Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich dem Kollegen Siegmund Ehrmann zum 60. Geburtstag gratulieren, den er am Dienstag dieser Woche gefeiert hat, und
im Namen des Hauses alle guten Wünsche übermitteln.
({0})
Wir haben einige Wahlen durchzuführen.
Der Kollege Michael Link scheidet als ordentliches
Mitglied aus dem Gemeinsamen Ausschuss gemäß
Art. 53 a des Grundgesetzes aus. Die FDP-Fraktion
schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Birgit
Homburger vor, die bisher stellvertretendes Mitglied
dieses Gremiums war. Als neuer Stellvertreter soll für
sie der Kollege Joachim Spatz berufen werden. Sind
Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegen
hiermit als Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses
gewählt.
Der Kollege Holger Ortel hat auf seinen Sitz in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates
verzichtet. Die SPD-Fraktion schlägt deshalb vor, den
Kollegen Dr. Martin Schwanholz als Nachfolger zu berufen. Ich vermute, dass es auch dazu Einvernehmen
gibt. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Schwanholz damit als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.
Aus dem Beirat bei der Bundesnetzagentur scheidet der Kollege Patrick Döring als ordentliches Mitglied
aus. Die Fraktion der FDP schlägt den Kollegen Horst
Meierhofer als Nachfolger vor, der bisher stellvertretendes Mitglied des Beirates war. Als neuer Stellvertreter
soll der Kollege Michael Kauch berufen werden. Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann sind die
beiden Kollegen hiermit gewählt.
In das Kuratorium der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland soll auf
Vorschlag der Fraktion Die Linke der Kollege Paul
Schäfer als ordentliches Mitglied für den Kollegen Jan
Korte berufen werden. Darf ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall. Dann ist der Kollege Schäfer hiermit gewählt.
Schließlich schlägt die SPD-Fraktion vor, für die Kollegin Sonja Steffen die Kollegin Kerstin Tack als
Schriftführerin zu wählen. - Auch das ist einvernehmlich. Damit ist die Kollegin Tack als Schriftführerin bestellt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 45 und 46 auf Drucksache 17/8404
({1})
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Zweifelhafte Überwachung von 27 MdB der
Fraktion DIE LINKE durch den Verfassungsschutz
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa
Paus, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dienstwagenprivileg abbauen und Besteuerung CO2-effizient ausrichten
- Drucksache 17/8462 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 27 wird abgesetzt und durch
den Zusatzpunkt 3 ersetzt. - Auch damit sind offensichtlich alle einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung
eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung
des Finanzmarktes ({3})
- Drucksache 17/8343 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
- Drucksache 17/8487 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({5})
Roland Claus
Priska Hinz ({6})
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der SPDFraktion sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keine
Einwände. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion.
({7})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend das
Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Mit diesem
Gesetz stellen wir vorsorglich Notfallinstrumente bereit,
um ein Übergreifen der Staatsschuldenkrise auf unser
Finanzsystem, auf unsere Realwirtschaft zu verhindern.
Wir schützen damit nicht nur das Finanzsystem; wir
schützen damit unsere Wirtschaft, wir schützen damit
die Beschäftigten, wir schützen damit letztlich auch die
Steuerzahler vor Belastungen.
Kern dieser Regelung ist es, den ursprünglich bis
Ende 2010 befristeten Bankenrettungsfonds Soffin bis
zum Ende dieses Jahres erneut für Anträge zu öffnen.
Wir hatten den Bankenrettungsfonds, Soffin genannt, damals im Herbst 2008 unter der Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als Antwort auf die Finanzund Wirtschaftskrise eingerichtet. In der Folgezeit wurde
sein Instrumentarium etwas ausgeweitet. Ich möchte die
Möglichkeit der Einrichtung von Bad Banks nennen.
Heute können wir sagen: Die Errichtung des Bankenrettungsfonds Soffin hat ganz wesentlich zur Stabilisierung der Finanzmärkte beigetragen und war insofern
eine Erfolgsgeschichte.
({0})
Wir mussten damals sehr schnell handeln, wir mussten
sehr schnell intervenieren, wir mussten sozusagen am
offenen Herzen operieren. Heute haben wir dagegen eine
etwas andere Situation. Heute wollen wir mit der befristeten Wiedereröffnung des Soffin insbesondere präventiv wirken. Das heißt, heute geht es darum, durch vorbeugende Bereitstellung adäquater Hilfsinstrumente eine
akut krisenhafte Situation erst gar nicht entstehen zu lassen.
Mit dem Gesetz leisten wir, leistet die Koalition einen
Beitrag dazu, dass in Deutschland die europäischen
Ziele zur Eigenkapitalausstattung von Banken im Ernstfall auch mit staatlicher Hilfe erfüllt werden können. Wir
hatten dazu am vergangenen Montag eine Anhörung im
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages. In dieser Anhörung haben alle Experten - ich betone: alle
Experten - hervorgehoben, dass das der richtige Weg ist
und dass das Gesetz notwendig ist.
Mit dem neuen Gesetz bleibt die bisher bestehende
Reihenfolge erhalten. Das heißt, wenn eine Gefährdung
entsteht, sind zunächst die Eigentümer der Banken, also
die Aktionäre, gefordert. Erst anschließend wird überprüft, ob staatliche Unterstützungsleistung notwendig
ist. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen,
möchte ich vorab darauf hinweisen, dass die Nutzung
der Notfallinstrumente wirklich nur für den Notfall vorgesehen ist. Im Regelfall zieht zunächst einmal das sogenannte Restrukturierungsgesetz, das wir zwischenzeitlich geschaffen haben.
Wir müssen künftig bei allen Entscheidungen sehr genau prüfen, ob eine Maßnahme des Finanzmarktstabilisierungsfonds erforderlich ist, und zwar immer unter
dem Gesichtspunkt, ob eine drohende Gefährdung der
Finanzmarktstabilität vorliegt; denn wir sind uns sehr
bewusst: Es geht hier um die Übernahme von Risiken im
Namen des Steuerzahlers. Wenn ein einzelnes Finanzinstitut in eine Notlage gerät, dann sind die Instrumente
des Restrukturierungsfonds anzuwenden. Das heißt, der
Bankensektor muss mit den über die Bankenabgabe eingesammelten Mitteln reagieren und die Situation selbst
bereinigen.
Mit der Wiedereröffnung des Soffin schaffen wir neben den Gewährleistungen, die es schon im Soffin I gab,
weitere Kreditermächtigungen. Wie schon bei der
Erstauflage verfügen wir über einen Garantierahmen von
rund 400 Milliarden Euro; zusätzlich gibt es Kreditermächtigungen von 70 Milliarden Euro zuzüglich
10 Milliarden Euro mit besonderer Zustimmung des
Haushaltsausschusses.
Auch die Instrumentarien bleiben im Kern erhalten.
Der Fonds kann Garantien ausgeben, kann Banken durch
neu ausgegebene Aktien rekapitalisieren oder stille Einlagen erwerben. Darüber hinaus können sogenannte
toxische Wertpapiere in Bad Banks ausgelagert werden.
Wir haben den Begriff der toxischen Wertpapiere erweitert auf alle Wertpapiere, die eventuell bilanzbelastend
sein könnten.
Darüber hinaus haben wir für die BaFin, für die Bankenaufsichtsbehörde, neue Möglichkeiten geschaffen.
Die Aufsichtsbehörde kann, wenn auf dem Finanzmarkt
eine besondere Risikolage vorliegt, zur Abwehr drohenNorbert Barthle
der Gefahren anordnen, dass die Eigenkapitalausstattung
der Banken erhöht werden muss. Sie kann das durch einen Erfüllungsplan, der vorgelegt werden muss, überwachen, und sie kann im Notfall sogar einen Sonderbeauftragten gemäß Kreditwesengesetz einsetzen.
Ein Punkt ist mir sehr wichtig, der im Vorfeld der Debatte in der öffentlichen Diskussion eine Rolle gespielt
hat, und zwar das Thema Schuldenbremse. Es wurde
spekuliert, ob mit diesem Gesetz die Schuldenbremse
eventuell umgangen werden kann. Das Gegenteil ist der
Fall. Wir schaffen mit den im Gesetz enthaltenen Formulierungen erst die Voraussetzung dafür, dass die Schuldenbremse in jedem Fall eingehalten wird.
Da es sich bei Finanzmarktstabilisierungsaktivitäten
um mehrjährige Kreditermächtigungen handelt, musste
dieser Problemfall gelöst werden, weil die Schuldenbremse genauso wie der Haushalt jährlich „denkt“. Wir
haben das deshalb so geregelt, dass dann, wenn eine
strukturelle Verschuldung eintreten sollte, die schuldenbremsenrelevant ist, sofort ein Plan dazu vorgelegt werden muss, wie diese wieder getilgt werden kann, also ein
Tilgungsplan. Insofern greift die Schuldenbremse in jedem Falle.
Ich will noch einen zweiten Aspekt hervorheben, der
mir wichtig ist. Das ist die sogenannte Parlamentsbeteiligung. Bei der Parlamentsbeteiligung haben wir uns intensiv Gedanken darüber gemacht, wie diese auszugestalten ist. Wir haben die Situation, dass uns das
Bundesverfassungsgericht auferlegt hat, dass immer
dann, wenn größere Risiken für den Steuerzahler entstehen, eine weiter gehende Parlamentsbeteiligung vorzusehen ist.
Wir treffen deshalb in dem Gesetz die Regelung, dass
bei den Kreditermächtigungen zunächst nur ein Volumen
von rund 20 Milliarden Euro für frei verfügbar erklärt
wird und weitere 30 Milliarden Euro gesperrt sind. Diese
Sperrung kann, vor allem aus Gründen der Geheimhaltung, nur in dem sogenannten §-10-a-Gremium aufgehoben werden, wenn dort die entsprechenden Gründe dargelegt werden. Über diesen Vorgang ist dann umgehend
der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages zu
unterrichten.
Wir sind davon überzeugt, dass wir auf diese Art und
Weise einen wirklich angemessenen Ausgleich schaffen
zwischen den notwendigen Spielräumen der Exekutive
einerseits und der Kontrollverantwortung des Deutschen
Bundestages, des Haushaltsgesetzgebers, andererseits.
Wir denken, mit dieser Vorgehensweise ist dieser Ausgleich so geschaffen, dass er auch verfassungsfest ist
und dass das Bundesverfassungsgericht mit diesem Vorgehen einverstanden sein kann.
Erlauben Sie mir abschließend noch eine Bemerkung
zum Thema Wettbewerbsverzerrungen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass jede Inanspruchnahme dieses Stabilisierungsfonds potenziell zu Verzerrungen des Wettbewerbs führen kann. Das stellt immer einen Eingriff in
das Bankensystem dar. Das ist logisch. Aber wir haben
die Formulierungen im Gesetz so gewählt, dass das Ziel
erreicht werden soll, Wettbewerbsverzerrungen so weit
als irgend möglich auszuschließen bzw. durch entsprechende Kompensationsmöglichkeiten zu beseitigen.
Ich fasse zusammen: Mit diesem Gesetz stellen wir
vorsorglich Notfallinstrumente bereit, um ein Übergreifen der Staatsschuldenkrise auf das deutsche Finanzsystem, auf die Realwirtschaft zu verhindern. Wir wollen
die Steuerzahler vor größeren Belastungen im Falle einer
krisenhaften Zuspitzung schützen. Wir wollen dafür gewappnet sein. Sollte dieses Gesetz nie zur Anwendung
kommen, was für den Gesetzgeber ein Ausnahmefall
wäre, dann wären wir auch nicht traurig. Das beziehen
wir in unsere Überlegungen ganz bewusst mit ein.
Dennoch bin ich davon überzeugt: Mit diesem Gesetz
senden wir ähnlich wie 2008 ein starkes Signal in die Finanz-, in die Wirtschaftswelt hinein - insofern als wir
bereit sind, dann, wenn es notwendig sein sollte, unser
Finanzsystem zu stabilisieren, zu sichern. Das, meine
Damen und Herren, erzeugt Vertrauen, das erzeugt Stabilität. Vertrauen und Stabilität sind bei allen - auch europäischen - Fragen immer Voraussetzung für Solidarität.
In diesem Sinne fügt sich auch dieses Gesetz in alle
die Maßnahmen ein, die wir bisher getroffen haben. Ich
bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung. Ich kann mir nur
wenige Gründe ausdenken, weshalb man diesem Gesetz
nicht zustimmen sollte.
({1})
Ich bin davon überzeugt, im Kern ihres Herzens ist auch
die Opposition davon überzeugt. Ich bin gespannt darauf, was Sie an Argumenten vorzutragen haben.
Danke.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Carsten Schneider für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieses Gesetz ist ein weiterer Beleg für die Gültigkeit
des Merkel’schen Gesetzes: Was vorher heftig dementiert und ausgeschlossen wird, wird später umso deutlicher und schneller Realität.
({0})
Genau das ist hier der Fall.
({1})
Sie haben zu Beginn dieser Koalition - ich habe mir
den Koalitionsvertrag noch einmal angesehen -, nachdem Sie das Restrukturierungsgesetz, auf das Kollege
Barthle hingewiesen hat, durch den Bundestag gebracht
Carsten Schneider ({2})
haben, ausgeschlossen, dass jemals wieder die Notwendigkeit bestünde, dass ein Gesetz wie das Soffin-Gesetz,
das der Bankenrettung dienen soll, das Licht der Welt erblickt. Aber jetzt legen Sie ein Gesetz vor, das Sie selbst
„Soffin-II-Gesetz“ nennen.
Herr Minister Schäuble, ich habe Sie im Haushaltsausschuss des Bundestages im November/Dezember
2010 mehrfach gefragt, ob es sinnvoll und klug ist, das
Soffin-Gesetz auslaufen zu lassen, sich die Möglichkeit
zu nehmen, mit Kapital, aber auch mit Garantien zur Stabilisierung des Finanzmarkts beizutragen. Sie haben
stets geantwortet: Das brauchen wir nicht mehr. Wir haben das Restrukturierungsgesetz. Wir haben das geregelt. - Jetzt sehen wir: Genau dieses Gesetz - es gibt nur
ein paar Änderungen; Kollege Barthle hat das erläutert wird dem Deutschen Bundestag wieder vorgelegt. Das
ist wieder eine 180-Grad-Wende in Ihrer Politik. Erst haben Sie die ökonomische Einschätzung des IWF, von
Teilen der SPD und anderen, dass dieses Gesetz notwendig ist, für absurd erklärt. Sie haben gesagt, dass Sie das
nicht brauchen. Heute brauchen Sie es aber doch.
({3})
Worum geht es? Wieder werden 400 Milliarden Euro
an Garantien zur Verfügung stehen, für die der Bund und
damit der deutsche Steuerzahler geradesteht. Das ist
nicht ohne Risiko. Banken können Garantien bekommen, um Anleihen zu platzieren. Wir als SPD sehen die
grundsätzliche Notwendigkeit für ein solches Gesetz.
Allerdings sind wir bei einzelnen Maßnahmen anderer
Meinung. Das betrifft zum Beispiel die Frage: Wer zahlt
eigentlich die Zeche, wenn es zu einem Ausfall kommt?
Sie sagen - das werden Sie heute beschließen -: Die
Zeche zahlt die Allgemeinheit, die zahlt der Steuerzahler. - Das halten wir für nicht vertretbar.
({4})
Hier sehe ich eine große Einigkeit mit der Bundeskanzlerin. Sie ist heute nicht anwesend. Abstimmen wird
sie wahrscheinlich auch nicht. Am Mittwoch, dem
15. September 2010, hat sie im Rahmen ihrer Rede zum
Haushalt 2011 gesagt - es ging da um den Bankenrestrukturierungsfonds; ich zitiere -:
Es ist vollkommen klar: Je risikobehafteter das Kapital ist und die Geschäfte sind, umso mehr Abgabe
- Bankenabgabe muss gezahlt werden, damit in Zukunft nicht mehr
der Steuerzahler für solche Krisen eintreten muss,
sondern die Banken das selber tun müssen.
Das hat die Bundeskanzlerin vor anderthalb Jahren gesagt.
Was ist heute? Was wird mit diesem Gesetzentwurf
vorgeschlagen? Kommt es durch Ausfälle - ich halte das
für nicht ganz so unwahrscheinlich wie Kollege Barthle zu einer Inanspruchnahme des Bundes, dann zahlt der
deutsche Steuerzahler, die Allgemeinheit, und es zahlen
eben nicht die Banken und der Finanzsektor. Das ist der
entscheidende Grund, warum wir als SPD diesem Entwurf so nicht zustimmen werden.
({5})
Das heißt nicht: Wir entziehen uns der Verantwortung. Wir sagen: Wir brauchen das. Wir werden auch
nicht populistisch sagen: Jetzt gibt es wieder Geld für die
Banken und für die anderen nicht.
({6})
Ich sage nur: Der Sektor muss diese Kosten im Zweifel
selbst tragen - durch eine Besteuerung oder eine Veränderung der Bankenabgabe -; denn diese Kosten entstehen. Wir sehen das bereits bei dem bestehenden Soffin-IGesetz. Durch die damals notwendig gewordene Enteignung und Abwicklung eines Teils der Hypo Real Estate
wird es zu hohen Verlusten kommen. Schätzungen liegen vor; das genaue Ergebnis werden wir kennen, wenn
das Portfolio nicht mehr besteht.
({7})
Herr Minister Schäuble, man hat den Eindruck, dass
bei Ihnen außer Europa nichts mehr stattfindet. Sie sind
immer noch Finanzminister der Bundesrepublik
Deutschland. Es geht um die Zukunft des Finanzmarktes
in Deutschland. Was Sie diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren auf den Weg gebracht haben, ist fast
nichts. Dabei geht es um die Struktur des Bankensystems in Deutschland. Nehmen Sie das Beispiel Landesbanken: Im September 2010 haben Sie zu einem Gipfel
eingeladen. Ziel war es, das Problem zu lösen. Was war
das Ergebnis? Es gab keins. Die Bundesregierung hat die
Segel gestrichen. Der Bund hat 2 Milliarden Euro zusätzlich bei der WestLB investiert und höchstwahrscheinlich verloren. Das war Ihre Entscheidung. An der
Struktur des Landesbankensystems - hier brauchten wir
wirklich Reformen, sowohl hinsichtlich der Anzahl als
auch hinsichtlich des Bilanzvolumens - gibt es aber
keine Veränderungen.
Nehmen Sie als zweites Beispiel die Einlagensicherung. Es gibt ein Einlagensicherungssystem der privaten
Banken, eines der Genossenschaftsbanken und eines der
Sparkassen. Ich persönlich habe ernsthafte Zweifel an
der Notwendigkeit von drei verschiedenen Systemen
und an der Leistungsfähigkeit der Systeme. Was haben
Sie diesbezüglich in den letzten anderthalb, zwei Jahren
auf den Weg gebracht? Nichts, gar nichts! Auch an dieser Stelle: Versagen.
Jetzt komme ich zu den Eigentumsverhältnissen.
Nehmen wir die Hypo Real Estate als Beispiel. Ich will
gar nicht auf den Buchungsfehler von 55 Milliarden
Euro eingehen - das war ja nur eine „Kleinigkeit“, die da
durchgegangen ist -, sondern auf die Frage: Was passiert
eigentlich mit dem Rest der Hypo Real Estate? Ist es
wirklich notwendig, dass Sie als bürgerliche, marktwirtschaftlich - das gilt vor allem für die FDP - orientierte
Koalition versuchen, die Deutsche Pfandbriefbank, die
Sie nebenbei abgespalten haben - sie ist zu 100 Prozent
Carsten Schneider ({8})
staatliches Eigentum -, zu finanzieren, obwohl es für deren Geschäftsmodell nur einen sehr schwierigen Markt
gibt? Die Expertenkommission von Professor Zimmer,
die Sie per Koalitionsvertrag und Bundesregierungsbeschluss einberufen haben, hat Ihnen empfohlen, diese
Bank abzuwickeln, sie vom Markt zu nehmen. Das wäre
für den Finanzplatz Deutschland eine wichtige strukturelle Entscheidung gewesen. Was machen Sie? Mit
Staatsgeld, mit Staatsgarantien halten Sie diese Bank am
Leben; dies birgt ein hohes Risiko, dass zukünftig wieder Verluste entstehen. Da kann ich keine Ordnungspolitik erkennen, im Gegenteil. Deswegen meine ich, dass
Sie auch an dieser Stelle im Finanzsektor in Deutschland
versagt haben.
({9})
Ich könnte diese Liste noch weiterführen. Ich will
jetzt aber erläutern, was wir als SPD-Fraktion an diesem
Gesetzentwurf kritisieren; wir haben - in Teilen gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen - entsprechende Änderungsanträge im Ausschuss eingebracht.
Die erste Frage, die Frage der Kosten, habe ich schon
genannt.
Die zweite Frage ist: freiwillige Eigenkapitalzuführung oder notfalls durch Zwang? Die Amerikaner und
die Briten haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass
sie im Rahmen der Finanzkrise gesagt haben - es war
vor allem der damalige Finanzminister Paulson -: Wenn
ihr in Schwierigkeiten seid und zusätzliches Eigenkapital braucht, um Verluste auszugleichen und Vertrauen
wiederzugewinnen, dann ist es notwendig, das schnell
und zügig zu erledigen.
Sie legen jetzt eine rein freiwillige Lösung vor. Es gab
ja den Referentenentwurf. In der Phase konnten die Banken bzw. die Vorstände sozusagen überlegen, ob man
staatliche Hilfe haben möchte oder nicht. Ich zitiere nur
Herrn Blessing, den Chef der Commerzbank, der sagte:
Da gehe ich nie wieder hin. - Die wollen das also nicht.
Diese Einzelinteressen mögen nachvollziehbar sein; im
Interesse des öffentlichen Gutes Finanzmarktstabilität
und öffentliche Finanzen ist das aber nicht. Deswegen ist
ein staatliches Eingriffsrecht an dieser Stelle unumgänglich. Sie selbst hatten im Referentenentwurf eine bessere
Möglichkeit vorgesehen. Herr Minister Schäuble, ich
kann die Veränderung des Entwurfs nur so interpretieren, dass Sie sich gegenüber der FDP nicht durchsetzen
konnten; aber es ist ein großer Fehler, sich auf die Freiwilligkeit und die Einsicht der Bankvorstände zu verlassen. Das haben die vergangenen drei Jahre gezeigt.
({10})
Die dritte Frage lautet: Wie beteiligen wir uns an Banken? Niemand hier will Staatsbank spielen, im Gegenteil: Wir haben immer deutlich gemacht, dass man sich
so schnell wie möglich lösen sollte, zum Beispiel von
der Deutschen Pfandbriefbank, und dort als Staat dauerhaft kein Kapital halten sollte. Wenn es aber notwendig
ist, dass wir uns beteiligen, dann, so meine ich, muss es
zwingend so sein, dass wir auch das Sagen haben. Das
ist ebenfalls eine Lehre aus den vergangenen drei Jahren.
Das Sagen zu haben, bedeutet, sich tatsächlich Aktienkapital und Mitspracherechte zu sichern und in Teilen
auf die Geschäftspolitik Einfluss zu nehmen; denn es ist
unser Geld, das Geld des Steuerzahlers, das hier investiert wird. In diesem Sinne muss klar sein, dass wir als
Bundestag dann auch die Rechte haben, zu kontrollieren
und Einfluss zu nehmen. Das steht für uns an erster
Stelle. Sie sehen das nur als Möglichkeit im Gesetzentwurf vor. Diese Möglichkeit kann so oder so genutzt
werden. Das ist uns eindeutig zu wenig. Ganz klar:
Wenn man sich beteiligt, dann muss man auch Aktienkapital halten!
Der vierte Punkt findet sich auch in einem unserer
Änderungsanträge wieder. Wir sind der Auffassung:
Wenn eine Bank Stabilisierungsmaßnahmen erhält, darf
es keine Boni und keine Dividendenausschüttung geben.
Solange die Bank vom Staat gestützt wird, muss klar
sein, dass Gewinne nicht an Mitarbeiter und Aktionäre
ausgezahlt, sondern dazu verwendet werden, das Eigenkapital zu stärken, sodass wir als Staat nicht mehr das
Risiko tragen. Es kann nicht sein, dass der Staat für die
Risiken geradesteht und das private Kapital die Gewinne
mitnimmt.
({11})
Das ist nicht soziale Marktwirtschaft, wie wir sie uns
vorstellen.
Der fünfte Punkt: die Befristung des Gesetzes. Sie befristen das Gesetz bis zum 31. Dezember 2012; es wird
also letztendlich in der praktischen Anwendung etwa ein
Dreivierteljahr gelten. Sie haben - das ist ein gutes Beispiel, wie man Europapolitik nicht machen sollte - durch
die Stresstests der europäischen Bankenaufsicht mehr
Verunsicherung geschaffen als Sicherheit.
Herr Minister Schäuble, Sie gehören der EBA ja nicht
an. Aber Sie haben als Finanzminister mit den Beschluss
gefasst, dass ein Stresstest durchgeführt werden soll, und
nach dem Beschluss, dass er durchgeführt werden soll,
zugelassen, dass sechs bis acht Wochen lang hin und her
überlegt und hoch und runter über die Frage diskutiert
wurde: Was ist hartes Eigenkapital und was nicht? Die
Anforderungen wurden permanent verändert. Staatsanleihen wurden „gestresst“ - das heißt, sie müssen näher
am Marktwert bilanziert werden -, was dazu führt, dass
jetzt keiner mehr Staatsanleihen kauft. Deswegen: Ein
Grund dafür, dass sich Europa jetzt in einer Krise befindet, besteht darin, dass Sie diesen verkorksten Stresstest
zugelassen haben. Sie hätten ihn verhindern müssen.
({12})
Der Stresstest hatte zur Folge, dass Staatsanleihen als
unsicher gelten. Sie befördern das sogar durch die Aufsicht, indem festgelegt wurde, dass sie derzeit zum
Marktpreis zu bilanzieren sind. Das führt dazu, dass jetzt
keine Staatsanleihen mehr gekauft werden. Die Nullgewichtung, die wir bisher hatten, wurde ad absurdum geführt. Sie selbst haben einen Katalysator geschaffen, der
bewirkt, dass die Verunsicherung an den Märkten größer
wird.
Carsten Schneider ({13})
Deswegen, meine Damen und Herren: Wir stimmen
diesem Gesetzentwurf so nicht zu, weil er unvollkommen ist, weil er die Rechte des Parlaments und des deutschen Steuerzahlers nicht ausreichend würdigt und weil
Sie der FDP an dieser Stelle viel zu weit entgegengekommen sind.
Vielen Dank.
({14})
Florian Toncar ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
aktuelle Schuldenkrise in Europa zwingt uns, in
Deutschland und europaweit zu handeln, und zwar auch
mit Blick auf die Stabilität des Finanzsektors. Wir haben
in der Krise vor drei Jahren gelernt: Wenn in einer angespannten Lage ein problematisches, ein auslösendes
Ereignis hinzukommt - damals war es die Pleite von
Lehman Brothers -, kann Panik ausbrechen und kann
sich Verunsicherung breitmachen, und dann ist der Schaden allein deshalb weit größer, als er sein müsste. Genau
deshalb sorgen wir jetzt dafür - europaweit, aber eben
auch in Deutschland -, dass dieses Mal bessere Vorbereitungen getroffen werden und man sich absichert, auch
gegen unerwünschte oder unerwartete Ereignisse.
({0})
Banken sollen einen Sicherheitspuffer anlegen, der sie in
die Lage versetzt, kritische Situationen zu überstehen.
Das nutzt unserer gesamten Wirtschaft, unserer Wirtschaftsleistung, den Sparern und damit auch der Allgemeinheit.
Dieses Gesetz ist, anders als der Kollege Schneider
gesagt hat, kein Gesetz zur Bankenrettung. Es ist kein
Gesetz, das Banken, die eigentlich insolvent werden würden oder kein Geschäftsmodell mehr haben, am Leben
und am Markt hält. Für Situationen, in denen eine Bank
faktisch pleite ist oder kurz vor der Pleite steht - solche
Fälle gab es in den letzten drei Jahren auch in Deutschland -, haben wir ein eigenes Gesetz geschaffen, das
weiterhin gültig bleibt: das Restrukturierungsgesetz.
Eine Bank, die kein Geschäftsmodell hat bzw. pleite
oder fast pleite ist, wird geordnet und gesteuert vom
Markt genommen. Das ist der richtige Weg, weil wir
nicht lebensfähige Banken nicht mit Steuergeldern am
Markt und am Leben halten können.
({1})
Worum es hier geht, ist etwas anderes. Wir reden über
Banken, die eigentlich alle rechtlichen Vorgaben erfüllen
und bisher genug Kapital hatten. Diesen Banken sagen
wir: Ihr müsst für schwierige Situationen, die in den
nächsten Monaten vielleicht auf euch zukommen, einen
zusätzlichen Sicherheitspuffer, den wir bisher nicht von
euch verlangt haben, vorhalten. - Im Grunde werden die
Banken also mit einem Airbag nachgerüstet, wenn sie
nicht schon einen haben. Darum geht es. Das bedeutet
aber nicht, dass das Auto nicht mehr fahren kann bzw.
dass ein Schaden vorliegt. Deshalb ist dies auch keine
Kehrtwende, Kollege Schneider, sondern ein neuer Ansatz und ein neues Instrument, das sicherlich nicht im
Widerspruch zum Restrukturierungsgesetz steht.
Es läuft so, dass die Bankenaufsicht bis zum 30. Juni
dieses Jahres jeder einzelnen Bank Vorgaben macht und
erklärt, ob sie nachsteuern muss. In Deutschland gibt es
sechs Banken, die nachsteuern und weiteres Kapital mobilisieren müssen, um für schwierige Situationen, die wir
hoffentlich nicht erleben werden, die wir aber auch nicht
ausschließen können, gewappnet zu sein. Dabei ist klar:
Jede der sechs betroffenen deutschen Banken hat bis
zum 30. Juni dieses Jahres Zeit. Sie muss zunächst einmal alles dafür tun, das, was sie nachholen muss, selber
und mit eigenen Mitteln hinzubekommen. Es geht nicht
darum, dass man ihr Steuergelder aufdrängt. Es geht
auch nicht darum, gedankenlos Steuergelder zur Verfügung zu stellen. Vielmehr sind erst einmal die Unternehmen selber gefragt, wie es in der sozialen Marktwirtschaft selbstverständlich sein sollte, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
Alle Banken in Deutschland, die nachsteuern müssen,
haben übrigens erklärt, dass sie das auch tun wollen.
Keine von ihnen möchte Steuergeld haben,
({2})
sondern die Banken, die betroffen sind, möchten erst
einmal selber ihre Pflicht erfüllen.
({3})
Ich kann nur sagen: Ich begrüße das, weil ich es für
selbstverständlich halte, dass ein Unternehmen, das privat Gewinne erwirtschaften will, mit eigenen Mitteln
alles, was möglich ist, tut, um die rechtlichen Vorgaben
zu erfüllen. Das, was angekündigt worden ist, ist sehr in
unserem Sinne.
({4})
Dass die deutschen Banken alles dafür tun, dass sie
kein Steuergeld brauchen, beweist doch eines: Dieser
Hilfsfonds ist keine Hängematte und kein bequemer
Weg. Die Banken können sich also nicht einfach Geld
vom Steuerzahler holen und weitermachen wie bisher,
sondern das ist schmerzhaft, weil es mit Gegenleistungen und Kosten, die die Banken dafür zahlen müssen,
verbunden ist. Deshalb wollen sie es auch nicht. Auch
das muss hier gesagt werden: Wir sind sehr streng, wenn
es doch einmal jemanden gibt, der Steuergeld will, so
streng, dass das niemand von sich aus einfach so beantragen würde. Auch das ist politisch gewünscht, weil wir
wollen, dass die Banken ihre Hausaufgaben selber machen und nicht zum Staat rennen.
({5})
Deswegen verlangen wir von denen, denen mit diesem Fonds geholfen werden soll, einiges. Sie müssen zunächst einmal ein stabiles Geschäftsmodell entwickeln,
und sie müssen die Dinge, die nicht mehr tragfähig und
auch unverantwortlich gewesen sind, abbauen und einstellen. Sonst können sie keine Hilfe von uns bekommen. Darüber hinaus müssen sie angemessene Vergütungsregeln vereinbaren und sich vor allem - das ist die
wichtigste Aufgabe des Finanzsektors - der Versorgung
der Realwirtschaft, der produzierenden Unternehmen
und auch der privaten Kunden verpflichten. Dafür sind
Banken da, und das verlangen wir, bevor wir überhaupt
darüber nachdenken, ob es auch nur 1 Euro Steuergeld
für eine deutsche Bank gibt.
Der Kollege Schneider hat die Themen Aktien und
Mitspracherechte angesprochen. Kollege Schneider, einerseits sagen Sie, wir dürften die Kosten für solche
Aktionen nicht dem Steuerzahler aufbürden, und im
gleichen Atemzug fordern Sie, dass wir mehr Aktien erwerben und Mitspracherechte erhalten müssen. Sie müssen sich einmal überlegen, was Sie wollen. Wenn Sie
mehr Aktien und mehr Mitspracherechte wollen, dann
müssen Sie dafür Steuergeld in die Hand nehmen. Wenn
Sie das nicht wollen, dann bekommen Sie auch nicht
mehr Mitsprache. Beides zusammen funktioniert nicht;
das ist ein Widerspruch in sich. Innerhalb von acht Minuten Redezeit haben Sie hier ganz bemerkenswerte Widersprüchlichkeiten von sich gegeben.
({6})
Zu den Kosten der Rettungsaktionen in der Vergangenheit will ich nur eines sagen: Die Commerzbank hat
in zwei Schritten insgesamt 18 Milliarden Euro aus
Steuermitteln bekommen. Den Großteil davon, nämlich
90 Prozent, erhielt sie als stille Einlage, und nur für ein
Zehntel davon haben wir Aktien erhalten. Dass ausgerechnet die Sozialdemokraten, die damals den Finanzminister gestellt haben, uns jetzt sagen, wir müssten
mehr Aktien verlangen, ist wirklich ein Treppenwitz.
Als Sie es hätten tun können und als es auch geboten gewesen wäre,
({7})
haben Sie darauf verzichtet, viele Aktien zu erwerben,
und genau das Gegenteil gemacht. Jetzt fordern Sie das
plötzlich. Sie müssen uns das gar nicht sagen; denn wir
würden es ohnehin anders machen, als Sie es getan haben, als Sie die Möglichkeit dazu hatten.
({8})
Mir hat übrigens in den letzten drei Jahren noch niemand von den Sozialdemokraten erklären können, warum man die Aktien der Commerzbank, die man erworben hat, so teuer gekauft hat. Der Börsenkurs der
Commerzbank lag zu dem Zeitpunkt, als Sie eingestiegen sind, bei 3,80 Euro, und Minister Steinbrück, der damals verantwortlich war, hat die Aktien für 6 Euro gekauft.
({9})
Vielleicht können Sie sich einmal dazu äußern, warum
Sie dem Steuerzahler 700 Millionen Euro ungerechtfertigte Extrakosten zugemutet haben, die in die Commerzbank geflossen sind, wodurch die Alteigentümer ungerechtfertigterweise bereichert wurden. Ich habe bisher
keinen sachlichen Grund dafür gehört, warum Sie das
gemacht haben. Sie haben damals unnötigerweise Geld
ausgegeben.
({10})
Wir achten auf Kostenkontrolle und würden das sicherlich zu Börsenkursen abwickeln und nicht, wie Sie, einfach noch einmal 50 Prozent zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland draufschlagen.
({11})
Ich stelle übrigens fest: Sie hätten in dieser Debatte
Gelegenheit, uns einmal zu erklären, warum die 6 Euro
richtig waren, aber Sie tun es nicht. Das schlechte Gewissen ist Ihnen anzusehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Gesetzentwurf
selber.
Herr Kollege Toncar, darf der Kollege Schneider Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja, dazu habe ich ihn ja fast aufgefordert.
({0})
Insofern muss ich sie nun auch zulassen. Bitte schön.
Herr Kollege Toncar, Sie haben das ja gestern im
Haushaltsausschuss und auch im Zusammenhang mit der
Hypo Real Estate schon gesagt. Ich gehe davon aus, dass
Ihnen bekannt ist, dass es sowohl zum Zeitpunkt der
Maßnahmen zur Enteignung der Hypo Real Estate als
auch im Fall der Commerzbank kein Restrukturierungsgesetz gab. Das war ein Problem. Mir liegt allerdings
auch kein Entwurf der FDP-Fraktion aus dieser Zeit vor.
Das ist geändert worden; das ist in Ordnung. Weil damals aber kein entsprechendes Gesetz vorlag, mussten
wir mit einem eigenen Enteignungsgesetz - nach Vorlage und auf Empfehlung des BaFin-Chefs und des damaligen Bundesbankchefs Weber, die gesagt haben, wir
sollen das so machen - handeln.
Sie haben zwei Punkte genannt. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass Sie, wenn Sie eine Aktie
erwerben, ein Angebot machen müssen und dass es zwischen dem vorherigen Angebot, das Sie nach dem Aktiengesetz veröffentlichen müssen - Sie sind ja Jurist
und wissen das -, und dem, was Sie dann tatsächlich
zahlen müssen, einen Unterschied gibt. Es gilt natürlich
der vorherige Zeitpunkt, und da lag der Kurs bei 6 Euro.
Durch den Staatseinstieg war der Kurs zum Zeitpunkt
Carsten Schneider ({0})
des Kaufes niedriger; deswegen hat der Kauf real zu diesem niedrigeren Kurs stattgefunden. Wenn Sie anderer
Auffassung wären, wenn Sie meinen, der damalige
Finanzminister Steinbrück hätte das unkorrekt gemacht,
müssten Sie ihn verklagen. Warum tun Sie das nicht?
Kollege Schneider, wir werden den Vorschlag und die
Option, jemanden zu verklagen, prüfen. Aber darauf
wollte ich nicht hinaus. Ich glaube, dass es politisch
nicht vertretbar ist, wenn der Börsenkurs einer Aktie bei
3,80 Euro liegt und dann auf Kosten des Steuerzahlers
für 6 Euro gekauft wird. Sie haben dieser Deutung nicht
widersprochen; das muss man noch einmal sagen.
({0})
Es sind 6 Euro pro Aktie gezahlt worden. Es gibt keine
rechtliche Verpflichtung, das zu machen.
Übrigens hätten Sie damals für den gleichen Preis ein
Drittel der Aktien erwerben können; das wäre gesetzlich
möglich gewesen. Sagen Sie also nicht, dass es dafür
keine gesetzlichen Grundlagen gab. Es war eine rein
politische Entscheidung, dass Sie ein Viertel aller Aktien
wollten, dass Sie dafür 1,8 Milliarden Euro gezahlt haben, was einem Preis von 6 Euro pro Aktie entspricht.
All das ist politisch entschieden worden. Das war eine
falsche Entscheidung, weil diese Lösung für die Steuerzahler in Deutschland ungerechtfertigt teuer war.
({1})
Ich will zu dem Entwurf noch einiges sagen. Wir haben in dem Entwurf das Thema parlamentarische Beteiligung geklärt. Bisher hatte der Deutsche Bundestag bei
der Verwaltung des Fonds nur reine Informationsrechte.
Wir haben jetzt dafür gesorgt, dass die Regierung auf der
einen Seite da schnell handeln kann, wo es nötig ist. Auf
der anderen Seite haben wir einen Teil der Kreditermächtigung, also einen Teil des Geldes, das dem
Fonds zur Verfügung steht, gesperrt. Denn wenn wirklich größere Summen ausgegeben werden sollen, dann
wollen wir das vorher kontrollieren. Dann ist es unsere
Pflicht als Deutscher Bundestag, zu kontrollieren, ob die
Gelder sinnvoll eingesetzt werden und damit wirtschaftlich umgegangen wird.
Deswegen müssen größere Summen von uns freigegeben werden. Das haben wir neu eingeführt. Das heißt,
das Parlament ist in einer stärkeren Rolle als bisher. Natürlich haben Sie recht, Kollege Schneider, dass das zu
einem guten Teil die Handschrift meiner Fraktion ist.
Für dieses Lob darf ich Ihnen abschließend besonders
danken.
({2})
Herr Kollege, das war doch eigentlich ein guter
Schlusssatz.
Jetzt kommt der Schlusssatz des Tages, jedenfalls was
mich angeht. - Wir haben notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der
Finanzmarkt stabilisiert werden kann. Dazu müssen
europäische Maßnahmen kommen, die in Arbeit sind
und um die es auch in der nächsten Woche geht. Ich bedanke mich für die guten Beratungen. Natürlich wird die
FDP-Fraktion dem Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Die Kollegin Sahra Wagenknecht ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Vom organisierten Geld regiert zu werden, ist genauso schlimm, wie vom organisierten Verbrechen
regiert zu werden.
({0})
Nein, liebe Damen und Herren vom Verfassungsschutz,
Sie müssen diesen Satz nicht mitschreiben. Er stammt
nicht von einem Kommunisten.
({1})
- Sie sagen „Blödsinn“. Wissen Sie, von wem der Satz
stammt? Dieser Satz stammt von dem amerikanischen
Präsidenten Franklin D. Roosevelt.
({2})
Franklin D. Roosevelt hat diesen Satz nicht einfach nur
dahergeredet, sondern er hat die Konsequenzen daraus
gezogen. Er hat nämlich in seiner Regierungszeit den
Finanzsektor massiv reguliert. Das war die Konsequenz
aus diesem Satz. Von solcher Konsequenz ist die Bundesregierung leider Lichtjahre entfernt.
Der Ausbruch der letzten großen Finanzkrise liegt inzwischen gut drei Jahre zurück. Damals haben die Staaten die Banken zum ersten Mal mit Billionen an Steuergeld aus dem selbstverschuldeten Schlamassel gerettet.
Viele Staaten haben sich dadurch so viele Schulden aufgehalst, dass sie jetzt selbst zunehmend in die Pleite
schlittern. Angeblich ging es nur um die Konten der
Kleinsparer. Angeblich sollte dieser großen Rettungswelle damals eine mindestens so große Regulierungswelle folgen. So sollte verhindert werden, dass es jemals
wieder Cash for Trash, also Steuergeld für Finanzmüll
geben muss.
Das ist fast drei Jahre her. Drei lange Jahre wurde die
Öffentlichkeit mit Scheinaktivitäten hingehalten und getäuscht. Drei lange Jahre ist faktisch nichts passiert. Das
Kasino wurde nicht geschlossen.
({3})
Es ist heute größer als je zuvor. Es wird aktuell sogar gerade von der Europäischen Zentralbank noch einmal mit
zusätzlichen Hunderten Milliarden an Spielgeld ausgestattet.
Nahezu alle Geschäfte, die 2008 den Finanzcrash ausgelöst haben, sind unverändert legal und werden unverändert gemacht. All die undurchsichtigen und dubiosen
Derivate, vor denen Warren Buffett schon 2002 gewarnt
hat, indem er gesagt hat, das seien finanzielle Massenvernichtungswaffen, sind nach wie vor auf dem Markt.
Banken wie die Deutsche Bank verdienen sich dumm
und dämlich damit. All die zweifelhaften Verbriefungen,
die sich damals als Giftpapiere, als toxische Papiere entpuppt haben, werden nach wie vor fleißig von den Banken zusammengebastelt und neuerdings zum großen Teil
bei der EZB abgeladen.
„Keine Bank darf so groß sein, dass sie wieder Staaten erpressen kann.“ Das hatte Frau Merkel im Krisenjahr 2008 öffentlich verkündet. Und? Haben Sie irgendeine private Bank in Deutschland verkleinert? Sie
haben das Gegenteil gemacht. Sie haben gefördert und
unterstützt, dass die zwei größten privaten Banken noch
größer geworden sind, indem sie weitere Banken, nämlich die Commerzbank die Dresdner Bank und die Deutsche Bank sogar zwei Banken, übernommen haben. Das
haben Sie auch noch politisch unterstützt. Das lässt nur
einen Schluss zu: Sie fühlen sich offenbar ganz wohl in
der Abhängigkeit von den Banken. Das mag vielleicht
auch damit zu tun haben, dass von Allianz und Co. regelmäßig Millionen an Spenden fließen, sowohl an die
Regierungsparteien als auch an SPD und Grüne.
({4})
Bei einer solchen Bankenhörigkeit kommen immer
wieder Gesetzentwürfe wie der heraus, den wir heute beraten. Ihre letzte Bankenrettungsrunde, damals noch in
der Großen Koalition, hat die deutsche Staatsverschuldung um 265 Milliarden Euro nach oben getrieben. Jetzt
sollen den Banken erneut 480 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, zu ähnlich unsäglichen Konditionen wie 2008. Ich finde es, ehrlich gesagt, unglaublich,
was Sie sich trauen.
Auch die tolle Bankenabgabe hat sich als völliger
Flop erwiesen. Es gab große Ankündigungen: Die Banken sollten einen Fonds speisen, aus dem künftige Rettungsmaßnahmen finanziert werden. 70 Milliarden Euro
sollten dadurch zusammenkommen.
Die Linke hatte schon damals gewisse Zweifel, dass
sich die nächste Finanzkrise an Herrn Schäubles Planung
halten und erst in 35 Jahren eintreten wird. Denn Sie
sind damals davon ausgegangen, dass die Bankenabgabe
jährlich 2 Milliarden Euro einbringt. Das hieße, nach
35 Jahren hätte man die 70 Milliarden Euro zusammengehabt. Aber das war alles viel zu optimistisch. Von
2 Milliarden Euro Einnahmen kann keine Rede sein. Die
Bankenabgabe hat im letzten Jahr gut 500 Millionen
Euro eingespielt. 500 Millionen Euro wurden bei den
Banken einkassiert. Das ist nichts.
Allein der Betrag, den die Deutsche Bank den Steuerzahlern verdankt, beläuft sich auf 30 Milliarden Euro.
30 Milliarden Euro an Forderungen hat die Deutsche
Bank nicht abschreiben müssen, weil die Staaten andere
Banken gerettet haben, nämlich die Hypo Real Estate,
die IKB, in den USA die AIG usw. 30 Milliarden Euro:
Das entspricht dem gesamten harten Kernkapital der
Deutschen Bank. Das heißt, auch dieses Institut wäre
komplett pleite gewesen, wenn die Staaten nicht mit Rettungsmilliarden eingegriffen hätten. Aber die Idee, sich
die 30 Milliarden Euro von einem Finanzinstitut zurückzuholen, das Boni und Dividenden ausschüttet, liegt offenbar völlig außerhalb der Vorstellungskraft dieser
Bundesregierung.
({5})
Fordern und Fördern: Das gilt offenbar nur für Arbeitslose, wobei es hier in der Regel auf Fordern und
Drangsalieren hinausläuft. Bei den Banken dagegen gilt
offensichtlich: Fördern und Vergessen, und auf Zuruf
wieder Fördern, wenn die Banken wieder etwas brauchen. Ich finde, diese Politik ist ein einziger Skandal.
({6})
Die Schätzung, dass die Deutsche Bank dem Steuerzahler 30 Milliarden Euro verdankt, hat Herr Steinbrück
in die Öffentlichkeit gebracht. Er kann das vermutlich
gut einschätzen. Denn er war damals deutscher Finanzminister, als die erste große Bankenrettungsrunde lief.
Das heißt, er hat sie wesentlich mit verbrochen. Deswegen muss ich noch einmal auf die Rettung der Commerzbank zurückkommen, und zwar nicht deshalb, weil damals alles so schlimm war - das war es allerdings -,
sondern weil genau das Gleiche wieder droht.
Erinnern wir uns daran, was damals passiert ist: Die
Rettung der Commerzbank ist in einer Art und Weise
verlaufen, die nicht nachteiliger für den Steuerzahler und
nicht vorteilhafter für die Aktionäre hätte sein können.
18 Milliarden Euro - das ist schon mehrfach erwähnt
worden - wurden in diese Bank gepumpt, die am Markt
3 Milliarden Euro wert war. Mit diesen 18 Milliarden
Euro hätten Sie natürlich alle Aktien der Commerzbank
kaufen können. Sie hätten sogar alle Aktien der Deutschen Bank mitkaufen können. Aber stattdessen haben
Sie sich auf einen Anteil von 25 Prozent beschränkt. Der
Rest wurde dieser Bank als stille Einlage faktisch zum
Nulltarif zur Verfügung gestellt. Nicht einmal 2010, als
die Commerzbank wieder Milliardengewinne gemacht
hat, hat diese Bank einen müden Euro an Zinsen gezahlt.
Ich kann mir wirklich keinen privaten Investor vorstellen, der zu solchen Harakiri-Konditionen Geld zur Verfügung stellen würde.
({7})
Mindestens 2 Milliarden Euro sind dem deutschen
Fiskus durch diese aberwitzige Konstruktion an Einnahmen verloren gegangen. Mit diesen 2 Milliarden Euro
hätten Sie übrigens 20 Jahre lang ohne Probleme für alle
Wohngeldempfänger in Deutschland den Heizkostenzuschuss zahlen können. Aber Sie brauchen ja keinen
Heizkostenzuschuss zu zahlen, weil er von dieser neoliberalen Koalition 2010 wegen unerbittlicher Sparzwänge eben einmal gestrichen wurde; diesen Zuschuss
konnte man sich nicht leisten.
({8})
Das zeigt doch offensichtlich: Wir müssen scheinbar immer nur deshalb sparen, um uns immer wieder solche
Rundum-sorglos-Pakete für die Banken leisten zu können. Das ist eine unerträgliche Politik.
({9})
Es ist kein Wunder, dass die einzige begeisterte Rückmeldung auf den vorliegenden Gesetzentwurf vom Bankenverband kam. Selbst Herr Hüther vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft fordert inzwischen
eine zwangsweise Teilverstaatlichung der Banken. Er
hat natürlich recht; denn viele kleine und mittlere Unternehmen haben schon seit Jahren Schwierigkeiten, Kredite zu günstigen Konditionen zu bekommen. Natürlich
besteht die Gefahr, dass diese Schwierigkeiten jetzt noch
akuter werden, weil die Banken wegen ihrer eigenen
Probleme noch schlechtere Kreditkonditionen anbieten.
Eine Bank wie die Deutsche Bank verwendet übrigens
gerade einmal 4 Prozent ihrer Bilanzsumme für gewerbliche Kredite. Mit dem Rest wird gezockt und spekuliert,
bis der Staat wieder retten muss. Auch das zeigt einmal
mehr: Finanzstabilität ist ein öffentliches Gut. Deswegen
gehört der Finanzsektor nicht in die Hände unverantwortlicher Zocker und Renditejäger, sondern in die öffentliche Hand,
({10})
weil das die einzige Chance ist, die Banken endlich
kleinzuregulieren und sie dazu zu verpflichten, ihre Aufgabe zu erfüllen. Ihre Aufgabe ist verdammt noch mal
nicht, zu spekulieren, sondern die Aufgabe ist, Diener
der Realwirtschaft zu sein und den Unternehmen günstige Kredite zur Verfügung zu stellen.
({11})
Unregulierte Wettbuden dagegen mit immer neuen Steuergeldern zu stützen, ist unerträglich und verantwortungslos.
({12})
Es geht aktuell nicht nur um die Kosten des neuen Bankenrettungsfonds. Auch der neue Euro-Rettungsschirm
ESM muss noch einmal mit 22 Milliarden Euro ausgestattet werden. Hinzu kommen 168 Milliarden Euro für Bürgschaften, und das in einer Situation, in der hier im Land
unzählige wichtige Dinge nicht finanziert werden, weil
wir angeblich kein Geld haben. Viele Schulen befinden
sich in einem beklagenswerten Zustand. Kommunen können ihre Krankenhäuser nicht mehr ordentlich ausstatten,
weil sie kein Geld haben. Der Hartz-IV-Regelsatz für
Kinder ist nach wie vor verfassungswidrig niedrig.
({13})
Für all das fehlt angeblich das Geld. Das ist doch eine
riesige Heuchelei, die Sie hier betreiben. Sie diktieren
ganz Europa Schuldenbremsen, und im selben Atemzug
erlassen Sie Gesetze, von denen Sie ganz genau wissen,
dass sie die Staatsverschuldung weiter in die Höhe treiben werden. Das ist Ihre Politik. Nehmen Sie sich eigentlich selbst noch ernst?
({14})
Jetzt zeigt sich natürlich auch: Eine Behörde, die sich
um den Schutz unserer Verfassung tatsächlich kümmern
würde, hätte heute in Deutschland einiges zu tun. Sie
könnte sich beispielsweise um diejenigen kümmern, die
der Ansicht sind, dass man zum Zweck der Bankenrettung auch mal das Budgetrecht des Parlaments einschränken oder umgehen kann, oder um diejenigen, die
der Meinung sind, dass parlamentarische Prozesse eigentlich nur stören, wenn sie denn die Märkte beunruhigen, oder um diejenigen, die ins Gespräch bringen, dass
wir plötzlich eine marktkonforme Demokratie brauchen.
Keine dieser Absurditäten ist im Grundgesetz vorgesehen. Sie widersprechen ihm sogar ausdrücklich.
({15})
Es bleibt dabei: Vom organisierten Geld regiert zu
werden, ist genauso schlimm, wie vom organisierten
Verbrechen regiert zu werden. Heute werden Deutschland und Europa vom organisierten Geld regiert, und
diese Bundesregierung ist eine besonders emsige und devote Vollstreckerin seiner Wünsche.
Frau Kollegin!
Die Linke wird sich im Unterschied auch zur SPD
und zu den Grünen an diesem schmutzigen Geschäft niemals beteiligen. Deswegen werden wir heute gegen diesen Gesetzentwurf stimmen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort erhält der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in
der aktuellen Euro-Finanzkrise mindestens drei große
Lebenslügen von Schwarz-Gelb. Die erste lautet, wir
seien keine Transferunion. Dieses Europa war schon immer eine Transferunion. Die zweite Lebenslüge lautet,
wir würden Schulden nicht vergemeinschaften. Die
Wahrheit ist: In diesen Tagen liegen in der Europäischen
Zentralbank in einer Größenordnung von rund 200 Milliarden Euro Staatsanleihen aus Italien, Spanien und anderen Ländern. Damit wir diese Staatsanleihen bekommen und Schulden vergemeinschaften, geben wir
privaten Banken in diesen Ländern billiges Geld zu einem Zinssatz von 1 Prozent. Die dritte Lebenslüge hat
die Bundeskanzlerin gestern in Davos hinzugefügt. Sie
hat gesagt: Man muss aufpassen, dass Deutschland in
dieser Situation nicht überstrapaziert wird.
Am nächsten Morgen wird hier im Deutschen Bundestag beschlossen, 400 Milliarden Euro an Bürgschaften und am Ende 80 Milliarden Euro zur Rettung von
Banken auszugeben. Ich sage an dieser Stelle: Ich kritisiere nicht den Anlass des Gesetzes. Nicht, dass wir uns
da missverstehen; es ist nötig. Aber so zu tun, als gäbe es
eine erbitterte Debatte innerhalb der Koalition darüber,
ob man das Notwendige für den Euro, für unsere gemeinsame Währung, tun könne, und gleichzeitig konditions- und bedingungslos Geld in der Größenordnung
des gesamten ESM - das ist nämlich die gleiche Größenordnung - für ein solches Projekt auszugeben, das lassen
wir Ihnen nicht als eine konsistente Politik durchgehen.
Das ist schlicht und ergreifend eine Veräppelung der Öffentlichkeit.
({0})
Sie setzen damit etwas fort, was vom Internationalen
Währungsfonds und von vielen anderen kritisiert wurde.
Deutschland ist gut durch die Krise gekommen. Aber
Deutschland ist nicht deswegen gut durch die Krise gekommen, weil es gut gemanagt worden wäre. Deutschland ist vor allen Dingen sehr teuer durch die Krise gekommen. Die Bankenrettung in Deutschland war die
teuerste weltweit. Kein Land hat seine Mittel so ineffizient wie die Bundesrepublik Deutschland eingesetzt,
um durch die Finanzkrise zu kommen.
({1})
Das Beispiel der Commerzbank ist schon sehr strapaziert worden: 18 Milliarden Euro für eine Bank, die, je
nach Schätzung, 3 Milliarden bis 5 Milliarden Euro wert
war. Diese Bank zahlt bis heute keine Zinsen für diese
stille Einlage. Jetzt kommen Sie mit genau dem gleichen
Modell erneut auf die Bevölkerung und den Deutschen
Bundestag zu. Sie schlagen vor, faktisch diesen Weg
wieder zu beschreiten. Dazu sage ich: Der Verzicht darauf, Banken, die in Schieflage geraten, nicht nur zu verstaatlichen, sondern sie zu zwingen, sich zu rekapitalisieren, also der Verzicht auf wirkliche Maßnahmen, ist
der Beleg dafür, dass es falsch ist, wie Sie agieren. Wenn
Sie die Banken selber darüber entscheiden lassen, ob sie
sich rekapitalisieren, wenn Sie nicht die Bereitstellung
von Bürgschaften oder von Geld zum Beispiel damit
verbinden, dass die Banken gezwungen werden, ihr Eigenkapital aufzustocken, wenn Sie nicht als Bedingung
für Geld und Bürgschaften von Steuerzahlern dafür sorgen, dass auch für Banken eine Schuldenbremse gilt,
dann wird im Ergebnis auch die Schuldenbremse für
Deutschland überstrapaziert. Sie müssen an dieser Stelle
endlich zu einer konsistenten Politik kommen.
({2})
In der Tat brauchen wir einen solchen Fonds. Wir
brauchen ihn auf europäischer Ebene. Aber wir müssen
als Gegenleistung verlangen, dass es innerhalb der Banken zu einer massiven Rekapitalisierung kommt - da,
wo Geld gegeben wird, muss der Staat mitreden -, und
wir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass Spekulation
begrenzt und vermindert wird.
Ich würde mir wünschen, dass die CDU/CSU die Tatkraft, die sie gelegentlich an den Tag legt, wenn es zum
Beispiel darum geht, Kolleginnen und Kollegen wie
Frau Wagenknecht durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen, auch einmal aufbrächte, wenn es um
die Umsetzung und Durchsetzung der Finanztransaktionsteuer geht.
({3})
Da lassen Sie sich ja von der FDP schlicht und ergreifend am Nasenring durch die Manege führen.
({4})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Finanzen,
Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte hat einen weiten Bogen geschlagen. Es war nicht wirklich überraschend, aber bemerkenswert, dass sich Frau Wagenknecht gar nicht dagegen ausgesprochen hat, dass Abgeordnete - notfalls
auch vom Verfassungsschutz - beobachtet werden, sondern dass sie nur gesagt hat, sie hätte gern andere Abgeordnete unter Beobachtung gestellt.
({0})
Aber ich möchte mich zu dem Gesetz äußern. Auf
dem Weg, die durch die Staatsschuldenkrise einiger Mitgliedsländer der gemeinsamen europäischen Währung
ausgelöste Verunsicherung in der Euro-Zone als Ganzes
zu bekämpfen, stellt es einen wichtigen Beitrag dar. Sinn
und Anlass des Gesetzes sind nämlich, für Banken nun
etwas zu haben, was wir damals, im Jahr 2008, nicht hatten. Es ist, glaube ich, nicht vorzuwerfen, dass wir es damals nicht hatten; aber deswegen mussten wir die Probleme seinerzeit anders lösen. Inzwischen haben wir mit
dem Bankenrestrukturierungsgesetz das richtige Instrumentarium geschaffen, um in einem solchen Fall eine
Bank ordnungspolitisch sauber vom Markt nehmen zu
können. Dafür brauchen wir dieses Gesetz nicht. Wir
brauchen es aber - für eine begrenzte Zeit; deswegen ist
es auch bis Ende des Jahres befristet - im Rahmen der
Stabilisierungsbemühungen in Bezug auf die gemeinsame europäische Währung. Ich will, weil das so wichtig
ist, noch einmal daran erinnern: Die Bekämpfung dieser
Krise muss bei der Bekämpfung der Ursachen der Krise
ansetzen.
({1})
Das ist und bleibt der erste notwendige Schritt, an dem
kein Weg vorbeiführen darf, und alles, was wir sonst machen, darf nicht dazu führen, dass bei der Bekämpfung
der Ursachen der Krise nicht bei den Mitgliedsländern
der Europäischen Union angesetzt wird. Sonst würden
wir falsche Anreize setzen.
Außerdem brauchen wir eine Stabilitätsunion. Das ist
das, was wir in diesen Tagen und Wochen mit dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus und dem Fiscal
Compact zustande bringen. Das ist bei der Konstruktion
der europäischen Verträge nicht ganz einfach. Es wäre
einfacher gewesen, wenn eine Vertragsänderung gelungen wäre; aber Vertragsänderungen sind in Europa nur
einstimmig möglich. Diese Einstimmigkeit war im Europa der 27 nicht zu erreichen. Deswegen müssen wir
den Weg über den Fiscal Compact gehen, um das zu
schaffen, was wir für die vergemeinschaftete Geldpolitik
brauchen, damit die Währung stabil bleibt und das Vertrauen in die Währung zurückkehrt. Notwendig sind
nämlich eine Stabilitätsunion, Grenzen für die Finanzpolitik zu schaffen und darüber hinaus die Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedsländer der gemeinsamen Währung zu stärken. Das ist das Ziel des Europäischen Rats
am kommenden Montag. Ich sage das nur, um den Zusammenhang herzustellen.
Dann gehört dazu, Ansteckungsgefahren, die durch
die Verflechtungen in den Finanzmärkten der Welt entstanden sind - die haben wir 2008 in einem Ausmaß
kennengelernt, wie wir es vorher nicht für möglich gehalten haben -, zu bekämpfen. Dazu brauchen wir einen
Rettungsschirm, und dazu brauchen wir eine hinreichende Kapitalausstattung der systemrelevanten Banken
in Europa. Das war der Beschluss, den wir, ausgehend
von der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds, im vergangenen Jahr gefasst haben. Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde muss in der Zusammenarbeit mit den nationalen Bankenaufsehern ihren Weg
finden. Das hat ein bisschen gebraucht; sie ist ja erst seit
Anfang letzten Jahres tätig. Das ist nicht ganz einfach.
Das geht auch nicht ganz konfliktfrei. Das ist bei solchen
europäischen Institutionen so.
Diese Behörde hat definiert, welche systemrelevanten
Banken in Europa - in Deutschland sind es sechs - bis
zum 30. Juni auf der Basis der Bewertung der Bestände
vom 30. September vergangenen Jahres hinreichend Kapital nachweisen müssen, damit sie im Falle eines Falles
gegen eine Ansteckungsgefahr gewappnet sind.
Jetzt kommen wir zum Gesetz. Wir alle in Europa haben uns verpflichtet, dass wir den Beschluss der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde durch die nationale
Bankenaufsicht umsetzen. Die Regel ist auch ganz klar:
Die Banken müssen zunächst versuchen, sich das notwendige Kapital zu beschaffen. Es sieht danach aus, dass
die deutschen Banken das auch schaffen; aber das ist bis
zum 30. Juni offen. Die Banken haben jetzt ihre Pläne
vorgelegt; die BaFin überprüft das in diesen Tagen und
Wochen.
Für den Fall, dass sie dazu nicht in der Lage sind,
müssen die Mitgliedstaaten dies sicherstellen. Es gibt
nicht den direkten Weg über Europa - das möchten manche -, nein, es geht nur über die Staaten. Aber dazu brauchen wir das Instrumentarium. Deswegen haben wir - es
ist auch kein Widerspruch, Herr Kollege Schneider, zu
dem, was ich vor einem Jahr gesagt habe; da hatten wir
das Restrukturierungsgesetz - den Beschluss, in dem wir
uns verpflichtet haben, dies notfalls umzusetzen. Deswegen muss dieses Gesetz auch in den Instrumenten ein
Stück weitergehen als das erste Soffin-Gesetz.
Ohne dieses Gesetz hätte die nationale Bankenaufsicht nicht die Möglichkeit, ein Institut zu zwingen, das
notwendige Kapital vorzusehen. Denn bisher, nach geltendem Recht, kann nur bei einer konkreten Bestandsgefährdung durch die nationale Bankenaufsicht eingegriffen werden. Jetzt führen wir die Möglichkeit ein, dass
bei einer besonderen Risikolage auf dem Finanzmarkt
und insbesondere im Rahmen eines abgestimmten Vorgehens auf europäischer Ebene oder aufgrund entsprechender Empfehlungen des Europäischen Ausschusses
für Systemrisiken und der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde gehandelt werden kann. Das ist der Sinn
des Ganzen. Dafür rufen wir das alte Gesetz noch einmal
auf. Wir geben auch nicht, Herr Kollege Trittin, wie Sie
gesagt haben, 400 Milliarden Euro aus.
({2})
- Sie haben den Begriff „ausgeben“ gebraucht, und das
war nun leider irreführend.
Lassen Sie mich es doch ganz einfach darstellen: Wir
stellen in der Tat den vorhandenen Bürgschaftsrahmen
bis zum Ende dieses Jahres und die entsprechenden Kapitalmöglichkeiten zur Verfügung, in der Erwartung,
dass sie nicht in Anspruch genommen werden müssen,
aber für den Fall, dass sie notwendig sind. Das ist eine
präventive Maßnahme, um unsere gemeinsame europäische Währung gegen Ansteckungsgefahren stabiler zu
machen. Um nicht mehr und um nicht weniger geht es.
Meine Damen und Herren, dazu müssen wir dieses Gesetz - ich bitte darum; wir brauchen es dringend; sonst
würden wir unseren europäischen Verpflichtungen nicht
gerecht werden - heute verabschieden.
Herr Minister, darf der Kollege Schick eine Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Bitte, gerne.
Herr Minister, Sie haben gerade zwischen dem differenziert - das ist völlig richtig -, was an Rahmen zur
Verfügung gestellt worden ist, und dem, was konkret
ausgezahlt worden ist. Wenn wir dieses Gesetz jetzt noch
einmal in Kraft setzen, haben die Bürgerinnen und Bürger, finde ich, einen Anspruch, zu wissen, was bisher
wirklich ausgegeben worden ist, wie viele Verluste sich
in dem Finanzmarktfonds bisher tatsächlich angesamDr. Gerhard Schick
melt haben. Ich darf diese Zahl nicht nennen; Sie dürfen
es.
Deswegen möchte ich Sie bitten: Nennen Sie den
Bürgerinnen und Bürgern die Milliardensumme, die bisher an Verlusten aufgelaufen ist. Können Sie uns auch
sagen, wer diese Verluste tragen soll? Werden sie durch
das allgemeine Steueraufkommen, also von allen Bürgerinnen und Bürgern, oder durch den Finanzsektor getragen? Oder werden sie, wie wir Grünen uns das vorstellen, mit einer Abgabe auf sehr große Vermögen
abgetragen? Die Frage ist also: Wie viel ist konkret ausgezahlt worden, und wer soll das bezahlen?
({0})
Herr Kollege Schick, ich werde Ihnen die Zahlen
heute nicht nennen, sondern wir machen das in den zuständigen Gremien, wie das Gesetz es vorsieht. Dabei
bleibt es auch.
({0})
- Die Zahlen stehen auch noch gar nicht abschließend
fest. Deswegen dient diese Frage nur dazu, Verunsicherungen zu schaffen, die so gar nicht begründet sind, und
deswegen lasse ich mich darauf gar nicht ein.
({1})
Im Übrigen hilft es nichts: Wenn es am Ende haushaltswirksam ist, trägt es der allgemeine Haushalt. Dazu,
wie die erforderlichen Mittel aufgebracht werden sollen,
gibt es in unserem Parlament unterschiedliche Vorstellungen; das ist auch wahr. Wir haben in der Steuerpolitik, wie in anderen Fragen auch, unterschiedliche
Vorstellungen. Es ist der Vorzug der pluralistischen Demokratie, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, über
die am Ende mit Mehrheit entschieden wird.
Wir sind in diesen Jahren eine ziemlich solide Haushaltspolitik gefahren; denn wir haben die staatliche Neuverschuldung immerhin von der ursprünglich in Kauf
genommenen Rekordsumme auf weniger als 20 Milliarden Euro im vergangenen Jahr zurückgeführt. Wir werden diesen Weg konsequenter Rückführung, aber maßvoller Defizitreduzierung entschieden weitergehen.
({2})
- Ich habe erklärt, warum ich keine Antwort gebe, nämlich aus den genannten Gründen. Dabei bleibt es auch.
Im Übrigen - ich sage es noch einmal -: Dieses Gesetz wird vermutlich gar nicht in Anspruch genommen
werden müssen; es ist auf eine kurze Zeit befristet. Es
gibt uns aber das rechtliche und tatsächliche Instrument,
die Anforderungen, die wir in Europa beschlossen haben, um unsere gemeinsame Währung stabil zu halten
und zu verteidigen, zu erfüllen - nicht mehr und nicht
weniger.
Wenn Sie wollen, versuche ich noch einmal, es Ihnen
zu erklären: Es ist ein Element bei der Stabilisierung der
gemeinsamen Währung - das war die weltweite gemeinsame Beurteilung, und zwar im Internationalen Währungsfonds, in der G 20 und auch in Europa -, dass wir
sicherstellen müssen, dass die systemrelevanten Banken
in Europa in dieser schwierigen Zeit genügend Eigenkapital haben, und zwar mehr, als von Basel III zu diesem
Zeitpunkt vorgesehen ist.
Herr Kollege Schneider, Sie haben die Mark-to-Market-Bewertung angesprochen. Von vielen Seiten - auch
in der Finanzwelt - wird dies als Argument benutzt. Dort
heißt es jetzt, dies sei die Ursache der Probleme. Ich
kenne diese Debatte sehr genau, und Sie kennen sie
auch. Jede europäische Entscheidung, die systemrelevanten Banken mit hinreichend Eigenkapital zu versehen, ohne dies auf der Grundlage einer Mark-to-MarketBewertung zu tun, wäre von allen finanzmarktrelevanten
Institutionen als irrelevant angesehen worden. Deswegen haben wir für diesen speziellen Test, für die EBAEntscheidung, gesagt, dass die Grundlage eine Mark-toMarket-Bewertung ist.
Das ändert aber nichts daran, dass wir die Fristen für
die Nullunterlegung von Staatsanleihen, die in Basel III
vorgesehen sind, weiterhin voll ausschöpfen werden.
