Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/27/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es fällt Ihnen sicherlich genau wie mir schwer, nach dieser bewegenden Stunde zur Tagesordnung überzugehen. Gleichwohl rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel - Das Alter hat Zukunft - Drucksache 17/8103 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Professor Dr. Schavan. ({1})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage, wie das Miteinander der Generationen gestaltet und organisiert wird, gehört zu den großen Gestaltungsaufgaben einer Gesellschaft, der in ihr wirkenden politischen Kräfte, aber auch vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen. Zu allen Prognosen gehört die Feststellung, dass wir in eine Phase des demografischen Wandels, der Bevölkerungsentwicklung kommen, die mit tiefgreifenden Veränderungen verbunden sein wird, für die Städte ebenso wie für den ländlichen Raum, für die einen wie für die anderen auf unterschiedliche Weise. Dieser demografische Wandel wird geprägt sein von drei Veränderungen: Wir werden weniger, wir werden älter, wir werden bunter, kulturell vielfältiger. ({0}) - Frau Sitte meint, auch noch klüger und schöner. - Die Zahlen will ich nicht alle wiederholen. Sie kennen sie. Die Bevölkerung wird schrumpfen, älter werden und kulturell vielfältiger sein. Mit diesen drei kurzen Feststellungen lässt sich der demografische Wandel beschreiben. Die Lebenserwartung der Menschen ist erfreulicherweise gestiegen. Verbunden mit einer anhaltend niedrigen Geburtenrate hat das zur Folge, dass das Durchschnittsalter höher sein wird. Das heißt: Das alte Bild, das sich uns allen eingeprägt hat, die Alterspyramide als Symbol für den Altersaufbau einer Gesellschaft, ist passé. Der Altersaufbau verändert sich. Bis 2030 wächst der Anteil der über 65-Jährigen auf etwa 29 Prozent, bis 2060 auf etwa ein Drittel. In diesem Zeitraum wird die Bevölkerung in Deutschland von heute etwa 80 Millionen auf 65 Millionen zurückgehen. Die Forschungsagenda, die wir vorlegen, ist ein klassisches Beispiel für Begleitprozesse, die die neue Gestaltungsaufgabe prägen sollen, und das in vielfältiger Hinsicht. Neu ist nicht, dass sich die Gesellschaft wandelt. Neu ist auch nicht, dass sich der Bevölkerungsaufbau wandelt. Neu ist, zumindest in dieser Zuspitzung - und deshalb ist das für uns eine besondere Gestaltungsaufgabe -, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren. Sie, die Sie sich damit beschäftigen, kennen unsere Fachgruppen, unsere Forschergruppen und unsere Institute, das Max-Planck-Institut in Rostock und andere, die uns in den vergangenen Jahren wichtige Grundlageninformationen geliefert haben. Nun wird es darum gehen, auf der Grundlage dieser auch von der Forschung erarbeiteten zentralen Fragen und Aufgaben die Forschung zu verstärken und eine Entwicklung zu ermöglichen und dies gilt sowohl für technologische Entwicklungen als auch für die Gesundheitsforschung und die Forschung für neue Arbeitswelten. Deutlich wichtiger ist uns geworden, dass die verschiedenen Disziplinen im Rahmen der vielen Forschungsprogramme untereinander sprechen. Die Ingenieure und Mediziner brauchen für die interdisziplinäre Forschung das Gespräch mit den Geistes-, den Kulturund den Sozialwissenschaftlern. Die Antwort auf die Frage, wie wir diese Gesellschaft bezeichnen, verändert sich. Wir reden sehr viel weniger von der alternden Gesellschaft und sehr viel mehr - auch unsere Fachleute - von der Gesellschaft des längeren Lebens. Wir wissen, dass es in dieser Gesellschaft des längeren Lebens eine Menge mentaler Veränderungen geben wird. Ich habe in dieser Woche das Rahmenprogramm „Forschung für die zivile Sicherheit“ für die nächsten Jahre vorgestellt. Das ist ein Beispiel dafür, wo wir in den nächsten Jahren sehr viele Veränderungen erleben werden. Wie empfinden die Menschen Sicherheit? Welche Erwartungen haben sie? Welche Ängste werden sich verstärken? Was sind die Möglichkeiten der vielen gesellschaftlichen Gruppen speziell auf der kommunalen Ebene, letztlich aber auf allen politischen Ebenen, damit nicht nur umzugehen, sondern auch Veränderungen hin zu einer konstruktiven und positiven mentalen Verfassung zu erwirken und die Vorstellung zu entwickeln, dass nicht nur in einer bestimmten Lebensphase - im Schnitt sind es immer die Jüngeren -, sondern in allen Altersphasen ungenutztes wertvolles Potenzial gehoben werden kann? Mit unserer Agenda wollen wir die Möglichkeit eröffnen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Mir ist sehr wichtig, dass wir nicht vor allem technologische Entwicklungen fördern. Ein gutes Beispiel ist das Thema Pflege. Im Rahmen der Pflegeforschung wird die Technik nur eine untergeordnete Rolle spielen. Daneben müssen und werden Inhalte und Konzepte eine ganz wichtige Rolle spielen. Dafür gibt es zum Beispiel auch in Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen ein anwendungsorientiertes Forschungsprogramm zur Lebensqualität im Alter. Die Programme werden von unterschiedlichen Ressorts verantwortet. Sie sind in einem stimmigen Konzept gebündelt. Damit wird eine deutliche Erhöhung der Forschungsmittel verbunden sein. Es ist ein Schwerpunkt in den nächsten Jahren, verborgene Schätze unserer Gesellschaft des längeren Lebens zu heben, durch Forschung die Entwicklung von neuen Lösungen, Produkten und Dienstleistungen voranzutreiben und die Lebensqualität sowie die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen zu verbessern. Im Rahmenprogramm „Gesundheitsforschung“ haben wir bereits einen Schwerpunkt auf Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheiten gelegt, die im Alter besonders häufig auftreten. In diesem Zusammenhang sage ich auch: Die Forschungsprogramme werden das eine sein, aber wir werden uns auch um die Weiterentwicklung und den Umbau von Institutionen - auch in der Gesundheitsversorgung - kümmern müssen. In Deutschland gibt es ganze drei Lehrstühle für Altersmedizin, beispielsweise das große Zentrum hier in Berlin. Nachdem im Bereich der Palliativmedizin schon Veränderungen und Weiterentwicklungen stattgefunden haben, werden wir uns auch darum kümmern müssen, welche neuen Schwerpunkte in der Prioritätenliste der Medizinerausbildung gesetzt werden, sodass es auch hier zu entsprechenden Veränderungen kommen wird. Als einen Leuchtturm dieser Forschung nenne ich das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, ein auch europaweit einmaliges Netzwerk, das hier entstanden ist und auf großes internationales Interesse stößt. Die Spanne der Arbeit dort reicht von der Ursachenforschung bis zur Beantwortung der Frage, wie wir Menschen mit Demenz am besten pflegen und betreuen können. Davon sind heute 1,1 Millionen Menschen in unserem Land betroffen. Bis 2050 werden es zwischen 2 Millionen und 3,5 Millionen Menschen sein. Wenn man diese abstrakt wirkenden Zahlen auf die Stadt, die Gemeinde, in der man lebt, herunterbricht, dann wird deutlich, dass damit schon auf der kommunalen Ebene große Gestaltungsaufgaben und große Veränderungen, zum Beispiel bei den öffentlichen Dienstleistungen und bei der Neuorganisation der Gesundheitsversorgung, verbunden sein werden. Übrigens betrifft die Neuorganisation der Gesundheitsversorgung in ganz besonderer Weise die Fläche, den sogenannten ländlichen Raum. Die Forschung hat bereits vielversprechende Erfolge hervorgebracht, die ein selbstbestimmtes Leben im Alter besser ermöglichen. Im November wurde an der Medizinischen Hochschule in Hannover einem Patienten der erste Herzschrittmacher implantiert, der die Pumpleistung des Herzens überwacht und die Daten via Mobilfunk an den behandelnden Arzt überträgt. Das ist ein Beispiel für ein ganzes Bündel an Forschungsarbeiten und Entwicklungen, die im Moment laufen. Bei dem Förderschwerpunkt „Altersgerechte Assistenzsysteme“ werden sensitive Bodenbeläge in stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen zur Unterstützung selbstständigen Lebens im Alter entwickelt und erprobt. Ein zentraler Bereich für Forschung und Entwicklung wird sein: Wie kann möglichst lange selbstbestimmtes Leben und Selbstständigkeit in der eigenen Lebens- und Wohnumgebung erhalten werden? Der erste Prototyp eines Nothaltassistenten für das Auto wurde im vergangenen Jahr in die Testphase gebracht. Die Forschungsagenda zum demografischen Wandel dient dem Wohle aller Generationen. Sie bezieht sich in vielen Fragestellungen - das sind die Schwerpunkte natürlich auf den großen Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung. Aber letztlich geht es um die Organisation des Miteinanders der Generationen unter veränderten demografischen Verhältnissen. Die Forschungsagenda konzentriert sich dabei vor allen Dingen auf die zweite der drei Aussagen, dass mit einer Gesellschaft des längeren Lebens, einer Gesellschaft mit deutlich mehr älteren Menschen, einer Gesellschaft, die stärker als in der Vergangenheit lernt - und dies bringt sie auch zum Ausdruck -, wichtige Erfahrungen, Potenziale und Kompetenzen verbunden sind, die für diese neue Organisation des Miteinanders genutzt werden sollen. Mobilität und Kommunikation, längere Beschäftigungsfähigkeit, Wohnen, Gesundheit, Pflege, gesellschaftliches und kulturelles Engagement, all das sind die Fragestellungen, auf die sich die Forschungsagenda bezieht. In diesen Bereichen wollen wir Innovation, und zwar nicht nur im technologischen Sinne, sondern auch mit Blick auf die soziale und kulturelle Entwicklung, vor allem mit Blick auf die mentale Verfassung einer künftigen Gesellschaft des längeren Lebens. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPDFraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir eine Bemerkung, bevor ich mit meiner Rede beginne. Ich habe kein Problem, zu bekennen, dass ich von der Gedenkstunde und von den Worten des Zeitzeugen noch sehr beeindruckt bin, die wir gerade gehört haben. Das geht mir jedes Mal so. Es fällt mir schon sehr schwer, zur Tagesordnung überzugehen. Ich möchte von dieser Stelle noch sagen: Alle Themen, die wir jetzt behandeln, sind für sich wichtig. Aber ich finde, sie verlieren dennoch an Bedeutung vor dem, was wir vor einer knappen halben Stunde hier gehört haben. Meine Anregung an den Ältestenrat ist, zu überlegen, ob es nicht vielleicht klug wäre, eine solche Gedenkstunde für sich stehen zu lassen und das Plenum - man sieht das an der Beteiligung - nicht weiterzuführen, sondern auszusetzen. ({0}) Gut, es ist, wie es ist. Wir sind aufgerufen, zum Tagesordnungspunkt „Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel“ zu debattieren. Ich will vorab ganz herzlich denjenigen danken, die im Prinzip die Verursacher dieser Forschungsagenda sind. Das sind nämlich aus meiner Fraktion die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler und der Kollege Franz Müntefering. Sie haben im Juni des letzten Jahres, also vor mehr als einem halben Jahr, eine Große Anfrage mit sehr vielen wohlüberlegten Fragen an die Bundesregierung gestellt. Nachdem es mehrere Verzögerungen gab, ist diese Anfrage seitens der Bundesregierung vor wenigen Tagen, im Januar dieses Jahres, beantwortet worden. Diese Antwort ist sehr lesenswert und enthält viele Anregungen. Ich habe aber den Eindruck, dass die Tatsache, dass es eine solche Anfrage gegeben hat, die Bundesregierung ein bisschen genötigt hat, auch etwas zu machen und eine Forschungsagenda aufzulegen. Wir waren sehr gespannt, was in dieser Forschungsagenda zu finden ist. Unter dem Punkt „Ziele der Forschungsagenda“ heißt es in einer Überschrift: „Fragen bündeln“. Das ist schon einmal gut. Dann schreiben Sie: Die Bundesregierung fasst mit der vorliegenden Agenda relevante Fragestellungen der Forschung zum demografischen Wandel zusammen und zeigt wichtige Handlungsfelder auf. Das war es allerdings auch. Damit ist im Prinzip alles gesagt. Wir haben nichts Neues entdeckt. Auch bei unserer Prüfung - Sie werden mich gleich korrigieren können ist es uns nicht gelungen, zusätzliche Mittel im Haushalt zu finden, die etwas Neues belegen würden. Sie fassen Projekte und Programme zusammen, die es schon in unterschiedlichen Ministerien gibt, und verweisen darauf. Das Rahmenprogramm „Gesundheitsforschung“ ressortiert in Ihrem Ministerium, aber obwohl Sie in Ihrer Forschungsagenda auf Fragen bezüglich der Auswirkungen des demografischen Wandels auf den medizinischen Bereich im Gesundheitsforschungsprogramm verweisen, muss ich bei einem Blick ins Gesundheitsforschungsprogramm feststellen: Fehlanzeige. An drei Stellen taucht der Begriff demografischer Wandel auf, aber die zentralen Fragen, die damit einhergehen, werden nicht berührt. Es wird vielmehr zu Recht darauf hingewiesen - das macht auch Sinn -, dass die großen Volkskrankheiten in Deutschland untersucht werden sollen. Das ist aber nichts Neues und hat nicht spezifisch mit dem demografischen Wandel zu tun. Gut finden wir, dass es in der Bundesregierung Erkenntnisse und auch Erkenntnisfortschritte gibt. Auf Seite 2 schreiben Sie ausdrücklich: Wir werden die Forschungsprogramme zum lebenslangen Lernen, zur Arbeitsplatzgestaltung, zu Produktionstechnologien und zu innovativen Dienstleistungen so weiterentwickeln, dass ältere Menschen künftig ihr Wissen … einbringen können … Das ist gut und richtig. Es ist seit langem eine Forderung der sozialdemokratischen Partei. Wir haben in den Haushaltsberatungen immer wieder eingefordert, dass im Bereich innovative Dienstleistungen der Arbeitsforschung nicht gekürzt wird, sondern dass dieser Bereich ausgebaut wird, um die Bedingungen zu schaffen, dass Menschen die Zeit an ihrem Arbeitsplatz, die durch den demografischen Wandel länger geworden ist, gut überstehen können. Wir sind froh, dass Sie endlich darauf eingehen. Aber wir sind auch gespannt, was letzten Endes aus diesen Ankündigungen wird. Durch Ihre Forschungsagenda zieht sich eine Reihe von spannenden Themen, wie eben schon gesagt wurde. Unter der Überschrift „Mobil in der Stadt“ schreiben Sie: Wir stärken diese im Alltag so wichtige Mobilität im persönlichen Umfeld, indem wir bei der Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur ein besonde18710 res Augenmerk auf die Bedürfnisse der älteren Generation legen. Das ist gut, aber ein Allgemeinplatz. Dass Sie weiter unten „auf individuelle Bedarfe angepasste Rufbus-Systeme und eine Beförderung bis an die Haustür“ fordern, ist ebenfalls gut, aber für eine Forschungsagenda zu wenig; denn die eigentlichen Probleme in den Kommunen liegen darin, dass sie den ÖPNV nicht mehr finanzieren können. Dafür brauchen wir keine Forschungsagenda, sondern es ist schlicht eine andere Finanzierung notwendig, die diese Bundesregierung allerdings nicht gewährleisten wird. Dessen bin ich mir sicher. ({1}) Auf Seite 5 schreiben Sie weiter: Wir entwickeln die Informations- und Kommunikationstechnologien so weiter, dass älteren Menschen auch auf Reisen fernab der vertrauten Pfade eine intuitive Orientierung möglich wird … Ich habe den Eindruck, Sie erfinden gerade das Handy oder das Navi neu. Aber es ist völlig abseitig von dem, was ich in meinem täglichen Umfeld erlebe, welche Schwierigkeiten die Menschen durch den demografischen Wandel im Pflegebereich erfahren. Das hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist, glaube ich, nur eine Hüllformel, um die Seiten Ihrer Forschungsagenda zu füllen. Es zieht sich durch die Forschungsagenda, dass Sie die wirklich interessanten Fragen, die die Menschen angehen, nicht berühren oder nur antippen. Wie muss eine Stadt entwickelt werden, damit sie den durch den demografischen Wandel geänderten Anforderungen gerecht wird? Dabei geht es nicht nur ums Alter, sondern es bedeutet vielleicht auch weniger Kinder. Gleichzeitig kürzen Sie aber die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ um 60 Prozent. Ich weiß aus meiner Heimatstadt, dass die Quartiersentwicklung, bei der es auch um Anpassung an demografische Verhältnisse, eine veränderte Wohnstruktur und ältere Menschen geht, die anders leben als noch vor 10 oder 20 Jahren, nicht mehr möglich ist, weil die Mittel weiter gekürzt werden. Die Themen, die die Menschen wirklich im Bereich der Pflegeforschung und der Versorgungsforschung interessieren, berühren Sie nicht. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie man Angehörige von Demenzkranken und Pflegebedürftigen entlasten und unterstützen kann. Wir waren schon weiter. Von 2003 bis 2009 gab es das bundesfinanzierte Modellprojekt HilDe zur Erfassung der Lebensqualität von Demenzkranken und von 2002 bis 2009 das Programm LEANDER, eine Längsschnittstudie, die über die Belastung von Angehörigen, die demenziell Erkrankte pflegen, Auskunft gibt. Ich bin ehrlich: Die Tatsache, dass diese Programme während der rot-grünen Regierungszeit aufgelegt wurden, bedeutet nicht, dass wir das damals auf den Weg gebracht haben. Forschung entwickelt sich unabhängig von der jeweiligen Regierung. Aber die Schlussfolgerungen aus diesen Studien hätten Sie ziehen und in Ihrer Forschungsagenda berücksichtigen können. Wenigstens das hätten wir erwartet. Die zweite Förderlinie zur Pflegeforschung ist 2010 leider ohne Ersatz ausgelaufen. So entgehen uns wichtige Erkenntnisse im Bereich der Pflegeforschung. Ich finde es spannend, dass Sie einige interessante Fragen auslassen. Es wird zunehmend mehr alleinstehende Menschen geben, die pflegebedürftig sind und keine Familie haben. Was bedeutet das? Es wird zunehmend mehr Migranten mit einem anderen kulturellen Hintergrund geben, die alleine leben und pflegebedürftig sind. Was bedeutet das? Wo in diesem Bereich muss geforscht werden? Was mich fast entsetzt, ist, dass an keiner Stelle Menschen mit Behinderung erwähnt werden. Wir erleben die erste Generation von Menschen mit Behinderung, die die Werkstätten verlässt und in Rente geht. Diese Menschen haben zumeist keine Eltern mehr, die sich um sie kümmern oder sie betreuen. Das stellt für uns eine neue Herausforderung dar. Aber mit keinem einzigen Wort wird das in der Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel erwähnt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Röspel, achten Sie bitte auf die Zeit.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Frau Präsidentin. Das Fazit lautet: Diese Bundesregierung fasst - wie üblich - Bestehendes zusammen, legt einen Wünsch-dirwas-Katalog vor und gibt keine zusätzlichen Mittel. Das ist nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen eine Forschungsagenda, die zum Ziel hat, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Dafür werden wir uns einsetzen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demografischer Wandel, Klimawandel und Energiewende, das sind die Megathemen, derentwegen ich im Jahr 2009 in den Bundestag und nach Berlin gegangen bin. Ich bin ausgesprochen dankbar, dass ich heute die Gelegenheit habe, zu diesem Thema hier sprechen zu dürfen. Mich bestätigt das in meiner Einschätzung, dass es richtig ist, sich für diese Themen einzusetzen. Schon die Worte Wandel und Wende lassen auf eine hohe Dynamik schließen. Das heißt, wir werden gemeinsam - es geht zunächst um nichts anderes, als den Weg vorzuzeichnen - noch viel voranbringen. Herr Röspel, ich gehe davon aus, dass uns auf diesem Weg mehr eint als trennt. Ich glaube, darin sind wir uns einig. ({0}) Wir werden bei den Instrumenten sicherlich viele Gemeinsamkeiten finden. Der Europäische Rat hat das Jahr 2012 zum Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen ausgerufen. Dass wir uns heute mit dem demografischen Wandel und seinen Folgen für unsere Gesellschaft befassen, wollen wir als Zeichen dieses Hohen Hauses verstanden wissen: Das ist unser Thema! Die Bundesregierung benennt in ihrer Forschungsagenda die relevanten Handlungsfelder bis zum Jahre 2016. Ich will auf zwei Erkenntnisse des Sechsten Altenberichts aus dem Jahre 2010 hinweisen. Erstens. Die Sachverständigen haben darauf hingewiesen, dass individuelle Altersbilder eng mit dem Bildungsstand zusammenhängen. Das bedeutet, dass wir mit unserem Konzept des lebenslangen Lernens auf dem richtigen Weg sind. Zweitens. Mit Forschung und Innovation wollen und können wir Lösungen für die Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft entwickeln. Die Altersforschung ist ein außerordentlich spannendes Thema. Verschiedene wissenschaftliche Einrichtungen haben bereits interessante Ergebnisse erarbeitet. Es wird zum Beispiel untersucht, welche Faktoren beim Altern von lebenden Zellen eine Rolle spielen. Das sind, wie wir wissen, einerseits Umweltfaktoren; aber, wie wir neuerdings ebenfalls wissen, sind es insbesondere auch genetische Faktoren. Wissenschaftlich werden die molekularen Mechanismen ergründet, die dem menschlichen Alterungsprozess zugrunde liegen und zu altersbedingten Krankheiten führen. Das Ziel ist es, gesund älter zu werden. Der Wunsch, im gesunden Zustand und mit guter physischer und mentaler Leistungsfähigkeit ein hohes Alter zu erreichen, ist ein großes Ziel. Aber häufig stehen dem Widerstände entgegen, die eben auch damit zu tun haben, dass bei Fragen von Gesundheit und Krankheit die Wissensbasis ausbaufähig ist. Dem trägt auch das Rahmenprogramm „Gesundheitsforschung“ der Bundesregierung Rechnung. Die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen ist ein Schwerpunkt dieses Programms. Die Erforschung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und von Erkrankungen wie Krebs, Diabetes und Demenz wird damit ebenso schwerpunktmäßig gefördert und unterstützt wie die Entwicklung innovativer Medizintechnik und Diagnostika. In diesem Zusammenhang spielt auch das Stichwort individualisierte Medizin für spezifische Alterserkrankungen eine Rolle. Auf die Chancen und Probleme, zum Beispiel auch der Apparatemedizin, sei in diesem Zusammenhang hingewiesen. Der Sechste Altenbericht leitet aus dem demografischen Wandel zwei Verpflichtungen ab. Wir können als Gesetzgeber für die Rahmenbedingungen sorgen, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erlauben: Es geht aber auch und insbesondere für die ältere Generation um die Wahrnehmung von Eigenverantwortung, also zum Beispiel um die Beteiligung an Vorsorgeuntersuchungen oder um finanzielle Vorsorge. Es ist durchaus erlaubt, sich in Bezug auf Fragen der Finanzierung Sorgen zu machen. Für mich ist das Thema Altersarmut kein Tabu, weil ich mir vorstelle, wie sich die sozialen Strukturen innerhalb der nächsten 40 bis 50 Jahre entwickeln werden. ({1}) Außerdem meine ich, dass die Wahrnehmung der Verantwortung für das eigene Leben in jedem Alter wichtig ist. In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Carpe diem, nutze die Zeit - das gilt auch hier am Rednerpult. ({2}) Freuen Sie sich auf das Alter, meine Damen und Herren. ({3}) Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Es lohnt sich. Es kommen noch viele schöne Stunden auf Sie zu. Genießen Sie das Gefühl, gebraucht zu werden: im Beruf, in der Familie, insbesondere auch bei der Freizeitgestaltung und im Ehrenamt. ({4}) Sorgen Sie also vor, und unterstützen Sie diese Agenda. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dr. Petra Sitte das Wort. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will es noch einmal sagen: Wir sprechen heute über die „Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel - Das Alter hat Zukunft“, nicht über alles andere, was noch irgendwo in den Programmen der Bundesregierung steht. Das ist in der Tat ein Megathema, das große Erwartungen weckt. Wenn man aber genau hinschaut, bleibt die Bundesregierung weit hinter diesen Erwartungen zurück, weil entscheidende Entwicklungen keine Berücksichtigung gefunden haben. Da kann ich Herrn Röspel nur zustimmen. Dabei hätte die Bundesregierung - dass sie es nicht getan hat, wundert mich schon - eigentlich nur ihren eigenen Demografiebericht umsetzen bzw. übersetzen müssen. Dieser geht nämlich deutlich weiter und beschreibt fünf Entwicklungen. Ich möchte diese fünf Entwicklungen noch einmal nennen: ein dauerhaft zu niedriges Geburtenniveau, der Anstieg der Lebenserwartung, internationale Zu- und Abwanderung, regionale Unterschiede in der Bevölke18712 rungsentwicklung - insbesondere im Osten erleben wir einen dramatischen Bevölkerungsrückgang seit 20 Jahren - und schließlich eine stetig wachsende Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die in diesem Land nicht nur Jahrzehnte gearbeitet haben, sondern die hier auch ihren Lebensabend in Würde verbringen wollen. Daran hätten Sie anknüpfen können. Ich will schon sagen: Demografie, also die Bevölkerungswissenschaft, ist weit mehr als Altersforschung. Man gewinnt beim Lesen schon ein anderes Verständnis. ({0}) Sie jedoch greifen vor dem Hintergrund der steigenden Lebenserwartung allein mögliche Innovationen für das Leben Älterer auf. Wir meinen, dass das viel zu eng gesehen wird, und selbst unter diesem Blickwinkel bleibt die Forschungsagenda zu unkonkret. Wie bei anderen Forschungsstrategien beschreiben Sie nämlich auch hier sozusagen lyrisch nur eine Mission. Konkrete Vorhaben oder Informationen über Mittelverteilung, Projekte und dergleichen sucht man vergebens. Wieder wird einem nicht klar, wohin die vielen Millionen eigentlich fließen. Das Thema Lebenserwartung, das Sie, Frau Ministerin, vorhin selber angeführt haben, beschränken Sie weitgehend auf Teilhabe im Sinne von Mobilität und Kommunikation älterer Menschen. Damit aber nicht genug: Auch diese Themen werden nochmals verengt und vor allem auf technische Ansätze reduziert. Alles in allem - das muss man schon einmal sagen - umfasst die gesamte Forschungsagenda 415 Millionen Euro. Das hört sich gewaltig an. Von diesen 415 Millionen Euro fließen 360 Millionen Euro nur in den Bereich der Technologieentwicklung. ({1}) - Über fünf Jahre. Da haben Sie recht, Herr Röspel. Hightechhilfen bei der Fortbewegung, Navigationsgeräte, Assistenzsysteme im Auto, Routenplanungssysteme, Kommunikationstechnologien für die Auslandsreise, Personenerkennung in der eigenen Wohnung und technische Erinnerungshilfen und Überwachungstechnik - das alles mag ein selbstbestimmtes Leben unterstützen. Das ist überhaupt keine Frage. Aber wenn man in dieser Forschungsagenda tatsächlich davon ausgeht, dass diese Technik alltagstauglich und bezahlbar werden soll, zugeschnitten auf die Interessen und Fähigkeiten der Anwenderinnen und Anwender, dann gehört dazu viel mehr, nämlich auch soziale Voraussetzungen. ({2}) Immerhin wird sich die Zahl von Menschen mit verschiedenen Formen von Demenz von heute rund 1 Million Menschen auf rund 2 Millionen Menschen im Jahr 2050 erhöhen. Das ist eine gigantische gesellschaftliche Herausforderung. Ihren Themenschwerpunkten ist aber auch zu entnehmen, dass Sie beabsichtigen, wirtschaftlich bedeutende Marktpotenziale zu erschließen. Es ist kein Zufall, dass wir gerade in dieser Woche über dieses Thema debattieren. Es findet nämlich zeitgleich eine große, massiv industriegesponserte Leitkonferenz im Innovationsfeld „Altersgerechte Assistenzsysteme“ statt. So praktisch diese Hilfen sein können, Technologieentwicklung - ich habe es schon angedeutet - trifft nicht den Kern des Problems. Ältere Menschen sind doch wie alle anderen Menschen auch zuerst soziale Wesen. Daraus bestimmt sich ihr Platz in der Gesellschaft. ({3}) Darauf müsste diese Forschungsagenda konsequent ausgerichtet werden. Dann müsste auch die Mittelverteilung innerhalb der Agenda anders erfolgen. Wir brauchen Modelle dafür, wie Ältere in die Gesellschaft integriert werden können, wie wir vermeiden können, dass Ältere wegen ihres Alters diskriminiert werden. ({4}) Die Linke sagt: Mindestens gleichrangig muss über soziale Innovationen, um den Begriff aufzugreifen, geforscht werden. Diese spielen jedoch - ich habe es angedeutet - in der Agenda eine viel zu untergeordnete Rolle. Altersexperten erwarten eine selbstbewusstere, eine gesellschaftlich, kulturell und politisch aktive ältere Generation. Herr Röhlinger hat es uns gerade vorgemacht. Damit wächst die Vielfalt der Ansprüche beispielsweise an lebenslanges Lernen. Herr Röhlinger, da haben Sie recht. Sie haben eine Zielfunktion bestimmt, aber Sie haben nicht berücksichtigt, was im Leben stattfindet. Wort und Tat fallen bei der Bundesregierung auseinander. ({5}) 2004 gab es Vorschläge einer Expertenkommission, wie die Finanzierung gewährleistet und wie innovative Instrumente in diesen Bereichen entwickelt werden können. Statt diese nun umzusetzen oder mit Inhalten zu füllen, kürzt die Bundesregierung - Sie wissen es, Herr Röhlinger - seit Jahren, die Mittel zur „Stärkung des Lernens im Lebenslauf“. Allein im Haushalt 2012 werden wieder 40 Millionen Euro gekürzt, und das, obwohl dringender Handlungsbedarf besteht. Wer soll die ganze Technik im Alter denn anwenden, wenn er gar kein Verständnis davon hat? Das Ganze ist ein Fortbildungsprozess. Herr Altmaier durchläuft ihn im Computerbereich. Meine Damen und Herren, wie soll eine bessere Integration ins Arbeitsleben aussehen, insbesondere wenn man schon viele Jahre im Beruf steht? Unsicherheiten und Umbrüche im Arbeitsleben könnten reduziert werden, wenn es gelingt, in dieser Zeit tatsächlich neue Qualifikationen zu erwerben. Gelingen keine nahtlosen Anschlüsse, dann reduzieren sich die Anzahl der Beitragsjahre bzw. der anrechnungsfähigen Arbeitsjahre und damit die Beitragszahlungen in die Rentenkasse. Daraus ergeben sich nach heutigem Stand der Dinge viel dramatischere Folgen für ein würdevolles Leben im Alter. Grundvoraussetzung dafür ist nämlich eine angemessene Rente. Wie wir wissen, bringt das gegenwärtige Rentensystem Tausende Menschen trotz jahrzehntelanger Arbeit in Altersarmut. Modelle zu entwickeln, wie dem entgegengewirkt werden kann, sollte ebenfalls Gegenstand dieser Forschungsagenda sein. ({6}) Wie ich angedeutet habe, benötigen wir Forschungen zu weiteren sozialen Innovationen, Stichpunkte: Wie sichern wir Teilhabe an Politik, Kultur, Sport und anderen gesellschaftlichen Feldern? Wie kann Daseinsvorsorge für Ältere, gerade in strukturschwachen Regionen, oder für Menschen mit Behinderungen gesichert werden? Wie können menschenwürdige Pflege und Gesundheitsversorgung für alle gesichert und finanziert werden? Wie schaffen wir es, die Vielfalt in Lebensweisen und Lebensformen auch im Alter zu ermöglichen? Auf all diesen Feldern haben wir gewaltigen Forschungs- und noch mehr Umsetzungsbedarf. Deshalb hoffe ich, dass diese Forschungsagenda eine Erweiterung in Richtung soziale Innovationen findet.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Sitte, Ihre Redezeit erweitern wir aber jetzt nicht.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. Ich habe das Wesentliche gesagt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Tabea Rößner das Wort.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Forschungsagenda für den demografischen Wandel lohnt es sich wirklich, zweimal hinzuschauen: Auf den ersten Blick erscheint es absolut logisch und sinnvoll, dass wir uns in der Forschung mit den Folgen einer Gesellschaft des längeren Lebens beschäftigen. Der demografische Wandel führt nicht nur dazu, dass die Bevölkerung Deutschlands in den nächsten Jahrzehnten schrumpft oder bunter wird; vor allem wird sich der Altersaufbau massiv verändern. Die gesellschaftspolitischen Folgen werden beträchtlich sein. Wir müssen deshalb planen, wie sich die verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche des Landes auf die Alterung, auf das längere Leben vorbereiten können. Dann schaue ich die Agenda genauer an. Ich sehe die Forschungsvorhaben und habe ein Déjà-vu nach dem anderen. Denn das, was Sie uns da als neuen Vorstoß in Sachen Demografiepolitik verkaufen wollen, ist nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. ({0}) Viele dieser Forschungsvorhaben laufen schon seit Jahren. Allerdings wurde jetzt schnell alles, was auch nur annähernd thematisch passte, vom Bundesbildungsministerium zusammengeklaubt und mit neuen Etiketten versehen. Manches der Projekte ist schon kein alter Wein mehr, sondern längst Essig. Das alles geschieht nur, um von einem Fakt abzulenken: Der demografische Wandel ist längst da. Sie haben dazu einen Demografiebericht und eine Forschungsagenda. Sie haben demnächst möglicherweise sogar eine Strategie. Aber eines hat die Bundesregierung nicht: einen Plan. ({1}) Schlüssige Konzepte gäbe es genug, auch von Ihren eigenen Institutionen. Ein Beispiel: Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung hat im Rahmen des Aktionsprogramms „MORO“ zahlreiche Handlungsansätze erarbeitet, zur Infrastruktur, zur öffentlichen Daseinsvorsorge und, und, und. Die Konzepte enthalten Empfehlungen, wie gesetzliche Rahmenbedingungen verändert werden müssten. Anstatt diese Konzepte umzusetzen, gibt es jetzt noch ein MORO-Aktionsprogramm, dieses Mal zur regionalen Daseinsfürsorge. Dessen Empfehlungen können Sie dann umsetzen oder eben auch - wie bisher nicht. Sie drehen sich da gewaltig im Kreis. Sie haben auch im Jahr 2012 noch immer keine Leitplanken gesetzt, um deutlich zu machen, wie Sie den demografischen Wandel zusammen mit den Ländern und den Kommunen steuern wollen. Wissen Sie, wonach Sie wirklich einmal forschen sollten? Danach, wo der Handlungs- und Gestaltungswille dieser Bundesregierung geblieben ist. ({2}) In der Demografiepolitik ist er jedenfalls nicht zu finden. Strengen Sie sich da ein bisschen mehr an! Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat jetzt die Kollegin Ewa Klamt das Wort. ({0})

