Partei der Fall.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Uhl - Nächste Rednerin für
die Fraktion der Sozialdemokraten, unsere Kollegin
Gabriele Fograscher. Bitte schön, Frau Kollegin
Fograscher.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich will mich auf die bewegende Rede von Marcel
Reich-Ranicki beziehen. Ich glaube, nur Zeitzeugen gelingt es mit ihren authentischen Schilderungen, das Ausmaß der Grausamkeit und der Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes zu vermitteln. Angesichts
des Grauens, das einen bei diesen Schilderungen erfasst,
fällt es schwer, jedenfalls mir, zur Tagesordnung überzugehen. Herr Ströbele, auch Sie haben heute hier am Pult
gestanden; Sie sind Zeitzeuge für die Zeit nach dem Nationalsozialismus. Auch das fand ich lehrreich und bewegend.
Wir müssen uns leider nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit aktuellem Rechtsextremismus
beschäftigen. Wir haben gestern einstimmig den Untersuchungsausschuss eingesetzt. Dieser Ausschuss soll
klären, wie die rechtsterroristische Zwickauer Zelle, angetrieben von Ausländerhass und brauner Ideologie,
über zehn Jahre hinweg unentdeckt morden und rauben
konnte.
Ich will den Blick auf den Bericht des Expertenkreises lenken, der sich mit Antisemitismus in Deutschland
beschäftigt und Anfang der Woche seinen Bericht vorgestellt hat, mit dem beunruhigenden Ergebnis, dass es in
Deutschland nach wie vor eine konstante Zahl von Menschen mit antisemitischen Einstellungen gibt. Der Bundestagspräsident hat heute Morgen darauf hingewiesen:
20 Prozent der Menschen in Deutschland haben antisemitische Einstellungen; das sind 20 Prozent zu viel. Das
sehen wir genauso.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Geschichte lässt
uns nicht los und darf uns nicht loslassen. Wir brauchen
die historische Aufarbeitung, um zu verstehen, wie es
dazu kommen konnte, dass Anstand, Moral, Werte und
Menschlichkeit so vollständig zusammenbrachen. Die
Aufarbeitung und Aufklärung müssen weitergehen, und
das so transparent wie möglich. Diese Aufarbeitung wird
beim Bundesnachrichtendienst, in den Ministerien und
den Behörden geleistet. Viele Behörden haben unabhängige Historikerkommissionen eingesetzt, so auch der
BND. Einige Ergebnisse liegen bereits vor; sie wurden
auch veröffentlicht.
Die historische Aufklärung beginnt spät - zu spät -,
und es werden Fehler gemacht. Herr Korte, Sie haben
die Akten angesprochen, die im Jahre 2007 vernichtet
wurden. Es handelte sich in der Tat um Personalakten
von Menschen, die während der NS-Zeit bei SS oder Gestapo waren. Dieser Vorgang muss aufgeklärt werden. Es
gibt Bemühungen, diese Akten weitgehend zu rekonstruieren. Ob jemand politisch Verantwortung dafür trägt
und, wenn ja, wer, auch das muss geklärt werden.
Aus der Aufklärung, aus dem Wissen um Vertuschung und personelle Kontinuität in der jungen Bundesrepublik müssen wir aber auch Konsequenzen ziehen;
wir müssen Lehren aus der Vergangenheit ziehen.
Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie muss gelernt, erfahren und gelehrt werden; sie muss täglich verteidigt werden. Deshalb brauchen wir eine nachhaltige
Finanzierung von wirksamen Programmen und eine Unterstützung von Initiativen, die sich für Demokratie und
Toleranz einsetzen. Insofern ist es nach wie vor das falsche Signal, wenn Frau Schröder von diesen Initiativen
eine Demokratieerklärung erwartet.
({1})
Es ist Zeit, dass Frau Schröder diese Klausel streicht.
Der Expertenkreis zum Thema Antisemitismus muss
seine Arbeit fortsetzen können. Er muss zum Beispiel
der Frage nachgehen, wie antisemitische Einstellungen
weitergegeben und tradiert werden und mit welchen
wirksamen Maßnahmen dem entgegengewirkt werden
kann.
Der Untersuchungsausschuss und die Bund-LänderExpertenkommission müssen das Versagen der Sicherheitsbehörden beim Erkennen rechter Gewalt aufarbeiten und konkrete Vorschläge unterbreiten, damit solche
Pannen nicht mehr passieren können.
Wir brauchen eine Strategie in Politik, Institutionen
und Gesellschaft, um Demokratie zu stärken, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Vorurteile zurückzudrängen.
Demokratie kann nicht verordnet werden. Sie kann
nicht an Politik und Politiker delegiert werden. Aber
Politik kann dazu beitragen, Demokratie und Toleranz
zu fördern, zu festigen und zu verankern.
({2})
Daran sollten wir als Demokratinnen und Demokraten
arbeiten. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der
Behörden der jungen Bundesrepublik Deutschland wird
einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass sich Geschichte nie wiederholt.
Danke sehr.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Fograscher. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Patrick Kurth. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die DDR war stets bestrebt, die Bundesrepublik als
Fortsetzung des Dritten Reiches, nur eben unter anderem
Namen, darzustellen. Wir sollten alle gemeinsam dem
Versuch widerstehen, angesichts der Fehler der Bundesrepublik am Anfang, auch bei der Fortsetzung von perPatrick Kurth ({0})
sonellen Kontinuitäten, ein ähnliches Denken anzuwenden oder zumindest zu konstruieren, wie das die DDR
mit der Bundesrepublik gemacht hat.
Die Bundesrepublik ist besonders heute aufgeräumt,
sie ist gesund, eine gesunde Gesellschaft. Sie stellt sich
glaubwürdig und verantwortungsvoll ihrer Geschichte.
Aus dieser Glaubwürdigkeit heraus, aus der Kraft, die
wir entwickeln können, können wir zur Aufarbeitung
schreiten.
({1})
Aufarbeitung ist wichtig. Das tun wir, um verstehen zu
können. Lieber Herr Korte, ich würde mir wünschen,
dass Sie beispielsweise beim Thema Staatssicherheit
- bei dem wir uns auch in der Aufarbeitung befinden genau die Maßstäbe anlegen, die Sie bei der Aufarbeitung der frühen Bundesrepublik anlegen. Das wäre wirklich hilfreich, auch bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur.
({2})
Die Aufarbeitung in den Bundesbehörden ist in den letzten zehn Jahren gut fortgeschritten.
Herr Korte, ich habe übrigens noch einmal nachgeschaut: Am 26. Oktober 1953 lud die DDR-Staats- und
Parteiführung zu einem offiziellen Empfang ein. Empfangen wurde der Generalfeldmarschall Friedrich
Paulus, Führer der 6. Armee in Stalingrad. Er war Leiter
des Kriegsgeschichtlichen Forschungsrates der Hochschule der Kasernierten Volkspolizei.
({3})
Was nützt es uns denn, wenn wir uns gegenseitig Biografien vorwerfen, für die Sie nichts können und für die
wir nichts können?
({4})
Wir müssen den Gesamtzusammenhang erkennen. Wir
müssen die gesamte Geschichte verstehen können. Darum geht es bei der Aufarbeitung.
({5})
Herr Kollege Patrick Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen von Notz?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit einer
Zwischenfrage. - Gerade weil ich Ihren letzten Satz
teile, dass man nicht beginnen sollte, dem verflossenen
DDR-Regime die Versäumnisse der Vergangenheit vorzurechnen, würde ich Sie doch bitten, mir zu erläutern,
was das Versagen Ostdeutschlands bei der Aufarbeitung
der NS-Geschichte eigentlich mit unserem heutigen
Thema zu tun hat. Denn es geht gerade am heutigen Tag
darum, dass wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen. Ich finde, so wie der umgekehrte Versuch nicht
legitim ist, kann man nicht versuchen, die Versäumnisse
unserer Geschichte an der DDR sozusagen gerechtzustoßen.
({0})
Deswegen würde ich Sie bitten, Bezug auf die Versäumnisse Westdeutschlands zu nehmen.
Herr von Notz, wir haben hier oft über Staatssicherheit, SED und Aufarbeitung gesprochen. Wir gehen da
sehr tief. Wir machen Gesetze dazu. Wir geben auch sehr
viel Geld für diese Aufarbeitung aus.
Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir jetzt
ein System bewerten und darüber richten, das vom eigenen Volk gestürzt worden ist. Es muss vielmehr der Eindruck entstehen, dass wir, gerade auch hier im Deutschen Bundestag, Aufarbeitung und Aufklärung des
Beginns der Bundesrepublik leisten. Wir haben hier zwei
ganz interessante Fälle: Die Bundesrepublik ist genauso
wie die DDR aus einer Katastrophe entstanden, und es
musste zu Beginn reorganisiert werden. Dazu brauchte
man Ende der 40er- und Anfang der 50er-Jahre Handlungsfähigkeit in der Verwaltung und im politischen Betrieb. So ähnlich war es ja auch nach dem Untergang der
Deutschen Demokratischen Republik. Auch da brauchte
man Handlungsfähigkeit in der politischen Verwaltung
und im politischen Betrieb.
({0})
Wir können daraus lernen, wie man mit einem Transformationsprozess umgehen kann, und können uns miteinander bemühen, zu verstehen, was man in einer solchen Situation machen kann. Deshalb glaube ich - da
sind wir uns ja doch sehr einig -, dass bei der Aufarbeitung der Geschichte der frühen Bundesrepublik die DDR
eine Rolle spielen muss. Selbstverständlich! Es ist ein
gesamtes Deutschland. Somit müssen wir sowohl über
die Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik
wie auch über die Verwaltung der Bundesrepublik sprechen können.
({1})
Wir arbeiten auf. Wir arbeiten die Stasiakten genauso
auf, wie wir es mit den BND-Akten machen,
({2})
mit den Akten des Auswärtigen Amtes. So hat das Bundesministerium der Justiz jetzt eine Kommission einberufen. Es gibt verschiedene Kommissionen. Das alles ist
auch nicht erst in den letzten Jahren geschehen, sondern
schon viel früher hat das Auswärtige Amt darauf hinge18732
Patrick Kurth ({3})
wiesen, dass es eben nicht Hort des Widerstandes gegen
den nationalsozialistischen Ungeist war.
({4})
Minister Genscher hat das Haus veranlasst, mit diesem
Mythos aufzuräumen.
Ich finde es richtig und gut, dass wir in unserer aufgeklärten Gesellschaft auch die Kraft haben, aufzuräumen
und uns mit unserer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Nennen Sie mir neben diesem einen Fall, CIA, einen anderen Geheimdienst, ob in den USA, in Paris oder
in Moskau, der mit seiner eigenen Geschichte so aufräumt und Historikern Zugang zu seinen eigenen Akten
verschafft!
({5})
Das Entscheidende ist doch, Herr von Notz: Wir haben die Kraft dazu. Das ist auch beispielgebend für die
Entwicklungen in Nordafrika und im Nahen Osten. Dort
entstehen aus diktatorischen Systemen möglicherweise
Demokratien. Wir haben Kraft und Kompetenz, dort unsere Erfahrungen einzubringen und darzustellen, wie wir
es hier gemacht haben. Damit können wir den Leuten
dort anbieten, auch unsere Erfahrungen zur Aufarbeitung dieser Systeme einzubringen.
Ich könnte hier noch stundenlang weiterreden, aber
ich möchte nicht, dass Sie jetzt noch länger hier stehen
müssen, Herr Kollege.
({6})
Der Präsident würde ansonsten dafür sorgen, dass dieses nicht stundenlang erfolgt. Sie haben aber noch Redezeit. - Bitte schön.
Meine Damen und Herren, ich schließe daran an: Wir
wollen - das ist das Entscheidende bei der ganzen Aktenaufarbeitung - verstehen, welche Rolle die Funktionsträger beim Übergang gespielt haben. Wir wollen
über die Hintergründe Bescheid wissen. Waren es alte
NS-Seilschaften? Diese Vermutung liegt nahe. Wir wollen verstehen, wie diese Transformation von einem
staatsterroristischen System zu einem demokratischen
System vonstattenging. Der wichtigste Grund - darauf
habe ich eben schon angespielt - ist: Wir wollen aus diesen Erkenntnissen für die Zukunft lernen. Wir wollen
doch verstehen, was los gewesen ist, um es in Zukunft
besser zu machen, nicht nur hier in Deutschland oder in
Europa, sondern auch zum Beispiel in Nordafrika oder
in Myanmar. In diesem ASEAN-Staat passiert im Moment etwas ganz Großartiges. Dort kann man vielleicht
unsere Kompetenzen und Erfahrungen gebrauchen.
Herr Präsident, ist die Redezeit um?
In der Tat. So schnell geht das.
So schnell geht das. - Dann werde ich den Rest meiner Rede vielleicht zu Protokoll geben oder Ihnen noch
einmal schriftlich übermitteln.
Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Danke schön.
({0})
Letzter Redner in dieser Aussprache ist Kollege
Armin Schuster für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Dieser Tag zeigt aufs Neue eindrucksvoll: Die deutsche
Geschichte stellt uns vor besondere Herausforderungen.
Wir haben die fortwährende Pflicht, sie intensiv aufzuarbeiten und uns mit den Erkenntnissen vorbehaltlos auseinanderzusetzen - darüber dürfte im ganzen Haus Konsens bestehen -, und zwar nicht nur, um zu wissen, was
war, also nicht nur, um zu historisieren, sondern insbesondere auch, um daraus sogar heute noch für die Zukunft zu lernen. Dieses Anliegen ist mir sehr wichtig.
Das gilt auch für die Geschichte der Bundesbehörden.
Deshalb stellt sich der Bund - oder sollte ich sagen:
„stellen wir uns alle“? - in vielfältiger Art und Weise der
Aufgabe, die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Zahlreiche Einrichtungen unterstützen dabei. Das Bundesarchiv
in Koblenz stellt zum Beispiel umfangreiche Aktenbestände zur Verfügung, auch große Aktenbestände zum
Bundesnachrichtendienst.
Zum Wirken des BND gibt es allerdings offene Fragen; sie sind hier schon herausgearbeitet worden. Wir
sind uns einig: Sie müssen beantwortet werden. Dazu
zählen natürlich auch Anhaltspunkte, dass der BND
nicht unwesentlich von Personen aufgebaut wurde, die
schon zur NS-Zeit nachrichtendienstliche Aufgaben innehatten. Inwiefern diese personellen Kontinuitäten Einfluss auf die Arbeit des BND in seinen früheren Jahren
hatten - wie weit gehen die „früheren Jahre“ eigentlich? -,
ist bis heute nicht seriös geklärt. An Mutmaßungen
möchte ich mich aber nicht beteiligen.
Nachdem eine Initiative des BND 2008 zunächst
nicht glückte, geht seit 2011 die schon angesprochene
unabhängige Historikerkommission diesen Fragen nach.
Trotz aller berechtigten Kritik an der bisher eher schleppend verlaufenden Aufklärung, insbesondere über die
Vernichtung eventuell relevanter Akten in jüngerer Zeit
- Herr Korte, Sie haben es angesprochen -, gilt es an
dieser Stelle zu betonen: Wir sind froh darüber, dass wir
jetzt einen gangbaren Weg gefunden haben, diese Fragen
zu beantworten: mit anerkannten Wissenschaftlern, mit
Armin Schuster ({0})
der notwendigen Ausstattung, aber auch mit der nötigen
Rücksicht auf die Arbeitsweise des BND.
Ähnliche Projekte gab es bereits zur Geschichte des
BKA - was dort gemacht wurde, war sehr eindrucksvoll - und zur Geschichte des Auswärtigen Amtes, damals angestoßen von Joschka Fischer. Das Bundesamt
für Verfassungsschutz lässt derzeit ebenfalls die eigene
Historie erforschen. Erst vergangene Woche hat auch
Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger für
ihr Haus eine entsprechende Studie in Auftrag gegeben.
In allen Projekten forschten und forschen hochrangige
Wissenschaftler, und zwar völlig unabhängig von politischen und inhaltlichen Vorgaben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle in
diesem Haus dürfen mit Fug und Recht behaupten, dass
die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Bundesbehörden bei der aktuellen Bundesregierung und bei mindestens den beiden Bundesregierungen zuvor eine erkennbar hohe Priorität genossen hat. Das wird auch
weiterhin so sein.
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Herr Korte jetzt hätte ich fast gesagt: wie mein „Chef“ -, Ihren Antrag zu lesen und mich mit ihm zu beschäftigen.