Auch dies sage ich bei dieser Gelegenheit. Diejenigen,
die daraus Argumente als Ausreden dafür ableiten, dass
man spekulativ darauf setzt, die Finanzmarktkrise nicht
zu lösen, sondern zu verschärfen, haben kein Argument
aus dieser Entscheidung. Das ist eine besondere Situation. Sie zeigt, dass unsere gemeinsame europäische
Währung auf dem Weg ist, das Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht über den
Berg. Ich warne vor zu schnellen, vor voreiligen Erfolgsmeldungen. Ich habe in Zeitungskommentaren vor ein
paar Tagen auch schon gelesen, das Schlimmste liege
hinter uns. Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass die
Finanzmärkte beginnen, zunehmend Vertrauen zu fassen. Ich weiß, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die
Probleme in einer Reihe von Mitgliedsländern werden
wirklich energisch angegangen. Was beispielsweise Italien unter der Regierung von Mario Monti beschlossen
und auf den Weg gebracht hat, verdient unsere Unterstützung und unseren Respekt und hat Vertrauen auf den
Finanzmärkten gefunden.
({3})
Die Schaffung einer Stabilitätsunion mit dem Fiscal
Compact und dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus findet zunehmend Vertrauen. Wir sind auf dem
richtigen Weg, aber wir müssen ihn konsequent fortsetzen. Ein notwendiges Element ist dieses Gesetz, das wir
jetzt beraten. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung.
Vielen Dank.
({4})
Carsten Sieling ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben die Notwendigkeit dieses Gesetzes eingangs Ihrer Ausführungen damit
begründet, dass aufgrund der europäischen Staatsschuldenkrise eine Situation entstanden ist, die zu einer Unterkapitalisierung von Banken geführt hat. Zu diesen Ergebnissen kam auch der EBA-Stresstest. Das ist richtig.
Es muss aber doch erlaubt sein, darauf hinzuweisen,
warum es zu dieser Situation in diesem Maße gekommen
ist. Hierzu will ich deutlich sagen: Die Situation, die wir
in Europa haben, ist maßgeblich dadurch ausgelöst worden, dass Sie und die Kanzlerin in den europäischen Verhandlungen, in den europäischen Beratungen blockiert
haben, dass Sie nicht den Mut hatten, den Schritt einer
Gemeinschaftshaftung auf europäischer Ebene zu gehen,
um damit sicherzustellen, dass die Entwicklung nicht
immer weiter nach unten geht.
Das Ergebnis sehen wir heute hier. Wir debattieren
ständig - das ist schon gesagt worden - über die Milliardensummen auf europäischer Ebene. Heute sollen mal
eben 480 Milliarden Euro beschlossen werden. Auch der
deutsche Steuerzahler wird für die Fehler der Bundesregierung auf europäischer Ebene herangezogen.
({0})
Der zweite Grundfehler, der überhaupt dazu geführt
hat, dass wir heute wieder über ein solches Volumen reden müssen, ist die Tatsache, dass Sie die Jahre seit der
Finanzkrise nicht genutzt haben, um konsequente Regulierungen des Finanzsektors durchzusetzen und möglich
zu machen. Es gibt keine ordentliche Beschränkung des
Derivatehandels. Der Anteil des High Frequency Trade
ist sogar noch gestiegen. Schattenbanken sind nach wie
vor ohne Grenzen unterwegs. Beim Anlegerschutz sind
Sie als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.
Auch viele andere Dinge fehlen. Jetzt kommen Sie sogar
daher und revidieren den von Ihnen vertretenen Ansatz
zu dem wichtigen Thema Finanztransaktionsteuer und
wollen sich einer Minimallösung anschließen - so kann
man lesen -, die sich auf das britische Modell bezieht.
Damit vermeiden Sie es, den Finanzsektor entsprechend
heranzuziehen. Das ist der zweite Kardinalfehler, der ein
solches Gesetz nötig macht und der dazu führt, dass die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler am Ende zahlen
müssen.
({1})
Wir beraten heute über das Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Wir Sozialdemokraten werden diesem
Gesetz nicht zustimmen, weil Sie
({2})
in Ihrer Vorlage aus der Konstruktion des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes I, das eine Notreaktion gewesen
ist und aus dem gewisse Konsequenzen gezogen werden
müssten, keine hinreichenden Konsequenzen gezogen
haben. Hätten Sie dies getan, dann wäre die notwendige
Reparatur im Finanzsektor vollzogen worden und würde
verhindert, dass, noch einmal gesagt, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dies im Wesentlichen zahlen müssen.
Sie wollen das Gesetz dann noch in Eile durchsetzen.
Ich will das Verfahren hier einmal ansprechen. Vor einer
Woche hatten wir die erste Lesung des Gesetzentwurfs.
Es gab eine Beratung in den Ausschüssen, die holprig
war. Der Finanzausschuss hat in den letzten 20 Minuten
seiner Sitzung darüber gesprochen. Im Haushaltsausschuss gab es gestern noch Unklarheiten über die Frage,
wie viele Fonds eigentlich errichtet werden. Es gab Unklarheiten bei der Frage, wie viel Geld wirklich zur Verfügung steht. Das ist eine Folge dessen, dass Sie Zeit
verplempert haben. Diese Beratungen hätte man bereits
im Oktober letzten Jahres, nach dem EU-Gipfel, beginnen können. Jetzt aber treiben Sie zur Eile, weil Sie
nächste Woche beim europäischen Gipfel als deutscher
Musterschüler dastehen wollen. Das hat nichts mit den
inhaltlichen Zielen zu tun. Das ist nur Show und ist dem
Thema nicht angemessen.
({3})
Wenn wir uns das Gesetz anschauen, erkennen wir einen riesigen Konstruktionsfehler dahin gehend, dass Sie
aus der Frage, wie man künftig solche hohen Lasten vermeiden kann, keine Lehre gezogen haben.
Mir geht es wie dem Kollegen Schick; auch ich darf
die Zahlen nicht nennen. Das werde ich auch nicht tun.
Die von ihm aufgeworfene Frage, Herr Bundesfinanzminister, hätten Sie jedoch vor dem Hintergrund des Änderungsantrages der Koalition wenigstens ansatzweise
beantworten können. In diesem Änderungsantrag ist
nämlich dargelegt, dass aus dem Soffin-Vermögen bzw.
den Kreditermächtigungen schon 19 Milliarden Euro
verausgabt worden sind. Klar, es gibt die Hoffnung, dass
man dieses Geld wieder zurückholen kann. Wenn man
aber auf Unternehmen wie die HRE schaut, weiß man,
dass dieses Geld wahrscheinlich nicht wieder einzufangen ist.
Zumindest mit dieser einen Zahl bekommt man eine
Idee, in welche Richtung die Lasten gehen, was schließlich auch zu einer Reduzierung unserer Möglichkeiten
hier führt. Das hätten Sie hier ruhig sagen können. Es
täte gut, wenn der Bundesfinanzminister an dieser Stelle
ein bisschen Klarheit und Transparenz in die Debatte
bringen würde.
({4})
Der eigentliche Konstruktionsfehler liegt darin, dass
es vermieden wird, zum einen die direkten Eingriffsmöglichkeiten zu nutzen, die mit einer Beteiligung verbunden wären, und zum anderen im Falle einer Notsituation die Banken dazu zu zwingen, entsprechend zu
agieren. Diese beiden Vorschläge machen wir ja nicht,
weil wir Lust haben, die staatliche Hoheit und den staatlichen Zugriff zu organisieren
({5})
und hineinzuregieren, sondern weil ein solches Vorgehen
zu einer Einsparung führen würde.
Ein Vergleich mit den Rettungsmaßnahmen in den
USA zeigt dies. In den USA wurde beispielsweise die
damalige Citigroup gerettet. Allein bei diesem Geschäft,
das man nur über direkte Aktienbeteiligung getätigt hat,
ist es zu einem Überschuss von 12 Milliarden Dollar
gekommen. Das zeigt deutlich: Wenn man nicht nur mit
stillen Einlagen hineingeht, kann man auch Steuerzahlergeld schonen.
In erster Linie aber führt ein solches Vorgehen dazu,
dass man den Pfad der Stabilisierung eines Unternehmens beschreiten kann. Ich darf an dieser Stelle aber
auch sagen: Es gibt Korrekturbedarf. Viele dieser Banken sind „too big to fail“. Es wäre nicht schlecht, wenn
man an dieser Stelle die Möglichkeit nutzen würde, einzugreifen und steuernd dafür zu sorgen, dass die Banken
dort, wo es sein muss, aufgeteilt werden.
({6})
Nicht nur der politische Raum spricht sich für diese
Position aus, sondern auch in der Anhörung am vergangenen Montag wurden genau diese Themen angesprochen. Der Sachverständige Professor Siekmann hat diesen Punkt sehr deutlich als die entscheidende Schwäche
des deutschen Rechts auch im Vergleich zum Ausland
bezeichnet. Frau Professorin Buch hat ebenfalls sehr
deutlich gesagt - ich zitiere -:
Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass er eine seinen Finanzbeiträgen angemessene Mitwirkungskompetenz bekommt.
Darum geht es uns. Dafür setzen wir uns ein, und
darum sagen wir: Ihr Gesetz ist nicht hinreichend. Das
ist eine zu kleine Münze für die große Notsituation und
den Handlungsbedarf, vor dem wir stehen.
({7})
Um noch einmal klarzumachen, dass nicht nur die
Wissenschaft in diese Richtung tendiert, will ich an dieser Stelle auch auf Herrn Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft verweisen. Er ist arbeitgebernah und
hat wirklich nichts mit Sozialdemokratie zu tun oder
jedenfalls nur wenig. Es ist ganz selten, dass wir hier
einmal Berührungspunkte haben. Aber er hat recht,
wenn er sagt: Für den Fall, dass die private Rekapitalisierung - die primäre Vorgehensweise ist natürlich, dass
die Banken zusehen müssen, wie sie das Geld zusammenbekommen - nicht gelingt und die Banken nicht mitziehen, entsteht eine Situation, in der man „den schmerzhaften Pfad der obligatorischen Kapitalisierung“ gehen
und auch Staatsgelder einsetzen muss. - Ich glaube, das
darf man nicht nur auf freiwilliger Basis anbieten; das
muss man auch wirklich machen, wenn man den deutschen Finanzsektor stabilisieren und damit in der Tat ein
öffentliches Gut sichern will, ohne Steuerzahlergeld auszugeben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Björn Sänger für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der eine oder andere mag sich möglicherweise verwundert die Augen reiben und fragen: Geht es denn
schon wieder um die Bankenrettung? Müssen wir schon
wieder Geld in die Hand nehmen, um die Branche zu
stützen? Was ist denn eigentlich aus dem BankenRestrukturierungsgesetz geworden, über das die Politik
gesagt hat, man könne damit systemisch relevante Banken vom Markt nehmen?
Dazu ist natürlich eines festzustellen - es ist hier
schon mehrfach gesagt worden -: Dieses Gesetz gilt
natürlich. Vor der Gewährung von Hilfen nach dem
Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist zu prüfen, ob nicht
das Banken-Restrukturierungsgesetz Anwendung findet, nämlich dann, wenn ein Institut kein angemessenes
Geschäftsmodell hat, wenn man also durch unternehmerische Fehlentscheidungen in eine Schieflage geraten ist.
In einem solchen Fall würde das Institut mithilfe des
speziellen Insolvenzrechts für Banken nach dem
Restrukturierungsgesetz abgewickelt, das diese Bundesregierung geschaffen hat. Das folgt einem sehr guten
Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, das nach wie vor
gilt.
Mit dem Soffin 2.0 reagieren wir auf die anhaltenden
Probleme der Krise. Wir haben im Rahmen des EBAStresstests festgestellt: Es gibt bei dem einen oder anderen Institut Defizite. Wir ergreifen eine präventive Maßnahme, damit wir nicht möglicherweise in ein größeres
Problem hineingeraten. Die meisten Unternehmen - davon bin ich fest überzeugt - werden die Probleme selbst
lösen können. Gerade deshalb ist das Gesetz nur bis Ende
des Jahres befristet. Aber der vorsichtige Kaufmann baut
eben vor.
Wir müssen zudem feststellen, dass eine Vielzahl der
Probleme darauf zurückgeht, dass die EBA die Rahmenbedingungen schnell verändert. Ich will gerne gewisse
Anfangsschwierigkeiten zugestehen und durchaus mit
einer gewissen Milde darüber hinwegsehen. Wir müssen
aber sehen: Es ist schlussendlich die staatliche Seite, die
durch richtigerweise erhöhte Anforderungen an die
Finanzbranche dafür sorgt, dass das eine oder andere
Unternehmen möglicherweise nicht in der Kürze der
Zeit angemessen reagieren und sich am Markt rekapitalisieren kann. Für diesen Fall haben wir die entsprechenden Maßnahmen vorgesehen.
Bei aller Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs
muss man natürlich feststellen, dass ein staatlicher Eingriff immer den Wettbewerb verzerrt. Darauf muss man
sorgfältig achten. Hier ist richtigerweise eine Prüfung
vorgesehen. Ich habe Verständnis für die anderen Marktteilnehmer, die sagen: Da kommen jetzt Institute, die
vom Staat gestützt werden, mit Zinssätzen an den Markt;
wir könnten das gar nicht so machen. - Ich kenne diese
Klagen und höre sie häufig. Finanzmarktstabilisierung
hat aber auch etwas mit dem Vertrauen der Kunden in
den Finanzmarkt insgesamt zu tun. Insofern helfen diese
Maßnahmen auch den Wettbewerbern, die sich möglicherweise über die eine oder andere Maßnahme beklagen. Völlig klar ist auch - darauf möchte ich hinweisen -: Wem vom Staat geholfen wird, der kann das
entsprechende Geld nicht einsetzen, um es für Boni zu
verausgaben. Das ist im Gesetz so geregelt; das ist im
Übrigen bereits im sogenannten Vergütungsgesetz geregelt.
Die Bundesregierung steht hier in der Finanzmarktregulierung blendend da. Hätten alle anderen europäischen
Staaten bereits so reagiert, wie diese Bundesregierung
reagiert hat, wären wir in einer vollkommen anderen
Situation. Das beste Beispiel ist hier das Banken-Restrukturierungsgesetz. Es zeigt sich: Der kluge Mann
baut vor. Die Bundesregierung baut mit dieser Maßnahme vor: Wir sind für alle Eventualitäten gerüstet und
sichern damit die Stabilität des Standortes. Das zeigt
erneut, dass unser Land bei dieser Bundesregierung in
den allerbesten Händen ist.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Schick hat jetzt das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann Ihnen von der Koalition einen Rückblick auf die
verschiedenen Finanzmarktdiskussionen, die wir hier geführt haben, nicht ersparen. Es war das Ceterum Censeo
jeder meiner Reden zur Finanzmarktstabilität, dass die
deutschen Banken mit zu wenig Kapital ausgestattet sind
und es deswegen Aufgabe der Bundesregierung ist, ihre
Kapitalbasis zu stärken.
({0})
- Ich kann mich noch gut an Ihr Kopfschütteln und an
Ihre Zwischenrufe erinnern, Herr Michelbach.
Wir fragen uns: Warum muss man jetzt kurzfristig
sechs deutsche Banken schnell mit Kapital versorgen?
Das schafft Unsicherheit an den Märkten. Die Antwort:
Weil diese Bundesregierung, dieser Bundesfinanzminister, nicht für die Kapitalausstattung deutscher Banken
vorgesorgt hat. Vielmehr wurde auf Ihren Auftrag hin in
Brüssel und in Basel so verhandelt, dass härtere Kapitalanforderungen verhindert worden sind. Das muss am
heutigen Tag klar gesagt werden. Sie haben nicht vorgesorgt. Deswegen muss jetzt bei der Kapitalausstattung
deutscher Banken kurzfristig nachgesteuert werden.
({1})
- Ich habe auch in den vergangenen Debatten sehr gut
zugehört. Herr Schäuble hat gesagt: Wir reden über die
genauen Zahlen in den Gremien. Was meint denn der
Bundesfinanzminister damit? Er meint damit, dass das
alles nur in Gremien, die der Geheimhaltung unterliegen,
diskutiert werden soll, damit den Bürgerinnen und Bürgern und auch diesem Parlament in seiner Gesamtheit
die relevanten Informationen vorenthalten werden. Das
geht so nicht!
({2})
Warum diskutieren wir innerhalb einer Frist von einer
Woche über einen Gesetzentwurf, dessen Notwendigkeit
seit Ende September bekannt ist? Weil man so wenig wie
möglich darüber reden will! Warum wird über die Fehlbuchung von 55 Milliarden Euro bei der Hypo Real
Estate, die den Schuldenstand der Bundesrepublik
Deutschland erheblich verändert - das ist eine öffentliche Zahl -, im Finanzmarktgremium, das geheim tagt,
erst Wochen später gesprochen, anstatt der Öffentlichkeit und dem Haushaltsausschuss sofort Bericht zu erstatten? Warum wird nicht hier und jetzt über die Verluste des Finanzmarktfonds gesprochen und Bilanz
gezogen? Warum wird den Bürgerinnen und Bürgern
nicht gesagt, was die erste Bankenrettung bisher gekostet hat?
({3})
Weil der Bundesfinanzminister Angst vor der Wahrheit
hat! Herr Minister, ich finde das alles sehr intransparent.
Man fragt sich: Warum beklagen Sie ständig das entstandene mangelnde Vertrauen, wenn Sie selber eine solche
Geheimniskrämerei betreiben? Das passt nicht zusammen.
({4})
- Ich würde diese Zahlen sehr gerne nennen, aber Sie
wissen genau, Herr Kollege, dass es strafrechtlich sanktioniert würde, wenn ich das tun würde, und ich werde
mich nicht strafbar machen. Aber Herr Minister
Schäuble hätte die Antwort geben können.
({5})
Man muss sich auch fragen, wie das haushaltstechnisch verbucht wird. Sie sind der Antwort auf die Frage,
wer das zahlen soll, ausgewichen. Wenn am Ende in vielen Jahren abgerechnet wird, dann werden Kinder, die
2007, als die Finanzkrise ausgebrochen ist, geboren wurden, dann, wenn sie ins Berufsleben einsteigen, als Erstes die Kosten dieser Krise mit ihrer Steuerzahlung
abzahlen müssen. Ist es generationengerecht, dass wir
das alles nach hinten schieben? Nein, natürlich ist es das
nicht. Natürlich muss der jetzige Bundestag bestimmen,
wer für die Kosten für die Finanzkrise von 2007 und folgende aufkommt. Um diese Debatte drücken Sie sich,
anstatt klar zu sagen, was passiert. Wir finden es unanständig, das unseren Kindern und Kindeskindern zu
überlassen.
({6})
Da es wieder darum geht, 400 Milliarden Euro an
Garantievolumen und 80 Milliarden Euro an Kapitalhilfen bereitzustellen, also quasi wieder einen Blankoscheck für die Regierung auszustellen, muss man sich
schon fragen: Warum gibt das Parlament seine Kontrollrechte aus der Hand?
({7})
Warum kann das nicht der Haushaltsausschuss im Einzelnen entscheiden?
({8})
- Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. Dann
habe ich noch mehr Zeit, die Geheimhaltungspraxis aufzuzeigen.
({9})
Wenn es um so viel Geld geht, muss es unserer Meinung nach auch ein ordentliches Kontrollverfahren geben; denn wir haben doch 2008 gesehen, wie groß die
Gefahr ist, dass man sich selbst bedient. Wir erinnern
uns doch noch an die Luxusrenten bei der Hypo Real
Estate. Wir wissen genau, wie wichtig es ist: Wo es um
so viel Geld geht, haben wir als Parlamentarier die
Pflicht, ganz genau hinzuschauen, damit niemand sich
auf Kosten der Steuerzahler bedienen kann. Sie nutzen
die Kontrollmöglichkeiten als Parlamentarier nicht. Deswegen können wir dem Gesetz, das Sie hier vorlegen,
nicht zustimmen.
Danke schön.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
erleben zweifellos stürmische Zeiten an den Finanzmärkten, in der Weltwirtschaft, in der europäischen Politik. Ich meine, in solchen Zeiten bedarf es eines festen
Ankers,
({0})
damit das Schiff nicht abtreibt. Unserem Land kommt in
der gegenwärtigen Krise eine besondere Verantwortung
zu - für die Arbeitsplätze, für die europäische Idee, für
die gemeinsame Währung, der auch Deutschland, unser
Land, viel verdankt. Deutschland sollte und muss als
Stabilitätsanker in der Europäischen Währungsunion
und im internationalen Finanzmarkt dienen, für eine Stabilitätsunion, für die Sicherung der Finanzwirtschaft.
Darum geht es letzten Endes.
Wir müssen uns immer wieder fragen, wie diese
Staatsschuldenkrise wirksam und ordnungspolitisch sauber eingedämmt werden kann, und zwar so, dass die Rettung nicht das zerstört, was es letzten Endes zu retten
gilt.
Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, 2010 und
2011 zwölf kapitalrelevante Gesetzgebungsverfahren auf
den Weg gebracht. Das ist die Regulierungsleistung dieses Finanzministers und dieser christlich-liberalen
Koalition. Da lassen wir uns von niemandem übertreffen, meine Damen und Herren.
({1})
Jetzt gilt es, weiteren Ansteckungsgefahren im Bankensektor vorzubeugen, damit die Institute die Realwirtschaft verstärkt finanzieren, anstatt bei der EZB immer
mehr Kapital zu parken. Wir handeln vorbeugend für
den Fall, dass die EBA eine höhere Kapitaldeckung fordert. Das ist ein Beitrag gegen die verbreitete Verunsicherung. Das Kernproblem ist doch heute die wachsende
Unsicherheit. Sie entsteht, wenn Vertrauen verloren
geht. Vertrauen aber ist die Grundlage von Stabilität.
Das, was die Opposition hier vorträgt, ist ein Beitrag zur
Verunsicherung, aber kein Beitrag, um die wachsende
Unsicherheit einzudämmen. Es bedarf des Vertrauens in
den Ordnungsrahmen, in die Finanzwirtschaft und in die
Regulierungsgesetze, des Vertrauens in die Institutionen,
in die handelnden Personen. Schuldenstaaten und Finanzmarktteilnehmer müssen wieder Vertrauen zurückgewinnen. Das ist ohne Zweifel so. Nur dann, wenn die
Banken wieder dauerhaft einander vertrauen, können
auch die Bürger in der Zukunft wieder uneingeschränkt
Vertrauen in ihre Institute haben.
Wir alle sind gefordert, dem allgemeinen Vertrauensverlust entgegenzuwirken. Daher dürfen wir unseren
Blick nicht nur auf kurzfristige Entscheidungen und Krisenbekämpfungen verengen; vielmehr müssen wir konzeptionell handeln und vorgehen. Da gehen wir mit dem
heutigen Gesetz einen weiteren wichtigen Schritt, um
diese Konzeption weiter voranzubringen.
Die SPD stiehlt sich wieder einmal aus der Verantwortung. Ich verstehe das nicht. Die SPD schürt hier geradezu - wie auch Herr Dr. Schick - das Misstrauen und
trägt widersprüchliche Argumente vor. Herr Schneider
hat gesagt, wir sollten die Garantieleistungen nicht von
den Steuerzahlern abhängig machen. Gleichzeitig fordert
er aber mehr Staat. Was denn nun, Herr Schneider? Ihre
Aussagen sind widersprüchlich.
({2})
Wir müssen hier Verantwortung übernehmen, weil in
letzter Konsequenz nur der Staat regulieren und damit
Sicherheit geben kann.
({3})
Völlig falsch wäre eine Vergemeinschaftung, für die
Sie jetzt wieder sind. Das zeigt Ihre ökonomische Inkompetenz. Wir wollen keine Vergemeinschaftungen.
Wir wollen Eigenverantwortung.
({4})
Wir wollen eigene Anstrengungen seitens der Banken.
Deswegen hat die Rekapitalisierung der Banken absoluten Vorrang vor diesen Vorbeugungsinstrumenten. Deswegen müssen auch die Schuldenstaaten zunächst einmal ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und eigene
Anstrengungen erbringen, bevor sie durch Ihre EuroBonds glattgestellt werden. Das, was Sie vorschlagen, ist
der falsche Weg. Die Vergemeinschaftung von Schulden
und Zinsen, jede Form von Vergemeinschaftung ist völlig falsch. Der Staat muss dort eintreten, wo er letzten
Endes eintreten muss, weil es keine weiteren Sicherheiten mehr gibt.
Wir stellen uns diesen Herausforderungen und übernehmen Verantwortung nach ordnungspolitischen
Grundsätzen. Deshalb wollen wir heute erneut eine generelle Handlungsoption nach dem Soffin, um präventiv
wirken zu können und die rechtzeitige Einflussnahme
der Aufsicht zu ermöglichen. Es ist nicht sinnvoll, dass
die Aufsicht immer nur nachbessert. Sie sollte im Vorfeld sagen, wie es ordnungspolitisch gehen sollte. Deswegen war der Soffin für die Sicherung unseres Finanzmarktes ein Glücksfall. Herr Trittin hat heute gesagt,
dass das der teuerste Weg war. Nein, das war der effizienteste und letzten Endes erfolgreichste Weg zur Rettung unseres Finanzmarktes.
({5})
Herr Dr. Schick hat sich hier hingestellt und gesagt,
dass er über die Zahlen informieren möchte. Das ist letzten Endes nur das Schüren von Unsicherheit in einem
laufenden Prozess. Endgültige Zahlen können noch gar
nicht genannt werden. Sie müssten sich eigentlich diese
Frage stellen: Was wäre denn gewesen, wenn wir den
Soffin nicht gehabt hätten?
({6})
Dann hätten die Bürgerinnen und Bürger Angst um ihre
Konten, um ihr Erspartes und um die Geldwertstabilität
haben müssen. Das ist der Kern, um den es hier letzten
Endes geht.
({7})
Der Schutz dieses Systems wird mit diesem Zweiten
Finanzmarktstabilisierungsgesetz weiter vorangebracht.
Die Bürger und die Unternehmen unseres Landes sollen
sich weiterhin auf ein intaktes Finanzsystem verlassen
können, das den Zugang zu Krediten gewährleistet und
es den Bürgern ermöglicht, sicher und mit Gewinn zu
sparen. Das sind die Ziele, die wir im Kopf haben. Bei
allen Maßnahmen geht es letzten Endes darum, diese
Ziele zu erreichen.
Es geht auch um die richtige Balance. Herr Dr. Schick
hat gesagt, wir hätten keine vorbeugenden Maßnahmen
getroffen für den Fall höherer Kapitalanforderungen an
die deutschen Banken. Auch Banken können ihr Geld
nur einmal ausgeben. Bei den Banken geht es in erster
Linie darum, das vorhandene Eigenkapital für die Vergabe von Krediten an die Realwirtschaft zu nutzen.
({8})
Darum geht es doch in erster Linie. Es geht um die Balance: Auf der einen Seite sind die Banken durch eine
höhere Eigenkapitalanforderung sicherer zu machen.
Die Schrauben dürfen auf der anderen Seite aber nicht so
stark angedreht werden, dass die Banken letzten Endes
kein Geschäft mit der Realwirtschaft mehr machen können; denn dann würden Menschen ihre Arbeitsplätze
verlieren. Es geht um die richtige Balance, um die richtige Ordnungspolitik, um ökonomische Vernunft. Das ist
es, was wir hier voranbringen.
({9})
Ich glaube - das möchte ich abschließend sagen -,
dass das Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz ein
weiterer wichtiger Baustein für die europaweite Bekämpfung der Staatsschuldenkrise ist. Ich bin dankbar,
dass wir es heute auf den Weg bringen. Das zeigt: Es ist
gut, dass diese christlich-liberale Koalition in dieser Zeit
Verantwortung trägt, weil wir diese Probleme mit Vernunft, mit Augenmaß und mit Kompetenz lösen.
({10})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Der Gesetzentwurf,
den wir gleich verabschieden, ist ein Teil eines Straußes
von Möglichkeiten, das Vertrauen in die Finanzmärkte
und in deren Stabilität wiederherzustellen. Anders als einige Redner der Opposition versuchen uns glauben zu
machen, haben wir seit dem ersten Finanzmarktstabilisierungsgesetz 19 Gesetze zur Kontrolle des Finanzmarkts, zur Stabilisierung und zur Stärkung der Finanzkraft, aber auch zur Regulierung der Vergütungen und
zur Sicherheit des Anlegerschutzes verabschiedet. Frau
Wagenknecht muss dies nicht wissen - sie begibt sich
selten in die Niederungen von Ausschüssen und Anhörungen -, aber Herr Schneider, Sie könnten es durchaus
wissen. Mein Kollege Brinkhaus hält hervorragende
Vorträge zu diesem Thema - diese kann ich Ihnen nur
empfehlen - und erklärt, was alles seit 2008 in diesem
Bereich reguliert worden ist.
({0})
Ein großer Vorteil gegenüber dem Soffin-I-Gesetz ist,
dass wir aus mehreren Gesetzen auswählen können, dass
wir je nach Situation ein eigenes Gesetz haben, sodass wir
sehr gezielt überprüfen können, ob sich ein Institut selber
helfen bzw. retten kann oder ob Gelder des Steuerzahlers
erforderlich sind. Wir garantieren, dass das Soffin-II-Gesetz, das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, letztes Mittel
in einer solchen Prüfungskette ist.
Herr Kollege Schick, Sie haben recht, es geht um
große Summen: 400 Milliarden Euro Garantien, 70 Milliarden Euro Kreditermächtigungen plus 10 Milliarden
Euro, die der Haushaltsausschuss zur Verfügung stellen
kann. Deshalb ist die Frage, ob wir uns parlamentarische
Rechte aus der Hand nehmen lassen, richtig. Wir müssen
diese Frage beantworten. Ich kann sie für uns beantworten: Wir werden und wollen die Verantwortung für die
Steuergelder der Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen.
Wir beweisen das mit diesem Gesetz.
Wir haben Teile der Kreditermächtigungen gesperrt.
Teilweise kann sie der Haushaltsausschuss entsperren,
teilweise das Finanzmarktgremium mit Bericht an den
Haushaltsausschuss, sodass aus den Kreditermächtigungen, die wir heute freigeben, nur Mittel in einem Umfang von 22 Milliarden Euro zur freien Verfügung stehen. Alles darüber hinaus muss durch das Parlament
oder unter Kontrolle des Parlamentes freigegeben werden.
Wir haben weiterhin dieses Gesetz bis zum 31. Dezember 2012 befristet. Liebe Kolleginnen und Kollegen
der Opposition, ich kann Ihre Kritik hier nicht verstehen.
Was kann denn besser die Transparenz und die Diskussion in diesem Parlament sicherstellen als die Verpflichtung, vor dem 31. Dezember 2012 hier in diesem Haus
erneut zu beraten, ob die Instrumente funktioniert haben,
ob nachgebessert werden muss und ob das Gesetz verlängert werden muss? Das ist eine ganz klare parlamentarische Kontrolle, nicht nur durch den Haushaltsausschuss, sondern durch uns alle und in der Öffentlichkeit,
sodass die Bürgerinnen und Bürger uns wiederum kontrollieren können.
Eine weitere Variante der Kontrolle ist durch die
Schuldenbremse gegeben. Der Finanzminister hat über
die Regeln der Schuldenbremse hinaus für den Fall einer
kurzfristigen Überschreitung einen Tilgungsplan vorgesehen, der durch Bundestagsbeschluss gefasst werden
muss. Das heißt, wieder sind wir in der Öffentlichkeit
und wieder müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern
genau erklären, was wir mit ihren Geldern machen, sodass aus meiner Sicht die parlamentarische Kontrolle
durchaus gegeben ist. Es liegt an uns, sie wahrzunehmen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir das tun
werden.
({1})
Wir haben die Möglichkeiten des Finanzministeriums
zur Kontrolle der Finanzmarktstabilisierungsanstalt gestärkt. Das Finanzministerium kann diese Anstalt sehr
viel deutlicher als bisher kontrollieren und Auskünfte
einholen. Sie muss Rede und Antwort stehen. Das Finanzministerium wird diese Kontrollrechte wahrnehmen. Es ist unsere Aufgabe, zum Beispiel die Aufgabe
der Mitglieder des Finanzausschusses, das Finanzministerium dazu zu befragen; dadurch üben wir unsere Kontrolle über das Finanzministerium aus.
Weiter werden wir durch dieses Gesetz die Befugnisse
der BaFin stärken. Die BaFin soll sicherstellen, dass die
Eigenkapitalvorgaben des Europäischen Rates - sie dienen dem Schutze der Gläubiger, der Erhöhung der Solidität und der Stärkung der Vertrauenswürdigkeit auf dem
Kapitalmarkt -, die im Oktober 2011 beschlossen wurden, umgesetzt werden. Zur Abwehr drohender Gefahren
für die Finanzstabilität und drohender Störungen der
Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes kann die BaFin
sogar darüber hinausgehende Eigenkapitalanforderungen
stellen. Die etwaigen Auswirkungen müssen erhebliche
Ausmaße haben. Aber der Bund muss die Möglichkeit
haben, gesetzlich einzugreifen, um drohende große Gefahren für den Finanzmarkt abzuwehren.
Das unterscheidet sich von den Vorstellungen der Opposition, Stichwort Zwangskapitalisierung. Ich habe sowieso nicht verstanden, Frau Wagenknecht, wie man
zuerst die Heizkostenzuschüsse zahlt und danach die
Finanzinstitute zwangskapitalisiert.
({2})
Auch bei Herrn Schneider habe ich den Spagat nicht
nachvollziehen können. Wir sollen kein Geld der Steuerzahler ausgeben, aber gleichzeitig fordern Sie Zwangskapitalisierung. Der erste Satz der Rede passt mit dem
zweiten nicht zusammen. Wir hingegen verfolgen ein
schlüssiges Konzept.
({3})
Die BaFin hat die Möglichkeit, diese Anforderungen zu
stellen. Selbstverständlich wird sie das, weil es Auswirkungen auf das Geld der Steuerzahler haben könnte, nur
dann tun, wenn es ansonsten zu erheblichen Verwerfungen auf dem Kapitalmarkt kommen würde.
Die BaFin hat weiterhin die Möglichkeit, anzuordnen,
dass Entnahmen durch die Inhaber oder Gesellschafter,
die Ausschüttung von Gewinnen und die Auszahlung
variabler Vergütungsbestandteile nicht zulässig sind, solange die angeordnete Eigenmittelausstattung nicht erreicht ist. Boni und Dividenden sind in diesem Fall also
zur Eigenkapitalaufrüstung heranzuziehen. Die Bürgerinnen und Bürger fragen zu Recht, ob es sinnvoll sein
kann, dass sich auf der einen Seite Vorstände hohe Gehälter zahlen und Anteilseigner hohe Ausschüttungen
bekommen, während wir auf der anderen Seite die Institute mit Steuergeldern finanzieren. Das kann nicht sein.
Die Kompetenz, dafür zu sorgen, werden wir der BaFin
mit diesem Gesetz geben. Ich bin sicher, die BaFin wird
mit dem Geld der Steuerzahler verantwortungsbewusst
umgehen. Wir werden das auch entsprechend kontrollieren.
({4})
Dieses Gesetz soll unter Beachtung der von uns im
Grundgesetz verankerten Schuldenbremse vollzogen
werden. Das heißt: Wir werden sicherstellen, Herr
Schick, dass künftige Generationen nicht alle Lasten zu
tragen haben. Wir werden sicherstellen, dass diejenigen,
die jetzt über diesen Fonds entscheiden, auch diejenigen
sein werden, die den Tilgungsplan verabschieden. Wir
werden mit dieser Regelung auch sicherstellen, dass der
Tilgungsplan in einer angemessenen Zeit verabschiedet
wird.
Ich bin ganz optimistisch, dass wir es in dieser Legislaturperiode schaffen werden, die Haushaltskonsolidierung über die Grenzen der Schuldenbremse hinaus
weiter voranzutreiben. Wir müssen deutlich machen,
dass der bisher geplante Umfang nicht ausreicht. Wir als
Parlamentarier müssen uns daher bei den nächsten Haushaltsberatungen mit der Frage auseinandersetzen, wie
eine Tilgung bei eventuellen Überschreitungen der
Schuldenbremse zu gewährleisten ist. Das heißt: Wir, die
wir diese Mittel heute freigeben, sind diejenigen, die
verantworten müssen, dass nicht künftige Generationen
für uns bezahlen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, aus
meiner Sicht beinhaltet dieses Gesetz gegenüber dem
Soffin-I-Gesetz, das Sie damals in der Großen Koalition
mitgetragen haben, sechs entscheidende Verbesserungen. Wir haben die damaligen Regelungen weiter verbessert. Ihre Ausführungen dazu, warum Sie sich heute
trotzdem aus der Verantwortung schleichen, haben mich
nicht überzeugt. Ihre Hinweise auf eigene Anträge kann
ich nur schmunzelnd zur Kenntnis nehmen. All diese
Anträge sind nämlich schon von den Grünen vorgelegt
worden. Sie haben sich lediglich die Mühe gemacht,
„SPD“ draufzuschreiben.
({6})
Von Ihnen ist darin kein eigener Gedanke enthalten.
({7})
Ich weiß nicht, welche Maßnahmen ergriffen werden
müssten, damit Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen
könnten. Das ist aber Gott sei Dank auch nicht erforderlich. Die Koalition wird dieses Gesetz tragen und verantworten. Dafür stehen wir.
Danke.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes. Der
Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/8487, den Gesetzentwurf
der beiden Fraktionen auf der Drucksache 17/8343 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist dieser Gesetzentwurf mit der
gleichen Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Zunächst zum Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/8488. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag mehrheitlich abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8489: Wer stimmt diesem
Entschließungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich der Stimme enthalten? - Damit ist auch dieser Entschließungsantrag mehrheitlich abgelehnt.
Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 4:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marianne Schieder ({0}), Swen Schulz
Präsident Dr. Norbert Lammert
({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kooperativen Bildungsföderalismus mit einem
neuen Grundgesetzartikel stärken
- Drucksache 17/8455 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
hierfür 90 Minuten vorgesehen. - Das ist offenkundig
nicht streitig, sodass wir so verfahren können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildungspolitische Debatten führen wir in diesem Hause ja
häufiger,
({0})
meistens mit Routine und dem Austausch bewährter Argumente.
({1})
Das stellt das eigene Parteipublikum möglicherweise zufrieden, aber die Bürger in diesem Lande häufig genug
nicht. Ich habe mich in dieser Debatte deshalb zu Wort
gemeldet, weil ich der Meinung bin, dass wir in einem
entscheidenden Punkt in der bildungspolitischen Debatte
ganz dringend die Routine durchbrechen müssen, wenn
wir von den Bürgern weiterhin ernst genommen werden
wollen.
({2})
Nun hören Sie, wie ich, dass sich die Menschen in
diesem Lande gelegentlich über die Politik ärgern,
manchmal sogar nicht nur über die Politik dieser Bundesregierung, sondern über die Politik insgesamt. Warum ärgern sie sich? Sie tun das, weil sie natürlich erkennen, dass wir zwar lange Zeit über Missstände reden, sie
analysieren, sie bewerten, sie nach einigen Jahren neu
bewerten und sie dann mit Experten der Wissenschaft
und in der Debatte hier im Hause miteinander besprechen, sich aber nichts ändert. Missstände werden besprochen, aber sie werden nicht beseitigt.
Ich bin mir sicher, dass an den Abendbrottischen der
meisten Familien hier in Deutschland zurzeit vielleicht
über den Bundespräsidenten gestritten wird und mit Sicherheit Sorgen über die Zukunft Europas ausgetauscht
werden. Ich sage Ihnen aber: Es gibt einen Dauerbrenner, der die Menschen - und vor allem die Eltern - überall schier aus der Haut fahren lässt, nämlich die Tatsachen, dass noch immer Unterricht ausfällt, dass Plätze in
Ganztagsschulen fehlen, dass die sanitären Anlagen in
Schulen zum Grausen sind und vieles andere mehr.
Meine Damen und Herren, das verursacht nicht einfach nur Ärger. Die Menschen verstehen nicht, dass das
von uns allen zwar beklagt wird, sich aber nichts ändert,
und am wenigsten verstehen sie, dass sich Bund und
Länder auch noch gegenseitig verbieten, gemeinsam an
der Beseitigung der Missstände zu arbeiten. Das darf
nicht so bleiben.
({3})
Sie alle kennen wahrscheinlich diesen schönen - ich
finde ihn ganz wunderbar - Merksatz von Bertolt
Brecht:
Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch
erkennen, dass A falsch war.
Das Kooperationsverbot, das wir im Paket der Föderalismusreform beschlossen haben, war ein Fehler. Wir haben es mitgetragen, weil wir die Föderalismusreform
insgesamt nicht gefährden wollten, aber ich sage Ihnen
und auch für mich persönlich: Es war falsch, und das
muss bereinigt werden.
({4})
Einen Irrtum zuzugeben, fällt in der Politik schwer.
Allen Seiten hier im Hause fällt das gelegentlich schwer,
zumal ja bekanntlich immer die jeweils andere Seite
schuld ist. Deshalb will ich in meiner Rede auch auf
Schuldzuweisungen, wer für welche Regelung im Rahmen der Föderalismusreform verantwortlich war, verzichten, und zwar erstens, weil die meisten Menschen in
Deutschland das heute nicht mehr interessiert, und zweitens, weil ich wirklich glaube, dass wir alle in diesem
Hause etwas davon haben könnten und die Politik insgesamt sogar an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen könnte,
wenn wir einmal die Kraft hätten, gemeinsam zu sagen:
Wir haben uns geirrt, das Kooperationsverbot ist Blödsinn, es muss weg.
({5})
Wir werden gleich die Beiträge in der Debatte hören.
Da ich die gewollten Missverständnisse, die es in der
Debatte immer gibt, auch aus der Diskussion in den eigenen Reihen kenne, eines zur Klarstellung vorneweg:
Ich war selbst acht Jahre auf Länderseite tätig, bevor ich
in den Bund kam.
({6})
Ich weiß, was in vielen Ländern geleistet wird, um dort
den Kindern bestmögliche Bildung zu ermöglichen.
({7})
- Sie können darüber spotten. Machen Sie das doch
gleich vom Mikrofon aus, wenn Sie Rederecht bekommen. - Erst recht bin ich nicht der Meinung, dass Bundespolitik in Bildungsfragen klüger ist als Landespolitik.
Die Länder sind zuständig für Bildungspolitik, und wir
wollen das nicht infrage stellen und ihnen nicht ständig
hineinreden.
({8})
Um all das geht es aber nicht beim Kooperationsverbot. Beim Kooperationsverbot geht es um den geradezu
skurrilen Fall, dass wir per Gesetz, sogar per Verfassung
verbieten, dass Bund und Länder ihre Kräfte bündeln,
um objektiv erkannte Probleme in der Bildungslandschaft endlich wirksam anzugehen. Das kann beim besten Willen nicht der richtige Weg sein. Das wird keiner
verstehen.
({9})
Ich nehme einmal die Klage auf, die in diesem Land
geführt wird, dass wir zu wenige Plätze an Ganztagsschulen haben. Wir vom Bund haben vor Jahren ein
Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Vielleicht beurteilt die rechte Seite des Deutschen Bundestages das mit einigem zeitlichen Abstand heute etwas gelassener als früher. Ich jedenfalls finde, im Rückblick
war das ein durchaus erfolgreiches Programm. Das war
wegen der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
erfolgreich. Niemand wird gezwungen, aber wir schaffen Möglichkeiten für solche Kinder, die auf Ganztagsschulen besser lernen. Wir schaffen Möglichkeiten für
Eltern, die wegen eigener Berufstätigkeit gerade auf solche Schulangebote dringend angewiesen sind.
Heute - das muss jedem bewusst sein -, nach der Einrichtung des Kooperationsverbotes, wären solche Anstöße in der Bildungslandschaft nicht mehr möglich.
Nun mag es sein, dass das der eine oder andere hier in
diesem Hohen Hause noch richtig findet. Nur sollte niemand damit rechnen, dass Kinder, Eltern oder Lehrer dafür Verständnis aufbringen. Das versteht keiner. Deshalb
muss das Kooperationsverbot weg!
({10})
Genauso versteht nach meiner Überzeugung keiner,
dass wir trotz PISA und trotz OECD-Studien in den letzten Jahren in Deutschland vor allen Dingen über eines
reden: über Zuständigkeiten, und zwar bei ganz vielen
bildungspolitischen Themen und zuletzt und neuerdings
auch bei dem aus meiner Sicht so wichtigen Thema der
Inklusion. Wir wollen mehr Schüler mit Behinderungen
auf Regelschulen bringen. Wenn Sie von der Seite der
Union und der FDP das sagen, glaube ich Ihnen das.
Aber ich füge hinzu: Das kann doch nicht im Ernst daran
scheitern, dass die Länder für das Fachpersonal an den
Schulen zuständig sind, der Bund aber für Eingliederungshilfen und individuelle Betreuung zuständig ist.
Lassen Sie uns doch endlich anfangen, über die jeweils
besten Lösungen zu reden - statt nur über Zuständigkeiten; das wird nicht reichen.
({11})
Wir brauchen eben keine Fortsetzung des Zuständigkeitsstreits. Wir brauchen keine Fortsetzung dieses ewigen Kompetenzgerangels. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit. Wir brauchen mehr Bildungsinvestitionen.
Das sind wir nicht nur unseren Kindern schuldig. Das
wird zu einer Überlebensfrage dieser Gesellschaft;
davon bin ich fest überzeugt. In einem Hochtechnologieland mit starker Exportwirtschaft, wie wir es sind, dessen Bevölkerungszahl zugleich schrumpft, hängt die eigene Zukunft daran, dass die weniger werdenden Kinder
bestmöglich ausgebildet werden und möglichst keiner
zurückbleibt. Bei einem solchen Land hängt alle Zukunft
daran, dass Bildung oberste Priorität auf der politischen
Skala hat.
({12})
Glaubt jemand in dieser Runde ernsthaft daran, dass
wir schon an diesem Punkt sind? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Auf der einen Seite binden wir uns durch
das Kooperationsverbot gegenseitig die Hände. Auf der
anderen Seite verschwenden wir auch auf Bundesseite
Millionen, die auf der Länderseite dringend für eine bessere Bildung gebraucht werden. Wenn Sie mir dann diesen Vorwurf erlauben: Ich finde diese Weichenstellung
sogar gleich dreifach falsch.
Das gilt erstens für das Lieblingsprojekt von Frau von
der Leyen: Die Bildungsgutscheine ziehen nicht, selbst
wenn Sie noch ein paar Millionen Euro in die Werbung
stecken würden.
({13})
Zweitens wird das familien-, frauen- und bildungspolitisch völlig verkehrte Betreuungsgeld
({14})
dazu führen, dass gerade die Kinder nicht in öffentliche
Betreuung kommen, die es am nötigsten hätten.
Drittens schlagen Sie sich mit Steuersenkungen, auf
die in diesem Lande niemand wartet, die Instrumente
selbst aus der Hand, die wir dringend für eine bessere
Bildung brauchten.
Das sind gleich drei falsche Weichenstellungen. Das
ist verhängnisvoll für ein Land, dessen Zukunft so sehr
von guter Bildungspolitik und guten Schulen abhängt.
({15})
Ich komme zum Schluss. Bildung ist der Schlüssel.
Mehr Kooperation und Investitionen sind die Instrumente. Dem kann und darf sich niemand in diesem
Hause verweigern. Dass ausgerechnet die FDP auf ihrem
Bundesparteitag noch einmal die Beibehaltung des
Kooperationsverbotes bekräftigt hat, wundert mich
nicht.
({16})
Das bestätigt, dass Sie von der Realität in diesem Lande
ein Stück weit entfernt sind.
({17})
- Vorsicht würde ich auf Ihrer Seite walten lassen. Aber
ich habe Ihnen dazu keine Ratschläge zu geben.
({18})
- Das hat die Föderalismuskommission, eine Bund-Länder-Kommission, vorgeschlagen.
({19})
Ich hatte Ihnen vorgeschlagen: Wenn wir Auswege
suchen, dann sollten wir nicht wieder die Debatte führen,
wer in der Föderalismusreform für welche Vorschläge
Verantwortung getragen hat.
({20})
Herr Kollege Steinmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, wären Sie bereit, sich mit mir gemeinsam daran zu erinnern, dass die
Föderalismuskommission gescheitert ist - sie ist unter
anderem an dem Streit über die Frage gescheitert, wie es
in der Bildung weitergehen soll und ob es ein Kooperationsverbot geben soll - und dass es dann nach Verhandlungen zwischen Herrn Müntefering und Herrn Stoiber,
die hinter verschlossenen Türen geführt wurden, die
Große Koalition war, die diese Regelung durchgesetzt
hat,
({0})
die mit der Föderalismuskommission eben nicht zu vereinbaren war?
({1})
Meine Damen und Herren, liebe Kollegin, machen
Sie sich gerne alle weiße Füße in dieser Debatte. Ich
habe nichts dagegen.
({0})
Wer sich aber einer Änderung der jetzigen Situation verweigert, die aufgrund eines Fehlers entstanden ist, an
dem wir mitgewirkt haben - das habe ich im ersten Satz
meiner Rede gesagt -,
({1})
nutzt weder den Bürgern noch den Schülerinnen und
Schülern, sondern macht das den Eltern in diesem Lande
nur vor.
Setzen Sie ruhig Ihre Rechthaberei fort. Ich will Bildungspolitik machen.
({2})
Was die Union angeht, hat sich zwar die offizielle Beschlusslage noch nicht geändert; aber ich sehe, dass
nicht nur die Wissenschaftsministerin - sie ist, wie ich
sehe, anwesend - erfreulicherweise Handlungsbedarf erkennt, sondern auch die schleswig-holsteinische Landesregierung. Sie hat gestern einen Antrag zur Beseitigung
des Kooperationsverbotes vorgelegt, mit dem sich der
Bundesrat befassen wird. Man kann sich zwar darüber
streiten, ob es die Glaubwürdigkeit erhöht, wenn man
eine Legislaturperiode lang etwas anderes vertreten hat
und dann kurz vor den Wahlen das Gegenteil vertritt;
trotzdem ist der Weg der Beseitigung des Kooperationsverbotes richtig. Deswegen nehmen wir das gerne auf.
Mehr Bildung ist nicht mit weniger Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern zu erreichen. Deshalb muss
das Kooperationsverbot weg. Wir legen einen Vorschlag
vor, den wir mit unseren Ländern beraten haben und den
diese mittragen werden. Ich bitte Sie herzlich um Unterstützung dieses Vorschlags.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass Bildung die Grundlage unseres Wohlstands ist und dass deswegen Investitionen in nennenswerten Größenordnungen notwendig sind, haben wir
nicht nur gesagt, sondern seit unserem Regierungsantritt
2005 mit jedem Haushalt aufs Neue bewiesen. Keine
Regierung in der Geschichte hat so viel in Bildung und
Wissenschaft investiert wie die unter Angela Merkel.
({0})
Wir haben das nicht mit Ad-hoc-Programmen gemacht
- heute so und übermorgen so -, sondern wir haben etwas geschaffen, das von größter Wichtigkeit ist, wenn
man es mit der Bildungsrepublik ernst meint. Wir haben
Nachhaltigkeit durch kontinuierlichen Aufwuchs - in
den ersten Jahren 3 Prozent pro Jahr und nun 5 Prozent
pro Jahr - organisiert; das gab es so in der Geschichte
ebenfalls noch nicht. Das führt dazu, dass mittlerweile
Wissenschaftler selbst in Amerika daran denken, nach
Deutschland zu kommen, weil die Arbeitsbedingungen
hier besser sind. Wir haben wirklich etwas für den Wissenschafts- und Bildungsstandort Deutschland geleistet.
Das gilt es anzuerkennen.
({1})
Wir haben mit dem Hochschulpakt und dem BolognaQualitätspakt auf die aktuellen Entwicklungen reagiert.
Wir haben nicht nur Geld bereitgestellt, sondern sind die
großen Themen der Bildung in diesem Land aktiv angegangen, sei es die Alphabetisierung, sei es die frühkindliche Bildung, sei es die kulturelle Bildung usw. Wir haben überall Akzente gesetzt, und zwar auf eine Art und
Weise, dass das Ganze nicht ein Strohfeuer ist, sondern
nachhaltig ist. Eines haben wir gelernt: So etwas wie zu
Zeiten von Rot-Grün, als die Haushalte regelrecht überrollt wurden und die Wissenschaftsorganisationen nicht
wussten, wie es weitergehen soll, soll nicht noch einmal
passieren. So etwas ist auch nicht mehr passiert. Wir haben das Versprechen, eine Bildungsrepublik zu schaffen,
wahrgemacht, und zwar mit jedem Haushalt aufs Neue.
({2})
Deswegen hat diese Koalition beim Thema Bildung eine
so große Glaubwürdigkeit.
Herr Steinmeier, Ihr Ausflug in die Bildungspolitik
war nicht sehr überzeugend. Sie haben vor allen Dingen
über Geld gesprochen, darüber, wie möglichst viel Geld
des Bundes zu den Ländern kommt. Aber darum darf es
nicht in erster Linie gehen. Es muss doch zuerst um die
Strukturen und die Qualität der Bildung gehen und erst
in zweiter Linie um Geld.
({3})
Die CDU/CSU hat bewiesen, dass sie nicht nur in finanzieller, sondern auch in gesetzgeberischer Hinsicht tätig
werden kann, wenn es sein muss. Das gilt auch im Hinblick auf eine Grundgesetzänderung; das ist überhaupt
keine Frage. Aber wir wollen das nicht so machen, wie
Sie uns das vorschlagen. Eine Grundgesetzänderung ist
Ihnen gerade einmal einen Antrag mit anderthalb Seiten
wert. Was davon zu halten ist, zeigt ein Blick auf die
Bundesratsbank: Nicht ein einziger SPD-Minister ist
hier, um diesem Antrag zu folgen und Sie dabei zu unterstützen. Ich sehe das ganz genauso.
({4})
Wir müssen einige Leitplanken und Grundsätze beachten, wenn wir in der Diskussion über Föderalismusreform und Kooperationsverbot die richtige Lösung finden wollen. Zuerst muss es darum gehen, was der
Bildung nutzt, was strukturell notwendig ist. Es darf
keine reine Geldverschiebeaktion werden. Keiner der
unterschiedlichen Akteure, die im Bildungsbereich tätig
sind und dafür sorgen, dass Deutschland ein Bildungsland ist und als solches weiterhin existiert, darf aus der
Verantwortung entlassen werden. Das ist das große Problem des vorliegenden Antrags. Er stellt nichts anderes
als die Einladung an die Länder dar, sich einen schlanken Fuß zu machen und sich zurückzuziehen. Nein, so
können wir es nicht machen.
({5})
Es ist auch nicht richtig, nicht über Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zu sprechen. Das genaue Gegenteil ist richtig. Wenn alle zuständig sind, ist niemand
wirklich zuständig. Das erleben wir oft, und das darf
nicht sein. Von dem Geld, das wir zur Verfügung gestellt
haben und über das wir keine Kontrolle haben, ist viel in
den Landeshaushalten versickert. Der Kollege Gehring
- hochgeschätzt von uns - hat Anfang dieser Woche kritisiert, dass Hamburg 600 000 Euro - ein eher kleiner
Betrag; aber es geht um das Prinzip - aus dem Hochschulpakt zweckentfremdet und nicht für den Aufbau
von Studienplätzen, sondern für andere Aufgaben verwendet hat. Der Kollege Matschie, früher Staatssekretär
im Bundesforschungsministerium, enthält seinen Hochschulen Landesgeld vor mit dem Argument, die Hochschulen bekämen das Geld vom Bund. So war das nicht
gedacht.
({6})
Es geht letztlich um mehr Geld, nicht um weniger. Es
kann doch nicht das Ziel der Übung sein, dass der Bund
Geld gibt und die Länder ihre Mittel kürzen. Nein, am
Ende muss mehr und nicht gleich viel oder sogar weniger da sein. Wir brauchen mehr Geld für die Bildung.
Das ist die Aufgabe.
({7})
Das gilt auch für viele andere Bundesländer, für Brandenburg und für Mecklenburg-Vorpommern. Überall ist
die SPD ordentlich mit dabei. Das ist nicht unsere Vorstellung von Kooperation. Kooperation muss auf Augenhöhe erfolgen, sie muss am Ende einen Mehrwert erzielen, aber sie darf nicht weniger Mittel zum Resultat
haben.
({8})
Wir müssen uns auch alle miteinander ehrlich machen. Das gilt insbesondere für die SPD. Wenn Sie sich
anschauen, wie viel Geld Länder und Kommunen für die
Bildung ausgeben, dann stellen Sie fest, dass das im Jahr
100 Milliarden Euro sind. Wir im Deutschen Bundestag
haben trotz der Kürzung der Etats in anderen Politikbereichen, in der größten Wirtschaftskrise dieser Zeit, eine
gewaltige Bildungsexpansion von 61 Prozent erzeugt
und kommen auf 6,9 Milliarden Euro. 6,9 Milliarden
Euro wurden im vergangenen Jahr für die Bildung vonseiten des Bundes zur Verfügung gestellt. Das ist im Vergleich zu 2005 ein Aufwuchs von 61 Prozent. Das ist
eine gewaltige Leistung.
Trotzdem stehen diese 6,9 Milliarden Euro im Verhältnis zu den 100 Milliarden Euro der Länder und Kommunen. Man kann doch nicht den Eindruck erwecken,
dass wir mit diesem Geld oder einem weiteren Aufwuchs, möglicherweise noch einmal um 60 Prozent, die
Probleme der Länder im Bildungssektor lösen können.
Nein, wir müssen an die Verantwortung der Länder appellieren, wir müssen ihnen klarmachen, dass Bildung
das Wichtigste für ein deutsches Bundesland ist und dass
jeder Euro für Bildung ein richtig eingesetzter Euro ist.
({9})
Ich bin der Meinung, dass wir das Gespräch mit den
Bundesländern auf Augenhöhe führen müssen - da
reicht kein anderthalbseitiger Antrag im Deutschen Bundestag - und dass wir in einem stärkeren Maße eine Lösung für das Problem der Kooperation finden sollten.
Aber das setzt auch voraus, dass wir miteinander definieren, wo die Verantwortung und der Platz des Bundes
im Bereich der Wissenschaft und der Bildung sind und
wo die Länder zuständig sind. Ich halte von der Verantwortungsteilung sehr viel, weil das auch die Frage der
Abrechenbarkeit betrifft und weil man später dem Wähler sagen kann, wer wofür verantwortlich ist, wer seine
Arbeit geleistet hat und wer nicht.
Es spricht sehr viel dafür, dass der Bund in stärkerem
Maße als bisher im Bereich der Wissenschaft tätig werden sollte. Das sagen uns der Wissenschaftsrat und die
Experten, mit denen wir gesprochen haben. In diese
Richtung sollten auch die Gespräche mit den Ländern
geführt werden. Herr Steinmeier, der Zustand der Toiletten und der Stundenausfall sind keine Probleme, die der
Bund lösen kann. An der Aufgabe kann er nur scheitern.
Das weiß auch jeder von Ihnen.
({10})
Das sind Dinge, die in den Ländern geklärt werden müssen. Dafür gibt es Instrumente, über die man reden muss,
zum Beispiel den Länderfinanzausgleich und die horizontale und vertikale Finanzverteilung. Das sind wichtige Dinge. Aber wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als könnten wir hier alles leisten. Nein, dann
werden wir uns überheben, und es wird nichts besser,
sondern vieles schlechter werden. Ich bin für ein Gespräch auf Augenhöhe. Wir werden sehen, wer am Ende
erfolgreicher ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass der
Vorschlag der SPD, der jetzt vorliegt, in irgendeiner Art
und Weise geeignet ist, die Probleme im Bereich der Bildung zu lösen. Ich denke, wir müssen selber handeln und
die Vorschläge austauschen. Ich freue mich auf den Redebeitrag des Staatsministers aus Bayern und auf die
weitere Beratung.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Rosemarie Hein
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Danke schön, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
Selbstgerechtigkeit ist bei diesem Thema in diesem
Hause völlig unangebracht.
({0})
Ebenso unangebracht ist das Hin- und Herschieben und
das Verweisen auf die Schuld des jeweils anderen.
Würde man heute auf der Straße eine Umfrage starten,
wer denn künftig in Bildungsfragen zuständig sein soll,
so gäbe es womöglich eine übergroße Mehrheit für eine
alleinige Bundeszuständigkeit.
Den Grund dafür kann man in einem Forum bezüglich einer Petition lesen, die die Zuständigkeit des Bundes in Bildungsfragen fordert. Ich will aus einem Eintrag
in dieses Forum zitieren, das seit dem Jahr 2009 auf den
Internetseiten des Bundestages zu finden ist. Dort heißt
es:
Ich halte dies für eine sehr sinnvolle Forderung. Einerseits wird von den Arbeitnehmern gefordert,
dass sie maximal ortsflexibel sein sollen, andererseits scheitert dies aber schon an den unterschiedlichen Bildungssystemen der Länder, in denen sich
oft eher ungeeignete Bildungspolitiker selbstverwirklichen können.
Ich finde, das ist ein vernichtendes Urteil. Da ich
viele Jahre selbst Bildungspolitik in einem Bundesland
gemacht habe, möchte ich meine Kolleginnen und Kollegen eigentlich lieber in Schutz nehmen; aber wir alle
müssen uns fragen, was wir an dieser Stelle falsch gemacht haben.
({1})
Seit März 2010 haben die Oppositionsfraktionen allein sieben eigenständige Anträge gestellt, in denen
mehr oder minder klar gefordert wird, in der Bildung
stärker zusammenzuarbeiten und diese unsinnige Grundgesetzänderung aus dem Jahr 2006 zurückzunehmen.
Die ersten Landesparlamente, darunter Sachsen-Anhalt,
haben das auch begriffen und dies auch so beschlossen.
Aber bei den Koalitionsfraktionen - wir konnten es eben
hören - wird nach wie vor der Kopf in den Sand gesteckt,
({2})
von der Bundesministerin hört man auch nichts mehr in
dieser Richtung, und auf Herrn Spaenle bin ich nachher
sehr gespannt.
({3})
Tatsache ist: Das Verbot der Zusammenarbeit in Bildungsfragen hat der Bildung in Deutschland nicht genutzt, sondern geschadet.
({4})
Es können weniger Schulen saniert werden, und zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, also zu einer inklusiven Schule,
die darin ja gefordert wird, gibt es trotz der Ratifizierung
dieser Konvention durch die Bundesregierung nur halbseidene Absichtserklärungen.
({5})
Weil es die vorher möglichen gemeinsamen Finanzierungen von Bildungsprojekten, wie zum Beispiel das
Ganztagsschulprogramm, nicht mehr gibt, werden nun
Umwege gesucht, die kuriose Blüten treiben. Dazu nur
ein Beispiel aus der jüngsten Zeit:
In meiner Rede vom Dezember zum Bildungs- und
Teilhabepaket der Bundesregierung habe ich Ihnen etwas über den Lerntreff in Olvenstedt, einem Stadtteil
von Magdeburg, erzählt, der nun von der Arbeitsagentur
nicht mehr gefördert wird und darum geschlossen ist.
Nun hat der Oberbürgermeister den Betroffenen mitgeteilt, warum das so ist: Die Weiterführung dieses Projekts führe zu einer Wettbewerbsverzerrung, meint die
Agentur, weil doch mit dem Bildungspaket nun Lernförderung durch private Anbieter gefördert würde. - Hallo,
geht’s noch? War das Bildungspaket also nur eine Finanzspritze für den ohnehin boomenden privaten Nachhilfemarkt, oder was sollte es am Ende sein?
({6})
Ein zweites Beispiel aus Sachsen-Anhalt: Im Landkreis Stendal hat eine Schülerin Lernförderung beantragt, weil sie Gefahr lief, den von ihr angestrebten Realschulabschluss nicht zu schaffen. Das Jobcenter lehnte
zunächst ab, weil sie ja noch den Hauptschulabschluss
erreichen könne. Was, bitte, ist denn das für eine Bildungspolitik?
({7})
Jobcenter können eben nicht die Verantwortung für Bildungsaufgaben übernehmen. Sie sind dazu nicht befähigt. Das ist einfach nicht ihr Job, sondern das ist der Job
von Schulen.
Aber vielleicht hat man auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken besonders
genau gelesen. Dort steht nämlich, dass das Erreichen eines höheren Schulabschlusses regelmäßig kein Grund
für Lernförderung sei. - Meine Damen und Herren, wer
dieses Bildungspaket geschnürt hat, sollte sich sein
Lehrgeld zurückgeben lassen.
({8})
Die Zeche der verfehlten Bildungspolitik von Bund
und Ländern, der eigensüchtigen Kleinstaaterei und der
Wagenburgmentalität, die in vielen Ländern immer noch
herrscht, zahlen die Kinder und Jugendlichen in unseren
Ländern und deren Familien.
Die Autorinnen und Autoren des wissenschaftlichen
Gutachtens für Forschung und Innovation in Deutschland, also des EFI-Gutachtens, wie es heißt, haben uns
im Sommer des vergangenen Jahres auch ins Stammbuch geschrieben - ich zitiere -:
Die Expertenkommission spricht sich für eine ausgewogene Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern aus, die zur Lösung zentraler Probleme im
Bildungsbereich beiträgt. Konkret empfiehlt sie die
Rücknahme des Kooperationsverbots zwischen
Bund und Ländern.
({9})
Sie fordern damit die Rücknahme des seit dem Jahr
2006 entstandenen Wettbewerbsföderalismus, den es
vorher so nicht gegeben hatte. Das ist das Problem: Inzwischen können stärkere Länder mehr leisten und
schwächere eben nicht. Deshalb steht in dem EFI-Gutachten auch:
Die Bildungschancen von Kindern dürfen nicht von
der Finanzsituation eines Bundeslandes abhängen.
Zurzeit ist das aber so.
({10})
Sie kritisieren außerdem die fehlende Transparenz
und Durchlässigkeit zwischen den Bildungssystemen
und Schulformen der Länder. Dort steht: Die Schulformen, die gleiche Abschlüsse bieten, heißen in den Ländern verschieden. Und Schulformen, die den gleichen
Namen tragen, sind in ihrer inneren Struktur zumeist
höchst unterschiedlich. - Wonach aber soll man sich
richten, wenn man aus beruflichen Gründen mit der Familie von einem Bundesland in das andere ziehen muss?
Diese Probleme beseitigt man aber nicht, wenn man nur
bei der Finanzierung ansetzt. Hier bedarf es anderer,
weitreichenderer Lösungen.
({11})
Es gibt weitere Stolpersteine. In den Ländern gibt es
unterschiedliche Fächer, Fächergruppen und Schulbücher. Die Anerkennung von Abschlüssen und erreichten
Bildungsergebnissen in anderen Ländern ist nicht gewährleistet. Allerdings muss man auch sagen: Schon der
Wechsel von einer Schule zur anderen im gleichen Bundesland kann zu extremen Hürden führen. Auch darüber
müssen wir reden.
Zwar gibt es nun gemeinsame Bildungsstandards in
einigen wichtigen Fächern, aber sie bestimmen noch
lange nicht das, was in den Schulen gelernt wird. Darum
rufen heute immer mehr Menschen nach einer Bundesverantwortung und einem Zentralabitur. Das ist so, weil
wir unsere Aufgaben in der Bildungspolitik nicht bewältigen, und schon gar nicht gemeinsam.
Um es deutlich zu sagen: Ich halte eine solche Zentralisierung und auch ein Zentralabitur für falsch, weil ich
davon überzeugt bin, dass damit keine bessere Schule
und keine bessere Bildung zustande kommen. Wer Bildungsföderalismus will, muss ihn modernisieren. Vielfalt und Qualität, Kreativität und hohes Anspruchsniveau gedeihen nicht in einem Korsett starrer Regeln, und
auch Demokratie braucht Vielfalt. Aber wenn sich die
Länder, die Kultusminister eingeschlossen, nicht endlich
bewegen und Vielfalt ermöglichen, wenn sie Vielfalt
wollen, dann wird der Bildungsföderalismus immer
mehr zur Bildungsbremse, und sein Ansehen in der Bevölkerung nimmt weiter Schaden. Aus der angestrebten
Vielfalt wird dann nur noch Einfalt.
({12})
Wer das riskieren will, kann weitermachen wie bisher.
Wer das nicht riskieren will, muss endlich die FöderalisDr. Rosemarie Hein
musreform von 2006 zurücknehmen, und zwar komplett.
Der Bund muss diesen Prozess moderieren. Da können
wir uns nicht aus der Verantwortung stehlen, wenn es die
Länder allein nicht tun. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung für Bildung in diesem Land.
Der Bund muss allerdings verstärkt auch die eigenen
Aufgaben wahrnehmen. Manches ginge schon heute,
auch mit Bundesgeld, nur wird es nicht getan. So hat die
Bundesregierung den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab dem Jahr 2013 beschlossen und dafür Geld
für den Bau von Einrichtungen und für die Ausrüstung
zur Verfügung gestellt.
Dass aber eine gute Kinderbetreuung auch gut ausgebildetes Personal erfordert, wurde absichtsvoll ausgeblendet bzw. heimlich, still und leise den Ländern überlassen. Darum beschränkt sich die Bundesregierung auf
ein groß gefeiertes Weiterbildungsprogramm. Mit einem
Weiterbildungsprogramm für Quereinsteiger kann man
aber keine solide Ausbildung der notwendigen Zahl von
Erzieherinnen und Erziehern leisten. Dabei könnte der
Bund nach dem Kinder- und Jugendhilferecht - § 83
SGB VIII; vielleicht wollen Sie nachlesen - ein Programm zur Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern
mitfinanzieren; denn die Länder sind dazu derzeit allein
nicht in der Lage, und das berechtigt uns, ein solches
Angebot zu machen. Die Linke hat dazu einen Antrag
gestellt. Sie haben ihn abgelehnt.
Mit dem Hochschulpakt finanziert die Bundesregierung bereits zusätzliche Studienplätze. Aber einen solchen Pakt ausdrücklich für eine zusätzliche Ausbildung
von Lehrerinnen und Lehrern einzurichten, weigert sie
sich beharrlich. Dabei wird mehr als die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer in den nächsten 15 Jahren aus dem
Schuldienst ausscheiden; denn sie sind über 50 Jahre alt.
Ich glaube, dass wir, um diese Bildungsziele in der
Schule umsetzen zu können, mehr Lehrerinnen und Lehrer brauchen, mehr gut ausgebildete, zum Beispiel in
bestimmten Fächern, wo es schon seit langem einen
Mangel gibt; wir brauchen mehr Pädagoginnen und Pädagogen mit sonderpädagogischer Ausbildung. Das alles
brauchen wir. Die Linke hat einen solchen Hochschulpakt gefordert. Er wurde von Ihnen abgelehnt.