Ewa Klamt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004203, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir, die heute Lebenden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit älter werden als unsere Vorfahren. Das ist erfreulich. Wir müssen aber auch konstatieren, dass unsere Gesellschaft erheblich weniger Kinder hat, und das seit Jahrzehnten. Entsprechend stellt sich diese Bundesregierung den Herausforderungen des demografischen Wandels. Wir wollen, dass Menschen auch im Alter selbstbestimmt leben können. Wir wollen ihren Alltag komfortabler und sicherer machen. Mit der Forschungsagenda für den demografischen Wandel, die den Titel „Das Alter hat Zukunft“ trägt, geht die Bundesregierung konsequent einen weiteren Schritt voran, und das unter Federführung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Dass das Alter Zukunft hat, haben wir hier erlebt und werden es gleich wieder erleben. Ich schaue einfach einmal in die Runde: Ich sehe Franz Müntefering, Peter Röhlinger und unseren Kollegen Nobert Geis. Diese Kollegen sind topfit. - Wir haben Zukunft, meine Damen und Herren. ({0}) Die Forschungsagenda thematisiert erstmals die unterschiedlichen Facetten des demografischen Wandels in einem umfassenden interdisziplinären Ansatz. Dass die Geistes- und Sozialwissenschaften in der Forschungsagenda explizit adressiert werden, ist aus meiner Sicht ein wichtiger, vor allem ein sozialer Gesichtspunkt; denn bei allen Überlegungen zum demografischen Wandel muss - davon bin ich überzeugt - der Mensch im Mittelpunkt stehen. Ich bin überzeugt, dass die aufgeworfenen Fragen nicht mehr nur von Ökonomen, Ingenieuren oder Medizinern beantwortet werden können, die in ihren jeweiligen Fachrichtungen getrennt voneinander forschen. Es bedarf eines ganz neuen, integrierten und interdisziplinären Forschungsansatzes. Dieser muss Geisteswissenschaftler, Pädagogen sowie Soziologen und auch Arbeitsforscher mit einbeziehen. Das ist die Basis, die uns Antworten geben wird. Entsprechend ist es die Aufgabe der neuen Forschungsagenda, die relevanten Fragestellungen zum demografischen Wandel zu bündeln und wichtige Handlungsfelder aufzuzeigen. Sehr geehrter Herr Röspel, Sie wollten uns klarmachen, dass die Große Anfrage der SPD zu dieser Forschungsagenda geführt hat. ({1}) Das löst natürlich ein Schmunzeln aus, weil allgemein, über die Fraktionsgrenzen hinweg bekannt war, dass das Strategiepapier und die Forschungsagenda in der Fertigstellung waren. Zumindest die hier Anwesenden wussten sehr genau, was dahintersteckte: Sie wollten nur ganz schnell auf das Thema springen, das die Bundesregierung längst besetzt hatte. ({2}) Deshalb erläutere ich nicht nur Ihnen, Herr Röspel, sondern auch den anderen Kollegen von der Opposition gerne noch einmal, was bereits auf den Weg gebracht wurde, welche Mittel derzeit eingesetzt werden und was weiterhin geplant ist. Allein das Forschungsministerium investiert im Jahr 2012 84 Millionen Euro in diesen Bereich. Mit 415 Millionen Euro wird sich wiederum das Forschungsministerium in den nächsten Jahren an der Umsetzung der Agenda beteiligen. ({3}) Vor diesem Hintergrund - Herr Röspel, es tut mir leid ist Ihre Erwartungshaltung nach weiteren Mitteln völlig unangebracht. ({4}) - Herr Röspel, ich bin gerade dabei, Ihnen zu erläutern, was wir alles auf den Weg gebracht haben. Schauen Sie sich einmal die Agenda an. ({5}) Ich kann Ihnen unseren Ansatz klar benennen. Wir haben nicht nur für 2012 erhebliche Gelder für Forschungsmaßnahmen eingesetzt, sondern für die gesamte Förderperiode. Entsprechend starten allein in diesem Jahr 20 neue vom Forschungsministerium geförderte Forschungsprojekte für altersgerechte Assistenzsysteme. Das fanden Sie alles nicht so wichtig. ({6}) Wir wissen, dass diese Systeme etwas ganz Wichtiges sind; ({7}) denn sie ermöglichen es, dass Menschen selbstbestimmt leben können. ({8}) Ich nenne Ihnen gerne einige weitere Beispiele für Forschungsaktivitäten: Entwicklung technischer Assistenz für die ambulante Pflege in strukturschwachen Regionen. Ich komme aus einer solchen Region. Ich kann Ihnen bestätigen, dass das ganz dringend notwendig ist. Dazu gehört das Projekt „Mit 60 plus mitten im Alltagsleben“. Kann das etwas sein, was Sie nicht interessiert? Leider würde es meine Redezeit weit überschreiten, wenn ich Ihnen alles aufzählen würde. Ich empfehle Ihnen einen Blick auf die Homepage: www.das-alter-hatzukunft.de. Diese Homepage zeigt Ihnen die ganze Bandbreite und Fülle aller Forschungsaktivitäten, und das über Ressortgrenzen hinweg. Diesen Blick würde ich der Opposition dringend empfehlen; denn aus Ihrer Kritik muss ich leider die Schlussfolgerung ziehen, dass Sie wenig Kenntnisse über die Vielfalt der Forschungsaktivitäten im Bereich des demografischen Wandels haben. ({9}) Für uns ist entscheidend, dass wir in einem Handlungsfeld, das nahezu alle Ressorts, also fast alle Ministerien betrifft, Effektivität gewährleisten und Doppelstrukturen verhindern. Deshalb ist es richtig und sinnvoll, die Aktivitäten aller beteiligten Ressorts zu bündeln und unter der Federführung eines Hauses, des Bundesforschungsministeriums, zu koordinieren. Die christlich-liberale Bundesregierung hat den demografischen Wandel zu einem zentralen Schwerpunktthema gemacht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Klamt, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Dittrich?

Ewa Klamt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004203, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich bin jetzt fertig. - Ich würde mich freuen, wenn auch die Opposition diese wichtige Aufgabe in Zukunft konstruktiv begleiten würde. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dittrich das Wort.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Leider wurde mir die Frage von der Rednerin nicht zugestanden. Ich möchte daher sagen: Sie haben hervorgehoben, dass alle Älteren weiterhin topfit sind. Als Beleg für diese Aussage haben sie Bundestagsabgeordnete genannt. Diese Aussage trifft für die Mehrheit der Bevölkerung nicht zu. Sie wissen sicherlich, dass ein Drittel der Menschen des Geburtsjahrgangs 1945, der 2010 mit 65 Jahren in Rente gegangen wäre, verstorben ist. Das heißt, Menschen sterben auch, bevor sie die Altersruhegrenze erreicht haben. Deshalb ist es für mich nicht akzeptabel, ein solches Beispiel zu nennen. Im Gegenteil, selbstständige Augenärzte können mit über 67 Jahren noch arbeiten. Sie können ihre Praxis aber auch mit 50 Jahren an die Tochter überschreiben. Kein Beschäftigter in einem Betrieb kann bereits mit 50 Jahren selbstbestimmt in Rente gehen. Diesen Unterschied erklären Sie nicht. Es gibt Arme und Reiche in der Gesellschaft. Die armen Menschen brauchen eine soziale Mindestsicherung. Teilhabe kann nicht nur durch Arbeiten bis zum Umfallen in dieser Gesellschaft gesichert sein, sondern muss durch ein gesetzliches Renteneintrittsalter und eine auskömmliche Rente nicht unter 900 Euro, wie sie die Linke fordert, ermöglicht werden. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zur Erwiderung hat Frau Klamt.

Ewa Klamt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004203, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Dittrich, ich war am Ende meiner Rede und hatte nur noch einen Satz zu sprechen. Ich beantworte Ihnen jetzt natürlich gerne Ihre Frage. Ich habe als Positivbeispiel für das Alter drei Kollegen im Deutschen Bundestag genannt, wir könnten aber auch viele Kollegen oder Freunde aus unserem Kreis benennen, die gesund gealtert sind. Das ist doch gar nicht der Punkt. Der Punkt ist der: Wir freuen uns, dass viele von uns heute älter werden und dass wir das Alter genießen und auch noch berufstätig sein können. Ich habe auch die anderen Punkte angesprochen. Schauen Sie doch einmal, was alles für Demenzkranke, im Pflegebereich, für Assistenzen für Ältere, also für die Menschen, die eben nicht so fit und gesund sind wie unsere Kollegen hier oder Freunde zu Hause, erforscht wird. Genau für diese Menschen werden die Projekte durchgeführt. Wenn Sie behaupten, dass ein normaler Mensch nicht mit 50 in Rente gehen kann, dann täuschen Sie sich. Jeder kann mit 50 in Rente gehen. ({0}) Wenn Sie genügend Ersparnisse zurückgelegt haben, dann können Sie das tun. Der Arzt, der mit 50 in Rente geht, wird ja auch wissen, woher sein Geld ab diesem Zeitpunkt kommt. Frau Dittrich, ich fand dieses Beispiel ziemlich daneben. Darum wollen wir uns darauf konzentrieren, was für unsere Bevölkerung ansteht. Alter hat Zukunft! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Franz Müntefering für die SPD-Fraktion. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Demografischer Wandel ist in der deutschen Politik - auch bei dieser Bundesregierung - in einem Zustand, der eine harte Kritik rechtfertigen würde. ({0}) Es ist jetzt aber nicht der Zeitpunkt, zu wüten; deshalb will ich meine Anmerkungen in Ratschläge kleiden. Johannes Rau hat dazu gesagt: Ratschläge sind immer auch Schläge. - So ist meine Rede jetzt auch gemeint, nur damit Sie das wissen; wenngleich ich es freundlicher formuliere. ({1}) Sie haben unsere Große Anfrage beantwortet. Wir hatten gefragt, mit welchem Gesellschaftsentwurf die Bundesregierung für die Jahre 2050, 2060 rechnet, wovon sie ausgeht. Die Antwort lautete: Die Bundesregierung geht davon aus, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie die im Grundgesetz festgelegten Werte und grundlegenden Prinzipien auch im Jahr 2050 die Grundlage der bundesdeutschen Gesellschaft bilden werden. Das ist richtig, geht aber dicht an eine Karikatur. Ihr Problem ist, dass Sie keine Vorstellung davon haben, wie der Gesellschaftsentwurf für die nächsten 30 oder 50 Jahre aussehen wird. ({2}) Wenn Sie das aber nicht wissen, dann werden Sie keine nachhaltige Politik im Sinne einer demografischen Entwicklung machen können. Man muss wissen, wo man 2030 oder 2050 sein will. Wenn Sie diese Frage nicht beantworten, dann kann das zwei Gründe haben: Entweder Sie können sich in der Koalition nicht verständigen - ich unterstelle Ihnen schon, dass Sie eine Vorstellung davon haben, wohin Sie wollen -, oder Sie haben nicht den Mut, sich mit den Ländern und Kommunen anzulegen und sozusagen die vertikale Linie aufzumachen. Wir werden den demografischen Wandel nur vernünftig gestalten können, wenn wir gemeinsam in Bund, Ländern und Gemeinden - auch Europa gehört dazu die Antwort suchen. ({3}) Diese Debatte werden wir uns, auch wenn sie schwierig ist, für die Zukunft nicht ersparen können. Der Untertitel heißt: „Das Alter hat Zukunft“, und im Text steht: „Im Fokus stehen ältere Menschen“. Das ist falsch und hochgefährlich. Zum demografischen Wandel gehören alle Generationen. ({4}) Wenn wir nicht verstehen - einige haben es bereits angesprochen -, dass alle Generationen in einem Boot sitzen, dass es um das Miteinander der Generationen geht, dass es nicht nur um die Älteren geht, sondern um alle, dann haben wir nicht verstanden, was demografischer Wandel eigentlich bedeutet. Deshalb ist Ihre Fokussierung nur auf die Älteren falsch. Sie ist auch nicht im Sinne oder zum Nutzen der Älteren. Wir müssen vielmehr die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite erfassen und die Entwicklung beobachten. Diejenigen, die heute 10 Jahre sind, sind eben in 40 Jahren 50. Sie haben eine Funktion. Nur dann, wenn wir in die Köpfe und in die Herzen der Jungen investieren, werden wir auch morgen und übermorgen noch eine Alterssicherung in diesem Land haben. ({5}) Deshalb, aber auch, weil wir den jungen Menschen eine Chance geben wollen, müssen wir handeln. In den Altenberichten der letzten Jahre ist bereits vieles zu den Potenzialen der Alten und zu Altenbildern gesagt worden. Zivilgesellschaftliches Engagement, Sicherheit bei der Pflege, Alterssicherung durch Renten, Chancen am Arbeitsmarkt: Das sind Bereiche, in denen man handeln kann. Hier muss man für die nächsten Jahre nicht neu forschen; das ist ganz klar. Das muss auf den Punkt gebracht werden. Die Vorschläge zu den technischen Assistenzen für alte Menschen sind gut. Wir müssen Computer und die entsprechenden Möglichkeiten nutzen. Ich warne aber vor einer Sache: Opa und Oma brauchen mit 70 oder 80 nicht unbedingt einen Computer oder ein technisches Gerät - sie brauchen Zuwendung. ({6}) Die älteren Menschen bilden eine zeitreiche Gesellschaft. Wir haben viele, viele Menschen, die 60, 65, 70 oder 80 sind und sich um die anderen kümmern können. Wichtiger als alles andere ist, dass wir verhindern, dass die Menschen, die alt sind, Beschwerden haben und pflegebedürftig sind, allein gelassen werden und einsam sind. Dieses Land braucht nicht zuzulassen, dass es Menschen gibt, die einsam sind, weil sich andere nicht um sie kümmern. Das müssen wir politisch aufnehmen, da müssen wir reden, handeln und deutlich machen, um was es geht. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Dittrich?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, im Moment will ich meine Ratschläge weiterführen. ({0}) Der nächste Ratschlag bezieht sich auf die erste große Welle, die uns im Augenblick erreicht: auf die Fach- und Arbeitskräfteproblematik. Da muss man dann einmal erforschen: Was können wir tun, damit nicht 60 000 junge Menschen jedes Jahr ohne Abschluss von der Schule gehen, damit nicht 25 Prozent ihre Ausbildung abbrechen, damit an den Universitäten nicht so viele ihr Studium abbrechen? Was können wir tun, damit die Frauen wirklich eine Chance haben, in den Beruf zu kommen, damit diese Generation junger Frauen endlich nicht nur mal eben dabei ist, sondern wirklich mittendrin im Beruf? Wir müssen die Erwerbsquote von 75 Prozent auf 78 oder 80 Prozent steigern. Das ist möglich, wenn wir diesen jungen Frauen eine wirkliche Chance geben. ({1}) Das gehört zum demografischen Wandel ganz zentral dazu. Natürlich gehört auch dazu, dass die Älteren nicht zu früh herausgeschubst werden. In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage wird das Ganze so beantwortet: Sie gehen davon aus, dass jährlich netto 100 000 bis 200 000 Menschen zuwandern. Das sind in 40 Jahren 4 oder 8 Millionen Menschen. So wollen Sie das Problem lösen. Ich sage: Ja, wir werden auch Zuwanderung haben; aber wenn wir nicht zunächst einmal die eigenen Potenziale im Lande nutzen und sie nicht mobilisieren - da beziehe ich mich in ganz besonderer Weise auf die Frauen -, werden wir dem Problem nicht vernünftig begegnen können. ({2}) Die Familienministerin ist bei der Forschung mit dabei: Sie lässt zum Wohnen im Alter und zur Demenz forschen. Das ist auch okay. Aber ist ihr denn nichts zur Familie, zu Frauen und zur Jugend eingefallen, nichts dazu, dass mit jeder neuen Generation die Zahl der Mädchen um ein Drittel sinkt, dass 33 Prozent der Männer und Frauen, die 1970 geboren sind, keine Kinder haben? Was können wir eigentlich tun, damit sie Kinder haben können und wollen? Wenn man mit den 28-, 30- oder 35-Jährigen spricht und sie fragt, ob sie Kinder haben wollen, sagen sie: Ja, aber ich habe einen Job für ein Jahr, und meine Freundin wohnt in Hamburg; auf der Basis wollen wir damit nicht anfangen. - Es ist ja nicht der blanke Hedonismus, dass die jungen Menschen keine Kinder bekommen, sondern ein praktisches Problem, das wir bisher nicht lösen. Wir müssen ihnen Sicherheit geben. Dann werden wir in Deutschland auch wieder mehr Kinder haben. Das ist besser als viele Ansätze, die Sie in Ihrem Konzept aufgeschrieben haben. ({3}) Ich sage abschließend: Was der Bundesminister für Bau und Stadtentwicklung da macht, ist ein glatter Ausfall. Darum sollten Sie sich wirklich einmal kümmern. Das sind keine Antworten. Die Städte und Gemeinden liegen im Zentrum der Lösung. Wir werden das Problem nur lösen, wenn wir die Kommunen von der Struktur und von der Finanzkraft her stärken. Die großen Kommunen expandieren und wachsen, aber die kleinen sollen es auch. Was macht der Minister? Er macht ein Programm für 21 Modellregionen, die zwei Jahre lang bis zu 160 000 Euro jährlich bekommen; das sind gut 300 000 Euro in zwei Jahren, 1 Euro für jede Person. Damit sollen die Kommunen ihre Strukturen für die Zukunft verbessern. Das ist doch der blanke Hohn. Ich sage Ihnen: Wenn man die Herausforderungen bei den Kommunen nicht wirklich ernst nimmt und ihnen nicht hilft, werden sie ihren Aufgaben nicht gerecht werden können. Abschließende Bemerkung: Handeln wäre angebracht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Müntefering, Sie haben die Chance auf eine abschließende Bemerkung, wenn Sie eine Frage zulassen. Ansonsten wäre Ihre Redezeit jetzt vorbei.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das machen wir. Bitte schön.