({1})
Ich zitiere aus Ihrem Antrag:
… alle Einschränkungen des freien Zugangs zu den
Akten des BND im Zusammenhang mit personellen
Kontinuitäten des BND bzw. seiner Vorgängerorganisation zum NS-Regime zu beseitigen und diese
Akten insbesondere der Wissenschaft zugänglich zu
machen …
({2})
Ich habe mich gefragt, ob Sie mit „insbesondere“
meinen, dass diese Akten praktisch für jedermann frei
zugänglich sein sollten.
({3})
Nach Ihrer Rede bin ich mir ganz sicher. Sie haben nämlich gesagt, dass Sie das so wollen.
({4})
An dieser Stelle möchte ich mich ein wenig zum Anwalt des Bundesnachrichtendienstes machen. Eine derart
öffentliche Akteneinsicht für jedermann haben wir weder bei der 2005 begonnenen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Auswärtigen Amt noch bei der im Bundeskriminalamt gewährt. Dafür gibt es gute Gründe. Das
wollen wir auch beim BND so halten.
({5})
- Dazu komme ich gleich.
Der Bundesnachrichtendienst hat sich international
ein außergewöhnliches Renommee erarbeitet. Er gilt bei
seinen Partnern als hochprofessionell. Gleichzeitig unterliegt er wie kein anderer Nachrichtendienst der Welt
der vollen parlamentarischen Kontrolle, insbesondere
durch die Arbeit unseres Parlamentarischen Kontrollgremiums. Diese gelungene Transparenz im demokratischen Sinne steht aber immer in einem Spannungsverhältnis zur eigentlichen Aufgabe des Dienstes, nämlich
im Ausland sicherheitsrelevante und zumeist geheimhaltungsbedürftige Erkenntnisse für die Bundesrepublik
Deutschland zu sammeln. Eine völlige Aktenfreigabe,
quasi für jedermann, würde diese wertvolle Arbeit nicht nur die des BND, sondern auch die seiner internationalen Partner - erheblich beeinträchtigen. Dabei ist
die hervorragend gelungene Vernetzung des BND nicht
nur eines der wichtigsten Instrumente seiner Arbeit, sondern für mich sogar eine Erfolgsgeschichte. Die Balance
zwischen demokratischer Transparenz und internationaler Reputation ist beim Bundesnachrichtendienst in einzigartiger Weise gelungen. Darauf dürfen die Mitarbeiter, aber auch wir stolz sein.
Herr Kollege Schuster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hans-Christian Ströbele?
Ja.
Herr Kollege Schuster, eine ganz kurze Frage, weil
Sie sich dagegen wehren, dass die Akten allgemein zugänglich gemacht werden sollen: Ist Ihnen bekannt, dass
die USA die Akten, die NS-Verbrecher, Leute aus der
NS-Zeit betreffen, völlig freigegeben haben? Diese Akten können Sie im Internet einsehen. Das heißt, man
muss nicht hingehen und fragen, ob man sich ein bestimmtes Blatt ansehen darf, sondern Sie müssen nur die
richtigen Knöpfe an Ihrem PC drücken, dann kommen
Sie an die Akten. Warum können die USA das, und warum soll Deutschland das nicht können, und zwar bezogen auf eine Zeit, die mehr als 60 Jahre zurückliegt?
Über die Motivation der USA hat der Kollege Uhl
schon etwas gesagt. Ich möchte mich auf das konzentrieren, was in diesen Akten steht. Die Akten, die die Amerikaner veröffentlicht haben, betreffen bestimmte Personen und Falldaten. Eine komplette Öffnung des BNDArchivs für jedermann
({0})
würde bedeuten, dass für jeden offengelegt würde: Wie
ist die Arbeitsweise des Nachrichtendienstes? Mit wem
ist er vernetzt? Wir wissen heute überhaupt nicht, wie
weit diese Frühgeschichte reicht.
Armin Schuster ({1})
Ich möchte einer Historikerkommission die Chance
geben, zu beurteilen, welche Veröffentlichungen für die
aktuelle Arbeit des BND kritisch wären und welche
nicht.
({2})
Wenn diese Kommission sagt: Das ist das Datenmaterial,
das man unzweifelhaft veröffentlichen kann, ohne die
Arbeit des BND zu beeinträchtigen, bin ich damit restlos
einverstanden. Ich halte das auch für einen gangbaren
Weg.
Genau deshalb hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr das Forschungsprojekt so ausgestaltet, dass die
notwendige Aufklärung mit der ebenso notwendigen Geheimhaltung mindestens in Teilen der vorliegenden Akten gewährleistet wird. Die Kommission, bestehend aus
vier renommierten Wissenschaftlern, sichtet die Akten
und wird ihre Erkenntnisse anschließend der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Ich bin froh darüber, dass
Ernst Uhrlau damit einen gangbaren Weg der Aufarbeitung eingeschlagen hat. Die für die gegenwärtige Arbeit
des BND unverzichtbare Geheimhaltung bleibt weiterhin gewährleistet. Ausreichend Personal, eine ausreichende finanzielle Ausstattung und Zeit sind vorhanden.
Die Kommission ist allein wissenschaftlichen Grundsätzen verpflichtet und in der Wahl ihrer Quellen frei. Die
Bundesregierung hat den Forschern zugesagt, ihre Ersuchen um Akteneinsicht bei externen Stellen nach Kräften
zu unterstützen. Im Interesse der Erforschung seiner
Frühgeschichte wurde zudem nunmehr festgelegt, dass
keine weiteren für das Projekt relevanten Akten vernichtet werden. Herr Korte, im Gegensatz zu Ihnen möchte
ich behaupten, dass es in diesem Hause und in dieser
Bundesregierung niemanden gibt - ich beziehe Sie da
mit ein -, der die Dreistigkeit gehabt hätte, die Vernichtung von Personalakten, die der BND im November
2011 bestätigt hat, anzuordnen. Entschuldigung, aber
mir fehlt wirklich
({3})
die Vorstellungskraft, dass irgendjemand das angeordnet
haben könnte. Insofern halte ich Ihren Vorwurf für ziemlich abstrus.
({4})
Wir forcieren den Lernprozess Vergangenheitsbewältigung bei unseren Bundesbehörden. Nicht zuträglich ist
für mich allerdings Ihr Lamento über mangelnde Transparenz beim BND. Ihre überzogene Forderung, jedermann in die Akten hineinschauen zu lassen, umzusetzen,
hielte ich letztlich für fahrlässig. Wir haben den transparentesten Nachrichtendienst der Welt. Alle Fraktionen
des Deutschen Bundestages haben die Chance, dies im
Parlamentarischen Kontrollgremium ständig zu verifizieren.
({5})
Wir sind nach wie vor darauf angewiesen, dass der BND
in gewohntem Maße effektive Arbeit leistet und uns bei
sicherheitspolitischen Bedrohungen rechtzeitig und angemessen mit Informationen versorgt. Ohne einen gut
funktionierenden BND würde Deutschland außenpolitisch quasi ohne Radar fliegen. Deshalb wollen wir eine
gleichsam seriöse wie transparente Aufbereitung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Kollege Armin Schuster.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende
der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit
offenlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4468, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1556 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü-
nen. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokra-
ten. Die Beschlussempfehlung ist hiermit angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 25 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut Heiderich,
Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-
Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ländliche Entwicklung und Ernährungs-
sicherheit weltweit verbessern
- Drucksachen 17/7185, 17/8430 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
Ute Koczy
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Lothar Binding ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Spekulation mit agrarischen Rohstoffen verhindern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Niema
Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel
Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Mit Essen spielt man nicht - Spekulation mit
Agrarrohstoffen eindämmen
- Drucksachen 17/3413, 17/4533, 17/5934,
17/7414 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Kirsten Tackmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Dr. Christiane
Ratjen-Damerau. Bitte schön, Frau Kollegin.
({3})
Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Partei! Liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ich sammle mich.
({1})
Also: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Iss deinen
Teller leer und denk an die hungernden Kinder in Afrika:
Ich denke, viele von uns werden sich an diese Worte ihrer Eltern aus der Kindheit erinnern. Doch wie die hungernden Kinder auf dem afrikanischen Kontinent und die
nicht leer essen wollenden Kinder in unserer Welt zusammenhängen, haben uns unsere Eltern nicht erklärt.
Meist gab es auf Nachfrage eine Begründung, die eher
emotional als sachlich war. Und doch gibt es einen Zusammenhang; denn laut Statistik ist noch genug Nahrung
für alle da.
Warum hungern dann aber 925 Millionen Menschen
auf dieser Welt? Eine der Erklärungen ist, dass zu viele
Nahrungsmittel verschwendet werden. In der westlichen
Welt werden tonnenweise Lebensmittel weggeworfen.
Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen,
die FAO, hat errechnet, dass nur 60 Prozent der erzeugten Nahrungsmittel tatsächlich von der Weltbevölkerung
gegessen werden. Bei einigen Produkten ist die Berechnung der FAO besonders erschreckend. So werden nur
32 Prozent der erzeugten Kartoffeln tatsächlich verspeist. Über zwei Drittel der Ernte geht verloren.
In den Entwicklungsländern verdirbt die Ernte oftmals, bevor sie geerntet oder verkauft werden kann.
Wichtig sind daher der Aufbau und die Erweiterung der
Infrastruktur und der genossenschaftlichen Strukturen in
diesen Ländern. Gleichzeitig müssen die Aus- und Weiterbildung lokaler Kleinbauern sowie die praxisbezogene und speziell auf Entwicklungsländer zugeschnittene Agrarforschung intensiviert werden. Wir müssen
dafür Sorge tragen, dass Nahrungsmittel in der westlichen Welt durch Zuschüsse nicht so billig werden, dass
sie leichtfertig verschwendet werden. Alle handelsverzerrenden Subventionen in der westlichen Welt müssen
daher abgebaut werden.
({2})
Der Schlüssel zur Entwicklung in jedem Land ist die
gute Regierungsführung. Die Entwicklungsländer müssen die Verantwortung für die Entwicklung ihrer Länder
selbst in die Hand nehmen. Sie müssen ihre staatlichen
Strukturen reformieren, sodass Wachstum, Gerechtigkeit, gerade auch der Zugang zu Land und Wasser und
der nachhaltige Umgang mit Ressourcen gesichert werden. Wir werden sie dabei unterstützen.
Ein weiteres wichtiges Thema sind die Spekulationen
mit Agrarrohstoffen an Warenterminbörsen. Spekulationen sind für eine vernünftige Preisbildung wichtig. Daher müssen wir die Anträge der Opposition ablehnen.
Allerdings darf der Hunger in der Welt nicht durch Spekulationen verschärft werden. Wir benötigen hier mehr
Transparenz, beispielsweise durch eine Verbesserung
und Offenlegung der Datenlage auf den Märkten für
Agrarderivate.
({3})
Die Bundesregierung hat mit ihrer Politik in den vergangenen zwei Jahren dafür gesorgt, dass der ländliche
Raum und seine Entwicklung in den Mittelpunkt der Armuts- und Hungerbekämpfung gerückt sind. Damit ist
ein Anfang gemacht. Die in meiner Rede genannten
Punkte aus unserem Antrag sind weitere Schritte zur Bekämpfung des Hungers weltweit.
Auch wenn wir alle heute Abend unseren Teller leer
essen, werden gegenwärtig Kinder in Somalia nicht genug zu essen haben. Aber das Verhalten jedes Einzelnen
hat durchaus Auswirkungen, und langfristig werden wir
die Weltbevölkerung nur ernähren können, wenn erstens
alle Regierungen ihre Verantwortung übernehmen, zweitens die Agrarproduktion gesteigert wird und drittens
Ressourcen geschont werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist
unser Kollege Dr. Sascha Raabe für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen!
({0})
Ich freue mich, dass wir heute noch einmal über das
wichtige Thema ländliche Entwicklung im Plenum debattieren können, weil die weltweite Bekämpfung von
Hunger und Armut ohne einen großen Fortschritt im
ländlichen Raum nicht möglich ist. Wir wissen: Drei
Viertel der ärmsten Menschen leben im ländlichen
Raum. Wenn wir das Millenniumsziel, bis 2015 die Zahl
der Hungernden zu halbieren, erreichen wollen - damit
sieht es leider nicht sehr gut aus -, dann müssen wir vor
allem für die Menschen im ländlichen Raum etwas tun.
Deswegen ist es gut, dass wir uns darüber gemeinsam
Gedanken machen.
Aber wir haben in der letzten Legislatur in der Großen Koalition bereits einen Antrag vorgelegt, der sehr
viel umfassender war als das, was Sie heute präsentieren.
Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen - nicht,
weil wir der Auffassung wären, dass das Thema nicht
wichtig ist.
Sie schreiben zu Recht in Ihrem Antrag - lieber Kollege Christian Ruck, du wirst dich erinnern, das hatten
wir auch in unserem umfassenden gemeinsamen Antrag
schon kritisch festgestellt -, dass in den letzten Jahren
vonseiten der Geber, aber auch von den Entwicklungsländern selbst die Investitionen in die Landwirtschaft
sehr stark zurückgefahren worden sind. Allerdings muss
man ehrlicherweise dazusagen, warum das passiert ist.
Das hat sehr viel damit zu tun, dass über Jahre durch
Überschüsse im landwirtschaftlichen Bereich ein sogenanntes Exportdumping stattgefunden hat. Man hat nämlich die Überschüsse aus den USA, aus Deutschland und
aus anderen Ländern in Europa in die Länder Afrikas exportiert und damit die lokalen Märkte zerstört. Ein
Bauer, der Milchviehwirtschaft betrieben hat, konnte
also seine Milch, die er vielleicht mit zwei oder drei Kühen lokal produziert hat, auf dem Markt nicht verkaufen,
weil dort Milchpulver aus Europa, das mit Wasser vermischt wurde, billiger angeboten wurde. Das ist ein ganz
irrsinniges System: Auf der einen Seite machen wir Entwicklungszusammenarbeit. Auf der anderen Seite geben
wir Steuergelder für Subventionen in der Landwirtschaft
aus und reißen mit diesem Agrardumping das ein, was
wir mit der Entwicklungszusammenarbeit aufbauen.
({1})
Deswegen hätte es keinen Sinn gemacht, wenn die
vorherige Bundesregierung weiter jahrelang Milchviehwirtschaft unterstützt und andere Investitionen in die
Landwirtschaft der Entwicklungsländer großflächig getätigt hätte; denn wir haben erleben müssen, wie viele
Kleinbauern und Farmen dort kaputtgegangen sind. Die
Geber hätten insgesamt etwas früher umschwenken können; das ist unbestritten. Aber jetzt besteht wieder eine
echte Chance, dort zu investieren, weil die Preise für
Agrarprodukte in den Entwicklungsländern und weltweit
gestiegen sind. Das ist auf der einen Seite ein Problem,
gerade für die städtische Bevölkerung in den Entwicklungsländern; auch das darf man nicht unter den Teppich
kehren. Aber es ist natürlich eine Chance für all die
Kleinbauern und Bauern, die in den Entwicklungsländern produzieren. Jetzt haben sie wieder eine reelle
Möglichkeit, ihre Produkte zu guten Preisen zu verkaufen. Deswegen ist es sinnvoll, jetzt mehr Geld zu investieren.
Aber wir müssen auch über die Kohärenz reden. In
der Vergangenheit hat die Kohärenz, also Stimmigkeit
statt eines Widerspruchs zwischen den verschiedenen
Politikbereichen, zwischen dem Landwirtschafts- und
Handelsbereich und der Entwicklungszusammenarbeit
nicht gestimmt. Ich möchte hier kritisch anmerken:
Auch jetzt stimmt sie noch nicht. Die Europäische Union
wird gemäß ihren Vorstellungen für die Jahre 2014 bis
2020 435 Milliarden Euro in den Agrarsektor pumpen.
Davon entfallen nur 150 Millionen Euro auf Agrarexportsubventionen. Wenn Sie sich in Ihrem Antrag vor
allem auf die Agrarexportsubventionen konzentrieren
- das macht auch die Landwirtschaftsministerin -, dann
ist das zu kurz gesprungen. Das sind nur 0,03 Prozent
der gesamten Gelder.
Natürlich verzerren auch die internen Stützungen die
Bedingungen. Deswegen reden Sie einmal mit Ihrer
Landwirtschaftsministerin; denn sie versucht gerade, die
Gültigkeit der Zuckermarktordnung zu verlängern, die
2015 auslaufen soll. Sie reißt mit ihrem Lobbyismus für
ihre Klientel von der CSU in Bayern vieles von dem ein,
was wir aufbauen.
({2})
Natürlich braucht man für diese Maßnahmen Geld.