Möglicherweise haben die Länder daran ja auch gar
kein Interesse. Der Haushaltsposten für Lehrpersonal ist
in allen Bundesländern nun einmal der, der die meisten
Mittel bindet. Da der Bund die Schuldenbremse beschlossen hat, kann ich mir vorstellen, dass die Haushälter sagen: Bei diesem großen Posten kann man gut kürzen. Also sparen wir doch einmal bei den Lehrerinnen
und Lehrern. Die Kinderzahlen gehen sowieso zurück.
Also, was soll’s? Hier ist unsere Sparbüchse. - Ich halte
das für falsch.
({13})
Wenn wir das aber nicht wollen, dann brauchen wir
eine andere Politik in Bund und Ländern, eine andere
Politik bei der Herbeischaffung von Finanzmitteln. Dazu
ist vorhin in einer langen Debatte geredet worden, wie
auch schon in anderen Sitzungen. Wir brauchen eine
bessere Finanzierung für eine gute Bildungslandschaft.
Die Qualität der Bildung in Deutschland geht sonst weiter zurück.
Das wäre ganz einfach zu machen: Wir brauchen eine
gemeinsame Finanzierung von Bildung. Wir brauchen
gemeinsame Bildungsziele und -standards, damit Mobilität zwischen den Ländern möglich wird. Wir brauchen
die gegenseitige Anerkennung - beinahe hätte ich gesagt: ausländischer Abschlüsse - inländischer Abschlüsse, die in den einzelnen Bundesländern vergeben
werden, und die Akzeptanz für unterschiedliche Bildungswege. Wir brauchen ein anderes Herangehen an
das Lehren und Lernen, sodass die Kinder dort abgeholt
werden, wo sie sind, und nicht dort, wo man sie sich hin
wünscht.
({14})
Das bedeutet aber auch, dass man den Lehrerinnen und
Lehrern die Zeit geben muss, sich entsprechend mit den
Kindern zu beschäftigen.
Außerdem brauchen wir kostenfreie Lernmittel, damit
Schülerinnen und Schüler, die die Schule wechseln müssen, ihre Eltern nicht mit dem Kauf neuer Schulbücher
belasten müssen; oder man braucht einheitliche Schulbücher, aber das fordert hier, glaube ich, keiner ernsthaft.
Nach unserem Dafürhalten ginge das alles am besten
in Gemeinschaftsschulen. Aber auch das müssen die
Länder beschließen.
Ich bin gespannt, was Herr Spaenle nachher sagt.
Aber wenn wir uns nicht bewegen, dann werden uns die
Menschen zum Teufel jagen, und sie haben recht damit.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heiner Kamp von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege
Steinmeier, dass Sie das Kooperationsverbot schlecht
finden: schön und gut. Dass Sie die Aufhebung des Kooperationsverbotes fordern: schön und gut. Dass Sie Ihre
Verantwortung für das Kooperationsverbot - ich will es
einmal vorsichtig ausdrücken - hier nicht erwähnen: war
zu erwarten.
({0})
Dass Sie dann aber über Bildungsgutscheine, Betreuungsgeld und Steuersenkungen sprechen und kein Wort
zur Strategie Ihrer Minister im Bundesrat sagen, das
finde ich - gelinde gesagt - etwas traurig. Da hätte ich
mehr von Ihnen erwartet.
({1})
Als ich 2009 in den Bildungsausschuss kam, ist mir
eines sofort aufgefallen: Die bildungspolitische Arbeit
geht zu einem Großteil an der Lebenswirklichkeit der
Menschen vorbei. Wenn ich in meiner Heimat im Kreis
Gütersloh mit Bürgern ins Gespräch komme und erzähle, dass ich in Berlin im Bildungsausschuss sitze,
kommen immer wieder die gleichen Fragen: Was unternehmt ihr denn gegen das Chaos im Bildungssystem?
Warum tut ihr nichts gegen marode Schulen, gegen Lehrermangel und gegen Unterrichtsausfall? - Und so geht
es weiter. Bei solchen Fragen kann ich nur auf die föderalen Zuständigkeiten verweisen, darauf, dass der Bund
im allgemeinschulischen Bereich nicht dort helfen kann,
wo es zwickt.
Das ist ein Unding. Das müssen wir ändern. Daher
brauchen wir ein zielgerichtetes Zusammenwirken aller
staatlichen Ebenen in einer gelebten Bildungspartnerschaft auf Augenhöhe. Die Kommunen, die Länder und
der Bund müssen gemeinsam für die besten Bildungsbedingungen vor Ort arbeiten. Es kann doch nicht sein,
dass einer außen vor bleibt.
Das von der letzten Bundesregierung eingeführte Kooperationsverbot war ein Fehler.
({2})
Grund war ein Kuhhandel - gibst Du mir, geb ich Dir im Kontext der Föderalismusreform, der die Stärkung
der Bildung zu keinem Zeitpunkt im Blick hatte. Es sind
große Fehler gemacht worden. Deswegen habe ich dieses Thema in meiner Fraktion auf die Tagesordnung gesetzt. Wir sind geschlossen der Auffassung, dass die
Aufhebung des Kooperationsverbotes unbedingt notwendig ist.
({3})
Nur durch eine gemeinsame Anstrengung können wir
die bildungspolitischen Herausforderungen der Zukunft
meistern.
({4})
Bildung ist die soziale Frage unserer Zeit. Um sie zu beantworten und den Weg in die Wissensgesellschaft
weiterzugehen, muss der Bund wieder im Allgemeinschulbereich mithelfen dürfen. Gesamtstaatliche Herausforderungen verlangen gesamtstaatliches Handeln. Dem
Bund in einem so zentralen Politikfeld die Tür zu weisen, war ein riesengroßer Fehler. Das haben mittlerweile
auch einstige Väter des Kooperationsverbotes eingesehen.
Hier in diesem Hause sind wir uns über die Fraktionsgrenzen hinweg weitgehend darüber einig, dass das von
SPD und Union eingeführte Kooperationsverbot vor
allem eines war: ein bildungspolitischer Murks. Das
Kooperationsverbot hat unserem Bildungssystem und
dem Bildungsstandort Deutschland stark geschadet.
({5})
Die Belege dafür sind zahlreich. Wenn wir uns ansehen,
wer dafür ist, das Kooperationsverbot aufzuheben, und
wie klein im Vergleich dazu das Häufchen derer ist, die
es beibehalten wollen, spricht doch alles dafür, diesen
schwarz-roten Fehler zügig zu korrigieren.
({6})
Hier im Deutschen Bundestag herrscht grundsätzlich
Einigkeit darüber, dass wir das Kooperationsverbot aufheben müssen. Wir müssen uns dieser Einigkeit nicht
andauernd versichern, ganz besonders nicht auf dem
Wege uninspirierter Anträge wie dem Antrag der SPDFraktion. Von Ihnen kam wirklich schon Kreativeres,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Jetzt sollten wir uns darum kümmern, die gemeinsame
Position auch in Handeln umzusetzen: Ich nenne hier
den Bundesrat.
({8})
Als Erstes gilt es, die kurzsichtige und ängstliche Blockadehaltung aufseiten der Länder aufzulösen. In manchem Kopf spukt noch das Gespenst herum, mit einer
Aufhebung des Kooperationsverbotes würde man die
Länder ihrer letzten Zuständigkeitsfelder Schule und
Polizei berauben. Doch: Wir hatten vor dem Kooperationsverbot keinen Bildungszentralismus in Deutschland, wir hatten während des Kooperationsverbotes keinen Bildungszentralismus in Deutschland, und wir
werden auch nach einer Aufhebung des Kooperationsverbotes keinen Zentralismus bekommen.
({9})
Was wir aber hinbekommen müssen, ist, dass eine
gesamtstaatliche Herausforderung in eine gesamtstaatliche Verantwortung kommt. Denn wir müssen feststellen, dass die Bundesländer ihrer Aufgabe, sich auf die
Sicherung der Bildungsinvestitionen zu konzentrieren,
nach 2006 nur unzureichend nachgekommen sind. Wer
für sich alleinige Zuständigkeit für ein besonderes, zentrales Politikfeld reklamiert, der muss es auch bestellen.
Wenn es Tante Ernas größte Sorge ist, den Garten einzuzäunen und Onkel Alfred aus ihrem Hoheitsfeld zu verbannen, dann müssen am Ende zumindest ihre Kartoffeln dick sein. Betrüblicherweise fiel die Erntebilanz der
Länder bislang mager aus - wie die Ernte von Tante
Erna.
Wenn wir auf den Hochschulbereich blicken, können
wir sehen, wie es funktionieren kann. Dort dürfen der
Bund und die Länder zusammenwirken. Dort haben wir
große Fortschritte. Sie speisen sich unter anderem aus
den großen Programmen wie der Exzellenzinitiative,
dem Hochschulpakt und dem Qualitätspakt Lehre.
({10})
Bund und Länder müssen gemeinsam und harmonisch
den bildungspolitischen Garten bestellen. Und wenn
beim Ernteeinsatz auch noch die Kommunen ihren Beitrag leisten - umso besser für den Bildungsstandort
Deutschland. Ich freue mich deswegen sehr, dass die
christlich-liberale Landesregierung von Schleswig-Holstein, insbesondere der FDP-Kultusminister Ekkehard
Klug, am Dienstag eine Bundesratsinitiative zur Aufhebung des Kooperationsverbotes auf den Weg gebracht
hat. Handeln, liebe Kollegen von der SPD, und nicht nur
Reden, das ist christlich-liberale Regierungsarbeit.
({11})
Das Land Schleswig-Holstein wird eine Grundgesetzinitiative zur Aufhebung des Kooperationsverbotes in
den Bundesrat einbringen. Dort kommt es dann zum
Schwur. Dort können Sie unter Beweis stellen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wie ernst es
Ihnen wirklich mit Ihren Reformbemühungen ist. Wir
werden sehr genau darauf achten und auch verfolgen, ob
die SPD-geführten Länder den Vorstoß aus SchleswigHolstein konstruktiv begleiten oder ob sie ihn sabotieren. Im Bundesrat wird sich zeigen, ob die hier von
Ihnen so sehr propagierte Vernunft obsiegt.
({12})
Im Bundesrat wird sich auch zeigen, liebe Kollegin Frau
Burchardt, ob Sie tatsächlich Ihre Ministerpräsidenten
und Kultusminister überzeugt haben, wie Sie zuletzt in
der EFI-Debatte getönt haben, oder ob die rot-grüne parteitaktische Kungelei mit Ihrem engstirnigen KleinKlein die Oberhand behält.
({13})
Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Initiative des
Landes Schleswig-Holstein positiv und konstruktiv
begleiten und sich weiter für eine Aufhebung des Kooperationsverbotes einsetzen. Uninspirierte Schaufensteranträge wie der von Ihnen vorgelegte sind für die Erreichung dieses Ziels weder dienlich noch erforderlich. Wir
werden ihn daher ablehnen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hat mit der
Föderalismusreform 2006 den Bund aus jeder Mitverantwortung für den Schul- und Bildungsbereich herausgedrängt. Dieses völlige Fehlen von Kofinanzierungsund Mitgestaltungsmöglichkeiten hat sich in der Praxis
als Kooperationsverbot negativ ausgewirkt. Es hat den
Bildungsföderalismus geschwächt und der Ausfinanzierung unseres Bildungssystems geschadet.
({0})
Obwohl unser Bildungssystem weiterhin unterfinanziert ist, darf der Bund bei der Bildung nicht mitfinanzieren. Obwohl es Kindern nützt und Eltern unterstützt, darf
der Bund kein Ganztagsschulprogramm auflegen. Obwohl es immer noch Schulen gibt, die verfallen und in
die es hineinregnet, geht eine Schulbaumodernisierung
nur mit einer abenteuerlichen Umgehung unseres Grundgesetzes, wie dem Rückgriff auf eine „außergewöhnliche
Notlage“ bei den Konjunkturpaketen. Bildung ist aber
nichts Außergewöhnliches und auch keine Naturkatastrophe, sondern eine zentrale gesamtstaatliche Daueraufgabe.
({1})
Das Kooperationsverbot hat uns zudem die bürokratischste Sozialleistung aller Zeiten beschert: das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket. Kinder und Jugendliche aus ALG-II-Familien brauchen die besten Kitas,
die besten Schulen, die besten Lehrkräfte. Was sie und
ihre Eltern nicht brauchen, ist eine BildungsgutscheinBürokratie mit Antragswirrwarr zwischen Jobcentern,
Kommunen und Trägern.
({2})
Wer gute Ganztagsschulen mit individueller Förderung ausfinanziert, braucht keine Gutscheine für private
kommerzielle Nachhilfeinstitute auszugeben. Ohne
Kooperationsverbot ließe sich gezielt in bessere Bildungseinrichtungen und in ein qualitativ gestärktes
öffentliches Bildungswesen investieren. Dies käme allen
Kindern und Jugendlichen, aber vor allem bildungsarmen direkt zugute. Dies wäre auch ein sachgerechter
und effektiver Einsatz von Steuermitteln. Aus all diesen
Gründen muss das Kooperationsverbot wieder fallen!
({3})
Den Wissenschaftsbereich hat die Föderalismusreform weniger hart getroffen, da in letzter Sekunde
Kooperationen wie der Hochschulpakt von Bund und
Ländern möglich blieben. Probleme gibt es künftig
gleichwohl bei den Hochschulbaumitteln, wenn die
Zweckbindung fällt.
Intransparente, willkürlich erscheinende Förderungen wie zum Beispiel zuletzt bei GEOMAR, der Berliner Charité oder den Gesundheitszentren zeigen aber,
dass zunehmend auch hier die Umgehung unserer
Grundgesetzregeln droht. Förderungen über Umwege
und nach Gutsfrauenart sind definitiv kein sinnvoller
Weg. Daher braucht es auch im Wissenschaftsbereich
bessere Kooperationsregeln.
({4})
Das Kooperationsverbot hat sich nicht bewährt. Es
hat eine kluge und transparente Zusammenarbeit von
Bund und Ländern im Bildungsbereich verunmöglicht.
Deshalb haben wir Grüne damals, 2006, und auch davor
immer vor den Auswirkungen eines solchen Kooperationsverbotes gewarnt. Wir haben 2006 hier im Bundestag gemeinsam mit der Linksfraktion klar dagegen gestimmt und wussten dabei viele Bildungsexperten und
Verbände auf unserer Seite. Wir kämpfen seitdem für die
Überwindung des Kooperationsverbots.
({5})
Wenn die SPD-Fraktion ebenso wie Bundesbildungsministerin Schavan ihren Fehler aus der Großen Koalition korrigieren möchte, diesen Lernprozess erkennen
wir ausdrücklich an.
({6})
Auch der Beschluss der FDP-Bundestagsfraktion war
ein wichtiger Schritt nach vorn.
({7})
Wir brauchen jetzt einen gemeinsamen Kraftakt, um im
Bundestag und im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit
zu gewinnen. Wir fordern Ministerin Schavan auf, einen
Vorschlag für eine Grundgesetzänderung vorzulegen.
Außerdem bieten wir allen Bundestagsfraktionen sehr
ernsthaft Gespräche mit dem Ziel einer Grundgesetzänderung an, die eine neue Kooperationskultur zwischen
Bund und Ländern ermöglicht.
({8})
Lassen Sie uns gemeinsam das Zeitfenster nutzen, das
sich 2012 auftut.
Für niemanden in unserem Land ist nachvollziehbar,
warum Bund und Länder in zentralen Bildungsfragen
nicht kooperieren dürfen. Unsere Gesellschaft ist längst
weiter: Die Menschen möchten eine Modernisierung des
Bildungsföderalismus. Sie fordern bessere Kitas, Schulen und Universitäten ein und honorieren auch, wenn es
zu Verbesserungen im Bildungssystem kommt.
Ans Wolkenkuckucksheim „Wettbewerbsföderalismus“ glauben sie dagegen schon lange nicht mehr, weil
sie erleben, dass arme Kommunen und finanzschwächere Länder dabei eben nicht chancengerecht mithalten
können. Sie wollen einen kooperativen statt eines konfrontativen Bildungsföderalismus; denn sie wollen
Chancengleichheit für ihre Kinder, Jugendlichen und
Enkel, unabhängig von der Herkunft und vom Wohnort.
Das hat nichts mit Gleichmacherei zu tun, sondern mit
Startchancen und Leistungsgerechtigkeit.
({9})
Wer gute Bildung wirklich als zentrale soziale und
ökonomische Frage betrachtet, muss eine gesamtstaatliche Strategie verfolgen - statt bildungspolitischer
Kleinstaaterei. Wer sonntags eine Bildungsrepublik ausruft, der darf werktags die Zusammenarbeit von Bund
und Ländern eben nicht blockieren, weil Kindeswohl vor
Kooperationsverbot gehen muss.
({10})
Bildung entscheidet wie kein anderes Thema über
sozialen Aufstieg sowie Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Wohlstand. Die Folgen mangelnder Bildung
wie Fachkräftemangel, Arbeitslosigkeit und steigende
soziale Transfers betreffen übrigens alle staatlichen Ebenen und die gesamte Gesellschaft. Gerechtigkeits- und
Innovationsfragen von solch gesamtstaatlicher Tragweite erfordern die Kooperation aller politischen Ebenen
statt Selbstblockade. In diesem Sinne ist Bildung eine
Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen.
({11})
Das heißt nicht, dass wir eine Bundesbildungskompetenz wollen; Bildungszentralismus würde die Probleme
vor Ort keinesfalls besser lösen können. Mit der
gewünschten Grundgesetzänderung wollen wir Grüne
vielmehr zweierlei erreichen: erstens eine solidarische
Modernisierung unserer föderalen Ordnung im Bildungs- und Wissenschaftsbereich und zweitens, unserer
Verfassung wieder den hohen Stellenwert einzuräumen,
der ihr gebührt, den sie aber aufgrund von immer mehr
Umgehungen einzubüßen droht.
Bildung bleibt dabei Kern der Landespolitik; aber der
Bund muss in Mitverantwortung mitwirken können, um
Vergleichbarkeit und Mobilität im Inland zu gewährleisten und zu erleichtern. Wir schlagen daher vor, die großen Herausforderungen auf den bildungspolitischen
Handlungsfeldern unter Wahrung der Kulturhoheit der
Länder gemeinschaftlich anzupacken und mit Bund und
Ländern Lösungen nachhaltig zu erarbeiten.
({12})
Wenn wir die verfassungsrechtlichen Grundlagen neu
justiert haben, lassen sich zwischen Bund und Ländern
gemeinsam vereinbarte Projekte endlich wieder angehen. Für uns Grüne wäre eine neue bundesweite Ganztagsschuloffensive vordringlich. Der Ausbau von Ganztagsschulen darf nicht ins Stocken geraten, da die
Ganztagsschulen im Hinblick auf Chancengerechtigkeit
für unsere Kinder, Wahlfreiheit sowie Vereinbarkeit von
Familie und Beruf für die Eltern unbestreitbare Erfolge
gebracht haben. Des Weiteren zählen dazu Programme
zum Beispiel zur Umsetzung der UN-Konvention zur
Inklusion oder zur Sprachbildung von Kindern und
Jugendlichen mit und ohne Einwanderungsgeschichte.
({13})
Das sind die zentralen Herausforderungen, die wir anpacken müssen.
Herr Steinmeier, es geht uns nicht darum, dass der
Bund zukünftig wieder nur in Beton mit investieren darf.
Wir brauchen auch gemeinsame Investitionen in eine
qualitative Verbesserung, die mit Personal- und Sachausgaben verbunden sind. Der Vorschlag der SPD ist daher
für uns nicht die erste Wahl. Auch wenn in Ihrem Antrag
zutreffend davon die Rede ist, „dauerhafte Finanzhilfen
des Bundes für Bildung“ zu ermöglichen, so ist klar,
dass ein neuer Art. 104 c GG keine Investitionen in Personal- und Sachmittel ermöglichen würde.
({14})
Das hielten wir für zu kurz gesprungen. Es könnte nämlich bedeuten, dass neue Umgehungsstatbestände produziert werden. Denken Sie nur einmal an den Bereich der
Inklusion und daran, was sich in den Schulen neben den
baulichen Voraussetzungen alles verändern muss. An der
Stelle geht es eben nicht ohne Personal- und Sachmittel.
({15})
Unserer Auffassung nach ist es zielführender, den
Art. 91 b des Grundgesetzes zu öffnen, sodass Bund und
Länder zur Förderung und Sicherstellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens und der Wissenschaft auf
der Basis von Vereinbarungen zusammenarbeiten können. Für diesen Reformweg möchten wir hier werben.
Die Gesellschaft würde es uns sicherlich hoch anrechnen, wenn uns hier im Bundestag ein Konsens gelänge.
Würden wir ein fraktionsübergreifendes Vorgehen, wie
zum Beispiel zuvor im Landtag von Schleswig-Holstein,
als Allparteien- und -fraktionenkompromiss hinbekommen, dann würde eine neue Kooperationskultur entstehen und ein gesamtstaatlicher Bildungsaufbruch funktionieren, zumindest aber eine Chance bekommen.
Generationen von Schülern, Studierenden, Eltern und
Lehrern würden es uns danken. Auch deshalb ist es aller
Mühe wert. Lassen Sie uns 2012 dazu nutzen.
Danke.
({16})
Das Wort hat der Staatsminister für Unterricht und
Kultus des Freistaats Bayern, Dr. Ludwig Spaenle.
({0})
Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Das Ergebnis der Föderalismuskommission I war kein Fehler.
({2})
Es war kein Fehler, die Kompetenzen zwischen Bund
und Ländern aufgabengerecht, klar und deutlich herauszuarbeiten und mit unterschiedlichen Profilen Verantwortlichkeiten deutlich zu machen.
Die Kraft unseres Landes liegt in seiner Vielfalt nach
der Einheit. Deshalb haben die Väter der Föderalismusreform in Bezug auf Kompetenz und Zuständigkeitsbereiche richtig gehandelt. Warum? Die Menschen in unserem Land haben zu dem Thema Bildung eine enge und
intensive Beziehung. Wenn Sie die Ergebnisse der Landtagswahlen im vergangenen Jahrzehnt vertieft analysieren, dann wird klar, dass für die Menschen in allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland die Beurteilung
der Bildungspolitik in ihrer Umgebung, in ihrer Nähe, in
der Lebenswirklichkeit ihrer Familie eines der zentralen
Entscheidungskriterien für die politische Willensbekundung in den Ländern ist.
({3})
Bildung ist in den Familien das zentrale Thema, wenn es
um die Zukunftschancen der jungen Menschen geht.
Aufgrund dieser besonderen Zuwendung müssen diese
Entscheidungen nahe bei den Menschen demokratisch
kontrolliert, verantwortet und entschieden werden.
({4})
Deshalb hat man richtig gehandelt, als man die Verantwortung für die schulische Bildung den Ländern
übertragen hat. Man hat ferner den klugen Schritt getan,
die Verantwortung im Bereich der Hochschulpolitik und
der universitären Bildung auf einem gemeinsamen Weg
möglich und organisatorisch durchsetzbar zu machen.
Deshalb ist die Frage, ob und wie Bildung gestaltet wird,
in den Händen der Länder gut aufgehoben.
({5})
Wir haben den kooperativen Föderalismus als Realität
in der Bundesrepublik Deutschland.
({6})
Im Mai des Jahres 2010 hat die Kultusministerkonferenz
in München unter meiner Präsidentschaft gemeinsam
mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung
ein umfangreiches Maßnahmenpaket inhaltlich abgestimmt und auf den Weg gebracht. Die getroffene Vereinbarung sieht in gemeinsamer Verantwortung Maßnahmen des Bundes und der Länder vor, die abgearbeitet
werden können. Sie sieht zusätzliche Maßnahmen der
Länder und Maßnahmen in Bereichen vor, in denen der
Bund die alleinige Kompetenz auf dem Feld der Bildung
hat. Das heißt, wir haben eine Verfassungsrealität, die
dem Ziel, Bildung zu gestalten, Rechnung trägt. In Ko18508
Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle ({7})
operation zwischen Kommunen, den Ländern und dem
Bund - das ist die richtige Reihenfolge - wird auf die
Verwirklichung des Auftrags und Anspruchs auf die
beste Ausbildung ihrer Kinder, den jede Familie in unserem Land hat, geachtet.
({8})
Die Länder tragen gesamtstaatliche Verantwortung. Insofern ist der Vorwurf der „Wagenburgmentalität“ und
die Geschichte von Tante Ernas und Onkel Alfreds Garten völlig falsch.
({9})
Die Lebenswirklichkeit erfordert die Wahrnehmung
der Letztverantwortung in gesamtstaatlicher Dimension.
Deshalb sorgen die Länder für die Entwicklung gemeinsamer Standards beim Abitur und dem mittleren Schulabschluss. Deshalb stellen sich die Länder gemeinsam
den zentralen Herausforderungen, zum Beispiel dem
Thema Inklusion. Deshalb ist eine Reihe von Ländern
dabei, gemeinsame Prüfungsstandards weiterzuentwickeln. Wir wollen, dass die Frage von Vergleichbarkeit
und Verlässlichkeit der Bildungsabschlüsse von den
Ländern in ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung gelöst
wird.
({10})
Deshalb legen sieben Länder eine Strategie vor, die dafür sorgen soll, dass Teile von Abituraufgaben in den
Kernfächern Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache
({11})
ab dem Jahr 2014 gemeinsam geschrieben werden können.
({12})
Deshalb legen die Länder eine Strategie vor, die dafür
sorgen soll, die Vergleichbarkeit der Abschlussprüfungen - das ist das zentrale Handlungsinstrument - mithilfe entsprechender Aufgabenpools gemeinsam voranzutreiben.
({13})
Die entsprechenden Initiativen sind genau der Ausdruck eines leistungsstarken Wettbewerbsföderalismus
in gesamtstaatlicher Verantwortung, der dem Anspruch
der Menschen, dem Anspruch der Familien Rechnung
trägt, nachvollziehbar in ihrer Lebensumgebung eine
Bildungslandschaft vorzufinden, die entsprechende leistungsstarke Abschlüsse für Kinder, gleich welcher Herkunft, gewährleistet.
Wir brauchen zusätzliches Geld für Bildung. Wenn
wir es ernst damit meinen, dass die Zuständigkeit der
Länder für Bildung abschließend geregelt ist - und zwar
richtig geregelt ist - und dass es gemeinsame Gespräche
in Bildungsverantwortung zwischen Bund und Ländern
geben soll, dann ist dieser Tatsache aus der einstimmigen Sicht der Länder dadurch Rechnung zu tragen, dass
über die Finanzverfassung zu sprechen ist und dass über
die Übertragung zusätzlicher Umsatzsteuerpunkte auf
die Länder zu reden ist, damit den Ländern, die hier Unterstützung brauchen, geholfen wird. Ich habe Verständnis für die Kollegen in den Ländern, die zur Unterstützung der Erledigung dieser Kernaufgabe nach stärkeren
finanziellen Möglichkeiten suchen und sich entsprechend politisch einlassen.
Herr Kollege Spaenle, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister ({0}):
Vielen Dank, ich möchte die Redezeit gern ausschöpfen.
({1})
Keine Zwischenfrage.
Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister ({0}):
Erst dann, wenn die Möglichkeiten, die Bund und
Länder gemeinsam haben, zum Beispiel auf dem zentralen Feld der Übergänge von der allgemeinen Bildung in
die berufliche Bildung, in den Beruf, bei der Frage der
Sprachförderung, bei der Frage, wie wir in der beruflichen Bildung gemeinsam vorwärtskommen - wir haben
eine Diversifizierung bei den Berufsbildern; das sind
über 400 Berufe, was in der Beschulung in den Flächenstaaten große Probleme macht -, genutzt worden sind,
erst dann, wenn die Zuständigkeiten in einem komplementären kooperativen Föderalismus ausgeschöpft sind
und wir mit diesen Themen nicht vorankommen, ist der
Gedanke, die Spielregeln zu verändern, überhaupt legitim. Wir müssen die Aufgaben so, wie sie verteilt sind,
zum Wohle der Menschen in unserem Land und der Familien so erfüllen, dass die Bedingungen für gute Bildung gegeben sind.
({1})
Wenn Sie beim Ländervergleich Ihren Blick auf die
Ergebnisse lenken, die Wettbewerbsföderalismus ermöglicht, dann werden Sie feststellen, dass überall dort, wo
die Union regiert, die Lebenschancen für die Menschen,
gleich welcher sozialen Herkunft, besser sind als in anderen Ländern.
({2})
Wir wollen die Lebenschancen nachhaltig verbessern.
Wir wollen dies in gemeinsamer Zuständigkeit tun. Wir
wollen es in klar definierter politischer Verantwortung
Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle ({3})
tun, um der Bildungsrepublik Deutschland den Platz einzuräumen, den sie im internationalen Vergleich verdient.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Burchardt von der
SPD-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute ganz konsensual zu sein, wie Sie es von
mir kennen.
({0})
Ich muss allerdings sagen, Herr Spaenle: Alle, die
Ihre Rede gehört haben, werden sich vermutlich gefragt
haben, ob Ihre Problemsicht adäquat ist und ob Sie eine
Vorstellung davon haben, vor welchen Herausforderungen dieses Land insgesamt steht.
({1})
Zu Herrn Kretschmer ein Wort, bei aller persönlichen
Wertschätzung - vermutlich hätten Sie auch lieber etwas
ganz anderes gesagt -: Was wir hier erlebt haben, war
nur: Auf das, was ansteht, wozu es einen großen gesellschaftlichen Konsens gibt - Herr Steinmeier hat das angesprochen -, nämlich bei den Menschen, den Wissenschaftlern und den Fachjournalisten, haben Sie leider
keine Antwort geboten. Sie haben das Thema überhaupt
nicht angepackt: Wie steht die Union zum Kooperationsverbot? Sie haben sich auf die Abteilung „Attacke“ verlegt. Das sind alles beliebte Ablenkungsmanöver; wir
kennen sie ja alle. Nur, wir stellen fest: Sie haben zum
Thema nichts gesagt.
({2})
Wenn man die Meldung des Tages schreiben würde,
dann wäre das: Die Union lässt ihre Ministerin mit ihrer
Forderung zur Aufhebung des Kooperationsverbots im
Stich und degradiert sie zur Zuschauerin. - Denn ich
habe sie hier bislang nicht auf der Rednerliste gesehen.
({3})
Was die Zuschauerrolle angeht, Herr Kamp, so weiß
ich ja, welche Nöte die Bundesbildungspolitiker in der
FDP haben. Ich bin da richtig mitfühlend.
({4})
Aber Sie haben sich jetzt auf eine Zuschauerrolle festgelegt, wenn der Bundestag über die Zukunft des Kooperationsverbots bzw. darüber redet, wie wir seine Abschaffung gestalten.
Eine kleine polemische Anmerkung kann ich mir
nicht verkneifen:
({5})
War das etwa eine Vorübung für Ihre Rolle nach der
Bundestagswahl 2013?
({6})
Herr Lindner, ich glaube, in dieser Frage kennen Sie
die Verhältnisse in Ihrer eigenen Partei nicht. Deswegen
rate ich Ihnen: Halten Sie sich jetzt einmal ein bisschen
zurück.
({7})
- Wenn Sie nichts zur Sache zu sagen haben, dann gehen
Sie doch.
({8})
Herr Kamp, Herr Professor Neumann, Sie werden
noch gebraucht, wenn sich der Bundestag dazu positionieren muss. Dann geht es nicht nur um die Frage, ob
wir das Kooperationsverbot aufheben wollen, sondern
auch um die Frage, an welchen Stellen das Grundgesetz
geändert werden muss. Mit unserem Antrag geben wir
heute den Startschuss für eine Debatte, in der wir hier im
Bundestag nach einer mehrheitsfähigen und konsensfähigen Lösung suchen.
({9})
Diese Lösungssuche muss auch im Bundesrat erfolgen.
Deswegen sind Ihre Beiträge tatsächlich gefragt.
Ich weiß, dass Konsensfindung nicht einfach ist; einige haben das mitfühlend angesprochen. Das setzt voraus, dass man zunächst einmal innerhalb der eigenen
Partei einen Konsens findet. Wir haben das geschafft.
Wir haben Ihnen im Herbst im Ausschuss angekündigt,
dass wir in der SPD eine gemeinsame Position dazu finden werden, dass wir das Kooperationsverbot aufheben
und an welcher Stelle wir das Grundgesetz ändern wollen.
Frau Kollegin Burchardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kamp?
Ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen.
Bitte schön.
An diesem Prozess waren die Ministerpräsidenten
und alle Fachminister beteiligt. Dieser Konsens wird von
der ganzen Partei getragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, kriegen Sie das in Ihrem eigenen Laden erst einmal hin! Das wäre eine entscheidende
Voraussetzung dafür, dass wir insgesamt zu einer mehrheitsfähigen Lösung kommen.
({0})
Bitte, Herr Kamp.
Bitte schön, Herr Kollege Kamp.
Vielen Dank, Frau Kollegin Burchardt. - Sind Sie bereit, zuzugestehen, dass der Startschuss zur Initiative zur
Aufhebung des Kooperationsverbotes eben nicht von der
SPD gekommen ist, sondern von der FDP-Bundestagsfraktion, von meiner Person? Sind Sie bereit, zuzugestehen, dass wir mehrere gemeinsame Positionspapiere erarbeitet haben? Damals wurde mir, als die ersten
entsprechenden Meldungen über den Ticker kamen, von
Herrn Schulz wohlwollend auf die Schulter geklopft,
und ich wurde gefragt: Was ist denn bei euch passiert? Das war sehr anerkennend. Ich bedanke mich dafür.
Also: Der Startschuss kam von uns und nicht von Ihnen.
Unser Parteitag wurde mehrere Male angesprochen.
Wir haben dort sehr wohl über das Kooperationsverbot
gesprochen. Wir haben uns auf einen Grundkonsens zur
Bildungsfinanzierung geeinigt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Beteiligung des Bundes dabei nicht ausgeschlossen werden soll.
Insofern geht Ihr Diskussionsbeitrag an der Sache
vorbei. Sind Sie bereit, zuzugestehen, dass der Startschuss von uns kam?
Vielen Dank.
Herr Kamp, ich habe doch gar kein Problem damit,
festzustellen, auch für das Protokoll des Bundestages,
dass Sie das Thema als Erster angesprochen haben. Ich
sage nur: Die große Volkspartei SPD hat es geschafft, in
ihren eigenen Reihen einen Konsens über die Aufhebung
des Kooperationsverbotes hinzubekommen. Über Detailfragen wie zum Beispiel darüber, welche Grundgesetzartikel geändert werden sollen, lieber Kollege
Gehring, kann man diskutieren. Darüber wird es noch
Debatten geben. Dies ist erst die Eröffnung der Debatte.
Ohne dass es innerhalb der Parteien einen Konsens und
den Willen zur Veränderung gibt, wird in dieser Republik nichts laufen. Ich bitte die anderen Parteien, jetzt
nachzuziehen.
({0})
Ich gehe gerne darauf ein, dass wir Fehler gemacht
haben. Asche auf unser Haupt! Das hat Frank-Walter
Steinmeier in seltener Offenheit in diesem Haus gesagt.
Aber wir haben daraus gelernt. Ich will nicht verhehlen:
Wir Bundesbildungspolitiker hätten gerne einen weiter
gefassten Antrag gehabt. Nur, dies ist der Kompromiss,
den wir innerhalb der Partei gefunden haben, und den
darf man nicht geringschätzen. Da müssen andere erst
einmal hinkommen. Ich muss niemandem hier erzählen,
wie es sich mit der Konsensfindung innerhalb von Parteien verhält. Wie gesagt: Die Debatte darüber ist eröffnet.
Auf jeden Fall reicht es nicht - darüber wird jetzt im
Wissenschaftsrat diskutiert; Herr Rupprecht, Sie haben
letztes Mal danach gefragt -, nur eine Grundgesetzänderung für den Bereich der Wissenschaft vorzunehmen. Ich
darf in diesem Zusammenhang den DFG-Präsidenten
Kleiner zitieren, der in seiner letzten Ansprache gesagt
hat: Es kommt darauf an, dass alle auch für eine Verbesserung des Bildungssystems zusammenarbeiten. - Es
geht genau darum, die großen Herausforderungen anzugehen, nämlich Bildungsarmut zu beseitigen und die
Leistungsfähigkeit des Bildungssystems als Basis für die
Steigerung der Innovationsfähigkeit des gesamten Landes zu verbessern. Das müssen wir „auf die Kette kriegen“. Das ist eine große Aufgabe. Angesichts dessen
darf man sich nicht im Klein-Klein, im Gestrigen und in
Schuldzuweisungen verstricken.
Wir sind offen. Wir hängen nicht an einzelnen Buchstaben oder Sätzen. In die Debatte im Bundesrat ist Bewegung gekommen. Es wäre ganz hervorragend, wenn
Sie jetzt mit dazu beitragen würden, dass wir auch hier
im Bundestag in eine Beratung über konstruktive Lösungen eintreten. Dafür werbe ich.
Eine ganz entscheidende Voraussetzung wäre - ich
richte meinen Blick auf die Koalitionsfraktionen und
auch auf die Ministerin -, nicht nur Themen in den Medien zu besetzen, sondern auch einen konkreten Beitrag
zu leisten. Legen Sie einen Gesetzentwurf oder zumindest einen Antrag vor, damit wir etwas haben, mit dem
wir uns konstruktiv auseinandersetzen können. Ich
glaube, die Bürgerinnen und Bürger haben verdient, dass
wir uns in dieser Sache ernsthaft um Konsens bemühen.
({1})
Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, Herr Steinmeier, dass Sie die Debatte bis
zu diesem Punkt interessant fanden. Ich hoffe auch, dass
sie nach den nächsten sechs Minuten erkenntnistheoretisch etwas weiter gediehen sein wird. Ich finde es gut,
dass man sich in dieser Diskussion, die wir seit vielen
Jahren in diesem Hause wie überall im Bildungsbereich
führen, sowohl die Pro- als auch die Kontra-Argumente
anhört.
Marcus Weinberg ({0})
Sie haben gesagt - ich werde dies gleich aufgreifen
und ausführlich darauf eingehen -, dass es Ihnen nicht
um Zuständigkeiten, sondern um Lösungen geht. Das
muss überprüft werden. Diese Debatte müssen wir führen. Wir müssen sehr genau schauen, was wir als Bund
zurzeit machen und welche Lösungen wir als Bundestag
anbieten.
Zuvor noch eine Bemerkung zur Verantwortlichkeit.
Ich hatte vor wenigen Tagen mit großer Freude gehört,
dass der neue KMK-Präsident heute reden wird. Er
kommt ja aus Hamburg, und wir Hamburger lieben es
- fast immer -, Hamburger zu hören. Nun redet er leider
doch nicht. Das finde ich insoweit verständlich, als ein
KMK-Präsident eine gewisse Unabhängigkeit wahren
muss, weil er für 16 Länder spricht. Mich ärgert allerdings, dass der neue KMK-Präsident am Montag und am
Dienstag dieser Woche über die Zeitungen groß verkündet hat, er werde dafür sorgen, dass das Kooperationsverbot aufgehoben wird. Ich glaube, der KMK-Präsident
hat in den nächsten Monaten einiges zu tun, um die Koordination zu verbessern; denn noch läuft die Koordination im Bereich der KMK nicht so, wie wir uns das vorstellen. Darauf sollte er seinen Schwerpunkt setzen, statt
Ankündigungen zu machen, die er nicht einhalten kann,
({1})
und das sage ich als Hamburger. Ich finde es ja richtig,
dass man über die Kooperation diskutiert. Aber ich erinnere mich: 1996, als die KMK die Abiturprüfungen neu
definierte, hatte das sozialdemokratisch geführte Hamburg noch nicht einmal die 87er-Regelung umgesetzt.
Ich weiß, das ist ein bisschen Historie, Ulla Burchardt.
({2})
Man muss sagen: Es ist gut, dass einige gelernt haben,
wie wichtig Kooperation auf der Ebene der Länder ist,
und diese Kooperation endlich entwickeln wollen.
Häufig taucht in dieser Debatte die Frage auf: Was sagen Sie zu dem Antrag? Wir in der Union führen, wie in
allen Parteien, intensive Diskussionen über die Frage,
welche Hemmnisse im Bildungsbereich wirken. Wir, die
CDU, haben als Partei nach einer sehr dezidierten, feinteiligen Diskussion beschlossen - Kollege Kamp, bei uns
sind Parteitagsbeschlüsse von hoher Bedeutung -, dass
die Regelungen überprüft werden sollen und Hemmnisse
abzubauen sind.
Jetzt komme ich zum Kern des Antrags. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich finde es nach all den Monaten der
Diskussion enttäuschend, wenn die SPD in einem ganz
normalen Antrag, der zwei Seiten umfasst - Kollege
Kretschmer hat darauf hingewiesen -, eine Grundgesetzänderung vorschlägt. So fordern Sie unter Punkt
eins, der Bund möge dauerhaft Finanzhilfen für die Bildung ermöglichen. Unter Punkt zwei fordern Sie, die
Bildungshoheit der Länder nicht einzuschränken. Das
bedeutet nichts anderes als eine Neuregelung der Umsatzsteuerverteilung.
({3})
Das bedeutet nichts anderes als eine Verschiebung einseitiger Finanzhilfen in Richtung der Länder. Das kann
man ja fordern, aber das muss man dann auch deutlich
formulieren.
({4})
Ich sage Ihnen ganz offen: Kollege Gehring hat für
die Grünen sehr dezidiert eingefordert, diese Diskussion
zu führen; das ist auch richtig so. Man muss und wird bei
der Frage der Kooperation möglicherweise einen Schritt
weiter gehen; hier muss man auch Grundgesetzänderungen in Betracht ziehen. Man muss sich zumindest Gedanken machen, wie man möglicherweise bestehende
Hemmnisse abbauen kann. Ich glaube aber, dass man
nach einer langen und intensiven Diskussion mit einem
so einseitig formulierten Antrag nicht weiterkommt.
({5})
Im Übrigen - das sage ich als ehemaliger Landtagsabgeordneter - halte ich sehr viel davon, die Verantwortung der Länder und der Landtagsabgeordneten in dieser
Frage - Stichworte „Kultur“ und „Bildung“ - zu stärken.
Das war in der Debatte des Jahres 2006 und im Rahmen
der Föderalismusreform insgesamt die Ausgangssituation. Es ging darum, eine klarere Zuständigkeit zu definieren: Was macht der Bund, was machen die Länder?
Dies geschah nicht nur, weil Mischfinanzierungen problematisch sind, sondern auch deshalb, weil man klar zuordnen können muss, wer im Bereich von Bildung und
Schule die Verantwortung hat.
Jetzt komme ich zum Kern der Frage: Wo stehen wir
eigentlich in Sachen Kooperation? Der Begriff „Kooperationsverbot“ sollte etwas durchleuchtet werden. Das
klingt für den Außenstehenden so, als ob es beim Thema
Bildung keine Kooperation gibt und der Bund in diesem
Bereich nichts tut. Herr Steinmeier verfolgt den Ansatz,
zu sagen: Ich definiere die Probleme und möchte Lösungen finden. - Vor welchen Herausforderungen stehen wir
denn, Ulla Burchardt?
Eine Herausforderung ist die frühkindliche Bildung;
da sind wir uns alle einig. Was unternimmt der Bund in
diesem Bereich? Der Bund gibt für den Krippenausbau
4 Milliarden Euro aus und stellt ab dem Jahr 2013
700 Millionen Euro für die Betriebskosten bereit. Der
Bund beteiligt sich also, wenn es darum geht, die Herausforderung der frühkindlichen Bildung zu bewältigen.
({6})
Eine weitere Herausforderung sind Berufsorientierung und Kompetenzfeststellung; Kollege Schummer
und Kollege Feist, dies ist in der Tat ein wichtiges
Thema. Wir haben das Problem, das besteht, diagnostiziert. Es gibt momentan zu viele Ausbildungsabbrecher.
Zu viele junge Menschen wissen noch nicht, was sie in
Zukunft in welchem Beruf erreichen wollen. Vor diesem
Hintergrund stellt der Bund für das Programm „Bil18512
Marcus Weinberg ({7})
dungsketten“ 362 Millionen Euro bereit. Der Bund kooperiert also und beteiligt sich auch hier.
({8})
Jetzt, liebe Ulla Burchardt, komme ich auf eine weitere Herausforderung zu sprechen, auf die des Lesens.
Beim Lesen ist vielfach ein Kompetenzdefizit festzustellen. Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung das
Programm „Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“
gestartet. Dafür werden 26 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
({9})
Ich könnte diese Liste fortführen: von der konkreten
Ausgestaltung des BAföG über die verschiedensten
Pakte und Pakete bis hin zum Thema Stipendien. Daran
wird deutlich: Der Bund beteiligt sich, sowohl was Forschung als auch was Bildung und Bildungsintegration
betrifft, in einem Maße wie nie zuvor.
({10})
Es sollte allerdings geklärt werden, wo es noch Hemmnisse gibt. Dann könnte nämlich noch klarer definiert
werden, an welchen Stellen eventuell Änderungen im
Grundgesetz vorgenommen werden sollten. Diesem Anliegen stehen wir offen gegenüber.
Wir sollten diese Debatte etwas dezidierter führen
und nicht nur sagen: Wir stellen Geld zur Verfügung,
und die Bildungshoheit der Länder wird nicht eingeschränkt. - Außerdem möchte ich den Kollegen Schulz
bitten, seine Ausführungen zu den Bundesländern einmal zu erläutern. In Ihrem Antrag schreiben Sie:
Um die Gleichbehandlung der Länder sicherzustellen, ist dabei vorzusehen, dass diese Vereinbarungen von den Ländern nur einstimmig beschlossen
werden können.
Für mich ist es eine Herausforderung, das zu verstehen.
Soll das heißen, man könne die Gleichbehandlung der
Länder sicherstellen, wenn es einstimmige Beschlüsse
gibt? Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe nicht
verstanden, was das eigentlich soll.
({11})
Wir wollen auf diesem Gebiet zusammenarbeiten. Wir
wollen die Gleichbehandlung aber nicht durch das Prinzip der Einstimmigkeit erzeugen. Dieser Aspekt sollte
etwas differenzierter betrachtet werden.
Was bedeutet all dies im Hinblick auf die Ergebnisse
im Bildungs- und Forschungsbereich? Michael Kretschmer
hat es angesprochen: In der Langzeitbetrachtung seit dem
Jahr 2001 ist festzustellen, dass wir im Bildungsbereich
deutliche Erfolge erzielt haben. Dazu haben auch die
Länder bzw. die Verantwortlichen in den Ländern einen
Beitrag geleistet, insbesondere diejenigen, die im Bildungsbereich aktiv Verantwortung übernommen haben.
Aber - das muss man ganz deutlich sagen -: Das ist auch
das Ergebnis der neuen Politik, die seit 2005 gemacht
wird. Seitdem ist Bildung endlich ein Schwerpunktthema.
Das Volumen dieses Haushalts ist seit 2005 um 54 Prozent gestiegen. Möglicherweise hat gerade die Motivation, die die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen in diesem Bereich an den Tag gelegt haben, dazu
geführt, dass man nun feststellen kann, dass hier noch
weiteres Geld zur Verfügung steht. Aus Zeitgründen
werde ich darauf verzichten, die einzelnen Erfolge, die erzielt wurden, aufzulisten.
Was bleibt unter dem Strich? Wir werden diese Diskussion in den nächsten Monaten weiterführen. Ich
glaube, man sollte in dieser Diskussion ehrlich miteinander umgehen. Herr Steinmeier - heute hat er übrigens
zum ersten Mal eine Routine durchbrochen und an einer
Bildungsdebatte teilgenommen - sollte sich genau überlegen, wie diese Diskussion konkret geführt werden
sollte. Dabei muss nämlich mehr herauskommen als dieser sehr vereinfachte Antrag, in dem lediglich gefordert
wird, den Ländern Geld zur Verfügung zu stellen.
({12})
Wir müssen dezidiert darüber diskutieren, auf welcher
Ebene wir was genau unternehmen. Ich glaube, Ihr Vorschlag ist zu wenig.
({13})
Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({14})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Swen
Schulz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In allen Parteien gibt es eine Reihe von Landespolitikern, die sehr
skeptisch betrachten, worüber wir hier diskutieren. Sie
wollen nicht, dass der Bund in unzulässiger Weise in die
Bildungspolitik der Länder eingreift. Aus Erfahrung mit
meiner eigenen Partei muss ich sagen: Ich habe wirklich
Verständnis dafür, dass diese Debatte in den Parteien
Zeit braucht.
Es ist schon ein Stück weit auffällig, dass die Bundesbildungsministerin Schavan inzwischen seit Jahren durch
die Lande zieht und in Interviews und bei Sonntagsreden
deutlich macht, wie wichtig es doch wäre, das Kooperationsverbot im Grundgesetz zu überwinden. Entscheidend ist aber, was auf dem Platz bzw. hier im Deutschen
Bundestag geschieht. Wir warten bis heute vergeblich auf
einen konkreten Vorschlag, auf eine konkrete Initiative.
Dieses merkwürdige Verhalten zeigt sich letztendlich
auch in dieser Debatte. Die Bundesbildungsministerin
Schavan ergreift überhaupt nicht das Wort - ich will nicht
Swen Schulz ({0})
darüber spekulieren, warum nicht, ob sie nicht will oder
nicht darf -, und die Rednerinnen und Redner von der Koalition, insbesondere von der CDU/CSU, reden wortreich
um den heißen Brei herum.
({1})
Am Ende stellt sich doch die Frage: Wofür sind Sie nun
eigentlich? Was ist Ihr Vorschlag?
Die SPD bringt heute einen konkreten Antrag ein.
Wir wollen mit einem neuen Grundgesetzartikel, mit
Art. 104 c, Finanzhilfen des Bundes für Bildung ermöglichen, und zwar in Vereinbarung mit den Ländern. Da
geht es nicht einfach nur um eine Neuregelung der
Mehrwertsteueranteile. Wir wollen mit den Ländern Finanzhilfen zielgenau für die Bildung vereinbaren. Wenn
Sie das missverstehen, Herr Kollege Weinberg, dann
werden wir Ihnen das im Ausschuss gerne noch einmal
erklären.
Wir haben mit diesem Antrag eine Debatte ausgelöst,
in der sich auch die CDU/CSU einmal bekennen muss.
Sie muss hier Farbe bekennen. Wir wollen auch wissen,
wo Bildungsministerin Schavan steht.
({2})
Die zentrale Begründung für das Kooperationsverbot
ist, es gebe bessere Ergebnisse durch Wettbewerb. Nun
sind wir in Deutschland beim Wettbewerbsföderalismus
sicherlich weltweit führend, liegen also wahrscheinlich
noch vor so föderalen Staaten wie Kanada und der
Schweiz. Wenn es tatsächlich stimmte, dass der Wettbewerb bessere Ergebnisse zeitigt, dann müssten wir auch
im Bildungsbereich weltweit Spitze sein. Das sind wir
aber nicht;
({3})
denn in dem Wettbewerb, so wie wir ihn organisieren,
haben Kommunen und ganze Bundesländer keine
Chance. Sie werden abgehängt. So wie wir den Wettbewerb organisieren, ist er kontraproduktiv.
({4})
Darum brauchen wir einen Mentalitätswechsel weg vom
Wettbewerbs- und hin zum Kooperationsföderalismus.
Wir brauchen weniger Ellenbogen und mehr Zusammenarbeit. Das ist das Gebot der Stunde.
({5})
Das ist nicht etwa eine neue Idee oder einfach nur
Theorie. Es gibt dafür gute Beispiele, etwa in der Wissenschaft. Stellen wir uns einmal vor, was geschähe,
wenn jemand sagte, die bestehenden Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereich der Wissenschaft sollten gestrichen werden. Diese Person würde
doch ausgelacht und nicht ernst genommen werden.
Kein Hochschulpakt mehr, keine Exzellenzinitiative,
keine Initiativen für eine verbesserte Lehre - das können
und wollen wir uns nicht vorstellen; aber genau das war
der ursprüngliche Plan im Rahmen der Föderalismusreform. Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die dies in
letzter Sekunde verhindert hat. Das war richtig, und ich
bin heute noch stolz darauf, dass wir das hinbekommen
haben.
({6})
Kooperation ist aber nicht nur in der Wissenschaft nötig, sondern auch und vor allem im Bereich der vorschulischen Bildung und im Bereich der Schule. Hier gibt es
eine ganze Menge ungelöster Probleme.
Ich will nur einen Bereich ansprechen. Wir haben unter Rot-Grün ein Ganztagsschulprogramm durchgesetzt.
Das war übrigens ein richtiges Projekt und kein Modellprojekt wie die, die Herr Weinberg gerade angesprochen
hat. Das hat wirklich etwas gebracht und einiges angeschoben; aber da müssen wir jetzt weitermachen. Wir
müssen mehr Angebote schaffen, wir müssen eine bessere Unterstützung für die Schülerinnen und Schüler organisieren, und wir müssen auch mehr in Personal investieren. Viele Bundesländer können das aber schlicht und
einfach nicht bezahlen. Jetzt kommt noch die Schuldenbremse hinzu. Das macht das Ganze nicht besser. Die
Bundesländer müssen einsparen, und gleichzeitig sollen
sie mehr für Bildung ausgeben. Das geht nicht zusammen. Die Schuldenbremse darf nicht zur Bildungsbremse werden. Darum muss der Bund in die Verantwortung.
({7})
Weil mir leider nicht mehr viel Redezeit bleibt, will
ich zum Abschluss insbesondere an die Adresse der
CDU/CSU ein Zitat richten, um deutlich zu machen,
dass die Bundesregierung hier schon einmal weiter war:
Das Bund-Länder-Verhältnis wird zu einer Lebensfrage, wenn es sich um Zuständigkeit und Verantwortung für das Schul- und Bildungswesen oder um
das weite Gebiet der Forschung handelt. So gewiß
die Bundesregierung bereit ist, die Zuständigkeit
der Länder in der Kulturpolitik zu respektieren, so
gewiß hat doch die Bundesregierung die Pflicht,
vorausblickend die Lebensbedingungen eines modernen Staates zu garantieren … Bund und Länder
müssen zusammenwirken, um eine große, gemeinsame Aufgabe mit Tatkraft anzupacken. Es muß
dem deutschen Volk bewußt sein, daß die Aufgaben
der Bildung und Forschung für unser Geschlecht
den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage
für das 19. Jahrhundert.
Das war Ludwig Erhard: Wohlstand für alle. - Nehmen
Sie sich daran ein Beispiel.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Martin
Neumann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genau am 10. Juni 2011 - ich habe im Kalender nachgeschaut - haben wir uns in diesem Hohen Hause bereits
mit dem Thema „Bildungsföderalismus und Abschaffung des Kooperationsverbotes“ befasst. Wir hatten kurz
zuvor - das hat Kollege Kamp bereits gesagt - ein Positionspapier zu diesem Thema beschlossen, in dem wir
den Willen bekunden, die Zusammenarbeit von Bund
und Ländern zu stärken. Darin sind wir uns mit den
Fraktionen in diesem Hohen Haus einig.
Ich habe aber bereits im letzten Sommer darauf aufmerksam gemacht, dass für das Gelingen dieses Projektes die Länder mit ins Boot geholt werden müssen. Ohne
die entsprechende Mehrheit im Bundesrat brauchen wir
hier im Parlament nichts zu beschließen; denn das würde
aus meiner Sicht die öffentliche Debatte nur verschärfen.
In diesem Kontext habe ich Ihnen empfohlen, den Weg
über die Ministerpräsidenten zu beschreiten und eine Initiative im Bundesrat einzubringen. Der FDP-Kultusminister Dr. Klug aus dem Land Schleswig Holstein
- das will ich an dieser Stelle hervorheben; das ist von
meinem Kollegen auch schon dargestellt worden - ist
hier vorangeschritten.
({0})
Ich muss an dieser Stelle die Kollegen von der SPD konkret fragen: Wo bleiben die Initiativen von SPD und
Grünen in der Länderkammer?
({1})
Stattdessen bekommen wir von Wowereit, Platzeck und
Co. nur warme Worte serviert. Jetzt wärmen Sie Ihren
wenig kreativen Antrag erneut auf.
Es ist heute deutlich gesagt worden: Die Sozialdemokraten haben uns dies im Jahr 2006 unter Mitwirkung
von Kurt Beck, der an dieser Stelle eine große Rolle gespielt hat, eingebrockt. Jetzt wollen sich die Genossen
- so ist der Eindruck - durch eine sogenannte Recyclingschleife in Form dieses Antrages die Hände wieder reinwaschen.
({2})
Ich glaube Ihnen durchaus, Frau Burchardt, dass Sie diesen Fehler bereuen und sich dafür möglicherweise sogar
schämen. Doch was hilft diese Litanei? An seinem Handeln wird man gemessen. Sorgen Sie doch jetzt lieber
dafür - das ist meine Aufforderung -, dass sich Ihre Länderchefs der FDP-Initiative aus Schleswig-Holstein anschließen.
({3})
Opfern Sie nicht wie damals, also 2006, die Bildung in
diesem Land dem billigen politischen Klein-Klein.
Als Wissenschaftspolitiker schmerzen mich die verfassungsmäßig verankerten Einschränkungen ungemein,
gerade weil ich sehe, wie erfolgreich wir da sind, wo
Bund und Länder zusammenwirken. Viele Beispiele,
etwa die Exzellenzinitiative, sind dafür genannt worden,
dass Bund-Länder-Kooperationen tatsächlich funktionieren und im internationalen Wettbewerb - das scheint
mir das Gebot der Stunde zu sein - dringend benötigt
werden. Ich glaube, das zweifelt niemand an.
Ein striktes Kooperationsverbot zwischen Bund und
Ländern für den Hochschulbereich wäre ein Desaster gewesen. Ich frage mich: Was hätten wir erreichen können,
wenn wir diese Lockerung des Kooperationsverbotes
auch im Bereich der Schule hätten ermöglichen können?
Meiner Kenntnis nach ist seit 2006 keine Großinvestition im Schulbereich erfolgreich gewesen. Ich kann Ihnen sagen: Als Hochschullehrer bin ich froh, dass wir im
Wissenschaftsbereich nicht komplett vom Kooperationsverbot betroffen sind. Ich sage an dieser Stelle ganz
deutlich, dass der Bund die Möglichkeit braucht, bei der
institutionellen Finanzierung mitwirken zu dürfen.
Nun zu Ihrem Antrag. Wie schon gesagt: Die Grundrichtung Ihres Antrags stimmt.
({4})
Doch ich möchte an dieser Stelle zwei wesentliche Einwände vorbringen.
Erstens bleibt Ihr Antrag in der Frage, wie eine finanzielle Unterstützung des Bundes im Bildungsbereich
aussehen könnte, extrem unkonkret. Sie stellen - das
mache ich Ihnen zum Vorwurf - den Ländern einen
Blankoscheck aus. Das ist uns viel zu wenig. Das reicht
nicht. In diesem Bereich muss eine gemeinsame Finanzierung von Bund und Ländern gesichert werden. Das
wird in Ihrem Antrag nicht deutlich.
Ihr Vorschlag birgt die Gefahr, dass sich die Länder in
gleichem Maße aus der Finanzierung der Bildungseinrichtungen zurückziehen. Die Beispiele Hamburg, Thüringen und Brandenburg sind genannt worden.
({5})
Für die Bildung ist nichts gewonnen, wenn der Bund
bluten muss und die Länder sich zurückziehen. Als Brandenburger kenne ich den Reflex: Die Bundesmittel für
die Hochschulen werden gerne eingestrichen, dann wird
getrickst, geschüttelt und schöngefärbt, bis der jeweilige
Eigenanteil entsprechend heruntergeschraubt ist. Am
Ende ist die Grundfinanzierung der Hochschulen total
ausgehöhlt.
Mein zweiter Einwand bewegt mich deutlich mehr.
Ich frage mich, warum Sie Ihren Antrag nur im Deutschen Bundestag vorlegen, in dem Sie keine Mehrheit
haben.
({6})
Warum gibt es keine gleichgeartete SPD-Initiative zu der
Grundgesetzänderung im Bundesrat?
Dr. Martin Neumann ({7})
({8})
Ich bin gespannt, wie die A-Länder in der Bundesratssitzung am 10. Februar mit der Initiative aus SchleswigHolstein umgehen werden.
({9})
An diesem Tag kommt es zum Schwur. An diesem Tag
werden wir sehen, wie ernst es die SPD meint.
Ich komme zum Schluss. Ich bin skeptisch, aber ich
lasse mich an dieser Stelle gerne eines Besseren belehren.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Grütters für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Steinmeier, ja, es stimmt: Wir führen häufig Bildungsdebatten; denn wir sind uns in der Tat einig,
dass Bildung das entscheidende Thema unserer gesellschaftlichen Entwicklung ist. Die letzte Debatte - das
hat Herr Neumann richtig gesagt - war am 10. Juni. Übrigens tobte damals gleichzeitig, Frau Hein, eine Straße
weiter eine große Demo gegen die rot-rote Bildungspolitik des Landes Berlin.
Herr Steinmeier, Sie haben aber auch damit recht: Die
Menschen sind nach wie vor unglücklich mit der Situation. Das ist kein Wunder. Richtig ist auch: Aus individueller Sicht ist Bildung die unverzichtbare Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist Bildung der Schlüssel, um den Wohlstand eines Landes zu
erhalten. Gut ausgebildete und kreative Köpfe sind gerade für uns der Rohstoff in einer global immer weiter
zusammenwachsenden Welt. Ich finde auch - Herr
Steinmeier, Sie haben recht -: Die Länder haben nicht
immer noch die gleichen Probleme wie früher; ihre Probleme, die Bildungsaufgaben zuverlässig zu erfüllen,
nehmen vielmehr zu.
Wenn wir also heute aufgrund Ihres Antrags über kooperativen Bildungsföderalismus reden - vielleicht
sollte ich lieber gleich sagen, dass ich den Titel Ihres Antrags anders formuliert hätte, nämlich „Bund-Länder-Finanzierungsfragen“ -, dann sollten wir, finde ich, nicht
nur beiläufig anerkennen, dass viele diese Kooperationen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich wunderbar
funktionieren.
({0})
Die Erfolgsmeldungen der letzten Jahre mit neuen Rekorden bei den Studienanfängerzahlen und der Gesamtstudierendenzahl wären ohne die Kooperationen, die der
Bund mit den Ländern ausdrücklich vereinbart hat Hochschulpakt, Exzellenzinitiative, Spitzencluster und
Qualitätspakt Lehre -, so nicht denkbar gewesen. Ich
finde, das sollten wir nicht nur beiläufig erwähnen. Herr
Gehring, Sie haben recht: Das sind Umgehungsstraßen,
mit denen die Enge mancher föderalen Zuständigkeit
elegant umschifft wird. Aber sie funktionieren.
({1})
- Doch, sie funktionieren ja wohl; sonst hätten wir die
Erfolge nicht.
({2})
Ich bin mir übrigens auch sicher - darin sind wir uns
einig; insofern müssen wir keineswegs um den heißen
Brei herumreden, Frau Burchardt -: Wenn mehr Bildungspolitiker an diesen Verfassungsformulierungen
mitgewirkt hätten, dann wäre meines Erachtens ein etwas anderer Text herausgekommen als der, den die Ministerpräsidenten verfasst haben.
({3})
Frau Kollegin Grütters, entschuldigen Sie die Unterbrechung. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmann?
Ja.
Bitte schön, Herr Rossmann.
Frau Kollegin Grütters, da wir in vielen Punkten übereinstimmen und es positiv ist, dass Sie den Prozessgedanken befürworten, sei daran erinnert, dass wir nach
dem Unglück der Föderalismusreform I das Grundgesetz
bereits ändern mussten, um die große gemeinsame Initiative im Rahmen des Konjunkturpakets für die Bildung
überhaupt erst tragfähig zu machen, wohl wissend, dass
es sich hierbei um eine Krückenkonstruktion handelt.
Ich frage Sie daher: Können wir nicht zusammenkommen, indem wir alles, was gut ist, anerkennen, aber auch
die Tatsache, dass ein Grundgesetz auf Krücken nicht
gut funktioniert und dass stattdessen klare Spielräume
für Vereinbarungen zwischen dem Bund und den souveränen Ländern ausgestaltet werden sollten? Können Sie
uns einen Weg zeigen, wie wir zur Verankerung eines
entsprechenden Grundsatzes im Grundgesetz kommen
können?
Ich stimme Ihnen, Herr Kollege Rossmann, in der Bewertung durchaus zu, obwohl ich wahrscheinlich die
Formulierung „Krücke“ nicht verwendet hätte. Ich gehöre zu denjenigen, die immer offen zugegeben haben,
dass wir allesamt - Länder und Bund - mit der derzeitigen Situation unzufrieden sind. Ich glaube aber, dass ein
Antrag von einer Fraktion im Bundestag, ohne dass sie
vorher versucht, Gemeinsamkeit mit den Ländern herzustellen - Sie regieren in vielen Ländern mit -, natürlich
scheitern muss. Wenn, dann funktioniert es nur - gerade
wenn es um eine Verfassungsänderung geht - zusammen
mit Bund und Ländern. Wir arbeiten daran, aber es ist
schwierig. Ich glaube nur, dass es, wenn nur eine Fraktion - zumal aus der Opposition - einen Antrag einbringt, obwohl wir zuvor so lange auch über das taktische Vorgehen geredet haben, lieber Swen Schulz, nicht
funktionieren kann.
({0})
- Doch! Darf ich weitermachen?
Jedenfalls ist in vielen Bundesländern - momentan ist
Schleswig-Holstein in der Diskussion; über die Motive
möchte ich gar nicht spekulieren - die Bereitschaft zu
mehr föderaler Kooperation gegeben. Angesichts des
Stresses, den Familien - Eltern und Kinder - und Lehrer
mit einer Bildungslandschaft aus 80 Schultypen in 16
Ländern mit 22 Ministern haben, ist es hohe Zeit für eine
neue Kooperationskultur.
Herr Steinmeier, es bleibt die Frage, wie wir das Ziel
erreichen. Mit gemeinsamem Willen und gesundem
Pragmatismus - den legen wir im Wissenschaftsbereich
auch an den Tag - lassen sich die ersten Schritte des Weges gehen. Es soll nicht bei einer Krücke bleiben. Ich bin
aber reichlich verwundert, dass es in Ihrem Antrag heißt,
ein neuer Artikel solle in das Grundgesetz eingefügt
werden, „der auf Grundlage von Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern dauerhafte Finanzhilfen des
Bundes für Bildung ermöglicht, ohne die Bildungshoheit
der Länder einzuschränken“. Um eine Ungleichbehandlung der Länder zu vermeiden, sollen derartige Vereinbarungen von den Ländern auch noch einstimmig beschlossen werden. Das finde ich geradezu verwegen. Als
selbstbewusste Abgeordnete des Deutschen Bundestages
fällt es mir schwer, anzunehmen, dass Sie ernsthaft meinen, der Bundestag solle Gelder geben, ohne über ihre
Verwendung irgendetwas zu sagen.
({1})
- Das steht nicht in Ihrem Antrag. Sie können hier hundertmal Nein sagen. Aber warum haben Sie es nicht in
den Antrag geschrieben?
Ich wundere mich darüber, wo die Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler bleibt. Wie gut oder - besser
gesagt - wie schlecht das Prinzip der Einstimmigkeit
funktioniert, beobachten wir seit Jahren mit fröhlicher
Fassungslosigkeit bei der KMK.
({2})
Ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie den Gestaltungsanspruch des Bundestages komplett außer Acht lassen
können. Beispielsweise wäre es möglich, dass die Länder sagen: „Das Geld nehmen wir gern“, und es dann in
die Pensionskassen tun. - Wir wollen das ausdrücklich
nicht.
({3})
Wir möchten auch nicht, dass es letztlich nur um eine Erhöhung des Länderfinanzausgleichs geht. Dafür brauchten
wir, ehrlich gesagt, keine Verfassungsänderung; denn
das ist auch so möglich. Das sage ich Ihnen, obwohl ich
aus dem armen Land Berlin komme. Es wäre schön,
wenn es in Ihrem Antrag auch um inhaltliche Bildungsfragen gegangen wäre. Aber eine Vernebelung der alten
Länderforderung nach einer stärkeren Beteiligung an
den Umsatzsteuereinnahmen brauchen wir nicht.
({4})
Zu solchen Unterstellungen komme ich, wenn ich Ihren
Antrag lese.
Uns geht es um gemeinsame Standards, eine exzellente Aus- und Weiterbildung sowie die Schaffung von
Verlässlichkeit und Vergleichbarkeit. Wie wir alle wissen, ist es schwierig genug, ein Zentralabitur durchzusetzen, das dazu führen soll, dass Prüfungen in einem Fach
an allen Schulen Deutschlands zur selben Uhrzeit stattfinden.
({5})
- Ja, aber deshalb funktioniert so etwas auch nicht. Dass die eingesetzten Mittel - auch die des Bundes besser und effizienter eingesetzt werden müssen, haben
wir am Bildungspaket gesehen. Wenn das über die Schulen gegangen wäre - dafür hätten wir die Verfassung ändern müssen; damit haben Sie recht -, wäre es viel besser gelaufen.
Ich komme zum Schluss. Darüber, ob es letztlich einer Grundgesetzänderung bedarf oder nicht - ich hätte
mich um eine entsprechende Aussage nicht gedrückt,
Herr Rossmann -, müssen wir mit den Ländern beraten.
Gegen diese geht es nicht, mit knappen Mehrheiten geht
es auch nicht. Vor allen Dingen muss es aber - das finde
ich in Ihrem Antrag falsch - nach bildungs- und nicht
nach finanzpolitischen Erwägungen gehen.
({6})
Im Wissenschaftsbereich gibt es eine viel größere Offenheit, weil wir schon so gut kooperieren. Deshalb
glaube ich: Über systematische Hilfen des Bundes für die
Wissenschaft - Sie haben gesagt, die Politik hinsichtlich
der Charité sei willkürlich; ich glaube, es ist ein Anfang,
um zu einer systematischen Förderung zu kommen könnte man den Ländern finanzielle Freiräume schaffen,
damit sie ihre eigene Schulpolitik besser finanzieren könMonika Grütters
nen. Über solche strukturellen Änderungen gerade in der
Wissenschaft berät der Wissenschaftsrat zurzeit. Warten
wir doch auf seine Empfehlungen. Das jedenfalls wäre
meine Empfehlung.
Vielen Dank.
({7})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Tankred Schipanski von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich als letzter Redner in dieser Debatte die Gefechtslage ordnen und einige Dinge richtigstellen. Insbesondere müssen die pauschalen Behauptungen von der
Opposition einer differenzierten inhaltlichen Betrachtung zugeführt werden; denn Inklusion und Gemeinschaftsschulen, die hier von der Opposition angesprochen wurden, haben mit dem heutigen Thema nichts zu
tun.