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzter Kollege Müntefering, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass die Mittel für die Städtebauförderung jetzt wieder auf 455 Millionen Euro angewachsen sind, ({0}) gerade ein Aufwuchs beim Programm „Soziale Stadt“ beschlossen wurde und über ein KfW-Programm 92 Millionen Euro für die Stadtquartiere zur Verfügung gestellt werden? Wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass die christlich-liberale Bundesregierung und Koalition diese Mittel auch gerade für die älteren Menschen zur Verfügung stellt, um ihren Anliegen Rechnung zu tragen? ({1})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege, da haben Sie ein schlechtes Beispiel gewählt. ({0}) Wenn Sie mit dem Programm „Soziale Stadt“ anfangen wollen, dann sollten Sie das nicht bei mir machen. Ich war dabei, als wir das Programm 1998/1999 erfunden haben, mit einem Umfang von 100 Millionen. Mit dem Programm soll in die sozialen Strukturen der Stadt investiert werden. Sie haben die Mittel von 100 Millionen auf 29 Millionen gesenkt; jetzt heben Sie die Mittel auf 40 Millionen an und loben sich dafür. ({1}) Wenn Sie an der Stelle den Städten keine Möglichkeit geben, Präventionsarbeit zu betreiben, müssen Sie sich über die nachfolgenden Kosten nicht wundern. Sie entstehen auch wegen unzureichender Prävention. Jugendarbeit in den Regionen, Städten und Kiezen ist besser, als anschließend Jugendstrafvollzugsanstalten zu bezahlen. Deshalb müssen wir den Städten und Gemeinden bessere Möglichkeiten bieten. ({2}) Ich mache eine abschließende Bemerkung; so viel Zeit habe ich ja noch.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Müntefering, ich muss Sie fragen, ob Sie eine zweite Frage zulassen, nämlich der Kollegin Dittrich.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön. - Ich nehme an, Sie wollen nach Hartz IV fragen. Das machen Sie immer. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben darüber berichtet, wie sich die Generationen gegenseitig unterstützen wollen. Da gibt es keinen Unterschied zur CDU/CSU. Sie sind ein Politiker im Seniorenalter, der schon viel Erfahrung gesammelt hat. Deshalb macht es mich stutzig, dass ausgerechnet Sie nicht mehr von den Möglichkeiten des Sozialstaates sprechen. Der Staat muss umgebaut werden. Die SPD hat eine Enquete-Kommission eingerichtet. Sie sagen, ein geplantes Leben mit Kindern sei nicht möglich, wenn prekäre Beschäftigungsverhältnisse bestehen. Es ist aber doch die Koalition aus Rot und Grün gewesen, die die Hartz-IVGesetze eingeführt hat, welche zu diesen nicht abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen geführt haben, ({0}) weshalb keine Kinder geplant werden können. Die Linke sagt: Hier muss zurückgerudert werden, und zwar komplett: mit Arbeitszeitverkürzung und mit unbefristeten Arbeitsverträgen. Wenn Sie die Steuereinnahmen des Staates nicht durch eine Reichensteuer erhöhen wollen - ich will nicht das ganze Programm aufführen -, dann kann der Sozialstaat nicht aufgebaut werden. Verstehe ich Sie richtig, dass die SPD es hinnimmt, dass keine Steuereinnahmen in soziale Dienstleistungen fließen, dass die älteren und die jüngeren Menschen sich sozusagen freiwillig engagieren und sich gegenseitig helfen müssen?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Dittrich, versuchen Sie, die Frage zu formulieren.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das wäre in der Tat eine sehr große Sparmaßnahme. Stimmen Sie mir zu, dass Sie bei einem Frühstück mit der Diakonie, bei dem auch ich anwesend war, gesagt haben: „Die Pflege, die jetzt zu organisieren ist, ist ein riesengroßer Markt; wir müssen überlegen, wie wir hier mithelfen können“? ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin, der Sozialstaat ist ein großer menschheitsgeschichtlicher Fortschritt. Wir werden diesen Weg nicht verlassen. Sozialdemokraten - ich unterstelle einmal, die anderen Demokraten auch - wissen, was sie daran haben. ({0}) Aber wir werden den Herausforderungen des demografischen Wandels nicht begegnen können, wenn uns nicht bewusst ist: Der Staat muss den Sozialstaat organisieren, aber vor Ort brauchen wir die soziale Gesellschaft. Es kommt auf die Menschen in den Städten und Gemeinden an. Wir müssen die Städte in den Stand setzen, dies zu organisieren. Wir brauchen Menschen, die sich in den Städten und Gemeinden engagieren. Ohne diesen Teil einer sozialen Gesellschaft wird das nicht funktionieren. Das ist kein Gegensatz. Das Einander-zugewandt-Sein in den Städten und Gemeinden, das Verhindern von Einsamkeit, das Sich-um-Menschen-Kümmern kann man zwar in ein Gesetz schreiben; aber man kann dies nicht sanktionieren, man kann es nicht durchsetzen. Die Frage ist, ob es genügend Menschen gibt, die bereit sind, sich zu engagieren. Ich sage: Es gibt sie, aber wir müssen sie unterstützen, wir müssen ihnen helfen. Das wird im Wesentlichen in den Städten und Gemeinden vor Ort passieren. ({1}) Ich komme zu meinem abschließenden Satz. Wir müssen handeln. Die Forschungsagenda ist nicht falsch. Aber am meisten gestutzt habe ich, Frau Schavan, als ich ganz am Ende der Agenda gelesen habe, dass sie 2016 evaluiert werden soll. Das müssten dann wir machen - das ist klar -; das werden wir auch gut machen. ({2}) Aber bis dahin muss ein bisschen passieren. Sie haben angekündigt, dass Sie Ende März/Anfang April ein Handlungskonzept für den demografischen Wandel vorlegen. Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns eine Diskussion darüber führen, was das eigentlich sein soll. Es ist wirklich allerhöchste Zeit, dass die Dinge in Bewegung gesetzt werden. Die Dynamik und die Wirkungsweise des demografischen Wandels sind von allergrößter Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat sich entschlossen, seinen heutigen Geburtstag mit uns gemeinsam mit einer Rede im Deutschen Bundestag zu begehen. Ich gratuliere Ihnen ({0}) und gebe Ihnen das Wort. ({1})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen! Alter hat Zukunft - das sage ich nicht nur, weil ich heute Geburtstag habe, sondern auch, weil ich mir in der Tat dessen bewusst bin, dass der demografische Wandel vielfältige Probleme und Diskussionen aufwirft. Dass von daher eine ganzheitliche Diskussion zu führen ist, wie Sie es angeregt haben, Herr Müntefering, ist sicherlich unbestritten. Die heutige Diskussion - das will ich an der Stelle deutlich sagen - ist dafür ein Baustein. Doch heute und auch mir persönlich geht es um die Forschungsagenda „Das Alter hat Zukunft“, eine Agenda, die sich ganz bewusst auf Forschungsfragen und Forschungsgebiete konzentriert, die bisher vereinzelt und wenig beachtet blieben. Bereits seit Anfang der 90erDr. Martin Neumann ({0}) Jahre existiert die wichtige Debatte um den demografischen Wandel. 1992 gab es bereits, wenn ich es richtig recherchiert habe, eine Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag, die die Aufgabe hatte, die zukünftigen Herausforderungen zu analysieren. Wir stellen heute fest, dass diese Herausforderungen aktueller denn je sind und in der tagesaktuellen Politik angekommen sind. Die steigende Lebenserwartung und viele andere Dinge, die meine Vorredner hier schon deutlich gemacht haben, zwingen zur Anpassung in den Bereichen Fachkräftepotenzial, Infrastruktur, Städtebau und Wohnen. Wenn wir heute über die steigende Lebenserwartung und den demografischen Wandel nachdenken, stellen wir vor allen Dingen eines fest - und das will ich in den Vordergrund rücken -, nämlich dass sich das gesellschaftliche Bild vom Alter und vom Älterwerden geändert hat. Heute herrscht das Bild von älteren Menschen vor, die selbstbestimmt und unabhängig leben wollen. In einer Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2011 wurde ermittelt, dass zwei Drittel der über 50-Jährigen im Alter selbstständig wohnen bleiben wollen. Knapp 90 Prozent der Befragten äußerten, dass sie das Alter als einen aktiven und selbstbestimmten Lebensabschnitt betrachten. Das sind Aussagen, die auch durch den Demografiebericht 2011 unterfüttert werden. Die nun vorgelegte Forschungsagenda richtet sich genau nach diesem Altersbild: ({1}) Selbstständigkeit und Selbstbestimmung sind Kernanliegen. Die Forschung zum Beispiel im Bereich technische Assistenzsysteme, die schon angesprochen wurde, schafft wichtige Voraussetzungen dafür. Wie wollen Sie soziales Leben organisieren, wenn technische Voraussetzungen für Mobilität und Kommunikation nicht gegeben sind? Für uns steht deshalb ein ganz wichtiger Ansatz im Mittelpunkt: ein Leben in Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Sicherung der Grundbedürfnisse zu fördern. Ich betone diese Assistenzsysteme deshalb ganz besonders, weil sie wirklich eine hohe Bedeutung und einen hohen Wert für die Lebensqualität älterer Menschen besitzen. Wir schaffen damit tatsächlich die Möglichkeit uneingeschränkter Teilhabe an der Gesellschaft. Das ist die Kernbotschaft. Das stellt - das möchte ich extra betonen - tatsächlich eine neue Qualität dar und stellt vor allen Dingen die Forschung vor neue innovative Herausforderungen. Ich begrüße deshalb auch im Namen meiner Fraktion ausdrücklich die uns hier vorgelegte Forschungsagenda „Das Alter hat Zukunft“ und sehe mit großem Interesse den Ergebnissen der geförderten Ideen und Forschungsprojekte entgegen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg das Wort.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Menschen fühlen sich noch immer aufgrund ihres Alters diskriminiert. Das trifft nicht nur auf Alte, sondern auch auf Junge zu. Das geht aus der jüngsten Umfrage hervor, die im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vorgenommen wurde. Umso bedauerlicher ist es, dass die Forschungsagenda zum Thema Das Alter hat Zukunft, die wir soeben vorgelegt bekommen haben, das Thema Altersdiskriminierung nicht wirklich ernst nimmt. Diese Agenda ist eine einzige Absichtserklärung. Diese Agenda ist ein Sammelsurium an Schlagworten und wohlklingenden Floskeln aus dem Bereich der gerontologischen Forschung. Uns allen, die wir hier sitzen, ist aber doch klar: Wir sind schon längst im demografischen Wandel angekommen. Wir brauchen keine Agenda, die einfach nur alle Projektansätze aller Ministerien aufzählt. Wir brauchen keine Agenda, die uns Altbekanntes als Neues verkauft. ({0}) Wir brauchen vielmehr eine Demografiestrategie, eine Strategie, die festlegt, was getan werden muss, bis wann es getan werden muss, von wem es getan werden muss und wie es getan werden muss. Wir brauchen ein konzertiertes Vorgehen der Ressorts. Nur so werden wir Doppelstrukturen vermeiden und dafür sorgen, dass sie gar nicht erst aufgebaut werden. Ein Beispiel ist das Thema Demenz. Heute wird das Thema Demenz vom Gesundheitsministerium, vom Forschungsministerium und vom Familienministerium bearbeitet. Was fehlt, ist die wirklich ernsthafte Koordination und Kooperation der Ministerien. Alle wurschteln vor sich hin. Ich hoffe, dass man sich zumindest über die Ergebnisse verständigt und austauscht. Sonst bringt das alles überhaupt nichts. ({1}) Ich denke, in dieser Agenda fehlen einige zentrale Themen. Wir müssen zum Beispiel über den Umgang mit älteren Migrantinnen und Migranten reden. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir die Kommunen als Handlungsebene vor Ort wieder stärker ins Boot holen können; denn dort findet die Zukunft im Alter statt. Frau Ministerin, Sie haben das in Ihrer Rede erwähnt. Sie haben das also durchaus erkannt. Aber was nützt uns der Erkenntnisgewinn durch die Agenda, wenn die guten Ideen nicht im Alltag der Gesellschaft und vor Ort in den Kommunen ankommen? Dann ist da noch ein Punkt: die Entlastung von Pflegebedürftigen und Pflegenden. Herausgekommen ist dabei bis jetzt noch nicht viel mehr als das nutzlose Familienpflegezeitgesetz von Frau Schröder, ({2}) ein Gesetz, das nur auf Appellen beruht und sich auf das Wohlwollen der Wirtschaft verlässt. In der Agenda setzt man auf Technik, auf Assistenzsysteme. Ja, es stimmt: Diese Systeme können eine Hilfe sein. Aber sie stehen nicht im Mittelpunkt, wenn es um die Entlastung pflegender Angehöriger geht. Wenn Sie pflegende Angehörige danach fragen, werden sie Ihnen das sehr klar sagen. ({3}) Alle Themen, die in der Agenda angesprochen werden, sind wichtig. Aber eine Auflistung allein reicht nicht. Wir brauchen einen Maßnahmenplan. Unter SchwarzGelb erleben wir aber leider eine Politik des totalen Stillstands. Meine Damen und Herren, in der Süddeutschen Zeitung konnten wir einen treffenden Kommentar zur Demografiepolitik dieser Regierung lesen. Die Süddeutsche Zeitung ist der Auffassung, Schwarz-Gelb habe mehr Angst vor den Wählern heute als vor den Problemen morgen. Ich zitiere das gerne: Politik verlangt aber: Zukunft gestalten. Wenn die Zukunft versaut ist, ist es mit der Gestaltung vorbei. Ich denke, klarer und besser kann man das nicht ausdrücken. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Norbert Geis das Wort. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin, ich habe längst aufgegeben, alles zu glauben, was in den Zeitungen steht. ({0}) Ich möchte das Thema demografischer Wandel, das uns beschäftigt, unter verschiedenen Aspekten beleuchten. Es ist in der Tat so, Herr Müntefering, dass der demografische Wandel in erster Linie durch das Älterwerden unserer Gesellschaft bestimmt wird. Das ist augenfällig, und dadurch entsteht auch die Diskussion über den demografischen Wandel. Es ist natürlich von entscheidender Bedeutung, dass wir die verschiedenen Phasen des Älterwerdens erforschen und den Fragen nachgehen: Wie ist es möglich, auch im Alter ein gesundes und vielleicht sogar agiles Leben zu führen? Wie können wir älteren Menschen, die krank oder hilfsbedürftig sind - das bleibt im Alter nicht aus -, beistehen? Welche Regularien und Möglichkeiten können wir schaffen? Ich stimme Ihnen zu, dass wir vor allen Dingen die Gemeinden mobilisieren müssen. In der Tat richtet sich diese Frage insbesondere an die Kommunalpolitik; das ist sehr wahr. ({1}) Von Bedeutung ist allerdings auch die Phase des Älterwerdens, in der viele Menschen rundum pflegebedürftig sind. Diese Themen sind, wie ich meine, noch nicht ausreichend erforscht. Deswegen begrüßen wir die Initiative der Bundesregierung, gerade diese Aspekte des demografischen Wandels zu erforschen und sich insbesondere mit diesen Themen zu beschäftigen. Wir müssen Möglichkeiten und Wege finden, wie diese Herausforderungen am besten zu bewältigen sind. Natürlich spielt auch die Tatsache, dass wir eine niedrige Geburtenquote haben, eine entscheidende Rolle in der Diskussion über den demografischen Wandel, auch die Frage, wie es möglich ist, der mittleren Generation, die die ganze Last zu tragen hat, zu helfen. Diese Fragen betreffen nicht nur Deutschland, obgleich wir Spitzenreiter sind; neben Japan hat Deutschland die älteste Bevölkerung. Das ist eine Frage, der sich ganz Europa stellen muss. In allen Industrieländern, insbesondere aber in Europa, stellen sich diese Fragen. Der alte Kontinent Europa wird tatsächlich zu einem Land der Alten. Wir geraten zunehmend in die Situation, dass uns die Innovationskraft und die Kreativität der jungen Leute fehlen. Durch diesen demografischen Wandel geraten wir unter Umständen in eine Winterstarre, die uns mit Sicherheit unsere führende Stellung in der globalen Welt nehmen wird. Diesem Problem muss sich die Politik stellen. Das können wir nicht einfach so über uns ergehen lassen. Wir müssen uns vielmehr dagegen wenden und Wege finden, trotz dieser Entwicklung an der Spitze der Welt zu bleiben. Deswegen müssen wir uns natürlich auch Gedanken darüber machen, wie wir die Menschen, die jetzt mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen, aber noch leistungsfähig sind - die Statistik zeigt, dass viele bis 85 leistungsfähig sind -, heranziehen können. Wie können wir das Potenzial dieser älteren Menschen nutzen? Das ist eine wichtige Frage, der im Rahmen dieser Forschungsagenda nachgegangen wird. ({2}) Wir brauchen den Einsatz der älteren Menschen in der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft, im Freiwilligendienst. ({3}) Die älteren Menschen sind auch bereit dazu. Sie wollen sich gar nicht auf die Zuschauertribüne setzen und sich aufs Beifallklatschen beschränken. Sie wollen mitspielen, und sie können es auch. ({4}) Wir müssen anfangen, unser Bild von den Alten zu ändern. Vor acht Tagen haben wir genau darüber im Plenum des Bundestages diskutiert. Wir müssen diese Bilder korrigieren. Wir haben Vorstellungen, die 20, 30 Jahre alt sind. Wir müssen berücksichtigen, dass wir eine ganz neue Lebensphase hinzugewonnen haben, in der wir agil und leistungsfähig sind. Dieser Frage muss sich natürlich auch die Forschung stellen. ({5}) Es ist richtig, dass wir eine zu geringe Geburtenquote haben; dieses Lamento hören wir schon jahrelang. Dafür gibt es viele Gründe. Ich kann die Gründe heute hier nicht alle darlegen. Richtig ist, dass wir die Alten in Arbeit halten müssen. Richtig ist aber auch, dass wir Zuwanderung brauchen und mehr Frauen in Arbeit bringen müssen. Wir brauchen mehr Frauen in Arbeit als derzeit, wenn wir unseren Stand halten wollen. ({6}) Frauen, die Vollzeit beschäftigt sind - das entspricht der Erfahrung -, bekommen aber kein Kind oder nur noch ein Kind. ({7}) Der Anteil der Männer und Frauen, die nie ein Kind erzogen haben, steigt immer mehr. Inzwischen sind es 20 bis 30 Prozent; darauf wurde hingewiesen. Die Tendenz ist steigend. Damit können sich unsere Gesellschaft und unsere Politik nicht zufriedengeben. ({8}) Das ist nämlich der wichtigste Grund für die Verschiebung bei der demografischen Entwicklung. Wir haben zu wenige Kinder. Der Schwund bei der nachwachsenden Generation ist der Grund für den demografischen Wandel, und der hat revolutionäre Ausmaße. Deswegen ist es eine ganz entscheidende Frage, wie wir die Rahmenbedingungen gestalten müssen, damit es wieder mehr Kinder gibt. Wir brauchen eine höhere Geburtenquote. Ein Schlussgedanke zum Drei-Generationen-Vertrag: Die mittlere Generation wird am meisten belastet werden. Sie muss die Last der Alten tragen - sie muss die Renten erwirtschaften -, sie muss die Last der jungen Menschen tragen - sie muss die Kinder versorgen -, und sie trägt die Hauptlast des Sozial- und Staatshaushalts. Diese Last trägt die mittlere Generation vor allem durch die Steuern, die sie zahlt. Das ist eine gewaltige Last. Noch nie ist eine mittlere Generation so belastet worden, wie es bei den jetzt kommenden mittleren Generationen der Fall sein wird. Auch das ist ein Problem, dem wir uns stellen müssen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8103 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen - Drucksachen 17/1556, 17/4468 Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster ({1}) Michael Hartmann ({2}) Hartfrid Wolff ({3}) Wolfgang Wieland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Manfred Grund. Bitte schön, Kollege Manfred Grund.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute in einer beeindruckenden Gedenkstunde mit der Rede von Marcel ReichRanicki der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Ich glaube, durch diese Rede ist uns allen noch einmal deutlich geworden, was dies für uns Nachgeborene bedeutet, nämlich: nie wieder Faschismus, nie wieder Totalitarismus und nie wieder Gleichschaltung. Seine Geschichte begründet unsere Verantwortung zu umfassender, tiefgehender, aber auch handwerklich solider Aufarbeitung unserer Geschichte. Einer wissenschaftlich soliden Aufarbeitung der Geschichte wollen und müssen wir uns stellen. Sie sollte aber nie losgelöst von den Umständen ihrer Zeit, den damaligen Herausforderungen und Lebensumständen, erfolgen. Wer die Ereignisse der späten 40er- und der 50erJahre nur aus der Flughöhe der Erkenntnisse von heute betrachtet und beurteilt, dem wird sich die Frühphase der Bundesrepublik Deutschland nicht gänzlich erschließen. Denn bereits lange vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges und angesichts der sich abzeichnenden totalen Niederlage des Deutschen Reiches planten und organisierten die Siegermächte die neue Weltordnung und traten miteinander in eine Konkurrenz der Systeme. Eine neue Bedrohungslage entstand und prägte als Kalter Krieg die nächsten vier Jahrzehnte. Ein Eiserner Vorhang teilte Europa. Die junge Bundesrepublik Deutschland, aus den Trümmern dieser totalen Niederlage innerhalb von wenigen Jahren entstanden, hatte vor diesem Hintergrund schnell als Staatswesen zu funktionieren. In dieser Zeit herrschte ein Mangel an Personen, die in der Lage waren, ein Staatswesen zu organisieren, und angesichts der totalen Durchdringung und Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes durch das nationalsozialistische Regime zugleich unbelastet genug waren. Auch deshalb sind beim Aufbau demokratischer Strukturen und Institutionen Personen wieder herangezogen worden, denen bei Lichte betrachtet kein Neuanfang in einem demokratischen Staatswesen mehr hätte ermöglicht werden dürfen. So konnten neben vielen unbelasteten und gering belasteten auch immer wieder erheblich belastete Personen den Weg in die Institutionen des neuen Staates finden. Manche gelangten durch Unachtsamkeit, andere aber auch durch Seilschaften und Fehlverhalten Dritter in ihre Positionen. Begünstigt wurde das dadurch, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft bis weit in die 50er-Jahre hinein zu einer tiefgreifenden Aufarbeitung des Dritten Reiches noch nicht bereit war. Der Historiker Heinrich August Winkler beschreibt das in seinem Buch Der lange Weg nach Westen sehr klar - ich zitiere -: Wohl aber kann man von einer verbreiteten Weigerung sprechen, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Da viele Nachkriegskarrieren davon abhingen, daß bestimmte Taten und Äußerungen nicht bekannt wurden, schlug eine solche Weigerung über kurz oder lang meist in individuelle Verdrängung um. Da dies eine massenhafte und gesellschaftlich respektierte Erscheinung war, trugen ihr auch Politiker und Publizisten Rechnung, die selbst nicht „belastet“ waren. Das Ergebnis war ein widersprüchliches Verhältnis zum Nationalsozialismus: Wer sich öffentlich zum „Dritten Reich“ bekannte, verletzte ein bundesdeutsches Tabu. Doch dasselbe tat, wer bohrende Fragen nach der Verantwortung der Überlebenden im zweiten, dritten oder vierten Glied stellte. In der Abwägung zwischen Belastung und vermeintlicher Fachkompetenz wurde zu oft zugunsten der Fachkompetenz entschieden. Zu denken ist hier auch an die Organisation Gehlen als Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes. Reinhard Gehlen, der als General der Wehrmacht und Leiter der Abteilung „Fremde Heere Ost“ des deutschen Generalstabs über ausgewiesene Informationen über Stalins Sowjetunion verfügte, war den westlichen Alliierten im Hinblick auf die neuen Machtstrukturen so wichtig, dass der Kontakt noch während des Krieges entstand. Der Bundesnachrichtendienst hat sich die Aufarbeitung seiner Vor- und Frühgeschichte zur Aufgabe gemacht. Der Ansatz, den der BND dabei wählt, wird von meiner Fraktion unterstützt; denn er ist sinnvoll und anspruchsvoll zugleich. ({0}) So hat der damalige Präsident, Ernst Uhrlau, am 15. Februar 2011 eine unabhängige Historikerkommission ins Leben gerufen. Durch die Berufung der Professoren Dülffer, Henke, Krieger und Müller konnte eine Kommission gewonnen werden, die über unbestreitbare Fachexpertise verfügt und zugleich ein breites Meinungsspektrum repräsentiert, welches den notwendigen Diskurs auf dem Weg zu einer Darstellung und Deutung der historischen Ereignisse garantiert. Die Unabhängige Historikerkommission hat sich ein hohes wissenschaftliches Ziel gesetzt. Ich denke, ihr Erfolg wird durch die umfassende Einsichtnahme in die Aktenbestände des Bundesnachrichtendienstes gewährleistet. Unterstützt wird die Historikerkommission durch eigene wissenschaftliche Mitarbeiter sowie durch die interne Forschungs- und Arbeitsgruppe „Geschichte des BND“, die aus sieben Mitarbeitern des Dienstes unter der Leitung des Historikers Bodo Hechelhammer besteht. Diese interne Arbeitsgruppe hilft, Akten aufzufinden und für die wissenschaftliche Arbeit nutzbar zu machen. Das ist wichtig - und das muss der Öffentlichkeit einmal gesagt werden -: Der Bundesnachrichtendienst hatte immer ein Archivierungswesen, das für die Erfordernisse der laufenden Arbeit des Dienstes gestaltet war. Das ist nicht zu vergleichen mit dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, welches seit Jahrzehnten auf die Tätigkeit von Wissenschaftlern ausgerichtet ist. Beim BND müssen viele Akten und Unterlagen erst zusammengestellt und für die wissenschaftliche Arbeit aufbereitet werden. Wir unterstützen diesen ambitionierten Prozess sehr nachdrücklich. Er kostet Zeit und Mühe. Das Ziel aber rechtfertigt den hohen Aufwand. Haushaltsmittel in einer Höhe von 1,5 Millionen Euro sind dafür vorgesehen. Der Zeitaufwand bis zum Jahr 2015 erscheint der Größe der Aufgabe angemessen. Es gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Betrachtet man die Themen, die die einzelnen Mitglieder der Historikerkommission bearbeiten, so stellt man fest, wie umfassend vorgegangen wird. So wird die Geschichte der Organisation Gehlen mit ihren Verflechtungen, ihrem Berichtswesen, ihrer Zusammenarbeit mit befreundeten Diensten aufgearbeitet, und es wird der Aufnahme von NS-belasteten Mitarbeitern nachgegangen. Das Verhältnis zwischen Bundesnachrichtendienst und Bundeswehr, die innenpolitische Einflussnahme der Organisation Gehlen bzw. des BND in den 50er- und 60er-Jahren, ihre Kontrolle durch die Regierung und das Parlament sind weitere Themen der Kommission. Das soeben beschriebene Vorgehen bedeutet nicht, dass man bis zum Jahr 2015 weder etwas sehen noch erfahren kann. So werden weitere einzelne Projekte an externe Historiker vergeben, und auch die interne Forschungs- und Arbeitsgruppe trägt mit laufenden Veröffentlichungen zu bereits abgeschlossenen Projekten zur Transparenz bei. Ferner ist es bereits heute jedermann möglich, nach Maßgabe des Bundesarchivgesetzes Einsicht in deklassifizierte Archivunterlagen zu nehmen. Grenzen - das soll nicht unerwähnt bleiben - erfährt das Einsichtsrecht durch gesetzliche Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes, durch das Persönlichkeitsrecht oder durch Vorgaben des Geheimschutzes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU und CSU unterstützen den begonnenen Aufarbeitungsprozess und das zugrundeliegende Konzept. ({1}) Wir lehnen den heute zur Debatte stehenden Antrag der Linksfraktion ab. Eine solide und umfassende Aufarbeitung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes ist ein Gewinn für uns alle. Das unterstützen wir. Ich denke, dazu brauchen wir keine Ratschläge einer Linken, die selbst aus einer totalitären Partei hervorgegangen ist. Vielen Dank. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Manfred Grund. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Michael Hartmann. Bitte schön, Kollege Michael Hartmann. ({0})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der 27. Januar, der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Deshalb möchte ich ähnlich wie der Kollege Grund an dieses Erinnern und an die Betroffenheit anknüpfen, die nachklingt, wenn man noch die Worte von Marcel ReichRanicki im Ohr hat. So leise und schwach sie gesprochen waren, so anrührend und doch treffend waren sie, was die Schilderung dieser schrecklichsten deutschen Zeit anbelangt. Deshalb möchte ich nicht der Versuchung nachgeben, in die üblichen parlamentarischen rhetorischen Auseinandersetzungen einzusteigen, sondern darauf hinweisen, dass gerade angesichts dieser Geschichte, die wir erlebt haben, die Lehren aus dieser dunklen deutschen Zeit sehr wichtig und prägend für unser Grundgesetz und für unseren politischen Alltag in dieser zweiten deutschen Republik waren und sind, nachdem die Weimarer Republik auch daran gescheitert war, dass es in ihr zu wenige Demokraten gab. Deshalb ist eines klar - insofern gilt meine Anerkennung der Fraktion der Linken -: Jede kritische Nachfrage ist erlaubt. Jede kritische Beschäftigung mit dem Agieren des geheimen Nachrichtendienstes, in dem Fall unseres Auslandsnachrichtendienstes, ist sogar geboten. Denn in dieser Geschichte, die wir alle in unserem kollektiven Unterbewusstsein haben, spielte die Anatomie des SS-Staates - der Geheimdienst, die Gestapo und andere geheime Einrichtungen - eine sehr große Rolle. Weil wir Lehren gezogen haben und weiter Lehren ziehen wollen, ist eine uneingeschränkte Aufarbeitung unerlässlich und geboten. ({0}) Ich sage allerdings genauso deutlich: Viele Konsequenzen wurden bereits gezogen. Wir haben heute ein ganz anderes Nachrichtendienstwesen und ganz andere Formen der parlamentarischen Kontrolle. Bei allem, womit man vielleicht auch als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums da und dort im Alltag unzufrieden sein muss, sehr geehrter Herr Ströbele: Diese weitgehende, sogar in der Verfassung verankerte Möglichkeit, in jeden einzelnen Vorgang der Nachrichtendienste Einsicht zu nehmen und Fragen zu stellen, der Umstand, dass sich Mitarbeiter und Betroffene unmittelbar an uns wenden können, und Ähnliches mehr gereichen uns zur Ehre im Reigen westlich geprägter parlamentarischer Demokratien. ({1}) Das heißt aber nicht, dass alles Gold ist, was da glänzt. In der Tat ist die Aufarbeitung auch aus zeitgeschichtlichen Umständen und Gründen nötig. Denn wir wissen, dass es da und dort eine ungute personelle Kontinuität gab. Es gab - Herr Grund hat es ebenfalls angesprochen - ungute Seilschaften, die sozusagen direkt von der SS, der Waffen-SS und der NSDAP in die Organisation Gehlen und dann in den Bundesnachrichtendienst hineingeführt haben. Deshalb ist es wahr: Was das anbelangt, gab es in Wirklichkeit nach 1945 oder mit der Regierungsbildung unter Konrad Adenauer im Jahr 1949 keine Stunde null. Es gab vielmehr Kontinuitäten, übrigens nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, die damals entstand, sondern auch in der entstehenden DDR, wo auch später im Ministerium für Staatssicherheit und in der Stasi selbst NS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter integriert wurden und in hohe und höchste Positionen gelangt sind. Die Aufarbeitung hat begonnen. Am 15. Februar 2011 hat der damalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, einen Vertrag unterzeichnet, der dem Anspruch nach vier sehr kritischen Wissenschaftlern alle Türen öffnet und Zugang zu den Akten - natürlich keinen beliebigen, aber einen vollständigen - ermöglicht. Ich rate allen, die vielleicht ein altes Verständnis von dem Agieren eines Dienstes in ihren Köpfen und in ihrer Seele haben, nicht an eine Kameraderie im Dienst zu denken, sondern daran, dass mit den Fällen Eichmann und Barbie und vielen anderen historischen Komplexen Zeitgeschichte geschrieben wird. Diese Zeitgeschichte kann nur dann korrekt geschrieben werden, wenn alle Archive offen sind und alle Akten zur Verfügung gestellt werden. ({2}) Ich sehe durchaus die Bereitschaft dazu. In einem Abwägungsprozess müssen wir aber anerkennen, dass da und dort Informationen von anderen Diensten an unsere gelangen, die wir nicht einfach freigeben können. Es gibt auch Situationen, in denen Personen um Wahrung ihrer Integrität bitten. Aber das muss abgewogen werden und Michael Hartmann ({3}) darf nicht von vornherein zugunsten des Geheimschutzes entschieden werden. Die Aufarbeitung der Vergangenheit des Bundesnachrichtendienstes, des Auswärtigen Amtes sowie oberster und oberer Bundesbehörden hat spät begonnen; das stimmt. Aber sie findet statt und muss stattfinden. Bei der hervorragenden Aufarbeitung der Vergangenheit des Bundeskriminalamtes beispielsweise ist niemand geschont worden. Wenn unsere Sicherheitsbehörden heute stark sein wollen, dann müssen sie auch so stark sein, zuzugeben, was sowohl damals als auch in ihrer jüngeren und jüngsten Geschichte falsch gelaufen ist. Das macht sie nur stärker und schwächt sie in einer offenen und kritischen Gesellschaft keineswegs. ({4}) Ich gehöre zu jenen, die mit großer Anerkennung und großem Respekt auf das blicken, was die Nachrichtendienste leisten. Gerade der BND hat sich geöffnet und einen großen Schritt hin zur Offenheit vollzogen. So offen wie derzeit war der Bundesnachrichtendienst noch nie, auch wenn das manchem in diesem Saal niemals genügen wird. ({5}) Wir haben den Umzug des BND auf den Weg gebracht und damit ein neues Kapitel der Transparenz eingeläutet. Wir haben die alte Denkweise aus den Zeiten des OstWest-Konfliktes zunehmend, wenn auch nur schrittweise, in diesem Dienst abgebaut. Wir zeigen mit dem angesprochenen Projekt, dass der BND von heute nicht mehr der BND aus der Zeit des Kalten Krieges ist. Der Bundesnachrichtendienst leistet insgesamt wertvolle Arbeit nicht nur beim Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten im Ausland und dadurch, dass er uns Informationen über die Weltlage liefert, sondern auch dadurch, dass er uns vor drohenden Angriffen von Terroristen warnt. Diese Liste könnte ich beliebig fortsetzen. Bei weitem nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden nach B 6, B 9 oder noch höheren Besoldungsgruppen bezahlt. Nichtsdestotrotz sind die Beamtinnen und Beamten mit viel Engagement und der Bereitschaft, für unser Land ihre Pflicht zu tun, oft in gefährlichen Missionen unterwegs. Diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möchte ich im Namen des Parlaments heute ein Dankeschön aussprechen. Danke sehr. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Michael Hartmann. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte schön, Kollege Dr. Ruppert. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bewegende der heute Morgen von uns allen erlebten Gedenkstunde war, dass der Redner ReichRanicki keine Einordnung durch seine Worte vorgenommen hat, sondern den historischen Sachverhalt wie ein Chronist und doch aus subjektiver Sicht - weil er eben selbst Betroffener und Beteiligter war - schlicht dargelegt hat. Gerade weil keine großen Worte darüber verloren wurden, welches Leid er damals empfunden hat, hat das historische Ereignis auf uns alle unmittelbar gewirkt. Das ist der Wert guter historischer Beschreibung, ob nun durch Zeitzeugen oder durch Historiker. Dieser Wert ist ein Eigenwert, wie wir heute alle empfunden haben. Was bedeutet das für den Umgang mit der Geschichte unserer Behörden und Ministerien? Der Umgang mit unserer Geschichte hat mittlerweile ihre eigene Geschichte. Der Historiker Norbert Frei hat im Hinblick auf die 50erJahre von Vergangenheitspolitik gesprochen. ({0}) Er hat in einem sehr guten Buch deutlich gemacht, dass die junge Adenauer’sche Bundesrepublik eine eigene Vergangenheitspolitik hatte, dass es bei den Bürgern über die Parteigrenzen hinaus eine spezielle Form des Umgangs mit der Vergangenheit gab, ({1}) die wir heute nicht mehr teilen. Interessanterweise hat dann Ulrich Herbert, ein weiterer Historiker, festgestellt, dass sich nicht erst 1968, sondern bereits in den Jahren zuvor der Umgang mit dieser Geschichte gewandelt hat. Aber die Geschichte war für die Wissenschaftler und Historiker, die sich dieses Themas widmeten - ich selbst bin Rechtshistoriker und war am Max-Planck-Institut am Rande an der Aufarbeitung der Geschichte des BKA beteiligt -, noch risikobehaftet. Man erinnere sich an die Arbeiten von Bernd Rüthers, von Michael Stolleis oder auch von Alexander von Brünneck, die in frühen Habilitationen in den 60er- und 70er-Jahren die NS-Vergangenheit aufgearbeitet haben und dann teilweise Schwierigkeiten mit ihrer eigenen beruflichen Karriere hatten. Damals bestand eine aufgeladene Situation. Diese Form des Umgangs hat sich dann wiederum gewandelt, und im deutschen Historikerstreit in den 80erJahren ist eine Auseinandersetzung aufgeflammt, in der es darum ging, dass einzelne Historiker - Nolte und andere - zu zeigen versucht haben, dass die Geschichte des Nationalsozialismus eine spezifische Vorgeschichte hatte. Sie wollten sozusagen einen Abgleich von zwei Unrechtssystemen herbeiführen, was von vielen - zu Recht, wie ich finde - als problematisch empfunden wurde. Heute sind wir noch einen Schritt weiter: Wir wollen verstehen, wie diese Behörden damals funktioniert haben. Wir wollen nicht zuvorderst sagen - auch wenn wir es natürlich feststellen -: Da gibt es Kontinuitäten im Personal zwischen dem Nationalsozialismus und der früDr. Stefan Ruppert hen Bundesrepublik. Das wissen wir alle. Das ist für den Bundesgerichtshof aufgearbeitet worden, das ist auch für meine Partei aufgearbeitet worden. Ich kann ganz offen sagen: In Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen gab es personelle Kontinuitäten, und es ist wichtig, dies zu wissen und offenzulegen. ({2}) Warum ist es aber wichtig? - Da habe ich manchmal meinen Zweifel an dem Umgang der Linken mit diesem Thema. - Es ist wichtig, weil wir verstehen wollen, wie solche Dinge funktionieren, weil wir verstehen wollen, warum es diese Kontinuitäten gab, warum Menschen in der frühen Bundesrepublik das Bedürfnis hatten, diese Leute wieder zu integrieren. Ob das aus unserer heutigen Sicht moralisch richtig oder falsch war, ist eine andere Frage. Ich will verstehen, warum es solche personellen Kontinuitäten gab. Ich denke, diesbezüglich sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir haben sowohl den verdrängenden Charakter der frühen Bundesrepublik als auch den teilweise vorrangig moralisierenden Drang abgelegt, den wir in den 60er-Jahren und besonders 1968 in dieser Frage hatten. Das war aus der Zeit heraus durchaus verständlich und ist von mir gar nicht zu kritisieren. Aber heute sind wir in Deutschland in der, wie ich finde, komfortablen Situation, dass wir es aus der historischen Distanz wie kein anderes Land in der Welt schaffen, uns einerseits unserer eigenen Vergangenheit zu stellen, aber andererseits auch genau aufzuarbeiten, warum es damals so war. Dabei gibt es kein Schwarz oder Weiß, kein Moralisch oder Unmoralisch, sondern dabei geht es einzig und allein darum, nachzuweisen, wie diese Kontinuitäten aussahen und wie diese Netzwerke - auch in unseren Behörden - funktionierten. ({3}) Ich denke, wir tun gut daran, diesen historisierenden, verstehenden Ansatz hochzuhalten und ihn nicht in ein Rechts-Links-Schema zu zwängen, indem die Linkspartei die Koalition anklagt, sie habe zu wenig Vergangenheitsbewusstsein, und wir dann sagen: Nein, das war alles gar nicht so schlimm. - Wir wollen es vielmehr verstehen. Das sollten wir konsensual tun. An manchen Stellen Ihres Antrags beschleicht mich das Gefühl, dass dieser eher noch das politisch Wertende, Moralisierende und uns anklagen Wollende - ich habe überhaupt kein Problem mit diesen Verhältnissen in der frühen Bundesrepublik - anstatt die saubere historische Erkenntnis und das Historisieren der Akten in den Vordergrund stellt. ({4}) Ich denke, in diesem Punkt sind wir uns alle einig. Da sollten wir ansetzen. Herr Grund und auch Herr Hartmann haben ja die bisherigen, wie ich finde, hervorragenden Bemühungen geschildert. Wenn wir da Gemeinsamkeiten entwickeln, anstatt uns gegenseitig Verdrängung oder Geheimhaltungsinteressen vorzuwerfen, kommen wir wesentlich weiter, auch im Sinne der historischen Erkenntnis. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Ruppert. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte schön, Kollege Jan Korte. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis jetzt wurden in der Tat, so finde ich, durchaus bedenkenswerte Beiträge geliefert. ({0}) Ich glaube allerdings - da stellt sich die Frage, worüber wir diskutieren -, dass eine kritische Vergangenheitspolitik in der Geschichte der Bundesrepublik immer nur dann überhaupt stattgefunden hat, wenn marginalisierte Einzelpersonen - das darf man nicht vergessen -, wie in den 50er-Jahren, ihre Stimme erhoben haben. Ich denke an Martin Niemöller und Eugen Kogon, Fritz Bauer nicht zu vergessen. Die standen auf einsamem Posten. In der Tat gab es also diese Gegenposition. Das dürfen wir nicht vergessen. Wenn man an einem Tag wie diesem an die Opfer und ihre Angehörigen denkt, darf man auch nicht über die Täter, die es massenhaft gegeben hat, schweigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Opfer, ihre Angehörigen, die Wissenschaft und die gesamte Öffentlichkeit ein Recht darauf haben, vollumfänglich zu erfahren, was aus diesen Tätern geworden ist. Sie sind nämlich fast alle nicht vor Gericht gestellt worden, fast alle ihre Straftaten sind nicht verfolgt worden. In den letzten zwei Jahren kamen Namen und Vorgänge ans Tageslicht. Ich will einige Namen nennen: Adolf Eichmann, Alois Brunner, Klaus Barbie, Walter Rauff. Diese Massenmörder - das muss man sich einmal vorstellen - standen zeitweise im Sold des BND oder wurden von ihm gedeckt. Zum Teil glich damals der BND bzw. seine Vorläuferorganisation, die Organisation Gehlen, einer einzigen großen Resozialisierungszentrale für schwerstkriminelle Massenmörder. Das waren nicht irgendwelche Mitläufer, sondern das waren zentrale Figuren in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Das waren keine Ausnahmen; denn es war die Zeit der Rückkehr der alten Eliten in Amt und Würden. Es ist kein Zufall, dass der große hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer - ich habe ihn eben genannt seine umfangreichen Ermittlungsergebnisse zum Fall Eichmann eben nicht einer deutschen Behörde übergeben hat, sondern dass er - man kann sich das heute kaum mehr vorstellen - mit einem Koffer nach Israel geflogen ist, um sie seinen israelischen Kollegen zu übergeben. ({1}) So ist die Situation damals gewesen. Das war der große Frieden mit den Tätern. Damit hat Ralph Giordano sehr recht. Seit einigen Jahren - Sie haben eben Norbert Frei und andere genannt - gibt es in der Tat eine hervorragende Forschungslage zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Es ist gut, dass es sie gibt. Vor allem viele junge Wissenschaftler sind auf diesem Feld aktiv. Ich glaube allerdings - deswegen ist unser Antrag notwendiger denn je -, dass die Politik der Wissenschaft sehr hinterherhinkt, was den Willen zur Erforschung und zur Aufarbeitung angeht. Deswegen dieser Antrag. ({2}) Es geht ganz konkret um die Gewährung eines freien Zugangs zu all den betreffenden Akten des Bundesnachrichtendienstes und übrigens auch des Kanzleramtes, um das deutlich zu sagen. Auch dort gilt es, einiges aufzuarbeiten, was diese Zeit angeht. Ich will zwei Gründe nennen, warum dieser Antrag ganz praktisch für Historiker und übrigens auch für die Historikerkommission von Vorteil sein kann. Wir haben mitbekommen, dass - am 29. November 2011 ging es durch die Presse - offenbar 253 Personalakten vernichtet worden sind. Das ist ein irrer Vorgang. Man setzt eine Historikerkommission ein, die das aufarbeiten soll, und 253 Akten werden vernichtet. Was ist denn da bitte schön los? Das Kanzleramt geht davon aus - das wurde auf unsere mehrfache Nachfrage erklärt -, dass offenbar 1996 und 2007 Akten vernichtet wurden, die dieser Kommission nun fehlen. Ganz konkret gibt es offenbar den Fall von 1994, als 581 Seiten der Akte von Alois Brunner - das war die rechte Hand von Adolf Eichmann - vernichtet worden sind. Man muss an einem Tag wie dem heutigen im Deutschen Bundestag danach fragen, warum diese Akten vernichtet wurden, ob das jemand politisch angeordnet hat und wer dafür die politische Verantwortung trägt. Auch das muss gefragt werden. ({3}) Es gibt zu diesem Thema Berichte der Historikerkommission und Artikel im Spiegel und in der Bild-Zeitung, die im Monatsrhythmus veröffentlicht werden. Wenn wir parlamentarische Anfragen stellen oder wenn Historiker Nachfragen zu diesem Thema stellen, dann gibt es zu oft die Auskunft, dass die Akten entweder nicht gefunden werden können oder dass sie vernichtet worden sind. Angesichts dessen muss sich auch die Historikerkommission - wenn sie denn eine unabhängige Kommission sein will - fragen, wie lange sie diese Zustände eigentlich noch akzeptieren will. ({4}) Ich glaube, dass das Kanzleramt als politisch verantwortliche Instanz hier in der Tat am Zuge ist, diesen Historikern und der Öffentlichkeit einen freien und völlig unbehinderten Zugang zu gewähren. Alle, die an diesem Thema interessiert sind, sollten die Mahnung des unumstritten hervorragenden Zeithistorikers Michael Wildt zur Kenntnis nehmen. Er fragte im Spiegel im Januar 2012, ob die ganze Konstruktion von - ich zitiere - „sicherheitsüberprüften Kommissionen mit streng begrenztem Aktenzugang“ eigentlich einer unabhängigen und kritischen Wissenschaft angemessen ist. Ich glaube, er hat mit dieser Frage sehr recht. ({5}) Ich schließe mit zwei Einzelfällen. Schon 1952, so geben es die bis jetzt aufgearbeiteten Akten her, wusste der BND offenbar, wo sich Adolf Eichmann aufhält 1952! Noch etwas will ich in diesem Zusammenhang sagen: 1953 wurde Hans Globke Kanzleramtsminister. Auch das kann man in so einem Prozess nicht außen vor lassen. Klaus Barbie wurde beim BND geführt, weil er - ich darf zitieren - „kerndeutscher Gesinnung“ und ein „entschiedener Kommunistengegner“ sei. Das sind doch Zustände, die uns hier alle gemeinsam über alle Fraktionsgrenzen hinweg zutiefst empören sollten. ({6}) Ich glaube, unser Antrag ist aktueller denn je. Seine Verabschiedung kann für die Historikerkommission eine politische Unterstützung sein, um sich gegenüber denjenigen, die offenbar nicht alles herausgeben wollen, politisch zur Wehr zu setzen und um wirklich Unabhängigkeit zu generieren. Ich habe mit Ralph Giordano angefangen und will auch mit ihm enden. Er hat in seiner berühmten Streitschrift die Rückkehr der Funktionseliten als „die zweite Schuld“ bezeichnet. Wenn wir jetzt mit großer Mehrheit dafür sorgen würden, dass alles, alle Akten und alle personellen Kontinuitäten, auf den Tisch kommt, dann könnten wir zumindest ein kleines Stückchen dieser zweiten Schuld abzutragen beginnen. Es ist jetzt, im Jahre 2012, wirklich an der Zeit, alles auf den Tisch zu legen und Verzögerungen und Behinderungen endlich zu unterlassen. Danke. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Jan Korte. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen unser Kollege Hans-Christian Ströbele. Bitte schön, Kollege Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang der 80er-Jahre - ich glaube, es war im Sommer 1982 - war ich in La Paz in Bolivien und habe dort vor dem Café „La Paz“ auf Klaus Barbie gewartet. Klaus Barbie ist der „Schlächter von Lyon“. Er ist während der Kriegszeit in Frankreich der Chef eines SS-Jägerkommandos gewesen, das Juden und Widerstandskämpfer im Untergrund aufgespürt und ermordet hat. Er ist nach dem Krieg in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, unter anderem deshalb, weil er in Südfrankreich 44 jüdische Kinder, die in einem Kinderheim versteckt waren, entdeckt, in einen Waggon verladen und nach Auschwitz gebracht hat. Keines von diesen 44 Kindern hat überlebt. Über diesen Klaus Barbie habe ich mich in den 70erJahren in Deutschland zu informieren versucht. Ich wollte wissen, was er treibt und wo er geblieben ist. Es gab Gerüchte, dass er sich in Südamerika aufhält, und es gab - nicht in Deutschland, aber in Frankreich - durch die deutsche Staatsbürgerin Beate Klarsfeld und ihren französischen Ehemann Serge Klarsfeld Recherchen über sein Leben, über seinen Werdegang, auch nach dem Krieg, und über seinen Aufenthalt in Südamerika. Ich wäre damals nie auf den Gedanken gekommen, bei deutschen Behörden, etwa beim BND oder beim Auswärtigen Amt, nachzufragen. Es war für uns damals nicht nur ganz generell völlig undenkbar, dass sie Auskunft gegeben hätten, sondern ich hatte schon seinerzeit in einer französischen Zeitung gelesen, dass der Verdacht besteht, dass der Bundesnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland noch nach dem Krieg, noch in den 60er-Jahren mit Klaus Barbie zusammengearbeitet und ihn in Lateinamerika zu einem Monatslohn von 500 D-Mark beschäftigt hat. Insgesamt soll er damals eine ganze Reihe von Berichten - ich glaube, 40 oder 50 - an den Bundesnachrichtendienst geliefert haben. Inzwischen wissen wir, dass das wahr ist. Durch die Akten des Bundesnachrichtendienstes, die im Jahr 2010 durch den deutschen Historiker Hammerschmidt aufgedeckt worden sind und die sich inzwischen im Bundesarchiv befinden, ist belegt, dass Barbie der Agent des Bundesnachrichtendienstes mit der Nummer 43118 in Lateinamerika gewesen ist. Klaus Barbie hat im Jahr 1980, also zwei Jahre bevor ich in jenem Café auf ihn gewartet habe, den Militärputsch in Bolivien unterstützt, er hat für die Militärs dort die Geheimpolizei ausgebildet, und er hat Kommandos organisiert, die die Oppositionellen im Untergrund aufgespürt und zum Teil getötet haben. Das war ein Teil der Karriere des deutschen NS-Täters Klaus Barbie nach dem Krieg. Ich habe damals vergeblich gewartet. Ich hatte die Mitteilung, dass er sich in Bolivien aufhält - das stimmte offenbar auch - und dass er fast jeden Vormittag im Café „La Paz“ am Prado in La Paz seinen Kaffee trinkt. Ich wollte ihn. Was ich damals gemacht hätte, wenn er gekommen wäre, weiß ich nicht. Ein halbes Jahr später ist Klaus Barbie unter anderem aufgrund der Recherchen von Beate Klarsfeld und ihrem Mann in Bolivien verhaftet worden. Inzwischen war die Militärregierung gestürzt worden, und es gab eine Zivilregierung unter Siles Zuazo, die Klaus Barbie im Februar 1983 an Frankreich ausgeliefert hat, wo er erneut vor Gericht gestellt werden sollte. Was zeigen dieses und viele andere solcher Beispiele? Sie haben das Beispiel Eichmann genannt. Der Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer, einer der verdientesten Juristen der Nachkriegszeit in Deutschland, hat seine aus Unterlagen gewonnenen Erkenntnisse über den Aufenthalt von Eichmann in Argentinien gerade nicht an das Bundeskriminalamt und schon gar nicht an den BND weitergegeben, sondern er hat sie nach Israel gebracht und dort dem Mossad gegeben. Das hat dazu geführt, dass Eichmann 1960 vom Mossad aus Argentinien entführt und in Israel vor Gericht gestellt und verurteilt worden ist. Das Ganze zeigt uns, dass es nicht nur die schreckliche deutsche Vergangenheit bis 1945 gegeben hat, sondern dass es noch einen zweiten Teil einer schlimmen Vergangenheit als Folge der Nazizeit in Deutschland gegeben hat. Und die ist bis heute nicht ganz zu Ende. ({0}) Ein Anlass Ihres Antrages ist - auch wir haben einen Antrag gestellt, Akten offenzulegen, der aber noch im Innenausschuss liegt -, dass es der Journalistin Gaby Weber selbst noch im Jahr 2009, also vor wenigen Jahren, verweigert worden ist, die Akten zum Fall Eichmann vom BND zu bekommen. Das musste sie dann vor dem Bundesverwaltungsgericht einklagen. Diesen Prozess hat sie gewonnen. Eigentlich sollten 3 400 Blatt Akten herausgegeben werden. Sie wurden aber weiterhin geschwärzt und aussortiert und ihr bis heute nur zum Teil zur Verfügung gestellt. Das heißt, auch bis heute dauert die partielle Aktenverweigerung an. ({1}) Deshalb sage ich zum Schluss: Deutschland wird in der Welt für die neue Art der Aufarbeitung, nämlich bei der deutschen Vergangenheit DDR, viel geehrt. Wir haben zum Beispiel Fachleute nach Ägypten geschickt, die das dort erklären. Aber wir Deutschen mussten uns von den Bürgerrechtlern in der DDR sagen lassen, wie man die Vergangenheit aufarbeitet. Wir mussten uns geradezu dazu zwingen lassen, dass die Akten der Staatssicherheit - das wollte Herr Schäuble zum Beispiel nicht - für alle Betroffenen, vor allem für die Journalisten und Historiker, zur Aufarbeitung offengelegt werden. ({2}) Eine Forderung der Bürgerrechtsbewegung, die noch offen ist, war, alle Akten in Deutschland, auch die der westdeutschen Geheimdienste, offenzulegen. Das hat sie immer wieder betont, auch nach der Erstürmung der Stasizentrale. Wir warten heute noch darauf, dass dieses Versprechen wahrgemacht wird. Ich schließe mich dem Lob für den Bundesnachrichtendienst an, vor allen Dingen für Herrn Uhrlau, der die Historikerkommission eingesetzt hat. Ich habe den Vertrag hier. Er ist gut.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Haben Sie bitte Ihre Redezeit im Auge.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Wissenschaftler, die er beauftragt hat, sind in Ordnung. Die sollen das machen. ({0}) Es müssen aber gleichzeitig - und das ist dringend erforderlich - sämtliche Akten anderen Wissenschaftlern, Journalisten und der Bevölkerung, die sich dafür interessiert, offengelegt werden, wie die USA dies bereits vor vielen Jahren mit Akten über NS-Täter getan hat. Was die USA können, muss auch unser Geheimdienst, der Bundesnachrichtendienst, können. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Ströbele. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. HansPeter Uhl. Bitte schön, Kollege Uhl. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich habe mir gerade noch einmal den Antrag der Linken angeschaut und der Rede des Kollegen Korte zugehört. Dabei habe ich mich gefragt: Was wollen Sie eigentlich für einen Eindruck hier erwecken? Was ist Ihr Begehren? Was wollen Sie durchsetzen? Wer hindert Sie daran? Alle Fraktionen sind sich doch einig, dass wir alle unsere Behörden, auch den Bundesnachrichtendienst, auf mögliche Verstrickungen in den Jahren nach der NS-Diktatur, in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland, untersuchen und die Akten aufdecken. So machen wir es auch hier. Mit hohem personellen, materiellen und wissenschaftlichen Aufwand ist eine Expertenkommission tätig und wühlt sich durch den Aktenberg der Archive, die, wie ich aus Insiderkreisen höre, reichlich ungeordnet sind. Das ist kein Wunder. Wer jemals in Behörden tätig war, weiß, dass es im Archiv meistens so zugeht. Beim Bundesnachrichtendienst herrscht vielleicht noch etwas mehr Unordnung als in anderen Behörden, zum Beispiel dem Grundbuchamt oder anderen Behörden. Das ist so. ({0}) Das hat mehr menschliche Gründe als politische Gründe. Ich möchte einen ganz banalen Gedanken in die Diskussion der politischen Unterstellungen einführen. Wer Behördenleiter ist und einen mäßig befähigten Mitarbeiter hat - so etwas soll es geben -, der fragt sich: Wo soll der arbeiten? Im Archiv! ({1}) Wir wissen, was dabei herauskommt. Man muss hinterher suchen, um zu finden, was man braucht. Sie haben von der Vernichtung von Akten gesprochen. Sie haben das so vorgetragen, als wäre damit - das wird natürlich insinuiert - eine politische Absicht verbunden gewesen. ({2}) Dieses werden die Wissenschaftler aufklären müssen und hoffentlich auch aufklären können. Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich nicht daran, und ich möchte mich auch nicht an anderen Verdächtigungen oder Unterstellungen beteiligen. Ich möchte aber eines sagen: Nach jeder Beendigung einer Diktatur mit großen Apparaten stellt man fest, dass es Menschen gab, die darin auf unterschiedliche Weise tätig waren: kleine Mitläufer, Opportunisten, Engagierte, Schreibtischtäter, und das geht bis hin zu Verbrechern wie Adolf Eichmann. Das alles hat es gegeben, auch bei der Abwicklung der DDR. Das alles wird es immer wieder geben, weil es in der Natur des Menschen liegt. Die Nachfolgeregierung muss sich bei jedem einzelnen Fall entscheiden: Wen können wir wieder verwenden und wen auf keinen Fall? Wem geben wir eine Chance? Wir werden vermutlich am Ende der wissenschaftlichen Untersuchungen feststellen, dass man nach dem Ende der Nazizeit, zum Beginn des Kalten Krieges, neue Feindbilder hatte und dass vor allem die Amerikaner großen Wert darauf gelegt haben, Erkenntnisse zu gewinnen über das, was sich in der Sowjetarmee getan hat und weiter tun wird. Wer wusste mehr über die Sowjetarmee als Herr Gehlen mit seiner Abteilung „Fremde Heere Ost“? ({3}) Niemand wusste so viel wie er. Es lag im Interesse der Amerikaner, nach der Niederschlagung der Nazidiktatur so viel wie möglich über den neuen Gegner zu erfahren. Dazu war er nützlich, einfach nützlich. Da er für die Amerikaner nicht allein nützlich war, war der eine oder andere Mitarbeiter aus der früheren Zeit wahrscheinlich auch nützlich. Es würde mich also überhaupt nicht wundern, wenn wir hier und dort auf Namen von Leuten stoßen würden, die wir heute garantiert niemals einstellen würden. ({4}) - Das muss alles aufgeklärt werden, Herr Ströbele. ({5}) Woran mir liegt, ist, dass hier von keiner Seite der Eindruck erweckt wird, als wolle jemand etwas verheimlichen. Weder die SPD noch die Grünen noch die Union noch die FDP - niemand von uns allen will so etwas verheimlichen. ({6}) Deswegen hören Sie bitte auf, an einem Bild zu malen, auf dem nur Sie um wirklich effektive Aufklärung kämpfen und sonst niemand. Das ist nicht richtig. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Dr. Uhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Jan Korte?