Wir brauchen Geld, um Beratungen für Landreformen
durchzuführen. Wir müssen des Problems des Land
Grabbings Herr werden - auch dieses Thema kommt bei
Ihnen zu kurz -: Investoren kaufen riesige Ländereien
auf, lassen aber die Erträge nicht der lokalen Bevölkerung zugutekommen, sondern exportieren sie. Notwendig sind Maßnahmen gegen Nahrungsmittelspekulationen. Wer mit dem Hunger in der Welt spekuliert, stellt
sich abseits der Menschlichkeit. Dem sollten wir alle gemeinsam die Rote Karte zeigen, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
({3})
Ländliche Entwicklung ist aber ein Thema, das sehr
viele Aspekte umfasst. Dazu gehört auch die Bevölkerungsentwicklung. Ich war vor wenigen Wochen in Äthiopien und habe dort sehen müssen, dass selbst in den grünen und fruchtbarsten Landesteilen Äthiopiens, in denen
keine Dürre herrscht, durch eine immer größer werdende
Bevölkerungszahl die Flächen, die pro Familie bewirtDr. Sascha Raabe
schaftet werden können, immer kleiner werden. Es gibt
den sogenannten grünen Hunger: Alles sieht grün aus,
aber die nächste Ernte folgt erst in einigen Monaten, und
die Menschen leiden Hunger. Auch darauf brauchen wir
Antworten.
Eine Antwort, die wir als Sozialdemokraten geben, ist
in Ihrem Antrag nicht enthalten: der Aufbau sozialer Sicherungssysteme. Wir haben mit unserer Arbeitsgruppe
- die Kollegin Karin Roth hatte das vorbereitet - erst vor
kurzem einen sehr umfassenden Antrag zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme eingebracht. Es ist sehr wichtig, dass wir auch Menschen in der Landwirtschaft, die
kein Einkommen haben, beraten und auch Staaten beraten, wie sie Familien Hilfe geben können. In Brasilien
läuft das sehr gut mit dem Null-Hunger-Programm. Andere Länder machen das auch. Zum Teil ist die Hilfe an
den Schulbesuch der Kinder gekoppelt: Einen Teil des
Geldes gibt es nur dann, wenn die Kinder zur Schule gehen. So etwas brauchen wir.
Wenn wir die vielfältigen Maßnahmen von der Bildung bis zur Gesundheit umsetzen wollen - dazu stehen
auch viele richtige Punkte im Antrag -, dann brauchen
wir Geld. Sie schreiben in Ihrem Antrag stolz, dass die
Bundesrepublik Deutschland viel Geld für diesen Sektor
ausgibt. Dagegen habe ich keine Einwände. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Mittel für den Gesamttopf
erhöht werden. Wenn Sie in diesem Jahr nur mit ganz
kümmerlichen Beträgen die Entwicklungsausgaben steigern und nur einen Bruchteil der von uns im Parlament
gemeinsam vereinbarten 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, dann nehmen Sie das Geld in den ebenfalls
wichtigen Bereichen Gesundheit und Bildung weg.
Deswegen reicht es nicht, wenn Sie mehr Geld für die
Landwirtschaft ausgeben wollen. Wir brauchen einen
Minister, der auch einmal leidenschaftlich für mehr Geld
in seinem Haushalt kämpft, statt nur darum zu kämpfen,
mehr Parteifreunde in seinem Ministerium unterzubringen.
({4})
Wir haben einen Minister, der sogar die Finanztransaktionsteuer, ein Instrument, das aus der Entwicklungspolitik stammt, das die Zivilgesellschaft seit Jahren gefordert
hat und das jetzt zum Greifen nahe ist, im Kabinett ablehnt, obwohl wir dieses Geld dringend für die Armutsbekämpfung brauchen. Das ist schäbig, Herr Minister
Niebel.
({5})
- Das ist nicht falsch. Selbst im Kabinett gibt es damit
ein Problem. Frau Merkel kennt das Problem mit ihrem
Minister wahrscheinlich besser als ich.
Deswegen macht es keinen Sinn, wenn Sie einen
schönen Antrag schreiben und hier schöne Worte finden.
Wenn Ihnen das Thema wichtig wäre, dann wäre auch zu
überlegen gewesen, im Ministerium dafür eine eigene
Abteilung zu schaffen. Statt einer Abteilung für Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung wird aber
eine Abteilung für Planung und Kommunikation geschaffen. Wie gesagt, Ihr Minister ist stärker mit anderen
Dingen beschäftigt als mit der Landwirtschaft, nämlich
mit der Vetternwirtschaft. Deswegen werden wir Ihren
Antrag ablehnen.
Danke.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Raabe. - Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Helmut
Heiderich. Bitte schön, Kollege Heiderich.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Es gibt keine Rede
von Herrn Dr. Raabe ohne die Aufforderung an den
Minister, sofort zurückzutreten.
({0})
Ich glaube, damit wiederholt er sich ein wenig. Er kann
dabei nicht ganz verbergen, dass er sich mit dem Inhalt
der Anträge relativ wenig beschäftigt.
({1})
Lassen Sie mich an den Anfang meiner Ausführungen
ein paar aktuelle Meldungen stellen. China hat 2011 eine
landwirtschaftliche Rekordernte eingefahren. Trotzdem
hat China noch nie so viel Mais ins eigene Land importiert wie 2011. Auch bei Soja ist China inzwischen mit
60 Prozent der weltweit größte Importeur.
Aber auch Deutschland hat einen neuen Rekord erzielt. 2011 wurde von Deutschland erstmals mehr Getreide importiert als exportiert.
Warum erwähne ich diese Fakten am Anfang? Ich
denke, schon diese wenigen Angaben machen deutlich,
dass sich das globale System von Ernährung und landwirtschaftlicher Erzeugung in einem gewaltigen Umbruch befindet. Über Jahrzehnte waren es Agrarüberschüsse der Industriestaaten - Worte wie „Milchseen“
und „Butterberge“ sind vielen sicherlich noch in Erinnerung -, welche in der Entwicklungspolitik eine große
Rolle spielten. Vor allem die Verteilung wurde als Mittel
gesehen, die Unterernährung zu bekämpfen. Wie oft hat
man den Spruch gehört: „Es wird weltweit genug produziert; das Problem ist nur die Verteilung“?
Das Ergebnis dieser aus meiner Sicht völlig falschen
Strategie müssen wir heute konstatieren. Trotz großer
Versprechungen zu Beginn des Millenniums und des Millenniumsziels 1 ist die Zahl der Hungernden, der Unter18738
ernährten und der in Armut Lebenden nicht geringer, sondern eher größer geworden. Wenn wir eine aktuelle
Analyse der internationalen Agrarpolitik vornehmen,
dann stellen wir fest: Es gibt nichts mehr zu verteilen. Wir
brauchen in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung eine Neuausrichtung der politischen Konzepte. Wir
müssen erkennen, dass Hunger und Unterernährung gerade dort am größten sind, wo die meisten Kleinbauern leben, und zwar im ländlichen Raum. 70 Prozent der Hungernden sind - so hat die FAO festgestellt - Kleinbauern.
Deshalb muss aus meiner Sicht die neue Überschrift einer
zukunftsorientierten Ernährungspolitik weltweit lauten:
Ernährung aus eigener Kraft ist das Ziel unserer Politik.
({2})
Die notwendige Neuausrichtung ländlicher Entwicklungspolitik hat der Präsident des IFAD, Herr Nwanze,
am besten auf den Punkt gebracht, als er uns im Ausschuss besucht hat. Ich zitiere:
Man darf Kleinbauern nicht mehr als Charity-Angelegenheit betrachten, sondern als die Menschen,
die mit Innovation, Dynamik und harter Arbeit
Wohlstand für ihre Kommunen bringen und erheblich zu einer erhöhten Nahrungsmittelsicherheit
beitragen.
({3})
Ich glaube, genauer und pointierter kann man es nicht
formulieren.
Bei rund 500 Millionen Kleinbauern weltweit ist das
einerseits eine riesige Herausforderung. Andererseits ist
es unumgänglich, dort anzusetzen, wenn wir die Ernährung der Menschheit zukünftig sichern wollen. Zudem
weisen alle Fachleute darauf hin, dass investiertes Geld
nirgendwo einen so positiven Effekt auf die Minderung
von Armut und die Verbesserung der Entwicklung hat
wie in der Landwirtschaft. Das heißt ganz klar: Im ländlichen Raum liegt der Schlüssel für den Kampf gegen
Armut, Unterentwicklung, Hunger und Mangelernährung. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir im vergangenen Sommer unseren Antrag entwickelt, um auch
unsere entwicklungspolitischen Konzepte daraufhin auszurichten. Es ist hilfreich, dass das Ministerium mit der
Einrichtung einer Taskforce „Ländliche Entwicklung“
seit Mitte Oktober letzten Jahres diesen Weg begleitet,
Herr Dr. Raabe.
({4})
Beim Besuch des FAO-Generalsekretärs Graziano da
Silva hat der Minister übrigens ein neues Zehn-PunkteProgramm für ländliche Entwicklung und Ernährungssicherung angekündigt; das ist uns auch heute Morgen zur
Kenntnis gebracht worden. Es ist hilfreich, wenn wir als
Abgeordnete des Parlaments die Dinge in derselben
Richtung gemeinsam fortentwickeln.
({5})
Ebenso hat Agrarministerin Ilse Aigner im Zusammenhang mit der Grünen Woche diese Thematik aufgegriffen und intensiv vorangebracht. Unter der Überschrift
„Neue Strategien zur globalen Ernährungssicherung“ haben rund 70 Staaten auf einer internationalen Konferenz
hier in Berlin festgehalten, dass die Stärkung von Landwirtschaft und ländlicher Entwicklung das zentrale
Element für die Nahrungssicherung und die Armutsbekämpfung bei wachsender Weltbevölkerung ist. Die Beschlüsse der G 20 hinzugenommen, sind wir auf dem
richtigen Weg. Auch der neue FAO-Generalsekretär - ich
habe ihn eben zitiert - hat in seiner Antrittsrede das
Thema Food Security zu seiner Toppriorität gemacht. Insofern befinden wir uns mit unserem Antrag genau im
richtigen Umfeld.
Was allerdings noch kaum berücksichtigt ist - darauf
möchte ich die Kolleginnen und Kollegen hinweisen und
auch um Unterstützung bitten -, ist der Einfluss der Klimaveränderung auf diese Thematik. Weder auf der Konferenz in Durban noch im Rahmen des IPCC sind die Intensivierung einer nachhaltigen Landwirtschaft und der
Einfluss der Klimaveränderung auf die Nahrungsmittelsicherheit aufgegriffen worden. Ich denke, hier haben
wir auch als Parlament die wichtige Aufgabe, diesen Gesichtspunkt aus dem Deutschen Bundestag heraus für die
Zukunft weiter zu verstärken.
({6})
Für die Opposition wäre es durchaus sinnvoll, diese
Initiativen mitzutragen, anstatt, wie dies mein Vorredner
getan hat, krampfhaft im Kleingedruckten Ablehnungsgründe zu suchen. Auch die Bemerkung, Herr Dr. Raabe,
dass man im Jahr 2008 einmal einen Antrag eingebracht
habe und dass das sozusagen ausreiche, um die Projekte
von morgen zu begleiten, halte ich argumentativ für
nicht sonderlich überzeugend.
({7})
Wenn Sie es genau wissen wollen: Die Konzepte von
gestern sind aus meiner Sicht nicht die richtigen, um die
Probleme von morgen zu bekämpfen. Insoweit müssten
Sie sich bewegen und auch einmal einen Antrag vorlegen.
({8})
- Ich sage Ihnen auch: Die Qualität des vorliegenden
Antrags ist mit Sicherheit so hervorragend, dass es sinnvoll ist, ihn zu unterstützen.
({9})
Aber ich will, weil Sie das ebenfalls aufgegriffen haben, darauf hinweisen, dass wir alle auch darauf achten
müssen, dass nicht Egoismen wie Nahrungsmittelspekulation oder Land Grabbing die lokalen Verhältnisse ausnutzen. Deswegen - meine verehrten Damen und Herren
von der Opposition, ich hoffe, Sie können sich erinnern haben wir bereits im April vergangenen Jahres einen Antrag auf den Weg gebracht, und der Deutsche Bundestag
hat diesen Antrag bereits am 20. Oktober 2011 beschlosHelmut Heiderich
sen. Justament heute Morgen - das wird Ihnen sicherlich
auch zugegangen sein - ist uns aus dem Haus ein Papier
zugeleitet worden, das die Investitionen in Land und das
Phänomen des Land Grabbing aufgreift; das heißt, das
Thema wird auch von dieser Seite mit bearbeitet.
({10})
Ich denke, auch hier hinken Sie wieder ein Stück hinter
der Entwicklung her. Sie hätten sich ruhig etwas schneller bewegen können. Aber uns dafür zu kritisieren, ist
ganz und gar der falsche Ansatz.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei diesem
Thema kann man feststellen: Die Zeit drängt, die Fakten
entwickeln sich eindeutig. Nur ein Beispiel: Als ich und
einige andere Mitglieder dieses Hauses geboren wurden,
hatte jeder Mensch weltweit durchschnittlich 5 000 Quadratmeter Fläche für seine Ernährung zur Verfügung.
Heute sind davon durchschnittlich noch 2 000 Quadratmeter pro Kopf geblieben. Wenn Sie überlegen, dass in
Kürze 2 Milliarden Menschen mehr auf dieser Erde leben werden, dann können Sie sich alle ganz leicht selbst
ausrechnen, welche Bedeutung die Ernährungssicherung
hat. Die FAO hat kürzlich ganz nüchtern festgestellt: Die
landwirtschaftliche Produktion muss sich weltweit um
70 Prozent erhöhen. Ich denke, das ist ein Ziel und eine
Aufgabe, die wir auch hier ernsthaft angehen sollten.
({12})
Wir können nur gemeinsam mit unseren Partnerländern Fortschritte erreichen. Wichtig sind weltweit Modernisierung und Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft. Ich will aber auch ausdrücklich sagen: Wir
werden diese Ziele nicht erreichen, wenn wir nicht bereit
sind, mit der Privatwirtschaft, mit großen Stiftungen und
mit internationalen Investoren dafür Sorge zu tragen,
dass wir in den unterentwickelten Ländern Wertschöpfungsketten aufbauen, damit wir vom Kleinbauern bis
hin zum Supermarkt eine Finanzierungskette erhalten,
damit die Landwirte vor Ort Einkommen erzielen und
die Ernte nicht zu einem großen Prozentsatz verkommt.
Das ist eine weitere Aufgabe, die wir angehen müssen.
Insoweit unterscheiden wir uns im Moment noch sehr
von der Opposition.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch zwei Beispiele an das Ende meiner Ausführung stellen, weil ich sie für sehr erfolgreich halte.
Das eine sind die Projekte der Afrikanischen Entwicklungsbank, die inzwischen sehr konkret geworden
sind und die auch vor Ort fokussiert sind. Ich will nur ein
einzelnes Projekt herausnehmen: das sogenannte CAIIPIII-Projekt. Hierbei geht es besonders um die Verbesserung der Infrastruktur und darum, in ländlichen Gebieten
Marktplätze aufzubauen, damit die Produkte vor Ort verkauft werden können.
Das zweite Beispiel ist die Initiative AGRA, unter
dem Vorsitz von Kofi Annan und in Zusammenarbeit mit
der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die sich mit dem
Seeds Program der Züchtung verbesserten Saatgutes verschrieben hat.
Mit unserem Antrag wollen wir die ländliche Entwicklung wieder zu einem Schwerpunkt globaler Zukunftsvorsorge machen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie diese Politik mit Ihrer Arbeit in diesem Hause unterstützen würden.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Kollege Helmut Heiderich. - Jetzt für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Niema Movassat.
Bitte schön, Kollege Movassat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Essen
spielt man nicht - das weiß jedes Kind. Und doch hat gerade die Spekulation mit Nahrungsmitteln in den letzten
Jahren enorme Ausmaße erreicht. 2003 betrug das Volumen von Fonds, die im Agrarbereich investierten, gerade
einmal 13 Milliarden Dollar. 2008 betrug es schon
318 Milliarden Dollar, Tendenz weiter steigend. Nach
dem Platzen der US-Immobilienblase suchten sich
Hedgefonds und Banken eine neue Spielwiese. Sie fingen an, mit Nahrungsmitteln zu zocken. Sie treiben damit die Preise künstlich hoch. Für die Banken und
Hedgefonds bedeutet das bis heute klingelnde Kassen,
für Millionen von Menschen auf der Welt Hunger und
Tod. Deshalb sagen wir als Linke in unserem Antrag,
dass Nahrungsmittelspekulationen endlich unterbunden
werden müssen.
({0})
Oft wird behauptet, es gebe zu wenig Nahrungsmittel,
um die 7 Milliarden Menschen auf der Welt zu ernähren.