({0})
Es geht um Kooperation. Die Meinungsführerschaft
in der Debatte über einen modernen und kooperativen
Föderalismus in der Bildungsrepublik Deutschland hat
die Union. Wir haben auch keinen gesellschaftlichen
Konsens, liebe Frau Burchardt. Sie sollten die Zuhörer
hier nicht blenden. Unsere Ministerin Annette Schavan
hat erstmals im März 2010 einen konkreten Vorschlag
unterbreitet, wie sie sich einen neuen, kooperativen Föderalismus vorstellen könnte. Diesen Impuls haben wir
in Debatten in diesem Hohen Hause im März 2010, im
Dezember 2010 und im Juni 2011 aufgegriffen. Die
Unionsfraktion hat sich in den Jahren 2010 und 2011 intensiv mit der Weiterentwicklung unseres Bildungsföderalismus beschäftigt. Meine Fraktionskollegin Monika
Grütters und die Ministerin haben in jeder Rede und in
jedem Interview von Kooperation gesprochen und das
Wort „Kooperationskultur“ geprägt. Wir haben entsprechende Beschlüsse auf unserem Leipziger Parteitag im
letzten Herbst gefasst.
({1})
Was hat die Opposition gemacht? Die Opposition hat
mit fleißigen Anträgen diese Debatte mit Sicherheit beflügelt, doch haben die Oppositionsparteien ihre Forderungen nie zu Ende gedacht. Herr Schulz, Ihr heutiger
Beitrag, in dem Sie Kooperation gegen Wettbewerb ausspielen und am Ende noch Ludwig Erhard zitieren, zeigt
das ganz besonders. Er zeigt, dass Sie den kooperativen
Föderalismus nicht verstanden haben.
({2})
Die SPD wählte noch im Juni letzten Jahres den Weg
über eine Änderung des Art. 91 b Grundgesetz, heute
probiert sie es mit einem Antrag, mit dem Art. 104 b
Grundgesetz ergänzt werden soll. Wir müssen deutlich
zwischen dem Bildungs- und dem Forschungsbereich
unterscheiden. Unsere Vorschläge für den Bildungsbereich haben Kollege Marcus Weinberg und für den Wissenschaftsbereich Kollegin Monika Grütters sehr gut
dargestellt. Wir werden diese Parteitagsbeschlüsse konsequent umsetzen. Darüber gibt es einen innerparteilichen Konsens, der zwischen Bildung und Wissenschaft
differenziert. Liebe Frau Burchardt, das hat auch der
DFG-Präsident, Herr Kleiner, in seiner Neujahrsansprache nicht kritisiert.
Die Redner der Koalition, insbesondere Michael
Kretschmer, haben aber auch deutlich gemacht, dass wir
den kooperativen Föderalismus gerade nicht auf Finanzströme oder Mehrwertsteuerpunkte reduzieren können.
Das sind primär Fragen des Länderfinanzausgleichs. Das
werden auch die Kollegen aus Schleswig-Holstein aus
dieser Debatte mitnehmen können.
({3})
Kooperation heißt nicht, dass sich die Länder aus der Finanzverantwortung zurückziehen und der Bund einspringt. Kooperation heißt auch nicht, dass schlecht wirtschaftende Bundesländer in frischem Geld des Bundes
baden können.
({4})
Der Forschungsbereich steht in der Wahrnehmung der
Bevölkerung aber nicht im Mittelpunkt. Es ist die zunehmende Zersplitterung der Schulbildung, die in der Bevölkerung und auch bei uns auf Unverständnis stößt. In dieser Frage führt uns der hier vorliegende SPD-Antrag
nicht weiter. Im Bildungsbereich wollen wir fraktionsübergreifend Transparenz, Vergleichbarkeit der Abschlüsse und Bildungsmindeststandards - Minister
Spaenle hat es angesprochen -, und das erwarten die
Leute auch von uns. Daher brauchen wir eine Koordinierung der Bildungszusammenarbeit der Länder. Diese Koordinierung ist der KMK mit ihren gegenwärtigen Instrumenten leider nicht gelungen.
Daher greifen jetzt verschiedene Länderminister Herr Minister Spaenle hat es in verschiedenen Medienberichten dargestellt - einen alten Vorschlag auf, nämlich über einen Staatsvertrag Aufgabentools und Mindeststandards verbindlich zu regeln. Das Mittel des
Staatsvertrags hat bereits im Rundfunkbereich und im
Glücksspielrecht durchaus Erfolg gehabt. Nun kommt es
auf die SPD-Länder an, dass sie diesen Vorschlag unterstützen und mitmachen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ministerpräsidentin des Saarlandes, Frau Annegret KrampKarrenbauer, hat richtig festgestellt: Verantwortung
heißt Kooperation der Länder untereinander und mit
dem Bund. - Das ist zugleich dem Bundesstaatsprinzip
unserer Verfassung zu entnehmen. Das Grundgesetz
selbst mahnt uns zur Kooperation und schließt diese
nicht aus. Gelingt den Ländern die Koordination über einen Staatsvertrag nicht, ist der Bund als Koordinator gefordert, und wir werden dann über weitere Instrumente
zu entscheiden haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind im Ziel
nahe beieinander, aber wir sind über den richtigen Weg
uneins. Der Weg, den uns die SPD heute aufzeigt, ist der
falsche.
({6})
Denken Sie an das Bildungspaket für bedürftige Kinder,
bei dem die Genossen der SPD im Vermittlungsausschuss verhindert haben, dass das Geld direkt an die
Schulen fließen kann.
({7})
Denken Sie an die Weigerung der SPD, das Deutschlandstipendium einzuführen, weil sie sich weigert, Leistung zu fördern. Denken Sie auch an die irrwitzige Idee
der SPD, eine Bildungsabgabe einzuführen, um falsche
SPD-Schulpolitik zu verstetigen und die Bürger noch
stärker zu belasten.
Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Koalition steht für einen modernen Föderalismus, für eine
Kooperationskultur. Wir stehen zum Prinzip von Verantwortung und Bundestreue. Kooperation bedeutet inhaltliche Verbesserung und darf nicht auf Finanzströme oder
Finanzierungsfragen reduziert werden.
Vielen Dank.
({8})
Nun folgt noch eine Kurzintervention des Kollegen
Rossmann von der SPD-Fraktion. - Bitte sehr, Herr
Rossmann.
Herr Schipanski, Sie haben von einer Sensation gesprochen. Das muss jetzt aufgeklärt werden.
Von Ihnen war eben in Bezug auf das Teilhabepaket
zu hören, dass es seitens des Bundes die Möglichkeit gegeben hätte, Gelder vom Bund direkt an die Schulen zu
leiten, um sie stark zu machen und dort Infrastruktur aufzubauen, und dass die SPD dies angeblich verhindert
hätte.
An der Stelle möchte ich nachfragen: Was meinen Sie
eigentlich, wenn Sie sagen, dass zur Stärkung der schulischen Leistungsfähigkeit im Rahmen des Teilhabepakets
Geld direkt von Bund und Ländern gemeinsam an die
Schulen hätte gegeben werden können und dass wir dies
verhindert hätten? Tatsache ist vielmehr: Dass es uns in
einer Schlussrunde gemeinsam gelungen ist, für Schulsozialarbeit zusätzliches Geld zu mobilisieren, freut uns
alle. Das ist auch nicht verhindert worden, weil es uns ja,
wie gerade gesagt, gemeinsam gelungen ist.
Umso verwirrter sind wir über Ihre Einlassungen.
Was meinten Sie eigentlich, und wie erklären Sie Ihre
Aussage, dass es angeblich die SPD verhindert hätte,
dass der Bund jenseits des Grundgesetzes direkt Unterstützung an die Schulen gegeben hätte? Das hätten wir
uns sicherlich alle gewünscht. Frau von der Leyen hat es
sich gewünscht, Frau Schavan hat es sich gewünscht,
alle Wohlmeinenden, die starke Schulen in Deutschland
wollten, haben es sich gewünscht. Nur, es ging leider
nicht, weil es eben das Kooperationsverbot gab und weil
wir mit einer Grundgesetzänderung, die diesen Spielraum für alle Vernünftigen hätte eröffnen können, noch
nicht so weit waren. - Deshalb: Erklären Sie es uns noch
einmal.
Herr Kollege Schipanski zur Erwiderung.
Herr Kollege Rossmann, nun sind Sie heute auch
noch zu einem Debattenbeitrag gekommen. Aber ich
will Ihnen das gerne beantworten.
In der Tat war es unser Plan, die Gelder über die Jobcenter zu verteilen und sie dann gegebenenfalls an die
Schulen zu geben. Das hat die SPD im Vermittlungsausschuss nicht mitgetragen.
({0})
Heute können Sie sich anschauen, wie die Kommunen
darauf reagieren. Wir mussten den Umweg über die
Kommunen nehmen, die das Geld auskehren. Für die
Kommunen ist es nicht einfach, dies alles zu organisieren.
({1})
Der ursprüngliche Vorschlag unserer Koalition, um
dieses Bildungs- und Teilhabepaket auszukehren, wäre
wesentlich effektiver gewesen als das, was am Ende im
Vermittlungsausschuss wegen Blockade der SPD herausgekommen ist.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8455 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vor-
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Die Fraktionen haben sich über Änderungen im Ab-
lauf der heutigen Tagesordnung verständigt. Der Tages-
ordnungspunkt 28 c und f soll von der heutigen Tages-
ordnung abgesetzt werden. Außerdem sollen die
Tagesordnungspunkte 11 und 14 getauscht werden. Gibt
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Das ist dann so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a, b, d, e, g so-
wie h auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 17/8364 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Energieverbrauchskennzeichnungsrechts
- Drucksache 17/8427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen Sicherung der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträgen
- Drucksache 17/8459 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die Energiewende braucht Energieeffizienz
- Drucksache 17/8457 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gem. § 56 a GO-BT
Technikfolgenabschätzung ({5})
Fortpflanzungsmedizin - Rahmenbedingungen, wissenschaftlich-technische Entwicklungen und Folgen
- Drucksache 17/3759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({7}) gem. § 56 a GO-BT
Technikfolgenabschätzung ({8})
Pharmakologische Interventionen zur Leistungssteigerung als gesellschaftliche Herausforderung
- Drucksache 17/7915 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({9})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a bis j auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 29 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/8350 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({10})
- Drucksache 17/8483 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Halina Wawzyniak
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8483, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8350 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung ansonsten einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? 18520
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln, des Gesetzes über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen sowie des
Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/8234 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({11})
- Drucksache 17/8468 Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Bögel
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8468, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8234
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung
der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 c:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Erfahrungsbericht zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz unverzüglich vorlegen
- Drucksache 17/8458 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkt 29 d bis j.
Tagesordnungspunkt 29 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 374 zu Petitionen
- Drucksache 17/8365 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 374 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 375 zu Petitionen
- Drucksache 17/8366 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 375 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen
die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 376 zu Petitionen
- Drucksache 17/8367 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 376 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 377 zu Petitionen
- Drucksache 17/8368 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 377 ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 378 zu Petitionen
- Drucksache 17/8369 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 378 ist bei Gegenstimmen
der SPD-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 379 zu Petitionen
- Drucksache 17/8370 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 379 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.
Tagesordnungspunkt 29 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 380 zu Petitionen
- Drucksache 17/8371 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 380 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Jetzt rufe ich Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Zweifelhafte Überwachung von 27 MdB der
Fraktion DIE LINKE durch den Verfassungsschutz
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jan Korte für die antragstellende Fraktion Die Linke das Wort.
({19})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin 1977 in Osnabrück, Niedersachsen,
geboren worden, und beim Fall der Mauer war ich zwölf
Jahre alt. Niemals hätte ich mir erträumt, vom Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland beobachtet
und überwacht zu werden.
({0})
Dass Akten über mich und meine Freunde einmal gesammelt werden würden, das wäre für mich schier unglaublich gewesen, und ist es heute erst recht.
({1})
2009 wurden ich und viele andere der Linken in Sachsen-Anhalt - das liegt bekanntermaßen in Ostdeutschland - direkt in den Deutschen Bundestag gewählt. Jetzt
fragen sich die Wählerinnen und Wähler zu Recht, ob sie
eigentlich noch unbefangen und vertraulich mit ihren
Abgeordneten reden können. Damit zerstören Sie Vertrauen in die Politik vor Ort. Das ist wirklich bodenlos.
({2})
Das Kernproblem, um das es aber eigentlich geht, ist
die Tatsache - denken Sie doch einmal darüber nach -,
dass ein Geheimdienst parteipolitisch benutzt wird, um
eine Oppositionsfraktion zu beobachten. Das ist schlicht
antidemokratisch.
({3})
Die Linke setzt auf die Kraft der Argumente gegen
Krieg, Sozialabbau und einen völlig enthemmten Finanzkapitalismus. Das ist durch und durch demokratisch
und angemessen in diesen Zeiten.
({4})
Ich will zwei Anmerkungen machen. Die erste richtet
sich an den Vorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel; vielleicht schaut er gerade zu. Wenn Sie ausgerechnet in dieser Woche und angesichts dieser Situation Rot-Rot mit
großem Tamtam ausschließen, dann bedeutet das nicht
nur, dass Sie auf einen Politikwechsel verzichten, weil
Sie weiter bis in alle Ewigkeit als Juniorpartner mit der
CDU koalieren.
({5})
Es bedeutet auch, dass Sie sich damit leider zum Werkzeug des Verfassungsschutzes und der CSU machen.
({6})
Die zweite Anmerkung richtet sich an die CSU, weil
Sie bei dieser Debatte besonders engagiert und geifernd
auftreten. Ausgerechnet von der CSU, die in der Vergangenheit durch ihre Kumpanei mit dem Pinochet-Regime
in Chile und dem südafrikanischen Apartheidregime aufgefallen ist, brauchen wir keine Nachhilfe!
({7})
Sie sollten bei diesem Thema in Demut schweigen.
({8})
Ich fasse zusammen: Erstens. Die Überwachung der
Opposition - gleich welcher Opposition - durch einen
Geheimdienst verstößt gegen die Grundidee des demokratischen Rechtsstaates und verhindert Chancengleichheit im politischen Wettbewerb.
({9})
Zweitens. Nicht Gesetze der Linken, sondern vor allem Ihre Gesetze wurden in den letzten Jahren mehrfach
vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig
beanstandet. Die Linke hat keinem einzigen dieser Gesetze zugestimmt.
({10})
Ich weiß nicht, inwieweit es bei Ihnen angekommen
ist: Seit 1990 gibt es die DDR nicht mehr. Das ist für Ihr
Weltbild, das nur aus Schwarz-Weiß besteht, offenbar
ein Problem. Der Kalte Krieg ist dementsprechend seit
über 20 Jahren vorbei. Ihre Kalte-Krieg-Rhetorik, die
Sie an den Tag legen, ist ohne eine historische Grundlage, und sie ist intellektuell erbärmlich. Auch das muss
hier gesagt werden.
({11})
Der Antikommunismus war in der Tat schon immer
die Grundtorheit unserer Epoche, wie es Thomas Mann
zu Recht gesagt hat. Aber unter Adenauer war es zumindest noch rhetorisch unterhaltsam. Auch davon ist
bei Ihnen nichts übrig geblieben. Es ist intellektuell
schlecht, und es ist rhetorisch schlecht.
({12})
Zum Schluss. Die Linke, ihre Wählerinnen und Wähler, ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten werden
sich nicht einschüchtern lassen durch Ihre politische Geheimdienstbehörde, die Sie gegen uns in Stellung gebracht haben. Wir werden uns - um das klar zu sagen auch nicht auseinanderdividieren lassen. Keiner der 27
gehört auf eine solche Liste - kein Einziger.
({13})
Wir werden die Demokratie und den Sozialstaat weiter verteidigen,
({14})
den Sie - das sage ich Ihnen auch - abreißen und beschädigen. Das werden wir weiterhin tun. Wir werden
im Übrigen weiter unbeirrbar für eine Gesellschaft der
Freien und Gleichen, für die Idee des demokratischen
Sozialismus eintreten. Da können Sie ganz sicher sein.
({15})
In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen mitteilen,
dass Frau Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger,
die zu diesem Thema sprechen wollte, zu ihrem eigenen
Bedauern wegen Verzögerungen im Flugverkehr nicht
rechtzeitig hier sein kann. Dies wurde mir eben mitgeteilt.
Das Wort hat jetzt der Bundesinnenminister Dr. HansPeter Friedrich.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Debatte, die in den letzten Tagen geführt
wurde, überrascht. Sie überrascht deswegen, weil der
Sachverhalt, der dieser Debatte zugrunde liegt, bereits
seit vielen Jahren existiert. Seit 1995 wird die PDS und
ihre Nachfolgepartei Die Linke vom Bundesverfassungsschutz beobachtet. Seit vielen Jahren ist auch bekannt, dass unter den Beobachteten Abgeordnete sind.
Einige Abgeordnete haben versucht, gerichtlich dagegen
vorzugehen. Sie haben aber vor Gericht Niederlagen erlitten. Zuletzt gab es eine sehr breit diskutierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010.
Die Rechtsgrundlage für die Arbeit des Bundesverfassungsschutzes hat dieses Hohe Haus in Form eines
Gesetzes verabschiedet. Dieses Gesetz gibt dem Verfassungsschutz den Auftrag,
({0})
Informationen über Bestrebungen gegen die freiheitlichdemokratische Grundordnung in diesem Lande zu sammeln und auszuwerten. Das tut der Verfassungsschutz.
({1})
Auftrag dieses Nachrichtendienstes ist es auch, die
Bevölkerung und die Wählerinnen und Wähler darüber
zu informieren, was sich in extremistischen Parteien und
Organisationen tut. Er soll das transparent machen, was
gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet ist. Ich mache, ebenso wie meine Vorgänger, von
dem Recht und der Möglichkeit Gebrauch, den Verfassungsschutzbericht der Öffentlichkeit vorzustellen, in
dem alles genau nachgelesen werden kann.
({2})
Es ist auch dringend notwendig, dass man diese Transparenz in einer Demokratie herstellt.
({3})
Was ist die Voraussetzung für die Beobachtung durch
den Verfassungsschutz? Voraussetzung ist, dass es Anhaltspunkte gibt, dass eine Organisation gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgeht.
Ich darf Ihnen - Herr Präsident, wenn Sie gestatten aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster
vom 13. Februar 2009, 16. Senat, zitieren:
Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass DIE
LINKE jedenfalls in Bezug auf bedeutende Kräfte
in der Partei darauf gerichtet ist, zentrale Verfassungswerte wie die im Grundgesetz konkretisierten
Menschenrechte, das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung sowie das Recht
auf allgemeine und gleiche Wahlen zu beseitigen
oder außer Kraft zu setzen.
({4})
Weiterhin kommt das OVG Münster bei seiner Entscheidung zu dem Schluss, dass deshalb eine weitere Aufklärung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz erforderlich erscheine.
({5})
Ich will das ein bisschen näher erläutern. Erstens: Es
gibt Anhaltspunkte - in vielen Broschüren, programmatischen Aussagen der Linken lässt sich das nachlesen -,
dass es der Linken, jedenfalls Teilen davon, um die Errichtung der Diktatur des Proletariats marxistisch-leninistischer Prägung
({6})
und um die Errichtung eines kommunistischen Systems
geht, das sichtbar und erkennbar mit unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung nicht in Einklang zu
bringen ist.
({7})
Zweitens: Weiten Teilen dieser Partei fehlt eine klare
Abgrenzung zur Gewalt.
({8})
Ich darf Frau Sahra Wagenknecht - zu entnehmen den
Verfassungsschutzinformationen Bayern, erstes Halbjahr
2009 - zitieren:
Eine vielfältige Protestkultur gegen Neoliberalismus und Kapitalismus finde ich sehr unterstützenswert.
({9})
Dazu gehören für mich natürlich auch linke autonome Gruppen.
Meine Damen und Herren, ich werde als Innenminister sehr emotional, wenn ich höre, dass Frau
Wagenknecht linke autonome Gruppen unterstützenswert findet, und wenn ich zugleich die Bilder vor Augen
habe, die zeigen, wie diese Chaoten auf Polizisten einprügeln, bei friedlichen Demonstrationen die Leute aufhetzen und aggressiv Stimmung machen.
({10})
Das ist unerträglich und zeigt, dass sich die Linke in Teilen nicht von der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung verabschiedet hat.
({11})
Drittens: Das ist leider ein Punkt von außenpolitischer
Tragweite. Es gibt starke Verbindungen zwischen Teilen
der Linken und verbotenen ausländischen Guerilla-Organisationen und der PKK.
({12})
Die PKK ist in Deutschland seit längerer Zeit verboten.
Auf europäischer Ebene bezeichnen es die Funktionäre
der PKK als ein wichtiges Ziel, dass Abgeordnete der
Linken in Deutschland in die Parlamente gewählt werden. Ich fordere Sie auf, diese Verbindungen zur PKK
endlich zu beenden, auch im Interesse einer guten Zusammenarbeit mit der Türkei.
({13})
Viertens: Unzureichend ist die Distanzierung von Unrechtsstaaten: die nach wie vor mangelhafte Distanzierung vom Unrechtsstaat DDR
({14})
oder die mangelhafte Distanzierung vom Unrechtsstaat
Kuba.
({15})
Da werden Jubelbriefe und Liebesbriefe geschrieben an
Diktatoren und Personen, die Menschenrechte verletzen.
Auch das ist unerträglich.
({16})
Fünftens - das ist für mich der zentrale Punkt -: Es
gibt offen linksextremistische Zusammenschlüsse innerhalb der Partei der Linken. Ich will hier vor allen Dingen
das Marxistische Forum und die Kommunistische Plattform nennen. Die entscheidende Frage ist: Welches Gewicht haben diese linksextremistischen Organisationen
innerhalb der Partei? Zur Beantwortung dieser Frage ist
es notwendig, dass man sich die Funktionsträger der Partei an höchster Stelle genau anschaut und vor allem darauf achtet, wie sie sich gegenüber diesen linksextremistischen Organisationen verhalten und einlassen.
({17})
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns auch die Aussagen der hohen Funktionsträger der Linken genau anschauen. In dem Zusammenhang darf ich den Kollegen
Ramelow zitieren, der zu den Themen Kommunistische
Plattform und Marxistisches Forum: am 23. Juli 2010 in
der Jungen Welt gesagt hat:
Die Kommunistische Plattform ist Teil unserer Partei, ebenso das Marxistische Forum; und ich werde
mich nicht zu einer öffentlichen Distanzierung nötigen lassen.
({18})
Das ist ein klares Bekenntnis eines hohen, damals wichtigen Funktionsträgers der Linken.
({19})
Ich zitiere weiter. Der damalige Bundesgeschäftsführer der Linken, Dietmar Bartsch, hat am 20. Juni 2009
gesagt:
Es ist sogar wichtig, dass wir die Kommunistische
Plattform und die Antikapitalistische Linke in der
Partei haben.
({20})
Solche Zitate sind deswegen wichtig, weil wir durch
sie erkennen können - auch am Beifall der Abgeordneten, die jetzt hier sitzen -, welches Gewicht diese linksextremistischen Chaoten in der Partei haben.
({21})
Aus diesem Grund ist es dringend notwendig, dass man
sich die Reaktionen der Parteispitze anschaut.
({22})
Nun ist es natürlich so, dass sich bei Abgeordneten
die Frage nach dem Abgeordnetenstatus in besonderer
Weise stellt. Das freie Mandat, meine Damen und Herren, wird durch den Bundesverfassungsschutz in keiner
Weise tangiert. Der Kernbereich der Abgeordnetentätigkeit wird selbstverständlich geschützt.
({23})
Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit - das
ist eine beachtliche Grenze - darf der Verfassungsschutz,
aufgrund der Anweisung von einem meiner Vorgänger,
die ich ausdrücklich bekräftigt habe, nur Material aus offen zugänglichen Quellen sammeln
({24})
und entsprechend auswerten.
({25})
Die Beschränkung der Beobachtung auf Führungspersonen der Partei, aus den zuvor genannten Gründen, und
auf diejenigen, die Mitglieder von extremistischen Teilorganisationen der Partei sind, halte ich für notwendig.
Ich habe bereits gestern vor einer Woche angeordnet
- gestern habe ich es mitgeteilt -, dass die Liste der Abgeordneten, die beobachtet werden - der Verfassungsschutz hat sie jetzt zusammengestellt -, unter diesen Aspekten genau überprüft wird.
Fest steht in jedem Fall, dass sich diese Demokratie,
dieser Staat gegen seine Feinde wehren muss und ein
Frühwarnsystem in Form des Verfassungsschutzes dringend notwendig ist.
({26})
Dass dieses Frühwarnsystem in der Zukunft richtig funktioniert, dass es stark ist und dem demokratischen Staat
dienen kann, dafür werde ich sorgen.
({27})
Ich danke Ihnen.
({28})
Das Wort hat nun Michael Hartmann für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Soweit das möglich ist, würde ich uns allen gemeinsam raten, mit etwas weniger Aufgeregtheit und Echauffiertheit an dieses Thema heranzugehen und mit der
ganzen Sache etwas deeskalierend umzugehen. Denn
ohne Frage: Die Verfolgten und Verfemten sitzen hier eigentlich putzmunter; ihnen geht es gut, sie sind selbstbewusst, und ich habe nicht den Eindruck, dass sie durch
geheimdienstliche Maßnahmen in ihrem freien Wort
oder bei ihren lauten Zwischenrufen behindert werden.
({0})
Zum anderen sage ich aber - ich weiß, dass es schwer
ist, eine mittlere Tonlage zu finden -: Das wichtigste
Gut, das wir hier gemeinsam zu wahren haben, ist die
Freiheit des Mandates, wie es in Art. 38 GG konstituiert
ist, ganz egal, welche Ansichten jemand vertritt. Deshalb
muss es möglich sein, dass Abgeordnete frei sind in ihren Äußerungen, in ihrem Agieren gegenüber Interessengruppen, gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die
Schutz suchen und zu ihnen kommen, auch bei Kontakten zu Organisationen und Personen, die man vielleicht
nicht besonders mag. Wenn dieser Spannungsbogen
nicht ganz falsch beschrieben ist, dann gilt ganz klar
- das sollte dieses Haus einen, wie es alle Parlamente einen sollte -: Wir kontrollieren die Exekutive und nicht
diese uns.
({1})
Deshalb sage ich:
Erstens. Es ist gut, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, dass jene Liste, die jetzt bekannt geworden ist,
die, um es offen zu sagen, nicht frei von Peinlichkeiten
ist, noch einmal genau angeschaut und hoffentlich auch
erheblich verändert wird.
Zweitens. Es kann nicht angehen, dass Abgeordnete,
die frei gewählt sind, mithilfe verdeckter Maßnahmen
beobachtet werden. Ich bin froh, dass unser Bundesamt
für Verfassungsschutz das nicht getan hat.
({2})
Ich fordere die Vertreterinnen und Vertreter der Landesverfassungsschutzämter ebenfalls dazu auf, eine solche
Praxis zu unterlassen. Sie ist nach meiner festen Überzeugung grundgesetzwidrig.
({3})
Drittens. Es geht gar nicht, dass aus der Mitte des Parlaments - nicht von den Fraktionen - entsandte Abgeordnete, die im Vertrauensgremium, das über die Haushalte der geheimen Nachrichtendienste berät, oder im
Parlamentarischen Kontrollgremium sitzen, vom Verfassungsschutz oder einer anderen nachrichtendienstlichen
Behörde auch nur beobachtet werden; die sind sakrosankt.
({4})
Mein nächster Punkt. Bei der Liste ist mit Sicherheit
nicht überall die Verhältnismäßigkeit gewahrt worden.
Deshalb muss man sich das noch einmal ganz genau anschauen. Man darf eine alte Praxis nicht einfach fortsetzen. Ich sage aber auch: Es ist nicht so, dass der Verfassungsschutz, weil das Mandat frei ist und auch frei sein
soll, gar nichts mehr tun darf. Das will ich nicht. Wenn ich
beispielsweise in verschiedene Bundesländer des Ostens
gucke und mir anhöre, was ein Herr Apfel sagt, und festMichael Hartmann ({5})
stelle, welche Verbindungen es zu Kameradschaften und
sonst wohin gibt,
({6})
dann will ich, dass der Staat wehrhaft ist und denen auf
die Finger guckt.
({7})
Ich sage: Was bei den einen recht ist, muss auch bei den
anderen billig sein,
({8})
ohne - um nicht missverstanden zu werden - eine Linie
zu ziehen.
Bei aller verständlichen Aufgeregtheit, die teilweise
auch eine Pseudoaufgeregtheit ist, liebe Freundinnen
und Freunde von den Linken: Klar ist: Man kann auch
daran arbeiten, dass die Neugier und das unberechtigte
Beobachten vielleicht etwas reduziert werden.
({9})
Es regt einen schon auf - das sage ich als Sozialdemokrat -, wenn ein Abgeordneter der Linken, der leider
auch einmal unserer Partei angehört hat, bei der Wahl
zum Bundespräsidenten in die Kameras sagt, für ihn sei
das eine Entscheidung wie zwischen Hitler und Stalin.
({10})
Das ist empörend und unanständig, es ist aber nicht
grundgesetzwidrig.
({11})
Ich möchte uns allen raten, Herr Minister, dass wir
noch einmal genau festlegen, welche Kriterien angemessen sind und welche nicht, dass wir Menschen, die nichts
anderes sein wollen als freigewählte, gute und engagierte Abgeordnete, nicht einfach unter Beobachtung
stellen, sondern politisch mit ihnen streiten. Ich rate uns
allen aber auch, unser Bundesamt für Verfassungsschutz
nicht pauschal und per se zu verunglimpfen.
({12})
Die Mitarbeiter setzen einen gesetzlichen Auftrag um.
Jede Gleichsetzung ist mindestens unangemessen und
auch geschmacklos.
({13})
Ich kenne dort viele Mitarbeiter, die engagiert, überzeugt
und empört gegen Nazis kämpfen. Sagen Sie bitte nicht,
dass die blöd oder unfähig seien.
({14})
Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Art. 38 Grundgesetz schützt den freien Abgeordneten. Wir, die wir hier als Abgeordnete reden, sollten diesen Schutz sehr ernst nehmen. Der Schutz eines jeden
freien Abgeordneten bei seiner Mandatsausübung ist ein
sehr hohes und in unserer Geschichte leider oft genug
missachtetes Gut.
Meine Damen und Herren von der Linken, ich habe
aber nicht den Eindruck, dass Sie, so selbstbewusst und
so zahlreich, wie Sie hier sitzen, in irgendeiner Form darunter leiden, dass Ihr freies Mandat eingeschränkt wird.
Ich glaube, Sie üben es sehr aktiv aus. Die Einschränkungen, bei denen wir in der Tat sehr wachsam sein
müssen, betreffen Sie nicht wirklich.
({0})
Man kann nun die Frage stellen, ob es überhaupt
möglich sein soll, Abgeordnete zu beobachten. Diese
Frage haben mehrere Gerichte klar beantwortet. Sie haben gesagt: Ja, wenn Anhaltspunkte bestehen, dann ist es
zulässig, auch frei gewählte Abgeordnete zu beobachten.
Ich sage ausdrücklich: Ich halte diese Rechtsauffassung
verfassungsrechtlich für richtig. Insofern tun wir hier etwas, was mit unserer Rechtsordnung und mit Art. 38
Grundgesetz im Einklang steht. Es ist nicht, wie Sie hier
insinuieren wollen, etwas in irgendeiner Form Verfassungswidriges.
({1})
Mir scheint fast, Sie sind froh, dass Sie ein Thema gefunden haben, hinter dem Sie sich einig versammeln
können. Ihre Empörung lenkt ab von allen Differenzen,
die sich in Flügelkämpfen zwischen Realos Ost und
West zeigen; denn da gilt die Empörung bei allen gleichsam. Insofern scheint mir das von Ihnen hochgezogene
Thema etwas künstlich.
({2})
Herr Friedrich hat ausdrücklich recht, wenn er sagt:
Sie haben es selbst in der Hand. - Ich komme aus der
Kommunalpolitik. Ich habe 20 Jahre kommunalpolitische Erfahrung. Als die Linken dort aufgetreten sind,
war ich nicht erfreut. Aber ich war auch nicht so geschockt.
Als ich in den Bundestag eingezogen bin, habe ich
immer wieder Erfahrungen gemacht, bei denen mir der
Mund offen stehen geblieben ist. Ich konnte einfach
nicht glauben, dass am Tag der Befreiung von Auschwitz einige Abgeordnete bei Ihnen nicht aufstehen, dass
Sie Gewalt in Berlin hier in dem einen oder anderen Fall
durchaus unterstützen. Insofern haben Sie es selbst in
der Hand. Wenn Sie Ihr Verhältnis zu Gewalt und Demokratie glasklar klären, beobachtet Sie nie mehr jemand.
Aber da Sie es nicht geklärt haben, muss diese Beobachtung in Teilen fortgesetzt werden.
({3})
Übrigens haben diese Auffassung auch alle Regierungen unter Rot-Grün, unter Schwarz-Rot und jetzt unter
Schwarz-Gelb geteilt. Ich kenne auch keine Initiative der
Grünen, die beispielsweise an der entsprechenden Gesetzgebung auch nur irgendeinen Deut hat ändern wollen.
({4})
Insofern scheint es einen doch breiten demokratischen Konsens zwischen den Fraktionen dieses Hauses
zu geben, dass eher Sie da Ihre Positionen überdenken,
als dass wir Gesetze überdenken müssen.
({5})
Ich habe große Achtung vor Menschen, die eine Vergangenheit in der DDR haben und die diese Vergangenheit aktiv aufarbeiten wollen, die sich ihrer Vergangenheit stellen. Insofern habe ich auch große Achtung vor
einzelnen Ihrer Abgeordneten, die diesen Prozess aus
meiner Sicht sehr verantwortungsbewusst und durchaus
mit einem kritischen Blick auf die Vergangenheit angehen.
Leider scheint es aber so zu sein, dass diese Abgeordneten bei Ihnen zunehmend ins Hintertreffen und in die
Minderheit geraten. Leider ist bei dem Prozess zwischen
etwas merkwürdigen Westdeutschen und teilweise vernünftigen Ostdeutschen zu erkennen, dass dabei eher die
radikaleren Kräfte die Oberhand gewinnen. Auch das
spricht für eine weitere Beobachtung durch den Verfassungsschutz.
({6})
Anstatt sich über andere zu beschweren, haben Sie es
also selbst in der Hand, mit klaren Bekenntnissen gegen
Antisemitismus, mit unterlassenen Solidaritätserklärungen zu Fragen der iranischen oder syrischen Politik, bei
Themen, die ein glasklares Verhältnis zur Gewalt zum
Ausdruck bringen, sich dieser Beobachtung dauerhaft zu
entziehen. Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie diese Chance!
({7})
Ein letzter Punkt, der mir wichtig ist: Ich glaube, die
Liste muss in der Tat überarbeitet werden.
({8})
Mir scheint es, dass nicht jeder, der dort draufsteht, zu
Recht dort draufsteht. Gerade die Abgeordneten, mit denen ich zusammenarbeite - Frau Pau, Frau Wawzyniak
oder andere -, finde ich, gehören auf diese Liste nicht
drauf. Die FDP fordert eine Einzelfallprüfung. Die zuständigen Gremien sollten sich eine Meinung darüber
bilden. Dann sollten nur noch die beobachtet werden, die
auch tatsächlich zu beobachten sind.
({9})
Über allem steht die Freiheit des Mandats. Dafür werden wir immer kämpfen.
({10})
Dafür werden Sie uns immer an Ihrer Seite haben. Bei
der Mandatsausübung muss jeder frei sein. Aber er darf
diese Freiheit nicht dazu nutzen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung subkutan zu bekämpfen. Da
werden wir Sie immer stellen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Parlament muss die Geheimdienste überwachen, nicht umgekehrt.
({0})
So dilettantisch, wie der Verfassungsschutz nach rechts
gearbeitet hat - das werden wir nachher diskutieren -, so
irrational verhält er sich bei der Bekämpfung eines angeblichen linken Extremismus bei der Linkspartei. Das einzige Argument, das Sie in dieser gesellschaftlichen Debatte geäußert haben, Herr Friedrich, was für die
Beobachtung spricht, ist: Was wir rechts gegen die NPD
tun - das haben Sie hier gerade gesagt -, das müssen wir
bei der Linken auch tun. Ja, glauben Sie denn im Ernst,
diese Fraktion, diese Partei sei eine Gefahr für die Demokratie und darauf ausgerichtet, die parlamentarische Demokratie abzuschaffen? Das ist doch Stuss.
({1})
Ich bin wirklich keiner, der eine Auseinandersetzung
mit bestimmten Positionen in der Linksfraktion scheut.
Diese Auseinandersetzung müssen Sie führen; die müssen wir auch intern führen. Da werden zum Teil absurde
Positionen vertreten, antisemitische Positionen, zum Teil
auch ein kruder Retroantiimperialismus. Darüber muss
man reden, aber das ist keine Gefahr für die freiheitlichdemokratische Grundordnung im Sinne des Gesetzes,
und das ist kein Fall für den Verfassungsschutz.
Volker Beck ({2})
({3})
Wenn man sich diese Berichte anschaut, denkt man:
Da sitzen sieben hochbezahlte Leute im Bundesamt für
Verfassungsschutz und erstellen jedes Jahr per „Copy
and paste“ ein Update des Kapitels über die Linkspartei.
Informativ ist das, was ich da gefunden habe, nicht. Ich
weiß viel mehr über die. Dazu brauche ich keine Zettelsammelstelle im Bundesamt für Verfassungsschutz.
({4})
Herr Friedrich, Sie haben vorhin schlichtweg die Unwahrheit gesagt, als Sie gesagt haben, Sie müssten die
Personen, die besonders gefährliche, besonders extreme
und besonders krude Positionen vertreten, beobachten.
Wenn man sich die Liste ansieht, stellt man fest, dass das
mit zwei Ausnahmen das Who’s who des Reformerflügels ist. Auf der Liste steht ein Bartsch, von dem die
Kollegin Hänsel sagt, er solle lieber zur FDP gehen, weil
er so zentristisch argumentiert. Auf der Liste steht auch
eine Petra Pau, unsere Vizepräsidentin, die wir mit der
Mehrheit dieses Hauses gewählt haben, die an staatstragendem Charakter von kaum einem hier im Haus übertroffen wird.
({5})
Was macht die auf der Beobachtungsliste des Verfassungsschutzes? Das ist doch wirklich absurd.
Dass der Verfassungsschutz sich erdreistet - ich habe
gehört, dass in dieser Akte gar nichts wirklich Wichtiges
steht -, ein Mitglied des Vertrauensgremiums zu beobachten, das die Aufgabe hat, die Geheimdienste in
haushalterischer Hinsicht zu beobachten, das verkehrt
die Dinge wirklich ins Gegenteil. Da versucht der Geheimdienst, seine eigenen Kontrolleure zu beobachten.
Das tangiert die Integrität der parlamentarischen Demokratie.
({6})
Diese Maßnahmen sind willkürlich und ungerechtfertigt. Mit der Linkspartei muss man sich politisch auseinandersetzen. Die Beobachtung und Überwachung
durch den Geheimdienst können Sie getrost einstellen.
Das sollten Sie unverzüglich tun.
({7})
Diese Diskussion hat aber auch einen wichtigen parlamentsrechtlichen Kern, und der geht nicht nur die Mitglieder der Linkspartei und der Linksfraktion an. Man
kann nicht ausschließen - da bin ich ganz bei Ihnen,
Herr Hartmann -, dass es Situationen gibt, in denen ein
einzelner Abgeordneter vom Geheimdienst überwacht
wird, zum Beispiel dann, wenn er für einen feindlichen
Geheimdienst arbeitet.
({8})
Das hatten wir schon in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Da müssen wir uns natürlich wehren,
um gegebenenfalls eingreifen zu können. Das ist richtig.
Bei jedem Immunitätsfall, wenn Kollegen mit ihrem
Auto mal einen Spiegel eines anderen Autos abfahren
und vergessen, ihre Karte zu hinterlassen und die Polizei
anzurufen, muss der Staatsanwalt zum Präsidenten kommen und sagen: „Ich beantrage die Aufhebung der
Immunität“, um überhaupt mit strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen beginnen zu dürfen. Aber wenn Abgeordnete überwacht und beobachtet werden, erfahren wir
das akzessorisch, vielleicht im PKGr. Dann darf es aber
keiner sagen, und das Hohe Haus erfährt davon nichts.
Ich meine: Wir brauchen analog zum Immunitätsrecht
ein Verfahren, in dem Maßnahmen der Geheimdienste
gegen frei gewählte Abgeordnete des deutschen Volkes
genehmigt werden müssen, vom Präsidium oder vom
Immunitätsausschuss - das ist mir gleich; da kann man
sich verschiedene Konstruktionen vorstellen. Aber:
Ohne Genehmigung des Deutschen Bundestages darf
kein frei gewählter Abgeordneter, aus welcher Partei
oder welcher Fraktion auch immer, vom Geheimdienst
beobachtet werden.
({9})
Das werden wir vorschlagen. Das ist eine Frage der Freiheit des Mandats. Es darf nicht sein, dass die Exekutive
das Parlament kontrolliert, dass sich die Exekutive ein
Parlament hält und die Opposition beobachten kann. Damit muss endgültig Schluss sein. Dafür werden wir
kämpfen. Dabei geht es nicht um die Linke, sondern es
geht um die Freiheit des Deutschen Bundestages.
({10})
Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Beck, das war ein ganz merkwürdiger
Auftritt:
({0})
der Kämpfer für die Freiheit des Abgeordneten.
({1})
Ich bin seit 1998 im Deutschen Bundestag und dort
im Innenausschuss. Seit 1995 findet jedes Jahr im Innenausschuss der Bericht des Präsidenten des Bundesamts
für Verfassungsschutz statt. Manche hören nicht zu. Es
ist auch manchmal langweilig; das gebe ich zu. Jedes
Jahr wird dort vom Präsidenten des Verfassungsschutzes
über die Beobachtung der Linken und über das, was dabei festgestellt wurde, berichtet.
({2})
Wie Sie hier Beobachten und Überwachen in einen Topf
werfen und umrühren und mal gegen die Beobachtung,
mal gegen die Überwachung kämpfen und dabei immer
insinuieren, als wären Abhören und ähnliche nachrichtendienstliche Mittel im Spiel, das ist nicht korrekt.
({3})
Ich nehme Ihnen das nicht übel; denn man muss wohl
Jura studiert haben, um bestimmte Dinge bewerten zu
können.
({4})
Das Bundesverwaltungsgericht hat all diese Maßnahmen - Herr Wieland, Sie kennen das Urteil ({5})
überprüft. Das Gericht hat gesagt: Das Beobachten der
Partei Die Linke ist rechtmäßig. Das Gericht hat weiter
geurteilt und gesagt: Das Beobachten eines Abgeordneten Ramelow der Partei Die Linke ist rechtmäßig.
({6})
Das Gericht hat aber auch das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative - dieses Thema wurde hier gerade
behandelt - sehr sensibel herausgearbeitet. Es hat gesagt,
dass das natürlich ein delikater Vorgang ist, weil die Legislative die Exekutive überwacht und nicht umgekehrt.
Deswegen müssen wir das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bei diesem Beobachtungsvorgang sehr präzise zur
Anwendung bringen. Genau dies wird gemacht.
Wenn die Fraktion Die Linke, die heute in voller
Kampfstärke angetreten ist,
({7})
glaubt, ihr würde schreckliches Unrecht in diesem
Rechtsstaat widerfahren, dann rate ich Ihnen: Gehen Sie
doch vor Gericht und versuchen Sie zu erreichen, dass
die höchstrichterliche Rechtsprechung korrigiert wird.
({8})
Sie wird nicht korrigiert, Herr Gysi.
({9})
Ich meine, dies ist richtig. Sie sind führender Vertreter
der zu beobachtenden Partei, in der es eine große Anzahl
von Verfassungsfeinden gibt.
({10})
Mit denen sind Sie nicht im Reinen, Sie haben sie aber
nicht aus der Partei geworfen. Sie trauen sich nicht, den
Streit mit denen aufzunehmen und zu sagen, dass Sie mit
denen nichts zu tun haben wollen. Die Vorstellung, wir
hätten in der CDU oder in der CSU Rechtsradikale und
hätten nicht den Mut, sie rauszuschmeißen, würde Sie
alle mit Recht empören. Aber Sie haben nicht den Mut,
die Linksextremen, die Verfassungsfeinde rauszuschmeißen.
({11})
Herr Gysi, ich halte es für richtig, dass Ihr Wirken in
der Partei Die Linke daraufhin beobachtet wird, ob Sie
obsiegen.
({12})
Mit großer Aufmerksamkeit haben wir Ihre Rede im Jahr
2008 vor der Rosa-Luxemburg-Stiftung nachgelesen. Sie
haben da sehr kluge Sätze gesagt. Sie haben gesagt, Herr
Gysi: Wenn es der Partei Die Linke nicht gelingt, mit Israel und den Juden in Deutschland ins Reine zu kommen, wenn es ihr nicht gelingt, den Antisemitismus in
der Partei Die Linke zu bekämpfen, wird sie niemals in
Deutschland eine Chance bekommen, die Regierung zu
übernehmen. - Das haben Sie gesagt.
({13})
Jetzt geht es um Folgendes: Der Verfassungsschutz
hat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Antisemitismus in
relevanten Kräften in der deutschen Parteienlandschaft
nie mehr zum Tragen kommt.
({14})
Das ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes. Jetzt geht
es darum, ob Sie in Ihrer Partei im Kampf gegen Antisemitismus siegen oder verlieren, Herr Gysi.
({15})
Wir sollten das Prinzip unserer wehrhaften Demokratie ernst nehmen. Ich finde es töricht, die gesetzlich dafür zuständige Behörde, den Verfassungsschutz, in Misskredit zu bringen.
({16})
Wir brauchen eine solche Behörde möglicherweise mehr
denn je. Wenn die Verfassungsfeinde von rechts, was
Gott verhüten möge, eines Tages in dieses Hohe Hause
einziehen, dann erwarte ich vom Verfassungsschutz,
dass er diese Partei und auch die Bundestagsabgeordneten dieser Partei nach allen Regeln der Rechtskunst, wie
es in dem Urteil im Einzelnen abgehandelt wurde, beobachtet.
({17})
Es gibt dem Grunde nach keinen Unterschied zwischen Rechtsextremismus und Linksextremismus.
({18})
Die Franzosen sagen mit Recht: Les extrêmes se
touchent. - Es gibt genügend Beispiele für Rechtsextreme und Linksextreme, die von „ganz rechtsextrem“
nach „ganz linksextrem“ oder in die andere Richtung gewandert sind.
({19})
Sie kennen einen, Herr Ströbele.
({20})
Mahler heißt er.
({21})
Ich wiederhole: Les extrêmes se touchent. Wir müssen
sie alle bekämpfen. Das nennt man wehrhafte Demokratie.
({22})
Das Wort hat nun Fritz Rudolf Körper für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte einen Begriff, der in dieser Debatte gefallen ist,
aufgreifen. Ich glaube, es waren die Kollegen Korte und
Beck, die von „Inlandsgeheimdienst“ geredet haben.
({0})
Ich bin froh, dass wir keinen Inlandsgeheimdienst haben,
sondern ein Bundesamt für Verfassungsschutz.
({1})
Ich sage sehr deutlich: Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist vom Gesetzgeber legitimiert. Das Bundesverfassungsschutzgesetz ist im Jahre 1990 mit großer,
breiter Mehrheit im Deutschen Bundestag verabschiedet
worden. Auch die Novellierung, die im Jahre 2007 stattfand, ist mit großer, breiter Mehrheit vereinbart worden.
Das ist die Legitimation des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Das ist eine demokratisch zustande gekommene Legitimation. Ich denke, das sollte man festhalten.
({2})
An einer Stelle unterscheidet sich die Situation in
Deutschland von der in anderen Ländern dieser Welt. In
Deutschland gibt es eine parlamentarische Kontrolle der
Nachrichtendienste. Diese findet in einer Art und Weise
statt, die kein anderes Land dieser Welt vorweisen kann.
({3})
Ich denke, darauf können wir stolz sein. Wenn in der
parlamentarischen Kontrolle etwas verbesserungswürdig
ist, dann sollten wir es verbessern. Aber die Tatsache,
dass es in Deutschland eine parlamentarische Kontrolle
der Nachrichtendienste gibt, ist, glaube ich, erwähnenswert.
Ich kann die Aufregung über diesen Vorgang nicht
ganz verstehen.
({4})
Denn die Beobachtung der Linkspartei ist in den Berichten des Bundesverfassungsschutzes seit dem Jahre 1995
ausgewiesen;
({5})
das spricht für uns. Es spricht auch für uns, Frau Lötzsch,
dass das, was beobachtet worden ist, nicht im Geheimen
verschwunden ist, sondern öffentlich bzw. in öffentlich
zugänglichen Publikationen präsentiert wird. Es wird
sehr deutlich gemacht, wo die Kritik ist und wo Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung festzustellen sind. Ich denke, dies ist die Aufgabe
des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
({6})
Ich will zugeben: Ich hätte mir gewünscht, dass der
eine oder andere Redner in dieser Debatte in die Leitsätze, die das Bundesverwaltungsgericht Leipzig im
Jahre 2010 formuliert hat, hineingeschaut hätte. Ich kann
diese Leitsätze, die aus zwei ganz wesentlichen Punkten
bestehen, nur kurz wiedergeben. Sie betreffen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und den Schutz des Kernbereiches parlamentarischer Arbeit. Was die Verhältnismäßigkeit betrifft, kommt es entscheidend darauf an,
festzulegen, welche Mittel und Methoden beispielsweise
das Bundesamt anwenden darf, und zwar dann, wenn es
um Mandatsträger wie Bundestagsabgeordnete geht.
Hier sind die Grenzen sehr eng gesetzt. Es darf nur zu
einer offenen Beobachtung kommen. Nachrichtendienstliche Mittel sind ausdrücklich ausgeschlossen und ver18530
boten. Daran hat sich das Bundesamt für Verfassungsschutz gehalten.
Gleiches gilt für den Schutz des Kernbereichs parlamentarischer Arbeit. Da mich Herr Kollege Gysi - vielleicht hört er mir jetzt noch einmal zu - gefragt hat:
„Wie ist das, wenn ich ein Gespräch in meinem Wahlkreisbüro führe?“, sage ich: Das ist nicht Gegenstand einer offenen Beobachtung. Dafür wären nachrichtendienstliche Mittel notwendig. Diese sind an dieser Stelle
aber ausdrücklich untersagt. Ich denke, es ist wichtig,
darüber sachlich miteinander zu reden und deutlich zu
machen, was gegeben und was nicht gegeben ist.
({7})
Diese Liste von 27 Abgeordneten der Linken ist im
Übrigen nicht neu. Auf eine Anfrage der Linken hin
wurde sie bereits im Jahre 2009 bekannt gegeben.
({8})
Dass diese Liste diskussionswürdig ist, ist überhaupt gar
keine Frage; aber es wäre falsch, auf der Grundlage der
Liste die Frage zu konstruieren, ob eine offene Beobachtung zulässig ist oder nicht. Ich bin der Auffassung, dass
aufgrund der Entwicklungen in der Partei der Linken
eine offene Beobachtung gerechtfertigt ist.
({9})
Ob die Zusammensetzung der Liste richtig ist, will ich
hier einmal ganz ausdrücklich offen halten.
Es ist im Übrigen schwierig, wenn bestimmte Zahlen
darüber in die Welt gesetzt werden, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz für die Beobachtung der Linken zuständig
sind und wie viele beispielsweise für die Beobachtung
der NPD. Hier sind nämlich Zahlen in der Welt, die im
Grunde genommen nicht korrekt sind. Das muss man
wissen. Sie taugen nicht dafür, einen Vergleich darüber
anzustellen, wie wer wo auf welchem Auge besonders
gut sieht oder blind ist. Ich denke, hier brauchen wir eine
sachliche Debatte.
({10})
Ich bin der Meinung, wir müssen hier aufmerksam
sein; denn die freiheitlich-demokratische Grundordnung
ist ein Wert, der immer verteidigt werden muss. Das
müssen alle Demokratinnen und Demokraten gemeinsam tun.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Demokratie lebt von Demokraten und davon, dass sie sich
auch gegen Extremisten jeglicher Couleur mit rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen kann. Eine wehrhafte Demokratie lebt davon, dass sie diese rechtsstaatlichen Mittel auch einsetzt.
({0})
Dazu gibt es den Verfassungsschutz. Er muss die extremistischen Umtriebe im Auge haben. Genau dafür ist
er auch gegründet worden. Dass das den Betroffenen
nicht gefällt, verwundert nicht wirklich.
Die letzten Monate haben uns gezeigt, dass die Gesellschaft insgesamt wieder wachsamer gegenüber extremistischer Gesinnung sein und dieser entschlossen entgegentreten muss.
({1})
Gerade als Demokraten müssen wir aber auch aufpassen,
dass wir nicht über das Ziel hinausschießen. Das gilt für
alle Aktivitäten. Die Beobachtung von Abgeordneten ist
auch in der Vergangenheit immer ein umstrittener Punkt
gewesen. Aber Abgeordnete sind nicht sakrosankt; sie
stehen eben nicht über Recht und Gesetz. Sie können damit folgerichtig auch vom Verfassungsschutz beobachtet
werden;
({2})
denn das Mandat alleine schützt bekanntlich nicht vor
extremistischer Gesinnung.
Wenn eine Bundestagsabgeordnete der Linken die
Staatssicherheit der DDR für ihren Kampf für den Frieden lobt und die Handlanger dieses Unrechtsregimes
nach wie vor glorifiziert, dann ist die Verfassungstreue
mehr als fraglich.
({3})
Die regelmäßigen Aussagen einiger linker Politiker, die
die DDR verharmlosen, die das sozialistische Unterdrückungssystem schönreden
({4})
und bei denen sich die Parteiführung weigert, solche
Elemente konsequent auszuschließen, zeigen, wie wichtig eine aufmerksame Beobachtung solcher Umtriebe
nach wie vor ist.
Die unveräußerliche Menschenwürde eines jeden
DDR-Opfers und eines jeden Bürgers gebietet es, hier
wachsam zu sein. Herr Beck, ich war schon etwas überrascht, wie wenig Sie sich an das „Bündnis 90“ in Ihrem
Namen erinnert haben; denn gerade wenn es darum geht,
die Vergangenheit nicht zu verharmlosen, sollten wir an
dieser Stelle sehr vorsichtig sein.
Hartfrid Wolff ({5})
({6})
Meine Damen und Herren, die merkwürdigen Veranstaltungen der heutigen Bundesvorsitzenden der Linken,
Frau Lötzsch, mit Stasimitarbeitern haben ihr sogar aus
den Reihen der Grünen den Vorwurf eingetragen, die
Vergangenheit unter den Tisch kehren zu wollen und
sich als „heilige Johanna der Alt-Tschekisten“ zu präsentieren. Lieber Herr Wieland, Sie erinnern sich bestimmt
an diese Äußerung.
({7})
Vor einem Jahr hat Frau Lötzsch sogar öffentlich über
Wege zum Kommunismus schwadroniert, und zwar ausgerechnet in der jungen Welt, die sich im vergangenen
Sommer auf der Titelseite für den Bau der Berliner
Mauer bedankt hat.
({8})
Frau Lötzsch, da wundern Sie sich noch, dass Sie hier
unter Beobachtung stehen?
({9})
Genau diese Frau Lötzsch ist noch immer Bundesvorsitzende. Genau diese Frau Lötzsch wurde in Kenntnis
dieser Aussagen von der Parteibasis gewählt. Das lässt
den Schluss zu, dass in der Partei Die Linke solche verfassungsfeindlichen Haltungen nicht nur punktuell
mehrheitsfähig sind, sondern leider offensichtlich von
einer breiten Basis unterstützt werden.
({10})
Die Beobachtung der Linken durch den Verfassungsschutz ist aus meiner Sicht deshalb deutlich berechtigt.
Es ist zudem kein Urteil über die Verfassungswidrigkeit
der Linken, sondern notwendiges Instrument, um darüber Erkenntnisse zu erlangen. Beobachten heißt auch
- das hat der Bundesinnenminister zu Recht gesagt -,
dass damit nicht automatisch technische Überwachung
und geheime Maßnahmen verbunden sind.
Eine Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz bedarf besonderer Voraussetzungen;
denn sie sind als gewählte Vertreter des Volkes auch zur
Kontrolle der Exekutive berufen.
({11})
Klar ist auch, dass die führenden Vertreter der Partei Die
Linke, die dem Deutschen Bundestag angehören, bei einer rechtmäßigen Überwachung nicht automatisch ausgenommen werden dürfen und können.
({12})
Das hat das Bundesverwaltungsgericht auch so festgehalten.
Eine besondere Sensibilität braucht es aber schon.
Der Kern der Abgeordnetentätigkeit und die Unabhängigkeit dürfen nicht beeinträchtigt werden. Unsere Demokratie muss und wird eine wehrhafte bleiben. Alle
Extremisten, ob links oder rechts, alle diejenigen, die die
freiheitlich-demokratische Grundordnung angreifen
wollen, werden den massiven Widerstand der Demokraten erfahren.
({13})
Dazu steht die FDP. Das sind wir den Menschen in
Deutschland schuldig.
({14})
Das Wort hat nun Steffen Bockhahn für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollege Wolff, was Sie gerade gesagt
haben, war ja ganz interessant. Aber liberal, freiheitlich
und bürgerlich fand ich das nicht.
({0})
Ihre Bundesminister Niebel und LeutheusserSchnarrenberger scheinen das auch anders zu sehen, wie
ich den Verlautbarungen der letzten Tage entnehme. Was
wir über Frau Leutheusser-Schnarrenberger gehört haben, kann ich nur schwer glauben; denn der Kollege
Ernst saß mit ihr im gleichen Flieger. Der Flieger ist um
halb elf gelandet, und der Kollege sitzt hier. An der Verspätung des Flugzeugs kann es also nicht gelegen haben,
dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger nicht hier ist.
({1})
Auch Herr Wolff hat zum Schluss wieder einmal eine
totale Gleichsetzung von vermeintlichen Linksextremisten und Rechtsextremisten vorgenommen. Meine Damen
und Herren, ist Ihnen nicht aufgefallen, dass in den letzten Jahren eine Neonazibande mordend durch Deutschland gezogen ist und zehn Leute auf dem Gewissen hat?
({2})
Das ist doch wohl ein Unterschied. Das gleichzusetzen,
ist absolut undemokratisch und nicht gerechtfertigt.
({3})
Überlegen Sie bitte einmal, was Sie Leuten unterstellen,
die sich in einer Partei engagieren, die sich demokratisch
engagieren, die für diesen Rechtsstaat kämpfen! Nur
weil Sie der Meinung sind, dass sie die falschen Ziele
vertreten, stellen Sie sie unter Generalverdacht. Das ist
doch absurd.
({4})
Wissen Sie, Herr Bundesminister Friedrich, Sie haben
hier viele komische Sachen gesagt. Auf ein paar will ich
eingehen.
Es gibt nur ein einziges Urteil, nämlich das des Bundesverwaltungsgerichts, in dem die Beobachtung nicht
untersagt wird. In den anderen beiden Urteilen wird sie
untersagt. Das sollten Sie noch einmal nachschauen.
({5})
Sie haben sich auf die Diktatur des Proletariats bezogen. Ich darf Ihnen kurz etwas erzählen: Im 19. Jahrhundert, als Marx das Kommunistische Manifest und gemeinsam mit Engels Das Kapital schrieb, war es so, dass
eine Minderheit die Mehrheit regierte. Die Minderheit
war nach Marx die Bourgeoisie, die Mehrheit war das
Proletariat. Ziel der Diktatur des Proletariats ist, dass
endlich eine Mehrheit die Minderheit regiert, nicht die
Minderheit die Mehrheit.
({6})
Wenn Sie das undemokratisch finden, dann ist die Frage,
wer hier die Verfassungsfeinde sind.
({7})
Ich darf Ihnen sagen: Ihre Aufregung über die PKK
finde ich hochgradig spannend. Es war der Westberliner
CDU-Mann Lummer, der zu Öcalan gefahren ist, das
waren nicht wir. Ihr CDU-Mann Lummer ist zu Öcalan
gefahren.
({8})
Sie haben die FARC angesprochen. Es waren Mitglieder der Partei Die Linke, die in Kolumbien vermittelt
und Geiseln aus der Hand der FARC befreit haben.
Wenn das nicht im Interesse der Bundesrepublik
Deutschland ist, dann weiß ich auch nicht weiter. Überlegen Sie sich einfach genau, was Sie hier erzählen. Vieles davon war nur sehr begrenzt sinnvoll.
({9})
Ich will Sie noch auf etwas anderes hinweisen. Sie haben bisher immer gesagt, es würden nur Parteifunktionäre beobachtet oder überwacht. Schauen wir uns die
Liste der 27 einmal an: Gregor Gysi - kein Parteifunktionär; Dietmar Bartsch - kein Parteifunktionär; Jan
Korte - kein Parteifunktionär; Kersten Steinke - keine
Parteifunktionärin; Roland Claus - kein Parteifunktionär;
({10})
Paul Schäfer - kein Parteifunktionär.
Was ist denn jetzt wahr? Sie belügen das Parlament;
nichts anderes tun Sie.
({11})
Sie haben angeboten, die Liste der 27 noch einmal zu
überprüfen. Das war ein schlauer Vorschlag, aber ich
sage es Ihnen in aller Deutlichkeit: Es ist kein glaubwürdiges Angebot, wenn Sie willkürlich festlegen, wer sich
genehm verhält und wer nicht. Wir werden uns nicht
auseinanderdividieren lassen.
({12})
Kommen wir zu den verdeckten Maßnahmen. Ich tue
jetzt einmal so, als ob ich Ihnen glaube, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz selbst keine nachrichtendienstlichen Mittel einsetzt; ich kann nämlich nichts Gegenteiliges beweisen. Da aber die Länder inzwischen
sogar offen erklären, dass sie das tun, frage ich mich,
warum für sie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
und die Auffassung der Bundesregierung offenbar nicht
gelten. Die Frage ist auch, welche Informationen, die aus
nachrichtendienstlichen Maßnahmen der Länder gewonnen wurden, vom Bundesamt für Verfassungsschutz genutzt werden. Auch damit wird Ihre Aussage Lügen gestraft, dass Sie sich nicht nachrichtendienstlicher Mittel
bedienen würden.
({13})
Es sei mir erlaubt, kurz darauf zu verweisen, dass es
im Gegensatz zur Union bei uns niemanden gibt, der
noch bis vor wenigen Wochen und Monaten die OderNeiße-Friedensgrenze infrage gestellt hat. Das finde ich
deutlich verfassungsfeindlich.
({14})
Herr Kollege Uhl, wer wie Sie auf Podien auftritt und
meint, die Ursache des Naziterrors in Deutschland sei
wohl vor allen Dingen die Masse an Ausländern, die in
die Bundesrepublik gekommen sei,
({15})
der sollte sich schwer zurückhalten.
({16})
Lassen Sie mich abschließend aus der Schweriner
Volkszeitung von heute zitieren. Darin schreibt Matthias
Hufmann, der des Linksextremismus oder der Nähe zu
Linken unverdächtig ist, in einem Kommentar:
Die Politiker zu beobachten ist falsch,
weil Proporz kein Grund für Überwachung sein
darf. Wer die NPD prüft, braucht keinen RechtsLinks-Ausgleich.
weil der Blick ins Programm der Partei nicht ausreicht, um Argumente zu finden. Überwindung des
Kapitalismus? Dann müsste sich der Verfassungsschutz auch um Heiner Geißler kümmern.
…
weil der Innenminister drei Motive verheimlicht,
die nichts mit der Linken zu tun haben: Er muss
sich profilieren, er muss der CSU gerecht werden,
er muss die FDP gängeln.
weil Hans-Peter Friedrich den Linken alles zutraut,
der Demokratie aber nichts. Im Zweifel nicht einmal, sich zu wehren.
…
Vor allem jedoch ist das Beobachten für den Verfassungsschutz fatal,
weil er beim Rechtsextremismus versagt hat - und
bei den Linken ganz genau hinschaut. Dieser Eindruck bleibt.
({17})
Das Wort hat nun Armin Schuster für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bockhahn, Sie sind Mitglied des Vertrauensgremiums. Die Vorstellung gerade hat mein Vertrauen
nicht gestärkt. Ich weiß nicht, wie es den anderen geht.
Es war allenfalls eine gute Schauspielausbildung, die Sie
hatten.
Die Partei Die Linke wird seit 1995 vom Bundesamt
für Verfassungsschutz beobachtet.
({0})
Insgesamt vier Bundesregierungen sahen in diesen
16 Jahren die Partei in einem zweifelhaften Verhältnis zu
unserer Verfassung. Das ist in den unzähligen Verfassungsschutzberichten nachzulesen. Seit 2009 gibt es zu
diesem Sachverhalt auch eine detaillierte Antwort der
Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken.
Der die aufgeregte Situation in dieser Woche auslösende Spiegel-Artikel beinhaltet über diese Antwort hinaus keine wesentlichen Neuigkeiten. Schon 2009
konnte man erfahren, dass 27 Abgeordnete der Linken
beobachtet werden.
({1})
Die von den Linken beantragte Debatte soll wohl erneut eine Antwort auf die Frage liefern, ob es nach
16 Jahren neue Erkenntnisse gibt, die eine weitere Beobachtung nicht mehr rechtfertigen würden. Auskunft
gibt das Verfassungsschutzgesetz. Der Minister hat es
schon gesagt: Voraussetzung ist, dass linksextremistische Bestrebungen nicht mehr erkennbar sind. Dafür
gibt es vier Anhaltspunkte:
Erstens. Die Linke hätte dann keine auf Überwindung
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichtete Programmatik. Was ist die Realität? Im Parteiprogramm vom Oktober 2011 findet sich mit keinem einzigen Wort die freiheitlich-demokratische Grundordnung
erwähnt oder gar ein Bekenntnis zur selbigen.
({2})
Stattdessen sehen Sie Ihre strategische Kernaufgabe in
einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse.
({3})
Hier wird offen bekannt, dass Sie eine Veränderung der
Macht- und Eigentumsverhältnisse in diesem Land anstreben.
Zweitens. Die Linke dürfte nicht offen extremistische
Zusammenschlüsse innerhalb der Partei fördern; davon
war heute schon ein paar Mal die Rede. Ob Kommunistische Plattform, Cuba Sí oder Marxistisches Forum, Sie
fordern unverblümt die Stärkung aller Tendenzen in der
Partei, die einen Systemwechsel zum Ziel haben.
({4})
Inwieweit das übrigens den Deutschen Bundestag beträfe, können wir nur erahnen. Dafür, Herr Korte, sollen
die Menschen mit neuen Wortschöpfungen in die Irre geleitet werden. Demokratischer Sozialismus ist für mich
ungefähr genauso plausibel wie die Gründung einer
neuen Innung für vegetarische Metzger.
({5})
Drittens. Bei den Linken müsste es eine klare Abgrenzung gegenüber linksextremistischer Gewalt geben. Wie
ist die Realität? - Ich zitiere aus dem Parteiprogramm:
Für die Entstehung und Durchsetzung von Klassenmacht sind gewerkschaftliche und politische Organisationen erforderlich, in denen gemeinsame Interessen formuliert und Kämpfe zu ihrer Durchsetzung
geführt werden. Es ist Aufgabe der Partei DIE
LINKE, diesen Prozess bewusst und aktiv zu fördern.
({6})
Aufrufe zu Straftaten wie „Schottern“ und Publikationen
führender Parteimitglieder bei der Antifa
({7})
stellen keine Abgrenzung dar, sondern sind nichts anderes als das Hofieren linksextremistischer Gewalt. Frau
Wagenknecht hält diese linksautonomen Gruppen immerhin für unterstützenswert.
Viertens. Das Thema „ausländische Guerillaorganisation“ haben wir bereits hinreichend beurteilt. Die PKK
erhält von Ihnen Solidaritätsbesuche. Castro wird gelobt.
Zu den Regimen in Syrien und im Iran gibt es Ihrerseits
öffentliche Sympathiekundgebungen.
({8})
Sie liefern heute wie gestern tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass Sie die freiheitlich-demokratische
Armin Schuster ({9})
Grundordnung dieses Staates auf vielfältige Weise angreifen. Ich bin daher dem BfV sehr dankbar, derlei Tendenzen ständig zu beobachten und in Berichten zu dokumentieren. Dieses Amt ist dafür sachlich zuständig und
verfügt mit § 8 des Verfassungsschutzgesetzes über eine
zulässige Befugnisnorm. Genau das haben wir so gewollt, und genau das ist auch gut so. Das einzig Unerträgliche - wenn ich dieses häufig in dieser Woche bemühte Wort wiederholen darf - ist nicht die Arbeit des
BfV, sondern es sind die teils wüsten Kommentare einiger Betroffener oder juristisch suboptimal informierter
Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Die rhetorische Verquickung der Zwickauer Taten mit
dem, worüber wir heute diskutieren, ist nichts anderes
als absurdes Theater. Die Union wird nicht wie GrünenChef Özdemir oder Herr Beck gerade eben in diese
plumpe Falle tappen. Den Versuch, diese Taten dazu zu
benutzen, linksextreme Taten weichzuzeichnen und den
von Ihnen ungeliebten Verfassungsschutz öffentlich zu
diskreditieren, meine Damen und Herren von der Linken, haben wir erkannt.
({11})
Da machen wir nicht mit. Wir werden rechts wie links
auf gar keinen Fall kürzer treten. Ob Mordserien, Anschläge auf Bahnanlagen, brennende Autos, Podiumsdiskussionen mit RAF-Terroristen oder fehlendes Bekenntnis zur Verfassung,
({12})
wir wissen damit verhältnismäßig umzugehen. Das BfV
weiß das ebenfalls.
Ich halte übrigens den Vorschlag, der schon gemacht
wurde, sich damit im Parlamentarischen Kontrollgremium zu befassen, für angemessen. Sie werden dann
feststellen: Die Verhältnismäßigkeit der Mittel wurde gewahrt. Dieses Kontrollgremium ist der richtige Ort, um
sich damit parlamentarisch auseinanderzusetzen.
({13})
Letzter Punkt. Warum gerade diese 27 Abgeordneten
der Linken? Lesen Sie den gestern in der FAZ erschienenen Artikel mit Ihrem ostalgisch verklärten Blick!