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Kollege Korte.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich möchte nachfragen: Sie haben eben sinngemäß gesagt - korrigieren Sie mich bitte, wenn ich Sie falsch wiedergebe -, dass es nach dem Ende der Diktatur aus Gründen des Verwaltungsablaufs etc. pp. notwendig gewesen sei, Minderbelastete, Opportunisten oder eben auch andere zu übernehmen. ({0}) Mich würde Folgendes interessieren: Wie schätzen Sie es denn ein, dass das eben nicht nur für Opportunisten oder andere, sondern insbesondere für die Funktionsträgereliten des Nationalsozialismus - Auswärtiges Amt, der komplette Justizapparat, Teile der Gestapo und anderes - galt? Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang - das ist zeithistorisch aufgearbeitet -, dass in der Zeit gerade all die Exilierten, die Widerstandskämpfer nicht mit roten Teppichen empfangen wurden? Wie erklären Sie sich in dem Zusammenhang, dass die anderen gar nicht erwünscht gewesen sind? ({1})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Korte, das ist die alte, uns sattsam bekannte SED-Propaganda, als hätte es nach der Nazizeit zwei Sorten von Staaten gegeben: ({0}) den Nachfolgestaat der Nazidiktatur - das ist die westdeutsche Bundesrepublik - und dann den DDR-Staat, der damit nichts zu tun hat. ({1}) - Nein, aber das ist die Propaganda, an der Sie hier immer noch arbeiten. ({2}) Da ist die alte Propaganda, und die sollten Sie bitte ablegen. Diese SED-Propaganda sollten Sie ablegen. ({3}) Beide Seiten, Ost- wie Westdeutschland, haben gleichermaßen eine Verantwortung zu tragen. Die NS-Verbrecher finden Sie nach dem Ende der Nazizeit auf beiden Seiten, in Ostdeutschland wie in Westdeutschland, selbst in den Kreisen, die später die DDR regiert haben. ({4}) Deswegen sollten Sie gemeinsam mit uns allen objektiv bemüht sein, keinen Keil in die Aufklärungsarbeit zu treiben, so als wolle die eine Seite mehr aufklären und die andere vertuschen ({5}) oder als wolle die eine Seite Akten vernichten und die andere Seite Akten aufdecken. Das ist nicht das Thema. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben wirklich ein Problem beim Thema der Aufklärung im Bereich eines Nachrichtendienstes. Es kann nicht alles in die Öffentlichkeit gezogen werden, es gibt zwei Ausnahmen: Erste Ausnahme. Es gibt einen Informanten des Nachrichtendienstes, der noch lebt. Der muss natürlich geschützt werden. Diese Akten können nicht aufgedeckt werden. Zweite Ausnahme: Akten, die auch mit Informationen von westlichen oder anderen Geheimdiensten bestückt sind. Wir dürfen zum Schutz der Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten diese Akten nicht ohne deren Zustimmung aufdecken. Ich bitte, dies zu respektieren und damit nicht wiederum eine Unterstellung zu verknüpfen, als gäbe es Kräfte, die an einer wahren, kompletten Aufdeckung kein Interesse haben; das ist bei keiner Partei der Fall. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Uhl - Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten, unsere Kollegin Gabriele Fograscher. Bitte schön, Frau Kollegin Fograscher.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich will mich auf die bewegende Rede von Marcel Reich-Ranicki beziehen. Ich glaube, nur Zeitzeugen gelingt es mit ihren authentischen Schilderungen, das Ausmaß der Grausamkeit und der Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes zu vermitteln. Angesichts des Grauens, das einen bei diesen Schilderungen erfasst, fällt es schwer, jedenfalls mir, zur Tagesordnung überzugehen. Herr Ströbele, auch Sie haben heute hier am Pult gestanden; Sie sind Zeitzeuge für die Zeit nach dem Nationalsozialismus. Auch das fand ich lehrreich und bewegend. Wir müssen uns leider nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit aktuellem Rechtsextremismus beschäftigen. Wir haben gestern einstimmig den Untersuchungsausschuss eingesetzt. Dieser Ausschuss soll klären, wie die rechtsterroristische Zwickauer Zelle, angetrieben von Ausländerhass und brauner Ideologie, über zehn Jahre hinweg unentdeckt morden und rauben konnte. Ich will den Blick auf den Bericht des Expertenkreises lenken, der sich mit Antisemitismus in Deutschland beschäftigt und Anfang der Woche seinen Bericht vorgestellt hat, mit dem beunruhigenden Ergebnis, dass es in Deutschland nach wie vor eine konstante Zahl von Menschen mit antisemitischen Einstellungen gibt. Der Bundestagspräsident hat heute Morgen darauf hingewiesen: 20 Prozent der Menschen in Deutschland haben antisemitische Einstellungen; das sind 20 Prozent zu viel. Das sehen wir genauso. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Geschichte lässt uns nicht los und darf uns nicht loslassen. Wir brauchen die historische Aufarbeitung, um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Anstand, Moral, Werte und Menschlichkeit so vollständig zusammenbrachen. Die Aufarbeitung und Aufklärung müssen weitergehen, und das so transparent wie möglich. Diese Aufarbeitung wird beim Bundesnachrichtendienst, in den Ministerien und den Behörden geleistet. Viele Behörden haben unabhängige Historikerkommissionen eingesetzt, so auch der BND. Einige Ergebnisse liegen bereits vor; sie wurden auch veröffentlicht. Die historische Aufklärung beginnt spät - zu spät -, und es werden Fehler gemacht. Herr Korte, Sie haben die Akten angesprochen, die im Jahre 2007 vernichtet wurden. Es handelte sich in der Tat um Personalakten von Menschen, die während der NS-Zeit bei SS oder Gestapo waren. Dieser Vorgang muss aufgeklärt werden. Es gibt Bemühungen, diese Akten weitgehend zu rekonstruieren. Ob jemand politisch Verantwortung dafür trägt und, wenn ja, wer, auch das muss geklärt werden. Aus der Aufklärung, aus dem Wissen um Vertuschung und personelle Kontinuität in der jungen Bundesrepublik müssen wir aber auch Konsequenzen ziehen; wir müssen Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie muss gelernt, erfahren und gelehrt werden; sie muss täglich verteidigt werden. Deshalb brauchen wir eine nachhaltige Finanzierung von wirksamen Programmen und eine Unterstützung von Initiativen, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Insofern ist es nach wie vor das falsche Signal, wenn Frau Schröder von diesen Initiativen eine Demokratieerklärung erwartet. ({1}) Es ist Zeit, dass Frau Schröder diese Klausel streicht. Der Expertenkreis zum Thema Antisemitismus muss seine Arbeit fortsetzen können. Er muss zum Beispiel der Frage nachgehen, wie antisemitische Einstellungen weitergegeben und tradiert werden und mit welchen wirksamen Maßnahmen dem entgegengewirkt werden kann. Der Untersuchungsausschuss und die Bund-LänderExpertenkommission müssen das Versagen der Sicherheitsbehörden beim Erkennen rechter Gewalt aufarbeiten und konkrete Vorschläge unterbreiten, damit solche Pannen nicht mehr passieren können. Wir brauchen eine Strategie in Politik, Institutionen und Gesellschaft, um Demokratie zu stärken, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Vorurteile zurückzudrängen. Demokratie kann nicht verordnet werden. Sie kann nicht an Politik und Politiker delegiert werden. Aber Politik kann dazu beitragen, Demokratie und Toleranz zu fördern, zu festigen und zu verankern. ({2}) Daran sollten wir als Demokratinnen und Demokraten arbeiten. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Behörden der jungen Bundesrepublik Deutschland wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass sich Geschichte nie wiederholt. Danke sehr. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Fograscher. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Patrick Kurth. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die DDR war stets bestrebt, die Bundesrepublik als Fortsetzung des Dritten Reiches, nur eben unter anderem Namen, darzustellen. Wir sollten alle gemeinsam dem Versuch widerstehen, angesichts der Fehler der Bundesrepublik am Anfang, auch bei der Fortsetzung von perPatrick Kurth ({0}) sonellen Kontinuitäten, ein ähnliches Denken anzuwenden oder zumindest zu konstruieren, wie das die DDR mit der Bundesrepublik gemacht hat. Die Bundesrepublik ist besonders heute aufgeräumt, sie ist gesund, eine gesunde Gesellschaft. Sie stellt sich glaubwürdig und verantwortungsvoll ihrer Geschichte. Aus dieser Glaubwürdigkeit heraus, aus der Kraft, die wir entwickeln können, können wir zur Aufarbeitung schreiten. ({1}) Aufarbeitung ist wichtig. Das tun wir, um verstehen zu können. Lieber Herr Korte, ich würde mir wünschen, dass Sie beispielsweise beim Thema Staatssicherheit - bei dem wir uns auch in der Aufarbeitung befinden genau die Maßstäbe anlegen, die Sie bei der Aufarbeitung der frühen Bundesrepublik anlegen. Das wäre wirklich hilfreich, auch bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur. ({2}) Die Aufarbeitung in den Bundesbehörden ist in den letzten zehn Jahren gut fortgeschritten. Herr Korte, ich habe übrigens noch einmal nachgeschaut: Am 26. Oktober 1953 lud die DDR-Staats- und Parteiführung zu einem offiziellen Empfang ein. Empfangen wurde der Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, Führer der 6. Armee in Stalingrad. Er war Leiter des Kriegsgeschichtlichen Forschungsrates der Hochschule der Kasernierten Volkspolizei. ({3}) Was nützt es uns denn, wenn wir uns gegenseitig Biografien vorwerfen, für die Sie nichts können und für die wir nichts können? ({4}) Wir müssen den Gesamtzusammenhang erkennen. Wir müssen die gesamte Geschichte verstehen können. Darum geht es bei der Aufarbeitung. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Patrick Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen von Notz?