Das ist schlichtweg gelogen. Die Wahrheit ist: Nahrung
wird ausreichend produziert. Viele Hungernde können
sich die Lebensmittel schlichtweg nicht mehr leisten;
denn die Zockerei mit Nahrungsmitteln hat erheblich
dazu beigetragen, dass die Preise für Getreide, Mais oder
Reis seit 2007 zwischen 100 Prozent und 300 Prozent
gestiegen sind. Die Menschen in den ärmsten Ländern
wie Bangladesch oder Burkina Faso geben 80 Prozent
ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Für sie bedeuten hohe Preise einen täglichen Kampf ums Überleben. Wenn wir also nicht weiter zulassen wollen, dass
wie bisher alle sechs Sekunden ein Kind an Hunger
stirbt, dann müssen wir Nahrungsspekulationen mit aller
Kraft bekämpfen.
({1})
SPD und Grüne haben heute ebenfalls Anträge zu diesem wichtigen Thema vorgelegt. Wir finden ihre For18740
derungen nicht weitreichend genug, um Spekulationen
effektiv zu begegnen, auch wenn viele wichtige Punkte
in ihren Anträgen enthalten sind. So fehlt beispielsweise
die Forderung nach einer Transaktionsteuer im Kampf
gegen Nahrungsmittelspekulationen. Auch die Koalition
weist in ihrem Antrag darauf hin, dass Land Grabbing
und Nahrungsmittelspekulation die Ernährungssituation
im Süden gefährden. Aber dann lassen Sie Ihren Worten
doch endlich einmal Taten folgen! Denn bisher tut diese
Regierung nichts gegen Nahrungsmittelspekulationen.
Sie legt keine Gesetzentwürfe vor, schafft keine Restriktionen, nicht einmal für Transparenz sorgt sie. So bleiben
die schmutzigen Geschäfte weiter geheim. Da sind selbst
die USA mit einem Transparenzgesetz weiter.
Hierzulande ist die Deutsche Bank massiv in das Geschäft mit dem Hunger verstrickt. Sie ist einer der
Hauptprofiteure der Spekulation mit Nahrungsmitteln.
Sie gehört zu den Top Ten im globalen Rohstoffinvestmentbusiness. Sie ist im Agrarbereich mit Investitionen
von fast 5 Milliarden US-Dollar weltweit die Nummer
eins. Das ist ein Rekord der Schande. Das stört diese
Bundesregierung nicht. Sie arbeitet prima mit der Deutschen Bank zusammen. So ist die Deutsche Bank mit
20 Millionen Euro Hauptinvestor des neuen AfrikaFonds zur Förderung von Handel und Landwirtschaft in
Afrika, gemeinsam mit Herrn Niebels Entwicklungsministerium und der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Sie ist
für das Management dieses Fonds zuständig, und zwar
mit einer klaren risikoorientierten Gewinnerwartung.
Diese laut Bundesminister Niebel „neue deutsche Entwicklungspolitik“ hört sich angesichts der Verstrickungen der Deutschen Bank in den Bereichen Land Grabbing und Nahrungsmittelspekulation wie ein schlechter
Krimi an.
({2})
In Anbetracht der Hungerbilder aus Ostafrika oder
der Hungerwarnungen aus Westafrika ist klar: Die neue
deutsche Entwicklungspolitik muss umgehend beendet
werden.
({3})
Notwendig ist eine Entwicklungspolitik, die den Fokus
auf die Entwicklung ländlicher Räume gemäß den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung legt und nicht auf
die Interessen deutscher Konzerne. Notwendig ist eine
Entwicklungspolitik, die keine gemeinsame Sache mit
der Deutschen Bank macht. Stattdessen muss der Preistreiberei durch die Nahrungsmittelzockerei der Kampf
angesagt werden.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Niema Movassat. - Jetzt für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kollege Friedrich
Ostendorff. Bitte schön, Kollege Ostendorff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
weiß nicht, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU und der FDP, ob Sie angesichts der Günstlingswirtschaft von Minister Niebel vorhaben, Ihren Antrag aufrechtzuerhalten, oder ob Sie nicht erst einmal die Passagen zur guten Regierungsführung schwärzen wollen.
({0})
Wir hätten dafür volles Verständnis.
Aber nicht nur mit dieser peinlichen und möglicherweise rechtswidrigen Vetternversorgungswirtschaft von
Herrn Niebel katapultieren Sie sich und Deutschland aus
dem Konsens der internationalen Gemeinschaft heraus.
Auch Ihr Grundverständnis von landwirtschaftlicher
Entwicklung ist rückständig und nicht auf der Höhe der
Zeit. Sie preisen in Ihrem Antrag das Prinzip der grünen
Revolution. Was ist denn das Prinzip der grünen Revolution? Es war der Export der energie- und kapitalintensiven, inputbasierten und chemiegestützten Landwirtschaft. Dieses Modell der Landwirtschaft besteht in
einer völligen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen,
insbesondere für die Herstellung von Mineraldünger und
Agrarchemie. Dieses Modell ist mitverantwortlich für
den erheblichen Beitrag der Landwirtschaft zum Klimawandel. Dieses Modell ist mitverantwortlich für die Degradation landwirtschaftlicher Böden und für die Verdrängung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in den
Entwicklungsländern.
({1})
Kollege Heiderich bezog sich auf das FAO-Strategiepapier „Save and grow“. Leider hat er es nicht vollständig gelesen. Weiter heißt es darin, Herr Heiderich:
Das derzeitige Paradigma der intensiven Pflanzenproduktion wird den Herausforderungen des neuen
Jahrtausends nicht gerecht.
Wie wahr!
({2})
In dem aktuellen Papier zur Niedrigenergielandwirtschaft schreibt die FAO:
Die internationale Gemeinschaft ist zunehmend besorgt über die große Abhängigkeit der weltweiten
Lebensmittelproduktion von fossilen Brennstoffen.
Auch das begrüßen wir.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Modell ist überholt und wird auch nicht durch noch so viel
warme Prosa besser.
({3})
Wenn es Ihnen ernst ist mit Ernährungssicherheit, ländlicher Entwicklung, Kleinbauernförderung, aber auch
Frauen in verantwortlichen Positionen in der LandwirtFriedrich Ostendorff
schaft, warum unterzeichnen Sie dann nicht einfach endlich den Weltagrarbericht?
({4})
Darin steht das doch alles sehr viel schlüssiger als in Ihrem Antrag.
Aber Sie verfolgen eben nicht das Modell der
400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an
dem Weltagrarbericht mitgearbeitet haben, sondern Sie
wollen die zweite grüne Revolution. Da steht die Agrogentechnik natürlich ganz vorn. Das ist so, auch wenn
Sie, Herr Heiderich, sich nicht trauen, das in Ihrem Antrag so explizit zu benennen. Um Agrogentechnik geht
es Ihnen doch und um sonst nichts.
Ich denke, wir können die wohlfeilen Worte Ihres Antrages getrost beiseitelegen und uns dem zuwenden, was
auch Sie erwähnten, Herr Heiderich: einem gestern erschienenen, weit aussagekräftigeren Dokument. Es ist
ein offenes Geheimnis, dass im BMELV nicht Frau
Aigner, sondern der Deutsche Bauernverband regiert.
({5})
Es bedurfte aber erst der Dreistigkeit von Minister
Niebel, gemeinsam mit der Agrarlobby eine Presseerklärung zu verfassen und zu zeigen, dass man in der Koalition nicht einmal mehr versucht, den Anschein einer industrieunabhängigen Politik zu erwecken.
Diese Kooperation zeigt doch nur einmal mehr, wohin die Reise gehen soll: Das industrielle Agrarmodell,
das uns in Deutschland Massentierhaltung und Agrarwüsten beschert hat, soll exportiert werden.
({6})
Bisher galt dies zum Beispiel für überschüssige Hühnchenteile aus deutscher Massentierhaltung. Jetzt soll es
gleich das ganze System sein, das Sie exportieren wollen.
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist
keine technologische, sondern eine ökologische Intensivierung.
({7})
Wir müssen endlich die Wende hin zu einer sonnenbasierten, bäuerlichen Landwirtschaft schaffen. Wir brauchen die Agrarwende, und zwar weltweit.
({8})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Edmund Geisen. Bitte
schön, Kollege Dr. Geisen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Was Herr Movassat in Bezug auf die Deutsche Bank und
die KfW gesagt hat, entbehrt jeder Grundlage und ist
strikt zurückzuweisen.
({0})
Vieles von dem, was Sie, Herr Movassat und Herr
Ostendorff gesagt haben, entbehrt jeder fachlichen
Grundlage. Darüber müsste man sehr lange diskutieren
können; dafür sind drei Minuten natürlich zu wenig.
({1})
Sie haben jetzt die Chance, eine Zwischenfrage des
Kollegen Movassat zuzulassen. Wollen Sie sie zulassen?
Nein.
Okay.
Wir von der FDP-Fraktion sind der vollen Überzeugung: Wer die Welternährung sichern will, muss neue
Wege gehen. Die Entwicklungsstrategien der vergangenen Jahrzehnte haben, gelinde ausgedrückt, wenige Erfolge gezeigt.
({0})
Wir müssen vor allem die Investitionen in die ländliche Infrastruktur und in die Entwicklung ländlicher
Räume stärken. Die FDP-Fraktion begrüßt deshalb sehr,
dass Herr Minister Niebel einen neuen Weg bei der Entwicklungspolitik, bei der Entwicklungsarbeit eingeschlagen hat.
({1})
Herr Raabe und Herr Ostendorff, im Hinblick auf das,
was Sie in diesem Zusammenhang über die Person
Niebel und sein Ministerium gesagt haben, kann ich Ihnen nur vorschlagen: Lassen Sie in allen deutschen
Ministerien, auch in den Länderministerien, einmal feststellen, wie viele Mitglieder Ihrer Parteien, Ihrer Farbe
dort tätig sind. Da werden Sie sich wundern.
({2})
- Ich kenne mich auch aus.
Die Agrarminister aus über 60 Staaten der Welt haben
sich hier in Berlin zur Grünen Woche getroffen. Sie alle
sehen in der Landwirtschaft das zentrale Element der Ernährungssicherung und der Armutsbekämpfung. Das ist
unumstritten.
Meine Damen und Herren, welchen Beitrag können
wir Agrarpolitiker also leisten? Die FDP-Fraktion hat
hierzu letzten Sommer ein umfangreiches Positionspapier vorgelegt. Wir sind, kurz gefasst, überzeugt davon,
dass der Bauer vor Ort im Fokus der Bemühungen stehen muss. Seine Besitz- und Nutzungsrechte, seine Betriebsmittel und sein Know-how gilt es zu stärken.
({3})
Dabei können wir mit unserem Wissen unterstützend
tätig werden. Insbesondere in Afrika können die bestehenden Reserven schon durch eine produktivere Landwirtschaft vervierfacht werden. Beispiele wurden bereits
genannt. Das Ertragspotenzial von Äthiopien und Simbabwe etwa reicht aus, um den gesamten Kontinent zu
versorgen.
({4})
Gleichzeitig dürfen wir die Märkte natürlich nicht mit
Billigwaren überschwemmen; das ist richtig. Deshalb
freuen wir uns auch, dass sich Ministerin Aigner unserer
FDP-Forderung angeschlossen hat, die EU-Exporterstattungen komplett und bedingungslos zu streichen.
({5})
Verehrter Herr Raabe, die EU-Zuckermarktordnung
stört die Drittlandsmärkte zurzeit überhaupt nicht. Es besteht vielmehr schon das Problem, dass wir in Deutschland, in Polen und den anderen europäischen Ländern
mittlerweile einen großen Zuckermangel haben.
Meine Damen und Herren, es kann also nicht das Ziel
sein, ganz ohne Märkte und ganz ohne Warenbörsen auskommen zu wollen. Gerade das hat in der Vergangenheit
doch die Entwicklung hin zum Besseren verhindert.
Unsere Devise lautet: Klare Rahmenbedingungen und
mehr Transparenz sowie heimische Märkte mit einem
Zugang zu den internationalen Märkten.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP mit dem Titel „Ländliche Entwicklung und Ernährungssicherheit weltweit verbessern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8430, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf Drucksache 17/7185 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/7414.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3413 mit dem Titel
„Spekulation mit agrarischen Rohstoffen verhindern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf - ({0})
- Entschuldigung. - Sehr schön, dass Sie so aufmerksam
sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, und uns hier vor
einem großen Fehler bewahren.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4533 mit dem Titel „Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/5934 mit dem Titel „Mit Essen spielt man nicht Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Schmidt ({1}), Doris Barnett, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kultur für alle - Für einen gleichberechtigten
Zugang von Menschen mit Behinderung zu
Kultur, Information und Kommunikation
- Drucksache 17/8485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Schmidt für die SPD-Fraktion.
({3})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Klartext reden ist etwas, was wir Politiker
sehr gern tun. Trotzdem wissen wir, dass wir es oft mit
Sachverhalten zu tun haben, die so einfach nicht zu erklären sind. Ich weiß noch, auf wie vielen Veranstaltungen ich das Wort „morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich“ erklären musste.
({0})
Denn dieser Begriff spielt im Gesundheitswesen eine
ganz wichtige Rolle.
Wenn wir heute über Barrierefreiheit im Kulturbereich reden, dann müssen wir uns vergewissern, dass
man bei Barrierefreiheit nicht nur an Rollstuhlrampen,
an die Absenkung der Bordsteine oder an die Gebärdensprache denkt, sondern dass wir auch berücksichtigen,
dass oft allein die Sprache als solche, die ein zentraler
Bestandteil der kulturellen Teilhabe ist, Barriere sein
kann, und zwar nicht nur für Menschen, die Lern- und
Konzentrationsschwierigkeiten haben. Das ist für viele
so. Deswegen haben wir als SPD-Fraktion gesagt: Da
wir über Barrierefreiheit reden, da wir über den Zugang
zu Kultur und Sprache reden, wollen wir einmal einen
Antrag in Leichter Sprache einbringen, so wie sie Menschen mit Behinderungen entwickelt haben, damit sie
wirklich teilhaben können.
({1})
Ich möchte mich beim Ältestenrat des Bundestages
bedanken, der es ermöglicht hat, dass wir heute diesen
Antrag in Leichter Sprache in den Bundestag einbringen
können. Ich hoffe sehr, dass dies nicht ein Einzelfall sein
wird.
In vielen Gesprächen mit Menschen mit Behinderungen und ihren Verbänden im Vorfeld, während der Diskussion und Entwicklung unseres Antrages haben wir
viel Zuspruch dafür erhalten, einen Antrag in Leichter
Sprache zu verfassen, aber auch zu den Inhalten, die darin enthalten sind.
Wir alle wissen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention ausdrücklich darauf hinweist, dass Menschen
mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilnehmen sollen. Der Gesetzgeber soll
es ermöglichen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu kulturellen Gütern haben, zu Orten der kulturellen Darbietungen, zu Tourismusdiensten und auch zu unseren Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller
Bedeutung. Wir wissen, dass wir dazu entsprechende
Veränderungen vornehmen müssen.
In Leichter Sprache heißt das: Alle Menschen sollen
überall mitmachen können, und alle Kulturangebote sind
auch für Menschen mit Behinderungen wichtig. Aber
dazu braucht man barrierefreie Angebote. Auch Menschen mit Behinderungen wollen Wahlmöglichkeiten haben. Sie wollen selbst entscheiden können, wie sie ihre
Freizeit verbringen. Das muss die Grundlage sein für
sämtliche Veränderungen.
In unserem Antrag haben wir dazu konkrete Forderungen auf den Weg gebracht: Bei Ausschreibungen
oder bei Förderprogrammen sollten barrierefreie Zugänge verpflichtend werden. Dort, wo der Staat Fördermittel zur Verfügung stellt, wollen wir Barrierefreiheit
einfordern.
({2})
Öffentliche Fernsehanstalten und Rundfunkanstalten sollen verpflichtet werden, Barrierefreiheit zu verwirklichen. Kultur- und Medienunternehmer sollen verpflichtet
werden, mehr barrierefreie Zugänge zu schaffen. Außerdem wollen wir dafür sorgen, dass bei den Bildungsangeboten, auch zur Medienkompetenz, auf die Belange von
behinderten Menschen Rücksicht genommen wird; das
heißt, auch diese Angebote müssen in Leichter Sprache
gestaltet werden. Dafür müssen Menschen mit Behinderungen die Unterstützung und Hilfe bekommen, die sie
brauchen. Das ist unser gemeinsames Ziel.
({3})
Das sind konkrete Forderungen. In allen Gesprächen
wurde deutlich: Die Zeit ist vorbei, in der wir uns nur darüber unterhalten, was wir eventuell tun können. Vielmehr ist die Zeit gekommen, im Deutschen Bundestag
verbindliche Gesetze zu beschließen. Wir als Gesetzgeber sind die Einzigen, die den behinderten Menschen ihr
Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben garantieren und durch gesetzliche Rahmenbedingungen sicherstellen können.