({14})
Dann kennen Sie genügend Gründe,
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- warum diese Prominenten überwacht werden, Herr
Bockhahn. Es handelt sich um Parteiführer, Parteifunktionäre oder Meinungsführer. Von diesen erwarten wir
vorbildliches Verhalten im Sinne des Grundgesetzes in
Ihrer Partei.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen!
Einen entsprechenden Beweis bleiben Sie uns aber
seit 16 Jahren schuldig.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin hoffentlich völlig unverdächtig, irgendwelche Sympathien für die Linkspartei zu haben.
({0})
- Ich bedanke mich für die Zustimmung.
({1})
Aber was uns der Verfassungsstaat Deutschland und das
Grundgesetz wert sind, merkt man, glaube ich, dann,
wenn man dieses Grundgesetz ernst nimmt und die
Rechte von Menschen verteidigt, die vielleicht nicht die
eigene politische Meinung vertreten. Da müssen doch einige Dinge klargestellt werden.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist Teil des
Verfassungsstaats Deutschland. Ich finde es richtig, dass
wir einen Inlandsnachrichtendienst, einen Inlandsgeheimdienst haben. Er ist ein Teil unseres Verfassungsstaates. Aber das Bundesamt für Verfassungsschutz ist
an Recht und Gesetz gebunden, insbesondere an das
Grundgesetz. Das kann nicht streitig sein. Ich bin der
festen Überzeugung - Herr Kollege Hartmann, darüber
darf man sich auch aufregen, finde ich -, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz Recht und Gesetz verletzt
hat. Ich halte es für eine massive Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wenn 27 Abgeordnete der Linksfraktion beobachtet werden.
({2})
Die Beobachtung in dieser Totalität ist nach meiner
Auffassung unzulässig und rechtswidrig. An dieser
Stelle sollten wir uns nicht von Sympathie oder AntipaDr. Dieter Wiefelspütz
thie, von politischer Nähe oder Ferne leiten lassen. Es
geht um zentrale Fragen des Verständnisses vom freien
Mandat in Deutschland. Darüber ist hier schon einiges
gesagt worden.
Ich will noch einmal darauf hinweisen: In Deutschland gibt es - meine Gedanken kommen da denen des
Kollegen Beck sehr nahe, was relativ selten ist; aber
wenn es nun einmal so ist, dann ist es so - kein Strafverfahren gegen einen Abgeordneten ohne Genehmigung
des Parlaments. Dem ist nicht so, weil wir etwas Besonderes wären. Natürlich sind Abgeordnete an Recht und
Gesetz gebunden, und wenn wir uns strafbar machen,
werden wir verurteilt. So ist das in einem Rechtsstaat.
Aber es geht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments.
Dass man dafür besondere Schutzvorkehrungen in unserem Grundgesetz schafft, in Art. 38, in Art. 46 und in
Art. 47, sollte uns einen, ohne Ansehen der Person. Das
verteidige ich selbstverständlich auch dann mit Leidenschaft, wenn es um einen Kollegen der Linkspartei geht.
Das sollte uns über alle Grenzen der Fraktionen einen.
({3})
Wenn es bei Strafverfahren so ist, dass das Parlament
mindestens unterrichtet werden muss - warum muss es
dann nicht bei der Beobachtung durch einen Nachrichtendienst informiert werden? Das Grundgesetz schweigt
an dieser Stelle,
({4})
aber nicht schweigt der Geist des Grundgesetzes.
({5})
Deswegen wäre es an sich konsequent, dass man an dieser Stelle das Grundgesetz demnächst ergänzt. Ob wir
dafür eine Zweidrittelmehrheit erhalten, weiß ich nicht.
Das wäre eigentlich wunderbar. Der Geist des Grundgesetzes - Art. 38, Art. 46 und Art. 47 - sagt doch: Das
Parlament muss mindestens informiert werden, wenn
Abgeordnete überwacht werden.
Liebe Kollegen von der Linkspartei, es kann überhaupt nicht streitig sein, dass es im Einzelfall sehr wohl
möglich sein muss, auch einen Abgeordneten zu beobachten und möglicherweise sogar zu überwachen,
wenn es ganz gravierend ist. Dazu sind einige Beispiele
genannt worden. Es kommt letztlich auf den Einzelfall
an. Aber es muss geregelt werden, dass das Parlament
über solche Dinge informiert wird.
({6})
Das kann doch gar nicht anders sein.
Ich rate sehr dazu, dass wir darüber nicht parteipolitisch diskutieren. Es geht vielmehr um die Qualität unseres Verfassungsstaats. Dieser ist nicht parteipolitisch
orientiert. Der Verfassungsstaat ist eine Sache, die uns
alle gemeinsam eint. Herr Ruppert, ich meine, wir tun
gut daran, wenn wir uns zusammenrotten und, was uns
vielleicht gar nicht so naheliegt, die Rechte der Kollegen
der Linkspartei verteidigen. Nur dann merkt man doch,
was uns der Verfassungsstaat Deutschland wirklich wert
ist, wenn wir uns für diese Leute einsetzen.
({7})
Darüber darf man sich aufregen, und darüber rege ich
mich auf. Wenn diese Liste von Ihnen, Herr Minister
Friedrich, jetzt überprüft wird, dann ist das das Minimum dessen, was geschehen muss. Ich halte es auch für
angebracht, sich zu entschuldigen, weil ich es für völlig
überzogen halte, was da geschehen ist.
({8})
- Ja und? Was wollen Sie damit sagen? Was wollen Sie
damit behaupten?
({9})
Ich vertrete hier meine persönliche Auffassung.
Ich begrüße es sehr, dass das Bundesverfassungsgericht angerufen wird, weil endlich höchstrichterlich und
nicht nur von dem von mir sehr respektierten Bundesverwaltungsgericht geklärt werden muss, was an dieser
Stelle möglich ist und was nicht, und ich rate sehr, die
besondere parlamentsrechtliche und die herausgehobene
verfassungsrechtliche Stellung des Abgeordneten in den
Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Jedenfalls erhoffe ich mir an dieser Stelle Klarheit und Wahrheit, und
ich bitte sehr darum, dass wir alle gemeinsam die Rechte
der Parlamentarier verteidigen.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({10})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen! Sehr
geehrte Kollegen! Zunächst möchte ich auf den Kollegen Korte eingehen. Herr Kollege Korte, wenn die
Linkspartei die letzte Partei in Deutschland ist, die die
freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigt, dann
möchte ich - das sage ich Ihnen ganz offen - in diesem
Land nicht mehr leben.
({0})
Nun zu Ihnen, Herr Kollege Dr. Wiefelspütz. Ich habe
Ihre triefenden Bedenken mit Interesse zur Kenntnis genommen. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass
Stephan Mayer ({1})
Sie in den sieben Jahren, als Rot-Grün am Ruder war, jemals diese Bedenken und diese Aufregung artikuliert
haben, dass Sie jemals dem damaligen SPD-Bundesinnenminister Schily widersprochen haben. Aber selbstverständlich wurden auch in seiner Amtszeit ein paar
Abgeordnete der Linkspartei beobachtet. Wo war denn
Ihre Aufregung, Ihr Echauffieren damals?
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gebe
dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herrn Fromm, vollkommen recht, wenn er von
künstlicher Aufregung spricht, die angesichts dieser
Thematik in dieser Woche Deutschland ereilt.
({3})
Ich sage ganz offen: Ich habe Verständnis für die Aufregung eines Kollegen der Linkspartei, nämlich des NochParteivorsitzenden Ernst. Herr Ernst, Ihre Nichterwähnung auf der Liste besorgt Sie natürlich zu Recht. Diese
Nichterwähnung zeigt aus meiner Sicht auch sehr deutlich, welche Bedeutung Sie in der Linkspartei überhaupt
noch haben.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser
Woche ist nichts Neues zutage gefördert worden. Seit
1995 werden Abgeordnete der Linkspartei durch die
Verfassungsschutzämter beobachtet. Auf diese Feststellung lege ich Wert. Der Umstand, dass in dieser Woche
so eine große Aufregung ist, dass so ein großes Echauffieren stattfindet, lässt für mich nur zwei mögliche
Rückschlüsse zu. Die eine Möglichkeit ist, dass die Vorwürfe vollkommen unberechtigt sind, dass die Linkspartei keinerlei verfassungsfeindliche Tendenzen aufweist,
dass Sie alle eine weiße Weste haben, dass Sie alle Unschuldslämmer sind, dass es keinerlei verfassungsfeindliche Strömungen in Ihrer Partei oder Ihrer Fraktion gibt.
Wenn ich mir aber die letzten Monate vor Augen führe,
kann ich diese Möglichkeit nicht für realistisch halten.
Es gab deutliche relativierende Äußerungen zur DDRVergangenheit, insbesondere zum Mauerbau. Es gab offenkundige relativierende Äußerungen von Mitgliedern
der Linkspartei zum Existenzrecht Israels.
({5})
Es gab eine hemmungslose Ergebenheitsadresse anlässlich des Geburtstags des ehemaligen kubanischen Diktators Fidel Castro, und Teile Ihrer Fraktion äußerten offene und ungeschminkte Sympathie mit den Diktaturen
und Diktatoren in Syrien und im Iran.
({6})
Folglich bleibt für mich nur die Alternative übrig:
Teile der Linkspartei, einzelne Gruppierungen der Linken, werden völlig zu Recht und gesetzeskonform von
den Verfassungsschutzämtern beobachtet. Dies wurde
auch durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
vom 21. Juli 2010 eindeutig bestätigt, in dem festgestellt
wurde, dass die Beobachtung des Abgeordneten Bartsch
durch das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht nur
rechtmäßig, sondern auch erforderlich ist.
({7})
Ich erlaube mir, aus dem Urteil zu zitieren:
Anhaltspunkte für Bestrebungen einer Partei, die
gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, sind nicht nur dann gegeben,
wenn die Partei in ihrer Gesamtheit solche Bestrebungen entfaltet; … auch dann …, wenn solche Bestrebungen nur von einzelnen Gruppierungen innerhalb der Partei ausgehen.
Ferner ist festzuhalten, dass der Umstand, dass einzelne Abgeordnete beobachtet werden, nicht automatisch bedeutet, dass sich die betreffenden Abgeordneten
verfassungsfeindlich verhalten oder Staatsfeinde sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr sehr eindeutig herausgearbeitet, dass es im Einzelfall sogar notwendig und erforderlich ist, die Parteifunktionäre, die Fraktionsfunktionäre, also diejenigen, die Spitzenpositionen
einnehmen, zu beobachten, um festzustellen, inwiefern
radikale, verfassungsfeindliche Strömungen innerhalb
der Partei oder der Fraktion bedeutender werden und
vielleicht sogar die Oberhand gewinnen.
Ich darf beispielsweise Frau Sahra Wagenknecht zitieren, die zwar ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen
Plattform, die immerhin 1 200 Mitglieder hat, ruhen lässt,
aber deutlich darauf hingewiesen hat, dass sie die Ziele
der Kommunistischen Plattform nach wie vor uneingeschränkt unterstützt, nämlich notfalls auch auf radikalem
Weg einen Systemwechsel in unserem Land zu bewirken.
Sie wirbt offen dafür, linksextremistische, autonome
Gruppen in ihre eigene Partei zu integrieren, um - ich zitiere - „eine vielfältige Protestkultur gegen Neoliberalismus und Kapitalismus“ zu schaffen.
({8})
In einem Text der Jugendorganisation der Linken
wird zwischen Reform und Revolution kein Widerspruch gesehen und skrupellos schwadroniert, dass im
Kampf für einen Systemwechsel alle Mittel recht seien.
Die Parteivorsitzende Lötzsch führte im Januar letzten Jahres in einem vorab veröffentlichten Beitrag zu einer Podiumsdiskussion zur Rosa-Luxemburg-Konferenz
({9})
Stephan Mayer ({10})
unter anderem aus - ich zitiere -:
Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir … sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es zeigt
sich eindeutig: Es gibt nach wie vor verfassungsfeindliche Tendenzen, Strömungen innerhalb der Partei Die
Linke, und es ist infolgedessen nach wie vor sachgerecht
und, wie gesagt, sogar erforderlich, die Linkspartei
durch die Verfassungsschutzämter zu beobachten.
({11})
Abschließend möchte ich mir schon noch erlauben, zu
sagen: Herr Kollege Gysi, wie Sie in dieser Woche das
Bundesamt für Verfassungsschutz und vor allem seine
Mitarbeiter diskreditiert haben, das ist wirklich unanständig und ungehörig.
({12})
Begriffe wie „schwere Meise“, „ballaballa“ und „Pfeifenverein“
({13})
werden als unangemessen empfunden. Sie haben damit
den Verfassungsschutz und seine Mitarbeiter in höchstem Maße diskreditiert.
({14})
Ich kann Sie an dieser Stelle wirklich nur auffordern:
Klären Sie endlich Ihr Verhältnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und zur sozialen Marktwirtschaft.
({15})
Das Wort hat nun Arnold Vaatz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als Erstes möchte ich mich bei dem Kollegen
Körper dafür bedanken, dass er vorhin den Unterschied
zwischen dem Verfassungsschutz und einem x-beliebigen Geheimdienst herausgearbeitet hat.
Die heutige Debatte hat wohl ein Stück weit das Ziel,
an der Gleichsetzung von Verfassungsschutz und Staatssicherheit zu werkeln.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Ich habe der RobertHavemann-Gesellschaft in Berlin meine Akten geschenkt. Wenn Sie sie sich ausleihen, können Sie sehen:
Ich bin 16 Jahre lang persönlich vom Ministerium für
Staatssicherheit beobachtet worden.
({1})
Das Ministerium für Staatssicherheit hat sich damals
nicht darauf beschränkt, Zeitungsausschnitte aus dem
Neuen Deutschland auszuschneiden, sondern es hat
Freundeskreise, Liebschaften, Familien und überhaupt
alles ruiniert, was man an zwischenmenschlichen Beziehungen in Ostdeutschland aufgebaut hat. Deshalb ist dieser Vergleich, wie gesagt, fehl am Platz.
Es ist aber richtig, dass wir uns nach 1990 ernsthaft
Gedanken gemacht haben, ob man nicht auf einen Verfassungsschutz verzichten kann. Das zu fordern, daran
hat uns allerdings die Überlegung gehindert, dass wir im
letzten Jahrhundert in Deutschland insgesamt nur
26 Jahre lang Demokratie und 56 Jahre lang Diktatur
hatten. Von diesen 56 Jahren herrschte 12 Jahre eine
schreckliche faschistische Diktatur und 44 Jahre eine etwas anders geartete linke Diktatur.
({2})
Vor diesem Hintergrund erwarte ich von meinem Staat,
dass er sich die Frage stellt: Auf welche Weise können
wir Demokraten verhindern, dass sich die Demokratie
jemals wieder selber abschafft?
({3})
Dafür ist ein Verfassungsschutz notwendig, und dafür
ist, glaube ich, auch die heutige Diskussion notwendig.
Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben vorhin eine interessante Rede gehalten. Ich kenne Sie als einen Redner,
der sehr scharfsinnig argumentiert. Aber ich habe von
Ihnen noch nie eine so schwache Argumentation von
diesem Pult aus gehört wie die vorhin. Sie haben es uns
quasi verboten, die Beobachtung der NPD und die Beobachtung der Linksabgeordneten in irgendeiner Weise
zu vergleichen; denn von den Linken gehe keine Gefahr
für die Demokratie aus. Sie haben gesagt, es sei Stuss, so
etwas zu behaupten.
({4})
- Ja, genau, von diesen Linken. Das haben Sie gesagt.
Was Sie sonst immer tun, haben Sie dieses Mal nicht
getan: Sie haben Ihre Behauptung nicht begründet. Jetzt
möchte ich Ihnen einmal sagen, warum ich in dieser einen Frage völlig anderer Auffassung bin als Sie.
Sie wissen, dass die Bundesrepublik in den 70er-Jahren von einer Welle des Linksterrorismus erschüttert
worden ist.
({5})
Sie wissen, dass wir im Jahre 1990 plötzlich feststellen
mussten, dass ein Teil der untergetauchten Linksterroristen damals in der DDR lebte.
({6})
Da haben wir gedacht, das ist eine bedauerliche Sache
und wird den Linken sehr peinlich sein.
({7})
Was haben wir dann als Nächstes festgestellt? Am 8. Januar vorigen Jahres tauchte Frau Inge Viett auf der RosaLuxemburg-Konferenz auf und sagte, das Abfackeln von
Militärfahrzeugen sei durchaus legitim.
Auch die Linksterroristen im Westen haben eine Spur
von Toten hinter sich hergezogen.
({8})
Ich erwarte von meinem Verfassungsschutz, dass er
klärt, ob eine Partei, die im Deutschen Bundestag vertreten ist, oder auch Mandatsträger, die im Deutschen Bundestag vertreten sind, Beziehungen zu solchen Organisationen unterhalten oder ihnen logistische Unterstützung
liefern, zumal wenn es begründete Verdachtsmomente
wie den Auftritt von Frau Viett gibt.
({9})
Ich habe gestern in Dresden in der Zeitung gelesen,
dass ein Aufruf der Antifaschistischen Aktion durch die
Medien läuft, und zwar unter dem Titel: Dresden zu Stalingrad machen. Widerstand mit allen Mitteln am 13.
und 18. Februar.
Dazu folgender Aufruf von No Pasaran
({10})
- hören Sie zu! -:
Auch am 18. Februar 2012 werden wir wieder bundesweit nach Dresden fahren, obwohl es den Nazis
in diesem Jahr, dank unserer Erfolge, nicht gelingen
wird, einen Großaufmarsch zu organisieren.
Schließlich gilt es, sächsische Verhältnisse zu kippen …
Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass dort Nazis
auftauchen, ist plötzlich gar nicht mehr maßgebend. Es
geht gegen den Staat an sich, gegen die Demokratie. Das
ist die Zielsetzung.
({11})
Ich wünsche, dass diesen Verbindungen auf den
Grund gegangen wird. Ich möchte wissen, ob die Antifaschistische Aktion etwas mit Ihrer Partei zu tun hat,
({12})
zumal deren Aufruf noch heute hier im Bundestag neben
der Bürotür Ihres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Maurer hängt.
({13})
Zu persönlichen Erklärungen gebe ich dem Kollegen
Diether Dehm und dann Gregor Gysi das Wort.
({0})
Kollege Hartmann hat eine Äußerung von mir zitiert,
für die ich mich danach sofort entschuldigt habe, weil es
ein verunglückter Satireversuch war. Ich glaube, eine
solche Äußerung hat, zumal dann, wenn eine Entschuldigung ausgesprochen wurde, in einer Debatte über Bespitzelungen nichts zu suchen.
({0})
Ich habe Weihnachten vorletzten Jahres die nicht geschwärzten Teile meiner Verfassungsschutzakte einsehen können. Ich werde seit dem 18. Lebensjahr bespitzelt; damals war ich - Kollege Hartmann hat das auch
angesprochen - noch Mitglied der SPD. Ein Motiv zieht
sich durch alle fünf Aktenordner: dass ich für die Vergesellschaftung der Deutschen Bank eintrete. Das habe ich
seit dem 17. Lebensjahr getan.
Ich möchte darauf hinweisen, dass durch Art. 15 des
Grundgesetzes - und ohne diesen Artikel hätte die SPD
niemals dem Grundgesetz zugestimmt - die Vergesellschaftung von Konzernen wie der Deutschen Bank ausdrücklich möglich wird. Das Bundesverfassungsgericht
stellte im Jahr 1954 fest, dass mit Art. 15 des Grundgesetzes eine grundsätzlich andere Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland möglich ist als der Kapitalismus.
Ich halte also fest, dass man gelegentlich die Demokratie, die Verfassung, den demokratischen Rechtsstaat
und den Sozialstaat vor der Deutschen Bank schützen
muss und nicht umgekehrt. Ich halte dies für verfassungskonform.
({1})
Das Wort hat nun Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Uhl
hat gesagt, dass ich in einer Rede erklärt hätte, dass es in
der Linken Antisemitismus gebe. Das habe ich zu keinem Zeitpunkt erklärt, und das widerspricht auch meiner
Auffassung. Allerdings gibt es in unserer Gesellschaft,
wie eine Studie jetzt nachweist, in wirklich beachtlichem
Umfang Antisemitismus. Deshalb steht in unserem Parteiprogramm das Ziel der Bekämpfung des Antisemitismus. Das ist auch dringend erforderlich.
({0})
Ich möchte ferner darauf hinweisen, dass ich die Aussage, dass ich nur beobachtet werde, falsch finde. Herr
Bundesinnenminister, Sie können mir nicht erklären,
weshalb auf zig Blättern in meiner Akte steht: „Sperrvermerk“, „Musste entnommen werden“ oder weshalb die
Blätter vollständig geschwärzt sind. Warum darf ich die
Unterlagen, wenn sie öffentlich zugänglich sind, nicht
lesen? Das ist doch nicht hinnehmbar. Hier ist doch nicht
die Wahrheit gesagt worden.
Ich möchte noch etwas sagen. Ja, Sie haben recht: Ich
habe abfällig über das Bundesamt für Verfassungsschutz, das heißt den Inlandsgeheimdienst, gesprochen.
Ich nenne Ihnen auch die Gründe: Seit Jahren passieren
zehn Morde, organisiert vom Rechtsterrorismus, und
dieses komische Bundesamt ist nicht in der Lage, einen
einzigen Beitrag zu leisten, um sie zu verhindern oder
wenigstens darauf hinzuweisen, dass der Rechtsterrorismus dahintersteckt. Dazu ist es nicht in der Lage. Aber
27 Abgeordnete meiner Fraktion kann es die ganze Zeit
beobachten. Deshalb sage ich: Die sind ballaballa und
ein Pfeifenverein, und ich bleibe auch dabei.
({1})
Herr Kollege Gysi, Sie haben das Wort zu einer persönlichen Erklärung. Ich habe Ihnen nicht das Wort zu
einer Kurzintervention erteilt.
Das stimmt ja auch.
Deswegen bitte ich Sie, Schluss zu machen.
Das ist ja auch eine persönliche Erklärung. Mir ist das
ja vorgeworfen worden.
Ich will nur noch sagen, dass wir eine Gesetzesänderung brauchen. Ich bin auch dafür, dass man einen Herrn
Apfel beobachtet. Aber das darf doch nicht so willkürlich geschehen. Wo ist der Vorbehalt? Wo wird das Parlament gefragt? Wo wird es informiert? Es ist alles indiskutabel. Deshalb werden wir sehen, wie das
Bundesverfassungsgericht über unsere schon längst eingereichte Klage und die Verfassungsbeschwerde des
Herrn Ramelow entscheiden wird.
({0})
Da Gregor Gysi das Instrument der persönlichen Erklärung zu einer Kurzintervention verwandelt hat, muss
ich nun Kollegen Uhl Gelegenheit geben, auf diese
Kurzintervention zu antworten.
({0})
Herr Kollege Gysi, Sie haben nicht recht mit Ihrer Behauptung, Sie hätten nicht zum Antisemitismus in der
Partei Die Linke gesprochen. Ich habe hier eine Rede in
der Hand, gehalten am 14. April 2008, Überschrift: „Die
Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel“. Dort
haben Sie, angesichts 60 Jahre Israel, umfangreich über
13 Seiten dargestellt, worin die Probleme der antisemitischen Kräfte in der Partei Die Linke
({0})
im Umgang mit dem Staat Israel bestehen. Sie haben
sehr sensibel und sehr klug herausgearbeitet, dass Antisemitismus heute immer wieder als antiisraelische Politik verkleidet in Erscheinung tritt, auch in Ihrer Partei.
Sie haben dann herausgearbeitet - auch mit Recht -,
dass es zur Staatsräson dieser Bundesrepublik Deutschland gehört, das Existenzrecht Israels nicht zu verneinen,
sondern zu bejahen, dass es zur Staatsräson dieser Republik gehört, Solidarität mit den Juden im Staate Israel zu
üben. Sie haben gesagt, wenn die Partei Die Linke mit
dieser Staatsräson nicht im Reinen sei - und sie ist nicht
im Reinen, sonst hätten Sie die Rede nicht halten
müssen -, dann werde sie niemals in Deutschland eine
Regierungsbeteiligung organisieren können.
({1})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 17/8453 Hierzu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Peter
Altmaier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die abscheuliche Mordserie der rechtsextremistischen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund
hat uns alle in diesem Haus so schockiert wie kaum ein
anderes Ereignis der letzten Jahre. Es hat uns schockiert,
weil wir Verbrechen in dieser Art, in diesem Umfang, in
dieser Größenordnung in unserem Land nicht für möglich gehalten hätten. Es hat uns schockiert wegen des unsäglichen Leides, das damit viele Jahre lang über sehr
viele Menschen, die friedlich bei uns leben, gekommen
ist. Es hat uns schockiert, dass es den Betreffenden so
lange möglich war, unerkannt und unbehelligt ihr Unwesen zu treiben. Dies können und dies werden wir für die
Zukunft nicht hinnehmen.
({0})
Das war der Grund, warum wir in einer eindrucksvollen Debatte und einer ebenso eindrucksvollen Entschließung vom 22. November letzten Jahres einstimmig diese
Gefühle und unsere Entschlossenheit zur Aufklärung
und zur Ziehung der notwendigen Konsequenzen zum
Ausdruck gebracht haben.
In diese Erklärung des Deutschen Bundestags, die
zeigt, wie breit und wie stark der demokratische Nachkriegskonsens in unserem Land ist, haben wir nach reiflicher Überlegung alle Fraktionen in diesem Haus einbezogen. Ich glaube, es war richtig, dass wir alle
Fraktionen in diesem Haus einbezogen haben.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Fraktion Die Linke, erlauben Sie mir aber auch folgenden Hinweis: Ich gehöre diesem Bundestag seit 17 Jahren an. Ich war dafür, dass Sie in das Rubrum des Antrags aufgenommen wurden. Gleichzeitig bin ich aber
deprimiert darüber, wie wenig Sie Ihre 20-jährige Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag genutzt haben, um
sich in Ihrer eigenen Arbeit von antisemitischen, antieuropäischen, antidemokratischen und antiamerikanischen Tendenzen zu distanzieren und einen klaren
Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Solange
Sie das nicht schaffen, dürfen Sie sich nicht wundern,
wenn Sie in anderen Fragen der Politik nicht so behandelt werden, wie dies für die SPD, die Grünen, die FDP
und die CDU selbstverständlich ist.
({2})
Wir halten es für richtig, dass wir den Konsens vom
22. November letzten Jahres hinsichtlich der Verurteilung der Tat auch hinsichtlich der Aufarbeitung für die
Zukunft beibehalten. Wir glauben, dass es für die Akzeptanz in unserem Land und für den Erfolg unserer
Aufklärungsarbeit wichtig ist, dass wir uns nicht über
einzelne prozedurale Fragen zerstreiten.
Deshalb sage ich: Wir von unserer Fraktion waren
und sind nicht zu 100 Prozent überzeugt, dass die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses das naheliegende
und am besten geeignete Instrument ist, um diese Arbeit
zu leisten. Wir hätten einer Expertenkommission von
Bund und Ländern den Vorzug gegeben, weil wir glauben, dass vieles von dem, was aufzuklären ist, die Zuständigkeit der Länder sowie die Schnittstellen zwischen
einzelnen Ländern und auch die Schnittstellen zum Bund
berührt. Deshalb haben wir uns sehr früh für eine Expertenkommission von Bund und Ländern ausgesprochen,
die der Bundesinnenminister dankenswerterweise vorgeschlagen hat.
Wir haben aber festgestellt, dass es auch zwei Fraktionen in diesem Haus gibt, die aus ihrer Sicht zu dem
Ergebnis gekommen sind, dass die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses angezeigt ist. Auch wenn die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion
nicht ganz über das notwendige Einsetzungsquorum verfügt haben, waren wir der Auffassung, dass es nicht wert
ist, sich an dieser Stelle zu zerstreiten.
({3})
Ich meine, es ist ein Beweis für die Tragfähigkeit unseres Grundkonsenses, dass wir uns auf eine Gesamtlösung geeinigt haben, die den Anliegen aller Seiten in
diesem Haus gerecht wird. Es wird eine Expertenkommission von Bund und Ländern geben, die in ihrem Umfang überschaubar ist und die imstande sein wird,
schnell und effizient zu arbeiten. Zudem wird es einen
Untersuchungsausschuss geben, der vermeiden soll, dass
wir im Deutschen Bundestag an vier oder fünf Stellen
parallele Arbeiten durchführen. Dieser Untersuchungsausschuss wird die Arbeiten bündeln. Außerdem wird er
einen Sonderermittler haben, der ebenfalls imstande sein
wird, die Aufarbeitung voranzutreiben. Ich bin überzeugt, dass diese Lösung auch in der Öffentlichkeit Anerkennung finden wird.
Es ist jetzt unsere Aufgabe, dass wir alles tun, damit
in der Praxis tatsächlich eine Aufklärung der Vorgänge
erfolgt, damit es möglich wird, aufzuklären, welche Fehler, Pannen und Versäumnisse vorgekommen sind,
({4})
damit es möglich wird, die richtigen Konsequenzen für
die Zukunft zu ziehen.
Nachdem wir es geschafft haben, bereits vor Weihnachten in der Innenministerkonferenz einen Konsens
über die Expertenkommission herzustellen, nachdem wir
es geschafft haben, uns auf einen gemeinsamen Antrag
zu einigen, wäre es, glaube ich, nicht gut, wenn wir uns
in den nächsten Wochen und Monaten darüber streiten
würden, wer welche Akten bekommt und wie die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und den jeweiligen Gremien auszusehen hat. Deshalb will ich auch im
Namen meiner Geschäftsführerkollegen der anderen
Fraktionen sagen: Wir sehen uns in der Verantwortung,
dass wir, der Deutsche Bundestag, gemeinsam mit dem
Bundesinnenminister und den Bundesländern dafür sorgen, dass wir eine vernünftige Arbeitsteilung herstellen
und die Arbeit in einem Geiste der vertrauensvollen Zusammenarbeit so organisieren, dass sie in absehbarer
Zeit zu Ergebnissen führt.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will für
meine Fraktion sagen, dass wir mit der Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses selbstverständlich nicht
aufhören werden, schon jetzt die Konsequenzen zu ziehen, die auf der Hand liegen. Wir erkennen an, dass die
Bundesregierung imstande war, sehr schnell erste Maßnahmen zu ergreifen. Ich gehe davon aus, dass dies auch
in Zukunft der Fall sein wird.
Der Umstand, dass wir einen Untersuchungsausschuss haben, in dem sich Experten - der Kollege
Binninger aus unserer Fraktion und andere - mit dieser
sicherlich nicht ganz einfachen Materie beschäftigen,
entbindet uns, den Bundestag insgesamt, nicht von unserer politischen Verantwortung. Wir werden dafür sorgen,
dass dieses Thema nicht in Vergessenheit gerät und wir
die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Morde, Bombenanschläge und Banküberfälle des Nationalsozialistischen Untergrunds gehören zweifellos zu
den schwersten Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben gesehen, wie sich
aus einer nationalistischen Ideologie über die Zwischenstufe einer aggressiven rechtsextremen Kameradschaft
ein rechter Terror entwickelt hat. Ich muss Ihnen ganz
ehrlich sagen: Es ist für mich immer noch ein unheimlich schwer zu ertragender Gedanke, dass sich nach dem
Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im
demokratischen Deutschland über zehn Jahre hinweg ein
vom rassistischen Vernichtungswillen geprägter nationalsozialistischer Terror ausbreiten konnte.
({0})
Es ist ein deprimierender Befund, dass unsere Sicherheitsbehörden diese Verbrechen nicht verhindern konnten, obwohl es möglich gewesen wäre. Es war eine
ganze Kette von Fehlern, Fehleinschätzungen und Nachlässigkeiten, die es am Ende den Terroristen leicht gemacht haben, diese Verbrechen zu begehen.
Dabei geht es im Kern um die Schutzpflichten des
Staates, um die elementaren Schutzpflichten, die der
Staat gegenüber seinen Bürgern hat, nämlich die Sicherheit der Bürger vor solchen Verbrechen zu gewährleisten. Diese Schutzpflichten hat der Staat verletzt. Insofern
ist es auch ein ganz schlimmer Fall von Staatsversagen,
den wir hier erlebt haben.
({1})
Deshalb sind wir es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass diese Vorgänge umfassend und ohne
jede Rücksichtnahme aufgeklärt werden und wir alle
notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit sich solche
schlimmen Verbrechen in Deutschland nicht noch einmal ereignen können.
({2})
Die Voraussetzungen dafür sind gut. Peter Altmaier
hat darauf hingewiesen, dass der vorliegende Antrag von
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen
wird. Dass wir einen Konsens der demokratischen Parteien haben, das ist eine wichtige Voraussetzung. Wir
sind nicht dem schnellen Reflex gefolgt, einen Untersuchungsausschuss als Kampfinstrument der Opposition
gegen die Regierung einzusetzen. Das wäre falsch und
kurzsichtig gewesen. Stattdessen haben wir bei genauer
Prüfung festgestellt, dass ein Bundestagsuntersuchungsausschuss nur begrenzte Möglichkeiten hat,
({3})
Sachverhalte zu überprüfen, die im Bereich der parlamentarischen Verantwortlichkeit von Landesregierungen
liegen.
({4})
Wir wollen eine umfassende Aufklärung. Uns genügt
es nicht, festzustellen, dass die eine oder andere Landesregierung nicht kooperiert,
({5})
um sie dann dafür zu kritisieren. Das bringt uns in der
Sache nicht weiter. Deshalb ist die Idee, eine Bund-Länder-Ermittlungsgruppe aufzustellen, mit den Ländern gemeinsam die Vorgänge in den einzelnen Bundesländern
zu untersuchen, insbesondere die Schnittstellen von
Bund und Ländern, richtig. Hier hat sich die Idee einer
intelligenten Verknüpfung von Untersuchungsausschuss
und Bund-Länder-Kommission durchgesetzt.
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass es gelingt, ein Gesamtbild der Vorgänge zu bekommen. Wir müssen den Sachverhalt feststellen, der sich zugetragen hat. Auf der Basis
dieses Sachverhaltes muss eine Schwachstellenanalyse
durchgeführt werden. Dann brauchen wir Vorschläge,
wie unsere Sicherheitsarchitektur so verändert werden
kann, dass sich ein solcher Vorgang nicht wiederholen
kann.
Weil das Ganze so konzipiert ist, bin ich froh darüber,
dass dieser Untersuchungsausschuss kein Skandalisierungsinstrument ist, sondern ein Aufklärungsinstrument
mit zusätzlichen Möglichkeiten im Sinne einer Gesetzgebungs- und Empfehlungsenquete, Vorschläge zu erarbeiten, wie wir unser Sicherheitssystem in diesem Bereich verbessern können.
Der Untersuchungsausschuss hat drei Ziele:
Erstens die Aufklärung des Sachverhaltes und die
Ausarbeitung von Empfehlungen, von denen ich eben
gesprochen habe.
Zweitens erhoffe ich mir von diesem Ausschuss, dass
wir Belege und Beweise für die Zusammenarbeit zwischen NPD bzw. NPD-Mitgliedern und dem braunen
Unterstützernetzwerk der Terroristen finden. Wir stellen
schon jetzt fest: Ohne die mitwirkenden NPD-Mitglieder
wäre das braune Unterstützungs- und Sympathisantennetzwerk für die Rechtsterroristen nicht möglich gewesen. Der Untersuchungsausschuss muss die Möglichkeit
nutzen, Belege und Beweise für die Verfassungswidrigkeit der NPD zu sammeln, damit wir sie in einem zweiten Verbotsverfahren verwerten können.
({7})
Nicht zuletzt erhoffe ich mir von diesem Ausschuss,
dass er dazu beiträgt, das gesellschaftliche Bewusstsein
zu verändern. Die vielen Fehler, die die Sicherheitsbehörden gemacht haben, sind für mich kein Zufall. So
viele Fehler macht man nur in einem Umfeld, das von einer nachhaltigen Verharmlosung rechtsextremer Ideologie und neonazistischer Gewalt geprägt ist.
({8})
Der Rechtsextremismus ist in Deutschland über Jahre
hinweg systematisch unterschätzt werden. Deshalb müssen wir dazu beitragen, dass sich die Haltung der Menschen in diesem Land verändert. Die rechtsextreme
Ideologie will die demokratische und pluralistische Gesellschaft bekämpfen. Sie stellt einen Grundgedanken
unserer Verfassungsordnung infrage, nämlich die Gleichwertigkeit aller Menschen. Die Rechtsextremen wollen
die Menschen einteilen in höherwertige und in minderwertige. Wir alle müssen dieser Ideologie entgegentreten,
({9})
egal wo sie auftritt: ob am rechten Rand der Gesellschaft
oder in der Mitte der Gesellschaft. Auch dazu muss der
Ausschuss einen Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enthüllungen der letzten Wochen haben das Vertrauen der
Bevölkerung in die Arbeit der Sicherheitsbehörden
nachhaltig beeinträchtigt. Bei den Morden der Zwickauer Zelle handelt es sich um die bislang schwerwiegendsten neonazistisch motivierten Gewalttaten, die die
Bundesrepublik Deutschland erlebt hat. Es gab schon
jetzt erkennbare erhebliche und kaum fassbare Fehler
und Versäumnisse auch der Sicherheitsbehörden. Die
Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf,
eine lückenlose und einheitliche politische Aufklärung
dieser Fehler zu erhalten.
Deshalb muss neben einer juristischen Aufarbeitung
durch den Generalbundesanwalt nun auch eine politische
Aufklärung erfolgen. Es muss geklärt werden: Wer
wusste was? Wer trägt für diesen Dilettantismus der Sicherheitsbehörden die Verantwortung? Wie können wir
den braunen Sumpf trockenlegen? Die Fragen nach den
Konsequenzen sind wir den Opfern, der schockierten
deutschen Öffentlichkeit und unserer Demokratie schuldig.
Die FDP-Fraktion hat von Anfang an die Möglichkeit
eines Untersuchungsausschusses erwogen. Insofern
stimmt es nicht ganz, dass die Größe des Ausschusses
verändert werden müsste, damit die Fraktionen, die von
Anfang an einen solchen Ausschuss erwogen hätten, die
Viertelminorität erreichen. Die wird jetzt erreicht.
({0})
Die SPD hat in den letzten Wochen mehrmals ihre
Meinung gewechselt und trägt aus meiner Sicht die Verantwortung dafür, dass wir erst in diesem Jahr die Verfahrensfragen abschließend besprechen konnten. Über
die Gründe kann man nur spekulieren. Umso mehr freut
es mich aber, dass nun alle Fraktionen sich auf die Einsetzung dieses Ausschusses geeinigt haben. Der Kollege
Altmaier hat die Eckpunkte entsprechend skizziert.
Die FDP hat von Anfang an auf eine lückenlose Aufklärung gedrängt. Zu viel ist augenscheinlich vor allem
auch in der Koordination der Behörden schiefgelaufen.
Zu sehr belasten diese Morde das Ansehen unserer Sicherheitsorgane im In- und Ausland. Insbesondere steht
der Eindruck im Raum, die Länder hätten nebeneinanderher gearbeitet. Es wäre deshalb unverantwortlich,
wenn sich die Innenminister der Länder weigern würden, ihren Beitrag zur politischen Aufarbeitung auch an
der Stelle zu leisten.
Der Bund hat nach dem Grundgesetz die Alleinzuständigkeit zur Regelung der Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden. Offenbar sind sich manche Länderdienststellen nicht der Verantwortung bewusst, die
ihnen der Bund durch das derzeitige sehr länderfreundliche Verfassungsschutzgesetz einräumt. Das Bundesamt
für Verfassungsschutz hat allerdings schon jetzt sehr
weitreichende Kompetenzen, auch Informationen aus den
Bundesländern einzuziehen. Hier erwarte ich im Ausschuss erheblich mehr Informationen.
Das Nebeneinander der Sicherheitsbehörden, die unverhohlene Verteidigung von Ressortegoismen und auch
von Kompetenzen im Bund-Länder-Verhältnis muss auf
Hartfrid Wolff ({1})
den Prüfstand. Wer nicht kooperiert, schafft Sicherheitslücken. Das war bei der Beobachtung der SauerlandGruppe so, und das ist in diesem Fall leider auch so. Wir
brauchen eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung der Länder.
Meine Damen und Herren, die bisherigen Initiativen
des Bundesinnenministers für ein gemeinsames Abwehrzentrum und die Zusammenführung von Daten weisen in
die richtige Richtung. Weitere, vor allem auch organisatorische Maßnahmen, insbesondere in Zusammenarbeit
mit den Ländern, sind nötig.
Der Untersuchungsausschuss hat die Aufgabe, zu ermitteln, welche Fehler gemacht wurden. Nur so können
wir verhindern, dass sich Derartiges wiederholt. Die
FDP wird auf der lückenlosen Aufklärung bestehen und
konsequent und konstruktiv im Ausschuss mitarbeiten.
({2})
Das Wort hat nun Petra Pau für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Innenausschuss des Bundestages hat sich mehrfach mit
der Nazimordserie der sogenannten Zwickauer Zelle befasst. Stets waren Vertreter des Innenministeriums, des
Bundeskriminalamtes, des Verfassungsschutzes, der Bundesanwaltschaft und weiterer Behörden dabei. Es ging um
Aufklärung. Das hofften wir.
Den mageren Ertrag fasste der Kollege Wolfgang
Bosbach, CDU, so zusammen: Die was wissen, die kommen nicht. Die, die kommen, wissen nichts. Und die, die
was wissen und dennoch kommen, die sagen nichts. Prägnanter kann man kaum bündeln, warum wir nun diesen Untersuchungsausschuss brauchen.
({0})
Es sei an zwei Zitate erinnert, beide vom Präsidenten
des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Heinz Fromm
meinte, die Nazimordserie sei eine „Niederlage für die
Sicherheitsbehörden“, und er räumte ein:
Wir haben die jetzt bekannt gewordenen Täter nicht
wirklich verstanden. … Dabei hätte man es besser
wissen können.
Folglich muss der Untersuchungsausschuss auch der
Frage nachgehen, warum der Rechtsextremismus so beharrlich unterschätzt wird. Zehn Menschen mussten dies
mit ihrem Leben bezahlen. Ich korrigiere mich: seit 1990
mehr als 150 Menschen. Ich denke: Der Bundestag
schuldet ihnen und all ihren Angehörigen eine vorbehaltlose Aufklärung.
({1})
Rechtsextremismus ist eine Gefahr für Leib und Leben. Fragen Sie Initiativen, die sich täglich gegen
Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus engagieren. Sie haben längst das Wissen und die Kompetenz, die die Familienministerin, Kristina Schröder, nun
plötzlich mit einer staatlichen Extrabehörde schaffen
möchte. Viel besser wäre es, diese Initiativen nicht ständig infrage zu stellen, nicht politisch und auch nicht finanziell.
({2})
Der Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich, hat
recht, wenn er ermahnt: Der Kampf gegen Rechts ist
eine „Daueraufgabe der gesamten Gesellschaft“. Ich
frage mich allerdings, warum die Regierung dagegen
seit Jahren Knüppel streut.
Es ist gut, dass sich nun alle Fraktionen weitgehend
einvernehmlich auf einen Untersuchungsausschuss geeinigt haben. Allerdings - das spielte eben schon eine
Rolle - ist die Gefahr noch nicht gebannt, dass sich maßgebliche Behörden auf ein angebliches Aussageverweigerungsrecht zurückziehen. Wir kennen das auch aus anderen Untersuchungen. Ich hoffe also, dass die Appelle
der Kollegen Altmaier, Wolff und anderer auf fruchtbaren Boden fallen. Sollte dies aber nicht der Fall sein: Die
Linke hat alle einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts parat. Deutlicher gesagt: Wir sind vorbereitet, das Kontrollrecht des Parlamentes gegenüber den
Bundesbehörden notfalls auch in Karlsruhe durchzusetzen.
({3})
Nun gibt es noch einen weiteren Streit, nämlich den
über die zahlmäßige Stärke des Untersuchungsausschusses. Im Angebot sind 8, 11 oder 15 Mitglieder. CDU/
CSU, FDP und SPD neigen zu 11 Abgeordneten. Das
klingt wie der goldene Mittelweg, ist es aber nicht. Deshalb sage ich allen interessierten Zuhörern: Bei 8 oder
15 Mitgliedern hätten Grüne und Linke zusammen ein
eigenes Beweisantragsrecht. Bei 11 Ausschussmitgliedern wären beide Fraktionen drittrangig. Ich finde, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ein Elferrat ist kein Beleg für
Souveränität.
({4})
Abschließend noch zwei persönliche Bemerkungen:
Sie, Herr Bundesinnenminister Friedrich, sind aktuell
mehrfach zur Überwachung der Linken durch den Verfassungsschutz befragt worden, ganz allgemein, aber
auch konkret nach der Vizepräsidentin des Bundestages
Petra Pau, also mich. Sie haben darauf mit einem Verweis auf die NPD reagiert. Ich finde es unverschämt,
mich mit diesem braunen Gesindel auch nur ansatzweise
zusammen zu denken.
({5})
Es mag sein, dass Sie schlecht beraten waren. Es mag
sein, dass Sie in Erklärungsnot waren. Aber eine solche
infame Unterstellung weise ich persönlich enttäuscht
und strikt zurück.
({6})
Deshalb will ich auch daran erinnern: Die Nazis kamen 1933 nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark
war, sie wurden mächtig, weil Demokratinnen und Demokraten zu schwach und zerstritten waren. Diese Lehre
aus der Geschichte sollte endlich auch bei Behörden und
Ministern ankommen.
({7})
Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Morde der rechtsterroristischen Mundlos-ZschäpeBande haben Deutschland erschüttert. Das Erschütternde
ist, dass Menschen sterben mussten, weil die Sicherheitsbehörden in unserem Land versagt haben. Die
Morde hätte man verhindern können, wenn man die Täter verfolgt, verhaftet und vor Gericht gestellt hätte. Das
ist eine Tragödie, die nicht wiedergutzumachen ist. Das
Vertrauen in unseren Rechtsstaat ist bei Teilen unserer
Bevölkerung dadurch nachhaltig erschüttert worden.
Das Institut für Migrations- und Politikforschung der
Universität Ankara hat festgestellt: Viele türkische Migranten haben durch diese Vorgänge das Vertrauen in
den deutschen Rechtsstaat verloren. 55 Prozent glauben,
dass die Rechtsterroristen vom deutschen Staat beschützt
oder gar gefördert wurden. Wenn man sich die Informationen der letzten Wochen anschaut, kann man sagen:
Diese Annahme ist nicht gänzlich falsch. Natürlich war
es nicht der Staat selbst, aber einige seiner Beamten haben versagt, haben diese Bande indirekt geschützt und
ihr sogar Geld zukommen lassen.
Deshalb ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestag
heute mit allen fünf demokratischen Fraktionen - ich betone das - diesen Untersuchungsausschuss gemeinsam
einsetzt. Nur ein Untersuchungsausschuss kann Zeugen
unter Wahrheitspflicht vorladen und sie zwingen, zu sagen, was sie wissen, damit alles auf den Tisch kommt.
Ich war nie gegen eine Bund-Länder-Kommission, in der
die Exekutive sie selbst betreffende Vorgänge selbst aufklärt und schaut, welche ihrer Fehler sie sich zurechnet
und welche davon sie der Öffentlichkeit präsentieren
will. Solch eine Kommission kann aber eine parlamentarische Untersuchung nicht ersetzen. Sie kann allenfalls
Unterstützung bei der Aufklärungsarbeit leisten. Wenn
sie konstruktiv arbeitet, nehmen wir die Informationen
gerne entgegen.
({0})
Ich bin froh, dass es jetzt diese Gemeinsamkeit bezüglich des Untersuchungsausschusses gibt; denn das
war im Dezember 2011 noch nicht so. Wir mussten heftig kämpfen und Überzeugungsarbeit leisten, dass dies
der richtige Weg ist. Wir hatten auch Diskussionen über
den Auftrag; einige Formulierungen hätten uns viele
Steine in den Weg gelegt. Es ist gut, dass wir heute Konsens feststellen und das Anliegen gemeinsam tragen.
Aber wenn tatsächlich Konsens herrscht, dann frage
ich Sie: Warum fürchtet jemand das gemeinsame Beweisantragsrecht von zwei kleinen Fraktionen, damit sie vollständig und gleichberechtigt, also auf Augenhöhe, im
Untersuchungsausschuss mitwirken können? Wir stellen dazu Änderungsanträge. Ich finde, Sie sollten Ihrem
Herzen einen Ruck geben. Sie haben zwei Möglichkeiten: Sie können den Untersuchungsausschuss größer
oder kleiner machen. Auf beiden Wegen kommen Sie zu
dem Ergebnis, dass diese beiden Fraktionen das Beweisantragsrecht erhalten.
({1})
Wenn Sie das nicht tun, sollten Sie sich aber verpflichten, diesen Anträgen jeweils stattzugeben; ansonsten versuchen Sie, durch einen Trick bei der Zusammensetzung die vorbehaltlose Aufklärung zu verhindern.
({2})
Wir müssen vorbehaltlos aufklären, wir müssen Fragen
stellen. Wir müssen zum Beispiel fragen, wie es sein
konnte, dass man 14 Jahre lang eine Mörder- und Bankräuberbande aus dem Nationalsozialistischen Untergrund nicht gefunden und ergriffen hat, ihnen nicht
nachgesetzt hat. Wie konnte es sein, dass der Vater einer
dieser Terroristen vom Verfassungsschutz angerufen
wurde und ihm gesagt wurde, er solle nur von einer Telefonzelle aus anrufen, wenn er Kenntnis von Aufenthaltsorten seines Sohnes hat, ansonsten höre auch die Polizei
zu? Wie kann es in einem Rechtsstaat sein, dass der Verfassungsschutz Mörder und Terroristen vor polizeilicher
Verfolgung schützen will? Das ist doch unmöglich!
Unmöglich ist auch, dass man lange Zeit die Opfer zu
Tätern gemacht hat, indem man das irre Wort „DönerMorde“, das Unwort des Jahres 2011, verwendet hat. Es
haben nicht Döner gemordet, und es sind auch nicht Döner ermordet worden, sondern es sind Menschen mit
Migrationshintergrund von deutschen Rassisten und
Rechtsextremisten angegriffen worden. In dieser Richtung hat man aber nicht gesucht, weil man in den zuständigen Behörden offensichtlich bestimmte Vorurteile
hatte, was dazu geführt hat, dass man in die falsche
Richtung ermittelt hat.
Volker Beck ({3})
Auch kriminalistisch ist vieles falsch gelaufen. Man
hat Beweise, die bei Anschlägen sichergestellt worden
sind, vernichtet. Hätte man sie zusammengefügt und
zum Beispiel das Material der Rohrbomben, die in den
Jahren 2003 und 2004 explodiert sind, verglichen, hätte
man gemerkt, dass es hier einen Tatzusammenhang gegeben hat. All das hat man aber nicht getan.
Notwendig ist eine tiefgreifende Analyse. Wir müssen überprüfen: Was läuft beim Informationsaustausch
falsch: zwischen Polizei und Geheimdienst,
({4})
zwischen Bund und Ländern
({5})
und zwischen den Ländern?
({6})
Wir müssen uns aber auch fragen: Was für eine Mentalität herrscht in manch einer Behörde, wenn es dazu kommen kann, dass man so grundsätzlich falsch ermittelt
und falsch vorgeht? Das sind wir den Menschen im
Lande schuldig.
Ich denke, durch eine vorbehaltslose Aufklärung können wir viel Vertrauen in den Rechtsstaat zurückgewinnen, wenn wir im Anschluss die Pannen und Strukturprobleme unserer Sicherheitsbehörden entsprechend den
Empfehlungen der Kommission beheben. Wir wollen
daran gerne mitwirken. Ich hoffe in der Tat, dass es in
diesem Ausschuss nicht zu Streit zwischen den Fraktionen bzw. zwischen Opposition und Koalition kommt,
sondern dass alle vorbehaltlos an der Aufklärung mitwirken. Das sind wir den Opfern und deren Angehörigen
schuldig.
({7})
Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Mordserie hat uns alle erschüttert. Am 22. November letzten Jahres hat der Deutsche Bundestag gemeinsam ein Zeichen gegen diese schrecklichen Verbrechen gesetzt. Heute setzt der Deutsche Bundestag wieder
ein Zeichen, indem er gemeinsam, getragen von allen
Fraktionen, einen Untersuchungsausschuss einsetzt. Von
Untersuchungsausschüssen sind wir aus der Vergangenheit gewohnt, dass sich sehr schnell ein klassisches Rollenverständnis entwickelt: die Opposition auf der einen
Seite, die Regierung auf der anderen Seite. Die Fraktionen spielen also auch dort eine Rolle.
Dieser Ausschuss wird nicht so sein;
({0})
dafür kann man, wie ich glaube, schon heute garantieren.
Er wird gemeinsam versuchen, diese schreckliche Mordserie aufzuklären und herauszufinden, wo es Versäumnisse gab. Eines muss uns klar sein: Wir müssen alles
Mögliche tun, damit sich solch eine Verbrechensserie in
unserem Land nicht wiederholen kann. Das ist unsere
gemeinsame Aufgabe.
({1})
Wenn der Untersuchungsausschuss mit seiner Arbeit und
den Erkenntnissen, die er gewinnt, dazu einen Beitrag
leistet, dann hat er seinen Auftrag erfüllt, nicht mehr und
nicht weniger.
Von einigen Rednern haben wir schon gehört: Neben
dem von uns einzusetzenden Untersuchungsausschuss
gibt es eine Bund-Länder-Kommission, die die Innenminister der Länder und der Bundesinnenminister eingesetzt haben; das ist völlig in Ordnung. Auch in Thüringen gibt es einen Untersuchungsausschuss. Ebenfalls in
Thüringen wurden schon eine Kommission und ein Sonderermittler eingesetzt. Das ist kein Widerspruch. Es ist
das legitime Recht der Länder - vielleicht sogar ihre
Pflicht -, auch in ihrem Verantwortungsbereich Aufklärung zu betreiben.
Wir alle, die wir in diesem Gremium mitarbeiten,
sind, glaube ich, gut beraten, nicht gegeneinander, sondern miteinander zu arbeiten. Wir müssen einen Weg
finden, zu ermöglichen, dass die verschiedenen Gremien
ihr Wissen austauschen. Außerdem müssen wir vermeiden, dass wir uns gegenseitig ins Gehege kommen.
Vereinzelt wurde gefragt, ob Vertreter der Länder
überhaupt kommen müssen und ob vonseiten der Länder
überhaupt Akten bereitgestellt werden müssen, wenn wir
sie darum bitten.
Frau Kollegin Pau, ich will hier gar nicht so sehr auf
rechtliche Fragen und darauf eingehen, ob man darauf
klagen müsste.
({2})
Das wäre mir schon fast ein Schritt zu weit. Ich will eines deutlich machen: Es mag vielleicht keine Verpflichtung geben, zu kommen,
({3})
aber es ist auch nicht verboten, dass man uns zur Aufklärung in der Sache zur Verfügung steht, wenn wir darum
bitten.
({4})
Ich will dieses Angebot ausdrücklich machen, und ich
bin sehr zuversichtlich, dass wir, wenn wir als Ausschuss gemeinsam agieren, hier im Interesse der gemein18546
samen Aufklärung zu einem guten Weg kommen werden.
Alles andere wäre den Bürgern dieses Landes auch
nicht zu vermitteln. Es wäre den Bürgern nicht zu vermitteln, wenn wir uns bei der Aufklärung auf Formalien
wie Zuständigkeiten zurückziehen würden, während alle
hier diese schreckliche Mordserie zu Recht beklagen und
sagen, das dürfe sich nicht wiederholen. Ich glaube, deshalb wird es dazu auch nicht kommen.
({5})
- Ich würde sie zulassen, aber ich warte auf das Signal
des Präsidenten.
Bitte schön, Herr Ströbele.
({0})
Ich danke sowohl dem Präsidenten als auch dem Redner, Herrn Binninger.
Es wird ja hier den ganzen Tag darüber diskutiert
- auch in den Medien -, welche Möglichkeiten und
Rechte der Untersuchungsausschuss eigentlich hat und
ob der Untersuchungsausschuss außer Bundesbehörden
und der Bundesregierung auch aus den Ländern Zeugen
laden und Beweismittel und Akten beiziehen kann.
Hier erlaube ich mir den Hinweis auf das Untersuchungsausschussgesetz, das dieser Deutsche Bundestag
ja verabschiedet hat. Darin steht das ausdrücklich. Wir
haben uns damals, als wir den entsprechenden Gesetzentwurf formuliert haben, ja auch über solche Fälle wie
den jetzigen Fall Gedanken gemacht. Bundesbehörden
werden dort ausdrücklich genannt, aber darin steht auch
ganz allgemein, dass der Parlamentarische Untersuchungsausschuss Gerichte und Behörden, und zwar nicht
nur Gerichte und Behörden auf Bundesebene, zur Amtshilfe verpflichten kann. Das gilt gerade auch für die Beiziehung von Beweismitteln und Akten. Das steht also im
Gesetz. Das heißt, wir haben eine gute und verlässliche
gesetzliche Grundlage, auf der wir arbeiten können.
({0})
Ich frage Sie, ob Sie das beruhigt und ob Sie mir recht
geben können, dass wir auf dieser Grundlage sehr optimistisch sein können, dass die Aufklärung klappen wird.
Herr Kollege Ströbele, es kommt sicher selten vor, dass
mich eine Frage von Ihnen beruhigt, aber in diesem Fall
Ihres Verweises auf die Rechtslage, die mir bekannt ist,
kann ich das bejahen. Ich wollte bewusst nicht diese rechtliche Debatte führen, weil ich denke: Noch schöner, als
sich über rechtliche Fragen zu streiten - eine ähnliche Bestimmung gibt es ja im Gesetz über die parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes;
hier gibt es teilweise unterschiedliche Auffassungen, wie
das unter Juristen nun einmal häufig üblich ist -, wäre es,
auf den Konsens zu setzen. Das tun wir, und das sollte
auch das Signal sein, das von den heutigen Debattenbeiträgen ausgeht. Ich glaube auch, dass das gelingt.
Wir werden in diesem Untersuchungsausschuss verschiedene Fragen stellen müssen. Auch das ist hier heute
Nachmittag schon angeklungen. War der Informationsaustausch zwischen Bundes- und Landesbehörden richtig organisiert? Das gilt übrigens auch für den Informationsaustausch zwischen dem Verfassungsschutz und der
Polizei. Verbunden damit stellt sich die Frage, ob das,
was wir heute einfordern, damals überhaupt schon rechtlich zulässig gewesen wäre. Wir müssen auch die Frage
stellen: Wie konnte es passieren, dass dieses Trio, das
mit Haftbefehl gesucht wurde, 1998 abtauchen konnte?
Warum ist es über drei Jahre hinweg nicht gelungen, den
Standort zu entdecken und dieses Trio festzunehmen?
Warum ist es 2000, als die Mordserie begann - 2001 waren schon vier Morde passiert -, nicht gelungen, auch
nur einen Hinweis zu finden, mit dem eine Verknüpfung
zwischen dieser Mordserie und diesem Trio hätte ermöglicht werden können? Oder gab es sie und wurden sie
falsch bewertet?
Diesen Fragen müssen und werden wir uns stellen.
Wir werden dabei sicher auch an den Punkt kommen,
dass wir die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden
bewerten müssen. Ich sage hier ganz deutlich: Wenn wir
im Ausschuss feststellen, dass die Sicherheitsarchitektur
unseres föderalen Systems bei solch komplexen Verbrechen mit terroristischem Hintergrund, die mehrere Bundesländer betreffen, an die Grenzen des Möglichen
kommt, dann müssen wir das auch benennen und auch
aufzeigen, wo vielleicht Veränderungen notwendig sind.
Alles andere wäre der falsche Weg.
({0})
Wir werden uns auch damit zu befassen haben, welche Rolle V-Leute gespielt haben. Das haben wir ausdrücklich in den Untersuchungsauftrag aufgenommen,
um zu erfahren: Hätte es hier einen Weg gegeben, oder
ist dieses Instrument in jeder Hinsicht nur sehr begrenzt
geeignet? So werden wir die Arbeit der Behörden insgesamt zu bewerten haben. Wir haben auch die Möglichkeit, wenn wir es für notwendig erachten sollten, Ermittlungsbeauftragte einzusetzen. Ob wir das brauchen,
werden wir sicher gemeinsam festlegen können. Zum
jetzigen Zeitpunkt sehe ich das noch nicht, aber es mag
auf der Strecke durchaus notwendig sein.
Jetzt etwas zur Zusammenarbeit, die hier ein paar Mal
angesprochen wurde, und zu Ihren beiden Anträgen zur
Größe des Gremiums. Die Begründung ist richtig: Wenn
die Größenverhältnisse anders wären, dann hätten zwar
nicht Sie allein, aber gemeinsam mit der anderen kleineren Oppositionsfraktion ein Antragsrecht. Seien wir
ganz offen: Wenn wir, die wir hier heute Nachmittag anwesend sind, sagen: „Das machen wir gemeinsam“, ist
es genauso gut denkbar, dass wir sagen: Wir unterstützen
auch Beweisanträge der Grünen und, wenn sie vernünftig sind, auch die der Linken. Das ist nicht ausgeschlossen.
Ihre Vorstellung, Sie könnten nur agieren, wenn Sie
eine entsprechende Größe hätten, weil Sie der SPD, der
CDU/CSU oder der FDP nicht trauen, ist genau das Denken, das wir in diesem Ausschuss nicht wollen.
({1})
Wir agieren gemeinsam. Wenn Ihre Anträge sinnvoll
und berechtigt sind, werden sie an uns nicht scheitern.
Dazu brauchen wir aber keine anderen Größenverhältnisse.
({2})
- Ja, Sie dürfen mich beim Wort nehmen. Ich will ganz
persönlich sagen: Die Zusammensetzung dieses Untersuchungsausschusses mit den Kollegen, die ich namentlich kenne, stimmt mich da sehr zuversichtlich. Wir kennen und schätzen uns größtenteils seit vielen Jahren aus
den Ausschüssen. Manche kennen sich noch nicht so
lange, aber die meisten kennen sich seit vielen Jahren.
Bei aller Unterschiedlichkeit vertrauen wir uns auch.
Das sollte es noch mehr als sonst möglich machen, dass
wir hier zusammenarbeiten, und zwar im Interesse der
Sache der Aufklärung, im Interesse des gemeinsamen
Kampfes gegen den Rechtsextremismus, im Interesse,
dass wir hier einen kleinen Beitrag zur Sicherheit aller
Bürgerinnen und Bürger hier in unserem Land leisten.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Sebastian Edathy für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ja, Rechtsextremismus ist Realität in unserem
Land. Nein, das ist eine Realität, die wir als Demokratinnen und Demokraten niemals, weder heute noch in Zukunft, als Normalität akzeptieren dürfen.
({0})
In den letzten zehn Jahren hat es im Grunde zwei Tendenzen in der Entwicklung des Rechtsextremismus in
Deutschland gegeben: zum einen eine deutliche Verjüngung der Akteure. Wir haben es fast gar nicht mehr mit
Ewiggestrigen zu tun, sondern mit erschreckend jungen
Neugestrigen. Zum anderen ist eine wachsende Gewaltbereitschaft zu beobachten. Das spiegelt sich in der deutlich gestiegenen Zahl von Neonazi-Kameradschaften,
aber auch in dem Aufkommen einer Bewegung wider,
die sich selber als „Autonome Nationalisten“ bezeichnet.
Nach Auskunft des Bundeskriminalamtes werden augenblicklich 159 deutsche Rechtsextremisten mit Haftbefehl gesucht. Das sind erschreckende Befunde. Man
wird auch im Untersuchungsausschuss die Frage stellen
müssen: Gab es denn wirklich vor der viel zu spät erfolgten Identifizierung der sogenannten Zwickauer Terrorzelle keine Hinweise auf rechtsterroristische Bestrebungen?
Ich erinnere an 2003. Da hat eine süddeutsche Neonazi-Kameradschaft Anschläge in München geplant. Sie
konnten Gott sei Dank verhindert werden. Die Beteiligten sind wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung
verurteilt worden. Es ist also nicht so, dass es keine Vorläufer, wenn auch in anderer Qualität, gegeben hat.
Wie also war es möglich, dass die Zwickauer Zelle
jahrelang mordend und raubend durchs Land ziehen
konnte, ohne dass ein Zusammenhang zwischen den Taten erkannt wurde und ein Zugriff erfolgte? Hätte man
seitens der Sicherheitsbehörden mehr wissen können,
mit vorhandenem Wissen anders umgehen müssen oder
anders handeln können? Wie war es eigentlich in den zuständigen Behörden um Expertise, aber auch um Sensibilität für das Thema Rechtsextremismus bestellt?
Eine weitere Frage ist - darin gebe ich Herrn
Binninger recht -: Ist die Sicherheitsarchitektur in
Deutschland so ausgestaltet, dass sie den Herausforderungen durch einen sich verändernden Rechtsextremismus noch wirksam begegnen kann? Nicht zuletzt wird
uns im Ausschuss auch die Frage beschäftigen, welche
Schlussfolgerungen sich aus möglichen Defiziten im
Handeln und in der Kooperation unserer Behörden ergeben.
Diesen Fragen nachzugehen sind wir nicht nur dem
Andenken der Opfer und auch nicht allein den Hinterbliebenen schuldig. Diesen Fragen nachzugehen sind wir
der ganzen Gesellschaft gegenüber schuldig und, ja, gerade auch unserer eigenen Selbstachtung als Demokratinnen und Demokraten in der Bundesrepublik.
({1})
Wer aus rassistischen Motiven willkürlich Mitbürger
in diesem Land angreift, der greift immer zugleich auch
unser aller demokratisches Selbstverständnis an. Deshalb
geht es bei der Arbeit in diesem Untersuchungsausschuss
im Kern um die Funktionsfähigkeit des demokratischen
Rechtsstaats. Nur ein funktionierender demokratischer
Rechtsstaat wird das Vertrauen seiner Bürgerinnen und
Bürger finden.
Es geht nicht um Schuldzuweisungen, sondern um
eine Fehleranalyse. Es geht nicht um Konfrontation; es
muss uns um Kooperation gehen. Es geht nicht um ein
Streiten zwischen den Parteien, sondern um das gemein18548
same Streiten aller Fraktionen in dem Ausschuss für unsere Demokratie.
({2})
Ich habe den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages in Anspruch genommen: Der Ausschuss, dessen Einsetzung wir heute beschließen wollen,
ist der 39. Untersuchungsausschuss seit Bestehen des
Bundestages. Es ist der erste und bisher einzige Ausschuss, der auf einem gemeinsamen Antragstext aller im
Bundestag vertretenen Fraktionen beruht. Ich finde, das
ist ein gutes Zeichen, auf das wir gemeinsam stolz sein
können.
({3})
Wir haben - das ist angesprochen worden - bereits im
November hier im Hause gemeinsam eine Resolution
verabschiedet, in der wir nicht nur unser aller Betroffenheit zum Ausdruck gebracht haben, sondern auch unsere
Verpflichtung zur Aufarbeitung des Geschehenen und
zum Ziehen von Konsequenzen aus Fehlern, die gemacht worden sind. Ich glaube, genau dieser Geist muss
die Arbeit des Untersuchungsausschusses prägen. Deswegen gehe ich übrigens auch davon aus - das richte ich
an die Adresse von Grünen und Linken -, dass wir im
Untersuchungsausschuss Beweisanträge in großem Konsens beschließen und wechselseitig Verständigung suchen werden.
Ich hoffe, wir können am Ende, wenn wir unseren Bericht vorlegen, gemeinsame Handlungsempfehlungen
vorlegen, übrigens nicht nur zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus, sondern auch zur Prävention. Ich
bin zum Beispiel ein großer Freund von Programmen,
die den Ausstieg aus der rechtsextremen Szene unterstützen. Aber noch viel besser finde ich Programme, die den
Einstieg verhindern helfen.
({4})
Bei all dem Entsetzen über das, was passiert ist, muss
man vielleicht auch eines sagen: Böhnhardt, Mundlos
und Zschäpe haben unermesslich viel Schuld auf sich
geladen, aber sie sind gewiss nicht als Rechtsextremisten
geboren worden. Wir müssen dafür sorgen, dass wir ein
Aufwachsen von jungen Menschen in unserem Land ermöglichen, in dem nicht diejenigen, die Freizeitangebote
machen, Rechte sind und die demokratische Kultur vernachlässigt wird. Das halte ich für einen sehr wichtigen
Punkt.
({5})
Demokratie ist verletzlich. Sie kann nicht vererbt,
sondern muss von jeder Generation aufs Neue erlernt
werden. Auch das sollten wir neben den repressiven
Maßnahmen im Ausschuss miteinander besprechen.
Ich möchte mit den Worten von Heinz Galinski
schließen, die uns bei unserer anstehenden wichtigen Arbeit vielleicht ein Stück Wegbegleitung sein können.
Heinz Galinski hat als Vorsitzender des Zentralrates der
Juden in Deutschland einmal gesagt: Demokratie ist kein
Geschenk. Sie muss täglich erkämpft und verteidigt werden. - Das ist eine Aufgabe, die heute genauso aktuell ist
wie damals, als uns Heinz Galinski aufgefordert hat, uns
ihrer anzunehmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Viele Redner haben es schon angesprochen:
Wir blicken auf eine Pannenserie zurück, die uns alle
fassungslos macht. Wir antworten hier mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, um aufzuklären,
wie es zu dieser Pannenserie, in deren Folge zehn Menschen ihr Leben verloren haben, gekommen ist. Wir werfen die Frage auf, ob dadurch das Vertrauen in unseren
Rechtsstaat - so hat es in diesem Jahr der Präsident des
Bundeskriminalamtes im Spiegel formuliert - fundamental erschüttert ist. Dem will ich ausdrücklich widersprechen. Der Rechtsstaat ist mehr als die Summe seiner
Sicherheitsbehörden. Die Krise, über die wir diskutieren
müssen, ist sicherlich eine Krise der Sicherheitsbehörden, weil diese in einer Zeit intensiver Beobachtung des
Terrortrios aus dem rechten Spektrum von 1998 bis 2001
verschiedene Gelegenheiten haben verstreichen lassen,
um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe festzunehmen und
so die entstandene Mordserie zu verhindern.