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit einer Zwischenfrage. - Gerade weil ich Ihren letzten Satz teile, dass man nicht beginnen sollte, dem verflossenen DDR-Regime die Versäumnisse der Vergangenheit vorzurechnen, würde ich Sie doch bitten, mir zu erläutern, was das Versagen Ostdeutschlands bei der Aufarbeitung der NS-Geschichte eigentlich mit unserem heutigen Thema zu tun hat. Denn es geht gerade am heutigen Tag darum, dass wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen. Ich finde, so wie der umgekehrte Versuch nicht legitim ist, kann man nicht versuchen, die Versäumnisse unserer Geschichte an der DDR sozusagen gerechtzustoßen. ({0}) Deswegen würde ich Sie bitten, Bezug auf die Versäumnisse Westdeutschlands zu nehmen.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr von Notz, wir haben hier oft über Staatssicherheit, SED und Aufarbeitung gesprochen. Wir gehen da sehr tief. Wir machen Gesetze dazu. Wir geben auch sehr viel Geld für diese Aufarbeitung aus. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir jetzt ein System bewerten und darüber richten, das vom eigenen Volk gestürzt worden ist. Es muss vielmehr der Eindruck entstehen, dass wir, gerade auch hier im Deutschen Bundestag, Aufarbeitung und Aufklärung des Beginns der Bundesrepublik leisten. Wir haben hier zwei ganz interessante Fälle: Die Bundesrepublik ist genauso wie die DDR aus einer Katastrophe entstanden, und es musste zu Beginn reorganisiert werden. Dazu brauchte man Ende der 40er- und Anfang der 50er-Jahre Handlungsfähigkeit in der Verwaltung und im politischen Betrieb. So ähnlich war es ja auch nach dem Untergang der Deutschen Demokratischen Republik. Auch da brauchte man Handlungsfähigkeit in der politischen Verwaltung und im politischen Betrieb. ({0}) Wir können daraus lernen, wie man mit einem Transformationsprozess umgehen kann, und können uns miteinander bemühen, zu verstehen, was man in einer solchen Situation machen kann. Deshalb glaube ich - da sind wir uns ja doch sehr einig -, dass bei der Aufarbeitung der Geschichte der frühen Bundesrepublik die DDR eine Rolle spielen muss. Selbstverständlich! Es ist ein gesamtes Deutschland. Somit müssen wir sowohl über die Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik wie auch über die Verwaltung der Bundesrepublik sprechen können. ({1}) Wir arbeiten auf. Wir arbeiten die Stasiakten genauso auf, wie wir es mit den BND-Akten machen, ({2}) mit den Akten des Auswärtigen Amtes. So hat das Bundesministerium der Justiz jetzt eine Kommission einberufen. Es gibt verschiedene Kommissionen. Das alles ist auch nicht erst in den letzten Jahren geschehen, sondern schon viel früher hat das Auswärtige Amt darauf hinge18732 Patrick Kurth ({3}) wiesen, dass es eben nicht Hort des Widerstandes gegen den nationalsozialistischen Ungeist war. ({4}) Minister Genscher hat das Haus veranlasst, mit diesem Mythos aufzuräumen. Ich finde es richtig und gut, dass wir in unserer aufgeklärten Gesellschaft auch die Kraft haben, aufzuräumen und uns mit unserer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Nennen Sie mir neben diesem einen Fall, CIA, einen anderen Geheimdienst, ob in den USA, in Paris oder in Moskau, der mit seiner eigenen Geschichte so aufräumt und Historikern Zugang zu seinen eigenen Akten verschafft! ({5}) Das Entscheidende ist doch, Herr von Notz: Wir haben die Kraft dazu. Das ist auch beispielgebend für die Entwicklungen in Nordafrika und im Nahen Osten. Dort entstehen aus diktatorischen Systemen möglicherweise Demokratien. Wir haben Kraft und Kompetenz, dort unsere Erfahrungen einzubringen und darzustellen, wie wir es hier gemacht haben. Damit können wir den Leuten dort anbieten, auch unsere Erfahrungen zur Aufarbeitung dieser Systeme einzubringen. Ich könnte hier noch stundenlang weiterreden, aber ich möchte nicht, dass Sie jetzt noch länger hier stehen müssen, Herr Kollege. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Der Präsident würde ansonsten dafür sorgen, dass dieses nicht stundenlang erfolgt. Sie haben aber noch Redezeit. - Bitte schön.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, ich schließe daran an: Wir wollen - das ist das Entscheidende bei der ganzen Aktenaufarbeitung - verstehen, welche Rolle die Funktionsträger beim Übergang gespielt haben. Wir wollen über die Hintergründe Bescheid wissen. Waren es alte NS-Seilschaften? Diese Vermutung liegt nahe. Wir wollen verstehen, wie diese Transformation von einem staatsterroristischen System zu einem demokratischen System vonstattenging. Der wichtigste Grund - darauf habe ich eben schon angespielt - ist: Wir wollen aus diesen Erkenntnissen für die Zukunft lernen. Wir wollen doch verstehen, was los gewesen ist, um es in Zukunft besser zu machen, nicht nur hier in Deutschland oder in Europa, sondern auch zum Beispiel in Nordafrika oder in Myanmar. In diesem ASEAN-Staat passiert im Moment etwas ganz Großartiges. Dort kann man vielleicht unsere Kompetenzen und Erfahrungen gebrauchen. Herr Präsident, ist die Redezeit um?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

In der Tat. So schnell geht das.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So schnell geht das. - Dann werde ich den Rest meiner Rede vielleicht zu Protokoll geben oder Ihnen noch einmal schriftlich übermitteln. Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende. Danke schön. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Letzter Redner in dieser Aussprache ist Kollege Armin Schuster für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Tag zeigt aufs Neue eindrucksvoll: Die deutsche Geschichte stellt uns vor besondere Herausforderungen. Wir haben die fortwährende Pflicht, sie intensiv aufzuarbeiten und uns mit den Erkenntnissen vorbehaltlos auseinanderzusetzen - darüber dürfte im ganzen Haus Konsens bestehen -, und zwar nicht nur, um zu wissen, was war, also nicht nur, um zu historisieren, sondern insbesondere auch, um daraus sogar heute noch für die Zukunft zu lernen. Dieses Anliegen ist mir sehr wichtig. Das gilt auch für die Geschichte der Bundesbehörden. Deshalb stellt sich der Bund - oder sollte ich sagen: „stellen wir uns alle“? - in vielfältiger Art und Weise der Aufgabe, die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Zahlreiche Einrichtungen unterstützen dabei. Das Bundesarchiv in Koblenz stellt zum Beispiel umfangreiche Aktenbestände zur Verfügung, auch große Aktenbestände zum Bundesnachrichtendienst. Zum Wirken des BND gibt es allerdings offene Fragen; sie sind hier schon herausgearbeitet worden. Wir sind uns einig: Sie müssen beantwortet werden. Dazu zählen natürlich auch Anhaltspunkte, dass der BND nicht unwesentlich von Personen aufgebaut wurde, die schon zur NS-Zeit nachrichtendienstliche Aufgaben innehatten. Inwiefern diese personellen Kontinuitäten Einfluss auf die Arbeit des BND in seinen früheren Jahren hatten - wie weit gehen die „früheren Jahre“ eigentlich? -, ist bis heute nicht seriös geklärt. An Mutmaßungen möchte ich mich aber nicht beteiligen. Nachdem eine Initiative des BND 2008 zunächst nicht glückte, geht seit 2011 die schon angesprochene unabhängige Historikerkommission diesen Fragen nach. Trotz aller berechtigten Kritik an der bisher eher schleppend verlaufenden Aufklärung, insbesondere über die Vernichtung eventuell relevanter Akten in jüngerer Zeit - Herr Korte, Sie haben es angesprochen -, gilt es an dieser Stelle zu betonen: Wir sind froh darüber, dass wir jetzt einen gangbaren Weg gefunden haben, diese Fragen zu beantworten: mit anerkannten Wissenschaftlern, mit Armin Schuster ({0}) der notwendigen Ausstattung, aber auch mit der nötigen Rücksicht auf die Arbeitsweise des BND. Ähnliche Projekte gab es bereits zur Geschichte des BKA - was dort gemacht wurde, war sehr eindrucksvoll - und zur Geschichte des Auswärtigen Amtes, damals angestoßen von Joschka Fischer. Das Bundesamt für Verfassungsschutz lässt derzeit ebenfalls die eigene Historie erforschen. Erst vergangene Woche hat auch Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger für ihr Haus eine entsprechende Studie in Auftrag gegeben. In allen Projekten forschten und forschen hochrangige Wissenschaftler, und zwar völlig unabhängig von politischen und inhaltlichen Vorgaben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle in diesem Haus dürfen mit Fug und Recht behaupten, dass die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Bundesbehörden bei der aktuellen Bundesregierung und bei mindestens den beiden Bundesregierungen zuvor eine erkennbar hohe Priorität genossen hat. Das wird auch weiterhin so sein. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Herr Korte jetzt hätte ich fast gesagt: wie mein „Chef“ -, Ihren Antrag zu lesen und mich mit ihm zu beschäftigen. ({1}) Ich zitiere aus Ihrem Antrag: … alle Einschränkungen des freien Zugangs zu den Akten des BND im Zusammenhang mit personellen Kontinuitäten des BND bzw. seiner Vorgängerorganisation zum NS-Regime zu beseitigen und diese Akten insbesondere der Wissenschaft zugänglich zu machen … ({2}) Ich habe mich gefragt, ob Sie mit „insbesondere“ meinen, dass diese Akten praktisch für jedermann frei zugänglich sein sollten. ({3}) Nach Ihrer Rede bin ich mir ganz sicher. Sie haben nämlich gesagt, dass Sie das so wollen. ({4}) An dieser Stelle möchte ich mich ein wenig zum Anwalt des Bundesnachrichtendienstes machen. Eine derart öffentliche Akteneinsicht für jedermann haben wir weder bei der 2005 begonnenen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Auswärtigen Amt noch bei der im Bundeskriminalamt gewährt. Dafür gibt es gute Gründe. Das wollen wir auch beim BND so halten. ({5}) - Dazu komme ich gleich. Der Bundesnachrichtendienst hat sich international ein außergewöhnliches Renommee erarbeitet. Er gilt bei seinen Partnern als hochprofessionell. Gleichzeitig unterliegt er wie kein anderer Nachrichtendienst der Welt der vollen parlamentarischen Kontrolle, insbesondere durch die Arbeit unseres Parlamentarischen Kontrollgremiums. Diese gelungene Transparenz im demokratischen Sinne steht aber immer in einem Spannungsverhältnis zur eigentlichen Aufgabe des Dienstes, nämlich im Ausland sicherheitsrelevante und zumeist geheimhaltungsbedürftige Erkenntnisse für die Bundesrepublik Deutschland zu sammeln. Eine völlige Aktenfreigabe, quasi für jedermann, würde diese wertvolle Arbeit nicht nur die des BND, sondern auch die seiner internationalen Partner - erheblich beeinträchtigen. Dabei ist die hervorragend gelungene Vernetzung des BND nicht nur eines der wichtigsten Instrumente seiner Arbeit, sondern für mich sogar eine Erfolgsgeschichte. Die Balance zwischen demokratischer Transparenz und internationaler Reputation ist beim Bundesnachrichtendienst in einzigartiger Weise gelungen. Darauf dürfen die Mitarbeiter, aber auch wir stolz sein.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Schuster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hans-Christian Ströbele?

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schuster, eine ganz kurze Frage, weil Sie sich dagegen wehren, dass die Akten allgemein zugänglich gemacht werden sollen: Ist Ihnen bekannt, dass die USA die Akten, die NS-Verbrecher, Leute aus der NS-Zeit betreffen, völlig freigegeben haben? Diese Akten können Sie im Internet einsehen. Das heißt, man muss nicht hingehen und fragen, ob man sich ein bestimmtes Blatt ansehen darf, sondern Sie müssen nur die richtigen Knöpfe an Ihrem PC drücken, dann kommen Sie an die Akten. Warum können die USA das, und warum soll Deutschland das nicht können, und zwar bezogen auf eine Zeit, die mehr als 60 Jahre zurückliegt?

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Über die Motivation der USA hat der Kollege Uhl schon etwas gesagt. Ich möchte mich auf das konzentrieren, was in diesen Akten steht. Die Akten, die die Amerikaner veröffentlicht haben, betreffen bestimmte Personen und Falldaten. Eine komplette Öffnung des BNDArchivs für jedermann ({0}) würde bedeuten, dass für jeden offengelegt würde: Wie ist die Arbeitsweise des Nachrichtendienstes? Mit wem ist er vernetzt? Wir wissen heute überhaupt nicht, wie weit diese Frühgeschichte reicht. Armin Schuster ({1}) Ich möchte einer Historikerkommission die Chance geben, zu beurteilen, welche Veröffentlichungen für die aktuelle Arbeit des BND kritisch wären und welche nicht. ({2}) Wenn diese Kommission sagt: Das ist das Datenmaterial, das man unzweifelhaft veröffentlichen kann, ohne die Arbeit des BND zu beeinträchtigen, bin ich damit restlos einverstanden. Ich halte das auch für einen gangbaren Weg. Genau deshalb hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr das Forschungsprojekt so ausgestaltet, dass die notwendige Aufklärung mit der ebenso notwendigen Geheimhaltung mindestens in Teilen der vorliegenden Akten gewährleistet wird. Die Kommission, bestehend aus vier renommierten Wissenschaftlern, sichtet die Akten und wird ihre Erkenntnisse anschließend der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Ich bin froh darüber, dass Ernst Uhrlau damit einen gangbaren Weg der Aufarbeitung eingeschlagen hat. Die für die gegenwärtige Arbeit des BND unverzichtbare Geheimhaltung bleibt weiterhin gewährleistet. Ausreichend Personal, eine ausreichende finanzielle Ausstattung und Zeit sind vorhanden. Die Kommission ist allein wissenschaftlichen Grundsätzen verpflichtet und in der Wahl ihrer Quellen frei. Die Bundesregierung hat den Forschern zugesagt, ihre Ersuchen um Akteneinsicht bei externen Stellen nach Kräften zu unterstützen. Im Interesse der Erforschung seiner Frühgeschichte wurde zudem nunmehr festgelegt, dass keine weiteren für das Projekt relevanten Akten vernichtet werden. Herr Korte, im Gegensatz zu Ihnen möchte ich behaupten, dass es in diesem Hause und in dieser Bundesregierung niemanden gibt - ich beziehe Sie da mit ein -, der die Dreistigkeit gehabt hätte, die Vernichtung von Personalakten, die der BND im November 2011 bestätigt hat, anzuordnen. Entschuldigung, aber mir fehlt wirklich ({3}) die Vorstellungskraft, dass irgendjemand das angeordnet haben könnte. Insofern halte ich Ihren Vorwurf für ziemlich abstrus. ({4}) Wir forcieren den Lernprozess Vergangenheitsbewältigung bei unseren Bundesbehörden. Nicht zuträglich ist für mich allerdings Ihr Lamento über mangelnde Transparenz beim BND. Ihre überzogene Forderung, jedermann in die Akten hineinschauen zu lassen, umzusetzen, hielte ich letztlich für fahrlässig. Wir haben den transparentesten Nachrichtendienst der Welt. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben die Chance, dies im Parlamentarischen Kontrollgremium ständig zu verifizieren. ({5}) Wir sind nach wie vor darauf angewiesen, dass der BND in gewohntem Maße effektive Arbeit leistet und uns bei sicherheitspolitischen Bedrohungen rechtzeitig und angemessen mit Informationen versorgt. Ohne einen gut funktionierenden BND würde Deutschland außenpolitisch quasi ohne Radar fliegen. Deshalb wollen wir eine gleichsam seriöse wie transparente Aufbereitung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/4468, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1556 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- nen. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokra- ten. Die Beschlussempfehlung ist hiermit angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 25 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen- Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ländliche Entwicklung und Ernährungs- sicherheit weltweit verbessern - Drucksachen 17/7185, 17/8430 - Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Heiderich Dr. Christiane Ratjen-Damerau Ute Koczy b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack, Dr. Wilhelm Priesmeier, Lothar Binding ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Spekulation mit agrarischen Rohstoffen verhindern - zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden - zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Mit Essen spielt man nicht - Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen - Drucksachen 17/3413, 17/4533, 17/5934, 17/7414 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Röring Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Kirsten Tackmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Dr. Christiane Ratjen-Damerau. Bitte schön, Frau Kollegin. ({3})