({4})
Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nur ein
Mal einen solchen Antrag einbringen, reicht das gerade
einmal für eine öffentliche Debatte. Gerade wir, die wir
im Ausschuss für Kultur und Medien sitzen und die wir
Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben
umsetzen wollen, sollten uns darüber unterhalten, wie
wir als Deutscher Bundestag sicherstellen, dass auch
Menschen mit Behinderungen am politischen Geschehen
teilhaben können; denn auch Menschen mit geistiger Behinderung haben ein Wahlrecht, und sie sind an politischen Diskussionen interessiert.
Wir müssen uns überlegen, ob wir uns als Deutscher
Bundestag selbst verpflichten, die wichtigsten Debatten
Ulla Schmidt ({5})
und die wichtigsten Entscheidungen - vor allem die, die
behinderte Menschen betreffen - in unseren Publikationen auch immer in Leichte Sprache zu übersetzen. Das
müssen nicht alle Publikationen sein; aber wir sollten damit beginnen. Darüber habe ich mit einigen Kolleginnen
und Kollegen geredet, die das ebenso sehen. Ich würde
mich freuen, wenn wir uns nach dieser Debatte, auch im
Rahmen der Beratungen in den Ausschüssen, auf Folgendes einigen könnten: Die Berichterstatter im Kulturausschuss setzen sich einmal zusammen und versuchen,
über alle Fraktionen hinweg einen Weg zu einer Selbstverpflichtung des Deutschen Bundestages zu finden,
seine Publikationen so auf den Weg zu bringen, dass alle
Menschen verstehen können, worüber wir eigentlich diskutieren.
Das betrifft nicht nur geistig behinderte Menschen
oder Menschen mit Lernschwächen; das gilt auch für ältere Bürgerinnen und Bürger oder Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen und die vielleicht gerade
erst die deutsche Sprache lernen. Das wäre dann ein Gewinn für alle.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Marco Wanderwitz für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mehr als jeder zehnte Bürger in unserem Land muss seinen Alltag mit einer Behinderung oder mehreren Behinderungen bewältigen. Jeder einzelne von den beispielsweise über 1 Million Blinden und Sehbehinderten hat
selbstverständlich das Recht auf gleichberechtigte inklusive Teilnahme an allen Bereichen unserer Gesellschaft.
Die UN-Konvention über die Rechte der Menschen
mit Behinderungen ist schon von Ihnen, Frau Kollegin
Schmidt, angesprochen worden. Daran müssen sich alle
Entscheidungen, die wir hier im Haus, aber auch auf den
nachgeordneten politischen Ebenen in unserem Land
treffen, messen lassen. Die Bundesregierung hat dazu im
Juni 2011 ein umfassendes Maßnahmenpaket auf den
Weg gebracht: Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet
über 200 Vorhaben, Projekte und Aktionen. Es handelt
sich um ein Maßnahmenpaket, das vor allen Dingen darauf abzielt, bestehende Lücken zwischen dem Gesetz
auf der einen Seite und der praktischen Umsetzung auf
der anderen Seite zu schließen und aufzuzeigen, wo es
im gesetzgeberischen Bereich Defizite gibt. Ich denke,
wir sind uns alle einig, dass wir diese Lücken lieber
heute als morgen schließen würden. Gleichwohl zeigen
schon allein die von mir erwähnten über 200 einzelnen
Maßnahmen, dass wir noch ein ganzes Stück Weg vor
uns haben.
({0})
Wir dürfen natürlich auch nicht die Augen davor verschließen, dass wir es bei einer ganzen Zahl dieser Maßnahmen mit nicht unerheblichen Kosten zu tun haben.
({1})
- Hören Sie zu. Dann können wir hinterher weiterreden. Nur um ein Beispiel vorab aufzugreifen: Es ist für jeden
Laien erkennbar, dass die Schaffung von Barrierefreiheit
in Gebäuden mit Ausgaben verbunden ist.
({2})
- Ich will mit Ihnen keinen Dialog führen. Führen Sie
Ihren Monolog weiter; ich beabsichtige, meine Rede zu
halten.
({3})
Wir müssen natürlich schrittweise vorgehen, ganz
einfach deshalb, weil wir uns in haushalterisch nicht einfachen Zeiten befinden; das ist uns allen bewusst. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode die grundgesetzliche Schuldenbremse auf den Weg gebracht, die uns verpflichtet, ausgeglichene Haushalte in erfreulicherweise
nicht mehr allzu ferner Zeit vorzulegen. Wir gehen diesen Weg Jahr für Jahr.
({4})
Das heißt, dass wir schon abschichten müssen: Was kann
man dieses Jahr tun, und was können wir vielleicht erst
nächstes Jahr tun? Denn es gibt natürlich viele wichtige
Dinge in unserem Land. Die Abwägung, was wir in dem
einen Jahr leisten können und was in dem anderen, was
wir in dem einen Bereich leisten können und was in dem
anderen, ist unser täglich Brot; wir müssen sie vornehmen, so schwer das manchmal auch ist.
Vielleicht sollten wir uns aber auch den Dingen widmen, die nicht in Ihrem Antrag stehen, nämlich den Dingen, die in diesem Bereich schon in den letzten Monaten
und Jahren erfolgreich auf den Weg gebracht worden
sind. Es ist immer die Frage, wie man das Pferd aufzäumt. Ich will nur einige Beispiele aus dem Bereich der
Kultur nennen: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz,
die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten sowie die
Akademie der Künste haben ihre Gebäude mittlerweile
weitestgehend barrierefrei eingerichtet: zusätzliche Fahrstühle, Sonderparkplätze und dergleichen mehr, im Rahmen dessen, was unter dem Gesichtspunkt des Denkmalschutzes irgend möglich ist.
Wir haben bei diesen Institutionen, bei denen der
Bund einen gewissen Einfluss hat - mehr oder weniger,
je nachdem, wie groß der finanzielle Anteil des Bundes
ist -, dafür geworben, dass das Thema Teilhabe auch im
Bereich der Stellenausschreibungen und -besetzungen
eine große Rolle spielt. Ein Beispiel: Mehr als 10 Prozent der Mitarbeiter der Akademie der Künste sind
Schwerbehinderte. Es existieren verschiedene Ermäßigungs- und Freikartenregelungen, selbstverständlich
auch für Begleitpersonen. Es gibt Sonderführungen beispielsweise für Sehgeschädigte und Gehörlose. Es gibt
Hilfsmittel wie Tastpläne sowie Führungen in Gebärdensprache. Der Internetauftritt der angesprochenen Einrichtung ist weitgehend barrierefrei.
Ich will das Deutsche Historische Museum in Berlin
ansprechen. Es wurde jüngst für den uneingeschränkten
Zugang mit dem Signet „Berlin barrierefrei“ ausgezeichnet. Das Haus der Geschichte ist inzwischen ebenfalls
weitgehend barrierefrei; es evaluiert die Barrierefreiheit
durch kontinuierliche Besucherbefragungen. Das Jüdische Museum ermöglicht den barrierefreien Zutritt.
Beim jüngst fertiggestellten Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig wurde besonders
auf die Barrierefreiheit geachtet.
Diese Liste könnte man fortsetzen. Wenn wir über
solch einen Antrag diskutieren, in dem Kritik geäußert
wird und aufgezeigt wird, was noch nicht passiert ist,
sollten wir uns zumindest auch den Punkten widmen, die
wir schon umgesetzt haben.
({5})
Sie haben in Ihrem Antrag das Thema Filmförderung
angesprochen; da schaue ich ein bisschen in Richtung
der Kollegin Krüger-Leißner, die nachher noch spricht.
Wir haben jetzt die Novelle des Filmförderungsgesetzes
vor uns. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir auf das,
was Sie dazu im Antrag geschrieben haben, achten müssen. Wir haben derzeit Förderkriterien definiert, die es
möglich machen, dass im Bereich Barrierefreiheit viel
passieren kann. Bisher ist da leider noch nicht genügend
passiert.
({6})
- „Gar nichts“ würde ich auch nicht sagen. Es gibt natürlich Filme, die den Förderkriterien entsprechen und die
Filmförderung in Anspruch nehmen, aber es dürften
gerne mehr sein. Wir werden das gemeinsam im Rahmen
der Novelle zum Filmförderungsgesetz beraten.
Ich komme zu meinem letzten Punkt, nämlich der angesprochenen Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung des Bundes. Der Aktionsplan war vom Juni, die
Verordnung ist vom September, jetzt haben wir Januar.
Da ist es doch naheliegend, dass sie noch nicht komplett
umgesetzt ist, dass noch nicht alle Homepages und Internetseiten des Bundes und der entsprechenden Einrichtungen umfasst sein können.
Meine Bitte auch hier - weil es in dieselbe Richtung
geht wie bei Gebäuden -: Lassen Sie uns gemeinsam
konstatieren, dass wir eine Menge erreicht haben. Lassen
Sie uns gemeinsam festlegen, wie wir mit den restlichen
Aufgaben weiterkommen. Lassen sie uns konkrete Projekte durchführen, wie zum Beispiel wir, Frau Kollegin
Frau Krüger-Leißner, im Bereich Film. Ich hoffe zumindest, dass wir künftig nicht viertel- oder halbjährlich einen Antrag vorgelegt bekommen, sondern dass wir einen
einmal vorgelegten Antrag in konkreten Einzelberatungen gemeinsam bearbeiten.
Ich habe festgestellt, dass sich der vorliegende Antrag
mit dem großen Antrag zur Barrierefreiheit in vielen
Punkten deckt, allerdings wurde vieles auf den Kulturbereich heruntergebrochen - was sicherlich legitim ist -,
aber das werden wir in den Einzelberatungen klären
müssen.
({7})
Gestatten Sie mir den Hinweis: Auch das Zusammenfalten des Redemanuskripts ersetzt nicht das pünktliche
Ende einer Rede.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben einen Antrag in Leichter
Sprache vorgelegt. À la bonne heure, meinen Respekt
dafür, herzlichen Glückwunsch - das müssen wir alle
erst einmal nachmachen.
({0})
Keine Frage: Das ist toll. Auch inhaltlich - das will ich
gleich signalisieren - werden wir in vielen Punkten mitgehen. Es ist eine gute Sache, die Sie da vorgelegt haben: richtiger Weg, richtiges Ziel.
Damit ein solcher Antrag aber nicht zur Folklore wird
- wie es einem manchmal vorkommt, wenn hier einmal
in der Wahlperiode der Tagesordnungspunkt zum Thema
„Sprache und Kultur nationaler Minderheiten“ aufgerufen wird -, ist viel mehr zu tun. Da müssen wir bei uns
selbst anfangen, in meiner eigenen Fraktion, aber auch in
allen anderen.
Das geht damit los, dass die Plenartagungen und die
öffentlichen Ausschusssitzungen des Bundestages immer noch nicht synchron in Gebärdensprache übertragen
werden. Warum steht hier kein Gebärdensprachdolmetscher? Warum gibt es keine Schriftdolmetschung, die automatisch mitläuft? Das wäre technisch kein Problem,
das wäre alles machbar, das gehört zur Kultur des Parlaments heutzutage eigentlich dazu.
({1})
Barrierefreie Angebote im Internet und die Publikationen des Bundestages und aller Fraktionen - einschließlich meiner Fraktion - sind immer noch nicht so,
wie sie sein sollen. Wir könnten schon viel weiter sein,
auch wenn die entsprechende Verordnung noch nicht so
alt ist.
Aber in vielen dieser Punkte sieht die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf. Staatssekretär Fuchtel,
der die Bundesregierung hier einsam vertritt, hat erst in
dieser Woche in der Fragestunde auf meine Frage geantwortet: kein Handlungsbedarf.
Es müssen auch Gesetze geändert werden - ich will
gar nicht die erwähnen, die im SPD-Antrag enthalten
sind -, zum Beispiel das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes. Es verpflichtet öffentliche Einrichtungen und Behörden zu barrierefreier Kommunikation mit
Gehörlosen, mit Hörgeschädigten, mit Blinden, mit Sehgeschädigten, aber nicht mit Menschen mit sogenannter
geistiger Behinderung oder mit Lernschwierigkeiten. Es
gibt also gar keinen gesetzlichen Anspruch auf Leichte
Sprache. Wieso behauptet die Regierung, dass es keinen
Handlungsbedarf gibt?
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der Sie
betrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
Wir teilen nicht Ihre Feststellung, dass Sie begrüßen,
dass der Fünfzehnte Rundfunkänderungsstaatsvertrag
von den Ländern ratifiziert worden ist. Für die Mehrheit
der Menschen mit Behinderung führt das zu einer Gebührenerhöhung.
({2})
- Ja, das ist einfach so. Das begrüßen wir nicht. In dem
Punkt sind wir ganz eindeutig unterschiedlicher Ansicht.
({3})
Es ist auch ein echtes Problem - Sie haben es angesprochen, Frau Schmidt -, wie wir es schaffen können,
dass wir in den Rundfunkräten mehr Kompetenz in dieser Frage haben. Gerade gestern hat die SPD in Berlin
die Chance verpasst, in den RBB-Rundfunkrat einen
Menschen mit Behinderung hineinzuwählen. Sie haben
dort doch schon zwei Vertreter. Gestern haben Sie für
Herrn Müller, der ausschied, weil er Senator wurde, wieder einen SPD-Abgeordneten hineingewählt. Warum
nicht einen Menschen mit Behinderung? Das wäre eine
Chance gewesen, die leider verpasst wurde.
({4})
Wir haben in Berlin auch andere Chancen verpasst;
das will ich überhaupt nicht bestreiten. Das Schloss
Friedrichsfelde im Tierpark ist mit Fördergeldern in
Höhe von 3,5 Millionen Euro saniert worden. Hier gibt
es aber eine Barriere nach der anderen; es ist nicht im
Geringsten barrierefrei. Das ist auch eine Kritik, die an
meine eigene Partei geht; das will ich gar nicht bestreiten. Wir haben also Chancen verpasst; wir hätten längst
etwas ändern können.
Ich will aber noch einmal festhalten: Der Antrag wird
von uns mit großer Sympathie diskutiert werden, vor allen Dingen, weil wir sehen, dass Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, auch lernfähig sind.
({5})
Sie kritisieren zu Recht den Nationalen Aktionsplan, der
jetzt von der Regierung vorgelegt wurde. Ich erinnere
aber: Als die UN-Behindertenrechtskonvention hier ratifiziert wurde, haben Sie gemeinsam mit der CDU/CSU
eine sogenannte Denkschrift danebengelegt. In dieser
stand nichts anderes als: Es gibt nichts zu denken, wir
haben alles schon erledigt.
({6})
- Nein, das ist kein Pessimismus, Frau Michalk, das ist
Optimismus, dass wir vorankommen und dass auch Sie
eines Tages lernfähig werden. - Inzwischen haben die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD ja dazugelernt.
Herzlichen Glückwunsch!
Vielen Dank.
({7})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Reiner
Deutschmann.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Für die FDP ist Politik für
Menschen mit Behinderung durchaus Bürgerrechtspolitik. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. So steht es auch in Art. 3 unseres Grundgesetzes. Dieser Grundsatz, meine sehr verehrten Damen
und Herren, ist uns Liberalen Richtschnur und Verpflichtung zugleich, sich für die Rechte und Bedürfnisse behinderter Menschen in diesem Land einzusetzen.
({0})
Für die von uns gewünschte tolerante, solidarische und
weltoffene Gesellschaft brauchen wir die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben.
Bevor ich mich aber inhaltlich mit dem Antrag auseinandersetze, muss ich zunächst einen großen Dank an
die Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion
richten: Mit Ihrer Idee, diesen Antrag auch in Leichte
Sprache zu übersetzen, sind Sie neue Wege gegangen.
Das alles sollte uns Inspiration sein. Ich beglückwünsche
Sie zu dieser Idee.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die UN-Behindertenrechtskonvention ist - das wurde ja bereits erwähnt seit 2009 auch für Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung
dient dazu, diese Konvention in Deutschland umzusetzen. Unsere Fraktion begrüßt ganz ausdrücklich die
Pläne des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales,
insbesondere die aufgezeigten Möglichkeiten zur Teilhabe am Arbeitsmarkt, zur Verbesserung der Barrierefreiheit und zur Steigerung der Mobilität.
Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich betonen, dass der Aktionsplan ein erster wichtiger Baustein
ist, weitere Verbesserungen für Menschen mit Behinderung zu erreichen. Er ist gewiss noch nicht das Ende der
Fahnenstange.