Zwei Fragen werden den Untersuchungsausschuss
zentral beschäftigen: Die eine Frage hat der Kollege
Edathy schon angesprochen. Ich möchte noch einmal darauf eingehen. Die Frage lautet: Warum ist es den Sicherheitsbehörden nicht gelungen, das alle Taten verbindende Motiv des Rechtsextremismus zu erkennen,
mittels dieses gemeinsamen Motivs Aufklärung zu betreiben und die Täter dingfest zu machen? Ich glaube
nicht, dass wir es uns mit der Beantwortung dieser Frage
einfach machen können. Wenn wir den Zeitraum von
1998 bis 2001 betrachten, stellen wir als Erstes fest, dass
sowohl Landeskriminalämter als auch die Bundesanwaltschaft ermittelt und gefragt haben, ob es sich bei
diesem Trio um eine terroristische Vereinigung handelt.
Dies wurde verneint.
Wir können auch nicht sagen, dass wir uns in dieser
Zeit nicht für Rechtsextremismus interessiert hätten;
denn 2003 lief das NPD-Verbotsverfahren, bei dem der
Extremismus große Aufmerksamkeit bekam. Das ist also
keine Entschuldigung. Wenn man sich den besagten
Zeitraum genau anschaut, dann stellt man des Weiteren
fest, dass das, was uns heute begegnet und fassungslos
macht, nichts Neues ist. 2001 titelte die Bild-Zeitung: Das
geheime Leben der Terroristen in Hamburg - Terrorbestie lebt acht Jahre in Deutschland. - Es geht hier um diejenigen, die von Hamburg aus die Anschläge in New
York vorbereitet haben. Obwohl wir damals wussten,
dass es islamistischen Terrorismus gibt, war es für unsere Dienste unfassbar und unvorstellbar, dass Deutschland Rückzugsraum und Vorbereitungsraum für solche
Täter ist. Da wir damals die potenziellen Täter nicht erkannt haben, weil es uns an Vorstellungskraft fehlte,
müssen wir uns heute fragen: Konnten wir uns nicht vorstellen, dass es rechtsextremistischen Terror in Deutschland gibt, und ist das ein Grund dafür, dass wir das
Motiv, das alle Taten miteinander verbindet, nicht rechtzeitig erkennen konnten? Das ist die eine Frage, mit der
sich der Untersuchungsausschuss zentral zu befassen
hat.
Bei der anderen Frage - das ist schon angeklungen geht es um die Sicherheitsarchitektur. Wie gehen wir mit
dem beobachteten Organisationsverschulden um? Informationen wurden nicht weitergegeben. Da beobachten
zwei verschiedene Polizeieinrichtungen dieselbe konspirative Wohnung. Die Täter erscheinen, werden aber
nicht festgenommen. Jeder hat seine Quellen gehütet
und Informationen nicht weitergegeben. Als die Quelle
2001 den entscheidenden Hinweis gibt, dass dieses Terrortrio genügend Geld hat, dass es keine Geldsorgen
mehr hat - in den Jahren zuvor wurde das genaue Gegenteil berichtet -, werden die Ermittlungen eingestellt,
und es passiert gar nichts mehr, und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt in Chemnitz bereits zwei Banküberfälle
begangen wurden, durch die Herr Mundlos, Frau
Zschäpe und Herr Böhnhardt mit ausreichend Geld versorgt wurden. Ermittlungen fanden aber nicht mehr statt.
Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, wie dieses Organisationsverschulden aufzulösen ist und warum
sich die Behörden nicht in ausreichendem Maße gegenseitig informiert haben. Auch das sind zentrale Fragen,
die wir im Rahmen des Untersuchungsausschusses klären müssen.
Der Untersuchungsausschuss wird eingesetzt, weil
wir eine Verpflichtung gegenüber den Opfern haben. Wir
können uns bei ihren Angehörigen nur dafür entschuldigen, dass das, was in den vergangenen zehn Jahren passiert ist - das betrifft auch die Verdächtigungen der Angehörigen -, schlecht war. Wir müssen aber auch sagen:
Wir können jetzt nur das tun, was wichtig ist. Das heißt,
wir müssen aufklären. Wir müssen diejenigen, die geholfen haben, zur Rechenschaft ziehen und dafür sorgen,
dass sie verurteilt werden. Wir müssen aus den Ergebnissen des Untersuchungsausschusses Konsequenzen ziehen. Es kann nicht sein, dass es in Deutschland immer
wieder verschiedene Organisationen, Behörden und
Stäbe gibt, die sich überlegen, wie man die Sicherheitsarchitektur neu organisieren kann - zuletzt war das die
Werthebach-Kommission -, aber alle diese Vorschläge
in den Schubladen verschwinden, weil die Behörden
selbst entscheiden und sie eigentlich keine Änderung
wünschen. Das kann nicht die richtige Antwort sein.
({0})
Insofern wünsche ich uns, dass der Untersuchungsausschuss gute Vorschläge macht, die nicht in den
Schubladen, sondern im Gesetzblatt landen.
Vielen Dank.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wolfgang Wieland das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stünde
ich hier als Anwalt, würde ich sagen: „Ich schließe mich
den richtigen Ausführungen des Kollegen Binninger
vollinhaltlich an“, und mich wieder hinsetzen. Aber dafür habe ich nicht drei Minuten Redezeit erstritten. Aus
der Verlegenheit hilft mir, wie so oft, der Kollege Uhl.
({0})
- Ja, er kommt nach mir, aber ich ziehe ihn vor.
({1})
- Ich weiß immer, was er sagen wird, weil er so berechenbar ist. - Aber an einem Freitag, dem 13. - das Datum entschuldigt nicht alles -, erklärte er im Deutschlandradio wörtlich:
Ich halte bei allem Aufklärungsverlangen das Instrument des Untersuchungsausschusses in diesem
Fall für falsch. Es ist nämlich auch ein Kampfinstrument der Opposition gegen die Regierenden.
Ich selbst war ja Vorsitzender des Visa-Untersuchungsausschusses …
Unvergessen, Herr Kollege Uhl.
({2})
Aber hier weiß ja die SPD gar nicht, ob sie auf der
Ankläger- oder auf der Verteidigerseite steht …
So weit der Kämpfer Uhl, der aus diesem alten
Schema, Herr Kollege Binninger, gedanklich noch nicht
herausgetreten ist. Wir werden gleich sehen, ob er seitdem Fortschritte gemacht hat, Fortschritte im Lernprozess;
({3})
denn wenn es auch richtig ist - das geben wir zu -, dass
die Rollenfindung der SPD einige Zeit gedauert hat und
die Erleuchtung wohl erst unter dem Weihnachtsbaum
gekommen ist,
({4})
so zählt doch das Ergebnis. Das Ergebnis ist: Wir werden einen vollwertigen Untersuchungsausschuss bekommen, der auf nichts und niemanden mit seinen Untersuchungen zu warten hat und der im Untersuchungszweck
und seinen Möglichkeiten einzig der Verfassung verpflichtet ist. Das wollten wir so, und deswegen sind wir
heute sehr zufrieden, dass dieser Ausschuss eingesetzt
wird.
({5})
Natürlich hat ein Untersuchungsausschuss immer einen Doppelcharakter. Da sind wir nicht blauäugig. Aber
ich sehe genauso wie Ihr Kollege, dass hier eine Chance
besteht; denn es interessiert wirklich nicht ernsthaft, ob
ein Landesinnenminister wo auch immer vor 15 Jahren
versagt hat. Vielmehr interessieren diesmal die strukturellen Fragen. Diesmal interessiert die Frage, die der
Kollege Ahrendt zu Recht aufgeworfen hat, nämlich warum man bei dieser Mordserie nicht den gedanklichen
Sprung gemacht hat; denn das BKA hatte auch die Hypothese, dass Fremdenhass als Motiv infrage komme.
Warum hat man dann nicht den Sprung gemacht und
nach bekannten und untergetauchten Rechtsextremisten
gesucht? Warum hat das alles nicht funktioniert?
Das ist das, was der türkische Bevölkerungsteil wissen muss. Er ist sehr misstrauisch und sehr beunruhigt.
Deshalb müssen wir gute Ergebnisse bringen.
Abschließend sage ich in Richtung der Länder: Wir
leben hier nicht mehr im Deutschen Bund; wir leben in
einem Bundesstaat mit klar festgelegten Rollen. Jeder
Bürger der Bundesrepublik hat vor einem Untersuchungsausschuss zu erscheinen und auszusagen, und
wenn er in seiner Aussage beschränkt wird, ist das gerichtlich überprüfbar. Ich will hier nicht drohen; ich bin
auch sehr optimistisch, dass wir gut arbeiten können;
aber im Ergebnis wird das Recht auf unserer Seite sein.
Vielen Dank.
({6})
Vom Kollegen Wieland freundlicherweise schon angekündigt, hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für
die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Geschätzter Kollege Wieland,
({0})
Sie werden sich noch wundern, wie ich auf meine alten
Tage noch aus meinem alten Kampfschema herauskommen kann.
({1})
Ich werde stellvertretendes Mitglied in diesem einzusetzenden Untersuchungsausschuss sein und werde immer
wieder einmal vorbeischauen, um zu sehen, ob das, was
Sie prognostiziert haben, zutrifft, dass nämlich dieser
Untersuchungsausschuss kein Kampfinstrument der Opposition sein wird. Man würde sich ja auch sofort fragen:
Welcher Opposition eigentlich - der in Thüringen, der
in Sachsen, der in Brandenburg, oder wo auch immer
diese Dinge eine Rolle spielen?
({2})
- Auch in Bayern. Ja, eben.
({3})
Wir werden auch klären und, wie ich hoffe, Antwort
auf die Frage finden, wo durch wen und vor allem wann
welche Fehler gemacht wurden, die dazu geführt haben,
dass auch in Bayern fünf Morde nicht aufgeklärt werden
konnten und dass dieses für diesen Rechtsstaat durchaus
schlimme Ergebnis herauskam, das zu dem unsäglichen
Vorwurf führte, die Sicherheitsbehörden seien auf dem
rechten Auge blind. Das dürfen wir nicht stehen lassen.
Es gibt keinen schlimmeren Vorwurf für Deutschland als
diesen.
({4})
Auf dem rechten Auge haben wir nicht blind zu sein. Es
muss geklärt werden, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte.
Herr Wieland, ich gebe Ihnen und auch anderen
Recht, dass wir es hier vor allem mit einem Problem zu
tun haben, das in der Natur unserer Bundesrepublik
Deutschland zu suchen ist, nämlich in der föderalen
Grundstruktur. Eine Zeitung hat dazu sogar kürzlich eine
Zeichnung gemacht und sie mit „Der Irrgarten“ überschrieben. Da sind die Sicherheitsbehörden in Deutschland und ihre Aufsichten zu sehen: 16 Landeskriminalämter, 16 Landesämter für Verfassungsschutz, darüber
die entsprechenden Bundesämter, Kontrollgremien usw.
usf. Ich gebe zu, dass in einem zentralistisch aufgebauten Staat vom Typ Frankreichs, wo alles in Paris zusammenläuft, solche Dinge nicht passieren können.
({5})
In der Bibel heißt es: „Am Anfang war das Wort, und
das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Am Anfang dieser Republik standen die Besatzungsmächte.
Diese haben gesagt: So etwas wie die OrganisationsDr. Hans-Peter Uhl
struktur des Dritten Reichs nie mehr! - Oder: Jetzt nicht
mehr.
({6})
Das Ergebnis waren die Trennung von Verfassungsschutz und Polizei und der föderale Aufbau mit mittlerweile 16 Bundesländern. Die Folgeprobleme haben wir
in diesem Fall natürlich zu lösen.
Ich denke, dass Innenminister Hans-Peter Friedrich
recht hatte, als er gleich zu Anfang, im letzten Jahr noch,
in der Innenministerkonferenz den Landesinnenministern gegenüber sehr deutlich geworden ist und gesagt
hat: So kann das nicht weitergehen; diese Strukturdefizite, die in der Natur der Sache liegen, müssen wir überwinden, und wir müssen für mehr Zusammenarbeit sorgen. Das wird bei diesem Untersuchungsausschuss
immer wieder im Mittelpunkt stehen.
Wir werden, so hoffe ich, auch aufklären können - ich
glaube, das Ergebnis schon in etwa skizzieren zu können -, dass man nicht sagen kann, dass das Nazidenken
wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei
und dass diese zehn Morde dafür ein Beleg seien. Das ist
wirklich eine völlig falsche Schlussfolgerung.
Was wir natürlich wissen wollen, ist: Wie groß ist der
braune Sumpf? Mit wem haben die drei kommuniziert?
Von wem haben sie Hilfe erlangt? Wen haben sie um
Hilfe gebeten? Dazu wäre es natürlich hilfreich, die vielen festgestellten Kommunikationsmittel auswerten zu
können und zu sehen, mit wem per E-Mail, per Computer, per Handy oder wie auch immer kommuniziert
wurde. Dann wüssten wir sehr viel mehr. Jetzt muss der
herkömmliche Weg beschritten werden, der natürlich
schwierig ist.
Ich fürchte, jeder muss an sich arbeiten, damit wir aus
dem Untersuchungsausschuss keinen Bund-LänderKonflikt machen. Die Länder sind natürlich eifersüchtig
darauf bedacht - das weiß jeder, der sie und ihre Innenminister kennt; ich kenne sie seit vielen Jahren -, ihre
Kompetenzen um nichts, aber auch gar nichts zu schmälern.
({7})
- Ich sehe ihn förmlich vor mir.
({8})
Deswegen brauche ich überhaupt nichts abzustimmen.
Aber ich sehe auch Innenminister anderer Länder, egal
welcher Couleur, vor mir, die ziemlich ähnlich denken.
Ich glaube, wir werden dieses Geschäft mühsam betreiben müssen. Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt,
dass wir am Schluss sagen: Der Ausschuss wurde doch
wieder zum Kampfinstrument. Da bin ich mir noch nicht
so ganz sicher; denn wir haben ja auch ein Nebeneinander von Ermittlern und Aufklärern, die sich bei diesem
Geschäft auch gegenseitig auf die Füße treten und sagen
können: Diese Akten und diesen Zeugen brauchen wir
jetzt; den können wir nicht an euch abgeben. Dann kommen aus dem einen Gremium und aus dem anderen
Gremium vielleicht Zeugenaussagen heraus, die nicht
zusammenpassen und dann zu irgendwelchen Schlussfolgerungen einladen.
Meine Damen und Herren, das ist alles sehr kompliziert. Aber wir werden das tun müssen, weil - noch einmal - nicht stehen bleiben darf, dass wir auf dem rechten
Auge blind sind. Da sind wir uns alle einig.
({9})
Ich meine, dass wir uns bei dem Thema „Neonazis in
Deutschland“ immer wieder eines vor Augen führen
müssen: dass nationalsozialistisches Gedankengut letztlich nicht vom Staat allein bekämpft werden kann, sondern von der gesamten Gesellschaft bekämpft werden
muss.
({10})
Das heißt, wir müssen Antisemitismus durch die gesamte Gesellschaft bekämpfen. Wir müssen Ausländerfeindlichkeit durch die gesamte Gesellschaft bekämpfen.
Wir müssen jedes antidemokratische Führerdenken
durch die gesamte Gesellschaft bekämpfen.
Übrigens, dass uns das in den letzten Jahren und Jahrzehnten gelungen ist, sieht man auch daran, dass eine
NPD mit ihren eins Komma soundso viel Prozent in der
parlamentarischen Bedeutungslosigkeit verharrt - und
das ist gut so.
({11})
- Das war schon mal anders.
Ich meine, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und es ist eine Aufgabe, die uns nie verlassen wird.
Deswegen ist jedes Argumentieren „Damit muss ein für
alle Mal Schluss sein“ ein zutiefst unpolitischer Gedanke.
({12})
Mit dem nationalsozialistischen Denken kann nicht ein
für alle Mal Schluss ein. Rassistisches Denken, antisemitisches Denken, ausländerfeindliches Denken, Führergedanken wird es immer wieder in kranken Gehirnen geben; diese Gedanken muss man dann bekämpfen. Das
kann man nicht allein durch Verbote erledigen; da muss
man die Gedanken bekämpfen. Genauso verhält es sich
mit anderen extremistischen Gedanken, die wir in der
letzten Debatte behandelt haben, nämlich mit kommunistischen Fehlideen; diese müssen wir genauso bekämpfen.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8453 zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat getrennte Abstimmungen
über Abschnitt A einerseits und Abschnitt B andererseits
verlangt.
Abstimmung über Abschnitt A des Antrags auf
Drucksache 17/8453. Wer stimmt für den Abschnitt A? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Abschnitt A
ist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke einstimmig angenommen.
Abstimmung über Abschnitt B. Hierzu liegen zwei
Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/8463. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8464. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Änderungsantrag
ist abgelehnt.
Wer stimmt für Abschnitt B des Antrags? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
damit insgesamt einstimmig angenommen und der
2. Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode ist eingesetzt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Agnes Alpers, Steffen Bockhahn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Erhalt der Gedenkstätten nationalsozialistischer Vernichtungslager sicherstellen
- Drucksache 17/7028 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Sommer 2011 erreichte uns die Nachricht aus Polen,
dass die Gedenkstätte Sobibor wegen fehlender Finanzierung schließen musste. Sobibor gehörte zu den
Vernichtungslagern, die nicht so bekannt sind wie
Auschwitz oder Treblinka, aber auch dort wurden in nur
anderthalb Jahren über 250 000 Menschen ermordet.
Ich weiß, dass sich der Bund und auch die Länder am
Erhalt beispielsweise der Gedenkstätte Auschwitz beteiligen und entsprechende Vereinbarungen bis 2015 getroffen wurden, was auch wir als Linksfraktion ausdrücklich
begrüßen. Aber auch die Gedenkstätte Sobibor, eine relativ kleine Gedenkstätte, steht für den Zivilisationsbruch
der industriellen Vernichtung von Millionen Frauen,
Männern und Kindern.
Sobibor steht übrigens auch für den Widerstand der
Häftlinge. Am 14. Oktober 1943 erhoben sich die Häftlinge dieses Vernichtungslagers, und vielen gelang unter
großen Opfern die Flucht.
Es besteht, denke ich, Einigkeit hier im Hause, dass
wir nicht nur für die großen bekannten Gedenkstätten
eine Verantwortung haben, sondern auch für die nicht so
großen Gedenkstätten.
Meine Fraktion hat an die Bundesregierung die Frage
gerichtet, was Bundestag oder Bundesregierung tun können, um diesbezüglich Abhilfe zu leisten, um dafür zu
sorgen, dass die Gedenkstätte wieder ihrer Arbeit nachkommen kann. Wir haben von der Staatsministerin
Cornelia Pieper eine Auskunft bekommen, die gezeigt
hat, was in anderen Bereichen möglich ist. Einen Kritikpunkt will ich in diesem Zusammenhang aber anmelden.
Sie antworteten auf unsere Frage, was wir tun können,
um die Gedenkstätte Sobibor zu erhalten, etwas lax: Die
polnische Seite hat sich bisher nicht an die Bundesregierung mit der Bitte um Unterstützung zum Erhalt der Gedenkstätte Sobibor gewandt.
Wir müssten damit anders umgehen. Wir sollten von
uns aus fragen, ob wir dort helfen können.
({0})
Das wäre die richtige Antwort.
Ich habe erfreut zur Kenntnis genommen, dass sich
um den Kollegen Montag eine interfraktionelle Arbeitsgruppe von Abgeordneten zu diesem Thema treffen will.
Ich hoffe, dass Sie sich daran beteiligen und diese Hinweise aufnehmen werden. Frau Pieper, wir möchten,
dass Sie vonseiten der Bundesregierung aktiv bei unseren polnischen Freundinnen und Freunden nachfragen,
wie wir dort helfen können; denn das - auch da herrscht
wohl Einigkeit in diesem Hause - ist aufgrund unserer
Geschichte eine Verpflichtung.
({1})
Wir haben morgen, am 27. Januar, die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus. Gerade
in der jetzigen Zeit, da die letzten Zeitzeugen sterben,
sollte die pädagogische Arbeit insbesondere an den sogenannten authentischen Orten in Polen, wo die Vernichtungslager standen, fortgesetzt werden. Ich wünsche mir,
dass die Bundesregierung da aktiv wird.
Angesichts des morgigen Tages sollten wir uns alle an
Theodor Adorno erinnern, der zu Recht gesagt hat, Ziel
aller Pädagogik müsse es sein, dass Auschwitz sich nicht
wiederholt. Ich hoffe, dass wir als Bundestag insgesamt
in diesem Sinne bei der Unterstützung der Gedenkstätten
in Polen aktiv werden können.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Professor Monika Grütters
für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An einem
historisch bedeutsamen Datum führen wir heute diese Debatte. Wir haben vor wenigen Tagen des 70. Jahrestages
der Wannseekonferenz gedacht, und morgen, am
27. Januar, wird weltweit der Holocaustopfer gedacht. Im
Bundestag - das wissen Sie, und wir sehen dem gespannt
entgegen - wird Marcel Reich-Ranicki als einer der wenigen noch lebenden Überlebenden des Warschauer Ghettos
zu uns sprechen. Konrad Adenauer hat in einer bewegenden Rede schon 1952 daran erinnert, dass es - ich
zitiere -:
weder nur ein Heute oder Morgen gibt, sondern
eben auch ein Gestern, das das Heute und das Morgen stark, ja manchmal entscheidend beeinflusst.
Man muss das Gestern kennen, man muss auch an
das Gestern denken, wenn man das Morgen wirklich gut und dauerhaft gestalten will. Die Vergangenheit ist eine Realität. Sie lässt sich nicht aus der
Welt schaffen, und sie wirkt fort, auch wenn man
die Augen schließt, um sie zu vergessen.
({0})
So Konrad Adenauer in einer Zeit, 1952, als die Erinnerung noch viel lebendiger war, als sie jetzt für uns,
60 Jahre später, ist. Wenn wir der Opfer gedenken, tun
wir das im vollen Bewusstsein der außerordentlichen
Verantwortung Deutschlands.
Herr Kollege Korte, Ihr Antrag betrifft das ehemalige
KZ Sobibor in Polen. Es ist heute - Sie haben gesagt,
das sei klein - eine wichtige Stätte des Gedenkens an die
nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie. Diese
Gedenkstätte muss erhalten, gepflegt und finanziert werden. Daran besteht kein Zweifel. Dass der Gedenkstätte
Sobibor von kommunaler Seite die Zuschüsse erheblich
gestrichen wurden, führte dazu, dass im Sommer 2011
das Museum - nicht die Gedenkstätte - vorübergehend
geschlossen werden musste. Das war in der Tat bedenkenswert und schlimm. Trotzdem hat die polnische Seite
zu keinem Zeitpunkt um Hilfe ersucht. Ich finde es fragwürdig, gerade in unserer Rolle, sich in einer Weise einzulassen, die möglicherweise - Frau Pieper wird das
gleich ausführen - gar nicht erwünscht ist. Das kann ich
nicht wissen. Aber ich finde, so selbstverständlich, wie
Sie das darstellen, ist dieser Akt nicht.
({1})
Mittlerweile, Herr Korte - das wissen auch Sie; theoretisch könnten wir sagen: Der Antrag ist erledigt -, ist
für die Gedenkstätte Sobibor zum Glück eine Lösung gefunden worden. Sobibor wurde mit Beginn des Jahres
Teil der KZ-Gedenkstätte Majdanek bei Lublin und ist
nun nicht mehr in kommunaler Verantwortung, sondern
eine Institution des polnischen Kultusministeriums und
damit direkt diesem Ministerium unterstellt. Künftig
sind so eine Absicherung der Finanzierung und auch die
administrative Förderung auf einer höheren Ebene,
durch die polnische Zentralregierung, sichergestellt.
({2})
Aber jenseits dieses Falles ist es uns wichtig, einmal
mehr zu betonen, gerade heute: Dem Erinnern an die
Verbrechen des Nationalsozialismus und dem Gedenken
an seine Opfer kommt in der deutschen Erinnerungskultur eine ungemein hohe Bedeutung zu. Dazu haben wir
uns nicht zuletzt mit der Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts von 2008 klar bekannt. Es bleibt unsere
ständige Aufgabe, die Erinnerung an die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus wachzuhalten, der Opfer
der Schoah zu gedenken und - ich finde auch - Schuld
einzugestehen.
Für die Aufarbeitung der NS-Diktatur ist dabei die besondere Aussagekraft der authentischen Orte - das haben
Sie zu Recht erwähnt; die der Opfer übrigens wie die der
Täter; von den letzteren gibt es gerade in Berlin sehr viele unverzichtbar. 2009 wurden die westdeutschen KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau und
Flossenbürg in die institutionelle Förderung des BKM
aufgenommen, zusätzlich zu den vier großen KZ-Gedenkstätten in Thüringen und Brandenburg. Das war bis
dahin auch nicht selbstverständlich.
Das ist die innerstaatliche Verantwortung. Daneben
unterstützt das Auswärtige Amt internationale Projekte
zur Erinnerung und zum Gedenken an die Schoah. Da ist
zum Beispiel die Task Force für Internationale Zusammenarbeit bei der Holocausterziehung, Erinnerung und
Forschung, wo Deutschland eines von 27 Mitgliedstaaten ist. Die internationale Verantwortung, nicht nur die
bilaterale, ist ein besonderer Zug dieser Gedenkpolitik.
Es gibt die Stiftung Auschwitz-Birkenau, die die Restaurierung des ehemaligen KZ und der heutigen Gedenkstätte finanzieren soll. Sie wurde auf Initiative des polnischen Staatssekretärs und Auschwitz-Überlebenden
Professor Wladyslaw Bartoszewski in Warschau mit
dem Ziel gegründet, einen Kapitalstock von 120 Millionen Euro einzuwerben, aus dessen Erträgen die Restaurierungsarbeiten in der Gedenkstätte langfristig finanziert werden. An dem Projekt beteiligen sich auch
andere europäische Staaten und die USA.
Im Dezember 2010 haben der Bundesaußenminister
und Vertreter der Bundesländer - wir haben heute schon
einmal an dieser Stelle über die Zusammenarbeit von
Bund und Ländern gesprochen - eine Vereinbarung mit
der Stiftung Auschwitz-Birkenau über einen deutschen
Beitrag von insgesamt 60 Millionen Euro unterzeichnet.
Dieser Beitrag wird jeweils zur Hälfte vom Bund und
den Ländern finanziert und kommt der Stiftung seit 2011
in fünf gleichen Jahresraten zu.
Diese besondere Initiative gibt es deshalb, weil es
sich eben um Auschwitz handelt, das geradezu symbolhaft für die Verbrechen der Nationalsozialisten steht. Gerade diese wichtige Gedenkstätte erinnert in besonderer
Weise an die Verbrechen. Sie ist ein unverzichtbarer Ort
der Erinnerung, der Aufklärung und des Lernens.
Die internationale Konferenz zu Holocaustfragen in
Prag 2009, die wir besser als Nachfolgekonferenz der
Washingtoner Konferenz kennen, mahnte, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Wichtig seien hier
vor allem Information, Aufklärung, Berücksichtigung in
Schule, Hochschule und Forschung. Im Laufe dieser
Konferenz wurde von den 46 Teilnehmerstaaten die sogenannte Theresienstädter Erklärung unterzeichnet, die
auch Sie in Ihrem Antrag zitieren und aus der ich zum
Schluss etwas vortragen will. Dort heißt es:
In Anerkennung der Bedeutung von Bildung und
Gedenken hinsichtlich des Holocaust … und anderer Naziverbrechen als fortwährende Lehre für die
gesamte Menschheit … rufen wir alle Staaten nachdrücklich auf, regelmäßige jährliche Gedenk- und
Gedächtnisfeiern zu unterstützen beziehungsweise
einzuführen
- deshalb haben wir durch Proklamation von Roman
Herzog bei uns den 27. Januar als Erinnerungstag eingeführt sowie Mahnmale und andere Gedenkstätten und
Orte zur Erinnerung an das unermessliche Leiden
zu erhalten.
So weit die Theresienstädter Erklärung.
Dieser Selbstverpflichtung von 46 Ländern zum Erhalt der authentischen Orte und Gedenkstätten folgend,
ist gerade die Erinnerungskultur eine der großen moralischen, politischen und gesellschaftlichen Aufgaben, aber
auch Leistungen der Bundesrepublik Deutschland.
Deutschland bekennt sich zu seiner Verantwortung für
die Schoah. Sie ist unverrückbarer Teil der kollektiven
Erinnerung in Deutschland, und zwar für alle Zeiten.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Elie Wiesel hat einmal gesagt: Wer die Opfer
der Schoah vergisst, tötet sie ein zweites Mal. - Ich
glaube, auch aus diesem Grund sind wir uns in diesem
Hause alle einig, dass wir die dauerhafte Aufgabe haben,
aller Opfer des NS-Terrors zu gedenken und alle Opfer
des NS-Unrechts zu ehren. Diese Aufgabe hat - das ist
bereits gesagt worden - auch sehr viel mit Orten der Erinnerung zu tun. Deshalb, finde ich, ist es eine lobenswerte Initiative der Fraktion Die Linke gewesen, im vergangenen Jahr diesen Antrag auf den Weg zu bringen,
um darüber nachzudenken, was wir tun können, um
nicht nur Sobibor zu erhalten, sondern auch andere Orte
des NS-Unrechts, auch außerhalb der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Das Ganze ist so wichtig, weil ein
Element des Erinnerns, des Lernens aus der Geschichte,
insbesondere den jungen Menschen nicht mehr lange zur
Verfügung stehen wird: die Überlebenden, die Zeitzeugen.
Ich hatte die große Ehre, den Herrn Bundespräsidenten vor fast genau einem Jahr, am 27. Januar 2011, zu
begleiten, als er gemeinsam mit seinem Kollegen
Komorowski an der Gedenkfeier in Auschwitz teilnahm
und vor dem offiziellen Teil die internationale Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz besuchte, um ein Gespräch
mit jungen Menschen und Überlebenden zu führen. Wer
das erlebt hat, der weiß, wie wichtig Erinnern und Gedenken gerade für junge Menschen und für die nächsten
Generationen junger Menschen ist. Auch aus diesem
Grund - weil uns eben die Zeitzeugen, die Überlebenden, leider nicht mehr lange zur Verfügung stehen werden - sind die Orte des Unrechts von besonders großer
Bedeutung. Das gilt ausdrücklich auch für die von Deutschen in Polen errichteten Konzentrations- und Vernichtungslager.
Ich verstehe die Debatte heute so - da sich ja auch im
Hinblick auf Sobibor einiges getan hat -, dass wir uns
nicht über die Frage streiten müssen, ob wir warten sollen, bis es etwa eine offizielle Anfrage der Republik Polen gibt. Vielmehr müssen wir prüfen, ob es möglich ist,
dass wir - mit größter Sensibilität; das ist auch von meiner Vorrednerin gesagt worden - ein Signal setzen, das
zeigt, dass wir selbstverständlich unserer Verantwortung
gerecht werden und da Hilfe anbieten, wo es notwendig
ist. Mit „helfen“ meine ich: nicht nur mit Geld.
({0})
Ich habe betont: Das muss mit aller Sensibilität geschehen; denn es darf in den Ländern, die besonders unter dem NS-Unrecht gelitten haben, niemals der Eindruck entstehen, dass sozusagen aus dem Land der Täter
gute Ratschläge oder gar Bevormundungen und Einmischungen kommen. Aber nichtsdestotrotz weiß ich, dass
es - gerade bei der Republik Polen und der Bundesrepublik, die ein so gutes Verhältnis zueinander haben wie
noch nie in der Geschichte - möglich ist, den richtigen
Weg zu finden und zu signalisieren: Da, wo wir gebraucht werden, helfen wir gerne, weil das eine selbstverständliche Verantwortung ist.
Ausgangspunkt eines solchen Helfens und entsprechender Überlegungen, was man tun kann, müssen immer - auch das will ich deutlich sagen - die Perspektive
und die Interessen der Opfer und Überlebenden sein.
Ausgehend von dem Gedanken, die Opfer und Überlebenden zu ehren, müssen wir überlegen, wie wir die Orte
des NS-Unrechts dauerhaft erhalten können. Da sollten
wir uns einen Punkt genauer anschauen: Was können wir
in einem zusammenwachsenden Europa tun, um den
Umgang mit der gemeinsamen europäischen Geschichte
mitzugestalten? Dabei ist immer zu beachten, dass wir
unterschiedliche Erinnerungskulturen haben; denn
selbstverständlich sind die Erinnerungskulturen der Nationen, die unter dem NS-Unrecht unendlich gelitten haben, anders als beispielsweise die Erinnerungskultur in
Deutschland, sozusagen dem Nachfolgeland der Täter.
Aber ich glaube, dass ein solches Vorgehen möglich ist.
Ich will dabei auf einen weiteren Aspekt hinweisen,
der mir wichtig ist: Es geht nicht nur um das Erinnern,
um das Gedenken und Ehren der Opfer, sondern aus
meiner Sicht auch um die Frage: Was können wir tun,
damit alle in unserem Land und alle Menschen in
Europa, insbesondere die nächsten, jungen Generationen, einen Weg finden, etwas aus der Geschichte, von
den authentischen Orten und aus dem, was dort geschehen ist, zu lernen? Deshalb fände ich es gut, wenn wir
über Fraktionsgrenzen hinweg überlegen würden: Welchen Beitrag können wir zu einer europäischen Erinnerungskultur leisten, zu einem Gesamtkonzept, das vorsieht, alle wichtigen und relevanten Gedenkstätten und
Orte des NS-Terrors als Orte des Erinnerns und des Lernens zu erhalten und sie, wo es notwendig ist, auszubauen? Was können wir tun, damit an diesen authentischen Orten auch dann, wenn es keine Zeitzeugen mehr
gibt, die authentisch berichten können, jedem, der guten
Willens ist, unverrückbar und unzweifelhaft deutlich
wird, welch eine präzedenzlose Barbarei in der NS-Zeit,
im Holocaust stattgefunden hat?
({1})
Ich hoffe sehr, dass wir den Antrag der Fraktion Die
Linke zum Anlass nehmen, einen Weg zu finden, das in
größter Gemeinsamkeit, mit allen Fraktionen dieses
Hauses, zu tun;
({2})
denn ich glaube nicht, dass sich dieses Thema zur parteipolitischen Profilierung eignet.
({3})
- Das gilt selbstverständlich auch für Anträge. Aber
manchmal braucht es - lassen Sie es mich so sagen - einen Stein des Anstoßes, um gemeinsam den richtigen
Weg zu gehen. - Deshalb würde ich mich sehr freuen,
wenn die Initiative der Kollegin Krumwiede und des
Kollegen Jerzy Montag von allen Fraktionen unterstützt
wird, damit es in der weiteren Beratung dieses Antrags
gelingt, einen Weg zu finden, dass der Deutsche Bundestag - ich hoffe, mit ihm auch die Bundesregierung - ein
deutliches Signal sendet: Wir wollen ein Konzept für
alle Gedenkstätten, egal wo sie sich befinden; wir wollen
gemeinsam einen Beitrag leisten, mit aller Sensibilität
und in der Verantwortung, die wir gemeinsam aus unserer Geschichte heraus tragen wollen. Wenn dieser Antrag
bewirkt, dass wir jetzt miteinander eine solche Debatte
führen, dann sind wir auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Cornelia Pieper.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist sicher wichtig und auch richtig, dass wir gerade heute, am
Vorabend des 27. Januar, im Gedenken an die Opfer des
Holocaust hier im Parlament in der Sache diskutieren.
Das steht dem Parlament auch gut an. Ich will für die
Bundesregierung erklären, dass wir ohne Wenn und
Aber zur historischen Verantwortung Deutschlands für
den Holocaust stehen.
Die Bundesregierung setzt sich intensiv für die Pflege
und den Unterhalt von Gedenkstätten ehemaliger nationalsozialistischer Vernichtungslager im In- und Ausland
ein. Das wird auch von unseren Partnern, allen voran
von den Polen, ausdrücklich anerkannt. Einige Beispiele
wurden genannt. Die Kollegin Grütters hat insbesondere
auf die Stiftung Auschwitz hingewiesen. Ich will noch
einmal daran erinnern, dass sich Bund und Länder Ende
2009 gemeinsam zu einer Aufstockung des Kapitals der
neuen Stiftung auf insgesamt 60 Millionen Euro bis
2015 verpflichtet haben. Die erste Rate in Höhe von
12 Millionen Euro wurde bereits 2011 ausgezahlt. Die
zweite wird in Kürze folgen. Somit sind wir mit Abstand
der größte Förderer der Stiftung Gedenkstätte
Auschwitz, und das ist auch gut so. Darüber hinaus werden wir die staatliche israelische Gedenkstätte Yad
Vashem in den kommenden Jahren mit insgesamt
10 Millionen Euro unterstützen.
({0})
Bundesminister Westerwelle wird nächste Woche ein
Regierungsabkommen dazu unterzeichnen.
Ich will daran erinnern, dass wir uns gemeinsam mit
den Partnern einig sind. Ebenso wie für andere Staaten
ist die Theresienstädter Erklärung von 2009 Richtschnur
für unser Handeln. Sie besagt, dass der Erhalt von Gedenkstätten und jüdischen Friedhöfen grundsätzlich die
Aufgabe des Landes ist, in dem sie liegen. Das ist im
Übrigen auch Polen ganz wichtig. Ich stehe sehr intensiv
- wie Herr Nietan weiß, weil auch er es tut - mit der polnischen Regierung in Kontakt; das hat sicher auch mit
meiner Aufgabe als Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit zu tun. In dieser Woche habe ich
nochmals Kontakt zum polnischen Kulturministerium
aufgenommen und habe mit Herrn Zuchowski, dem
Staatssekretär im polnischen Kulturministerium, gespro18556
chen. Ich möchte Sie darüber informieren, dass die Gedenkstätte Sobibor dem polnischen Kulturministerium
direkt unterstellt und dem Museum Majdanek zugeordnet ist, sodass der langfristige Erhalt gesichert ist.
In der Tat kam es zu Missverständnissen und Irritationen, die uns beunruhigt haben. 2011 kam es aufgrund
von administrativen Regelungen, die sich scheinbar negativ auf die Finanzierung ausgewirkt haben, zu der vorübergehenden Schließung des Museums. Das hat man
in Polen inzwischen geklärt. Am 17. Januar dieses Jahres
wurde eine Vereinbarung mit dem Landrat, in dessen Bezirk sich Sobibor befindet, unterschrieben. Die Finanzierung von Sobibor ist von polnischer Seite gesichert.
Die Kollegen von der Linken sollten wissen, dass
Deutschland bereits angeboten hat, sich an dem gemeinsamen Projekt für Sobibor zu beteiligen. Es gibt ein Memorandum of Understanding mit Israel, der Slowakei
und den Niederlanden. Polen hat uns ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht will, dass Deutschland in
diesem Fall an diesem Projekt beteiligt ist. Das hat etwas
mit der Geschichte und den Opfern von Sobibor zu tun.
Wir haben das als deutsche Regierung respektiert.
Summa summarum: Ich kann nur betonen, dass uns
der Erhalt von Gedenkstätten in jeglicher Form, ob in
Deutschland oder in Europa, wichtig ist. Wir werden alles
daransetzen, dass wir als Deutsche der Opfer gedenken
und die Verantwortung für die schrecklichen Gräueltaten
übernehmen. Aber ich glaube, man muss respektieren,
wenn die polnische Regierung sagt, dass sie uns in dem
Fall bei diesem Projekt nicht dabeihaben will.
In dem vorliegenden Antrag steht, dass die Bundesregierung Kontakt aufnehmen soll, um ein Angebot zu unterbreiten.
Frau Staatsministerin, Sie können selbstverständlich
weiterreden, aber das hat dann Konsequenzen für nachfolgende Redner Ihrer Fraktion.
Frau Präsidentin, ich möchte gern, dass der Kollege
von der FDP, Patrick Kurth, noch redet.
({0})
Ich wollte nur sagen: Eigentlich hat sich der Antrag erledigt. Aber wir unterstützen natürlich weiterhin das Vorhaben, die Gedenkstätten zu erhalten; das dient auch
dem Gedenken an die Opfer. Wir werden unseren finanziellen Beitrag dazu leisten.
Danke.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wolfgang Wieland das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es waren 250 000 Menschen, die im Vernichtungslager Sobibor zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 vergast wurden. „Sie wurden“, um eine Formulierung von Heinz
Galinski zu gebrauchen, des langjährigen Vorsitzenden
der Jüdischen Gemeinde hier in dieser Stadt, „ermordet,
nur weil sie Juden waren.“ 250 000 Menschen - das entspricht der gesamten Einwohnerzahl von Städten wie
Kiel, Braunschweig oder Krefeld. Ermordet wurden
diese Menschen im Rahmen der deutschen „Endlösung
der Judenfrage“ - Stichwort Wannsee-Konferenz, an die
wir alle zu Recht, wie ich finde, erinnert haben -, im
Zuge der deutschen „Aktion Reinhardt“ unter dem Kommando des deutschen SS-Obersturmführers Franz
Stangl. Die deutsche Verantwortung hierfür, und zwar
die alleinige Schuld, steht außer Frage und wurde hier ja
auch von niemandem infrage gestellt.
Nun ist die Frage: Wie stellen wir uns dazu - das ist
tatsächlich eine nicht einfach zu beantwortende Frage;
da gebe ich Ihnen völlig recht, Frau Pieper -, wenn die
polnische Seite Finanzierungsschwierigkeiten hat? Wir
haben dazu schriftliche Anfragen an Ihr Haus gestellt.
Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen durch
meine Kollegen Jerzy Montag, der zurzeit auf der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist, Volker
Beck und andere einen Antrag gestellt, weil es uns zutiefst beunruhigt hat, dass hier möglicherweise eine Gedenkstätte nicht weiter finanziert werden kann. Es ist
auch tatsächlich zu hinterfragen, dass die Länder der Opfer - Sie haben sie aufgezählt: Niederlande, Israel und
andere - hier einen finanziellen Beitrag leisten, das Land
der Täter aber nicht. Man muss sich fragen, ob das so
richtig ist.
Natürlich können und wollen wir nichts aufdrängen,
aber der Hinweis auf die Theresienstädter Erklärung ist
ja noch nicht die ganze Antwort. Sie beinhaltet nur die
Verpflichtung der Länder zum Erhalt der Gedenkstätten,
die sich auf ihrem Territorium befinden. Das heißt noch
nicht - Sie selber haben ja die Ausnahme Auschwitz in
diesem Zusammenhang erwähnt -, dass es nicht auch
eine Mitbeteiligung von deutscher Seite geben kann und
dass diese auch sinnvoll ist.
Da es sich um eine hochsensible Frage handelt - das
wurde hier nicht bestritten -, haben wir den Vorschlag
gemacht, eine Runde der Berichterstatterinnen und Berichterstatter anzusetzen. Wir hoffen, dass auch bei der
CDU/CSU-Fraktion Bereitschaft da ist, wirklich herauszufinden, ob auf polnischer Seite gar nicht der Wunsch
dazu besteht oder ob man dort denkt, dass auf deutscher
Seite die Bereitschaft fehlt, dass man also ins Gespräch
kommt und diese Frage unter Freunden - wir sind ja hier
unter Freunden - klärt und so in der Zukunft Irritationen
vermeidet.
Eines dürfte doch völlig klar sein: Der Schrecken, der
dort geschehen ist, das Unfassbare können wir niemals
unter Hinweis auf Verpflichtungen anderer Länder in irgendeiner Weise verkleinern. In keiner Weise werden
wir das los. Wir werden für immer die Bereitschaft zeigen müssen, da auch finanziell zu helfen und einzustehen.
Vielen Dank.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas
Strobl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag „Erhalt der Gedenkstätten nationalsozialistischer Vernichtungslager sicherstellen“ fordert
die Fraktion Die Linke die Bundesregierung auf, mit Finanzmitteln dazu beizutragen, dass die in Polen gelegenen Erinnerungsorte der Schoah erhalten werden können. Hierauf möchte ich antworten: Sie rennen offene
Türen ein. Diese Bundesregierung tut das doch längst,
und sie tut das in beträchtlichem Umfang, sowohl in
Polen als auch bei uns in Deutschland. Die vier großen
KZ-Gedenkstätten in Thüringen und Brandenburg und
seit 2009 zusätzlich die westdeutschen KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau und Flossenbürg sind in die institutionelle Förderung des Staatsministers für Kultur und Medien aufgenommen worden.
Der Staatsminister für Kultur und Medien fördert auch
die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ sowie das Haus der Wannsee-Konferenz, die ja, wie
Kollege Wieland schon gesagt hat, fast exakt in diesen
Tagen vor 70 Jahren stattgefunden hat und an die wir uns
zu Recht erinnern.
Auch außerhalb Deutschlands übernimmt die Bundesrepublik Deutschland Verantwortung dafür, dass an
die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert wird. Allein zum Erhalt der als Erinnerungsort bedeutsamen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau hat der Bund seit 2009
in enger Kooperation mit den Ländern 60 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt und sich dabei eng mit der
polnischen Seite und weiteren internationalen Partnern
abgestimmt.
Das heißt, der im Antrag der Linken implizit enthaltene Vorwurf, diese Koalition unterstütze die Erinnerung
an die NS-Verbrechen nicht oder nicht im nötigen finanziellen Umfang, entbehrt jeglicher Grundlage. Das Gegenteil ist wahr.
({0})
Tatsache ist: Die Erinnerung an die NS-Zeit und ihre
Verbrechen gehört zu den Kernanliegen dieser Bundesregierung und dieser Koalition. Daraus folgende finanzielle Verpflichtungen nimmt sie peinlich genau und in
vollem Umfang wahr. Wahr ist aber auch: Diese Bundesregierung und diese Koalition widerstehen der Versuchung eines allzu wohlfeilen, geradezu gönnerhaften
Angebots von Finanzhilfen an europäische Nachbarstaaten wie Polen, dessen Regierung um solche Hilfen überhaupt nicht gebeten hat.
({1})
Ein Finanzierungsangebot unsererseits könnte den Eindruck erwecken, unsere europäischen Freunde seien zum
Erhalt von Gedenkstätten nicht selbst imstande, obwohl
sie sich in den Verhandlungen zur Theresienstädter Erklärung vom 30. Juni 2009 faktisch genau dazu bekannt
und verpflichtet haben.
Vom polnischen Botschafter, mit dem ich letzte Woche
ein langes und konstruktives Gespräch geführt habe, weiß
ich, wie entschlossen das polnische Volk ist, aus eigener
Kraft seinen internationalen Verpflichtungen vollumfänglich nachzukommen, und wie ungern es allgemein
gesehen wird, durch ungebetene deutsche Finanzhilfen
quasi indirekt abgesprochen zu bekommen, dazu in der
Lage zu sein. Meine verehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Polen ist ein starker Partner Deutschlands, kein
hilfsbedürftiger Kostgänger. Wir sollten jeden Eindruck,
der in diese Richtung geht, vermeiden.
({2})
Auf die Gedenkstätte Sobibor, die im Antrag der Linken namentlich erwähnt ist, übertragen, heißt das: Nur
weil im Sommer 2011 aufgrund administrativer Regelungen vor Ort ein Finanzierungsengpass entstand, besteht noch lange kein Grund, bei uns die Alarmglocken
zu läuten und mit ungebetenen finanziellen Zuwendungen in Warschau voreilig vorstellig zu werden. Tatsächlich hat die polnische Regierung selbst schon hinreichende Korrekturen vorgenommen. Warschau hat die
Verwaltung Sobibors Anfang 2012 dem Kultusministerium unterstellt und damit zur Chefsache erklärt, was als
hinreichende Garantie für die Zukunft der Gedenkstätten
in Polen anzusehen ist. Damit erübrigt sich jede ungebetene Finanzhilfe unsererseits. Sie würde, wie gezeigt,
möglicherweise beleidigend wirken, falls wir sie Polen
dennoch anböten, ja, geradezu aufdrängten. Dazu wollen
wir es nicht kommen lassen. Deswegen lehnen wir den
Antrag der Linken ab.
Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Gedanken,
gerade angesichts des morgigen internationalen Holocaustgedenktages: Wir sind uns alle einig, dass sich die
menschenverachtenden Völkermordaktionen Nazideutschlands niemals wiederholen dürfen. Wir sind sicher alle
gleichermaßen aufgeschreckt angesichts der Zeitungsberichte in dieser Woche, denen zufolge antisemitische Einstellungen bei uns wieder auf dem Vormarsch sind, zumindest in latenter Form. Wenn das zutrifft - davon ist
angesichts der Seriosität der Erhebungsmethoden auszugehen -, muss man sich die Frage stellen: Welchen zusätzlichen Weg können wir gehen, um das Wiederaufleben judenfeindlicher Gesinnung zu verhindern, wenn die
pädagogische Kultur des routinierten Gedenkens es of18558
Thomas Strobl ({3})
fenkundig allein nicht schafft, wie es eine deprimierte
Charlotte Knobloch am Montag fast schon verzweifelt
ausdrückte? Was können wir ergänzend tun, um das virulente Gift des Rassismus wirksam zu neutralisieren, das
offensichtlich noch immer in den Menschen steckt? Dies
hat übrigens - das sage ich ohne Häme und ohne parteipolitische Kampfeslust - längst auch die Linkspartei befallen, wie die Vorgänge in ihrem Duisburger Kreisverband im Jahr 2011 belegen.
Das größte Denkmal, das wir den Opfern des Holocaust errichten können, liegt nicht in Polen, liegt nicht in
Deutschland oder sonst wo, sondern in uns selber.
({4})
Es ist kein in Stein gehauenes Mahnmal. Es kostet auch
kein Geld. Vielmehr ist es der täglich aufs Neue gefasste
Entschluss unseres Herzens, Menschlichkeit zu üben,
immer und überall und gegenüber jedermann. Eine solche Praxis ist alles in allem die bestmögliche Antwort.
Kollege Strobl, angesichts des Themas bin ich ausgesprochen großzügig; aber ich bitte Sie, jetzt das Signal
zu beachten.
Sie kostet nichts außer einer Willensanstrengung und
ist dennoch unendlich viel wertvoller als jede Geldinvestition.
({0})
Das ist der Grund, warum wir den Antrag der Linken ablehnen.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick
Kurth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! An den Holocaust, das schwerste Verbrechen in
der Menschheitsgeschichte, müssen und werden wir immer erinnern. Das ist absolute Staatsräson; das darf niemals in Vergessenheit geraten. Dazu gehört selbstverständlich, dass die Gedenkinfrastruktur des unsäglichen
Verbrechens für alle nachfolgenden Generationen erhalten bleibt. Das ist selbstverständlich. Konzentrationslager
müssen als Gedenkstätten erhalten werden. Dies ist unverhandelbar und Konsens hier in diesem Hause.
Die Theresienstädter Erklärung wurde von 46 Staaten
unterzeichnet. Sie enthält die Leitlinien für das künftige
Erinnern an den Holocaust in Europa und weltweit und
ist erst recht für Deutschland Maßstab. Sie bringt - das
verschweigen Sie in Ihrem Antrag - den Konsens aller
Beteiligten zum Ausdruck, dass das Erinnern an den Holocaust eine Aufgabe aller Völker ist. Genau das ist das
Wegweisende der Theresienstädter Erklärung. Es wird
festgelegt, dass das Erinnern an den Völkermord und an
die Schreckensherrschaft Aufgabe der gesamten
Menschheit ist. Frau Grütters hat es schon zitiert; ich
wiederhole es:
… rufen wir alle Staaten nachdrücklich auf, regelmäßige jährliche Gedenk- und Gedächtnisfeiern zu
unterstützen beziehungsweise einzuführen sowie
Mahnmale und andere Gedenkstätten und Orte zur
Erinnerung an das unermessliche Leiden zu erhalten.
Dies ist gleichsam eine Selbstverpflichtung aller beteiligten Staaten, das Gedenken an die NS-Gräuel aufrechtzuerhalten.
Ganz entscheidend und wichtig ist: Von polnischer
Seite - Sie haben dies ganz deutlich gesagt - kam aus
bestimmten Gründen keine Anfrage für Sobibor. Deshalb dürfen gerade wir jetzt nicht gönnerhaft an die Polen herantreten und so tun, als müssten wir ihnen zeigen,
wie man Gedenkstättenarbeit macht oder machen sollte.
Das gehört sich für uns als Deutsche nicht.
({0})
Polen hat unser Vertrauen. Das Land betreibt hervorragende Gedenkstättenarbeit. Das gilt auch für Sobibor. Deutschland beteiligt sich massiv, beispielsweise
mit 60 Millionen Euro am Erhalt der Gedenkstätte
Auschwitz-Birkenau. Der Unterschied zwischen
Auschwitz und Sobibor ist, dass die Förderung in enger
Absprache mit der polnischen Seite erfolgt und eben
nicht ungefragt. Viele weitere internationale Partner sind
beteiligt.
Unser Nachbarland Polen leistet eine hervorragende
Arbeit. Es gibt keinen Grund, dass wir, der Deutsche
Bundestag, das bezweifeln.
({1})
Von daher, Herr Korte: Vielleicht ist Ihr Antrag gut gemeint, vielleicht ist er aber auch ein Schaufensterantrag.
Er ist auf jeden Fall eines: überflüssig.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7028 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({2})
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
2011 ({3}) vom 12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/8166, 17/8393 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Johannes Pflug
Wolfgang Gehrcke
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/8394 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung sowie über die beiden Entschließungsanträge werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Verehrte, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestern ist in der Provinz Balkh der Startschuss zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung an
die afghanischen Sicherheitsbehörden gegeben worden.
Vorgestern fiel auch der Startschuss für Faizabad und die
Region Badakhshan, um diesen wichtigen Schritt zu unternehmen. Schätzungen besagen, dass sich durch die
Schritte, die vorgestern und gestern gemacht worden
sind, schon jetzt circa 25 Prozent der afghanischen Bevölkerung unter dem Sicherheitsschirm der afghanischen
Sicherheitsbehörden befinden. Bis zum Frühjahr dieses
Jahres wird eine Quote von 50 Prozent angestrebt. Wir
alle wissen: Wir gehen davon aus, dass bis zum Jahre
2014 eine Abdeckung von 100 Prozent erreicht sein
wird. Wir befinden uns in Afghanistan auf einem sehr
positiven Entwicklungspfad.
Seit 2010 verbessert sich die Sicherheitslage; das ist
auch messbar. Die Zahl der Anschläge und Gefechte ist
deutlich zurückgegangen. Auch im zivilen Bereich haben wir wesentliche Fortschritte zu verzeichnen. In allen
Dimensionen des zivilen Aufbaus - ob bei der Kindersterblichkeit oder beim Zugang zu Wasser, Bildung,
Krankenhäusern bzw. Gesundheitsleistungen - gibt es
eine eindeutig positive Entwicklung. Diese Erfolge verdanken wir ganz wesentlich unseren Soldaten, unseren
Polizisten und den vielen zivilen Helfern in Afghanistan.
({0})
Ich rufe diesen Helfern, Polizisten und Soldaten zu: Sie
können auf das, was Sie tun, stolz sein! Wir als Abgeordnete können auf unser Personal stolz sein. Wir sollten
den Helfern, Polizisten und Soldaten und ihren Familien
deutlich sagen, dass wir auf das, was sie für uns in Afghanistan leisten, stolz sind.
Ganz wesentlich beigetragen zu diesem positiven
Entwicklungspfad hat das strategische Konzept der Bundesregierung für diesen wichtigen und wertvollen Einsatz. Deutlich sichtbar ist: Beginnend mit der Konferenz
in London im Januar 2010, der vor einigen Wochen die
Konferenz in Bonn folgte, ist erstmals erreicht worden,
dass die NATO ein gemeinsames Verständnis, ein gemeinsames Konzept und einen gemeinsamen Entwicklungspfad hat. Daran hat diese Bundesregierung, die seit
2009 im Amt ist, mit diesem Außenminister einen ganz
wesentlichen Anteil.
({1})
Der vernetzte Ansatz, über den wir lange diskutiert
haben, ist in einer Weise realisiert worden, wie wir es
uns noch vor einigen Jahren gewünscht hätten. Ich sage
sehr deutlich: Ich bedanke mich ganz ausdrücklich bei
allen Ministerien, die in diesen Prozess eingebunden
sind - insbesondere beim Auswärtigen Amt, beim Verteidigungsministerium, beim BMZ und beim Innenministerium, aber auch bei allen anderen Ministerien -, dafür, dass das Konzept des vernetzten Ansatzes
zunehmend Realität wird. Wir können überall noch besser werden. Wir sind aber schon wesentlich besser geworden. Herzlichen Dank dafür!
({2})
Der Entwicklungspfad spiegelt sich auch in dem
Mandat, das uns die Bundesregierung heute vorlegt, wider. Erstmals kommt es zu einer Reduzierung der Truppenstärke auf 4 900 Soldaten. Im Mandat steht, dass, sofern es die Sicherheitslage erlaubt, angestrebt ist, die
Truppenstärke innerhalb von zwölf Monaten auf 4 400
Soldaten zu senken. Das ist der richtige Weg, und wir
begrüßen dies außerordentlich.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Natürlich ist in
Afghanistan nicht alles gut; das wissen wir.
({3})
- Lieber Herr Gehrcke, das wissen wir doch. - Natürlich
ist die Sicherheitslage prekär. Wir haben heute wieder
drei Tote in Helmand zu beklagen, und es wird weitere
Anschläge und Gefechte geben. Da macht sich bei uns
doch keiner Illusionen. Natürlich wird das der Fall sein.
Auch die Gewaltkriminalität nimmt zu. Es gibt Korruption und kein geordnetes Staatswesen. Das ist uns durchaus bewusst. Dennoch müssen wir auch die Perspektiven
sehen, die wir hier haben.
Wir wissen noch nicht, wie das politische Szenario
nach 2014 aussehen wird, aber wir arbeiten daran. Wichtig ist, dass wir den Entwicklungspfad hinsichtlich der
Aufgabe, die diese Bundesregierung von der Vorgängerregierung übernommen hat, systematisch weitergehen.
Deshalb sage ich: Die Bundesregierung wird mit viel
Einsatz weiter daran arbeiten, und wir unterstützen sie
darin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend sage
ich speziell zu den Grünen: Ich habe nicht das geringste
Verständnis dafür, dass Sie sich angesichts der Aufgabe,
die wir von Ihnen übernommen haben, und angesichts
des deutlich sichtbaren Entwicklungspfades heute nicht
dazu durchringen können, diesem Mandat zuzustimmen.
({4})
Dafür kann ich nur parteiinterne Diskussionen verantwortlich machen. Inhaltlich ist das nicht geboten.
({5})
Wir werden die Bundesregierung aus voller Überzeugung unterstützen und diesem Mandat zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Stefan Rebmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir entscheiden heute über die Fortsetzung
der Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz der
ISAF-Truppen in Afghanistan. Wir haben in der SPDFraktion und in unserer Task Force Afghanistan mehrfach sehr offen, ausführlich und kritisch über die Lage
und über die Situation der Menschen in Afghanistan gesprochen.
Wir haben vor allen, die sich in Afghanistan engagieren, die wertvolle Aufbau-, Ausbildungs- und Entwicklungsarbeit leisten und die für Sicherheit sorgen, ob als
Mitarbeiter bei NGOs, als Polizeiausbilder oder als Bundeswehrangehörige, hohen Respekt. Ihnen allen gehört
unsere Anerkennung.
({0})
Wir halten es als SPD-Fraktion für richtig, uns auch
weiterhin im Rahmen der internationalen Gemeinschaft
in Afghanistan zu engagieren; denn wir dürfen die afghanische Bevölkerung nicht im Stich lassen, auch nicht
nach 2014. Das war die wichtigste Botschaft der Afghanistan-Konferenz in Bonn; denn unser Ziel, den Aufbau
und die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte
sowie den Schutz der afghanischen Bevölkerung so weit
voranzutreiben, dass Afghanistan mittel- und langfristig
alleine und eigenverantwortlich in der Lage ist, für Stabilität und Frieden zu sorgen, haben wir noch nicht erreicht. Bis wir dieses Ziel erreicht haben - das wissen
wir alle -, ist es noch ein weiter und steiniger Weg. Deshalb sage ich auch: Es hilft nichts, die Lage schönzureden. Ja, es ist unendlich schwierig, es ist kompliziert,
und es gibt auch Misserfolge und Rückschläge; aber es
gibt auch Erfolge, im militärischen wie auch im zivilen
und im entwicklungspolitischen Bereich.
Afghanistan ist gegenwärtig kein Rückzugsraum
mehr für international agierende Terroristen. Dieser Erfolg - das muss uns allen klar sein - steht auf wackeligen Beinen. Ein sofortiger und vollständiger Rückzug
auch der ISAF-Truppen würde das Land sehr wahrscheinlich wieder im Bürgerkriegssumpf versinken lassen. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind gerade im
Ausbildungsbereich nach wie vor auf unsere Unterstützung angewiesen; aber - und das empfinde ich schon als
Erfolg - sie übernehmen nach und nach immer mehr Bereiche in ihre eigene Verantwortung, und das ist auch gut
so.
({1})
Im zivilen und entwicklungspolitischen Bereich sieht
es ähnlich aus. Gemeinsam mit den beteiligten Partnerstaaten haben wir dringend notwendige Projekte in den
Bereichen Infrastruktur, Bildung - Aufbau von Schulen,
insbesondere von Mädchenschulen - und medizinische
Versorgung sowie beim Zugang zu Elektrizität und
Trinkwasser angestoßen und gemeinsam umgesetzt. Um
diese Fortschritte dauerhaft zu sichern, müssen sie konzeptionell und finanziell abgesichert werden. Dazu brauchen wir eine unabhängige Evaluierung aller bisherigen
Maßnahmen. Wir müssen wissen, inwieweit die selbstgesteckten Ziele tatsächlich erreicht wurden und wo
noch deutlich nachjustiert werden muss. Der Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung ist umfangreich und liefert durchaus eine ganze Menge an Informationen und Hinweisen. Eine unabhängige Evaluierung ersetzt er allerdings nicht.
Ich will an dieser Stelle noch einmal auf die großartige Arbeit und das Engagement der vielen zivilen Entwicklungshelfer und der NGOs hinweisen, die oft unter
schwierigsten Bedingungen eine hervorragende Arbeit
leisten.
({2})
Ich muss hier aber auch sagen: Bei den NGOs und bei
der afghanischen Bevölkerung hat Minister Niebel mit
seinem Konzept der vernetzten Sicherheit und der zivilmilitärischen Zusammenarbeit für erhebliche Irritationen
und Verärgerung gesorgt.
({3})
Afghanistan wird weiterhin auf unsere Unterstützung
angewiesen sein. Man muss der Regierung in Kabul
auch sehr deutlich machen, dass wir Fortschritte erwarten, besonders im Bereich Good Governance, bei der
Einhaltung demokratischer Grundrechte und Menschenrechte, bei Pressefreiheit und Frauenrechten, bei freien
demokratischen Wahlen und bei der Bekämpfung von
Armut, Drogenhandel und Korruption. Auch der innerafghanische Versöhnungsprozess muss ernsthaft vorangetrieben werden; denn nur so - nicht nur militärisch ist der Konflikt dauerhaft zu lösen. Wir brauchen in Afghanistan eine politische Lösung.
({4})
In Bonn ist darauf verzichtet worden, von der Regierung Karzai ernsthafte Reformen als Vorbedingung für
weitere finanzielle Unterstützung einzufordern. Überhaupt ist neben dem Versöhnungsprozess die internationale Finanzierung Afghanistans ein zentrales Thema.
Klar ist: Der Finanzierungsbedarf für Afghanistan, auch
für die afghanischen Sicherheitskräfte, wird trotz Reduzierung der Zahl der internationalen Streitkräfte ansteigen. Auch die zivilen Hilfsprojekte werden noch auf längere Zeit von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden müssen.
Meine Fraktion steht zu ihrer Verantwortung. Deshalb
stimmen wir mit großer Mehrheit für die Fortsetzung des
deutschen Engagements - aber auch, weil die Regierung
viele unserer zentralen Forderungen übernommen hat.
Aber zum Abzug der Truppen gehört auch eine kritische Bewertung der bisherigen Maßnahmen und ein klarer Truppenabzugsplan, ein klares Konzept. Wenn der
Grundstein schief liegt, kann die Mauer nicht gerade
sein, besagt ein afghanisches Sprichwort. Das heißt, eine
gute Sicherheitslage und ein erfolgreicher Versöhnungsprozess sind Grundsteine für den Frieden und für eine
gute Entwicklungszusammenarbeit.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir entscheiden über den Antrag der Bundesregierung,
4 900 Soldaten, das heißt: 450 weniger als bisher, für ein
weiteres Jahr zur Teilnahme an der ISAF-Mission nach
Afghanistan zu entsenden. In dem Mandat heißt es auch,
dass eine weitere Reduzierung auf 4 400 Soldaten möglich ist, sofern es die Lage erlaubt.
In vielen Diskussionen in der Vergangenheit über dieses Mandat haben wir immer wieder gesagt: Es gibt
keine militärische Lösung. Aber es gibt eben auch keine
Lösung ohne Militär. Deshalb möchte ich mich genauso
wie meine Vorredner bei den Soldatinnen und Soldaten
bedanken. Denn ohne ihren Dienst wären die Aufbauerfolge in Afghanistan im Gesundheitswesen, im Bildungs-wesen und bei der Infrastruktur nicht möglich gewesen. Ohne ihren fortgesetzten Einsatz in Afghanistan
wäre auch eine politische Lösung nicht möglich.
Die politische Lösung muss alle Ebenen des Konflikts
adressieren: die internationale Ebene - al-Qaida darf
nicht wieder zurückkehren -, die nationale Ebene - es
geht um den Ausgleich der Interessen der Stämme und
um den Versöhnungsprozess in Afghanistan - und die regionale Ebene, nämlich die Einbeziehung der Nachbarn.
Die politische Lösung muss nach dem Motto „Zusammen rein, zusammen raus“ auch alle Beteiligten, nicht
zuletzt alle 40 ISAF-Truppensteller, mit einbeziehen. Ich
denke, auch Frankreich wird sich diesem Grundsatz der
Bündnissolidarität entsprechend verhalten.
({0})
Es ist aus meiner Sicht ein Erfolg der Bundesregierung, dass wir über eine realistische Strategie für eine
solche politische Lösung verfügen, die diesen komplexen Anforderungen entspricht. Ich möchte mich bei unserem Außenminister, Herrn Westerwelle, bei Verteidigungsminister de Maizière, aber auch bei dem Afghanistan-Beauftragten der Bundesregierung, Herrn Steiner,
ganz herzlich für diese konzeptionelle Vorarbeit und den
Einfluss, den sie international dafür genommen haben,
bedanken.
({1})
Was wollen wir erreichen? „Wir“ heißt nicht wir
Deutschen, sondern wir als internationale Gemeinschaft.
Wir wollen einen politischen Prozess in Afghanistan.
Wir wollen hinreichende Stabilität, und wir wollen das
Jahr 2014 als Zeithorizont für den Abzug der Kampftruppen. Dafür hat die internationale Afghanistan-Konferenz in Bonn sieben Prinzipien formuliert, nämlich
zwei für den Friedensprozess und fünf für das Ergebnis,
das erreicht werden soll.
Der Friedensprozess muss unter afghanischer Führung
stehen. Wir können das afghanische Engagement nicht
ersetzen. Der Friedensprozess muss auch die legitimen
Interessen aller Afghanen berücksichtigen, unabhängig
von Geschlecht oder Status.
Die Friedenslösung muss Folgendes beinhalten, und
zwar nicht als Vorbedingung, sondern als zu erzielendes
Ergebnis - dafür wurden fünf Prinzipien formuliert -:
erstens die Bestätigung eines souveränen und stabilen
geeinten Afghanistans. Ich weiß, dass verschiedentlich
darüber spekuliert wird, ob es nicht vielleicht besser
wäre, das Land würde sich irgendwie teilen. Aber ich
warne vor solchen Gedanken. Das ist ein tödliches Rezept für einen erneuten Bürgerkrieg. Erstes Ziel ist also
ein geeintes, souveränes und stabiles Afghanistan. Zweites Ziel ist der Gewaltverzicht. Drittens ist der Bruch mit
dem internationalen Terrorismus notwendig und viertens
Respekt gegenüber der afghanischen Verfassung einschließlich der darin verankerten Menschen- und Frauenrechte. Fünftens muss die Region den Friedensprozess
und sein Ergebnis respektieren und unterstützen.
Wir stellen uns natürlich die Frage, warum das jetzt
realistisch ist. Warum sollten sich die Aufständischen
und die Taliban darauf einlassen? Entscheidend ist dafür
aus meiner Sicht die Zusage der internationalen Gemeinschaft auf der Konferenz in Bonn, Afghanistan nach dem
Jahr 2014 noch ein Jahrzehnt, bis zum Jahr 2024, Hilfe
zu gewähren und Mittel für zivile Aufgaben und Entwicklungsprioritäten bereitzustellen, wie sie der afghanische Staat dann für sich setzen wird.
Die Taliban wissen, dass sie in der Zeit ihrer Herrschaft Fehler gemacht haben. Sie kennen die Umfragen
und wissen, dass sie nur etwa 4 bis 7 Prozent der Afghanen zurück an der Macht sehen wollen. Sie wissen auch,
dass die Erwartungen der Bevölkerung ohne Hilfe aus
dem Ausland nicht erfüllt werden können. Sie wissen
ebenfalls, dass diese Hilfe von Bedingungen abhängt.
Damit Hilfe auch nach 2014 geleistet werden kann,
brauchen wir allerdings weiterhin Unterstützung bei der
Sicherheitsvorsorge für die afghanischen Streitkräfte
- diese werden finanziert werden müssen - und beim
weiteren Aufbau der afghanischen Polizei. Deshalb war
ich etwas irritiert, als ich in dieser Woche im Spiegel gelesen habe:
Weil ohne Soldaten die Sicherheit nicht gewährleistet sei, werde Deutschland dann keine Anwärter
mehr für den afghanischen Polizeidienst ausbilden.
Das stammt angeblich aus irgendwelchen Regierungskreisen.
({2})
Ich denke, diese Irritationen sollten schleunigst ausgeräumt werden.
({3})
Denn es ist völlig klar, dass bei einer solchen Aussage
keine Entwicklungshilfe geleistet werden könnte. Selbstverständlich gehören zur Übergabe in Verantwortung
hinreichende Sicherheit, eine weitere Verbesserung der
Sicherheitsvorsorge und damit auch weitere Hilfe beim
Polizeiaufbau.
„Zusammen rein, zusammen raus“, das ist nicht nur
ein Prinzip für das Bündnis und das Militär. Es handelt
sich auch um einen politischen Grundsatz. Der Afghanistan-Einsatz ist von der rot-grünen Bundesregierung
beschlossen worden. Die damaligen Oppositionsfraktionen von Union und FDP haben ihn die ganze Zeit unterstützt.