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004204, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Partei! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Ich sammle mich. ({1}) Also: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Iss deinen Teller leer und denk an die hungernden Kinder in Afrika: Ich denke, viele von uns werden sich an diese Worte ihrer Eltern aus der Kindheit erinnern. Doch wie die hungernden Kinder auf dem afrikanischen Kontinent und die nicht leer essen wollenden Kinder in unserer Welt zusammenhängen, haben uns unsere Eltern nicht erklärt. Meist gab es auf Nachfrage eine Begründung, die eher emotional als sachlich war. Und doch gibt es einen Zusammenhang; denn laut Statistik ist noch genug Nahrung für alle da. Warum hungern dann aber 925 Millionen Menschen auf dieser Welt? Eine der Erklärungen ist, dass zu viele Nahrungsmittel verschwendet werden. In der westlichen Welt werden tonnenweise Lebensmittel weggeworfen. Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen, die FAO, hat errechnet, dass nur 60 Prozent der erzeugten Nahrungsmittel tatsächlich von der Weltbevölkerung gegessen werden. Bei einigen Produkten ist die Berechnung der FAO besonders erschreckend. So werden nur 32 Prozent der erzeugten Kartoffeln tatsächlich verspeist. Über zwei Drittel der Ernte geht verloren. In den Entwicklungsländern verdirbt die Ernte oftmals, bevor sie geerntet oder verkauft werden kann. Wichtig sind daher der Aufbau und die Erweiterung der Infrastruktur und der genossenschaftlichen Strukturen in diesen Ländern. Gleichzeitig müssen die Aus- und Weiterbildung lokaler Kleinbauern sowie die praxisbezogene und speziell auf Entwicklungsländer zugeschnittene Agrarforschung intensiviert werden. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass Nahrungsmittel in der westlichen Welt durch Zuschüsse nicht so billig werden, dass sie leichtfertig verschwendet werden. Alle handelsverzerrenden Subventionen in der westlichen Welt müssen daher abgebaut werden. ({2}) Der Schlüssel zur Entwicklung in jedem Land ist die gute Regierungsführung. Die Entwicklungsländer müssen die Verantwortung für die Entwicklung ihrer Länder selbst in die Hand nehmen. Sie müssen ihre staatlichen Strukturen reformieren, sodass Wachstum, Gerechtigkeit, gerade auch der Zugang zu Land und Wasser und der nachhaltige Umgang mit Ressourcen gesichert werden. Wir werden sie dabei unterstützen. Ein weiteres wichtiges Thema sind die Spekulationen mit Agrarrohstoffen an Warenterminbörsen. Spekulationen sind für eine vernünftige Preisbildung wichtig. Daher müssen wir die Anträge der Opposition ablehnen. Allerdings darf der Hunger in der Welt nicht durch Spekulationen verschärft werden. Wir benötigen hier mehr Transparenz, beispielsweise durch eine Verbesserung und Offenlegung der Datenlage auf den Märkten für Agrarderivate. ({3}) Die Bundesregierung hat mit ihrer Politik in den vergangenen zwei Jahren dafür gesorgt, dass der ländliche Raum und seine Entwicklung in den Mittelpunkt der Armuts- und Hungerbekämpfung gerückt sind. Damit ist ein Anfang gemacht. Die in meiner Rede genannten Punkte aus unserem Antrag sind weitere Schritte zur Bekämpfung des Hungers weltweit. Auch wenn wir alle heute Abend unseren Teller leer essen, werden gegenwärtig Kinder in Somalia nicht genug zu essen haben. Aber das Verhalten jedes Einzelnen hat durchaus Auswirkungen, und langfristig werden wir die Weltbevölkerung nur ernähren können, wenn erstens alle Regierungen ihre Verantwortung übernehmen, zweitens die Agrarproduktion gesteigert wird und drittens Ressourcen geschont werden. Herzlichen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Sascha Raabe für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Herr Kollege. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Ich freue mich, dass wir heute noch einmal über das wichtige Thema ländliche Entwicklung im Plenum debattieren können, weil die weltweite Bekämpfung von Hunger und Armut ohne einen großen Fortschritt im ländlichen Raum nicht möglich ist. Wir wissen: Drei Viertel der ärmsten Menschen leben im ländlichen Raum. Wenn wir das Millenniumsziel, bis 2015 die Zahl der Hungernden zu halbieren, erreichen wollen - damit sieht es leider nicht sehr gut aus -, dann müssen wir vor allem für die Menschen im ländlichen Raum etwas tun. Deswegen ist es gut, dass wir uns darüber gemeinsam Gedanken machen. Aber wir haben in der letzten Legislatur in der Großen Koalition bereits einen Antrag vorgelegt, der sehr viel umfassender war als das, was Sie heute präsentieren. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen - nicht, weil wir der Auffassung wären, dass das Thema nicht wichtig ist. Sie schreiben zu Recht in Ihrem Antrag - lieber Kollege Christian Ruck, du wirst dich erinnern, das hatten wir auch in unserem umfassenden gemeinsamen Antrag schon kritisch festgestellt -, dass in den letzten Jahren vonseiten der Geber, aber auch von den Entwicklungsländern selbst die Investitionen in die Landwirtschaft sehr stark zurückgefahren worden sind. Allerdings muss man ehrlicherweise dazusagen, warum das passiert ist. Das hat sehr viel damit zu tun, dass über Jahre durch Überschüsse im landwirtschaftlichen Bereich ein sogenanntes Exportdumping stattgefunden hat. Man hat nämlich die Überschüsse aus den USA, aus Deutschland und aus anderen Ländern in Europa in die Länder Afrikas exportiert und damit die lokalen Märkte zerstört. Ein Bauer, der Milchviehwirtschaft betrieben hat, konnte also seine Milch, die er vielleicht mit zwei oder drei Kühen lokal produziert hat, auf dem Markt nicht verkaufen, weil dort Milchpulver aus Europa, das mit Wasser vermischt wurde, billiger angeboten wurde. Das ist ein ganz irrsinniges System: Auf der einen Seite machen wir Entwicklungszusammenarbeit. Auf der anderen Seite geben wir Steuergelder für Subventionen in der Landwirtschaft aus und reißen mit diesem Agrardumping das ein, was wir mit der Entwicklungszusammenarbeit aufbauen. ({1}) Deswegen hätte es keinen Sinn gemacht, wenn die vorherige Bundesregierung weiter jahrelang Milchviehwirtschaft unterstützt und andere Investitionen in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer großflächig getätigt hätte; denn wir haben erleben müssen, wie viele Kleinbauern und Farmen dort kaputtgegangen sind. Die Geber hätten insgesamt etwas früher umschwenken können; das ist unbestritten. Aber jetzt besteht wieder eine echte Chance, dort zu investieren, weil die Preise für Agrarprodukte in den Entwicklungsländern und weltweit gestiegen sind. Das ist auf der einen Seite ein Problem, gerade für die städtische Bevölkerung in den Entwicklungsländern; auch das darf man nicht unter den Teppich kehren. Aber es ist natürlich eine Chance für all die Kleinbauern und Bauern, die in den Entwicklungsländern produzieren. Jetzt haben sie wieder eine reelle Möglichkeit, ihre Produkte zu guten Preisen zu verkaufen. Deswegen ist es sinnvoll, jetzt mehr Geld zu investieren. Aber wir müssen auch über die Kohärenz reden. In der Vergangenheit hat die Kohärenz, also Stimmigkeit statt eines Widerspruchs zwischen den verschiedenen Politikbereichen, zwischen dem Landwirtschafts- und Handelsbereich und der Entwicklungszusammenarbeit nicht gestimmt. Ich möchte hier kritisch anmerken: Auch jetzt stimmt sie noch nicht. Die Europäische Union wird gemäß ihren Vorstellungen für die Jahre 2014 bis 2020 435 Milliarden Euro in den Agrarsektor pumpen. Davon entfallen nur 150 Millionen Euro auf Agrarexportsubventionen. Wenn Sie sich in Ihrem Antrag vor allem auf die Agrarexportsubventionen konzentrieren - das macht auch die Landwirtschaftsministerin -, dann ist das zu kurz gesprungen. Das sind nur 0,03 Prozent der gesamten Gelder. Natürlich verzerren auch die internen Stützungen die Bedingungen. Deswegen reden Sie einmal mit Ihrer Landwirtschaftsministerin; denn sie versucht gerade, die Gültigkeit der Zuckermarktordnung zu verlängern, die 2015 auslaufen soll. Sie reißt mit ihrem Lobbyismus für ihre Klientel von der CSU in Bayern vieles von dem ein, was wir aufbauen. ({2}) Natürlich braucht man für diese Maßnahmen Geld. Wir brauchen Geld, um Beratungen für Landreformen durchzuführen. Wir müssen des Problems des Land Grabbings Herr werden - auch dieses Thema kommt bei Ihnen zu kurz -: Investoren kaufen riesige Ländereien auf, lassen aber die Erträge nicht der lokalen Bevölkerung zugutekommen, sondern exportieren sie. Notwendig sind Maßnahmen gegen Nahrungsmittelspekulationen. Wer mit dem Hunger in der Welt spekuliert, stellt sich abseits der Menschlichkeit. Dem sollten wir alle gemeinsam die Rote Karte zeigen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Ländliche Entwicklung ist aber ein Thema, das sehr viele Aspekte umfasst. Dazu gehört auch die Bevölkerungsentwicklung. Ich war vor wenigen Wochen in Äthiopien und habe dort sehen müssen, dass selbst in den grünen und fruchtbarsten Landesteilen Äthiopiens, in denen keine Dürre herrscht, durch eine immer größer werdende Bevölkerungszahl die Flächen, die pro Familie bewirtDr. Sascha Raabe schaftet werden können, immer kleiner werden. Es gibt den sogenannten grünen Hunger: Alles sieht grün aus, aber die nächste Ernte folgt erst in einigen Monaten, und die Menschen leiden Hunger. Auch darauf brauchen wir Antworten. Eine Antwort, die wir als Sozialdemokraten geben, ist in Ihrem Antrag nicht enthalten: der Aufbau sozialer Sicherungssysteme. Wir haben mit unserer Arbeitsgruppe - die Kollegin Karin Roth hatte das vorbereitet - erst vor kurzem einen sehr umfassenden Antrag zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme eingebracht. Es ist sehr wichtig, dass wir auch Menschen in der Landwirtschaft, die kein Einkommen haben, beraten und auch Staaten beraten, wie sie Familien Hilfe geben können. In Brasilien läuft das sehr gut mit dem Null-Hunger-Programm. Andere Länder machen das auch. Zum Teil ist die Hilfe an den Schulbesuch der Kinder gekoppelt: Einen Teil des Geldes gibt es nur dann, wenn die Kinder zur Schule gehen. So etwas brauchen wir. Wenn wir die vielfältigen Maßnahmen von der Bildung bis zur Gesundheit umsetzen wollen - dazu stehen auch viele richtige Punkte im Antrag -, dann brauchen wir Geld. Sie schreiben in Ihrem Antrag stolz, dass die Bundesrepublik Deutschland viel Geld für diesen Sektor ausgibt. Dagegen habe ich keine Einwände. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Mittel für den Gesamttopf erhöht werden. Wenn Sie in diesem Jahr nur mit ganz kümmerlichen Beträgen die Entwicklungsausgaben steigern und nur einen Bruchteil der von uns im Parlament gemeinsam vereinbarten 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, dann nehmen Sie das Geld in den ebenfalls wichtigen Bereichen Gesundheit und Bildung weg. Deswegen reicht es nicht, wenn Sie mehr Geld für die Landwirtschaft ausgeben wollen. Wir brauchen einen Minister, der auch einmal leidenschaftlich für mehr Geld in seinem Haushalt kämpft, statt nur darum zu kämpfen, mehr Parteifreunde in seinem Ministerium unterzubringen. ({4}) Wir haben einen Minister, der sogar die Finanztransaktionsteuer, ein Instrument, das aus der Entwicklungspolitik stammt, das die Zivilgesellschaft seit Jahren gefordert hat und das jetzt zum Greifen nahe ist, im Kabinett ablehnt, obwohl wir dieses Geld dringend für die Armutsbekämpfung brauchen. Das ist schäbig, Herr Minister Niebel. ({5}) - Das ist nicht falsch. Selbst im Kabinett gibt es damit ein Problem. Frau Merkel kennt das Problem mit ihrem Minister wahrscheinlich besser als ich. Deswegen macht es keinen Sinn, wenn Sie einen schönen Antrag schreiben und hier schöne Worte finden. Wenn Ihnen das Thema wichtig wäre, dann wäre auch zu überlegen gewesen, im Ministerium dafür eine eigene Abteilung zu schaffen. Statt einer Abteilung für Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung wird aber eine Abteilung für Planung und Kommunikation geschaffen. Wie gesagt, Ihr Minister ist stärker mit anderen Dingen beschäftigt als mit der Landwirtschaft, nämlich mit der Vetternwirtschaft. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Danke. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Raabe. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Helmut Heiderich. Bitte schön, Kollege Heiderich. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Es gibt keine Rede von Herrn Dr. Raabe ohne die Aufforderung an den Minister, sofort zurückzutreten. ({0}) Ich glaube, damit wiederholt er sich ein wenig. Er kann dabei nicht ganz verbergen, dass er sich mit dem Inhalt der Anträge relativ wenig beschäftigt. ({1}) Lassen Sie mich an den Anfang meiner Ausführungen ein paar aktuelle Meldungen stellen. China hat 2011 eine landwirtschaftliche Rekordernte eingefahren. Trotzdem hat China noch nie so viel Mais ins eigene Land importiert wie 2011. Auch bei Soja ist China inzwischen mit 60 Prozent der weltweit größte Importeur. Aber auch Deutschland hat einen neuen Rekord erzielt. 2011 wurde von Deutschland erstmals mehr Getreide importiert als exportiert. Warum erwähne ich diese Fakten am Anfang? Ich denke, schon diese wenigen Angaben machen deutlich, dass sich das globale System von Ernährung und landwirtschaftlicher Erzeugung in einem gewaltigen Umbruch befindet. Über Jahrzehnte waren es Agrarüberschüsse der Industriestaaten - Worte wie „Milchseen“ und „Butterberge“ sind vielen sicherlich noch in Erinnerung -, welche in der Entwicklungspolitik eine große Rolle spielten. Vor allem die Verteilung wurde als Mittel gesehen, die Unterernährung zu bekämpfen. Wie oft hat man den Spruch gehört: „Es wird weltweit genug produziert; das Problem ist nur die Verteilung“? Das Ergebnis dieser aus meiner Sicht völlig falschen Strategie müssen wir heute konstatieren. Trotz großer Versprechungen zu Beginn des Millenniums und des Millenniumsziels 1 ist die Zahl der Hungernden, der Unter18738 ernährten und der in Armut Lebenden nicht geringer, sondern eher größer geworden. Wenn wir eine aktuelle Analyse der internationalen Agrarpolitik vornehmen, dann stellen wir fest: Es gibt nichts mehr zu verteilen. Wir brauchen in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung eine Neuausrichtung der politischen Konzepte. Wir müssen erkennen, dass Hunger und Unterernährung gerade dort am größten sind, wo die meisten Kleinbauern leben, und zwar im ländlichen Raum. 70 Prozent der Hungernden sind - so hat die FAO festgestellt - Kleinbauern. Deshalb muss aus meiner Sicht die neue Überschrift einer zukunftsorientierten Ernährungspolitik weltweit lauten: Ernährung aus eigener Kraft ist das Ziel unserer Politik. ({2}) Die notwendige Neuausrichtung ländlicher Entwicklungspolitik hat der Präsident des IFAD, Herr Nwanze, am besten auf den Punkt gebracht, als er uns im Ausschuss besucht hat. Ich zitiere: Man darf Kleinbauern nicht mehr als Charity-Angelegenheit betrachten, sondern als die Menschen, die mit Innovation, Dynamik und harter Arbeit Wohlstand für ihre Kommunen bringen und erheblich zu einer erhöhten Nahrungsmittelsicherheit beitragen. ({3}) Ich glaube, genauer und pointierter kann man es nicht formulieren. Bei rund 500 Millionen Kleinbauern weltweit ist das einerseits eine riesige Herausforderung. Andererseits ist es unumgänglich, dort anzusetzen, wenn wir die Ernährung der Menschheit zukünftig sichern wollen. Zudem weisen alle Fachleute darauf hin, dass investiertes Geld nirgendwo einen so positiven Effekt auf die Minderung von Armut und die Verbesserung der Entwicklung hat wie in der Landwirtschaft. Das heißt ganz klar: Im ländlichen Raum liegt der Schlüssel für den Kampf gegen Armut, Unterentwicklung, Hunger und Mangelernährung. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir im vergangenen Sommer unseren Antrag entwickelt, um auch unsere entwicklungspolitischen Konzepte daraufhin auszurichten. Es ist hilfreich, dass das Ministerium mit der Einrichtung einer Taskforce „Ländliche Entwicklung“ seit Mitte Oktober letzten Jahres diesen Weg begleitet, Herr Dr. Raabe. ({4}) Beim Besuch des FAO-Generalsekretärs Graziano da Silva hat der Minister übrigens ein neues Zehn-PunkteProgramm für ländliche Entwicklung und Ernährungssicherung angekündigt; das ist uns auch heute Morgen zur Kenntnis gebracht worden. Es ist hilfreich, wenn wir als Abgeordnete des Parlaments die Dinge in derselben Richtung gemeinsam fortentwickeln. ({5}) Ebenso hat Agrarministerin Ilse Aigner im Zusammenhang mit der Grünen Woche diese Thematik aufgegriffen und intensiv vorangebracht. Unter der Überschrift „Neue Strategien zur globalen Ernährungssicherung“ haben rund 70 Staaten auf einer internationalen Konferenz hier in Berlin festgehalten, dass die Stärkung von Landwirtschaft und ländlicher Entwicklung das zentrale Element für die Nahrungssicherung und die Armutsbekämpfung bei wachsender Weltbevölkerung ist. Die Beschlüsse der G 20 hinzugenommen, sind wir auf dem richtigen Weg. Auch der neue FAO-Generalsekretär - ich habe ihn eben zitiert - hat in seiner Antrittsrede das Thema Food Security zu seiner Toppriorität gemacht. Insofern befinden wir uns mit unserem Antrag genau im richtigen Umfeld. Was allerdings noch kaum berücksichtigt ist - darauf möchte ich die Kolleginnen und Kollegen hinweisen und auch um Unterstützung bitten -, ist der Einfluss der Klimaveränderung auf diese Thematik. Weder auf der Konferenz in Durban noch im Rahmen des IPCC sind die Intensivierung einer nachhaltigen Landwirtschaft und der Einfluss der Klimaveränderung auf die Nahrungsmittelsicherheit aufgegriffen worden. Ich denke, hier haben wir auch als Parlament die wichtige Aufgabe, diesen Gesichtspunkt aus dem Deutschen Bundestag heraus für die Zukunft weiter zu verstärken. ({6}) Für die Opposition wäre es durchaus sinnvoll, diese Initiativen mitzutragen, anstatt, wie dies mein Vorredner getan hat, krampfhaft im Kleingedruckten Ablehnungsgründe zu suchen. Auch die Bemerkung, Herr Dr. Raabe, dass man im Jahr 2008 einmal einen Antrag eingebracht habe und dass das sozusagen ausreiche, um die Projekte von morgen zu begleiten, halte ich argumentativ für nicht sonderlich überzeugend. ({7}) Wenn Sie es genau wissen wollen: Die Konzepte von gestern sind aus meiner Sicht nicht die richtigen, um die Probleme von morgen zu bekämpfen. Insoweit müssten Sie sich bewegen und auch einmal einen Antrag vorlegen. ({8}) - Ich sage Ihnen auch: Die Qualität des vorliegenden Antrags ist mit Sicherheit so hervorragend, dass es sinnvoll ist, ihn zu unterstützen. ({9}) Aber ich will, weil Sie das ebenfalls aufgegriffen haben, darauf hinweisen, dass wir alle auch darauf achten müssen, dass nicht Egoismen wie Nahrungsmittelspekulation oder Land Grabbing die lokalen Verhältnisse ausnutzen. Deswegen - meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, ich hoffe, Sie können sich erinnern haben wir bereits im April vergangenen Jahres einen Antrag auf den Weg gebracht, und der Deutsche Bundestag hat diesen Antrag bereits am 20. Oktober 2011 beschlosHelmut Heiderich sen. Justament heute Morgen - das wird Ihnen sicherlich auch zugegangen sein - ist uns aus dem Haus ein Papier zugeleitet worden, das die Investitionen in Land und das Phänomen des Land Grabbing aufgreift; das heißt, das Thema wird auch von dieser Seite mit bearbeitet. ({10}) Ich denke, auch hier hinken Sie wieder ein Stück hinter der Entwicklung her. Sie hätten sich ruhig etwas schneller bewegen können. Aber uns dafür zu kritisieren, ist ganz und gar der falsche Ansatz. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei diesem Thema kann man feststellen: Die Zeit drängt, die Fakten entwickeln sich eindeutig. Nur ein Beispiel: Als ich und einige andere Mitglieder dieses Hauses geboren wurden, hatte jeder Mensch weltweit durchschnittlich 5 000 Quadratmeter Fläche für seine Ernährung zur Verfügung. Heute sind davon durchschnittlich noch 2 000 Quadratmeter pro Kopf geblieben. Wenn Sie überlegen, dass in Kürze 2 Milliarden Menschen mehr auf dieser Erde leben werden, dann können Sie sich alle ganz leicht selbst ausrechnen, welche Bedeutung die Ernährungssicherung hat. Die FAO hat kürzlich ganz nüchtern festgestellt: Die landwirtschaftliche Produktion muss sich weltweit um 70 Prozent erhöhen. Ich denke, das ist ein Ziel und eine Aufgabe, die wir auch hier ernsthaft angehen sollten. ({12}) Wir können nur gemeinsam mit unseren Partnerländern Fortschritte erreichen. Wichtig sind weltweit Modernisierung und Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft. Ich will aber auch ausdrücklich sagen: Wir werden diese Ziele nicht erreichen, wenn wir nicht bereit sind, mit der Privatwirtschaft, mit großen Stiftungen und mit internationalen Investoren dafür Sorge zu tragen, dass wir in den unterentwickelten Ländern Wertschöpfungsketten aufbauen, damit wir vom Kleinbauern bis hin zum Supermarkt eine Finanzierungskette erhalten, damit die Landwirte vor Ort Einkommen erzielen und die Ernte nicht zu einem großen Prozentsatz verkommt. Das ist eine weitere Aufgabe, die wir angehen müssen. Insoweit unterscheiden wir uns im Moment noch sehr von der Opposition. ({13}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch zwei Beispiele an das Ende meiner Ausführung stellen, weil ich sie für sehr erfolgreich halte. Das eine sind die Projekte der Afrikanischen Entwicklungsbank, die inzwischen sehr konkret geworden sind und die auch vor Ort fokussiert sind. Ich will nur ein einzelnes Projekt herausnehmen: das sogenannte CAIIPIII-Projekt. Hierbei geht es besonders um die Verbesserung der Infrastruktur und darum, in ländlichen Gebieten Marktplätze aufzubauen, damit die Produkte vor Ort verkauft werden können. Das zweite Beispiel ist die Initiative AGRA, unter dem Vorsitz von Kofi Annan und in Zusammenarbeit mit der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die sich mit dem Seeds Program der Züchtung verbesserten Saatgutes verschrieben hat. Mit unserem Antrag wollen wir die ländliche Entwicklung wieder zu einem Schwerpunkt globaler Zukunftsvorsorge machen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Politik mit Ihrer Arbeit in diesem Hause unterstützen würden. Herzlichen Dank. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Helmut Heiderich. - Jetzt für die Fraktion Die Linke unser Kollege Niema Movassat. Bitte schön, Kollege Movassat. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Essen spielt man nicht - das weiß jedes Kind. Und doch hat gerade die Spekulation mit Nahrungsmitteln in den letzten Jahren enorme Ausmaße erreicht. 2003 betrug das Volumen von Fonds, die im Agrarbereich investierten, gerade einmal 13 Milliarden Dollar. 2008 betrug es schon 318 Milliarden Dollar, Tendenz weiter steigend. Nach dem Platzen der US-Immobilienblase suchten sich Hedgefonds und Banken eine neue Spielwiese. Sie fingen an, mit Nahrungsmitteln zu zocken. Sie treiben damit die Preise künstlich hoch. Für die Banken und Hedgefonds bedeutet das bis heute klingelnde Kassen, für Millionen von Menschen auf der Welt Hunger und Tod. Deshalb sagen wir als Linke in unserem Antrag, dass Nahrungsmittelspekulationen endlich unterbunden werden müssen. ({0}) Oft wird behauptet, es gebe zu wenig Nahrungsmittel, um die 7 Milliarden Menschen auf der Welt zu ernähren. Das ist schlichtweg gelogen. Die Wahrheit ist: Nahrung wird ausreichend produziert. Viele Hungernde können sich die Lebensmittel schlichtweg nicht mehr leisten; denn die Zockerei mit Nahrungsmitteln hat erheblich dazu beigetragen, dass die Preise für Getreide, Mais oder Reis seit 2007 zwischen 100 Prozent und 300 Prozent gestiegen sind. Die Menschen in den ärmsten Ländern wie Bangladesch oder Burkina Faso geben 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Für sie bedeuten hohe Preise einen täglichen Kampf ums Überleben. Wenn wir also nicht weiter zulassen wollen, dass wie bisher alle sechs Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, dann müssen wir Nahrungsspekulationen mit aller Kraft bekämpfen. ({1}) SPD und Grüne haben heute ebenfalls Anträge zu diesem wichtigen Thema vorgelegt. Wir finden ihre For18740 derungen nicht weitreichend genug, um Spekulationen effektiv zu begegnen, auch wenn viele wichtige Punkte in ihren Anträgen enthalten sind. So fehlt beispielsweise die Forderung nach einer Transaktionsteuer im Kampf gegen Nahrungsmittelspekulationen. Auch die Koalition weist in ihrem Antrag darauf hin, dass Land Grabbing und Nahrungsmittelspekulation die Ernährungssituation im Süden gefährden. Aber dann lassen Sie Ihren Worten doch endlich einmal Taten folgen! Denn bisher tut diese Regierung nichts gegen Nahrungsmittelspekulationen. Sie legt keine Gesetzentwürfe vor, schafft keine Restriktionen, nicht einmal für Transparenz sorgt sie. So bleiben die schmutzigen Geschäfte weiter geheim. Da sind selbst die USA mit einem Transparenzgesetz weiter. Hierzulande ist die Deutsche Bank massiv in das Geschäft mit dem Hunger verstrickt. Sie ist einer der Hauptprofiteure der Spekulation mit Nahrungsmitteln. Sie gehört zu den Top Ten im globalen Rohstoffinvestmentbusiness. Sie ist im Agrarbereich mit Investitionen von fast 5 Milliarden US-Dollar weltweit die Nummer eins. Das ist ein Rekord der Schande. Das stört diese Bundesregierung nicht. Sie arbeitet prima mit der Deutschen Bank zusammen. So ist die Deutsche Bank mit 20 Millionen Euro Hauptinvestor des neuen AfrikaFonds zur Förderung von Handel und Landwirtschaft in Afrika, gemeinsam mit Herrn Niebels Entwicklungsministerium und der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Sie ist für das Management dieses Fonds zuständig, und zwar mit einer klaren risikoorientierten Gewinnerwartung. Diese laut Bundesminister Niebel „neue deutsche Entwicklungspolitik“ hört sich angesichts der Verstrickungen der Deutschen Bank in den Bereichen Land Grabbing und Nahrungsmittelspekulation wie ein schlechter Krimi an. ({2}) In Anbetracht der Hungerbilder aus Ostafrika oder der Hungerwarnungen aus Westafrika ist klar: Die neue deutsche Entwicklungspolitik muss umgehend beendet werden. ({3}) Notwendig ist eine Entwicklungspolitik, die den Fokus auf die Entwicklung ländlicher Räume gemäß den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung legt und nicht auf die Interessen deutscher Konzerne. Notwendig ist eine Entwicklungspolitik, die keine gemeinsame Sache mit der Deutschen Bank macht. Stattdessen muss der Preistreiberei durch die Nahrungsmittelzockerei der Kampf angesagt werden. Danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Niema Movassat. - Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kollege Friedrich Ostendorff. Bitte schön, Kollege Ostendorff.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU und der FDP, ob Sie angesichts der Günstlingswirtschaft von Minister Niebel vorhaben, Ihren Antrag aufrechtzuerhalten, oder ob Sie nicht erst einmal die Passagen zur guten Regierungsführung schwärzen wollen. ({0}) Wir hätten dafür volles Verständnis. Aber nicht nur mit dieser peinlichen und möglicherweise rechtswidrigen Vetternversorgungswirtschaft von Herrn Niebel katapultieren Sie sich und Deutschland aus dem Konsens der internationalen Gemeinschaft heraus. Auch Ihr Grundverständnis von landwirtschaftlicher Entwicklung ist rückständig und nicht auf der Höhe der Zeit. Sie preisen in Ihrem Antrag das Prinzip der grünen Revolution. Was ist denn das Prinzip der grünen Revolution? Es war der Export der energie- und kapitalintensiven, inputbasierten und chemiegestützten Landwirtschaft. Dieses Modell der Landwirtschaft besteht in einer völligen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, insbesondere für die Herstellung von Mineraldünger und Agrarchemie. Dieses Modell ist mitverantwortlich für den erheblichen Beitrag der Landwirtschaft zum Klimawandel. Dieses Modell ist mitverantwortlich für die Degradation landwirtschaftlicher Böden und für die Verdrängung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in den Entwicklungsländern. ({1}) Kollege Heiderich bezog sich auf das FAO-Strategiepapier „Save and grow“. Leider hat er es nicht vollständig gelesen. Weiter heißt es darin, Herr Heiderich: Das derzeitige Paradigma der intensiven Pflanzenproduktion wird den Herausforderungen des neuen Jahrtausends nicht gerecht. Wie wahr! ({2}) In dem aktuellen Papier zur Niedrigenergielandwirtschaft schreibt die FAO: Die internationale Gemeinschaft ist zunehmend besorgt über die große Abhängigkeit der weltweiten Lebensmittelproduktion von fossilen Brennstoffen. Auch das begrüßen wir. Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Modell ist überholt und wird auch nicht durch noch so viel warme Prosa besser. ({3}) Wenn es Ihnen ernst ist mit Ernährungssicherheit, ländlicher Entwicklung, Kleinbauernförderung, aber auch Frauen in verantwortlichen Positionen in der LandwirtFriedrich Ostendorff schaft, warum unterzeichnen Sie dann nicht einfach endlich den Weltagrarbericht? ({4}) Darin steht das doch alles sehr viel schlüssiger als in Ihrem Antrag. Aber Sie verfolgen eben nicht das Modell der 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an dem Weltagrarbericht mitgearbeitet haben, sondern Sie wollen die zweite grüne Revolution. Da steht die Agrogentechnik natürlich ganz vorn. Das ist so, auch wenn Sie, Herr Heiderich, sich nicht trauen, das in Ihrem Antrag so explizit zu benennen. Um Agrogentechnik geht es Ihnen doch und um sonst nichts. Ich denke, wir können die wohlfeilen Worte Ihres Antrages getrost beiseitelegen und uns dem zuwenden, was auch Sie erwähnten, Herr Heiderich: einem gestern erschienenen, weit aussagekräftigeren Dokument. Es ist ein offenes Geheimnis, dass im BMELV nicht Frau Aigner, sondern der Deutsche Bauernverband regiert. ({5}) Es bedurfte aber erst der Dreistigkeit von Minister Niebel, gemeinsam mit der Agrarlobby eine Presseerklärung zu verfassen und zu zeigen, dass man in der Koalition nicht einmal mehr versucht, den Anschein einer industrieunabhängigen Politik zu erwecken. Diese Kooperation zeigt doch nur einmal mehr, wohin die Reise gehen soll: Das industrielle Agrarmodell, das uns in Deutschland Massentierhaltung und Agrarwüsten beschert hat, soll exportiert werden. ({6}) Bisher galt dies zum Beispiel für überschüssige Hühnchenteile aus deutscher Massentierhaltung. Jetzt soll es gleich das ganze System sein, das Sie exportieren wollen. Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist keine technologische, sondern eine ökologische Intensivierung. ({7}) Wir müssen endlich die Wende hin zu einer sonnenbasierten, bäuerlichen Landwirtschaft schaffen. Wir brauchen die Agrarwende, und zwar weltweit. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Edmund Geisen. Bitte schön, Kollege Dr. Geisen. ({0})

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was Herr Movassat in Bezug auf die Deutsche Bank und die KfW gesagt hat, entbehrt jeder Grundlage und ist strikt zurückzuweisen. ({0}) Vieles von dem, was Sie, Herr Movassat und Herr Ostendorff gesagt haben, entbehrt jeder fachlichen Grundlage. Darüber müsste man sehr lange diskutieren können; dafür sind drei Minuten natürlich zu wenig. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie haben jetzt die Chance, eine Zwischenfrage des Kollegen Movassat zuzulassen. Wollen Sie sie zulassen?

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Okay.

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir von der FDP-Fraktion sind der vollen Überzeugung: Wer die Welternährung sichern will, muss neue Wege gehen. Die Entwicklungsstrategien der vergangenen Jahrzehnte haben, gelinde ausgedrückt, wenige Erfolge gezeigt. ({0}) Wir müssen vor allem die Investitionen in die ländliche Infrastruktur und in die Entwicklung ländlicher Räume stärken. Die FDP-Fraktion begrüßt deshalb sehr, dass Herr Minister Niebel einen neuen Weg bei der Entwicklungspolitik, bei der Entwicklungsarbeit eingeschlagen hat. ({1}) Herr Raabe und Herr Ostendorff, im Hinblick auf das, was Sie in diesem Zusammenhang über die Person Niebel und sein Ministerium gesagt haben, kann ich Ihnen nur vorschlagen: Lassen Sie in allen deutschen Ministerien, auch in den Länderministerien, einmal feststellen, wie viele Mitglieder Ihrer Parteien, Ihrer Farbe dort tätig sind. Da werden Sie sich wundern. ({2}) - Ich kenne mich auch aus. Die Agrarminister aus über 60 Staaten der Welt haben sich hier in Berlin zur Grünen Woche getroffen. Sie alle sehen in der Landwirtschaft das zentrale Element der Ernährungssicherung und der Armutsbekämpfung. Das ist unumstritten. Meine Damen und Herren, welchen Beitrag können wir Agrarpolitiker also leisten? Die FDP-Fraktion hat hierzu letzten Sommer ein umfangreiches Positionspapier vorgelegt. Wir sind, kurz gefasst, überzeugt davon, dass der Bauer vor Ort im Fokus der Bemühungen stehen muss. Seine Besitz- und Nutzungsrechte, seine Betriebsmittel und sein Know-how gilt es zu stärken. ({3}) Dabei können wir mit unserem Wissen unterstützend tätig werden. Insbesondere in Afrika können die bestehenden Reserven schon durch eine produktivere Landwirtschaft vervierfacht werden. Beispiele wurden bereits genannt. Das Ertragspotenzial von Äthiopien und Simbabwe etwa reicht aus, um den gesamten Kontinent zu versorgen. ({4}) Gleichzeitig dürfen wir die Märkte natürlich nicht mit Billigwaren überschwemmen; das ist richtig. Deshalb freuen wir uns auch, dass sich Ministerin Aigner unserer FDP-Forderung angeschlossen hat, die EU-Exporterstattungen komplett und bedingungslos zu streichen. ({5}) Verehrter Herr Raabe, die EU-Zuckermarktordnung stört die Drittlandsmärkte zurzeit überhaupt nicht. Es besteht vielmehr schon das Problem, dass wir in Deutschland, in Polen und den anderen europäischen Ländern mittlerweile einen großen Zuckermangel haben. Meine Damen und Herren, es kann also nicht das Ziel sein, ganz ohne Märkte und ganz ohne Warenbörsen auskommen zu wollen. Gerade das hat in der Vergangenheit doch die Entwicklung hin zum Besseren verhindert. Unsere Devise lautet: Klare Rahmenbedingungen und mehr Transparenz sowie heimische Märkte mit einem Zugang zu den internationalen Märkten. Ich danke Ihnen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Ländliche Entwicklung und Ernährungssicherheit weltweit verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8430, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7185 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/7414. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3413 mit dem Titel „Spekulation mit agrarischen Rohstoffen verhindern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf - ({0}) - Entschuldigung. - Sehr schön, dass Sie so aufmerksam sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, und uns hier vor einem großen Fehler bewahren. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4533 mit dem Titel „Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5934 mit dem Titel „Mit Essen spielt man nicht Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Schmidt ({1}), Doris Barnett, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kultur für alle - Für einen gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation - Drucksache 17/8485 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Schmidt für die SPD-Fraktion. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klartext reden ist etwas, was wir Politiker sehr gern tun. Trotzdem wissen wir, dass wir es oft mit Sachverhalten zu tun haben, die so einfach nicht zu erklären sind. Ich weiß noch, auf wie vielen Veranstaltungen ich das Wort „morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich“ erklären musste. ({0}) Denn dieser Begriff spielt im Gesundheitswesen eine ganz wichtige Rolle. Wenn wir heute über Barrierefreiheit im Kulturbereich reden, dann müssen wir uns vergewissern, dass man bei Barrierefreiheit nicht nur an Rollstuhlrampen, an die Absenkung der Bordsteine oder an die Gebärdensprache denkt, sondern dass wir auch berücksichtigen, dass oft allein die Sprache als solche, die ein zentraler Bestandteil der kulturellen Teilhabe ist, Barriere sein kann, und zwar nicht nur für Menschen, die Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten haben. Das ist für viele so. Deswegen haben wir als SPD-Fraktion gesagt: Da wir über Barrierefreiheit reden, da wir über den Zugang zu Kultur und Sprache reden, wollen wir einmal einen Antrag in Leichter Sprache einbringen, so wie sie Menschen mit Behinderungen entwickelt haben, damit sie wirklich teilhaben können. ({1}) Ich möchte mich beim Ältestenrat des Bundestages bedanken, der es ermöglicht hat, dass wir heute diesen Antrag in Leichter Sprache in den Bundestag einbringen können. Ich hoffe sehr, dass dies nicht ein Einzelfall sein wird. In vielen Gesprächen mit Menschen mit Behinderungen und ihren Verbänden im Vorfeld, während der Diskussion und Entwicklung unseres Antrages haben wir viel Zuspruch dafür erhalten, einen Antrag in Leichter Sprache zu verfassen, aber auch zu den Inhalten, die darin enthalten sind. Wir alle wissen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention ausdrücklich darauf hinweist, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilnehmen sollen. Der Gesetzgeber soll es ermöglichen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu kulturellen Gütern haben, zu Orten der kulturellen Darbietungen, zu Tourismusdiensten und auch zu unseren Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung. Wir wissen, dass wir dazu entsprechende Veränderungen vornehmen müssen. In Leichter Sprache heißt das: Alle Menschen sollen überall mitmachen können, und alle Kulturangebote sind auch für Menschen mit Behinderungen wichtig. Aber dazu braucht man barrierefreie Angebote. Auch Menschen mit Behinderungen wollen Wahlmöglichkeiten haben. Sie wollen selbst entscheiden können, wie sie ihre Freizeit verbringen. Das muss die Grundlage sein für sämtliche Veränderungen. In unserem Antrag haben wir dazu konkrete Forderungen auf den Weg gebracht: Bei Ausschreibungen oder bei Förderprogrammen sollten barrierefreie Zugänge verpflichtend werden. Dort, wo der Staat Fördermittel zur Verfügung stellt, wollen wir Barrierefreiheit einfordern. ({2}) Öffentliche Fernsehanstalten und Rundfunkanstalten sollen verpflichtet werden, Barrierefreiheit zu verwirklichen. Kultur- und Medienunternehmer sollen verpflichtet werden, mehr barrierefreie Zugänge zu schaffen. Außerdem wollen wir dafür sorgen, dass bei den Bildungsangeboten, auch zur Medienkompetenz, auf die Belange von behinderten Menschen Rücksicht genommen wird; das heißt, auch diese Angebote müssen in Leichter Sprache gestaltet werden. Dafür müssen Menschen mit Behinderungen die Unterstützung und Hilfe bekommen, die sie brauchen. Das ist unser gemeinsames Ziel. ({3}) Das sind konkrete Forderungen. In allen Gesprächen wurde deutlich: Die Zeit ist vorbei, in der wir uns nur darüber unterhalten, was wir eventuell tun können. Vielmehr ist die Zeit gekommen, im Deutschen Bundestag verbindliche Gesetze zu beschließen. Wir als Gesetzgeber sind die Einzigen, die den behinderten Menschen ihr Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben garantieren und durch gesetzliche Rahmenbedingungen sicherstellen können. ({4}) Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nur ein Mal einen solchen Antrag einbringen, reicht das gerade einmal für eine öffentliche Debatte. Gerade wir, die wir im Ausschuss für Kultur und Medien sitzen und die wir Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben umsetzen wollen, sollten uns darüber unterhalten, wie wir als Deutscher Bundestag sicherstellen, dass auch Menschen mit Behinderungen am politischen Geschehen teilhaben können; denn auch Menschen mit geistiger Behinderung haben ein Wahlrecht, und sie sind an politischen Diskussionen interessiert. Wir müssen uns überlegen, ob wir uns als Deutscher Bundestag selbst verpflichten, die wichtigsten Debatten Ulla Schmidt ({5}) und die wichtigsten Entscheidungen - vor allem die, die behinderte Menschen betreffen - in unseren Publikationen auch immer in Leichte Sprache zu übersetzen. Das müssen nicht alle Publikationen sein; aber wir sollten damit beginnen. Darüber habe ich mit einigen Kolleginnen und Kollegen geredet, die das ebenso sehen. Ich würde mich freuen, wenn wir uns nach dieser Debatte, auch im Rahmen der Beratungen in den Ausschüssen, auf Folgendes einigen könnten: Die Berichterstatter im Kulturausschuss setzen sich einmal zusammen und versuchen, über alle Fraktionen hinweg einen Weg zu einer Selbstverpflichtung des Deutschen Bundestages zu finden, seine Publikationen so auf den Weg zu bringen, dass alle Menschen verstehen können, worüber wir eigentlich diskutieren. Das betrifft nicht nur geistig behinderte Menschen oder Menschen mit Lernschwächen; das gilt auch für ältere Bürgerinnen und Bürger oder Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen und die vielleicht gerade erst die deutsche Sprache lernen. Das wäre dann ein Gewinn für alle. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marco Wanderwitz für die Unionsfraktion. ({0})