({2})
Im Übrigen sollten wir dadurch nicht die Bemühungen
der Menschen schmälern, die sich seit Jahrzehnten für
Belange von Behinderten einsetzen und große Erfolge
errungen haben. Nicht umsonst ist Deutschland in seiner
Behindertenpolitik vielen anderen Ländern bereits weit
voraus. Dies sollten wir neben aller Kritik einmal positiv
zur Kenntnis nehmen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist auch nicht so,
als ob die Koalitionsfraktionen die Hände in den Schoß
gelegt hätten und nichts unternähmen. Ich erinnere gerne
an unseren am 1. Dezember letzten Jahres eingebrachten
Antrag mit dem Titel „Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten - Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte“.
({4})
In diesem Antrag haben wir bereits einige der Punkte
aufgegriffen, die auch Sie hinsichtlich der Barrierefreiheit von Film- und Fernsehangeboten fordern. Das betrifft unter anderem einen verstärkten Einsatz von Untertitelung, mehr Filme mit Audiodeskription sowie
Angebote mit Gebärdensprachanteil.
Deswegen verweisen wir auch auf die im Rundfunkstaatsvertrag enthaltene Regelung, mehr barrierefreie
Angebote zu entwickeln, und fordern unsere öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten auf, diese Angebote auch
weiter auszubauen.
({5})
Der zu diesem Zweck eingerichtete Runde Tisch von
BMAS und BKM wird von uns ausdrücklich begrüßt.
Was den Film angeht, so werden die Belange der Barrierefreiheit mit Sicherheit auch bei der nächsten Novelle
zum Filmförderungsgesetz eine Rolle spielen.
Wir teilen die in Ihrem Antrag formulierte Forderung,
die Ausbildung in Kultur- und Medieneinrichtungen des
Bundes für Menschen mit Behinderung noch stärker zu
öffnen. Allerdings lehnen wir die Forderung ab, die Ausschreibungen des Bundes für Produkte, Dienstleistungen
und Gebäude immer an die Berücksichtigung der Barrierefreiheit zu knüpfen.
({6})
Das Vergaberecht ist nicht geeignet, die Erfüllung bestimmter Quoten zu erzwingen. Aspekte wie Qualität,
Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit würden dadurch an
Stellenwert verlieren.
({7})
Zudem wären die Existenzen kleiner und mittelständischer Unternehmen gefährdet, die aufgrund ihrer dünnen
Personaldecke oder aus finanziellen und arbeitstechnischen Gründen die Anforderungen der Barrierefreiheit
nicht erfüllen können.
Mit der Verabschiedung der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik, BITV 2.0, die
für die Behörden der Bundesverwaltung gilt, sind wir
bereits auf einem guten Weg, für den Abbau von Hindernissen im Netz zu sorgen. Dieses Thema hat für die Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Deswegen arbeitet sie mit hoher Priorität an der Umsetzung der
Verordnung, sodass es hier keiner besonderen Aufforderung durch Ihren Antrag bedarf. Welch großer zeitlicher
Aufwand damit verbunden sein kann, zeigt Ihre Initiative aber durchaus. Wir wissen ja: Die Übersetzung Ihres
Antrags in Leichte Sprache hat anderthalb Wochen gedauert. Solch einen Aufwand sollten wir uns allerdings
leisten.
Thomas Hänsgen, Stiftungsratsvorsitzender und Geschäftsführer „barrierefrei kommunizieren“, sagte im
Fachgespräch des Unterausschusses Neue Medien am
19. September letzten Jahres im Zusammenhang mit der
BITV 2.0:
Barrierefreiheit ist eine Vision. Bisher haben wir es
im besten Falle mit barrierearmen Angeboten zu
tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind der Auffassung, dass Barrierefreiheit nur zu einem gewissen Grad
durch den Gesetzgeber gewährleistet werden kann. Was
wir zur wahren Vollendung der Teilhabe von Menschen
mit Behinderung brauchen, ist ein Umdenken in unserer
gesamten Gesellschaft. Wir brauchen die Aufmerksamkeit aller Menschen sowie privater und öffentlicher Einrichtungen in diesem Land. Man muss sich mehr für die
Belange und Erfordernisse von Menschen mit Behinderung interessieren.
({8})
Nur wer hinsieht, erkennt, wo es in Museen an Rollstuhlrampen, in U-Bahnhöfen an Fahrstühlen oder an in Blindenschrift verfassten Schrifttafeln für sehbehinderte
Menschen fehlt.
Mein Rotary Club in Kamenz hat seit Jahren eine
Partnerschaft mit der Werkstatt für behinderte Menschen
„St. Michael“ im Kloster St. Marienstern. Schon aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen ist Barrierefreiheit für mich kein technokratischer Begriff, sondern gelebte Menschlichkeit. Daran müssen wir alle gemeinsam
arbeiten. Dafür werden wir uns auch weiterhin einsetzen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Tabea Rößner.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Der uneingeschränkte Genuss unserer Kulturschätze
muss Menschen mit Behinderungen, egal welcher Art,
genauso möglich sein wie allen anderen.
({0})
Beim Film zum Beispiel scheitert dies am Angebot.
Mit Audiodeskriptionen versehene Fassungen von Filmen wie „Die Päpstin“ oder „Lippels Traum“ sind leider
Ausnahmen. Sie zeigen gleichzeitig, was möglich wäre,
wenn man barrierefreie Filmfassungen stärker fördern
würde. Hier hängt Deutschland hinter anderen Ländern
weit zurück, was besonders unverständlich ist, wenn
man bedenkt, wie wenig zum Beispiel Untertitelungen
im Verhältnis zum Gesamtbudget eines Films kosten. Ich
frage mich, was die Veränderungen im Zuge der letzten
Novelle zum Filmförderungsgesetz tatsächlich gebracht
haben, wenn Sie, Herr Wanderwitz, selber feststellen,
dass nichts passiert ist.
Vor diesem Hintergrund fordern wir ein Sofortprogramm „Barrierefreier Film“. So könnten wir sicherstellen, dass bei Filmen, die mit Bundesmitteln gefördert
werden, ein barrierefreies Angebot bald zu einer Selbstverständlichkeit wird.
({1})
Die Digitalisierung schafft gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen zahlreiche neue Teilhabechancen.
Wenn digitale Angebote jedoch nicht barrierefrei sind,
grenzen wir genau diese Menschen aus.
Die Deutsche Digitale Bibliothek wird zukünftig einen nie zuvor dagewesenen Zugang zu Kultur- und Wissensgütern bieten. Auch dieses Angebot muss allen
Menschen offenstehen. Wir fordern daher in einem Antrag zur Deutschen Digitalen Bibliothek, schriftliche
Werke bereits bei der Digitalisierung mit einer Audiofunktion zu kombinieren, um Blinden die Teilhabe zu ermöglichen. Für hörbeeinträchtigte und gehörlose Menschen müssen audiovisuelle Werke generell mit
Untertiteln versehen werden, falls möglich auch mit Gebärdensprache.
({2})
Ich frage Sie von der Koalition: Warum berücksichtigen
Sie diese wichtigen Partizipationsmöglichkeiten für
Menschen mit Behinderungen in Ihrem Antrag zur Deutschen Digitalen Bibliothek nicht?
Alle digitalen Angebote sollten zukünftig so gestaltet
werden, dass sie sich intuitiv über verschiedene Wege erschließen lassen. Die Zugänglichkeit muss für möglichst
viele Menschen gewährleistet sein, ohne spezielle oder
separierende Lösungen. „Universal Design“ ist hier das
Stichwort. Der Bund muss dort, wo er zum Beispiel
Soft- oder Hardware zur Bereitstellung von Internetpräsenzen beschafft, bei Ausschreibungen darauf achten,
dass Schnittstellen, Software und Angebote den Vorgaben des Universal Designs entsprechen. Außerdem müssen Menschen mit Behinderungen im IT-Planungsrat beteiligt sein.
({3})
Die BITV 2.0, die die Barrierefreiheit von Behördenseiten regeln soll, kam drei Jahre zu spät, und sie wird
immer noch nicht umgesetzt. Wenn sie irgendwann endlich einmal Standard sein sollte, ist sie womöglich schon
wieder veraltet. Unsere Nachbarländer, zum Beispiel Italien und Österreich, machen das ganz anders. Sie nehmen die international abgestimmten Richtlinien für barrierefreie Inhalte direkt in ihre Gesetze auf.
Als Medienpolitikerin fordere ich auch die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten auf, möglichst durchgehend barrierefreie Angebote bereitzustellen. Immerhin
plant die ARD ab 2013 eine konsequente Untertitelung.
Die Öffentlich-Rechtlichen müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen, insbesondere wenn Menschen mit Behinderungen zukünftig Rundfunkbeiträge zahlen müssen.
({4})
Aber auch private Medienunternehmen müssen ihr Angebot gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention und
dem Behindertengleichstellungsgesetz barrierefrei gestalten. Damit hat die SPD in ihrem Antrag ganz recht.
Das nehmen diese Medienunternehmen nicht ernst genug.
Wir alle - das wurde schon erwähnt - müssen uns
aber an die eigene Nase fassen; da nehme ich unsere
Fraktion nicht aus. In meiner Zeit hier im Bundestag
habe ich jedenfalls noch keinen Antrag gesehen, der in
Leichte Sprache übersetzt wurde. Ich finde es daher vorbildlich, dass die SPD diesen Antrag so vorgelegt hat.
Ich weiß, dass es das in Rheinland-Pfalz auch schon gab.
Gleichzeitig finde ich es aber auch sehr schade, dass ich
das herausstellen muss; denn aus meiner Sicht sollte das
eine Selbstverständlichkeit sein.
({5})
Wir alle sollten über Barrierefreiheit eben nicht nur reden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag „Kultur für alle“ in Bildsprache, in Leichter
Sprache ist tatsächlich eine Premiere hier im Deutschen
Bundestag. Vor einigen Jahren hat unser Kollege
Börnsen durchgesetzt, dass wir eine Debatte über alle
Minderheitensprachen Deutschlands im Deutschen Bundestag führen. Jetzt ist von der SPD-Fraktion dieser Impuls gekommen. Das zeigt, dass der Kulturausschuss
sehr munter ist und die Vielfalt unseres Kulturguts Sprache herausarbeitet. Ich finde, auch das gehört dazu.
Leichte Sprache gehört zu unserem Kulturgut. Insofern
ein Lob am Anfang.
({0})
Eine Gruppe hervorzuheben und ihren Bedürfnissen
entgegenzukommen, ist immer wieder notwendig und
legitim. Ich begrüße es, dass die SPD mit diesem Antrag
Menschen mit einer geistigen Behinderung entgegenkommt. Wir alle wissen aber, dass zum Beispiel Menschen mit einer Sehbehinderung andere Vorkehrungen
brauchen. Wer sich bei der Herstellung von Barrierefreiheit an den Bedürfnissen einer Gruppe orientiert,
schließt eventuell eine andere aus. Das müssen wir berücksichtigen. Immer wieder ist das richtige Maß zu finden. Ein ausgewogenes und einbeziehendes Agieren ist
die Kunst des täglichen Lebens. Dieser Aufgabe muss
sich jeder stellen, innerhalb und außerhalb des Bundestages. Letztlich muss der Inklusionsprozess genau so gestaltet werden.
Friedrich Hebbel, ein deutscher Dramatiker des
19. Jahrhunderts, hat den Satz geprägt:
Die Freude verallgemeinert, der Schmerz individualisiert den Menschen.
Er mahnt uns damit, niemanden auszugrenzen, nicht ignorant zu sein und damit Schmerz zuzufügen, nicht die
Defizite eines Menschen zu betrachten, sondern vielmehr seine Kompetenzen und Fähigkeiten. Das ist das
Motto der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bei all diesen
Fragen.
({1})
Wir unterstützen den Nationalen Aktionsplan der
Bundesregierung, der den Leitgedanken hat: Menschen
mit Behinderung und ihre Belange werden von Anfang
an mit einbezogen. Deshalb würden wir den Titel Ihres
Antrages gerne ergänzen: Kultur für alle mit allen. Wir
legen großen Wert auf diese Ergänzung.
({2})
Das schließt neben dem Zugang zu kulturellem Material in entsprechenden Formaten - davon war jetzt schon
die Rede - den Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmund Theaterveranstaltungen, Museen, Kinos, Bibliotheken, Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller
Bedeutung ein. Aber das schließt auch ein, dass sie
selbst die Möglichkeit haben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu
nutzen - nicht nur für sich selbst, sondern auch für die
Gesellschaft.
({3})
Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung ist
ein Maßnahmenpaket, kein Gesetzespaket. Dass die Umsetzung dieses Maßnahmenpaketes ernst genommen
wird, auch durch den BKM, unseren Staatsminister für
Kultur und Medien, zeigt sich daran, dass alle dauerhaft
geförderten Einrichtungen des Bundes sofort nach Verabschiedung des Nationalen Aktionsplanes schriftlich
mit der ständigen Aufgabe betraut wurden, Art. 30 der
UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Sie wurden angemahnt, diese Herausforderung anzunehmen.
Staatliches Handeln ist das eine, das Engagement vor
Ort und in den Einrichtungen ist das andere. Gerade am
heutigen Tag will ich noch einmal das schöne Beispiel
der Gedenkstätte Hadamar erwähnen. Seitdem die Ausstellungstexte in ganz verständlicher Form angebracht
wurden - sie wurden sehr einfach formuliert -, es eine
bessere Ausschilderung und für Menschen mit einer
Gehbehinderung auch einen Aufzug gibt, der vor allen
Dingen auch funktioniert, sind mehr als 2 000 Menschen
mit einer geistigen Behinderung in der Gedenkstätte gewesen und haben sich selbst über die NS-Euthanasieverbrechen informiert und damit auseinandergesetzt. Ich
finde, solche Beispiele müssen wir in der Öffentlichkeit
stärker wahrnehmen.
({4})
Das gemeinsame Erleben von Kunst und Kultur durch
Menschen mit und ohne Behinderung ist, so glaube ich,
unsere gemeinsame Aufgabe. Hier haben wir keinen
Streit. Wir sagen allerdings: Das geht nicht per Anordnung, sondern muss im Dialog und im ständigen Bemühen ein Bedürfnis und eine Selbstverständlichkeit werden.
Liebe Frau Schmidt, das, was Sie in Ihrem Antrag als
zweite Forderung formulieren, dass nämlich private Kultur- und Medienunternehmer durch verhältnismäßige Regelungen verpflichtet werden sollen, in größerem Umfang als bisher barrierefreie Zugänge zu ihren Angeboten
zu ermöglichen, funktioniert nicht.
({5})
Wir als Union sagen ganz einfach: Wer nicht erkennt,
dass uns die Demografie lehrt, auf wirkliche Barrierefreiheit zu achten, der schließt Kunden aus und beraubt
sich selbst seines Erfolges. Auf diese Kräfte setzen wir
vor allen Dingen.
({6})
Wir setzen auf die Kraft der Erkenntnis und nicht auf
Zwang.
({7})
Deshalb will ich Ihnen auch noch einmal sagen, dass
ich es schön finde, dass wir hier gemahnt werden, uns
gelegentlich auch einmal mit dem Behördendeutsch auseinanderzusetzen. Nicht nur wir stolpern nämlich darüber. Hier gibt es durchaus die Mahnung, uns in unserem täglichen Politikerleben zu bemühen - das gehört
für mich auch zum Kulturgut -, eine einfache Sprache
und keine ellenlangen Sätze zu sprechen und unsere Botschaften in einfachen, klaren Sätzen herüberzubringen.
Deswegen sage ich: Inklusion bedeutet, selbst auf andere zuzugehen und eigene Grenzen zu verschieben. Inklusion bezieht sich immer auf die Gemeinschaft. Inklusion heißt, Veränderungsprozesse können besonders
kreativ sein, wenn sie so gestaltet werden, dass jeder einen Vorteil davon hat. Deshalb lautet mein letzter Satz:
Inklusion ist genau genommen eine Haltung. Üben wir
uns also in dieser Haltung!
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika
Krüger-Leißner das Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Präsidentin!
Eigentlich ist es sehr schade, dass bei der Premiere dieses bisher einmaligen Antrages nur so wenige Kollegen
hier sind. Aber eine Premiere ist ja der Auftakt für künftiges Handeln, sodass ich hier Hoffnung habe.
Wir wollen Kultur für alle! Das zeigen wir durch
Form und Inhalt. Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention können wir ein ähnlich formuliertes Ziel erkennen. Da heißt es:
Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der alle
Menschen mitmachen können.
So die Ministerin. Ich denke, das können wir alle unterschreiben.