({4})
- Stimmt, nicht immer. Aber ich rede jetzt nur für meine
Fraktion. - Wir haben das unterstützt. Es war ganz wichtig, Herr Trittin, dass wir über die Jahre eine breite parlamentarische Mehrheit hatten.
Jetzt liegt eine realistische Strategie für eine politische Lösung vor. Es gibt das klare Signal: Wir lassen die
Afghanen nicht im Stich. - Das Ganze ist international
abgestimmt. Bei dieser Sachlage wollen Sie sich, meine
Damen und Herren von den Grünen, der Stimme enthalten? Sie machen - ich formuliere es freundlich - einen
Kunstgriff, legen einen eigenen Entschließungsantrag
vor und tun so, als könnten Sie nur dann zustimmen,
wenn sich die Welt nach den Grünen richtet. Sie wollen
so Ihre Enthaltung und das Stehlen aus der Verantwortung begründen. Wenn sich jeder so verhalten würde,
würde man nicht nur dem Kant’schen Imperativ, wonach
man sich so verhalten soll, als ob man … - Sie kennen
das sicherlich -, nicht mehr entsprechen können. Ihr Verhalten ist - knapp zusammengefasst - weder besonders
moralisch noch besonders vernünftig.
({5})
Ich möchte Sie vor diesem Hintergrund auffordern,
diese Haltung noch einmal zu überprüfen, und zwar im
Interesse unserer Soldaten und einer politischen Lösung,
die umso besser zu erreichen ist, je klarer und breiter die
Signale sind, die aus diesem Parlament gesendet werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beim
heute zu verabschiedenden Afghanistan-Mandat soll es
um den Einstieg in den Ausstieg gehen; zumindest wird
dieser Eindruck erweckt. Die Wirklichkeit ist: Es geht
um einen Teilabzug - möglichst gesichtswahrend - und
darum, dass die NATO nach 2014 mindestens eine weitere Dekade am Hindukusch militärisch präsent bleiben
will. Was uns hier und heute serviert wird, ist ein Abzug
von Personal in homöopathischer Dosis, während gleichzeitig alles, was für harte Kriegführung benötigt wird, im
Land bleibt. Mehr noch: Die Verlegung weiterer Kampfhubschrauber ist geplant. Ein substanzieller Abzug sieht
anders aus.
({0})
Klar ist auch, dass die offensive Aufstandsbekämpfung - mit entsprechenden Opfern unter den Zivilisten
und den bewaffneten Akteuren - weitergehen soll. GePaul Schäfer ({1})
nau das aber blockiert den Beginn eines Friedensprozesses, den die Afghanen herbeisehnen, den sie endlich
brauchen. Seien Sie doch einmal ehrlich:
({2})
Die Vorstellung, dass es 2024 noch NATO-Soldaten am
Hindukusch geben könnte, ist schlicht irreal. Das wird
von der afghanischen Bevölkerung nicht akzeptiert werden, die endlich Selbstbestimmung will, statt weiterhin
Spielball geostrategischer Ambitionen anderer zu sein.
({3})
Selbst die Bundesregierung sagt: Der AfghanistanKrieg ist militärisch nicht zu gewinnen. - Wenn das richtig ist, kann es nicht darum gehen, jetzt Zeit zu gewinnen, sondern es muss darum gehen, die Zeit endlich zu
nutzen, um eine diplomatische Lösung des Konflikts zu
erreichen.
({4})
Ich erkläre Ihnen gerne noch einmal den Standpunkt
der Linken. Erstens. Nur ein vollständiger Truppenabzug
schafft die Voraussetzung für eine politische Friedenslösung.
({5})
Zweitens. Um dahin zu kommen, muss der zügige
Abzug in diesem Jahr mit vertrauensbildenden Maßnahmen verbunden sein, das heißt mit einem Ende der Angriffshandlungen. Waffenstillstandsvereinbarungen und
die Schaffung von entmilitarisierten Zonen - das wäre in
diesem Jahr angesagt.
({6})
Drittens. Es muss eine umfassende afghanische Verhandlungslösung mit Nachdruck gefördert werden. Dabei darf die afghanische Zivilgesellschaft nicht zum Anhängsel der Kriegsparteien gemacht werden.
Viertens. Die politische Lösung muss von Bemühungen um regionale Stabilität begleitet werden. Dazu gehört auch, dass die Bundesregierung auf die US-Regierung einwirkt, die kriegerischen Akte in Pakistan
einzustellen und die Hände vom Iran zu lassen.
({7})
Es ist natürlich gut, wenn jetzt vor allem über den
Truppenabzug gesprochen wird. Nur leider dreht sich
vor Ort die Spirale der Gewalt immer weiter. Deshalb
gilt: Nichts ändert sich in Afghanistan, zumindest nicht
2012. Die nächtlichen Hausdurchsuchungen gehen weiter, die Jagd auf mutmaßliche Aufständische, die ohne
Gerichtsverfahren ausgeschaltet werden sollen, geht
weiter.
In einem Beitrag der Stiftung Wissenschaft und Politik heißt es dazu kurz und bündig - ich zitiere -:
Das „gezielte Töten“ in großem Stil ist, so scheint
es, zur letzten Hoffnung in Afghanistan geworden.
Das ist schlimm. Wenn jetzt im deutschen Verantwortungsbereich noch US-Drohnen stationiert werden, die
genau für diese Kriegsführung geeignet sind, dann muss
einem angst und bange werden; denn an diesen gezielten
Tötungen - sie sind oft nicht sehr gezielt; es kam zu
schlimmen Verwechslungen, was die Vereinten Nationen,
das Internationale Rote Kreuz und viele andere kritisiert
haben - ist die Bundeswehr leider zumindest mittelbar
beteiligt. Genaues wissen wir nicht. Wer garantiert, dass
aus der Namensliste, die mit deutscher Beteiligung zustande kommt, keine Todesliste wird? Niemand.
Deshalb wollen wir, dass sich Deutschland nicht länger an dieser völkerrechtswidrigen, unmoralischen Kriegspraxis beteiligt, weder unmittelbar noch indirekt.
({8})
Sie haben in der namentlichen Abstimmung über unseren Entschließungsantrag heute Gelegenheit, das glasklar auszudrücken. Wenigstens dazu sollten Sie von der
FDP, von der CDU/CSU, von den Grünen und von der
SPD bereit sein. Sie mögen ja die Fortsetzung von ISAF
verantworten, aber lehnen Sie wenigstens die deutsche
Beteiligung an diesen ungesetzlichen, ethisch nicht zu
verantwortenden Tötungen ab. Darum bitte ich Sie ganz
dringend.
Vielen Dank.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan dauert nun
schon über zehn Jahre. Diese zehn Jahre sind auch eine
Geschichte westlicher Fehleinschätzungen und gescheiterter Hoffnungen. Deswegen war die Wende von Präsident Obama hin zu einer neuen Strategie für eine politische Lösung Anfang 2010 so wichtig, und es gilt, diese
Strategie international politisch zu verteidigen, wenn sie
nun im Rahmen des Wahlkampfes in den USA in die
Kritik der republikanischen Opposition gerät.
Dazu gehört auch der Abzug der internationalen
Kampftruppen bis 2014. Wir unterstützen, dass die Bundeswehr das im Geleitzug mit unseren Partnern macht.
Dazu gehört auch die Verpflichtung zum zivilen Engagement bis 2024 und darüber hinaus.
Jetzt kommt die entscheidende Phase der Umsetzung.
Der Beschluss zur Eröffnung eines Verbindungsbüros
der Taliban in Katar war sicherlich ein zentraler Schritt
für den Start von Verhandlungen. Dieser Weg ist richtig
und muss weiter fortgesetzt werden. Dafür werden wir
Grüne werben, und dafür hat die Bundesregierung auch
unsere Unterstützung.
({0})
Aber mit dem Mandat, das Sie uns hier vorlegen, sind
wir so nicht einverstanden. Die erste Abzugsetappe, die
Sie für dieses Mandat angekündigt haben, ist im Wesent18564
lichen eine Luftbuchung. Fast 1 000 Soldaten würden
jetzt nach Hause kommen - das haben Ihre Pressesprecher im November verbreitet. Wenn man sich die Zahlen
ansieht, stellt man fest: Real ziehen Sie rund 200 Soldaten ab, mehr nicht. Sie lösen die flexible Reserve auf, die
zum größten Teil nicht eingesetzt wurde, und Sie stellen
in Aussicht, dass Sie vielleicht, wenn die Umstände es
zulassen, weitere 500 Soldaten 2012 abziehen könnten.
Planungen darüber hinaus: komplette Fehlanzeige. Es
bleibt schleierhaft, wie Ihr Konzept für die NATO-Abzugskonferenz im Mai in Chicago aussieht. Ich sage:
Klarheit sieht wirklich anders aus.
({1})
Sie beenden auch nicht die Verstrickung der Bundeswehr in die offensive Aufstandsbekämpfung im Rahmen
des sogenannten Partnerings. Insbesondere die Captureor-kill-Operationen blockieren die Versuche einer politischen Lösung viel mehr, als dass sie sie ermöglichen. Es
ergibt keinen Sinn, die Verhandlungspartner von morgen
heute einfach wegzubomben. Die zivilen Opfer sind
enorm. Das ist kontraproduktiv und muss beendet werden.
({2})
Dieses Mandat sollte den Abzug unserer Kampftruppen einleiten. Wenn wir im Jahr 2014 die Kampftruppen
ganz heraus haben wollen, dann müssen wir ihre Stärke
2012 und 2013 substanziell reduzieren. Wenn Herr de
Maizière im Dezember sagt, dass er meint, dass deutsche
Kampftruppen auch nach 2014 in Afghanistan sind,
dann stellt er die zentrale Botschaft der internationalen
Gemeinschaft zum Abzug infrage. Das ist ein Wirrwarr
und kein klares Konzept.
({3})
Darum ist die Kritik an der konkreten Planungsverweigerung der Bundesregierung für uns eine zentrale
Frage. Deswegen wird die große Mehrheit meiner Fraktion diesem Mandat heute nicht zustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Elke Hoff das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bin über die Positionierung meiner Vorredner etwas überrascht. Lieber Paul Schäfer, Sie stellen
hier Behauptungen in den Raum und unterstellen unseren Soldatinnen und Soldaten Dinge, deren Beweis Sie
am Ende schuldig bleiben.
({0})
Unsere Soldatinnen und Soldaten in der Öffentlichkeit
und vor versammeltem Publikum in eine solche Gemengelage hineinzuziehen, finde ich ungehörig und absolut
unanständig.
({1})
Kollegin Hoff, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Gehrcke?
Ja, bitte schön.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Hoff. - Sie wie wir,
Herr Schäfer und ich, sitzen hin und wieder im Verteidigungsministerium im sogenannten U-Boot. Ihnen wie
uns werden Dias von Personen gezeigt, die angeblich in
Anschläge verwickelt waren. Weder Sie noch wir wissen, ob das stimmt. Wir wissen: Wenn diese Personen
auf der Liste benannt werden, sollen sie ausgeschaltet
werden. Das heißt, sie können verhaftet werden, das
heißt aber auch - Herr Schäfer hat das nicht der Bundeswehr unterstellt -, sie können von Einsatzkräften anderer
Nationen erschossen oder mit Drohnen liquidiert werden.
Ich finde, damit muss Schluss sein. Sie wissen, dass
ein solches Vorgehen der Ministergenehmigung bedarf.
Das heißt, die Verteidigungsminister haben in dieser Art
und Weise an einer völkerrechtswidrigen Aktion mitgewirkt.
({0})
Verehrter Herr Kollege Gehrcke, dies ist wiederum
eine Behauptung Ihrerseits, für deren Beweis Sie hier
nichts liefern.
({0})
Sie zitieren hier aus einem Gremium und ziehen dies
jetzt in der Öffentlichkeit sozusagen zur Legitimation Ihrer Position bei. Dazu kann ich Ihnen sagen: Dies ist ein
unfaires, um nicht zu sagen, ein unanständiges Mittel
politischer Rhetorik. Wenn wir uns über diese Dinge in
der Öffentlichkeit unterhalten, würde ich Sie bitten, der
Öffentlichkeit auch einen Beweis dafür zu liefern. Dann
können wir an dieser Stelle über alles reden.
({1})
Der nächste Punkt: Verehrter Herr Kollege Schmidt,
Sie haben dankenswerterweise die Linie der Bundesregierung durchaus unterstützt. Ich kann mich auch noch
sehr gut daran erinnern, wie Kollege Trittin in anderem
Zusammenhang mit großer Vehemenz die Bündnisfähigkeit und die Bündnisverpflichtungen hervorgehoben hat.
Nur dann muss, bitte schön, auch eine gemeinsame Abzugsplanung auf den Weg gebracht werden.
({2})
Sie wissen genauso gut wie wir, dass die Entscheidung
vieler kleiner Partnernationen im Bereich des Regionalkommandos Nord auch davon abhängig sein wird, wie
wir uns gemeinsam mit dem amerikanischen Bündnispartner abstimmen. Es ist doch Humbug, hier zu behaupten, wir legten jetzt für die nächsten drei Jahre eine detaillierte Abzugsplanung vor.
Die weitere Entwicklung wird von vielen Parametern
abhängig sein. Sowohl der Verteidigungsminister als
auch der Außenminister haben sehr deutlich gemacht,
dass ein wesentlicher Parameter dafür die Lage vor Ort
ist. Wir haben nämlich nach wie vor die Verantwortung
für die Frauen und Männer, die wir im zivilen und im
militärischen Bereich in diesen Einsatz hineinschicken
werden. Aufgrund der heutigen Situation halte ich es für
vernünftig, mit einem behutsamen Abzug zu beginnen,
zu sehen, wie er sich im Einzelnen auswirkt, und vor allen Dingen nach und nach die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, parallel zu diesem Abzug ihre Fähigkeiten einzubringen und letztendlich unter
Beweis stellen zu können.
Kollegin Hoff, gestatten Sie eine weitere Frage oder
Bemerkung des Kollegen Hans-Christian Ströbele?
Eine Frage, aber keine Bemerkung.
({0})
Das liegt nicht in unserem Ermessen, wenn er nach
unserer Geschäftsordnung einmal das Wort erteilt bekommen hat.
Selbstverständlich stelle ich eine Frage. - Frau Kollegin, Sie haben gerade in der Diskussion mit dem Kollegen Gehrcke gesagt, Sie vermissten Beweise für das,
wonach er Sie gefragt hat.
Ja.
Ich will Ihnen die Quelle für Beweise nennen: Sie
sitzt da; das ist nämlich die Bundesregierung. Ich habe
die Bundesregierung gefragt, ob auch die Bundeswehr
Namen für die Listen „capture or kill“ liefert. Die Bundesregierung hat diese Frage mit Ja beantwortet.
Dann habe ich eine weitere Frage gestellt: Kann die
Bundesregierung ausschließen, dass die Listen von namentlich genannten Personen auch für reine Kill-Aktionen benutzt werden? Da hat mir die Bundesregierung geantwortet: Nein, sie könne das nicht ausschließen.
Deshalb gehe ich davon aus, dass sowohl die USA als
auch andere diese Kill-Aktionen auch gegen Personen,
die von der Bundeswehr namentlich gelistet worden
sind, durchführen. Das heißt, es sterben Menschen durch
solche Aktionen
({0})
auf der Grundlage der Listung durch die Bundeswehr.
Lieber Herr Kollege Ströbele, was ich viel lieber ausschließen würde, ist, dass Personen, die hier sozusagen
als die Good Guys in Afghanistan dargestellt werden,
weiterhin dafür verantwortlich sind, ohne Rücksicht auf
Verluste den überwiegenden Teil der zivilen Opfer in Afghanistan zu verursachen.
({0})
Diese Personen sind dafür verantwortlich, dass Angehörige der NATO-Truppen, die den politischen Auftrag erfüllen, mit dem wir sie dorthin schicken, umgebracht, in
die Luft gesprengt, verwundet oder getötet werden. Es
tut mir leid: Hier gerät die Diskussion in eine Schieflage.
Lieber Herr Ströbele, ich würde mir wünschen, dass
Sie sich mit der gleichen Vehemenz, mit der Sie sich für
dieses politische Anliegen einsetzen, auch dafür einsetzen, dass die Öffentlichkeit erfährt, welche Opferzahlen
in welcher Art und Weise die Herrschaften, die Sie eben
hier als auf der Liste befindlich angesprochen haben,
ohne Rücksicht auf Verluste verursacht haben.
({1})
Dann können wir über alles andere gerne weiter diskutieren. Ich finde es wirklich unglaublich, dass ich von Ihnen in der politischen Diskussion noch nie auch nur ein
einziges Wort an dieser Stelle gehört habe.
Meine Damen und Herren, zurück zum Thema.
Kollegin Hoff, es gibt eine weitere Wortmeldung. Gestatten Sie eine Frage der Kollegin Hänsel?
Ja.
Kollegin Hänsel, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Hoff, Ihre Antwort hat mich zu einer weiteren Frage provoziert. Sie haben davon gesprochen, dass bestimmte Personen in der
Öffentlichkeit als Good Guys dargestellt werden. Damit
unterstellen Sie doch, dass wir, wenn wir uns für die Einhaltung von Völkerrecht und gegen das Verüben von
Kriegsverbrechen einsetzen, automatisch Aufständische,
Verbrecher oder wen auch immer als Good Guys ansehen. Das muss ich hier einmal für alle aus meiner Fraktion zurückweisen.
({0})
Nun meine Frage an Sie: Heißt das, dass für mutmaßliche Täter und Verbrecher - „mutmaßliche“; es hat ja
keinen Prozess und keine strafrechtliche Verfolgung gegeben - Völkerrecht, Menschenrechte und die Genfer
Konvention nicht gelten?
Nein, das heißt es ganz gewiss nicht. Ich möchte an
dieser Stelle aber ausdrücklich betonen, dass ich das,
was von dem Kollegen Schäfer eben vorgetragen wurde,
sehr wohl als auf das Handeln der Bundeswehr und der
Bundesregierung bezogen angesehen habe; denn wir reden heute über das Mandat, über das wir hier entscheiden.
({0})
Wenn Sie bei den Unterrichtungen sehr aufmerksam
zugehört haben - diese sind kein Geheimnis, weil sie öffentlich waren -, werden Sie feststellen, dass deutsche
Soldaten, die an Zugriffsoperationen beteiligt waren, die
betreffenden Personen den afghanischen Sicherheitskräften übergeben haben. Aber in dem Moment, in dem
infrage gestellt wurde, ob die afghanischen Gefängnisse
oder Polizeistationen, die diese Personen aufnehmen
sollten, den völkerrechtlichen und humanitären Standards entsprachen, wurden diese Aktionen unverzüglich
eingestellt. Das heißt, dass wir uns mit dem, wofür wir
politisch verantwortlich zeichnen, durchaus auf absolut
einwandfreiem legitimem Boden bewegen. Darauf bin
ich auch im Namen unserer Soldatinnen und Soldaten
sehr stolz.
({1})
Aber jetzt wieder zurück zum Thema.
({2})
- Wir mandatieren heute, sehr geehrter Herr Kollege.
Deswegen ist das jetzt das Thema, und auf das möchte
ich gerne eingehen.
Zehn Jahre Afghanistan-Einsatz haben erhebliche Spuren in der politischen Diskussion in unserem Land, aber
auch erhebliche Spuren bei der Umstellung und Anpassung unserer Streitkräfte hinterlassen. Ich glaube, dass in
der Geschichte der Bundeswehr selten zuvor eine solche
Anpassungsleistung im Hinblick auf eine völlig neue Herausforderung und eine völlig neue Form von Konfliktbewältigung, von Kriegsführung stattgefunden hat. Ich
möchte an dieser Stelle ausdrücklich unseren Streitkräften
und allen dafür Verantwortlichen ein Dankeschön aussprechen. Sie haben für Vertrauen in der Region gesorgt.
Eines ist aber wichtig - auch für unsere Soldatinnen
und Soldaten -, nämlich dass über das weitere Vorgehen
jetzt Klarheit herrscht und dass wir den Abzug unserer
Truppen konstruktiv begleiten, um das Risiko für die Betroffenen weitestgehend zu minimieren.
An dieser Stelle ein Appell an die Bundesregierung:
Wir mandatieren heute auch die Fähigkeit der Bundeswehr mit Blick auf Eigensicherung und Evakuierung. Es
ist kein Geheimnis, dass dies bisher nur mit Unterstützung unserer amerikanischen Verbündeten geschehen
konnte. Wir haben dankenswerterweise - auch durch den
Einsatz des Ministers und des Generalinspekteurs - eine
weitere Zusage für den neuen Mandatszeitraum bekommen. Dennoch bin ich der Meinung, dass wir uns bereits
heute Gedanken darüber machen müssen, wie diese Fähigkeit, die wir heute mandatieren und auch weiterhin
mandatieren wollen, für die schwierige Zeit des weiteren
Abzugs sichergestellt werden kann.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Dr. Rolf Mützenich hat nun für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Anfang will ich Herrn Link - ich sehe ihn im Moment nicht, aber er wird sicher gleich wieder anwesend
sein - ganz herzlich zu seiner Ernennung zum Staatsminister gratulieren und ihm die gute Zusammenarbeit unserer Fraktion anbieten.
Die Entsendung von Soldaten ist niemals reine Routine hier im Deutschen Bundestag gewesen. Aber der
heutige Beschluss über das Mandat, das die Bundesregierung vorgelegt hat, ist schon ein bedeutender Einschnitt. Wir haben erstmals eine Reduzierung der Zahl
von Soldaten in dem Mandat für Afghanistan, und eine
weitere Absenkung im Laufe des Jahres ist in dem Mandat zumindest angedeutet. Außerdem erfolgt diese Mandatierung, was uns als Sozialdemokraten ganz besonders
wichtig ist, im Rahmen internationaler Verabredungen.
Wenn man für eine multilaterale Politik eintritt, für eine
Politik, die sich an Regeln und Normen orientiert, dann
muss man sagen: Dieses Mandat ist richtig, insbesondere
weil es zum Teil auch auf einer internationalen Konferenz entstanden ist.
Die Außergewöhnlichkeit dieses Mandates besteht
auch darin, dass der Deutsche Bundestag zumindest in
dieser Form wahrscheinlich noch zweimal wird entscheiden müssen. Auch dies ist ein fundamentaler Wandel, der Aussagen über die Bedeutung des heutigen Beschlusses zulässt. Gleichzeitig darf - diese Auffassung
teile ich - die Aufmerksamkeit für Afghanistan und für
die Region auch nach 2014 nicht nachlassen. Das liegt
nicht nur im Sicherheitsinteresse Europas, sondern auch
im Interesse der gesamten internationalen Politik. Ich
glaube, dass das auch über die Fraktionen hinweg Konsens findet.
Wenn wir heute in dieser Form über die Entsendung
entscheiden, ist das in der Tat ein fundamentaler Wandel.
Aber wir sollten heute insbesondere über die außenpolitischen Implikationen dieses Mandates reden, weil sich
dahinter ebenfalls ein fundamentaler Wandel verbirgt,
der nur dann klar wird, wenn man sich noch einmal daran erinnert, was es in den letzten Jahren bedeutet hat,
für die internationale Afghanistan-Politik einzutreten.
Manches wurde falsch angelegt, und manches wurde
unterschätzt. Das haben wir von Anfang an gesagt.
Heute besteht in der internationalen Gemeinschaft Konsens darüber, dass es keine militärische Lösung für Afghanistan gibt, sondern nur eine politische Lösung. Wir
als sozialdemokratische Bundestagsfraktion haben dies
von Anfang an gesagt, und mittlerweile ist dies auch
Konsens. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn wir uns
noch einmal die Jahre der Bush-Administration anschauen, dann können wir sagen, dass militärische Lösungen im Vordergrund standen. Eine kleine militärische
Intervention in Afghanistan sollte das Problem des internationalen Terrorismus lösen. Das war zu kurz gedacht.
Das ist auch der fundamentale Wandel, der sich hinter
dieser außenpolitischen Wende verbirgt.
Es gab zur Frage des Staatsaufbaus keinen Beitrag im
Zettelkasten der damaligen amerikanischen Regierung.
Auch das hat sich in der Vergangenheit gewandelt. Es
war wichtig, dass dies auf der Londoner Konferenz auch
so gesagt wurde. Heute ist daran erinnert worden, dass
mit allen Bürgerkriegsparteien zu sprechen ist. Auch
dies war unser Ansatz. Jetzt ist in Katar ein sogenanntes
Verbindungsbüro der Taliban eröffnet worden. Was ist
das für ein Kontrast zu den Jahren 2006 und 2007, als
die britische Regierung erstmals mit den Taliban konkrete Verabredungen in der Region Helmand getroffen
hatte und dies militärisch von den US-Streitkräften hintergangen wurde.
Der fundamentale Wandel in der Außenpolitik besteht
unter anderem auch darin, dass diese Region jetzt die
volle Konzentration der internationalen Gemeinschaft
bekommt. Afghanistan und Pakistan wurden in den Jahren 2002 und 2003 schlagartig nicht mehr beachtet, weil
der Irak plötzlich in den Fokus genommen wurde. Der
eine oder andere weiß noch, von wem die Regierung
Bush damals ermutigt wurde, den Irak in den Fokus zu
nehmen und sich vom Engagement in Afghanistan abzusetzen. Ich glaube, darüber müssen wir auch im Bereich
der Innenpolitik reden.
Es gibt also einen fundamentaler Wandel, der mit einem Namen verbunden ist: mit dem Namen von Präsident Obama. Er hat es ermöglicht, dass auf der Londoner
Konferenz die verbindlichen Verabredungen getroffen
worden sind. Es ist insbesondere in den letzten Tagen
deutlich geworden, was es bedeuten könnte, wenn die
amerikanische Administration nach dem November dieses Jahres nicht mehr gemeinsam mit uns darüber bestimmen würde, was Aufgabe der internationale Afghanistan-Politik ist. Deswegen, glaube ich, ist es heute so
wichtig, dass dieser Beschluss außenpolitisch gewürdigt
wird.
Ich sage allen: Der außenpolitisch fundamentale Wandel macht sich in diesem Mandat nach meinem Dafürhalten heute sehr deutlich bemerkbar. Wenn wir diesem
Mandat als Sozialdemokraten mehrheitlich zustimmen,
dann hat es etwas damit zu tun, dass wir uns weiterhin
daran beteiligen wollen, wie dieses Mandat ausgestaltet
wird. Wir gehen davon aus, dass es eine weitere Absenkung der Truppenstärke geben wird. Wir haben dieses
Mandat sehr aufmerksam gelesen und dem zugehört,
was in den beratenden Ausschüssen gesagt worden ist.
Wir wollen uns daran beteiligen, festzulegen, wie die
Sicherheit und wie die Zukunft des Landes Afghanistan,
insbesondere im Hinblick auf die Korruptionsbekämpfung, aussieht. Wir wollen auch mit darüber bestimmen
- ich glaube, dies ist auch für die Fraktion der Grünen
ganz wichtig -, wie in Zukunft mit den Taliban Verabredungen getroffen werden. Wir wollen doch nicht Afghanistan sozusagen in dem Zustand verlassen, der möglicherweise in den vergangenen Jahren vorgeherrscht hat.
Man wird es nur schaffen können, zukünftige Bedingungen für dieses Mandat festzulegen, wenn man ihm heute
zustimmt, auch was die Frage der Sicherheitskräfte und
vieles andere bedeutet.
Ich nenne noch einen entsprechenden Punkt, der mir
ganz wichtig ist. Es ist die Frage, wie die Nachbarn mit
diesem regionalen Konflikt umgehen. Ich weiß, dass von
Deutschland keine unmittelbaren Einflüsse auf Indien
und Pakistan ausgeübt werden können. Wir haben aber
zum Beispiel Einfluss auf die USA, die wiederum Einfluss auf Indien nehmen können, um Verabredungen dahin gehend zu treffen, dass Afghanistan nicht länger der
Ort ist, wo sich die Gegensätze zwischen Indien und Pakistan so deutlich bemerkbar machen. Auch solche
Überlegungen stecken nach meinem Dafürhalten ganz
fundamental hinter diesem Mandat.
Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Antrag auf die
gezielten Tötungen hingewiesen. Wenn ich das einmal
so sagen darf: Das ist nicht Ihr Alleinstellungsmerkmal.
Es gab heute bereits eine diesbezügliche Wortmeldung.
Viele andere Kolleginnen und Kollegen im Deutschen
Bundestag versuchen seit mehreren Jahren, durch Anfragen an die Bundesregierung mehr über dieses Thema zu
erfahren und darüber zu reden. Ich stelle mich dieser
Diskussion; das wissen Sie ganz genau. Dahinter verbergen sich auch moralische und ethische Fragen sowie insbesondere Fragen des Völkerrechts.
Kollege Mützenich, wollen Sie die Gelegenheit wahrnehmen, eine Frage zu beantworten?
Ja, aber vielleicht kann der Kollege Gehrcke dann fragen, wenn ich meine Ausführungen dazu gemacht habe.
Nein, das kann er nicht, weil dann Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Dann nutze ich diese Zwischenfrage, um meine Redezeit zu verlängern, Frau Präsidentin.
Das dachte ich mir.
({0})
Die Behauptung, dass das zwischen uns beiden abgesprochen wäre, weise ich natürlich entschieden zurück.
Ich wusste ja gar nicht, was Sie sagen werden.
Nur einmal zur Klarstellung: Ich möchte wissen, ob
Sie folgende deutliche Aussage meinerseits akzeptieren:
Ich lege überhaupt keinen Wert darauf, dass dieser Antrag und diese Überlegung, sich nicht weiter an gezielten
Tötungen zu beteiligen, ein Alleinstellungsmerkmal der
Linken sind. Ich wäre über jede Kollegin bzw. über jeden Kollegen, die bzw. der ähnlich abstimmt und ähnlich
in der Öffentlichkeit argumentiert, außerordentlich dankbar. Können Sie diese Aussage akzeptieren?
({0})
Lieber Kollege Gehrcke, das kann ich akzeptieren.
Ich wollte Ihnen nur deutlich machen, wo aus meiner
Sicht der Unterschied zu Ihrer Argumentation liegt.
Der Kollege Schäfer hat eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik erwähnt, die die Frage des Kriegsvölkerrechts sehr ausführlich behandelt hat. Ich wundere
mich sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, dass Sie diese Frage in Ihrem Antrag an
keiner einzigen Stelle erwähnt haben. Das Internationale
Komitee vom Roten Kreuz macht es sich nicht so einfach, wie Sie es sich in Ihrem Antrag gemacht haben,
sondern es nimmt eine viel differenziertere Position ein.
Wenn ich die Gelegenheit nutzen darf, will ich Ihnen
zugleich sagen: Ich glaube, dass Sie letztlich zu kurz gesprungen sind. Es handelt sich eben nicht nur um ein
Problem gegenüber Afghanistan. Was die US-Politik angeht, ist es auch ein Problem gegenüber dem Jemen. Zugleich ist es ein Problem anderer Länder: Es ist ein Problem Russlands, Israels, Kolumbiens und vieler anderer
Länder mehr.
Deswegen möchte ich Sie gerne einladen: Lassen Sie
uns versuchen, im Auswärtigen Ausschuss ein noch viel
stärkeres Momentum zu schaffen. Dies könnte möglicherweise mithilfe einer Diskussion geschehen, die die
Bundesregierung anstoßen könnte. In der Tat unterstütze
ich Ihren Gedanken, Herr Kollege Gehrcke. Ich finde
auch, dass eine mutige und prinzipienfeste Bundesregierung das Ganze gegenüber ihren Partnern thematisieren
müsste. Es reicht nicht, nur zu sagen: Wir machen das
nicht mit.
({0})
Ich glaube - darüber sind wir uns einig -, das gehört zu
dieser Politik dazu.
Für die Sozialdemokraten sage ich daher: Für uns war
es nie einfach gewesen, ein Mandat für Afghanistan zu
beschließen. Am Anfang stand bei uns eine Vertrauensabstimmung; das wissen Sie. Viele Kolleginnen und
Kollegen haben in Form von persönlichen Erklärungen
Bedenken geäußert. Ich glaube aber, die Mehrheit meiner Fraktion wird heute dennoch diesem Mandat zustimmen. Das geschieht aber eben nicht, weil unser Abstimmungsverhalten ein Vertrauensvotum für diese Bundesregierung sein soll. Vielmehr ist es ein Votum für die
Hoffnung, dass die Weichen für Afghanistan in die richtige Richtung gestellt werden.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute wieder einige Worte gehört über das deutsche
Engagement in Afghanistan nach 2014. Es ist richtig,
dass wir uns weiterhin auch zivil in Afghanistan engagieren müssen. Dafür brauchen wir aber eine vertrauensvolle Grundlage auch mit den afghanischen Partnern.
Diese Vertrauensgrundlage wird von dieser Bundesregierung kontinuierlich untergraben.
({0})
Ein Beispiel: finanzielle Hilfe. Ja, wir werden uns
auch nach 2014 finanziell in Afghanistan engagieren
müssen. Wir versuchen seit zwei Jahren, herauszufinden,
welche verbindlichen Zusagen an die afghanischen Partner diese Bundesregierung zu geben bereit ist. Seit zwei
Jahren hören wir, die übernächste internationale Konferenz sei die Geberkonferenz, also nicht London, nicht
Istanbul, nicht Bonn und auch nicht Tokio; es wird immer weiter nach hinten geschoben. Wie sollen denn die
Afghanen, die eminent auf uns angewiesen sind, jetzt eigentlich planen? Wie sollen sie tatsächlich Vertrauen in
unser Commitment und unsere Zusammenarbeit in Afghanistan aufbauen, wenn sie nicht wissen, inwieweit
wir bereit sind, uns dort zu engagieren?
({1})
Ein gravierenderes Beispiel: die Polizeiausbildung;
sie ist gerade völlig zu Recht vom Kollegen Polenz angesprochen worden. Man kann Rot-Grün vielleicht so
manchen Fehler in der Politik der letzten zehn Jahre vorwerfen; gerade zu Beginn haben wir einige Fehleinschätzungen in Bezug auf Afghanistan gemacht. Rot-Grün hat
aber damals, am Anfang des Engagements, eines geOmid Nouripour
wusst - es ist eine Weisheit, die heute Common Sense
ist, die alle nachsprechen -: Die Polizeiausbildung ist für
die Schaffung dauerhafter Stabilität in Afghanistan eminent wichtig.
Es gibt jetzt die einmalige Gelegenheit einer Gemeinsamkeit von Außen- und Verteidigungsminister. Beide
sagen: Auch nach 2014 wird es in Afghanistan Polizeiausbildung geben. - Schön, dass sie sich einmal einig
sind; Herr Botschafter Steiner hat das auf unserer Afghanistan-Konferenz im November unterstrichen. - Herr
Kollege Polenz, so anonym, wie Sie tun, ist es nicht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der CDU/CSU-Fraktion?
Sehr gerne. Bitte schön.
Herr Kollege Nouripour, wie stehen Sie zu dem Vorwurf, dass der eine oder andere auf die Idee kommen
könnte, dass sich die Grünen, deren Minister seinerzeit
diesen Einsatz begonnen hat, nun dadurch in die Büsche
schlagen, dass sie der Verlängerung des Mandats nicht
zustimmen? Oder umgekehrt: Sollen wir es so interpretieren, dass dieses Mandat deshalb nicht die Zustimmung der Grünen findet, weil es erstmals eine Reduzierung der Zahl der Soldaten vorsieht und eine klare
Abzugsperspektive enthält?
({0})
Kollege Hardt, ich bin ziemlich stolz darauf, dass sich
meine Fraktion jedes Mal eine sehr intensive Debatte um
jedes einzelne Mandat leistet.
({0})
Ich glaube: Wenn Sie sich eine ähnlich intensive Debatte
leisten würden, dann würden die Abstimmungsverhältnisse bei Ihnen auch ein bisschen anders aussehen.
({1})
Wir waren gerade beim Thema Polizeiausbildung. Es
gibt drei Antworten auf die Vorwürfe, dass wir hier zu
wenig gemacht hätten - sie kommen immer wieder -:
Zum einen sind wir im Gegensatz zu anderen Fraktionen, die heute Verantwortung tragen, zur Selbstkritik fähig.
({2})
- Nein, nein, wir wissen, dass wir Dinge falsch gemacht
haben. - Wir sagen: Die Polizeiausbildung muss weitergehen. Sie beenden sie - ich wollte das gerade ausführen -, und das ist absurd. Es tut mir leid. Wir werden
weiterhin sehr genau schauen, was passiert. Sie wissen
genau: Die Wahrheit ist immer konkret. Das, was die
Bundesregierung hier liefert, ist überhaupt nicht konkret.
Deshalb gibt es keinerlei Grundlage für Vertrauensbildung in Afghanistan. Das ist das Hauptproblem, das wir
derzeit haben.
({3})
Noch einmal: Das Abstimmungsverhalten ist eine Gewissensentscheidung; vielleicht sollten auch Sie es freigeben.
Jetzt zu Herrn Friedrich. Noch einmal: Es ist nicht so
anonym, wie der Kollege Polenz tut. Herr Kollege
Friedrich wird damit zitiert, dass die Polizeiausbildung
in Afghanistan nach 2014 nicht mehr weitergehe, weil
die Bundeswehr dann nicht mehr da sei. Das ist eine unglaublich spannende Argumentation, die ganz bestimmt
kein Vertrauen ausstrahlt: kein Vertrauen in die Arbeit
der Polizistinnen und Polizisten sowie der Bundeswehrangehörigen, die die afghanischen Sicherheitsleute ausgebildet haben, vor allem kein Vertrauen in das eigene
Versprechen, dass man alles tun werde, damit die afghanischen Sicherheitskräfte im Jahr 2015 selbst die Sicherheit gewährleisten können. Sie können doch nicht auf
der einen Seite sagen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte selbst die Sicherheit gewährleisten können, und
auf der anderen Seite sagen: Wir werden dann keine
Polizisten mehr nach Afghanistan schicken, weil die Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist.
({4})
Insofern wäre es richtig, dass diese Bundesregierung
konkrete Versprechen abgibt, dass sie mit einer Stimme
spricht und Verantwortung trägt, wenn es darum geht, in
Afghanistan Vertrauen aufzubauen. Wir brauchen dieses
Vertrauen für die Zusammenarbeit. Was Sie tun, führt zu
einer Verunsicherung genau der Kräfte in Afghanistan,
die unsere Partner für eine friedliche Zukunft dieses geschundenen Landes sind.
({5})
Das Wort hat nun Karl Lamers für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
entscheiden heute über die Verlängerung des ISAF-Mandats. Mit diesem Mandat werden wir unserer Verantwortung für Afghanistan auch in Zukunft gerecht.
({0})
Herr Gehrcke, die ständige, immer wieder erhobene Forderung der Fraktion Die Linke nach einem sofortigen
Rückzug aus Afghanistan, weise ich aufs Schärfste zurück;
({1})
Dr. Karl A. Lamers ({2})
denn das hieße, den Erfolg der gesamten ISAF-Mission
zu gefährden, alles bisher Erreichte aufs Spiel zu setzen,
Afghanistan und die gesamte Regierung zu destabilisieren und unseren Ruf - auch das ist sehr wichtig - als verlässlicher Bündnispartner zu gefährden. Verantwortungsvolle Sicherheitspolitik sieht anders aus.
({3})
Der Abzug aus Afghanistan beginnt. Mit diesem
Mandat nimmt er konkrete Formen an. Erstmals nach
zehn Jahren wird die Zahl unserer Soldaten verringert.
Die Richtung stimmt also. Die Obergrenze wird fortan
4 900 Soldaten betragen. Sofern es die Sicherheitslage
erlaubt, streben wir zum Ende des Mandatszeitraums die
Zahl 4 400 an. Diese Reduzierung ist das Ergebnis dessen, was wir bisher erreicht haben. Im Sommer letzten
Jahres hat die afghanische Regierung begonnen, die Sicherheitsverantwortung für ihr Land selbst zu übernehmen, und zwar in Regionen, in denen die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden. Bis Ende 2014 soll dieser
Übergangsprozess abgeschlossen sein.
Die Sicherheitslage im Land ist besser geworden. Das
ist unbestreitbar. Schritt für Schritt kommen wir dem
großen Ziel näher, Afghanistan so zu unterstützen, dass
künftig von dort kein Terror mehr exportiert wird, dass
die Menschen dort sicherer leben können und dass die
afghanischen Staatsorgane, die Vereinten Nationen und
die vielen zivilen Helfer der in- und ausländischen Organisationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können.
Die Taliban sind durch die Strategie und den unermüdlichen Einsatz der ISAF-Kräfte, der ohne Frage mit
vielen Opfern und schmerzlichen Verlusten verbunden
ist, offensichtlich nicht mehr zu großen, zusammenhängenden Operationen fähig.
({4})
Wir müssen aber mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen,
dass und wie sie ihre Taktik geändert haben. Ich denke
an den perfiden Mordanschlag eines afghanischen Soldaten auf französische Soldaten in der letzten Woche.
Auch wir waren im vergangenen Jahr Zielscheibe eines
solch hinterhältigen Anschlags. Aber solche Ereignisse
dürfen nicht dazu führen, dass sich Misstrauen und
Angst wie ein lähmendes Netz über uns legen und uns
vom eingeschlagenen Weg des Abzugs in Verantwortung
abbringen.
Die afghanischen Sicherheitskräfte haben jetzt eine
ungefähre Stärke von 300 000 Mann. Gewiss, das reicht
noch nicht, aber wir nähern uns mit großen Schritten
dem Aufstellungsziel von 352 000 Mann. Der massive
Ausbildungseinsatz der ISAF macht sich bezahlt. Immer
mehr Regionen in Afghanistan können der Sicherheitsverantwortung der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte übergeben werden. In der Nordregion - Herr
Stinner hat darauf hingewiesen -, in der wir Deutsche
die Verantwortung tragen, werden in diesem Jahr 50 Prozent der Bevölkerung in solchen Gebieten leben.
Es ist mir ein Herzensanliegen, unseren Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr, den deutschen Polizisten
und den zivilen Aufbauhelfern für ihren großartigen Einsatz zu danken.
({5})
Sie alle leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum Wiederaufbau Afghanistans, für Frieden und Stabilität in
dieser Region und zur Bekämpfung weltweiter terroristischer Bedrohung. Dafür müssen wir sie bestmöglich
vorbereiten und ausrüsten. Das ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung. Das haben wir stets im Blick, und
wir kommen dem nach.
Den Soldaten, die bei den Einsätzen gefallen sind, gilt
unsere bleibende Erinnerung, ihren Angehörigen unser
Mitgefühl und unsere andauernde Verpflichtung zur
Hilfe. Denjenigen, die verletzt oder als Folge des Einsatzes an Leib und Seele krank geworden sind, gelten unsere Unterstützung und Fürsorge.
Mit der Zustimmung zum heutigen Mandat machen
wir eines deutlich: Unsere Unterstützung für Afghanistan wird auch nach der vollständigen Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen nicht aufhören.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Fortschrittsbericht
im Dezember eine umfassende Bewertung des bisherigen
Engagements in Afghanistan vorgelegt. Das sage ich insbesondere mit Blick auf Bündnis 90/Die Grünen. Unsere
Botschaft ist klar: Wir lassen Afghanistan nicht im Stich.
Wir geben den Menschen eine Perspektive für die Zukunft, auch über 2014 hinaus.
({6})
Das betonen Sie, Frau Bundeskanzlerin, Herr Außenminister und Herr Bundesverteidigungsminister, stets
sehr klar. Dafür danke ich Ihnen.
({7})
Was sich nach 2014 ändert, ist der Schwerpunkt unseres Handelns: „Weniger Militär, mehr Entwicklung“ lautet die Maxime. Der Schwerpunkt liegt künftig auf noch
mehr Unterstützung für bessere Bildung, für Gesundheit,
für wirtschaftliche Entwicklung. Da liegen unsere Stärken. Diese müssen und werden wir nutzen. Das alles geschieht aber auch in Zukunft nur in einem sicheren Umfeld.
({8})
- Hören Sie zu, Herr Gehrcke!
({9})
Dr. Karl A. Lamers ({10})
Dann können Sie vielleicht noch einiges lernen. - Der
Schwerpunkt wird daher auch und gerade auf der weiteren Qualifizierung von Armee und Polizei liegen.
Wir haben mit unserem Konzept des Abzugs bis 2014
doppelte Verantwortung übernommen: einerseits für die
Menschen in Afghanistan und für mehr Stabilität in der
Region, andererseits aber auch für die Soldatinnen und
Soldaten. Jede personelle Reduzierung muss in jedem
Augenblick von den verbleibenden Soldaten verkraftet
werden können. Der geplante Abzug bis 2014 ist eine
riesige Herausforderung, die es zu meistern gilt, und
zwar ohne Risiko und Gefahr für unsere Soldaten. Das
möchte ich besonders hervorheben.
Verantwortliches Handeln ist das Gebot der Stunde.
Deswegen gilt der alte Grundsatz: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. - Was du auch tust, handle
klug und achte auf das Ende. - Sie, Herr Minister, drücken es sehr klar aus, wenn Sie sagen: gesichert, geordnet und nachhaltig.
({11})
Bei allem, was wir tun, meine Damen und Herren,
nehmen wir auch Afghanistan in die Pflicht. Wir drängen darauf, dass die Reformbemühungen der afghanischen Regierung auch tatsächlich umgesetzt werden.
Wir legen Wert auf eine regionale Einbindung Afghanistans. Für eine friedliche Lösung brauchen wir Pakistan. Pakistan muss in eine Friedenslösung eingebunden
werden. Für mehr Stabilität in der Region sind aber auch
Russland, die zentralasiatischen Nachbarn sowie der
Iran, China und Indien von entscheidender Bedeutung.
Meine Damen und Herren, wir brauchen weiterhin
den Einsatz unserer Bundeswehr im Rahmen der ISAF.
Nur so können wir den Übergangsprozess gemeinsam
erfolgreich gestalten. Die von der Bundesregierung beantragte Mandatsverlängerung ist richtig; sie ist notwendig. Wir dürfen nie vergessen, warum wir eigentlich in
Afghanistan sind: auch und gerade für unsere eigene Sicherheit. Wir stehen zu unserer Verantwortung - den
Menschen in Afghanistan und unseren Soldaten gegenüber. Sie können auf uns zählen; sie haben es verdient,
dass dieses Mandat eine breite Mehrheit im Deutschen
Bundestag findet. Darum bitte ich Sie alle, meine Damen
und Herren.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion der
Linken.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
in der Öffentlichkeit groß angekündigte Abzug findet
nicht statt. Es handelt sich höchstens um eine Minimalreduzierung der Truppen. Es ändert sich Ihre Sprachregelung, aber nicht die Politik. Deswegen lehnen wir
diese Mandatsverlängerung ab.
({0})
Fest steht zudem, dass die Bundeswehr über 2014 hinaus in Afghanistan präsent sein wird. Schauen wir uns
auch einmal an, was die anderen NATO-Staaten machen!
Die USA zum Beispiel planen bis zu fünf permanente
Militärstützpunkte mit bis zu 50 000 Soldaten, die auf
lange Sicht in Afghanistan stationiert bleiben sollen. Das
ist nichts anderes als eine dauerhafte Besetzung Afghanistans. Das lehnen wir mit der afghanischen Bevölkerung ab.
({1})
Über die humanitäre und soziale Lage in Afghanistan
wurde heute überhaupt noch nicht gesprochen. Die Zahlen dazu sind wirklich erschreckend; ich werde Ihnen
gleich einige vorlesen. Sie zeigen, dass der Militäreinsatz nicht die Verbesserung der Lebenssituation der afghanischen Bevölkerung zum Ziel hat. Aktuelle Daten
vom Auswärtigen Amt: Ein Drittel der Bevölkerung ist
auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, 68 Prozent der
Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 95 Prozent haben keinen Zugang zu verbesserten Sanitäreinrichtungen, und 42 Prozent der Menschen - das
ist fast die Hälfte der Bevölkerung - lebt von weniger als
1 Dollar pro Tag. Das ist absolute Armut nach zehn Jahren sogenanntem Aufbau in Afghanistan. Deswegen ist
diese Politik eine Katastrophe.
({2})
Ein Satz zur innerafghanischen Versöhnung, von der
gesprochen wurde: So lange die ISAF Warlords und
Kriegsverbrecher stützt, die in der Regierung und in den
Provinzen herrschen, wird es keine innerafghanische
Versöhnung in diesem Land geben.
({3})
Mit dem Mandat, das jetzt verlängert wird, wird weiterhin die zivil-militärische Zusammenarbeit unterstützt. Die Kooperation von Entwicklungsorganisationen
mit der Bundeswehr ist höchst umstritten. Auch das kritisieren wir seit langem. Herr Rebmann, das ist übrigens
unter Rot-Grün eingeführt worden, und zwar sowohl im
ehemaligen Jugoslawien als auch in Afghanistan.
Aber jetzt kommt ein brisanter Fall hinzu: In den letzten Tagen haben wir die Meldung erhalten, dass drei
BND-Agenten in Pakistan, in der Grenzregion zu Afghanistan, festgesetzt wurden. Sie sollen Ausweise der staatlichen Entwicklungsorganisation GIZ gehabt haben und
mit einem Auto der GIZ ausgestattet gewesen sein. Dieser Vorgang ist bisher nicht aufgeklärt. Ich hätte gerne
gewusst, welche Position Minister Niebel dazu hat.
Wenn das der Fall ist, dann ist das wirklich ein Skandal
mit weitreichenden Folgen für die internationale Entwicklungszusammenarbeit.
({4})
Viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus waren ebenso wie ich in Afghanistan und haben sich dort
mit GIZ-Mitarbeitern getroffen. Ich möchte wissen: Haben wir uns mit BND-Agenten oder mit GIZ-Mitarbeitern getroffen? Das ist ein unglaublicher Zustand. Die
Entwicklungszusammenarbeit wird systematisch instrumentalisiert für Sicherheitspolitik und militärische Interessen. Dagegen müssen wir alle hier aufstehen.
({5})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Ende.
Meine letzte Bemerkung in der heutigen Debatte: Wir
von der Linken lehnen Kriegspolitik und Angriffskriege
ab. Damit stehen wir im Einklang mit der Verfassung.
Wer Angriffskriege unterstützt, gefährdet unsere Verfassung.
({0})
Ich erteile nun das Wort Kollegen Hans-Christian
Ströbele, der von seinem verfassungsrechtlich gesicherten Recht Gebrauch macht, auch unabhängig und abweichend von seiner Fraktion zu sprechen.
({0})
Herr Präsident! Ich danke dem Bundestagspräsidenten Lammert und dem Präsidium für diese Redemöglichkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht um Krieg.
Es geht darum, dass Sie heute beschließen sollen, dass
Sie mit der Parlamentsarmee, mit der Bundeswehr ein
weiteres Jahr Krieg führen, und zwar entgegen der Auffassung der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung.
({0})
Es geht um ein Jahr mehr Krieg, und zwar Krieg wie bisher: Krieg mit Offensiven, mit Partnering, mit Special
Commands, mit Killerdrohnen, mit mehr Killerdrohnen
als bisher. Sie führen diesen Krieg, weil Sie hoffen, weil
Sie die Erwartung haben, dass die Sicherheitssituation in
zwei Jahren, Ende 2014, so ist, dass den Afghanen die
Sicherheitsverantwortung übergeben werden kann. Diese Hoffnung, diese Erwartung oder gar diese Sicherheit
ist durch nichts gerechtfertigt.
({1})
Die Entwicklung der letzten fünf Jahre zeigt das Gegenteil. Jedes Jahr ist die Sicherheitssituation schlechter
geworden. Die Zahlen über den Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte täuschen, weil diese Sicherheitskräfte - auch nach dem Bericht der Bundesregierung zu einem großen Teil monatlich Schwund haben, das
heißt, Sicherheitskräfte desertieren, wechseln die Fronten oder gehen einfach weg. Einige machen, wie wir
wissen, sogar Schlimmeres: Sie bekämpfen und erschießen NATO-Soldaten.
Auf diese Hoffnung allein begründen Sie ein weiteres
Jahr Krieg mit der Option auf zwei zusätzliche Jahre bis
mindestens Ende 2014. Das ist unverantwortlich. Sie
nehmen damit Tausende zusätzliche Opfer in Kauf. Sie
haben dann zu verantworten, dass Menschen getötet
oder verwundet werden, dass weitere Schäden angerichtet werden.
({2})
Es gibt eine andere Möglichkeit, aber diese konterkarieren Sie. Sie machen sie zunichte, weil Sie durch diesen Krieg Hass und Gewalt schüren. Die Folgen dieser
Art von Kriegführung werden zusätzliche gezielte Tötungen vonseiten der Aufständischen, Attentate, blutige
Anschläge und grausamste kriegerische Maßnahmen
sein. Noch schlimmer ist: Sie verhindern damit Waffenstillstand. Sie verhindern damit die jetzt möglicherweise
in Gang kommenden Verhandlungen, weil Sie mit diesen
gezielten Tötungen diejenigen umbringen, mit denen
verhandelt werden soll.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Danke, Herr Präsident. - Das heißt, Sie machen damit
ein baldiges Ende des Krieges, auch für Ende 2014, immer unwahrscheinlicher. Sie konterkarieren eine Politik
des Waffenstillstandes und der Verhandlungen.
({0})
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon bemerkenswert, dass der Kollege
Ströbele zusätzliche Redezeit für sich und die Grünen
beansprucht hat mit der Begründung, er teile das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion nicht. Ich bin gespannt, ob Herr Ströbele dem Mandat nun zustimmen
wird.
({0})
Außerdem finde ich es bemerkenswert, dass die Linke
hier in der Diskussion behauptet, sie spreche für das afghanische Volk. Mich würde interessieren, wie sie legitimiert ist.
Vor ziemlich genau zehn Jahren hat die rot-grüne
Bundesregierung den Einsatz am Hindukusch begonnen.
Wir alle haben bei den jährlichen Verlängerungen des
Mandats immer wieder die Frage gestellt, nach welchen
Maßstäben der Einsatz durchzuführen ist, wo wir das
Mandat anpassen müssen und wie die Perspektiven aussehen. Dabei gab es oft unterschiedliche Meinungen,
aber es ist immer gelungen, einen breiten Konsens unter
den Demokraten zu finden. Dass sich ausgerechnet
heute, wenn wir den Abzug einleiten, Bündnis 90/Die
Grünen ausklinken, finde ich, ehrlich gesagt, traurig. Zusammen rein, zusammen raus - ich dachte, das wäre
auch hier die richtige Losung. Dies findet so nicht statt.
Gestern im Ausschuss haben Sie kein Wort zu den Argumenten, die heute vorgetragen wurden, gesagt. Sie wollten das Mandat offensichtlich nicht anders gestalten.
({1})
Ich muss schon sagen: Da hätte ich mehr erwartet.
({2})
Unser Konsens lautete bisher - er bleibt richtig -:
Dieser Einsatz ist notwendig. Er diente und dient dem
Frieden, und er ist gleichzeitig ein starkes Signal gegen
Unterdrückung und Terror. Gemeinsam mit unseren
Bündnispartnern haben wir ein klares Ziel definiert und
unser Handeln danach ausgerichtet. Wir wollen, dass aus
einem geschundenen Land ein souveränes Mitglied der
internationalen Staatengemeinschaft wird. Wir wollen
ein Bekenntnis gegen den Terror, gegen die Missachtung
von Menschenrechten und zu Frieden und Gleichberechtigung. Wir wollen mit unserem Einsatz zur Stabilisierung der gesamten Region beitragen.
Meine Damen, meine Herren, zur Erreichung dieses
Ziels waren die vergangenen zwölf Monate von besonderer Bedeutung. Unsere Strategie hat Wirkung gezeigt,
und unsere Maßnahmen greifen. So war die Anzahl der
Anschläge im letzten Jahr erstmals seit 2006 rückläufig.
Vor allem im Norden hat sich die Sicherheitslage verbessert. Mehr als 300 000 afghanische Sicherheitskräfte
wurden seit Beginn der Mission ausgebildet, die große
Mehrheit davon erst in den letzten Jahren. Die Sollstärke
von 352 000 Sicherheitskräften soll noch in diesem Jahr
erzielt werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir
das auch erreichen.
Gleichzeitig wurden im letzten Jahr die ersten Provinzen an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben.
Die Übergabe ist für die Afghanen ein wichtiger Schritt
in ihre Selbstständigkeit. In wenigen Wochen wird mehr
als die Hälfte der Bevölkerung unter dem Schutz afghanischer Kräfte stehen. Die Übergabe in Verantwortung
an die Afghanen ist ein Prozess, der immer weiter fortschreitet. Die Ergebnisse geben unserem Kurs recht. Unsere Truppen und Verbündeten können darauf stolz sein.
An dieser Stelle möchte ich all denjenigen danken, die
hierzu beigetragen haben: Soldaten, Polizisten, zivilen
Helfern und Diplomaten. Ich wünsche Ihnen allen weiterhin Gottes Segen bei Ihrem Tun.
({3})
Auf Basis des Erreichten nimmt der Abzug erstmals
konkrete Formen an. Im nächsten Schritt werden wir das
Mandat von 5 350 auf 4 900 Soldaten reduzieren. Je
nach Sicherheitslage werden wir versuchen, diese Zahl
weiter zu verringern. Hierbei dürfen wir uns jedoch nicht
von einem starren Zeitplan treiben lassen. Wir müssen
flexibel bleiben.
Entscheidend für einen Abzug muss immer die Lage
vor Ort sein. Wir müssen beachten, dass der Abzug
Kräfte und Köpfe bindet, beispielsweise im Bereich Logistik, aber auch zum Schutz des Abzugs selbst. Zudem
muss er in enger Absprache mit unseren Partnern und
Verbündeten erfolgen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass
auch unser Verteidigungsminister de Maizière solche
Gespräche aktiv und selbst führt, um so beispielsweise
beim Thema Air MedEvac im Norden die optimale Unterstützung für unsere Soldaten zu sichern.
({4})
Für uns gilt: Das, was wir durch die internationale Gemeinschaft für die Menschen in Afghanistan bisher erreicht haben, muss verteidigt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht nur die
Anzahl der Soldaten hat sich über die Zeit geändert, sondern auch der Charakter des Einsatzes hat sich gewandelt. Der Schwerpunkt liegt zunehmend auf der Ausbildung der Afghanen und auf dem zivilen Wiederaufbau.
Wir werden zwar die Anzahl der Soldaten in Afghanistan reduzieren; jedoch werden wir das Engagement für
die Ausbildung der Afghanen weiter erhöhen.
Die zivile Seite des Wiederaufbaus wurde auch finanziell bereits deutlich gestärkt. Dies werden wir weiterhin
aufrechterhalten. Denn so schön, wie sich „Abzug“ anhört, so sehr hat er auch ökonomisch negative Folgen für
das Land. Es entfällt nämlich ein ganzer Wirtschaftszweig. Das dürfen wir an dieser Stelle nicht vergessen.
Auf der Bonner Konferenz wurde deutlich, dass ein
Abzug bis 2014 nicht das Ende des internationalen
Engagements für Afghanistan bedeutet. Auch wenn der
Einsatz in seiner jetzigen Form nach 2014 nicht mehr
stattfinden wird, so lassen wir das Land Afghanistan und
seine Menschen nicht im Stich. Auch Außenminister
Westerwelle hat in der ersten Lesung betont: Wir bleiben
für Afghanistan ein verlässlicher Partner und werden
auch über das Jahr 2014 hinaus unserer internationalen
Verantwortung gerecht.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit und bitte Sie um Zustimmung zum vorliegenden
Mandat.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 17/8393 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 17/8166
anzunehmen.
Bevor wir über die Beschlussempfehlung namentlich
abstimmen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir
gleich im Anschluss zwei weitere namentliche Abstim-
mungen über zwei Entschließungsanträge durchführen
werden.
Zu dieser namentlichen Abstimmung liegen mir
schriftlich zahlreiche persönliche Erklärungen vor, und
zwei Kollegen äußerten den Wunsch nach mündlichen
Erklärungen zur Abstimmung; diese werden im An-
schluss an die drei Abstimmungen vorgetragen.1)
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Können wir mit
der Abstimmung beginnen? - Es sieht so aus. Dann eröffne ich die erste namentliche Abstimmung. - Dort
rechts fehlt noch ein Schriftführer. Ich bitte einen
Schriftführer der Opposition, zur Abstimmungsurne auf
der rechten Seite zu kommen.
({0})
Die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mitglie-
der ihre Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zum
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8466. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen hat namentliche Abstimmung verlangt. Sind
die Plätze besetzt, sodass wir mit der Abstimmung beginnen können? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die
zweite - ({1})
- Entschuldigung, ich habe einen Punkt übersehen.
Wir kommen jetzt zur zweiten namentlichen Abstim-
mung. Es geht um den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/8465, die ebenso na-
1) Anlagen 2 bis 7
2) Ergebnis Seite 18575 D
mentliche Abstimmung verlangt hat. Wir können jetzt
mit dieser zweiten namentlichen Abstimmung - über
den Entschließungsantrag der Linken - beginnen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine Verwirrung eingetreten. Dort hinten hat man bereits zu früh mit
der Abstimmung begonnen und über den falschen Antrag abgestimmt, sodass ich darum bitte, dass wir jetzt
noch einmal den zweiten Abstimmungsgang eröffnen.
Es gibt eine kleine Pause, um neue Karten zu holen. Da,
wo irrtümlich mit der Abstimmung über den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen begonnen worden ist, wird die
Abstimmung wiederholt. Hier vorne war es eindeutig.
({3})
- Da mir gesagt wird, dass es auch hier vorne Verwirrung gegeben hat, wird der zweite Abstimmungsgang
insgesamt wiederholt. Es gibt also eine kleine Pause, sodass alle Kolleginnen und Kollegen noch einmal Abstimmungskarten holen und die Urnen ausgewechselt
werden können. Dann beginnen wir neu mit dem zweiten Abstimmungsgang zum Antrag der Linken.
Ich hoffe, dass wir jetzt mit dem zweiten Abstimmungsgang beginnen können. Es geht um den Antrag
der Linken. Die zweite namentliche Abstimmung über
den Antrag der Linken ist hiermit eröffnet. - Es fehlen
noch Schriftführer an den Urnen. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Oppositionsfraktionen, hier vorne
fehlt noch ein Schriftführer oder eine Schriftführerin der
Opposition.
({4})
Ich wiederhole noch einmal: Es ist die zweite nament-
liche Abstimmung zum Antrag der Fraktion Die Linke.
Ich frage: Haben alle anwesenden Mitglieder ihre
Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.3)
Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zum
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/8466. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen verlangt namentliche Abstimmung. Sind die
Plätze an den Abstimmungsurnen besetzt? - Das ist der
Fall. Dann eröffne ich die dritte namentliche Abstim-
mung. Das ist die Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich frage: Haben alle anwesenden Mitglieder ihre
Stimme zur dritten Abstimmung abgegeben? - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann schließe ich die Abstimmung
und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der Ab-
stimmungen werden Ihnen später bekannt gegeben.4)
3) Ergebnis Seite 18579 C
4) Ergebnis Seite 18581 B/D
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jetzt kommen wir zu den beiden mündlichen Erklärungen zur Abstimmung. Zunächst erteile ich das Wort
Kollegin Heidrun Dittrich.
({5})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
gebe eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zur Abstimmung über die Verlängerung
des ISAF-Mandates durch das Parlament ab.
Ich habe gegen die Fortsetzung des Mandates gestimmt, weil die Bundesregierung weiterhin Krieg führt
und als Rechtfertigung die Verbesserung der Lage der afghanischen Frauen anführt. Dabei wissen Sie ganz genau, dass die Lage der Frauen weiterhin schlecht ist. Sie
wissen ganz genau, dass im Krieg ein demokratischer
Aufbau nicht möglich ist. In Kriegsgebieten nimmt die
Gewalt zu. In Kriegsgebieten ist es für Kinder, insbesondere für Mädchen, schwierig, zur Schule zu gehen. Im
Kriegszustand kann eine Versorgung mit Wasser und
medizinischer Hilfe nicht aufgebaut werden. Gerade
eine solche Versorgung benötigen Frauen, Verletzte und
Neugeborene mehr denn je. Diese Zustände werden von
Ihnen geschaffen. Ich fordere die tatsächliche Beteiligung der Frauen am Friedensprozess ein, damit sie ihre
Interessen am Aufbau eines demokratischen Afghanistan
verwirklichen können.
Zum Abschluss möchte ich eine Politikerin aus
Afghanistan würdigen. Malalai Joya hat die Bundesrepublik vor der Afghanistan-Konferenz besucht und hat
am 24. November 2011 in Hannover gesagt: Es gibt demokratische Bewegungen in Afghanistan. Sie existieren.
Aber leider müssen sie jetzt gegen drei Mächte kämpfen.
Früher waren es nur die Taliban. Jetzt kommen noch die
vom Westen unterstützten Warlords, die Drogenbarone
und die Besatzungsmächte hinzu. Die Bevölkerung ist
gegen die ausländischen Besatzungsmächte; denn sie unterstützen das korrupte Regime.
Malalai Joya konnte nicht im afghanischen Parlament
bleiben. Sie wurde hinausgeworfen. Sie konnte auch
nicht noch einmal kandidieren.
Ich sage: Sie stützen damit das korrupte Regime
Karzai. Es wäre besser, sich an Bertha von Suttner zu erinnern, an die österreichische Pazifistin, die durch ihren
Kriegsroman Die Waffen nieder! bekannt wurde. 1905
erhielt sie den Friedensnobelpreis dafür. Wir fordern genauso wie sie: Krieg darf kein Mittel der Politik mehr
sein. Deshalb muss die Bundeswehr raus aus Afghanistan.
({0})
Nun hat Michael Schlecht das Wort zu einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung.
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident! Zu
meiner persönlichen Erklärung: Ein Grundprinzip der
deutschen wie der internationalen Arbeiterbewegung
war immer, sich gegen Krieg zu stellen. Gegen kriegführende Regierungen hat man opponiert; gegen sie ist man
aufgetreten. Aus diesem guten Grund gibt es schon seit
Jahren die klare Positionierung von Einzelgewerkschaften in Deutschland, aber auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund, dass dieser Krieg in Afghanistan endlich
beendet werden muss.
({0})
Mit dem heutigen Beschluss tritt man dieser Intention
entgegen. Für mich als Gewerkschafter ist schon aus diesem Grunde vollkommen klar gewesen, heute mit Nein
zu stimmen. Umso mehr bin ich - das sage ich sehr deutlich - empört und ein Stück weit beschämt, dass hauptamtliche Kollegen aus deutschen Gewerkschaften, die
Mitglied dieses Parlaments sind, anders gestimmt haben,
als es die klare Beschlusslage in den Gewerkschaften
vorsieht.
Danke schön.
({1})
Wir kommen zu dem von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelten Ergebnis der ersten namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({0})“ - das
sind die Drucksachen 17/8166 und 17/8393 -: abgegebene Stimmen 569. Mit Ja haben gestimmt 424, mit Nein
haben gestimmt 107, Enthaltungen 38. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 569;
davon
ja: 424
nein: 107
enthalten: 38
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Manfred Behrens ({2})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({4})
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({7})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({18})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({22})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({23})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Ingo Egloff
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({24})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({25})
Hubertus Heil ({26})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({27})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({28})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({29})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Michael Roth ({30})
Axel Schäfer ({31})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({32})
Ulla Schmidt ({33})
Silvia Schmidt ({34})
Carsten Schneider ({35})
Swen Schulz ({36})
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Peer Steinbrück
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({37})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({38})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({39})
Michael Link ({40})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller ({41})
Burkhardt Müller-Sönksen
({42})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({43})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Johannes Vogel
({44})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({45})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Ekin Deligöz
Hans-Josef Fell
Priska Hinz ({46})
Tom Koenigs
Nicole Maisch
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({47})
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Schindler
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Marco Bülow
Dr. Peter Danckert
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({48})
Hilde Mattheis
Gerold Reichenbach
Sönke Rix
Werner Schieder ({49})
Sonja Steffen
Kerstin Tack
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff
({50})
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({51})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Agnes Brugger
Katja Dörner
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Hermann E. Ott
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Lisa Paus
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Kolbe
SPD
Daniela Kolbe ({52})
Burkhard Lischka
René Röspel
Ewald Schurer
Frank Schwabe
FDP
Joachim Günther ({53})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({54})
Viola von Cramon-Taubadel
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Undine Kurth ({55})
Dr. Tobias Lindner
Kerstin Müller ({56})
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wohnraum in Deutschland zukunftsfähig machen - Für ein sozial gerechtes und klimafreundliches Mietrecht
- Drucksache 17/7983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({57})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Daniela Wagner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung kündigt seit über zwei Jahren eine
Mietrechtsnovelle an, ist aber bis jetzt noch nicht über
einen Referentenentwurf hinausgekommen. Deswegen
legen wir heute ein umfassendes Maßnahmenpaket für
die Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen unserer Wohnungsmärkte vor.
Die besondere Schwierigkeit beim Mietrecht liegt darin, dass es Sachverhalte regeln und unter Rahmenbedingungen angewendet werden muss, die unterschiedlicher
kaum sein könnten. Im Wohngeld- und Mietenbericht
des Jahres 2010 ist eindeutig belegt, dass wir in wachsenden Regionen eine Verknappung von bezahlbarem
Wohnraum für einkommensschwache Haushalte haben.
In schrumpfenden Gebieten dagegen nehmen der Leerstand und der Wertverlust von Wohnimmobilien weiter
zu. Es kommt bis zum Verlust von Heimat, weil sich
ganze Ortschaften entvölkern.
Klimawandel und Energiewende erfordern ihrerseits
eine umfassende energetische Modernisierung unseres
Gebäudebestands in den kommenden 30 Jahren. Zusätzlich haben wir durch den demografischen Wandel einen
hohen Bedarf an altersgerechtem Wohnraum. Es fehlen
bis zum Jahr 2030 ungefähr 3 Millionen Wohnungen.
Unter dem Vorwand der notwendigen umfassenden Sanierung dürfen Menschen nicht aus ihrem Stadtteil verdrängt, mithin heraussaniert werden.
({0})
Das Ziel muss sein, die soziale Mischung in unseren
Städten und Gemeinden zu erhalten oder wiederherzustellen, also beginnende Segregationsprozesse umzukehren.
({1})
Der Wohnort eines Menschen hat Auswirkungen auf
seine soziale Stellung in der Gesellschaft und auf seinen
Zugang zu Arbeitsplätzen und Bildung. Wir wollen Verdrängung verhindern und gleichzeitig einen Beitrag zur
Lösung der drängenden Probleme der Wohnungsmärkte
leisten. Aber auch Nichthandeln, speziell bei der energetischen Gebäudesanierung, würde das Problem der stetig
wachsenden Wohnkosten nicht lösen. Die Energiekosten, insbesondere bei fossilen Energieträgern, steigen
fortwährend an. Deswegen haben wir ein umfassendes
Maßnahmenpaket vorgelegt.