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als jeder zehnte Bürger in unserem Land muss seinen Alltag mit einer Behinderung oder mehreren Behinderungen bewältigen. Jeder einzelne von den beispielsweise über 1 Million Blinden und Sehbehinderten hat selbstverständlich das Recht auf gleichberechtigte inklusive Teilnahme an allen Bereichen unserer Gesellschaft. Die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen ist schon von Ihnen, Frau Kollegin Schmidt, angesprochen worden. Daran müssen sich alle Entscheidungen, die wir hier im Haus, aber auch auf den nachgeordneten politischen Ebenen in unserem Land treffen, messen lassen. Die Bundesregierung hat dazu im Juni 2011 ein umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht: Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet über 200 Vorhaben, Projekte und Aktionen. Es handelt sich um ein Maßnahmenpaket, das vor allen Dingen darauf abzielt, bestehende Lücken zwischen dem Gesetz auf der einen Seite und der praktischen Umsetzung auf der anderen Seite zu schließen und aufzuzeigen, wo es im gesetzgeberischen Bereich Defizite gibt. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass wir diese Lücken lieber heute als morgen schließen würden. Gleichwohl zeigen schon allein die von mir erwähnten über 200 einzelnen Maßnahmen, dass wir noch ein ganzes Stück Weg vor uns haben. ({0}) Wir dürfen natürlich auch nicht die Augen davor verschließen, dass wir es bei einer ganzen Zahl dieser Maßnahmen mit nicht unerheblichen Kosten zu tun haben. ({1}) - Hören Sie zu. Dann können wir hinterher weiterreden. Nur um ein Beispiel vorab aufzugreifen: Es ist für jeden Laien erkennbar, dass die Schaffung von Barrierefreiheit in Gebäuden mit Ausgaben verbunden ist. ({2}) - Ich will mit Ihnen keinen Dialog führen. Führen Sie Ihren Monolog weiter; ich beabsichtige, meine Rede zu halten. ({3}) Wir müssen natürlich schrittweise vorgehen, ganz einfach deshalb, weil wir uns in haushalterisch nicht einfachen Zeiten befinden; das ist uns allen bewusst. Wir haben in der letzten Legislaturperiode die grundgesetzliche Schuldenbremse auf den Weg gebracht, die uns verpflichtet, ausgeglichene Haushalte in erfreulicherweise nicht mehr allzu ferner Zeit vorzulegen. Wir gehen diesen Weg Jahr für Jahr. ({4}) Das heißt, dass wir schon abschichten müssen: Was kann man dieses Jahr tun, und was können wir vielleicht erst nächstes Jahr tun? Denn es gibt natürlich viele wichtige Dinge in unserem Land. Die Abwägung, was wir in dem einen Jahr leisten können und was in dem anderen, was wir in dem einen Bereich leisten können und was in dem anderen, ist unser täglich Brot; wir müssen sie vornehmen, so schwer das manchmal auch ist. Vielleicht sollten wir uns aber auch den Dingen widmen, die nicht in Ihrem Antrag stehen, nämlich den Dingen, die in diesem Bereich schon in den letzten Monaten und Jahren erfolgreich auf den Weg gebracht worden sind. Es ist immer die Frage, wie man das Pferd aufzäumt. Ich will nur einige Beispiele aus dem Bereich der Kultur nennen: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten sowie die Akademie der Künste haben ihre Gebäude mittlerweile weitestgehend barrierefrei eingerichtet: zusätzliche Fahrstühle, Sonderparkplätze und dergleichen mehr, im Rahmen dessen, was unter dem Gesichtspunkt des Denkmalschutzes irgend möglich ist. Wir haben bei diesen Institutionen, bei denen der Bund einen gewissen Einfluss hat - mehr oder weniger, je nachdem, wie groß der finanzielle Anteil des Bundes ist -, dafür geworben, dass das Thema Teilhabe auch im Bereich der Stellenausschreibungen und -besetzungen eine große Rolle spielt. Ein Beispiel: Mehr als 10 Prozent der Mitarbeiter der Akademie der Künste sind Schwerbehinderte. Es existieren verschiedene Ermäßigungs- und Freikartenregelungen, selbstverständlich auch für Begleitpersonen. Es gibt Sonderführungen beispielsweise für Sehgeschädigte und Gehörlose. Es gibt Hilfsmittel wie Tastpläne sowie Führungen in Gebärdensprache. Der Internetauftritt der angesprochenen Einrichtung ist weitgehend barrierefrei. Ich will das Deutsche Historische Museum in Berlin ansprechen. Es wurde jüngst für den uneingeschränkten Zugang mit dem Signet „Berlin barrierefrei“ ausgezeichnet. Das Haus der Geschichte ist inzwischen ebenfalls weitgehend barrierefrei; es evaluiert die Barrierefreiheit durch kontinuierliche Besucherbefragungen. Das Jüdische Museum ermöglicht den barrierefreien Zutritt. Beim jüngst fertiggestellten Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig wurde besonders auf die Barrierefreiheit geachtet. Diese Liste könnte man fortsetzen. Wenn wir über solch einen Antrag diskutieren, in dem Kritik geäußert wird und aufgezeigt wird, was noch nicht passiert ist, sollten wir uns zumindest auch den Punkten widmen, die wir schon umgesetzt haben. ({5}) Sie haben in Ihrem Antrag das Thema Filmförderung angesprochen; da schaue ich ein bisschen in Richtung der Kollegin Krüger-Leißner, die nachher noch spricht. Wir haben jetzt die Novelle des Filmförderungsgesetzes vor uns. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir auf das, was Sie dazu im Antrag geschrieben haben, achten müssen. Wir haben derzeit Förderkriterien definiert, die es möglich machen, dass im Bereich Barrierefreiheit viel passieren kann. Bisher ist da leider noch nicht genügend passiert. ({6}) - „Gar nichts“ würde ich auch nicht sagen. Es gibt natürlich Filme, die den Förderkriterien entsprechen und die Filmförderung in Anspruch nehmen, aber es dürften gerne mehr sein. Wir werden das gemeinsam im Rahmen der Novelle zum Filmförderungsgesetz beraten. Ich komme zu meinem letzten Punkt, nämlich der angesprochenen Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung des Bundes. Der Aktionsplan war vom Juni, die Verordnung ist vom September, jetzt haben wir Januar. Da ist es doch naheliegend, dass sie noch nicht komplett umgesetzt ist, dass noch nicht alle Homepages und Internetseiten des Bundes und der entsprechenden Einrichtungen umfasst sein können. Meine Bitte auch hier - weil es in dieselbe Richtung geht wie bei Gebäuden -: Lassen Sie uns gemeinsam konstatieren, dass wir eine Menge erreicht haben. Lassen Sie uns gemeinsam festlegen, wie wir mit den restlichen Aufgaben weiterkommen. Lassen sie uns konkrete Projekte durchführen, wie zum Beispiel wir, Frau Kollegin Frau Krüger-Leißner, im Bereich Film. Ich hoffe zumindest, dass wir künftig nicht viertel- oder halbjährlich einen Antrag vorgelegt bekommen, sondern dass wir einen einmal vorgelegten Antrag in konkreten Einzelberatungen gemeinsam bearbeiten. Ich habe festgestellt, dass sich der vorliegende Antrag mit dem großen Antrag zur Barrierefreiheit in vielen Punkten deckt, allerdings wurde vieles auf den Kulturbereich heruntergebrochen - was sicherlich legitim ist -, aber das werden wir in den Einzelberatungen klären müssen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie mir den Hinweis: Auch das Zusammenfalten des Redemanuskripts ersetzt nicht das pünktliche Ende einer Rede. Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben einen Antrag in Leichter Sprache vorgelegt. À la bonne heure, meinen Respekt dafür, herzlichen Glückwunsch - das müssen wir alle erst einmal nachmachen. ({0}) Keine Frage: Das ist toll. Auch inhaltlich - das will ich gleich signalisieren - werden wir in vielen Punkten mitgehen. Es ist eine gute Sache, die Sie da vorgelegt haben: richtiger Weg, richtiges Ziel. Damit ein solcher Antrag aber nicht zur Folklore wird - wie es einem manchmal vorkommt, wenn hier einmal in der Wahlperiode der Tagesordnungspunkt zum Thema „Sprache und Kultur nationaler Minderheiten“ aufgerufen wird -, ist viel mehr zu tun. Da müssen wir bei uns selbst anfangen, in meiner eigenen Fraktion, aber auch in allen anderen. Das geht damit los, dass die Plenartagungen und die öffentlichen Ausschusssitzungen des Bundestages immer noch nicht synchron in Gebärdensprache übertragen werden. Warum steht hier kein Gebärdensprachdolmetscher? Warum gibt es keine Schriftdolmetschung, die automatisch mitläuft? Das wäre technisch kein Problem, das wäre alles machbar, das gehört zur Kultur des Parlaments heutzutage eigentlich dazu. ({1}) Barrierefreie Angebote im Internet und die Publikationen des Bundestages und aller Fraktionen - einschließlich meiner Fraktion - sind immer noch nicht so, wie sie sein sollen. Wir könnten schon viel weiter sein, auch wenn die entsprechende Verordnung noch nicht so alt ist. Aber in vielen dieser Punkte sieht die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf. Staatssekretär Fuchtel, der die Bundesregierung hier einsam vertritt, hat erst in dieser Woche in der Fragestunde auf meine Frage geantwortet: kein Handlungsbedarf. Es müssen auch Gesetze geändert werden - ich will gar nicht die erwähnen, die im SPD-Antrag enthalten sind -, zum Beispiel das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes. Es verpflichtet öffentliche Einrichtungen und Behörden zu barrierefreier Kommunikation mit Gehörlosen, mit Hörgeschädigten, mit Blinden, mit Sehgeschädigten, aber nicht mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung oder mit Lernschwierigkeiten. Es gibt also gar keinen gesetzlichen Anspruch auf Leichte Sprache. Wieso behauptet die Regierung, dass es keinen Handlungsbedarf gibt? Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der Sie betrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Wir teilen nicht Ihre Feststellung, dass Sie begrüßen, dass der Fünfzehnte Rundfunkänderungsstaatsvertrag von den Ländern ratifiziert worden ist. Für die Mehrheit der Menschen mit Behinderung führt das zu einer Gebührenerhöhung. ({2}) - Ja, das ist einfach so. Das begrüßen wir nicht. In dem Punkt sind wir ganz eindeutig unterschiedlicher Ansicht. ({3}) Es ist auch ein echtes Problem - Sie haben es angesprochen, Frau Schmidt -, wie wir es schaffen können, dass wir in den Rundfunkräten mehr Kompetenz in dieser Frage haben. Gerade gestern hat die SPD in Berlin die Chance verpasst, in den RBB-Rundfunkrat einen Menschen mit Behinderung hineinzuwählen. Sie haben dort doch schon zwei Vertreter. Gestern haben Sie für Herrn Müller, der ausschied, weil er Senator wurde, wieder einen SPD-Abgeordneten hineingewählt. Warum nicht einen Menschen mit Behinderung? Das wäre eine Chance gewesen, die leider verpasst wurde. ({4}) Wir haben in Berlin auch andere Chancen verpasst; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Das Schloss Friedrichsfelde im Tierpark ist mit Fördergeldern in Höhe von 3,5 Millionen Euro saniert worden. Hier gibt es aber eine Barriere nach der anderen; es ist nicht im Geringsten barrierefrei. Das ist auch eine Kritik, die an meine eigene Partei geht; das will ich gar nicht bestreiten. Wir haben also Chancen verpasst; wir hätten längst etwas ändern können. Ich will aber noch einmal festhalten: Der Antrag wird von uns mit großer Sympathie diskutiert werden, vor allen Dingen, weil wir sehen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, auch lernfähig sind. ({5}) Sie kritisieren zu Recht den Nationalen Aktionsplan, der jetzt von der Regierung vorgelegt wurde. Ich erinnere aber: Als die UN-Behindertenrechtskonvention hier ratifiziert wurde, haben Sie gemeinsam mit der CDU/CSU eine sogenannte Denkschrift danebengelegt. In dieser stand nichts anderes als: Es gibt nichts zu denken, wir haben alles schon erledigt. ({6}) - Nein, das ist kein Pessimismus, Frau Michalk, das ist Optimismus, dass wir vorankommen und dass auch Sie eines Tages lernfähig werden. - Inzwischen haben die Kolleginnen und Kollegen von der SPD ja dazugelernt. Herzlichen Glückwunsch! Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Reiner Deutschmann. ({0})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Für die FDP ist Politik für Menschen mit Behinderung durchaus Bürgerrechtspolitik. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. So steht es auch in Art. 3 unseres Grundgesetzes. Dieser Grundsatz, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist uns Liberalen Richtschnur und Verpflichtung zugleich, sich für die Rechte und Bedürfnisse behinderter Menschen in diesem Land einzusetzen. ({0}) Für die von uns gewünschte tolerante, solidarische und weltoffene Gesellschaft brauchen wir die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben. Bevor ich mich aber inhaltlich mit dem Antrag auseinandersetze, muss ich zunächst einen großen Dank an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion richten: Mit Ihrer Idee, diesen Antrag auch in Leichte Sprache zu übersetzen, sind Sie neue Wege gegangen. Das alles sollte uns Inspiration sein. Ich beglückwünsche Sie zu dieser Idee. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die UN-Behindertenrechtskonvention ist - das wurde ja bereits erwähnt seit 2009 auch für Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung dient dazu, diese Konvention in Deutschland umzusetzen. Unsere Fraktion begrüßt ganz ausdrücklich die Pläne des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, insbesondere die aufgezeigten Möglichkeiten zur Teilhabe am Arbeitsmarkt, zur Verbesserung der Barrierefreiheit und zur Steigerung der Mobilität. Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich betonen, dass der Aktionsplan ein erster wichtiger Baustein ist, weitere Verbesserungen für Menschen mit Behinderung zu erreichen. Er ist gewiss noch nicht das Ende der Fahnenstange. ({2}) Im Übrigen sollten wir dadurch nicht die Bemühungen der Menschen schmälern, die sich seit Jahrzehnten für Belange von Behinderten einsetzen und große Erfolge errungen haben. Nicht umsonst ist Deutschland in seiner Behindertenpolitik vielen anderen Ländern bereits weit voraus. Dies sollten wir neben aller Kritik einmal positiv zur Kenntnis nehmen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist auch nicht so, als ob die Koalitionsfraktionen die Hände in den Schoß gelegt hätten und nichts unternähmen. Ich erinnere gerne an unseren am 1. Dezember letzten Jahres eingebrachten Antrag mit dem Titel „Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten - Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte“. ({4}) In diesem Antrag haben wir bereits einige der Punkte aufgegriffen, die auch Sie hinsichtlich der Barrierefreiheit von Film- und Fernsehangeboten fordern. Das betrifft unter anderem einen verstärkten Einsatz von Untertitelung, mehr Filme mit Audiodeskription sowie Angebote mit Gebärdensprachanteil. Deswegen verweisen wir auch auf die im Rundfunkstaatsvertrag enthaltene Regelung, mehr barrierefreie Angebote zu entwickeln, und fordern unsere öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten auf, diese Angebote auch weiter auszubauen. ({5}) Der zu diesem Zweck eingerichtete Runde Tisch von BMAS und BKM wird von uns ausdrücklich begrüßt. Was den Film angeht, so werden die Belange der Barrierefreiheit mit Sicherheit auch bei der nächsten Novelle zum Filmförderungsgesetz eine Rolle spielen. Wir teilen die in Ihrem Antrag formulierte Forderung, die Ausbildung in Kultur- und Medieneinrichtungen des Bundes für Menschen mit Behinderung noch stärker zu öffnen. Allerdings lehnen wir die Forderung ab, die Ausschreibungen des Bundes für Produkte, Dienstleistungen und Gebäude immer an die Berücksichtigung der Barrierefreiheit zu knüpfen. ({6}) Das Vergaberecht ist nicht geeignet, die Erfüllung bestimmter Quoten zu erzwingen. Aspekte wie Qualität, Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit würden dadurch an Stellenwert verlieren. ({7}) Zudem wären die Existenzen kleiner und mittelständischer Unternehmen gefährdet, die aufgrund ihrer dünnen Personaldecke oder aus finanziellen und arbeitstechnischen Gründen die Anforderungen der Barrierefreiheit nicht erfüllen können. Mit der Verabschiedung der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik, BITV 2.0, die für die Behörden der Bundesverwaltung gilt, sind wir bereits auf einem guten Weg, für den Abbau von Hindernissen im Netz zu sorgen. Dieses Thema hat für die Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Deswegen arbeitet sie mit hoher Priorität an der Umsetzung der Verordnung, sodass es hier keiner besonderen Aufforderung durch Ihren Antrag bedarf. Welch großer zeitlicher Aufwand damit verbunden sein kann, zeigt Ihre Initiative aber durchaus. Wir wissen ja: Die Übersetzung Ihres Antrags in Leichte Sprache hat anderthalb Wochen gedauert. Solch einen Aufwand sollten wir uns allerdings leisten. Thomas Hänsgen, Stiftungsratsvorsitzender und Geschäftsführer „barrierefrei kommunizieren“, sagte im Fachgespräch des Unterausschusses Neue Medien am 19. September letzten Jahres im Zusammenhang mit der BITV 2.0: Barrierefreiheit ist eine Vision. Bisher haben wir es im besten Falle mit barrierearmen Angeboten zu tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind der Auffassung, dass Barrierefreiheit nur zu einem gewissen Grad durch den Gesetzgeber gewährleistet werden kann. Was wir zur wahren Vollendung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung brauchen, ist ein Umdenken in unserer gesamten Gesellschaft. Wir brauchen die Aufmerksamkeit aller Menschen sowie privater und öffentlicher Einrichtungen in diesem Land. Man muss sich mehr für die Belange und Erfordernisse von Menschen mit Behinderung interessieren. ({8}) Nur wer hinsieht, erkennt, wo es in Museen an Rollstuhlrampen, in U-Bahnhöfen an Fahrstühlen oder an in Blindenschrift verfassten Schrifttafeln für sehbehinderte Menschen fehlt. Mein Rotary Club in Kamenz hat seit Jahren eine Partnerschaft mit der Werkstatt für behinderte Menschen „St. Michael“ im Kloster St. Marienstern. Schon aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen ist Barrierefreiheit für mich kein technokratischer Begriff, sondern gelebte Menschlichkeit. Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten. Dafür werden wir uns auch weiterhin einsetzen. Ich danke Ihnen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Tabea Rößner.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Der uneingeschränkte Genuss unserer Kulturschätze muss Menschen mit Behinderungen, egal welcher Art, genauso möglich sein wie allen anderen. ({0}) Beim Film zum Beispiel scheitert dies am Angebot. Mit Audiodeskriptionen versehene Fassungen von Filmen wie „Die Päpstin“ oder „Lippels Traum“ sind leider Ausnahmen. Sie zeigen gleichzeitig, was möglich wäre, wenn man barrierefreie Filmfassungen stärker fördern würde. Hier hängt Deutschland hinter anderen Ländern weit zurück, was besonders unverständlich ist, wenn man bedenkt, wie wenig zum Beispiel Untertitelungen im Verhältnis zum Gesamtbudget eines Films kosten. Ich frage mich, was die Veränderungen im Zuge der letzten Novelle zum Filmförderungsgesetz tatsächlich gebracht haben, wenn Sie, Herr Wanderwitz, selber feststellen, dass nichts passiert ist. Vor diesem Hintergrund fordern wir ein Sofortprogramm „Barrierefreier Film“. So könnten wir sicherstellen, dass bei Filmen, die mit Bundesmitteln gefördert werden, ein barrierefreies Angebot bald zu einer Selbstverständlichkeit wird. ({1}) Die Digitalisierung schafft gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen zahlreiche neue Teilhabechancen. Wenn digitale Angebote jedoch nicht barrierefrei sind, grenzen wir genau diese Menschen aus. Die Deutsche Digitale Bibliothek wird zukünftig einen nie zuvor dagewesenen Zugang zu Kultur- und Wissensgütern bieten. Auch dieses Angebot muss allen Menschen offenstehen. Wir fordern daher in einem Antrag zur Deutschen Digitalen Bibliothek, schriftliche Werke bereits bei der Digitalisierung mit einer Audiofunktion zu kombinieren, um Blinden die Teilhabe zu ermöglichen. Für hörbeeinträchtigte und gehörlose Menschen müssen audiovisuelle Werke generell mit Untertiteln versehen werden, falls möglich auch mit Gebärdensprache. ({2}) Ich frage Sie von der Koalition: Warum berücksichtigen Sie diese wichtigen Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen in Ihrem Antrag zur Deutschen Digitalen Bibliothek nicht? Alle digitalen Angebote sollten zukünftig so gestaltet werden, dass sie sich intuitiv über verschiedene Wege erschließen lassen. Die Zugänglichkeit muss für möglichst viele Menschen gewährleistet sein, ohne spezielle oder separierende Lösungen. „Universal Design“ ist hier das Stichwort. Der Bund muss dort, wo er zum Beispiel Soft- oder Hardware zur Bereitstellung von Internetpräsenzen beschafft, bei Ausschreibungen darauf achten, dass Schnittstellen, Software und Angebote den Vorgaben des Universal Designs entsprechen. Außerdem müssen Menschen mit Behinderungen im IT-Planungsrat beteiligt sein. ({3}) Die BITV 2.0, die die Barrierefreiheit von Behördenseiten regeln soll, kam drei Jahre zu spät, und sie wird immer noch nicht umgesetzt. Wenn sie irgendwann endlich einmal Standard sein sollte, ist sie womöglich schon wieder veraltet. Unsere Nachbarländer, zum Beispiel Italien und Österreich, machen das ganz anders. Sie nehmen die international abgestimmten Richtlinien für barrierefreie Inhalte direkt in ihre Gesetze auf. Als Medienpolitikerin fordere ich auch die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten auf, möglichst durchgehend barrierefreie Angebote bereitzustellen. Immerhin plant die ARD ab 2013 eine konsequente Untertitelung. Die Öffentlich-Rechtlichen müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen, insbesondere wenn Menschen mit Behinderungen zukünftig Rundfunkbeiträge zahlen müssen. ({4}) Aber auch private Medienunternehmen müssen ihr Angebot gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Behindertengleichstellungsgesetz barrierefrei gestalten. Damit hat die SPD in ihrem Antrag ganz recht. Das nehmen diese Medienunternehmen nicht ernst genug. Wir alle - das wurde schon erwähnt - müssen uns aber an die eigene Nase fassen; da nehme ich unsere Fraktion nicht aus. In meiner Zeit hier im Bundestag habe ich jedenfalls noch keinen Antrag gesehen, der in Leichte Sprache übersetzt wurde. Ich finde es daher vorbildlich, dass die SPD diesen Antrag so vorgelegt hat. Ich weiß, dass es das in Rheinland-Pfalz auch schon gab. Gleichzeitig finde ich es aber auch sehr schade, dass ich das herausstellen muss; denn aus meiner Sicht sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. ({5}) Wir alle sollten über Barrierefreiheit eben nicht nur reden. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die Unionsfraktion. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag „Kultur für alle“ in Bildsprache, in Leichter Sprache ist tatsächlich eine Premiere hier im Deutschen Bundestag. Vor einigen Jahren hat unser Kollege Börnsen durchgesetzt, dass wir eine Debatte über alle Minderheitensprachen Deutschlands im Deutschen Bundestag führen. Jetzt ist von der SPD-Fraktion dieser Impuls gekommen. Das zeigt, dass der Kulturausschuss sehr munter ist und die Vielfalt unseres Kulturguts Sprache herausarbeitet. Ich finde, auch das gehört dazu. Leichte Sprache gehört zu unserem Kulturgut. Insofern ein Lob am Anfang. ({0}) Eine Gruppe hervorzuheben und ihren Bedürfnissen entgegenzukommen, ist immer wieder notwendig und legitim. Ich begrüße es, dass die SPD mit diesem Antrag Menschen mit einer geistigen Behinderung entgegenkommt. Wir alle wissen aber, dass zum Beispiel Menschen mit einer Sehbehinderung andere Vorkehrungen brauchen. Wer sich bei der Herstellung von Barrierefreiheit an den Bedürfnissen einer Gruppe orientiert, schließt eventuell eine andere aus. Das müssen wir berücksichtigen. Immer wieder ist das richtige Maß zu finden. Ein ausgewogenes und einbeziehendes Agieren ist die Kunst des täglichen Lebens. Dieser Aufgabe muss sich jeder stellen, innerhalb und außerhalb des Bundestages. Letztlich muss der Inklusionsprozess genau so gestaltet werden. Friedrich Hebbel, ein deutscher Dramatiker des 19. Jahrhunderts, hat den Satz geprägt: Die Freude verallgemeinert, der Schmerz individualisiert den Menschen. Er mahnt uns damit, niemanden auszugrenzen, nicht ignorant zu sein und damit Schmerz zuzufügen, nicht die Defizite eines Menschen zu betrachten, sondern vielmehr seine Kompetenzen und Fähigkeiten. Das ist das Motto der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bei all diesen Fragen. ({1}) Wir unterstützen den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung, der den Leitgedanken hat: Menschen mit Behinderung und ihre Belange werden von Anfang an mit einbezogen. Deshalb würden wir den Titel Ihres Antrages gerne ergänzen: Kultur für alle mit allen. Wir legen großen Wert auf diese Ergänzung. ({2}) Das schließt neben dem Zugang zu kulturellem Material in entsprechenden Formaten - davon war jetzt schon die Rede - den Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmund Theaterveranstaltungen, Museen, Kinos, Bibliotheken, Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung ein. Aber das schließt auch ein, dass sie selbst die Möglichkeit haben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen - nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft. ({3}) Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung ist ein Maßnahmenpaket, kein Gesetzespaket. Dass die Umsetzung dieses Maßnahmenpaketes ernst genommen wird, auch durch den BKM, unseren Staatsminister für Kultur und Medien, zeigt sich daran, dass alle dauerhaft geförderten Einrichtungen des Bundes sofort nach Verabschiedung des Nationalen Aktionsplanes schriftlich mit der ständigen Aufgabe betraut wurden, Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Sie wurden angemahnt, diese Herausforderung anzunehmen. Staatliches Handeln ist das eine, das Engagement vor Ort und in den Einrichtungen ist das andere. Gerade am heutigen Tag will ich noch einmal das schöne Beispiel der Gedenkstätte Hadamar erwähnen. Seitdem die Ausstellungstexte in ganz verständlicher Form angebracht wurden - sie wurden sehr einfach formuliert -, es eine bessere Ausschilderung und für Menschen mit einer Gehbehinderung auch einen Aufzug gibt, der vor allen Dingen auch funktioniert, sind mehr als 2 000 Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Gedenkstätte gewesen und haben sich selbst über die NS-Euthanasieverbrechen informiert und damit auseinandergesetzt. Ich finde, solche Beispiele müssen wir in der Öffentlichkeit stärker wahrnehmen. ({4}) Das gemeinsame Erleben von Kunst und Kultur durch Menschen mit und ohne Behinderung ist, so glaube ich, unsere gemeinsame Aufgabe. Hier haben wir keinen Streit. Wir sagen allerdings: Das geht nicht per Anordnung, sondern muss im Dialog und im ständigen Bemühen ein Bedürfnis und eine Selbstverständlichkeit werden. Liebe Frau Schmidt, das, was Sie in Ihrem Antrag als zweite Forderung formulieren, dass nämlich private Kultur- und Medienunternehmer durch verhältnismäßige Regelungen verpflichtet werden sollen, in größerem Umfang als bisher barrierefreie Zugänge zu ihren Angeboten zu ermöglichen, funktioniert nicht. ({5}) Wir als Union sagen ganz einfach: Wer nicht erkennt, dass uns die Demografie lehrt, auf wirkliche Barrierefreiheit zu achten, der schließt Kunden aus und beraubt sich selbst seines Erfolges. Auf diese Kräfte setzen wir vor allen Dingen. ({6}) Wir setzen auf die Kraft der Erkenntnis und nicht auf Zwang. ({7}) Deshalb will ich Ihnen auch noch einmal sagen, dass ich es schön finde, dass wir hier gemahnt werden, uns gelegentlich auch einmal mit dem Behördendeutsch auseinanderzusetzen. Nicht nur wir stolpern nämlich darüber. Hier gibt es durchaus die Mahnung, uns in unserem täglichen Politikerleben zu bemühen - das gehört für mich auch zum Kulturgut -, eine einfache Sprache und keine ellenlangen Sätze zu sprechen und unsere Botschaften in einfachen, klaren Sätzen herüberzubringen. Deswegen sage ich: Inklusion bedeutet, selbst auf andere zuzugehen und eigene Grenzen zu verschieben. Inklusion bezieht sich immer auf die Gemeinschaft. Inklusion heißt, Veränderungsprozesse können besonders kreativ sein, wenn sie so gestaltet werden, dass jeder einen Vorteil davon hat. Deshalb lautet mein letzter Satz: Inklusion ist genau genommen eine Haltung. Üben wir uns also in dieser Haltung! Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika Krüger-Leißner das Wort. ({0})