Wenn wir aber im Aktionsplan weiterblättern, zum
Beispiel auf die Seite 107, finden wir eine Aussage, die
deutlich zeigt, dass die Bundesregierung die Handlungsnotwendigkeiten verkennt. Das ist übrigens für diesen
Aktionsplan symptomatisch. Da heißt es nämlich, das
Filmförderungsgesetz sei beispielhaft dafür, wie Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen durchgesetzt werden
kann. Ich bin richtig froh, dass Herr Wanderwitz in seinen Aussagen ein bisschen realistischer war. Ich sage Ihnen: Genau das Gegenteil ist beim Filmförderungsgesetz
der Fall.
So gut und wichtig das Filmförderungsgesetz für das
Filmschaffen in Deutschland und den deutschen Film ist,
so wirkungslos ist das FFG beim Durchsetzen von Barrierefreiheit. Die Zahlen sprechen für sich. Mir ist keine
Filmproduktion bekannt, die aufgrund der Förderung
durch die Filmförderungsanstalt mit einer Audiodeskription oder Untertitelung versehen wurde. Auch meine
Nachfrage beim Vorstand der FFA hat keine andere Erkenntnis ergeben. Auch die Effekte der Kinoförderung
durch das FFG sind mehr als dürftig: Nur 6 Prozent aller
Kinosäle in Deutschland sind für unsere schwerhörigen
Mitmenschen ausgestattet. Das ist eindeutig zu wenig.
({0})
Wir wissen doch: Millionen Menschen sind auf diese besonderen technischen Einrichtungen angewiesen, um am
Gemeinschaftserlebnis Kino teilhaben zu können.
Dieser Misserfolg lässt sich auch nicht schönreden;
denn er steht ganz deutlich im Widerspruch zu Art. 30
der UN-Behindertenrechtskonvention. Darin wird die
volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am kulturellen Leben gefordert, und zwar ohne
Einschränkung.
({1})
Noch einmal zu den Fakten. Das FFG in seiner derzeitigen Fassung vermag es nicht, wirksame Anreize zu
setzen, damit mehr seh- oder hörbehinderte Menschen
am Filmerlebnis teilhaben können. Als wir das FFG vor
drei Jahren so beschlossen haben, haben wir uns von
dem Gedanken leiten lassen, dass auch die Filmbranche
ihre gesellschaftliche Verantwortung gegenüber unseren
behinderten Menschen wahrnimmt. Das war leider eine
Täuschung.
In der Produktionsförderung ist vorgesehen, dass wenigstens eine Endfassung eines geförderten Films in einer
Version mit deutscher Audiodeskription für Sehbehinderte und mit deutschen Untertiteln für Hörgeschädigte
hergestellt wird. Allerdings ist das nur eine von acht Bedingungen, von denen drei erfüllt werden müssen, damit
Fördergelder fließen. Genau das ist der Haken. In der Praxis haben nämlich die Produzenten, sicherlich aus Kostengründen, andere Voraussetzungen gewählt. Hier und
an anderen Stellen im FFG müssen wir einfach nachbessern. Die Förderbedingungen sind offensichtlich zu weich
formuliert.
({2})
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert hier eine ganz
klare Regelung, die nicht mehr zu umgehen ist. Das
heißt, Förderungshilfen müssen verbindlich an die Voraussetzung gebunden werden, dass wenigstens eine
Endfassung mit Audiodeskription und Untertiteln hergestellt wird.
({3})
Wir fordern das auch von den Länderförderern.
Noch ein Hinweis zum Schluss. Mit der Digitalisierung wird die barrierefreie Ausgestaltung zukünftig noch
einfacher und kostengünstiger. Also, warum sollten wir
es nicht tun? Vielleicht, Herr Wanderwitz, schaffen wir
es sogar vor 2014, gemeinsam zu prüfen, ob wir nicht
über Übergangsregelungen, zum Beispiel über untergesetzliche Richtlinienänderungen, einen Weg finden. Ich
bin dafür. Lassen Sie uns das angehen.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa
Paus, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dienstwagenprivileg abbauen und Besteuerung CO2-effizient ausrichten
- Drucksache 17/8462 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer im
vergangenen Jahr einen neuen VW Passat Variant mit einem Listenpreis von 30 000 Euro von seiner Firma als
Dienstwagen zur Verfügung gestellt bekam, den kostete
dieses Auto alles inklusive bis zu 1 500 Euro.
({0})
Wer das gleiche Fahrzeug privat angeschafft und genutzt
hat, der hatte im selben Zeitraum Kosten von mindestens
7 500 Euro, also 6 000 Euro mehr. Diese Zahlen stammen nicht von mir, sondern vom ADAC.
({1})
- Genau, wenn man eben nicht in den Genuss eines
Dienstwagens kommt. So ist es.
Ein Porsche Cayenne mit einem Listenpreis von
117 000 Euro kostet, berücksichtigt man Anschaffungs-,
Betriebs- und Versicherungskosten, nach Schätzungen
des ADAC pro Jahr 24 000 Euro, wenn man ihn nur
privat erwerben kann. Fährt jemand das gleiche Fahrzeug als Dienstwagen, dann spart er ganze 18 000 Euro
pro Jahr. Je teurer das Auto, desto höher die Subventionierung.
({2})
Das sogenannte Dienstwagenprivileg ist ungerecht,
und deswegen wollen wir es ändern.
({3})
Das Dienstwagenprivileg ist auch unökologisch. Auch
deswegen wollen wir es ändern und haben dazu einen
Antrag vorgelegt. Denn der Porsche Cayenne Turbo ist
nicht nur teuer, sondern mit einem CO2-Ausstoß von
270 Gramm pro Kilometer auch eine Emissionsschleuder.
Die steuerliche Regelung für Dienstwagen in
Deutschland entwickelt sich auch zu einem ökonomischen Problem. Denn die Absatzförderung für Spritschleudern steht im Gegensatz nicht nur zu grünen ökologischen Zielen, sondern auch im Gegensatz zu
geltenden Regeln in Europa.
Mit Beginn dieses Jahres dürfen die neu zugelassenen
Fahrzeugflotten in Stufen bis 2015 im Durchschnitt nur
noch 130 Gramm pro Kilometer ausstoßen. Die deutsche
Neuwagenflotte ist jedoch mit 151 Gramm CO2 je Kilometer noch weit von diesem Zielwert entfernt. So hat
auch das DIW im November 2011 empfohlen, geeignete
Instrumente für Anreize zur Effizienzsteigerung zu suchen. Ich zitiere:
Gerade Firmenwagen wären hier ein wichtiges und
bisher mit falschen Anreizen versehenes Segment.
({4})
Wir Grünen schlagen mit dem vorliegenden Antrag
vor, einen Klimafaktor in die bestehenden Regelungen
einzuführen: Je mehr man das Klima schädigt, desto weniger kann man steuerlich geltend machen.
({5})
Für Fahrzeuge bis 120 Gramm pro Kilometer ändert sich
nichts. Liegt der Verbrauch jedoch darüber, wie zum
Beispiel beim Passat Variant um 13 Prozent, dann kann
das Unternehmen die Anschaffungs- und Betriebskosten
um 13 Prozent weniger geltend machen, und die privaten
Nutzer müssen einen 13 Prozent höheren geldwerten
Vorteil zahlen.
Um dauerhaft Effizienzanreize zu setzen, wird der
Zielwert, also die 120 Gramm, bis 2016 in Schritten auf
80 Gramm gesenkt. Fahrzeuge unter 60 Gramm werden
vollständig von der Besteuerung befreit.
({6})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Es gibt
vor allem zwei Gegenargumente. Das erste Argument
ist: Es hat sich doch schon viel getan. - Das stimmt fast.
Es hat sich ein bisschen was getan, aber es ist deutlich zu
wenig.
Die Deutsche Umwelthilfe beispielsweise hat 153 Unternehmen unter die Lupe genommen. Lediglich vier
Unternehmen konnte sie eine Grüne Karte ausstellen,
und auch nur mit gutem Willen. Die meisten Unternehmen haben immer noch Dienstwagenflotten mit einem
höheren CO2-Ausstoß als 140 Gramm pro Kilometer.
Das ist Best Practice in Deutschland. Das ist zu wenig.
({7})
Das zweite Gegenargument ist - das war damals Ihr
Argument, Herr Gutting; Sie haben gleich Gelegenheit,
darauf einzugehen -: Das ist steuersystematisch nicht
möglich. Dazu stelle ich fest: Es geht doch. Das zeigt ein
Blick ins europäische Ausland. In Österreich und Frankreich gibt es klare Grenzen für die Absetzbarkeit:
40 000 Euro in Österreich und 18 700 Euro in Frankreich.
({8})
Auch in der Schweiz dürfen Luxusdienstwagen nur teilweise abgesetzt werden. In Belgien gibt es bereits eine
Staffelung nach CO2-Ausstoß.
Deswegen bitte ich Sie, sich diesmal ernsthaft mit unserem Antrag auseinanderzusetzen. Steigen Sie mit uns
in eine konstruktive Debatte ein! Ich freue mich auf die
Beratungen im Ausschuss.
({9})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
hatten bereits im Jahre 2008 einen fast wortgleichen Antrag eingebracht. Auch damals ging es vorrangig um das
Schüren einer Neiddebatte gegen die Nutzer und Nutzerinnen von Firmenwagen der Mittel- und Oberklasse
sowie insbesondere der SUVs. Ihren heutigen Angriff
verstecken Sie zusätzlich unter dem Deckmantel des Klimaschutzes. Aber es bleibt bei einem Angriff gegen die
deutsche Automobilindustrie und die Firmenwagennutzer.
({0})
Lassen Sie mich gleich feststellen: Bei der Dienstwagenbesteuerung und den hierzu einschlägigen Abschreibungsregelungen handelt es sich nicht um Privilegien,
sondern um allgemein anerkannte Besteuerungsgrundsätze. Die Abschreibung zeichnet lediglich - genauso
wie bei anderen Wirtschaftsgütern - den jährlichen
Wertverlust des Firmenvermögens nach. Die Besteuerung von Dienst- und Firmenwagen ist auch keine Subvention, wie Sie es darstellen, sondern folgt ertragsteuerlichen Grundsätzen.
Mit dem Herumdoktern an den Abschreibungsregelungen und der Verknüpfung mit dem CO2-Ausstoß der
Fahrzeuge wollen Sie die Unternehmen umerziehen.
Aber ein Großteil der neu zugelassenen deutschen Firmenwagen, fast 90 Prozent, sind geleast. Fast alle Leasingfahrzeuge werden beim Leasinggeber und nicht
beim nutzenden Unternehmen bilanziert. Folglich werden sie auch beim Leasinggeber abgeschrieben. Ihr Vorschlag, die Abschreibung an Bedingungen wie CO2Ausstoß zu koppeln, trifft also gar nicht die Unternehmen, welche Firmenwagen im Bestand haben, sondern
die Leasingunternehmen. Was werden diese dann machen? Diese würden die durch die verschlechterten Abschreibungsmöglichkeiten verursachten Mehrkosten auf
die Leasingraten umlegen, welche die Unternehmen, die
diese Raten zahlen, richtigerweise zu 100 Prozent als
Betriebsausgaben absetzen. Sie treffen also nicht die
nutzenden Unternehmen, sondern die Leasingunternehmen.
({1})
Ihre Umerziehungsbestrebungen erreichen also gar nicht
die entsprechenden Unternehmen.
Jedem, der nur ein bisschen Gefühl für Steuerrecht
hat,
({2})
verursachen Ihre Vorschläge regelrecht körperliche
Schmerzen. Ihr Bestreben, das AfA-System ökologisch
auszurichten, widerspricht einfach den Grundsätzen unseres Steuerrechts. Das würde zu einer enormen Verkomplizierung des Steuerrechts führen. Es ist widersinnig, zwei in Anschaffungspreis und Nutzungsdauer
gleiche Wirtschaftsgüter nur deshalb steuerlich unterschiedlich zu behandeln, weil das eine einen höheren
Kraftstoffverbrauch oder einen höheren CO2-Ausstoß
hat.
Wie wollen Sie andere Maschinen steuerlich behandeln? Sie konzentrieren sich in Ihrem Antrag nur auf Autos. Wollen Sie sämtliche Maschinen mit erhöhtem
Strom- und Brennstoffbedarf bei der steuerlichen Abschreibung unterschiedlich behandeln? Wie soll es dann
weitergehen? Wollen Sie dann auch der Lebensmittelindustrie verbieten, ungesunde Zutaten wie Zucker und
Fett steuerlich abzusetzen? Sie wollen gängeln und vorschreiben. Ich bin froh, dass es im deutschen Ertragsteuerrecht keine Unterscheidung zwischen guten und
schlechten Kosten gibt. Ich will auch nicht in einem
Land leben, in dem eine kleine Minderheit entscheidet,
was gute und schlechte Kosten sind.
({3})
Die Rechnung, die Sie vorhin aufgemacht haben,
stimmt nicht. Die von Ihnen monierte 1-Prozent-Regelung betreffend die private Nutzung von Dienstfahrzeugen stellt kein steuerliches Privileg dar. Es handelt sich
vielmehr um eine allgemein anerkannte, sachgerechte
und seit vielen Jahren erfolgreiche Vereinfachungsregelung, die sich bewährt hat. Der Vorteil der Pkw-Gestellung durch den Arbeitgeber wird dem Arbeitslohn hinzugerechnet. Die Privatnutzung des Dienstfahrzeuges ist
zum persönlichen Steuersatz zu versteuern. Da gibt es
keine Subvention. Hier gilt: Wer viel verdient und einem
höheren Steuersatz unterliegt, muss auch mehr zahlen.
Größere Fahrzeuge, in Ihrem Antrag despektierlich
als Statussymbole bezeichnet, haben einen höheren Listenpreis; das ist richtig. Dieser höhere Listenpreis wird
auch entsprechend höher besteuert.
({4})
Wer also ein größeres Auto fährt, trägt eine höhere
Steuer. Wer ein größeres Auto fährt und vielleicht einen
höheren Verbrauch hat, zahlt im Übrigen auch an der
Tankstelle mehr.
({5})
Denn an der Tankstelle muss er die Kraftstoffpreise bezahlen, und wir alle wissen, dass circa 70 Prozent des
Kraftstoffpreises heute schon aus Steuern und Abgaben
bestehen.
Man kann also zusammenfassen, dass die Nutzung
von Firmenfahrzeugen insbesondere der deutschen Premiumhersteller zu Mehreinnahmen beim Staat führt:
über die Kraftstoffsteuer an der Tankstelle, über die höhere Kfz-Steuer, bei einem höheren Listenpreis auch
über eine höhere Zurechnung bei der 1-Prozent-Regelung und - was wir nicht vergessen dürfen - über die
Einkommen- bzw. die Lohnsteuer vieler Hunderttausender Menschen, die in der deutschen Automobilindustrie
beschäftigt sind.
({6})
Es ist schön, dass Sie in Ihrem Antrag konkret werden
und konkrete Beispiele nennen. Damit kann sich jeder
Firmenwagennutzer selbst ausrechnen, welche Mehrbelastung auf ihn zukommt.
Sie haben vorhin ein Beispiel vorgetragen. Nehmen
wir also den BMW 325 Diesel. Das ist bestimmt kein
Riesenoberklassenfahrzeug. Wenn ein gut verdienender
Außendienstmitarbeiter dieses Fahrzeug nutzt, muss er
nach Ihrem Vorschlag über die Gesamtnutzungsdauer
ungefähr 3 000 Euro mehr bezahlen.
({7})
Das ist eine Stange Geld. Das wird ihm sicher nicht gefallen. Er könnte natürlich auch Ihrem Vorschlag folgen
und auf einen Toyota Prius ausweichen. Dann würde er
nicht mehr bezahlen. - Allerdings muss ich immer wieder staunen. In Ihrem Antrag haben Sie dieses Fahrzeug
mehrmals erwähnt. Geradezu penetrant hofieren Sie diesen Fahrzeugtyp Toyota Prius.
({8})
Ich frage mich manchmal, ob die Grünen von Toyota bezahlt werden. Jedenfalls ist klar, worum es Ihnen eigentlich geht. Es geht Ihnen darum, die deutsche Automobilindustrie zu schädigen. Dies ist ein Angriff gegen die
deutsche Automobilindustrie. Da nützt es auch nichts,
dass Ihr ehemaliger Außenminister und Parteikollege
heute die Firma BMW berät.
({9})
Es geht Ihnen darum, den Menschen das Autofahren zu
vermiesen, es geht Ihnen darum, den Individualverkehr
immer weiter einzuschränken. Die über 750 000 Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie sind Ihnen schlicht egal.
Kollege Gutting, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Gambke?
Nein, ich mache weiter. Wir wollen ja alle irgendwann nach Hause.