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Präsidentin! Eigentlich ist es sehr schade, dass bei der Premiere dieses bisher einmaligen Antrages nur so wenige Kollegen hier sind. Aber eine Premiere ist ja der Auftakt für künftiges Handeln, sodass ich hier Hoffnung habe. Wir wollen Kultur für alle! Das zeigen wir durch Form und Inhalt. Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention können wir ein ähnlich formuliertes Ziel erkennen. Da heißt es: Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mitmachen können. So die Ministerin. Ich denke, das können wir alle unterschreiben. Wenn wir aber im Aktionsplan weiterblättern, zum Beispiel auf die Seite 107, finden wir eine Aussage, die deutlich zeigt, dass die Bundesregierung die Handlungsnotwendigkeiten verkennt. Das ist übrigens für diesen Aktionsplan symptomatisch. Da heißt es nämlich, das Filmförderungsgesetz sei beispielhaft dafür, wie Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen durchgesetzt werden kann. Ich bin richtig froh, dass Herr Wanderwitz in seinen Aussagen ein bisschen realistischer war. Ich sage Ihnen: Genau das Gegenteil ist beim Filmförderungsgesetz der Fall. So gut und wichtig das Filmförderungsgesetz für das Filmschaffen in Deutschland und den deutschen Film ist, so wirkungslos ist das FFG beim Durchsetzen von Barrierefreiheit. Die Zahlen sprechen für sich. Mir ist keine Filmproduktion bekannt, die aufgrund der Förderung durch die Filmförderungsanstalt mit einer Audiodeskription oder Untertitelung versehen wurde. Auch meine Nachfrage beim Vorstand der FFA hat keine andere Erkenntnis ergeben. Auch die Effekte der Kinoförderung durch das FFG sind mehr als dürftig: Nur 6 Prozent aller Kinosäle in Deutschland sind für unsere schwerhörigen Mitmenschen ausgestattet. Das ist eindeutig zu wenig. ({0}) Wir wissen doch: Millionen Menschen sind auf diese besonderen technischen Einrichtungen angewiesen, um am Gemeinschaftserlebnis Kino teilhaben zu können. Dieser Misserfolg lässt sich auch nicht schönreden; denn er steht ganz deutlich im Widerspruch zu Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention. Darin wird die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am kulturellen Leben gefordert, und zwar ohne Einschränkung. ({1}) Noch einmal zu den Fakten. Das FFG in seiner derzeitigen Fassung vermag es nicht, wirksame Anreize zu setzen, damit mehr seh- oder hörbehinderte Menschen am Filmerlebnis teilhaben können. Als wir das FFG vor drei Jahren so beschlossen haben, haben wir uns von dem Gedanken leiten lassen, dass auch die Filmbranche ihre gesellschaftliche Verantwortung gegenüber unseren behinderten Menschen wahrnimmt. Das war leider eine Täuschung. In der Produktionsförderung ist vorgesehen, dass wenigstens eine Endfassung eines geförderten Films in einer Version mit deutscher Audiodeskription für Sehbehinderte und mit deutschen Untertiteln für Hörgeschädigte hergestellt wird. Allerdings ist das nur eine von acht Bedingungen, von denen drei erfüllt werden müssen, damit Fördergelder fließen. Genau das ist der Haken. In der Praxis haben nämlich die Produzenten, sicherlich aus Kostengründen, andere Voraussetzungen gewählt. Hier und an anderen Stellen im FFG müssen wir einfach nachbessern. Die Förderbedingungen sind offensichtlich zu weich formuliert. ({2}) Die SPD-Bundestagsfraktion fordert hier eine ganz klare Regelung, die nicht mehr zu umgehen ist. Das heißt, Förderungshilfen müssen verbindlich an die Voraussetzung gebunden werden, dass wenigstens eine Endfassung mit Audiodeskription und Untertiteln hergestellt wird. ({3}) Wir fordern das auch von den Länderförderern. Noch ein Hinweis zum Schluss. Mit der Digitalisierung wird die barrierefreie Ausgestaltung zukünftig noch einfacher und kostengünstiger. Also, warum sollten wir es nicht tun? Vielleicht, Herr Wanderwitz, schaffen wir es sogar vor 2014, gemeinsam zu prüfen, ob wir nicht über Übergangsregelungen, zum Beispiel über untergesetzliche Richtlinienänderungen, einen Weg finden. Ich bin dafür. Lassen Sie uns das angehen. Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Paus, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dienstwagenprivileg abbauen und Besteuerung CO2-effizient ausrichten - Drucksache 17/8462 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer im vergangenen Jahr einen neuen VW Passat Variant mit einem Listenpreis von 30 000 Euro von seiner Firma als Dienstwagen zur Verfügung gestellt bekam, den kostete dieses Auto alles inklusive bis zu 1 500 Euro. ({0}) Wer das gleiche Fahrzeug privat angeschafft und genutzt hat, der hatte im selben Zeitraum Kosten von mindestens 7 500 Euro, also 6 000 Euro mehr. Diese Zahlen stammen nicht von mir, sondern vom ADAC. ({1}) - Genau, wenn man eben nicht in den Genuss eines Dienstwagens kommt. So ist es. Ein Porsche Cayenne mit einem Listenpreis von 117 000 Euro kostet, berücksichtigt man Anschaffungs-, Betriebs- und Versicherungskosten, nach Schätzungen des ADAC pro Jahr 24 000 Euro, wenn man ihn nur privat erwerben kann. Fährt jemand das gleiche Fahrzeug als Dienstwagen, dann spart er ganze 18 000 Euro pro Jahr. Je teurer das Auto, desto höher die Subventionierung. ({2}) Das sogenannte Dienstwagenprivileg ist ungerecht, und deswegen wollen wir es ändern. ({3}) Das Dienstwagenprivileg ist auch unökologisch. Auch deswegen wollen wir es ändern und haben dazu einen Antrag vorgelegt. Denn der Porsche Cayenne Turbo ist nicht nur teuer, sondern mit einem CO2-Ausstoß von 270 Gramm pro Kilometer auch eine Emissionsschleuder. Die steuerliche Regelung für Dienstwagen in Deutschland entwickelt sich auch zu einem ökonomischen Problem. Denn die Absatzförderung für Spritschleudern steht im Gegensatz nicht nur zu grünen ökologischen Zielen, sondern auch im Gegensatz zu geltenden Regeln in Europa. Mit Beginn dieses Jahres dürfen die neu zugelassenen Fahrzeugflotten in Stufen bis 2015 im Durchschnitt nur noch 130 Gramm pro Kilometer ausstoßen. Die deutsche Neuwagenflotte ist jedoch mit 151 Gramm CO2 je Kilometer noch weit von diesem Zielwert entfernt. So hat auch das DIW im November 2011 empfohlen, geeignete Instrumente für Anreize zur Effizienzsteigerung zu suchen. Ich zitiere: Gerade Firmenwagen wären hier ein wichtiges und bisher mit falschen Anreizen versehenes Segment. ({4}) Wir Grünen schlagen mit dem vorliegenden Antrag vor, einen Klimafaktor in die bestehenden Regelungen einzuführen: Je mehr man das Klima schädigt, desto weniger kann man steuerlich geltend machen. ({5}) Für Fahrzeuge bis 120 Gramm pro Kilometer ändert sich nichts. Liegt der Verbrauch jedoch darüber, wie zum Beispiel beim Passat Variant um 13 Prozent, dann kann das Unternehmen die Anschaffungs- und Betriebskosten um 13 Prozent weniger geltend machen, und die privaten Nutzer müssen einen 13 Prozent höheren geldwerten Vorteil zahlen. Um dauerhaft Effizienzanreize zu setzen, wird der Zielwert, also die 120 Gramm, bis 2016 in Schritten auf 80 Gramm gesenkt. Fahrzeuge unter 60 Gramm werden vollständig von der Besteuerung befreit. ({6}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Es gibt vor allem zwei Gegenargumente. Das erste Argument ist: Es hat sich doch schon viel getan. - Das stimmt fast. Es hat sich ein bisschen was getan, aber es ist deutlich zu wenig. Die Deutsche Umwelthilfe beispielsweise hat 153 Unternehmen unter die Lupe genommen. Lediglich vier Unternehmen konnte sie eine Grüne Karte ausstellen, und auch nur mit gutem Willen. Die meisten Unternehmen haben immer noch Dienstwagenflotten mit einem höheren CO2-Ausstoß als 140 Gramm pro Kilometer. Das ist Best Practice in Deutschland. Das ist zu wenig. ({7}) Das zweite Gegenargument ist - das war damals Ihr Argument, Herr Gutting; Sie haben gleich Gelegenheit, darauf einzugehen -: Das ist steuersystematisch nicht möglich. Dazu stelle ich fest: Es geht doch. Das zeigt ein Blick ins europäische Ausland. In Österreich und Frankreich gibt es klare Grenzen für die Absetzbarkeit: 40 000 Euro in Österreich und 18 700 Euro in Frankreich. ({8}) Auch in der Schweiz dürfen Luxusdienstwagen nur teilweise abgesetzt werden. In Belgien gibt es bereits eine Staffelung nach CO2-Ausstoß. Deswegen bitte ich Sie, sich diesmal ernsthaft mit unserem Antrag auseinanderzusetzen. Steigen Sie mit uns in eine konstruktive Debatte ein! Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unionsfraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie hatten bereits im Jahre 2008 einen fast wortgleichen Antrag eingebracht. Auch damals ging es vorrangig um das Schüren einer Neiddebatte gegen die Nutzer und Nutzerinnen von Firmenwagen der Mittel- und Oberklasse sowie insbesondere der SUVs. Ihren heutigen Angriff verstecken Sie zusätzlich unter dem Deckmantel des Klimaschutzes. Aber es bleibt bei einem Angriff gegen die deutsche Automobilindustrie und die Firmenwagennutzer. ({0}) Lassen Sie mich gleich feststellen: Bei der Dienstwagenbesteuerung und den hierzu einschlägigen Abschreibungsregelungen handelt es sich nicht um Privilegien, sondern um allgemein anerkannte Besteuerungsgrundsätze. Die Abschreibung zeichnet lediglich - genauso wie bei anderen Wirtschaftsgütern - den jährlichen Wertverlust des Firmenvermögens nach. Die Besteuerung von Dienst- und Firmenwagen ist auch keine Subvention, wie Sie es darstellen, sondern folgt ertragsteuerlichen Grundsätzen. Mit dem Herumdoktern an den Abschreibungsregelungen und der Verknüpfung mit dem CO2-Ausstoß der Fahrzeuge wollen Sie die Unternehmen umerziehen. Aber ein Großteil der neu zugelassenen deutschen Firmenwagen, fast 90 Prozent, sind geleast. Fast alle Leasingfahrzeuge werden beim Leasinggeber und nicht beim nutzenden Unternehmen bilanziert. Folglich werden sie auch beim Leasinggeber abgeschrieben. Ihr Vorschlag, die Abschreibung an Bedingungen wie CO2Ausstoß zu koppeln, trifft also gar nicht die Unternehmen, welche Firmenwagen im Bestand haben, sondern die Leasingunternehmen. Was werden diese dann machen? Diese würden die durch die verschlechterten Abschreibungsmöglichkeiten verursachten Mehrkosten auf die Leasingraten umlegen, welche die Unternehmen, die diese Raten zahlen, richtigerweise zu 100 Prozent als Betriebsausgaben absetzen. Sie treffen also nicht die nutzenden Unternehmen, sondern die Leasingunternehmen. ({1}) Ihre Umerziehungsbestrebungen erreichen also gar nicht die entsprechenden Unternehmen. Jedem, der nur ein bisschen Gefühl für Steuerrecht hat, ({2}) verursachen Ihre Vorschläge regelrecht körperliche Schmerzen. Ihr Bestreben, das AfA-System ökologisch auszurichten, widerspricht einfach den Grundsätzen unseres Steuerrechts. Das würde zu einer enormen Verkomplizierung des Steuerrechts führen. Es ist widersinnig, zwei in Anschaffungspreis und Nutzungsdauer gleiche Wirtschaftsgüter nur deshalb steuerlich unterschiedlich zu behandeln, weil das eine einen höheren Kraftstoffverbrauch oder einen höheren CO2-Ausstoß hat. Wie wollen Sie andere Maschinen steuerlich behandeln? Sie konzentrieren sich in Ihrem Antrag nur auf Autos. Wollen Sie sämtliche Maschinen mit erhöhtem Strom- und Brennstoffbedarf bei der steuerlichen Abschreibung unterschiedlich behandeln? Wie soll es dann weitergehen? Wollen Sie dann auch der Lebensmittelindustrie verbieten, ungesunde Zutaten wie Zucker und Fett steuerlich abzusetzen? Sie wollen gängeln und vorschreiben. Ich bin froh, dass es im deutschen Ertragsteuerrecht keine Unterscheidung zwischen guten und schlechten Kosten gibt. Ich will auch nicht in einem Land leben, in dem eine kleine Minderheit entscheidet, was gute und schlechte Kosten sind. ({3}) Die Rechnung, die Sie vorhin aufgemacht haben, stimmt nicht. Die von Ihnen monierte 1-Prozent-Regelung betreffend die private Nutzung von Dienstfahrzeugen stellt kein steuerliches Privileg dar. Es handelt sich vielmehr um eine allgemein anerkannte, sachgerechte und seit vielen Jahren erfolgreiche Vereinfachungsregelung, die sich bewährt hat. Der Vorteil der Pkw-Gestellung durch den Arbeitgeber wird dem Arbeitslohn hinzugerechnet. Die Privatnutzung des Dienstfahrzeuges ist zum persönlichen Steuersatz zu versteuern. Da gibt es keine Subvention. Hier gilt: Wer viel verdient und einem höheren Steuersatz unterliegt, muss auch mehr zahlen. Größere Fahrzeuge, in Ihrem Antrag despektierlich als Statussymbole bezeichnet, haben einen höheren Listenpreis; das ist richtig. Dieser höhere Listenpreis wird auch entsprechend höher besteuert. ({4}) Wer also ein größeres Auto fährt, trägt eine höhere Steuer. Wer ein größeres Auto fährt und vielleicht einen höheren Verbrauch hat, zahlt im Übrigen auch an der Tankstelle mehr. ({5}) Denn an der Tankstelle muss er die Kraftstoffpreise bezahlen, und wir alle wissen, dass circa 70 Prozent des Kraftstoffpreises heute schon aus Steuern und Abgaben bestehen. Man kann also zusammenfassen, dass die Nutzung von Firmenfahrzeugen insbesondere der deutschen Premiumhersteller zu Mehreinnahmen beim Staat führt: über die Kraftstoffsteuer an der Tankstelle, über die höhere Kfz-Steuer, bei einem höheren Listenpreis auch über eine höhere Zurechnung bei der 1-Prozent-Regelung und - was wir nicht vergessen dürfen - über die Einkommen- bzw. die Lohnsteuer vieler Hunderttausender Menschen, die in der deutschen Automobilindustrie beschäftigt sind. ({6}) Es ist schön, dass Sie in Ihrem Antrag konkret werden und konkrete Beispiele nennen. Damit kann sich jeder Firmenwagennutzer selbst ausrechnen, welche Mehrbelastung auf ihn zukommt. Sie haben vorhin ein Beispiel vorgetragen. Nehmen wir also den BMW 325 Diesel. Das ist bestimmt kein Riesenoberklassenfahrzeug. Wenn ein gut verdienender Außendienstmitarbeiter dieses Fahrzeug nutzt, muss er nach Ihrem Vorschlag über die Gesamtnutzungsdauer ungefähr 3 000 Euro mehr bezahlen. ({7}) Das ist eine Stange Geld. Das wird ihm sicher nicht gefallen. Er könnte natürlich auch Ihrem Vorschlag folgen und auf einen Toyota Prius ausweichen. Dann würde er nicht mehr bezahlen. - Allerdings muss ich immer wieder staunen. In Ihrem Antrag haben Sie dieses Fahrzeug mehrmals erwähnt. Geradezu penetrant hofieren Sie diesen Fahrzeugtyp Toyota Prius. ({8}) Ich frage mich manchmal, ob die Grünen von Toyota bezahlt werden. Jedenfalls ist klar, worum es Ihnen eigentlich geht. Es geht Ihnen darum, die deutsche Automobilindustrie zu schädigen. Dies ist ein Angriff gegen die deutsche Automobilindustrie. Da nützt es auch nichts, dass Ihr ehemaliger Außenminister und Parteikollege heute die Firma BMW berät. ({9}) Es geht Ihnen darum, den Menschen das Autofahren zu vermiesen, es geht Ihnen darum, den Individualverkehr immer weiter einzuschränken. Die über 750 000 Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie sind Ihnen schlicht egal.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gutting, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Gambke?

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich mache weiter. Wir wollen ja alle irgendwann nach Hause. Verbieten und gängeln - das sind jedenfalls die Rezepte der Grünen. Das deckt sich auch mit den Äußerungen des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann aus Baden-Württemberg. Er hat ja gerade bekannt gegeben, dass in Baden-Württemberg unter der jetzigen Regierung bzw. in den nächsten acht Jahren keine neuen Straßen mehr gebaut werden. Er sagt wortwörtlich, die Straße müsse zukünftig zu einem „knappen Gut“ werden. Ich hoffe nur, dass sich die Menschen, wenn sie das nächste Mal im Stau stehen, an diese Aussage erinnern. Im Übrigen will ich Ihnen sagen: In Baden-Württemberg ist die Straße bereits ein knappes Gut. ({0}) Es geht noch weiter. Ich bleibe bei Baden-Württemberg und dem Ministerpräsidenten, den ich erneut zitiere. Er sagt: Jeder Landrat und jeder Bürgermeister und viele junge Unternehmer verlangen von der grün-roten Landesregierung immerzu die Unterstützung für neue Straßenprojekte, diese Mentalität gilt es zu knacken. „Diese Mentalität gilt es zu knacken.“ Das muss man sich einmal überlegen. Alleine diese Wortwahl! Für mich klingt das nach Ökodiktatur. Das, was hier propagiert wird, ist Gehirnwäsche. ({1}) Wir wollen wohl alle in diesem Haus, dass unsere Kinder in einer gesunden und sicheren Umwelt aufwachsen. Das gilt gerade auch für uns in der Unionsfraktion. Wir legen großen Wert auf die Bewahrung der Schöpfung. Aber Ihr Antrag trägt außer zu einer immensen Verkomplizierung des ohnehin schon umfangreichen Steuerrechts nichts zu diesem Ziel bei. ({2}) Er ist steuerlich systemwidrig, er ist sachfremd, und er ist deswegen unnötig. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Gambke das Wort. ({0})

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Gutting, Sie haben die Zwischenfrage nicht zugelassen. - Sie haben einen Gegensatz zwischen der Automobilindustrie auf der einen und den Grünen auf der anderen Seite aufgebaut. ({0}) Sie haben eine Firma genannt: die Bayerischen Motoren Werke. Nun trägt es sich zu, dass diese Firma dicht an meinem Wahlkreis sehr aktiv ist und ich auch gelegentlich mit den Herrschaften dort rede. Wie stellen Sie sich zu der Aussage des führenden Managers der Dingolfinger Fabrik, der größten Fabrik, die BMW unterhält, der deutlich bei seinem letzten Abgeordnetengespräch gesagt hat, er wäre sehr dankbar, wenn der Deutsche Bundestag die Bemühungen der deutschen Automobilindustrie, niedrige Verbräuche und damit niedrigere CO2-Ausstöße zu erreichen, auch durch seine Steuergesetzgebung unterstützen würde? ({1}) Er sieht sich alleine gelassen. Diese Firma unternimmt sehr große Bemühungen, um das Ziel zu erreichen, das nicht nur die Grünen erreichen wollen. Dieses Ziel ist allgemeiner Konsens. Er fordert, dass wir das mit niedrigen Grenzwerten verbinden. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort, Kollege Gutting.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege, für die Frage. - Wir tun bereits einiges dafür, und zwar an der Tankstelle. Ich kann es wiederholen: Menschen, die Fahrzeuge fahren, die einen niedrigen Verbrauch haben, werden an der Tankstelle belohnt, Menschen, die Spaß daran haben, ein großes Auto zu fahren, oder einfach nicht anders können, werden an der Tankstelle bestraft. Im Übrigen gibt es noch ein weiteres Lenkungselement, nämlich die KfzSteuer, durch die emissionsarme Fahrzeuge extrem begünstigt werden. Lassen Sie die Finger von den Abschreibungen! Sie machen damit ein Fass auf. Ich habe vorher die Kritikpunkte benannt: Wo fangen Sie an? Wo hören Sie auf? Ich werfe Ihnen vor, dass Sie einen Punkt herausgreifen, nämlich die Dienstwagen, und Neid und Missgunst schüren. Das geht gegen die deutschen Hersteller von Premiumwagen. Ich kann sie nennen: In Baden-Württemberg ist es Mercedes, in Bayern sind es BMW und Volkswagen. Selbst der VW Passat Variant ist in Ihren Augen schon ein spritschluckendes Ungetüm. Diesen Weg gehen wir jedenfalls nicht mit. Wir stehen zu den deutschen Arbeitsplätzen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, bei dieser wichtigen Frage wäre eigentlich Abrüstung auf beiden Seiten angesagt gewesen. Herr Gutting, Ihre steuersystematischen Ausführungen, mit denen Sie Ihre Rede begonnen haben, sind dann doch sehr stark ins Ideologische abgedriftet. Das muss man ehrlich sagen. ({0}) Erlauben Sie mir den Hinweis, dass, was BadenWürttemberg angeht, ein Blick in den Koalitionsvertrag helfen würde. Darin ist, anders als Sie hier behauptet haben, der Ausbau von Straßen ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Die Problematik ist nur, dass die schwarzgelbe Vorgängerregierung den Erhalt von bestehenden Straßen so sträflich vernachlässigt hat, dass es jetzt bei dem begrenzten Volumen an Geldern sehr schwer ist, Mittel in den Neubau zu stecken. Insofern wären ein bisschen Fairness und Objektivität bei der Frage durchaus angebracht gewesen. ({1}) Ich finde, dass die Diskussion darüber, ob wir über steuerliche Anreize eine Motivation geben können, energiesparendere und CO2-einsparende Autos zu entwickeln, durchaus sinnvoll ist. Es ergibt keinen Sinn, wenn eine Seite eine Maßnahme als den Weg schlechthin bezeichnet und eine andere Seite ebendiese Maßnahme als Teufelszeug betrachtet. Die Frage, wie wir erreichen können, dass ökologischere Autos produziert werden, was im Übrigen am Ende im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher sein wird, muss gestellt werden. Die Frage, ob wir diese Entwicklung durch steuerliche Maßnahmen ein Stück weit beeinflussen können, muss man aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. So zu tun, Frau Paus, als ginge es nur um die fetten Cayenne-Dienstwagen, die privat genutzt würden, ist nicht die ganze Wahrheit. ({2}) Den Forderungen in Ihrem Antrag zu entsprechen, würde auch bedeuten, Firmenwagen von kleinen und mittelständischen Unternehmen und von Handwerkern zu belasten. Die stellen aber die Mehrheit. Zu tun, als ob wir hier nur über die Luxusschlitten reden würden, wird dem Problem nicht gerecht. Das halte ich für einen falschen Weg. ({3}) Die Frage, ob wir eine ökologische Lenkung durch Abschreibungsmöglichkeiten erreichen können, darf nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern sie muss auch aus verfassungsrechtlicher Sicht betrachtet werden. Wir reden hier von Betriebsausgaben - übrigens ist davon in Ihrem Antrag sehr wohl die Rede -; wir reden vom Nettokostenprinzip. Das ist gerade dann wichtig, wenn es um die Belange der mittelständischen Wirtschaft geht. Dort spielt es nicht nur bei der Gewinnerzielung, sondern vor allem beim Erarbeiten des Existenzminimums eine Rolle; man betrachte in diesem Zusammenhang beispielsweise Handwerker. Das Nettokostenprinzip ist nicht beliebig einschränkbar; deshalb muss man es sich genau anschauen. Das muss uns klar sein. Nächster Punkt. Auch ich möchte, dass wir die wirtschaftliche Wirkung und die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in Deutschland betrachten. Ich glaube, wir sind verpflichtet, bei der Behandlung dieses Themas alle genannten Aspekte zu berücksichtigen. Ich will ausdrücklich sagen, dass die SPD die Möglichkeit der Einschränkung beim Betriebsausgabenabzug durchaus für sinnvoll hält. Was die Vorgaben, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, angeht: Aus meiner Sicht ist es völlig unrealistisch, den CO2-Zielwert in der vorgegebenen Zeit auf 80 Gramm pro Kilometer zu senken. Ich will es einmal so formulieren: Wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttet, dann kann man sein Ziel auch insgesamt diskreditieren. Meine dringende Bitte ist, dass man bei der Behandlung dieses Themas bezüglich des Einsatzes der Instrumente realistisch ist und dass man nicht sagt: Das ist unsere Idealvorstellung; daran orientiert sich unsere steuerpolitische Vorgabe, die für jeden gelten soll, egal was für arbeitsmarktpolitische Auswirkungen, egal was für Auswirkungen auf deutsche Automobilhersteller das hat. Da sollten wir uns alle gemeinsam zu einer vernünftigen Betrachtung durchringen. Ich will noch zwei Punkte ansprechen, mit denen ich Probleme habe. Wenn ich Ihren Antrag richtig verstanden habe, beziehen Sie Ihre Vorstellungen hinsichtlich der Einschränkung der Abschreibungen nicht nur auf Neuwagen, sondern auch auf Bestandswagen. Man muss einmal gedanklich durchspielen, was das für einen kleinen Mittelständler bedeutet. Anders als manchmal vermittelt wird, hat er womöglich keinen so üppigen Gewinn, dass er sich einen fetten Dienstwagen leistet; vielmehr ist er eventuell auf das Auto angewiesen, das er bereits besitzt. Ihm sollte man nicht sagen: Bis 2016 orientierst du dich am CO2-Zielwert von 80 Gramm pro Kilometer, und kaufe dir ganz schnell ein neues, teures Auto. Dieser Mittelständler muss zur Einkommenserzielung vielmehr die Möglichkeit haben, sich - genauso wie die Automobilindustrie bei ihren Produktionslinien - in einem bestimmten Zeitraum auf Vorgaben entsprechend einzustellen. Ich sage ausdrücklich: Einen solchen Ansatz kann ich in Ihrem Antrag angesichts der geforderten Umsetzungsgeschwindigkeit und der sonstigen Vorgaben - sie sind von der Realität weit entfernt - nicht erkennen. Ich gehe davon aus, dass wir über die Einzelheiten in diesem Antrag gemeinsam diskutieren werden. Ich halte es für sinnvoll, mit den verschiedenen Experten ein Fachgespräch zu führen. Man sollte gemeinsam die Fragen „mögliche Lenkungswirkungen“, „schädliche Auswirkungen“, „Wie können wir realistisch vorgehen?“ behandeln. Noch eine Anmerkung. Im Übrigen sollte man sich einmal die Frage der verwaltungsmäßigen Umsetzbarkeit anschauen. Allein die Beispielrechnungen in Ihrem Antrag zeigen, dass wir damit noch nicht einmal, um es vorsichtig zu formulieren, ansatzweise zu einem einfacheren Steuerrecht kommen. ({4}) Ich sage ausdrücklich: Wir teilen Ihre Zielvorgabe. Wir halten steuerliche Lenkungsimpulse für richtig. Wir glauben nicht, dass der beschriebene Weg richtig ist. Über die Details können wir im Ausschuss hoffentlich sachverständig und weniger ideologisch miteinander diskutieren. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Ansinnen der Grünen bezüglich einer Änderung der steuerlichen Behandlung von Firmenwagen ist wieder einmal ein klassisches Beispiel dafür, warum wir in den letzten Jahrzehnten ein immer komplizierteres Steuerrecht bekommen haben. Sie stellen ein wunderbar klingendes Ziel in den Raum - die Verringerung des CO2-Ausstoßes - und meinen, dass dieses Ziel über steuerliche Sonderregelungen erreicht werden kann. Die steuerlichen Sonderregelungen, die Sie allerdings vorschlagen, bedeuten, bei Lichte betrachtet, eine solche Verkomplizierung des Steuerrechts, dass wir sie uns nicht leisten können. Sie schlagen eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der Fahrzeuge - auch bei den Betriebsausgaben - anhand von Grenzwerten des CO2-Ausstoßes vor. Bei einem CO2-Ausstoß von bis zu 120 Gramm pro Kilometer sollen die Kosten steuerlich absetzbar sein. Oberhalb von 120 Gramm pro Kilometer soll das dann in Abhängigkeit von einem Quotienten anders sein. Ferner schlagen Sie noch vor, die Grenzwerte jährlich zu senken. Das heißt, dass die Steuerveranlagung jährlich immer wieder angepasst werden muss. Dies ist ganz sicher kein Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts. Es ist vielmehr eine Verkomplizierung, die wir, wie ich finde, den Steuerpflichtigen nicht zumuten können. ({0}) Sie sprechen von Dienstwagen. Der Ehrlichkeit halber müsste man aber von Firmenwagen sprechen, also von allen unternehmerisch genutzten Fahrzeugen. In Ihrem Antrag stellen Sie als Beispiele immer Pkw dar. Sie sprechen zum Beispiel vom 3er BMW oder von großen Porsche-SUVs. Was Sie aber vollkommen vergessen, das sind die Firmenwagen, die zum Beispiel ein Handwerksunternehmen braucht, etwa Transporter, um Material zum Auftragsort zu bringen, und Ähnliches. Hierzu verlieren Sie überhaupt kein Wort. An anderer Stelle Ihres Antrags heißt es aber - geradezu mit einem freudigen Unterton -, dass Sie bei Einführung Ihres Modells von Steuermehreinnahmen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro ausgehen. Sie machen das Steuerrecht also nicht nur komplizierter - bis hin zur Unanwendbarkeit -, sondern Sie belasten die Steuerpflichtigen in Deutschland auch noch zusätzlich in Höhe von 3,5 Milliarden Euro. Wenn das die Antwort der Grünen auf Fragen der Steuerpolitik ist, dann haben sie sich von einer vernünftigen Steuerpolitik komplett verabschiedet. ({1}) Ich möchte jetzt einmal versuchen, mit einer Mär aufzuräumen: Sie tun so, als würde das deutsche Steuerrecht den einzelnen Unternehmer oder Arbeitnehmer geradezu provozieren, einen Spritfresser zu kaufen. Unter steuerlichen Gesichtspunkten könne man sich gar nichts Schöneres vorstellen, als so viel Sprit wie möglich zu verbrauchen. ({2}) Ein ehrlicher Blick ins Steuerrecht zeigt aber ein anderes Ergebnis: Mit der pauschalen Versteuerung der privaten Nutzung von Firmenwagen in Höhe von 1 Prozent des Listenpreises pro Monat werden gerade die teureren Fahrzeuge stärker belastet als die weniger teuren. Ich denke, es besteht Einigkeit darin, dass umso eher eine Tendenz zu höherem Spritverbrauch besteht, je teurer ein Fahrzeug ist. Wir haben also bereits in der jetzigen Steuersystematik einen Anreiz, sich weniger stark spritfressende Fahrzeuge anzuschaffen. Das, was Sie als Ziel formulieren, haben wir im geltenden Steuerrecht bereits erreicht. ({3}) Letztlich ist das auch eine Neiddebatte, die Sie hier aufmachen. Sie sprechen von großen Dienstwagen, von der Mercedes-Benz S-Klasse und dem 7er BMW. Aber es ist eben auch der mittlere Angestellte, der als Belohnung für seine langjährige engagierte Tätigkeit für das Unternehmen seines Arbeitgebers einen Dienstwagen gestellt bekommt. Das wird dann aber keine S-Klasse und auch kein Porsche Cayenne sein. Das wird eher ein 3er BMW sein, den Sie in Ihrem Antrag übrigens ausdrücklich erwähnen. Diesen Angestellten, der als Belohnung für sein langjähriges Engagement für seinen Arbeitgeber einen Dienstwagen gestellt bekommt, wollen Sie zusätzlich bestrafen. Sie zeigen mit Ihrem Antrag deshalb auch, dass Sie insgesamt leistungsfeindlich geprägt sind. Ihr Antrag enthält drei Punkte: Sie verkomplizieren das Steuerrecht, Sie erhöhen die Steuerbelastung, und Sie zeigen eine Leistungsfeindlichkeit. Das werden wir sicherlich nicht unterstützen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Rede der Kollegin Dr. Barbara Höll aus der Frak- tion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8462 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Februar 2012, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.