Verbieten und gängeln - das sind jedenfalls die Rezepte der Grünen. Das deckt sich auch mit den Äußerungen des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann aus
Baden-Württemberg. Er hat ja gerade bekannt gegeben,
dass in Baden-Württemberg unter der jetzigen Regierung bzw. in den nächsten acht Jahren keine neuen Straßen mehr gebaut werden. Er sagt wortwörtlich, die
Straße müsse zukünftig zu einem „knappen Gut“ werden. Ich hoffe nur, dass sich die Menschen, wenn sie das
nächste Mal im Stau stehen, an diese Aussage erinnern.
Im Übrigen will ich Ihnen sagen: In Baden-Württemberg
ist die Straße bereits ein knappes Gut.
({0})
Es geht noch weiter. Ich bleibe bei Baden-Württemberg und dem Ministerpräsidenten, den ich erneut zitiere. Er sagt: Jeder Landrat und jeder Bürgermeister und
viele junge Unternehmer verlangen von der grün-roten
Landesregierung immerzu die Unterstützung für neue
Straßenprojekte, diese Mentalität gilt es zu knacken. „Diese Mentalität gilt es zu knacken.“ Das muss man
sich einmal überlegen. Alleine diese Wortwahl! Für
mich klingt das nach Ökodiktatur. Das, was hier propagiert wird, ist Gehirnwäsche.
({1})
Wir wollen wohl alle in diesem Haus, dass unsere
Kinder in einer gesunden und sicheren Umwelt aufwachsen. Das gilt gerade auch für uns in der Unionsfraktion.
Wir legen großen Wert auf die Bewahrung der Schöpfung. Aber Ihr Antrag trägt außer zu einer immensen
Verkomplizierung des ohnehin schon umfangreichen
Steuerrechts nichts zu diesem Ziel bei.
({2})
Er ist steuerlich systemwidrig, er ist sachfremd, und er
ist deswegen unnötig.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Gambke
das Wort.
({0})
Herr Gutting, Sie haben die Zwischenfrage nicht zugelassen. - Sie haben einen Gegensatz zwischen der Automobilindustrie auf der einen und den Grünen auf der
anderen Seite aufgebaut.
({0})
Sie haben eine Firma genannt: die Bayerischen Motoren Werke. Nun trägt es sich zu, dass diese Firma dicht
an meinem Wahlkreis sehr aktiv ist und ich auch gelegentlich mit den Herrschaften dort rede.
Wie stellen Sie sich zu der Aussage des führenden
Managers der Dingolfinger Fabrik, der größten Fabrik,
die BMW unterhält, der deutlich bei seinem letzten Abgeordnetengespräch gesagt hat, er wäre sehr dankbar,
wenn der Deutsche Bundestag die Bemühungen der
deutschen Automobilindustrie, niedrige Verbräuche und
damit niedrigere CO2-Ausstöße zu erreichen, auch durch
seine Steuergesetzgebung unterstützen würde?
({1})
Er sieht sich alleine gelassen. Diese Firma unternimmt
sehr große Bemühungen, um das Ziel zu erreichen, das
nicht nur die Grünen erreichen wollen. Dieses Ziel ist
allgemeiner Konsens. Er fordert, dass wir das mit niedrigen Grenzwerten verbinden.
({2})
Sie haben das Wort, Kollege Gutting.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Frage. - Wir tun
bereits einiges dafür, und zwar an der Tankstelle. Ich
kann es wiederholen: Menschen, die Fahrzeuge fahren,
die einen niedrigen Verbrauch haben, werden an der
Tankstelle belohnt, Menschen, die Spaß daran haben, ein
großes Auto zu fahren, oder einfach nicht anders können, werden an der Tankstelle bestraft. Im Übrigen gibt
es noch ein weiteres Lenkungselement, nämlich die KfzSteuer, durch die emissionsarme Fahrzeuge extrem begünstigt werden. Lassen Sie die Finger von den Abschreibungen! Sie machen damit ein Fass auf. Ich habe
vorher die Kritikpunkte benannt: Wo fangen Sie an? Wo
hören Sie auf?
Ich werfe Ihnen vor, dass Sie einen Punkt herausgreifen, nämlich die Dienstwagen, und Neid und Missgunst
schüren. Das geht gegen die deutschen Hersteller von
Premiumwagen. Ich kann sie nennen: In Baden-Württemberg ist es Mercedes, in Bayern sind es BMW und Volkswagen. Selbst der VW Passat Variant ist in Ihren Augen
schon ein spritschluckendes Ungetüm. Diesen Weg gehen
wir jedenfalls nicht mit. Wir stehen zu den deutschen Arbeitsplätzen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich finde, bei dieser wichtigen Frage wäre
eigentlich Abrüstung auf beiden Seiten angesagt gewesen. Herr Gutting, Ihre steuersystematischen Ausführungen, mit denen Sie Ihre Rede begonnen haben, sind dann
doch sehr stark ins Ideologische abgedriftet. Das muss
man ehrlich sagen.
({0})
Erlauben Sie mir den Hinweis, dass, was BadenWürttemberg angeht, ein Blick in den Koalitionsvertrag
helfen würde. Darin ist, anders als Sie hier behauptet haben, der Ausbau von Straßen ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Die Problematik ist nur, dass die schwarzgelbe Vorgängerregierung den Erhalt von bestehenden
Straßen so sträflich vernachlässigt hat, dass es jetzt bei
dem begrenzten Volumen an Geldern sehr schwer ist,
Mittel in den Neubau zu stecken. Insofern wären ein bisschen Fairness und Objektivität bei der Frage durchaus
angebracht gewesen.
({1})
Ich finde, dass die Diskussion darüber, ob wir über
steuerliche Anreize eine Motivation geben können, energiesparendere und CO2-einsparende Autos zu entwickeln, durchaus sinnvoll ist. Es ergibt keinen Sinn, wenn
eine Seite eine Maßnahme als den Weg schlechthin bezeichnet und eine andere Seite ebendiese Maßnahme als
Teufelszeug betrachtet. Die Frage, wie wir erreichen
können, dass ökologischere Autos produziert werden,
was im Übrigen am Ende im Sinne der Verbraucherinnen
und Verbraucher sein wird, muss gestellt werden. Die
Frage, ob wir diese Entwicklung durch steuerliche Maßnahmen ein Stück weit beeinflussen können, muss man
aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.
So zu tun, Frau Paus, als ginge es nur um die fetten
Cayenne-Dienstwagen, die privat genutzt würden, ist
nicht die ganze Wahrheit.
({2})
Den Forderungen in Ihrem Antrag zu entsprechen,
würde auch bedeuten, Firmenwagen von kleinen und
mittelständischen Unternehmen und von Handwerkern
zu belasten. Die stellen aber die Mehrheit. Zu tun, als ob
wir hier nur über die Luxusschlitten reden würden, wird
dem Problem nicht gerecht. Das halte ich für einen falschen Weg.
({3})
Die Frage, ob wir eine ökologische Lenkung durch
Abschreibungsmöglichkeiten erreichen können, darf
nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern sie muss auch
aus verfassungsrechtlicher Sicht betrachtet werden. Wir
reden hier von Betriebsausgaben - übrigens ist davon in
Ihrem Antrag sehr wohl die Rede -; wir reden vom Nettokostenprinzip. Das ist gerade dann wichtig, wenn es
um die Belange der mittelständischen Wirtschaft geht.
Dort spielt es nicht nur bei der Gewinnerzielung, sondern vor allem beim Erarbeiten des Existenzminimums
eine Rolle; man betrachte in diesem Zusammenhang beispielsweise Handwerker. Das Nettokostenprinzip ist
nicht beliebig einschränkbar; deshalb muss man es sich
genau anschauen. Das muss uns klar sein.
Nächster Punkt. Auch ich möchte, dass wir die wirtschaftliche Wirkung und die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in Deutschland betrachten.
Ich glaube, wir sind verpflichtet, bei der Behandlung
dieses Themas alle genannten Aspekte zu berücksichtigen.
Ich will ausdrücklich sagen, dass die SPD die Möglichkeit der Einschränkung beim Betriebsausgabenabzug
durchaus für sinnvoll hält. Was die Vorgaben, die Sie in
Ihrem Antrag formuliert haben, angeht: Aus meiner
Sicht ist es völlig unrealistisch, den CO2-Zielwert in der
vorgegebenen Zeit auf 80 Gramm pro Kilometer zu senken. Ich will es einmal so formulieren: Wenn man das
Kind mit dem Bade ausschüttet, dann kann man sein Ziel
auch insgesamt diskreditieren.
Meine dringende Bitte ist, dass man bei der Behandlung dieses Themas bezüglich des Einsatzes der Instrumente realistisch ist und dass man nicht sagt: Das ist
unsere Idealvorstellung; daran orientiert sich unsere
steuerpolitische Vorgabe, die für jeden gelten soll, egal
was für arbeitsmarktpolitische Auswirkungen, egal was
für Auswirkungen auf deutsche Automobilhersteller das
hat. Da sollten wir uns alle gemeinsam zu einer vernünftigen Betrachtung durchringen.
Ich will noch zwei Punkte ansprechen, mit denen ich
Probleme habe. Wenn ich Ihren Antrag richtig verstanden
habe, beziehen Sie Ihre Vorstellungen hinsichtlich der
Einschränkung der Abschreibungen nicht nur auf Neuwagen, sondern auch auf Bestandswagen. Man muss einmal
gedanklich durchspielen, was das für einen kleinen Mittelständler bedeutet. Anders als manchmal vermittelt
wird, hat er womöglich keinen so üppigen Gewinn, dass
er sich einen fetten Dienstwagen leistet; vielmehr ist er
eventuell auf das Auto angewiesen, das er bereits besitzt.
Ihm sollte man nicht sagen: Bis 2016 orientierst du dich
am CO2-Zielwert von 80 Gramm pro Kilometer, und
kaufe dir ganz schnell ein neues, teures Auto. Dieser Mittelständler muss zur Einkommenserzielung vielmehr die
Möglichkeit haben, sich - genauso wie die Automobilindustrie bei ihren Produktionslinien - in einem bestimmten Zeitraum auf Vorgaben entsprechend einzustellen.
Ich sage ausdrücklich: Einen solchen Ansatz kann ich
in Ihrem Antrag angesichts der geforderten Umsetzungsgeschwindigkeit und der sonstigen Vorgaben - sie sind
von der Realität weit entfernt - nicht erkennen. Ich gehe
davon aus, dass wir über die Einzelheiten in diesem Antrag gemeinsam diskutieren werden. Ich halte es für sinnvoll, mit den verschiedenen Experten ein Fachgespräch
zu führen. Man sollte gemeinsam die Fragen „mögliche
Lenkungswirkungen“, „schädliche Auswirkungen“, „Wie
können wir realistisch vorgehen?“ behandeln.
Noch eine Anmerkung. Im Übrigen sollte man sich
einmal die Frage der verwaltungsmäßigen Umsetzbarkeit anschauen. Allein die Beispielrechnungen in Ihrem
Antrag zeigen, dass wir damit noch nicht einmal, um es
vorsichtig zu formulieren, ansatzweise zu einem einfacheren Steuerrecht kommen.
({4})
Ich sage ausdrücklich: Wir teilen Ihre Zielvorgabe.
Wir halten steuerliche Lenkungsimpulse für richtig. Wir
glauben nicht, dass der beschriebene Weg richtig ist.
Über die Details können wir im Ausschuss hoffentlich
sachverständig und weniger ideologisch miteinander diskutieren.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Ansinnen der Grünen bezüglich einer Änderung der steuerlichen Behandlung von Firmenwagen
ist wieder einmal ein klassisches Beispiel dafür, warum
wir in den letzten Jahrzehnten ein immer komplizierteres
Steuerrecht bekommen haben. Sie stellen ein wunderbar
klingendes Ziel in den Raum - die Verringerung des
CO2-Ausstoßes - und meinen, dass dieses Ziel über steuerliche Sonderregelungen erreicht werden kann. Die
steuerlichen Sonderregelungen, die Sie allerdings vorschlagen, bedeuten, bei Lichte betrachtet, eine solche
Verkomplizierung des Steuerrechts, dass wir sie uns
nicht leisten können.
Sie schlagen eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der Fahrzeuge - auch bei den Betriebsausgaben - anhand von Grenzwerten des CO2-Ausstoßes vor.
Bei einem CO2-Ausstoß von bis zu 120 Gramm pro Kilometer sollen die Kosten steuerlich absetzbar sein.
Oberhalb von 120 Gramm pro Kilometer soll das dann in
Abhängigkeit von einem Quotienten anders sein. Ferner
schlagen Sie noch vor, die Grenzwerte jährlich zu senken. Das heißt, dass die Steuerveranlagung jährlich immer wieder angepasst werden muss. Dies ist ganz sicher
kein Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts. Es ist
vielmehr eine Verkomplizierung, die wir, wie ich finde,
den Steuerpflichtigen nicht zumuten können.
({0})
Sie sprechen von Dienstwagen. Der Ehrlichkeit halber müsste man aber von Firmenwagen sprechen, also
von allen unternehmerisch genutzten Fahrzeugen. In Ihrem Antrag stellen Sie als Beispiele immer Pkw dar. Sie
sprechen zum Beispiel vom 3er BMW oder von großen
Porsche-SUVs. Was Sie aber vollkommen vergessen,
das sind die Firmenwagen, die zum Beispiel ein Handwerksunternehmen braucht, etwa Transporter, um Material zum Auftragsort zu bringen, und Ähnliches. Hierzu
verlieren Sie überhaupt kein Wort.
An anderer Stelle Ihres Antrags heißt es aber - geradezu mit einem freudigen Unterton -, dass Sie bei Einführung Ihres Modells von Steuermehreinnahmen in
Höhe von 3,5 Milliarden Euro ausgehen. Sie machen das
Steuerrecht also nicht nur komplizierter - bis hin zur Unanwendbarkeit -, sondern Sie belasten die Steuerpflichtigen in Deutschland auch noch zusätzlich in Höhe von
3,5 Milliarden Euro. Wenn das die Antwort der Grünen
auf Fragen der Steuerpolitik ist, dann haben sie sich von
einer vernünftigen Steuerpolitik komplett verabschiedet.
({1})
Ich möchte jetzt einmal versuchen, mit einer Mär aufzuräumen: Sie tun so, als würde das deutsche Steuerrecht den einzelnen Unternehmer oder Arbeitnehmer geradezu provozieren, einen Spritfresser zu kaufen. Unter
steuerlichen Gesichtspunkten könne man sich gar nichts
Schöneres vorstellen, als so viel Sprit wie möglich zu
verbrauchen.
({2})
Ein ehrlicher Blick ins Steuerrecht zeigt aber ein anderes Ergebnis: Mit der pauschalen Versteuerung der privaten Nutzung von Firmenwagen in Höhe von 1 Prozent
des Listenpreises pro Monat werden gerade die teureren
Fahrzeuge stärker belastet als die weniger teuren. Ich
denke, es besteht Einigkeit darin, dass umso eher eine
Tendenz zu höherem Spritverbrauch besteht, je teurer
ein Fahrzeug ist.
Wir haben also bereits in der jetzigen Steuersystematik einen Anreiz, sich weniger stark spritfressende Fahrzeuge anzuschaffen. Das, was Sie als Ziel formulieren,
haben wir im geltenden Steuerrecht bereits erreicht.
({3})
Letztlich ist das auch eine Neiddebatte, die Sie hier
aufmachen. Sie sprechen von großen Dienstwagen, von
der Mercedes-Benz S-Klasse und dem 7er BMW. Aber
es ist eben auch der mittlere Angestellte, der als Belohnung für seine langjährige engagierte Tätigkeit für das
Unternehmen seines Arbeitgebers einen Dienstwagen
gestellt bekommt. Das wird dann aber keine S-Klasse
und auch kein Porsche Cayenne sein. Das wird eher ein
3er BMW sein, den Sie in Ihrem Antrag übrigens ausdrücklich erwähnen. Diesen Angestellten, der als Belohnung für sein langjähriges Engagement für seinen Arbeitgeber einen Dienstwagen gestellt bekommt, wollen
Sie zusätzlich bestrafen. Sie zeigen mit Ihrem Antrag
deshalb auch, dass Sie insgesamt leistungsfeindlich geprägt sind.
Ihr Antrag enthält drei Punkte: Sie verkomplizieren
das Steuerrecht, Sie erhöhen die Steuerbelastung, und
Sie zeigen eine Leistungsfeindlichkeit. Das werden wir
sicherlich nicht unterstützen. Deshalb werden wir Ihren
Antrag ablehnen.
({4})
Die Rede der Kollegin Dr. Barbara Höll aus der Frak-
tion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8462 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Februar 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.