({2})
Damit - das ist wichtig - werden die Lasten gerecht
auf den Staat, die Eigentümerinnen und Eigentümer sowie auf die Mieterinnen und Mieter verteilt. Wir wollen
verlässliche und planbare Effizienzstandards für die Eigentümerinnen und Eigentümer. Wir wollen eine verlässliche Förderkulisse in Höhe von rund 5 Milliarden
Euro jährlich, und wir wollen vor allen Dingen Planungssicherheit statt des alljährlichen Wirrwarrs bei den
KfW-Förderprogrammen.
({3})
Das derzeitige Mietrecht enthält keine Antworten auf
die neuen Anforderungen. Deswegen ist eine Anpassung
des Mietrechts notwendig. Wir wollen ein Mietminderungsrecht bei Nichteinhaltung rechtlich vorgegebener
Regelungen, zum Beispiel bei Nichteinhaltung der
EnEV. Wir wollen die Aufnahme des Klimaschutzes in
die Interessenabwägung bei den Duldungsbestimmungen nach § 554 BGB. Wir wollen die Einsparung von
Primär- und Endenergie bei energetischen Sanierungen,
damit wenigstens mittelfristig die erhöhten Kaltmieten
durch eine Heizkosteneinsparung refinanziert werden
können. Wir wollen die Modernisierungsumlage auf die
zentralen und wichtigen Bereiche lenken, nämlich den
altersgerechten Umbau und die energetische Sanierung.
Wir wollen sie um 2 Prozentpunkte auf 9 Prozent absenken.
({4})
Die Aufnahme der energetischen Gebäudebeschaffenheit in die ortsübliche Vergleichsmiete, auch ökologischer Mietspiegel genannt, sollte Standard in allen Städten werden. Wir wollen die Kappungsgrenze von 20 auf
15 Prozent senken. Wir wollen vor allen Dingen die Altvertragsmieten der letzten sechs Jahre - nicht nur die der
letzten vier Jahre - einbeziehen, weil das auf die Dynamik der Mietpreissteigerung dämpfend wirkt. Außerdem
wollen wir den Kommunen durch Landesermächtigung
die Möglichkeit geben, Mietobergrenzen in Wohnungsmärkten oder Teilwohnungsmärkten mit nachgewiesenem Wohnraummangel, orientiert am regionalen Mietspiegel, festzulegen. Das bedeutet, dass man die
Kostendämpfung einleiten kann, wenn einzelne Wohnungsteilmärkte explodieren.
({5})
Sie sehen: Unsere Vorschläge für ein neues Mietrecht
nehmen - das ist wirklich neu - sowohl die sozialen als
auch die ökologischen Belange in den Blick und versuchen, über den sozialen Ausgleich zwischen Mieterinnen
bzw. Mietern und Vermieterinnen bzw. Vermietern auch
das Problem des Klimawandels mit in den Blick zu nehmen und nicht aus den Augen zu verlieren, um bei
43 Millionen Wohngebäuden mit Mietwohnungen dort,
wo es möglich ist, den emittierten CO2-Anteil endlich zu
mindern und so auch in der Gebäudebewirtschaftung einen Beitrag dazu zu leisten, dass das 2-Grad-Ziel noch
gehalten und der Klimawandel aufgehalten werden
kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich die Ergebnisse der beiden weiteren namentlichen Abstimmungen mitteilen.
Zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
„Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte“ - ISAF -: abgegebene Stimmen 568. Mit Ja
haben gestimmt 66, mit Nein haben gestimmt 485, Enthaltungen 17. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon
ja: 66
nein: 485
enthalten: 16
Ja
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({0})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Manfred Behrens ({2})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({3})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({5})
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({8})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({23})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Ingo Egloff
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({25})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({26})
Hubertus Heil ({27})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({28})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Daniela Kolbe ({29})
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({31})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Michael Roth ({32})
Axel Schäfer ({33})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({34})
Werner Schieder ({35})
Ulla Schmidt ({36})
Silvia Schmidt ({37})
Carsten Schneider ({38})
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({40})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({41})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({42})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({43})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({44})
Michael Link ({45})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller ({46})
Burkhardt Müller-Sönksen
({47})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({48})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Johannes Vogel
({49})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({51})
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({52})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Ute Koczy
Tom Koenigs
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Undine Kurth ({53})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({54})
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({55})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Agnes Brugger
Katja Dörner
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zum gleichen Gegenstand: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 60, mit
Nein haben gestimmt 378, Enthaltungen 129. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon
ja: 60
nein: 377
enthalten: 130
Ja
SPD
René Röspel
Frank Schwabe
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({56})
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({57})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Undine Kurth ({58})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({59})
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({60})
Manfred Behrens ({61})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({62})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({63})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({64})
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({65})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({66})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({67})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({68})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({69})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({70})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({71})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({72})
Anita Schäfer ({73})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({74})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({75})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({76})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Max Straubinger
Thomas Strobl ({77})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({78})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({79})
Peter Weiß ({80})
Sabine Weiss ({81})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Marco Bülow
Johannes Kahrs
Hans-Ulrich Klose
Sonja Steffen
Dr. Marlies Volkmer
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({82})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({83})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({84})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({85})
Michael Link ({86})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller ({87})
Burkhardt Müller-Sönksen
({88})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({89})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Johannes Vogel
({90})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({91})
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({92})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({93})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({94})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Ingo Egloff
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({95})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({96})
Hubertus Heil ({97})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({98})
Frank Hofmann ({99})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({100})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({101})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({102})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Michael Roth ({103})
Axel Schäfer ({104})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({105})
Werner Schieder ({106})
Ulla Schmidt ({107})
Silvia Schmidt ({108})
Carsten Schneider ({109})
Swen Schulz ({110})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({111})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wir setzen nun die Debatte zum Tagesordnungspunkt
Wohnraum fort. Das Wort hat nun Volkmar Vogel für die
Fraktion der CDU/CSU.
({112})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stehen in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich vor großen Herausforderungen. Das gilt gerade
für die Wohnungswirtschaft. Die Aufbaujahre nach dem
Krieg und nach der Wiedervereinigung sind zu Ende.
Die nächsten Jahre bedeuten im Wohnungsbau vor allen
Dingen, die Klimaziele und die Energieeinsparung zu
verwirklichen und den demografischen Wandel zu meistern. Aber dazu brauchen wir Augenmaß, wirtschaftlichen Sachverstand und die Mithilfe aller Beteiligten.
Der Antrag der Grünen ist aus unserer Sicht eigentlich nichts anderes als ein ideologisches Wunschkonzert.
Die Grünen wollen damit Gesetze und Vorschriften auf
dem Rücken der Wohnungsunternehmen, der Hauseigentümer und auch der Mieter durchsetzen.
({0})
Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Leute draußen im
Land, wacht auf! Schaut euch diesen Antrag genau an;
denn er bedeutet nichts anderes als die Enteignung durch
die Hintertür.
({1})
So ist von den Grünen beabsichtigt, nach einer Übergangszeit von zehn Jahren alle Bestandsgebäude verbindlich mit neuen Energiestandards zu belegen. Da
frage ich mich: Was machen jene, die das trotz finanzieller Förderung nicht schultern können? Müssen sie ihr Eigentum aufgeben? Müssen sie verkaufen? Müssen sie
sich erst hoch verschulden, um dann ihr Eigentum loszuwerden? - Das ist nicht unsere Politik.
Der Antrag der Grünen fordert Mindestanteile für erneuerbare Energien. Da frage ich: Was macht der Hausbesitzer, der diese Energien aus örtlichen oder technischen Gründen gar nicht anwenden oder, wenn
überhaupt, nur sehr teuer nutzbar machen kann? Ich
frage mich bei diesen Überlegungen: Wo bleibt hier der
Ansatz der Wirtschaftlichkeit, und was wird aus der Kreativität von Unternehmen und von Tüftlern, wenn die
Grünen bestimmen wollen, welche Energiequellen,
welche erneuerbaren Energien zum Einsatz kommen sollen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen haben
in ihrem Antrag eine Herausforderung vergessen: dass
wir die Veränderungen sozialverträglich, dem Wirtschaftlichkeitsgebot folgend und technologieoffen absichern müssen. Wir werden als christlich-liberale Koalition unser Energiekonzept vom Oktober 2010 mit
Vernunft und Schritt für Schritt umsetzen. Wir werden
maßvoll fordern und zielgerichtet fördern. Die Zwangssanierung im Wohnungsbestand lehnen wir ab. 20 Prozent weniger Primärenergie bis 2020 und 80 Prozent weniger bis 2050 sind aus unserer Sicht wahrlich
anspruchsvolle Ziele.
Die Energieeinsparverordnung gibt uns den rechtlichen Rahmen vor. Die wichtigste Komponente der Energieeinsparverordnung ist aus unserer Sicht das Wirtschaftlichkeitsgebot. Der Nachweis der Wirtschaftlichkeit in vertretbaren Zeiträumen hält die Belastungen für
Wohnungsunternehmen, kleine Vermieter, Selbstnutzer
und nicht zuletzt die vielen Mieter in Grenzen. Um die
ehrgeizigen Ziele bis 2050 zu erreichen, muss die Umsetzung möglichst einfach und in der Breite machbar
sein. Die neueste Technologie des Niedrigstenergiehauses ist genauso wichtig wie hocheffiziente Einzelmaßnahmen, die in der Masse wirken. Damit die Energieeffizienz in der Breite wirkt, brauchen die Leute im Land
vor allem Planungssicherheit und einfache Lösungen.
Die EnEV 2009 ist schon sehr anspruchsvoll. Deswegen
sagen wir: Eine weitere Verschärfung wäre hier eher
kontraproduktiv. Aber dazu gehören auch Anreize, mehr
zu tun als gefordert. Das CO2-GebäudesanierungsproVolkmar Vogel ({2})
gramm hat sich bewährt. Es ist 2011 nicht ausgelaufen.
Wir werden es fortsetzen, mindestens bis 2014.
Wir müssen mehr als in den letzten Jahren privates
Kapital heben. Deswegen wollen wir auch steuerliche
Abschreibungen und steuerliche Anreize für die energetische Sanierung. Die Grünen übrigens fordern das in ihrem Antrag ebenfalls. Darum bitte ich die Kollegen der
Grünen: Werben Sie bitte dort, wo Sie die Regierung
führen oder an ihr beteiligt sind, also in den jeweiligen
Bundesländern, damit hier eine Einigung herbeigeführt
wird. Eines ist nämlich klar: Wir könnten damit die von
Ihnen geforderten 2 Milliarden Euro pro Jahr für die
energetische Sanierung locker abbilden.
Finanzielle Ausstattung ist das eine, inhaltliche Ausrichtung das andere. Zielgruppenorientierung und Förderung von Einzelmaßnahmen, die in der Breite für mehr
Klimaschutz sorgen, sind durch die KfW umgesetzt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, hier komme
ich zu einem wesentlichen Punkt, nämlich zur Verknüpfung der KfW-Programme mit der Städtebauförderung,
zur Verzahnung von energetischer Sanierung, Stadtsanierung und altersgerechtem Umbau. Die christlich-liberale Koalition hat allen Unkenrufen zum Trotz für 2012
die Städtebauförderung mit insgesamt 547 Millionen
Euro ausgestattet; 93 Millionen Euro davon fließen in
die energetische Städtesanierung.
({3})
Das Programm „Altersgerecht Umbauen“ wurde durch
Finanzminister Steinbrück bis 2011 befristet - schade!
Es ist ein sehr gutes Programm. Deshalb führt es die
KfW weiter.
Die Förderprogramme der KfW sind ein gutes, nachahmenswertes Beispiel, wenn es darum geht, die Kopplungsfunktion zwischen Demografiewandel, sprich: barrierearmes Leben, und Energieeffizienz, sprich: CO2Gebäudesanierungsprogramm, intelligent herzustellen.
Diese Sanierungsmaßnahmen, auch gekoppelt mit Stadtumbauprojekten, sind sehr komplex. Barrierefreiheit
verlangt hohe Standards. Deswegen ist sie teuer und
nicht überall machbar. Wir müssen die Erfahrungen
beim altersgerechten Umbau mehr nutzen.
({4})
Altersgerechtes Umbauen heißt aus unserer Sicht: geeignet für Kinderwagen und Rollator.
Auch der Stadtumbau wird beim Demografiewandel
eine große Rolle spielen.
({5})
Wir erwarten den Zwischenbericht in diesem Jahr. Er
wird uns helfen, den demografischen Wandel in der
Wohnungspolitik vernünftig abzubilden.
({6})
Ich appelliere hier nochmals an die Kollegen von den
Grünen und von der SPD: Wenn Sie es mit den notwendigen Baumaßnahmen für die Energiewende, für den
Demografiewandel und für das altersgerechte Umbauen
ehrlich meinen,
({7})
dann helfen Sie uns mit, die Novelle des Mietrechts, die
wir auf den Weg gebracht haben, umzusetzen. Wir brauchen dazu auch Ihre Unterstützung und die Unterstützung der Bundesländer.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Ingo Egloff für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren hier bereits das dritte Mal über
die Frage der energetischen Gebäudesanierung und die
notwendigen Mietrechtsänderungen, ohne dass wir uns
bisher in einem Ausschuss mit diesem Thema befasst haben. Ich finde, es wird jetzt langsam Zeit, dass wir mit
den Ausschussberatungen anfangen, dass wir entsprechende Anhörungen veranstalten. Der Antrag der Grünen zeigt ja, welches Potenzial, insbesondere welches
Konfliktpotenzial dahintersteht. Wenn wir die energetische Gebäudesanierung und die Energiewende ernst
nehmen, dann sollten wir damit anfangen, das umzusetzen.
Lassen Sie es mich deutlich sagen: Der von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag ist meines Erachtens ein guter Antrag, weil er die klimapolitische Dimension des Themas aufzeigt, dabei aber die soziale Dimension nicht vernachlässigt. Es wird unsere Aufgabe in
diesem Prozess sein, eine Balance herzustellen. Auf der
einen Seite geht es um das, was unter klimapolitischen
Gesichtspunkten notwendig und erforderlich ist. Auf der
anderen Seite müssen wir dafür sorgen, dass Wohnraum
weiterhin bezahlbar ist, dürfen also die soziale Dimension dieser Frage nicht aus den Augen verlieren.
({0})
Deshalb ist es gut, dass in dem Antrag der Grünen gefordert steht, dass die Modernisierungsumlage auf 9 Prozent der Modernisierungskosten gesenkt werden soll.
Diese Forderung haben wir Sozialdemokraten in den
letzten beiden Debatten zu diesem Thema hier auch
schon eingebracht. Wir werden diesen Punkt im Rahmen
des Gesetzgebungsverfahrens weiter diskutieren müssen.
Die Umlage der Kosten ist auf Dauer angelegt. Selbst
wenn die Investition längst getilgt ist, wird die Miete
nicht wieder reduziert. Vor diesem Hintergrund sollten
wir uns im Rahmen der Beratungen damit beschäftigen,
inwieweit eine temporäre Umlage angemessener wäre.
Das ist ein Punkt, über den man genauer nachdenken
sollte. Man muss an dieser Stelle deutlich machen, welche soziale Verantwortung wir angesichts dessen haben,
dass in Deutschland im Schnitt 30 Prozent des Einkommens für Miete ausgegeben werden.
({1})
Über die Härtefallklausel werden wir uns noch einmal
unterhalten müssen. Ob es so geht, wie Sie es in Ihrem
Antrag dargestellt haben - dahinter würde ich zumindest
ein Fragezeichen setzen. Das ist ein Punkt, bei dem wir
nicht ganz mit Ihrem Antrag einverstanden sind.
Wir halten es aber für richtig, dass Sie auch das
Thema der Mietobergrenzen angesprochen haben, Frau
Wagner. Die Linken haben hier einen Antrag eingebracht, den das Land Berlin schon im Bundesrat eingebracht hatte; dort liegt er jetzt beim Rechtsausschuss.
Schon damals haben wir darüber diskutiert, ob wir eine
Begrenzung auf bestimmte Stadtgebiete vornehmen können. In Ballungszentren - dazu gehören Berlin, Hamburg, Köln und München - werden in bestimmten Stadtgebieten die angestammten Mieter verdrängt, weil die
Mieten aufgrund der zunehmenden Attraktivität dieser
Stadtteile erhöht werden. Die jeweilige Stadt kann nicht
handeln, weil die Mietobergrenzen auf das gesamte
Stadtgebiet bezogen sind. Deswegen ist es wichtig, die
Möglichkeit zu eröffnen, die auch das Land Berlin in
seinem im Bundesrat eingebrachten Antrag fordert. Das
ist ein weiterer Punkt, über den wir uns im Rahmen des
Gesetzgebungsverfahrens unterhalten müssen.
({2})
Dazu gehört auch, die Frage sozialer Erhaltensverordnungen wieder aufzugreifen; denn es gibt die genannten
Verdrängungsprozesse in den Städten. Das Ergebnis ist,
dass wir bestimmte Stadtteile haben, in denen sich die
Probleme ballen, und andere Stadtteile, die von diesen
Problemen nichts mitbekommen. Eine soziale Spaltung
unserer Städte können wir aber nicht hinnehmen. Sie
schadet unserer Gesellschaft, und deswegen sind wir
auch an dieser Stelle gefordert.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Contracting sagen; das dürfen wir nicht vernachlässigen.
Contracting heißt erst einmal nur, dass es einen anderen
Energieanbieter gibt. Wenn wir so etwas einführen, müssen wir auch darauf achten, dass es mit Energieeinsparungen verbunden ist. Wenn dies nur dazu führt, dass
Energie am Ende teurer wird, dann sollten wir es nicht
einführen, dann lehnen wir als Sozialdemokraten es ab.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Wagner, Sie haben gesagt, Ihr Vorschlag sei insofern neu, als er soziale und Klimaaspekte gleichermaßen
berücksichtige. Es gibt aber auch einen Entwurf vonseiten des Ministeriums, der ebenfalls beide Aspekte berücksichtigt. Wir werden auch diesen, sobald die Beratungen in den Ausschüssen beginnen, zu diskutieren
haben.
Im Energiekonzept der Bundesregierung von September 2010 heißt es:
Die energetische Sanierung des Gebäudebestands
ist die wichtigste Maßnahme, um den Verbrauch an
fossilen Energieträgern nachhaltig zu mindern …
Um diese Sanierung zu fördern, um Anreize zu setzen, brauchen wir flankierende Maßnahmen im Mietrecht des BGB. Seit November vergangenen Jahres liegt
ein Referentenentwurf zur Novellierung vor, der in
Kürze debattiert werden wird. Es gibt einige Übereinstimmungen zwischen Ihrem Antrag und dem Entwurf
der Bundesregierung,
({0})
sodass ich glaube, dass wir bei den Beratungen in vielen
Punkten zu Übereinstimmungen kommen werden.
({1})
Ein Punkt ist, dass energetische Sanierungsmaßnahmen grundsätzlich von den Mietern geduldet werden sollen.
({2})
Wir wollen das erreichen, damit der Klimaschutz bei der
Interessenabwägung zwischen Vermieter und Mieter
eine Rolle spielen kann. Dadurch können gewünschte
energetische Sanierungsmaßnahmen, die der Energieeinsparung dienen, von Mietern nicht ohne Weiteres aufgehalten werden.
Der zweite Punkt ist, dass wir darauf hinwirken wollen, dass Modernisierungsmaßnahmen zwar nicht mehr
mit dem Einwand einer finanziellen Härte aufgehalten
werden können, dass aber in einer zweiten Stufe bei der
Kostenumlage dieses Argument eventuell zum Tragen
kommen kann. Eine Mieterhöhung im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen ist nur dann ausgeschlossen,
wenn sie für den Mieter oder seine Familie eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Das heißt also, wir
wollen, dass der Klimaschutz bei dieser Interessenabwägung eine stärkere Rolle spielt, als das bislang der Fall
ist. Ich glaube, dass wir hier durchaus zu einem Konsens
finden können.
({3})
Einen Punkt, den Sie in Ihrem Antrag fordern, werden
Sie in unserer Vorlage nicht finden, nämlich die Absenkung der Modernisierungsumlage von 11 auf 9 Prozent.
Wir sind der Meinung, dass sich die 11-Prozent-Regelung bewährt hat, dass sie nicht angetastet werden sollte.
Wir glauben, dass diese Regelung einen ausgewogenen
Ausgleich zwischen Mieter- und Vermieterinteressen
darstellt; denn auch der Mieter wird von solchen Sanierungsmaßnahmen dadurch profitieren, dass seine Heizkosten, also die Nebenkosten, sinken. Dies ist aus unserer Sicht ein gerechter Ausgleich. Wir denken vor allem,
dass eine Absenkung auf 9 Prozent ein falsches Signal
wäre, weil es den Anreiz zur Durchführung von Sanierungsmaßnahmen nicht erhöht, sondern senkt, weil sich
die Zeit der Refinanzierung der Investitionsmaßnahme
verlängern würde. Wir glauben, dass es im Sinne des
Klimaschutzes sinnvoll ist, die 11-Prozent-Regel beizubehalten.
({4})
In Ihrem Antrag steht, dass der Mieter auch dann ein
Minderungsrecht haben sollte, wenn Vermieter gesetzlich vorgeschriebene Energieeffizienzstandards für den
Gebäudebereich nicht umsetzen. Als Zivilrechtler sollte
man den Blick auf Sinn und Zweck der Mietminderungsmöglichkeit lenken. Mietminderungen sind laut BGB
immer dann möglich, wenn die Mietsache einen Mangel
aufweist, der die Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache aufhebt oder mindert. Das ist aber
nicht der Fall, wenn nur Energieeffizienzstandards nicht
eingehalten werden, die sich auch ändern können. Eine
Mietminderung wäre nur dann möglich, wenn Vermieter
und Mieter im Mietvertrag vereinbart haben, dass der
Vermieter die Mietsache an sich ändernde Energieeffizienzstandards anpassen muss. Nur, dann wird der Vermieter sagen: Dann will ich aber auch die Miethöhe anpassen. Das kann für den sozial schwachen Mieter eine
Härte darstellen, die ihn treffen würde. Deswegen bin
ich der Meinung: Sie sollten unter sozialen Gesichtspunkten noch einmal überdenken, ob dieser Vorschlag
die richtige Gewichtung zwischen Klimaschutz und sozialer Ausgewogenheit darstellt.
({5})
So weit sich Ihr Antrag mit Themen des Städtebaus
befasst, halten wir an unserer Strategie „Fordern, Fördern, Informieren - Marktkräfte stärken“ fest. Wir haben
als Ziel formuliert, dass wir ab 2020 eine klimaneutrale
Bauweise erreichen wollen. Dabei setzen wir nicht auf
Zwang, sondern auf Anreize, während Sie in Ihrem Antrag die Energiewende durch Zwangsmaßnahmen erreichen wollen. Das ist nicht unsere Herangehensweise. Sie
haben in Ihrem Antrag zum Beispiel gefordert, die
zwangsweise Einführung von Energieeinsparstandards
im Gebäudebereich oder verpflichtende bedarfsorientierte Energieausweise einzuführen. Wir glauben, dass
das nicht zum Ziel führt.
Interessant ist, dass Sie in Ihrem Antrag - damit
komme ich zum Schluss - sehr vorsichtig mit dem bereits von der Bundesregierung beschlossenen Gesetz zur
steuerlichen Förderung der energetischen Gebäudesanierung umgehen. Warum sind Sie hier so vorsichtig? Das
ist auffällig. Sie wissen, dass es dabei auch auf den Bundesrat ankommt.
In diesem Zusammenhang ein mahnendes Wort: Die
rot-grün geführten Länder sind hier die Blockierer. Wir
sind sehr gespannt, wie sich die Bundesländer bei der
nächsten Runde des Vermittlungsausschusses Anfang
Februar verhalten werden. Darauf kommt es an. Dann
wird die Stunde der Wahrheit schlagen, ob Rot-Grün es
wirklich ernst meint mit der Energiewende im Gebäudesanierungsbereich.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Sehr gerne, Herr Kollege Beck.
Da ich im Gegensatz zu Ihnen das große Vergnügen
habe, diesem Ausschuss anzugehören, möchte ich gerne
wissen, was es für eine merkwürdige Strategie der Bundesregierung ist, den Vermittlungsausschuss anzurufen
und dann der Länderseite keinerlei Angebote zu unterbreiten.
Sie wissen genau, dass die Länder den Vermittlungsausschuss angerufen haben, weil sie sagen: In bestimmten Kommunen und in manchen Ländern werden wir,
wenn wir die Schuldenbremse einhalten oder haushalterisch noch in der kommunalen Selbstverwaltung bleiben
wollen, einen Ausgleich für die Steuerausfälle benötigen. Bislang haben Sie aber noch keinen einzigen Cent
als Angebot auf den Tisch gelegt.
Wenn man ein Vermittlungsausschussverfahren einleitet, muss man der anderen Seite doch ein Angebot machen, zumal das Gesetz bereits einmal im Bundesrat
durchgefallen ist. Wir wollen ja ein Ergebnis, aber Sie
müssen den Kommunen helfen, die in der Zwangsverwaltung sind, und den Ländern, die die Schuldenbremse
anders nicht einhalten können.
Herr Kollege Beck, ich denke, dass Sie gerade verschiedene Punkte zusammenwerfen. Es ist doch so, dass
beide Seiten dem Vermittlungsausschuss Angebote unterbreiten müssen. Warten Sie gespannt ab, was Anfang
Februar von unserer Seite vorgelegt werden wird. Aber
auch Rot-Grün muss zeigen, dass es in dem hier angesprochenen Punkt bei den Ländern - auch bei denen, an
deren Regierung Sie beteiligt sind - Bewegung gibt.
Hier kann Rot-Grün zeigen, ob es bereit ist, sich zu bewegen. Es kommt auf beide Seiten an.
({0})
Warten wir einfach ab, was sich Anfang Februar ergibt.
Wir sind gespannt, was von Ihrer Seite kommt.
({1})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon abgelaufen,
aber der Kollege Mücke möchte auch noch eine kurze
Erläuterung dazwischenschieben. Er kann eine Zwischenbemerkung machen.
({0})
Kollege Mücke, bitte.
Herr Kollege Thomae, stimmen Sie mir zu, dass der
Klimaschutz, der gerade für die Grünen-Fraktion sehr
wichtig ist, eine gesamtstaatliche Aufgabe ist und dass
es deshalb nicht nur die Aufgabe der Bundesregierung
sein kann, für die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung zu sorgen, sondern dass es
vielmehr auch eine Aufgabe der Länder und der Kommunen ist?
({0})
Herr Kollege Thomae, Sie könnten doch jetzt mit einem kräftigen Ja zu dieser Zwischenfrage Ihre Rede beenden; denn Ihre Redezeit ist ja abgelaufen.
({0})
Ich sehe schon das Minuszeichen bei mir am Pult. Ich
kann das nur unterstreichen, was Kollege Mücke gesagt
hat. Es handelt sich um eine gemeinsame Aufgabe von
uns allen, von Bund und Ländern.
({0})
Herr Kollege, Sie müssen schon noch dableiben.
Alle Seiten haben daran mitzuwirken, Bund und Länder. Ich hoffe, dass Anfang Februar im Vermittlungsausschuss ein Ergebnis erzielt werden kann, an dem auch
Rot-Grün mitwirkt.
Vielen Dank.
({0})
Herzlichen Dank. - Nun hat Kollegin Heidrun Bluhm
für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Wagner, herzlichen Dank, dass Sie diesen
Antrag heute so zeitnah unserem Antrag hinterherschieben, über den wir am 16. Dezember letzten Jahres hier
debattiert haben. Ich kann Ihnen sagen: Unsere Unterstützung für Ihren Antrag werden Sie bekommen; denn
in wesentlichen Teilen haben wir in unseren Anträgen
dieselben Ansätze. Vor allem was die Verbindung der
Themen Klimaschutz, Demografie und sozialer Mieterschutz betrifft, sind wir sehr nah beieinander. Deshalb
können Sie mit unserer Unterstützung rechnen.
Herr Thomae, Sie haben vorhin zwar sehr eindrucksvoll deutlich gemacht, dass Sie im Laufe der Diskussion
des Referentenentwurfs vermutlich zu gemeinsamen
Positionen mit den Grünen und dann gegebenenfalls
auch mit uns kommen werden. Ich traue Ihnen jedoch
nicht über den Weg; das will ich hier ganz deutlich sagen. Die Rede, die Sie am 16. Dezember letzten Jahres
gehalten haben, als ich unseren Antrag hier verteidigt
habe, war eine völlig andere, obwohl der Inhalt der beiden Anträge sehr nah beieinanderliegt. Deswegen traue
ich Ihnen nicht. Wir sind sehr gespannt, wie sich das
Ganze nun in den Ausschüssen gestalten wird.
Es gibt allerdings - das will ich ebenfalls hier deutlich
machen - ein paar kleine Unterschiede zwischen unseren
Anträgen: Unser Antrag ist nicht nur kürzer - das sagt
nichts über die Qualität aus -, sondern unterscheidet sich
auch im Hinblick auf bestimmte wesentliche Positionen.
Ich will hier auf das Thema Modernisierungsumlage eingehen.
Wir fordern in unserem Antrag eine Absenkung der
Modernisierungsumlage auf maximal 5 Prozent der
Miete und sind der Auffassung, dass die Möglichkeit ihrer Erhebung jeweils an die Dauer der Abschreibung der
bei der Klimaschutzmaßnahme oder beim altersgerechten Umbau verwendeten Bauteile gebunden werden
sollte. Wir sind nämlich der Auffassung, dass eine Verbindung zur Abschreibung viel fairer und gerechter ist.
Ich habe gerade im Beitrag von Herrn Egloff gehört,
dass man darüber nachdenken sollte, die Zahlung der
Umlage zeitlich zu begrenzen; das begrüßen wir ausdrücklich. Denn es ist in der Tat so: Nach der neunjährigen Abschreibung von jährlich 11 Prozent hat bisher
kein Vermieter seine Miete angepasst.
({0})
Wie wir der Presse entnehmen können, hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wie auch wir, ihren Antrag
mit dem Deutschen Mieterbund abgestimmt. Der Mieterbund sagt zu dieser Frage, dass die Modernisierungsumlage eigentlich systemfremd ist und überhaupt nicht
zu diesem Thema passt; er möchte, dass sie ganz gestrichen wird. An dieser Stelle sind wir ein bisschen näher
am Mieterbund; aber ich denke, da kann man sich annähern.
Wir gehen allerdings davon aus, dass eine gesetzliche
Deckelung der Modernisierungsumlage ohnehin nur dort
praktikabel ist, wo der Markt Mietsteigerungen in der
entsprechenden Größenordnung zulässt. Aber gerade
dort ist es notwendig, Mieterinnen und Mieter vor Mietwucher und vor allem vor einer Verdrängung aus nachgefragten Wohnlagen zu schützen.
Wir wählen in unserem Antrag eine andere Rangfolge
als die Grünen, aber letztendlich sind unsere Grundaussagen mit denen der Grünen identisch: Weder der altersgerechte Umbau noch die energetische Sanierung des
Wohnungsbestandes in Deutschland können ohne das
Engagement aller am Prozess beteiligten Akteure gelingen: der Staat, die Vermieter, die Mieter und Mieterinnen. Ich nenne den Staat zuerst, weil die älter werdende
Bevölkerung und der Klimawandel Herausforderungen
sind, vor denen die Gesellschaft als Ganzes steht, weshalb zuerst politische Konzepte und politisches Handeln
gefordert sind. Weil in Deutschland weit mehr als
50 Millionen Menschen in Mietwohnungen leben, also
mehr als die Hälfte unserer Bevölkerung davon betroffen
ist, müssen wir das als eine gesamtstaatliche Aufgabe
annehmen,
({1})
übrigens auch im Interesse Tausender Vermieter, die als
Eigentümer auf verlässliche, langfristige ordnungspolitische und haushalterische Rahmenbedingungen, aber
auch auf sozialen Frieden und eine stabile Mieterschaft
angewiesen sind, wenn wir von ihnen verlangen, in ihre
Wohnungsbestände kräftig zu investieren.
Wohnungen sind aber keine gewöhnliche Ware, die
man dem sogenannten freien Spiel der Kräfte des Marktes überlassen darf. Wohnen ist ein elementares Grundbedürfnis aller Menschen; es gesetzlich zu schützen und
zu sichern, ist also eine vordringliche Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge bzw. des Staates.
({2})
Märkte, auch der Wohnungsmarkt in Deutschland,
werden sich nicht ohne gesellschaftlichen Druck verändern und die Herausforderungen der Zukunft annehmen.
Deshalb führt kein Weg daran vorbei: Der Staat muss die
rechtlichen Rahmenbedingungen für einen beständigen
Interessenausgleich zwischen Mietern und Vermietern
schaffen.
Ein letztes Wort an die FDP. Der Referentenentwurf
ist immer noch ein Referentenentwurf. Wir warten seit
vielen Monaten und sind sehr gespannt, wann daraus
endlich eine Gesetzesgrundlage wird. Aber vielleicht ist
das auch gar nicht notwendig: Nachdem unsere Anträge
vorliegen, reicht es vielleicht aus, sich daran abzuarbeiten.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
„Wohnraum in Deutschland zukunftsfähig machen“: Ich
glaube, das ist das Ziel von uns allen. Unsere Wege zur
Erreichung dieses Ziels unterscheiden sich jedoch gewaltig. Der Weg der christlich-liberalen Koalition ist
realistisch und wird daher auch zum Ziel führen. Der
Weg, den die Grünen mit dem vorliegenden Antrag beschreiten wollen, führt dagegen in die Irre.
Die zahlreichen von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen sind vielleicht wünschenswert, aber in keiner Weise
realistisch. Zwar sind all Ihre Feststellungen zur demografischen Entwicklung, zur dringenden Notwendigkeit
der energetischen Sanierung des Wohnungsbestandes
und zur Vermeidung sozialer Konflikte richtig; aber die
Schlussfolgerungen daraus sind nicht konsequent und
blenden die Wirklichkeit aus. Sie werden soziale Konflikte nicht vermeiden, wenn Sie die Bürgerinnen und
Bürger bei den Sanierungsmaßnahmen nicht mitnehmen.
Außerdem ist mir schleierhaft, wie Sie mit Ihren Vorschlägen jemals einen ausgeglichenen Staatshaushalt erreichen wollen.
Die Maßnahmen zur Steigerung der Gebäudeeffizienz
müssen sich an drei wesentlichen Kriterien orientieren:
Sie müssen vom Bundeshaushalt finanzierbar sein, ohne
die nachfolgenden Generationen zu belasten. Sie dürfen
die Menschen nicht überfordern, das heißt, die Standards
dürfen nicht zu hoch sein, und es darf keinen Sanierungszwang geben. Die Maßnahmen müssen so angelegt
sein, dass die Häuslebauer, Hauseigentümer und Mieter
in der Lage sind, sich die Modernisierung zu leisten.
Das Energiekonzept der Bundesregierung und die darauf aufbauenden Maßnahmen folgen diesem Dreiklang.
Die christlich-liberale Koalition handelt mit Augenmaß,
sie handelt bürgerfreundlich, und sie handelt vor allem
verantwortungsbewusst mit Blick auf die nachfolgenden
Generationen. Dies ist aus meiner Sicht das beste Rezept, um sozialen Konflikten im Mietwohnungsbereich
vorzubeugen.
({0})
Was machen wir konkret? Erstens. Wir haben beschlossen, das erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm von 2012 bis 2014 trotz schwieriger Haushaltszeiten jeweils mit einem Volumen von circa 1,5 Milliarden Euro fortzuführen. Ich gehe davon aus, dass das
Geld im Klima- und Energiefonds zusammenkommt.
({1})
Mit diesem Geld werden wir zinsverbilligte Kredite sowie Zuschüsse für die energetische Gebäudesanierung
durch die bundeseigene KfW bereitstellen. Die Höhe der
Investitionszuschüsse der KfW wurde mit Wirkung zum
1. Januar 2012 auf bis zu 20 Prozent der Investitionssumme erhöht. Auch der Zuschuss für Einzelmaßnahmen steigt von 5 Prozent auf 7,5 Prozent.
Zweitens. Seit Januar gibt es das neue KfW-Programm „Energetische Stadtsanierung“, für das der Bund
einen Betrag von 92 Millionen Euro zur Verfügung
stellt.
({2})
Damit sollen integrierte Quartierskonzepte zur Steigerung der Energieeffizienz des Gebäudebestands und der
Infrastruktur im Bereich der Wärmeversorgung entwickelt und umgesetzt werden.
Drittens. Das erfolgreiche Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen“ wird fortgesetzt. Die KfW setzt hierfür eigene Mittel ein und unterstützt damit die Initiative
der christlich-liberalen Koalition,
({3})
Modernisierungsmaßnahmen zum Abbau von Barrieren
in Häusern und Wohnungen voranzutreiben. Damit wird
man der demografischen Entwicklung gerecht und sichert außerdem wichtige Arbeitsplätze in der mittelständischen Bauwirtschaft und im Handwerk. Insgesamt
schafft es die KfW mit dem Geld, das ihr der Bund zur
Verfügung stellt, die Förderung für Sanierungen von
Wohngebäuden auszuweiten und das Engagement bei
der Bewältigung des Klimawandels und der demografischen Herausforderungen zu intensivieren.
Viertens. Wir setzen uns massiv dafür ein, dass es
steuerliche Anreize für energetische Sanierungs- bzw.
Einzelsanierungsmaßnahmen gibt. Hier sind wir jedoch
auf die Kooperation der SPD-geführten Bundesländer
angewiesen. Die Verhandlungen laufen derzeit noch. Sie
müssen sobald wie möglich zum Abschluss kommen.
Fünftens. Auch im Bereich des Mietrechts tut sich etwas. Die christlich-liberale Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die energetische Sanierung bei
bestehenden Wohnraummietverträgen zu erleichtern.
Mit dem Mietrechtsänderungsgesetz, das sich derzeit
noch in der Ressortabstimmung befindet, setzen wir
diese Vorgabe des Koalitionsvertrages um. So werden
beispielsweise Mieter künftig für eine Zeit von drei Monaten energetische Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen dulden müssen, ohne die Miete mindern zu
können. Sie werden die Sanierung auch nicht mehr mit
dem Einwand der wirtschaftlichen Härte verzögern können. Außerdem werden wir mit dem Gesetz ContractingModelle im Mietwohnungsbereich ermöglichen. Insgesamt sind wir mit unseren Maßnahmen auf einem guten
Weg zur Schaffung eines klimaneutralen Gebäudebestands, und zwar ohne Zwang, ohne starre und unrealistische Zielsetzungen und mit Augenmaß im Hinblick auf
die Finanzierbarkeit.
Der Antrag der Grünen erfüllt diese Kriterien leider
nicht. Er ist ein Sammelsurium von Wunschmaßnahmen
ohne Bezug zur Realität. Damit werden Sie es sicher
nicht schaffen, den Wohnraum in Deutschland zukunftsfähig zu machen.
Vielen Dank.
({4})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Michael Groß für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
bei Herrn Holmeier dreimal das Wort „Zukunftsfähigkeit“ gehört. Ich glaube, darüber haben wir heute alle gesprochen. Aber Ihr Weg ist ein völlig anderer. Sie zeichnen sich beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm wie
auch bei dem Programm „Soziale Stadt“ durch Unzuverlässigkeit und Unkalkulierbarkeit aus. Sie fahren die
Programme finanziell zurück, stocken sie dann wieder
auf. Gerade das ist Gift für diejenigen vor Ort, die investieren und etwas für ihre Wohnung tun wollen.
Wir haben einen völlig anderen Weg gewählt als den,
den Sie beschritten haben und beschreiten. Es ist klar:
Wir müssen die Umwelt schützen. Wir müssen den
Wohnraum bezahlbar halten. Wir müssen ihn vor allen
Dingen barrierefrei bzw. -arm gestalten. Wir müssen den
Gebäudebestand sanieren, um die Klimaschutzziele zu
erreichen.
Wir wissen heute: Wer saniert, saniert nicht nur energetisch. Die Lebensdauer von Heizungsanlagen, Fassaden, Dächern und Fenstern sowie die Verbesserung der
Wohnqualität spielen ebenso eine Rolle. Wir begrüßen,
dass von vielen Eigentümern auch altersgerecht und barrierearm umgebaut wird. Wir haben vorhin gehört, dass
die Kreditanstalt für Wiederaufbau das Programm „Altersgerecht Umbauen“ weiterführt. Sie hätten die Haushaltsmittel aufstocken müssen, um hier den Anforderungen gerecht zu werden.
({0})
Die simple Rechnung, dass Mieter und Eigentümer
von einer energetischen Sanierung profitieren, geht nicht
immer auf. Ebenso erhält der Vermieter nicht in jeder
Region durch die Sanierung einen entsprechenden Mehrwert für seine Immobilie.
Wir beobachten in Wachstumsregionen, dass die
Mieten nach vorgenommenen Sanierungen explodieren
können. Die heute kalkulierten Einsparungen für den
Mieter bei den Heizkosten sind so geringfügig, dass sie
bei 70-prozentigen Mietsteigerungen kaum mehr ins Gewicht fallen. Es handelt sich nicht mehr nur um EinzelMichael Groß
fälle. Auch wenn man massive Steigerungen der Energiepreise berücksichtigt, können diese Mehrbelastungen
langfristig nicht kompensiert werden. In anderen Regionen sind noch nicht einmal Mieterhöhungen von weniger
als 1 Euro am Markt durchsetzbar.
({1})
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Einkommenssituation in Deutschland zu achten. 1,4 Millionen Menschen müssen ihre Einkommen aufstocken. Die
OECD hat gerade festgestellt, dass besonders die unteren Einkommen in Deutschland gesunken sind. Deshalb
fordern wir die Wiedereinführung der Heizkostenpauschale beim Wohngeld, die die Koalition abgeschafft
hat.
Aber wer Energie spart, muss dafür auch belohnt werden. Wenn sich Mieter ihre energetisch sanierten Wohnungen nicht mehr leisten können, wenn Mieter durch
ihre geringeren Einkommen in energetisch schlechtere
Wohnungen gedrängt werden, so ist das ein Zustand, den
wir nicht akzeptieren können und wollen.
({2})
Die sozialen Auswirkungen der Energiepolitik müssen mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Wir wollen
keine Stadtteile, in denen ausschließlich Menschen leben, die sich bezahlbare gute Wohnungen nicht mehr
leisten können. Wir brauchen realisierbare Zielsetzungen, und eine komplexe Aufgabe muss in Gesamtzusammenhängen betrachtet und gelöst werden.
Für eine schnelle und wirksame energetische Verbesserung des Gebäudebestandes ist es wichtig, erstens wesentlich stärkere Anreize für kleinteilige Maßnahmen
mit geringem finanziellen Aufwand zu setzen, zweitens
Kontinuität und Planbarkeit bei den Zielsetzungen herzustellen und mindestens 2 Milliarden Euro für die KfWFörderung im Haushalt mittelfristig bereitzustellen. Wir
fordern drittens, den Quartiersbezug in den Städten zu
beschleunigen, um abgestimmt die notwendigen Sanierungen und eine zukunftsfähige Energieversorgung im
Zusammenhang umzusetzen.
Die Vergangenheit hat gezeigt, das Mietrecht hat eine
soziale Funktion. Ob das Mietrecht aber auch eine energetische Funktion haben kann, muss geprüft werden. Der
Antrag der Grünen enthält 40 Forderungen, elf zum
Mietrecht. Die Summe der Forderungen ist hinsichtlich
der Folgen erst abzuschätzen. Wir haben Sympathie dafür. Aber wir werden es prüfen.
Wir wollen Mieter schützen, Eigentümer motivieren
und die Klimaschutzziele erreichen. Das Mietrecht ist sicher nur ein Baustein auf dem großen Baufeld und nicht
die tragende Mauer.
Vielen Dank und Glück auf!
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wir die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ansgar
Heveling, Wolfgang Börnsen ({1}), Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann,
Burkhardt Müller-Sönksen, Jimmy Schulz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe beginnen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Siegmund
Ehrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
„Kulturelles Erbe 2.0“ - Digitalisierung von
Kulturgütern beschleunigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia
Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Digitalisierung des kulturellen Erbes als
gesamtstaatliche Aufgabe umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtssicherheit für verwaiste Werke herstellen und den Ausbau der Deutschen Digitalen Bibliothek auf ein solides Fundament
stellen
- Drucksachen 17/6315, 17/6296, 17/6096, 17/8164,
17/8486 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Reiner Deutschmann
Agnes Krumwiede
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Ansgar
Heveling für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema, über das wir heute diskutieren, hat in der Tagesordnung den eindrucksvollen Titel „Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe beginnen“. Wir beraten über eine Reihe von Anträgen aller Fraktionen, was
zeigt, dass das Thema zwar im Detail unterschiedlich gesehen und bewertet wird, dass wir im Grunde aber auf
einen gemeinsamen Nenner kommen: Wir alle sind uns
darüber einig - lassen Sie mich meine Rede darum mit
diesem betont positiven und diplomatischen Einstieg beginnen -, dass die Digitalisierung unseres kulturellen Erbes - dabei handelt es sich unter anderem um Filme,
Buchbestände, Kunstwerke und weitere kostbare Exponate - in den kommenden Jahren weiter ausgebaut und
vorangetrieben werden muss.
({0})
Es besteht kein Zweifel daran - ich denke, dass ich hier
für alle sprechen kann -, dass es in unser aller Sinne ist,
dass die Menschen in unserer Gesellschaft, dass die
Wirtschaft, die Wissenschaft, die Forschung und die Bildungseinrichtungen online auf unser Kulturgut zugreifen
können.
Den Weg der Digitalisierung haben wir erfolgreich
eingeschlagen, und zwar mit dem nationalen Digitalisierungsprojekt „Deutsche Digitale Bibliothek“, kurz DDB,
das noch in diesem Jahr online gehen soll. Mit diesem
faszinierenden Großprojekt wollen wir unser über die
Jahrhunderte angesammeltes kulturelles Erbe mit unserer digitalen Zukunft verbinden. Was die DDB bisher geleistet hat, haben uns die daran beteiligten Experten gestern in einem öffentlichen Fachgespräch im Kulturausschuss ausführlich dargelegt. Sie haben uns aber auch
auf Desiderate hingewiesen, mit denen wir uns zeitnah
auseinandersetzen wollen und müssen.
Bei dem Fachgespräch gestern hat sich auch gezeigt,
dass das Thema Digitalisierung nicht allein unter dem
technischen Gesichtspunkt betrachtet werden darf. Wir
brauchen auch eine inhaltliche Strategie für den Umgang
mit den zu digitalisierenden Werken. Dabei ist klar: Mit
der DDB, die durch das zuständige Kompetenznetzwerk,
bestehend aus Bund, Ländern und Kommunen, koordiniert wird, liegt schon ein umfassendes und klar definiertes Digitalisierungskonzept vor, das nun weiter ausgebaut und mit weiterem digitalen Content bestückt
werden muss, damit diese Objekte auch in die „Europeana“ einfließen können.
Schon heute sind 6 Millionen Objekte in die DDB
eingepflegt. Der Beitrag, den Deutschland bisher für die
digitale Bibliothek erbracht hat, ist beachtlich. So wurden bereits 22 000 Buchtitel aus dem 16. Jahrhundert,
30 000 aus dem 17. Jahrhundert und 40 000 aus dem
18. Jahrhundert erfolgreich digitalisiert. Das vermeldete
der Deutsche Bibliotheksverband in einer 2011 herausgegebenen Fachzeitschrift.
Eine große Aufgabe, die in den nächsten Jahren ansteht, ist die Digitalisierung von Beständen aus dem
19. und dem 20. Jahrhundert, darunter kostbare Zeitschriften und Zeitungen. Diese und andere Exponate
müssen möglichst zeitnah bearbeitet werden, da sie sich
teilweise schon in einem schlechten Zustand befinden
oder sogar vom Zerfall bedroht sind. Hinsichtlich der
noch zu realisierenden Projekte kommen wir nicht umhin - ich habe eingangs schon darauf hingewiesen, dass
wir nicht nur die technische, sondern auch die inhaltliche
Seite betrachten müssen -, eine sach- und fachgerechte
Auswahl vorzunehmen. Exponate, die sich in einem besonders schlechten Zustand befinden oder von hohem
Interesse für Wissenschaft und Forschung sind, müssen
prioritär behandelt werden. Gleichzeitig stehen wir aber
auch vor der Frage, welche Speichermedien genutzt werden müssen, um eine Langzeitarchivierung sicherzustellen.
({1})
Um das umfassende Digitalisierungsprojekt auf nationaler Ebene zu gewährleisten, muss aber nicht nur eine
verlässliche finanzielle Basis geschaffen werden, die das
gesamtstaatliche Vorhaben auf einen festen Sockel stellt,
sondern es muss auch darum gehen, das Urheberrecht im
Zuge der Massendigitalisierung zu wahren.
({2})
Seit 1997 wurden bereits über 100 Millionen Euro in
die Digitalisierung von Kulturgut investiert. Vor allem
die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellte einen großen Anteil finanzieller Mittel zur Verfügung. Um die Digitalisierung weiter auszubauen, brauchen die an der
DDB beteiligten Institutionen Planungssicherheit; denn
nur dann können sie die weiteren Projekte schnellstmöglich angehen und umsetzen.
Angesichts der noch anstehenden Aufgaben stehen
wir als CDU/CSU und FDP einer Kooperation mit privatwirtschaftlichen Einrichtungen grundsätzlich positiv
gegenüber. Die öffentliche Hand allein wird ohne die
Unterstützung von außen im Sinne einer Public-PrivatePartnership dieser kulturpolitischen Herausforderung sicherlich gar nicht gerecht werden können. Die Kooperation zwischen Google und der Bayerischen Staatsbibliothek sei an dieser Stelle als Beispiel erwähnt.
({3})
Hier müssen natürlich staatliche gegen kommerzielle Interessen abgewogen werden. Aber, ich denke, dieses
Projekt in Bayern ist ein sehr gelungenes Beispiel.
({4})
Bei einem Teil der zu digitalisierenden Werke handelt
es sich um urheberrechtlich geschützte Exponate, deren
Rechteinhaber nicht mehr auffindbar sind oder die als
vergriffen gelten, die sogenannten verwaisten oder vergriffenen Werke. Es ist richtig - das haben wir in allen
Diskussionen hierzu festgestellt -, dass es sich hierbei
um ein Thema handelt, das wir nicht leicht in den Griff
bekommen werden. Das ist kein leichtes Unterfangen.
Die erforderliche Rechteklärung ist faktisch schwierig
oder gar unmöglich. Dennoch sehen wir als CDU/CSUFraktion die Notwendigkeit, einen gerechten Ausgleich
zwischen Rechteinhabern und Nutzern zu finden, zum
Beispiel anlehnend an das bewährte System der Verwertungsgesellschaften.
Ich hoffe, dass das Onlineportal der Deutschen Digitalen Bibliothek eine große Bereicherung für uns alle
sein wird und viele Menschen in Zukunft auf dieses Angebot zugreifen können und werden, nicht zuletzt deswegen, um anschließend den Weg in eine Kultureinrichtung zu finden.
({5})
Denn trotz unseres digitalen Fortschritts vermag der
Bildschirm nicht alles. Er vermag vor allem nicht die unmittelbare ästhetische Wirkung unserer vielfältigen Kunstund Kulturschätze zu ersetzen.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Siegmund Ehrmann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Heveling, die
vorliegenden Anträge belegen in der Tat, dass sich alle
Fraktionen sehr intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Ich gebe Ihnen recht, dass zumindest die beschreibenden Teile der Anträge starke Übereinstimmungen aufweisen. Bei den vorgeschlagenen Konsequenzen
gibt es gleichwohl Differenzen. Darauf möchte ich gerne
eingehen; denn zu viel Harmonie würde die sachlich notwendige Reibung behindern.
({0})
Für mich persönlich gab es trotz der intensiven Beschäftigung mit diesem Thema in der letzten Woche
noch zwei Erfahrungen, die mich besonders beeindruckt
haben; diese haben wir gemeinsam erlebt. Das war zum
einen der Besuch im Digitalisierungszentrum der Staatsbibliothek zu Berlin. Dort konnten wir hochkomfortable
technische Arbeitsplätze mit Innovationscharakter erleben. Das war beeindruckend. Die Menschen, die dort arbeiten, sind engagiert und gehen einer sehr verantwortungsvollen Tätigkeit nach. Wir bekamen ein Gespür
dafür, was nicht nur technologisch, sondern auch an
klassischem Handling notwendig ist.
Das andere, das mich bzw. uns beeindruckt hat, war
gestern die Präsentation der Vertreter der FraunhoferGesellschaft, die das Portal der Deutschen Digitalen Bibliothek vorgestellt haben. Das Portal hat ein ausgesprochen ansprechendes Design und ist überdies von der
Funktionalität her überzeugend. Das ist sehr beeindruckend. Die Expertenanhörung gestern hat unsere Einschätzung hinsichtlich der Entscheidung über die Anträge abgerundet.
Die Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung
sind nichts Neues. Erwähnt wurde, dass von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit vielen Jahren Anstrengungen unternommen worden sind, um insbesondere Bestände zu erhalten. Eine neue Qualität ist
entstanden, als „Europeana“ gegründet wurde und auch
wir in unserem Land im Eckpunktepapier zur Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern Verabredungen getroffen haben, die Digitalisierung der kulturellen
Güter vorzunehmen, sie in das Web einzustellen und so
den Zugang zu ermöglichen.
Die Digitalisierung der kulturellen Güter ist klassischerweise eigentlich Aufgabe der Kulturpolitik. Es geht
darum, sich mit dem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen, die Dinge zu archivieren, zu sichern, zu bewahren,
bereitzustellen und zu vermitteln. Das ist Ausdruck der
öffentlichen Verantwortung gegenüber öffentlichen Gütern und der Öffentlichkeit. Wir stellen die öffentliche
Infrastruktur zur Verfügung. Das ist Aufgabe des Staates
auf allen Ebenen, nicht nur in der analogen, sondern
auch in der digitalen Welt. Hierfür sind jetzt die Voraussetzungen geschaffen.
({1})
Wo stehen wir? Ich möchte auf drei Punkte eingehen:
erstens auf das Portal, zweitens auf die Strategie und
drittens auf die Frage, die Herr Heveling angesprochen
hat: Wie gehen wir eigentlich mit den verwaisten Werken um?
Zunächst zur Deutschen Digitalen Bibliothek. Ich
schildere Ihnen, was wir gestern bei unserem Treffen mit
den hochkompetenten Leuten von der Fraunhofer-Gesellschaft erlebt haben. 30 Ingenieure haben über anderthalb Jahre etwas unglaublich Komplexes, was gleichwohl benutzerfreundlich ist, zusammengebracht. Das ist
eine Einladung an 30 000 kulturelle Institutionen in unserem Land, sich in dieses Portal zu begeben und dort
Verknüpfungen unter sehr vielen fachlichen Gesichtspunkten herzustellen. Das ist spannend und innovativ.
Meine Überzeugung ist: Dahinter steckt letztendlich
etwas, das die Kulturpolitik plastisch erlebbar macht.
Dahinter stecken nämlich technologische Innovationen
und ökonomische Wertschöpfung. Das ist hochkomplex.
Die Forscher und die Entwickler haben uns deutlich gemacht: Das Ding ist anwendungsreif. Mit dem, was dort
entwickelt wurde, haben wir weltweit einen technologischen Vorsprung von etwa anderthalb Jahren. Mein dringender Appell lautet: Lasst es jetzt tatsächlich in die Fläche! Ich werde nachher kritisch nachfragen, wie es damit
weitergeht. Wir können hier nämlich tatsächlich etwas
realisieren.
Wir haben gesehen, welche Scanner in der Staatsbibliothek eingesetzt werden. Wenn Sie sich mit der Frage,
wer die Hersteller sind, auseinandersetzen, kommen Sie
zu dem Ergebnis: Das sind große und mittelständische
Unternehmen aus Österreich und Deutschland, die
- wenn Sie sich genauer damit beschäftigen, werden Sie
das feststellen - Kooperationspartner aus ganz Europa
haben. Das ist ein klassisches Projekt europäischer wirtschaftlicher Kooperation. Ich glaube, es ist wichtig, Entwicklungen, die wir in unserem Land in Kooperation mit
anderen zustande bekommen, tatsächlich zum Einsatz zu
bringen. Dieses Portal ist, wie gesagt, anwendungsreif,
und die Menge der integrierten Digitalisate über der kritischen Grenze von 6 Millionen ließe dies zu. Wir könnten damit in die Anwendung gehen, wenn wir es wollten.
Ich frage mich: Wann wird es freigegeben?
({2})
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die Strategie bzw. die Partizipation. Es ist vorgesehen,
dass sich in der ersten Phase 30 große kulturelle und
Wissenschaftsinstitutionen in dieses Portal begeben. Das
ist ein breit angelegtes Angebot. Das kann man nicht
top-down, also von oben herab organisieren, sondern da
muss motiviert, begleitet und unterstützt werden. Das
schreit danach, dass man Schwerpunkte bildet und Kooperationspartner einlädt. Das schreit auch nach der ordnenden Hand, erst recht dann, wenn wir uns die wahnsinnigen finanziellen Investitionen, die dahinterstecken,
vor Augen führen. Hier muss man also Schwerpunkte
bilden und gewichten.
Das kann der Staat bzw. das können Bund und Länder
nicht alleine. Das muss man gemeinsam mit den zuständigen Akteuren in den Institutionen organisieren. Dafür
brauchen wir Kommunikationsplattformen. Das Netzwerk wurde ja schon gebildet. Aber es ist schwach ausgestattet. Wir brauchen dort mehr Drive und Unterstützung. Herr Heveling, all Ihre Einlassungen würde ich
unterstreichen. Aber wer die Lippen spitzt, muss pfeifen.
({3})
Hier sind Sie von der Regierung gefordert.
({4})
Beim dritten Punkt wird es besonders spannend. Ich
finde es wirklich abenteuerlich, was Sie in Ihrem Antrag
schreiben, Herr Heveling; er ist ja vom Juni letzten Jahres, und das ist schon ein paar Tage her. Die Kernbotschaft lautet: Die rechtlichen Voraussetzungen werden
nun geschaffen. - Toll!
({5})
Das war allerdings im letzten Jahr. Ihre Justizministerin hat aber schon ein Jahr zuvor eine Rede gehalten, in
der sie einen Gesetzentwurf zum Dritten Korb für den
Herbst 2010 angekündigt hat.
Der Staatsminister hat im Herbst 2010 ein ZwölfPunkte-Programm zu den Kernfragen im Urheberrecht
vorgelegt. Unsere Fraktion hat im Oktober 2010 einen
Gesetzentwurf genau dazu eingebracht. Der Deutsche
Kulturrat hat heute den dringenden Appell veröffentlicht
- auch mit Blick auf die Anhörung von gestern -:
Mensch Leute, das Problem ist drängend. Es kann doch
nicht so sein, dass dort nur die Produkte und Kunstwerke
des Mittelalters und des Spätmittelalters präsentiert werden. Das wird erst interessant, wenn auch aktuellere
Dinge - hier reden wir über die gemeinfreien Werke und
über problematische, nicht geklärte Rechtsverhältnisse eingestellt werden. - Ich frage Sie: Wie gehen Sie mit
diesem Thema um? Sie warten ab!
Sie sagen, dass es hier Konflikte in der Sache gibt.
Dazu sage ich nur: Das parlamentarische Handwerkszeug, mit dem Konflikte gelöst werden, ist ein Gesetzentwurf, an dem man sich reiben kann.
({6})
Auf den warten wir. Wo ist er? Das kann ich bei aller
Neigung, zu kooperieren und gut zusammenzuarbeiten
- dies ist im kulturellen Bereich ausgeprägt -, an dieser
Stelle nicht verstehen. Ich finde, das ist eine absolute
Schlechtleistung der Regierung.
({7})
Ich fasse zusammen: Bei diesem Projekt erleben wir
ein starkes Engagement vieler, die mit unglaublicher
Kraft, mit Fleiß und mit Ideenreichtum an die Sache herangehen. Es gibt dort auch ökonomische Potenziale. In
diesem Zusammenhang verweise ich auf Österreich. Der
Marktführer für Scanner in Österreich ist ein Spin-off,
eine Ausgründung aus der Technischen Universität
Wien. Es gibt also durchaus eine Plattform dafür, das in
unserem Land ökonomisch noch weiter zu stärken. Wir
haben also alle Voraussetzungen dafür, hier sehr erfolgreich zu agieren.
In der Anhörung ist eines eindeutig geworden: Man
erwartet von uns politische Unterstützung. Es geht hier
nicht nur um eine verbale Bekundung, sondern ein bisschen mehr Leidenschaft in der Sache ist notwendig. Im
Analyseteil des Koalitionsantrages sprechen Sie auch
noch davon. Danach schreiben Sie: „Der Deutsche Bundestag begrüßt“, und Ihr Forderungskatalog enthält fünf
schlappe Punkte. Selbst die Dinge, die jetzt weiterentwickelt werden müssen und die Sie hier eingeräumt haben,
hätten zum Zeitpunkt, als Sie den Antrag redigiert haben, schon angegangen werden können.
Kurzum: Packen Sie die Dinge an, die ich angesprochen habe! Dann haben wir wirklich ein gutes gemeinsames Thema.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Reiner Deutschmann für die FDPFraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Unser kulturelles Erbe ist
durchaus fragil. Wird ein Kunstwerk oder ein Schriftstück durch Wassereinbruch oder Feuer zerstört, ist es
für die Nachwelt unwiederbringlich verloren.
({0})
Auch der Zahn der Zeit nagt an unseren Kulturgütern,
verhindert die Nutzung der oftmals jahrhunderte-, wenn
nicht gar jahrtausendealten Kulturgüter und macht die
Arbeit am Original nur unter größtem Aufwand möglich.
Deshalb liegt in der Digitalisierung eine zweifache
Chance. Die Politik ist fest entschlossen, das kulturelle
Erbe Deutschlands zu sichern und gleichzeitig für alle in
digitaler Form zugänglich zu machen - natürlich unter
Wahrung des Urheberrechts. Meine beiden Vorredner
haben es ja bereits gesagt: Darin sind sich erst einmal
alle Fraktionen einig.
({1})
- Ich glaube nicht.
Erst gestern präsentierte das Fraunhofer-Institut
- auch das wurde schon gesagt - die Ausgestaltung der
zukünftigen Deutschen Digitalen Bibliothek. Die circa
6 Millionen digitalisierten Werke, die bereits vorhanden
sind, garantieren natürlich, dass es in der zweiten Jahreshälfte einen guten Start geben kann. Das im Prinzip fertiggestellte Portal überzeugte durch eine sehr hohe Funktionalität. Es war wirklich beeindruckend, was uns dort
vorgeführt wurde.
Wir haben damit international tatsächlich einen Vorsprung von ein bis zwei Jahren. Diesen Vorsprung sollten wir natürlich halten, wenn nicht gar ausbauen. Das
heißt, wir müssen weiter in entsprechender Größenordnung digitalisieren und natürlich insbesondere auch im
Land dafür werben, dass sich weitere Institutionen daran
beteiligen. Diese Institutionen können dabei nur gewinnen; denn wer heutzutage im Netz nicht gefunden wird,
der wird im nächsten oder übernächsten Jahr unter Umständen gänzlich von der wissenschaftlichen Landkarte
verschwunden sein.
({2})
- Mein lieber Herr Wieland!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antrag
der SPD-Fraktion konzentriert sich auf die Festlegung
einer nationalen Digitalisierungsstrategie. Eine solche
Strategie ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion nicht
notwendig. Dies haben gestern die Experten auch bestätigt. Anlässlich des öffentlichen Fachgespräches zur Digitalisierung von Kulturgut, das gestern im Ausschuss
für Kultur und Medien stattfand, wurde diese Auffassung bestätigt. Claudia Dillmann vom Deutschen
Filminstitut hält eine nationale Digitalisierungsstrategie
für nicht zielführend. Stattdessen muss die Innovationskraft aus den Sparten des Kompetenznetzwerkes, dem
eigentlichen Träger der Deutschen Digitalen Bibliothek,
kommen. Meine Fraktion und ich jedenfalls haben großes Vertrauen in die 13 im Netzwerk zusammengeschlossenen namhaften Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen. Von oben sollte daher keine Strategie
oktroyiert werden.
Daher rührt auch unsere Forderung nach einer Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe. Die für
die Umsetzung erforderlichen Organisationsstrukturen
sind bereits vorhanden. Neben dem eben erwähnten
Kompetenznetzwerk bildet hier das gemeinsame Eckpunktepapier von Bund, Ländern und Gemeinden zur
Deutschen Digitalen Bibliothek ein wichtiges Gerüst.
Die im SPD-Antrag enthaltenen Forderungen nach
konkreten Mindestbedingungen für private Kooperationen sowie nach urheberrechtlichen Lösungen für das
Kopieren von Langzeitarchivierungen lehnen wir ab.
Das Urheberrecht ermöglicht bereits heute die Langzeitdigitalisierung, zum Beispiel durch Archive und Museen. Hier müssen wir nicht gegen irgendwelche Defizite ankämpfen. Gerade die Aktivitäten im Bereich der
privaten Kooperation haben sich bislang als großer Erfolg herausgestellt, sodass wir auch dort keinen gesetzgeberischen Regelungsbedarf sehen. Die genannten
Mindestbedingungen für private Kooperationen sind in
Ihrem Antrag jedenfalls zu detailliert. Wir wollen nicht
in die Einrichtungen hineinregieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Voraussetzung ist
aber, dass die jeweiligen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen ein Digitalisat zur freien und unentgeltlichen
Verfügung erhalten. Schließlich müssen die digitalisierten Werke im Laufe der Zeit immer wieder in neue Systemumgebungen und auf neue Speichermedien kopiert
werden, um für die Nachwelt tatsächlich erhalten zu
werden.
In Ihrem Antrag ist ein starker Ruf danach enthalten,
dass Weiterbildungen für die Mitarbeiter in den Kulturund Wissenschaftseinrichtungen des Bundes organisiert
werden müssen, damit sie fit sind. Wir denken, dass die
Einrichtungen das schon in Eigenregie tun werden und
die Eigenverantwortung kennen, die sie gerade gegenüber den Mitarbeitern haben. Ich habe schon darauf verwiesen: Man sollte nicht zu sehr in Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen hineinregieren, sondern sie tatsächlich autark arbeiten lassen.
({3})
Auch aus diesem Grund lehnen wir das umfangreiche
Berichtswesen, das in Ihrem Antrag gefordert wird, ab.
Wir finden, dies ist nicht notwendig. Es bleibt auch bei
unserer Ablehnung zum Vorschlag der Linken, das
Ganze in ein Gesetz zu gießen. Außerdem ist von den
Experten klar zum Ausdruck gebracht worden, dass die
öffentliche Hand diese Mammutaufgabe nicht allein
stemmen kann, sondern private Partner braucht. Da hilft
es nicht, Haushaltsmittel von 30 Millionen Euro pro Jahr
zu fordern. Vielmehr brauchen wir neben der Förderung
durch Bund, Länder und Kommunen gerade die öffentlich-privaten Partnerschaften, die diese Aufgabe mit langem Atem und ordentlichem Know-how angehen können. Wir als öffentliche Hand müssen das Rad
schließlich nicht immer wieder neu erfinden.
Aus ähnlichen Gründen wie bei dem SPD-Antrag
können wir auch dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht folgen.
({4})
Eine Regelung im Urheberrechtsgesetz zum Umgang
mit vergriffenen Werken halten wir für nicht notwendig,
da bei vergriffenen Werken die Rechteinhaber bekannt
sind und um eine entsprechende Lizenz zur Onlinenutzung gebeten werden können. Anders hingegen liegt der
Fall bei verwaisten Werken; auch das wurde heute schon
angesprochen. Hier sind die Rechteinhaber nicht auffindbar. Hier besteht tatsächlich Handlungsbedarf. Daher
verstehe ich die gewisse Ungeduld von Siegfried
Ehrmann. Es ist ein kompliziertes Gebilde; das hat sich
gestern in der Diskussion mit den Experten gezeigt.
({5})
Manchmal bringt es nichts, vorschnell nach vorn zu
schießen, sondern man soll die Dinge ordentlich regeln.
Ich gehe einmal davon aus - da lehne ich mich nicht zu
weit aus dem Fenster -, dass in diesem Frühjahr ein entsprechender Gesetzentwurf auf dem Tisch liegen wird.
In unserem Antrag steht, dass im Dritten Korb zur Reform des Urheberrechts eine Regelung zum Umgang mit
verwaisten Werken vorzusehen ist.
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Luc Jochimsen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ideen müssen sich frei ausbreiten vom einen zum
anderen über die Welt, zur gegenseitigen Belehrung
der Menschen. Frei wie die Luft, in der wir atmen,
uns bewegen, ja unsere ganze physische Existenz
haben, ganz und gar ungeeignet für ein Eingesperrtsein oder exklusive Aneignung.
Diese Sätze sind fast 200 Jahre alt. Sie stammen von
Thomas Jefferson, der weder Computer noch das Internet kannte, aber davon überzeugt war, dass Wissen möglichst allen Menschen zugänglich sein muss, um größtmögliche Wirkung zu entfalten,
({0})
sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesamtheit.
Bibliotheken, Museen und Archive sind die Schatzkammern einer Wissens- und Kulturgesellschaft. Sie
sammeln über Jahrhunderte Gedanken und Ideen in
Handschriften und Büchern, auf Fotos und Gemälden,
auf Filmen und Tonaufnahmen. Heute, im 21. Jahrhundert, das die Digitalisierung entwickelt hat, lassen sich
unsere Wissens- und Kulturschätze viel besser nutzen
und die Türen dieser Schatzkammern weiter öffnen als je
zuvor.
({1})
Als „Traum von der Demokratisierung des Wissens“
umschreibt der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, die Chancen, die sich
durch die Digitalisierung unseres kulturellen Erbes bieten. Unser Kulturerbe als Gemeingut, das auch längst
Versunkenes für die Internetgeneration sichtbar und erlebbar macht: Diese Vision teilen viele hier im Hause.
Doch trotz der Kooperation großer Bibliotheken mit
Google und trotz des Engagements vieler Enthusiasten
geht der Prozess der Digitalisierung bei uns zu langsam
voran, und das vor allem im politischen Raum. Der Kollege Ehrmann hat schon einige Phasen und Stufen dieses
Prozesses im politischen Raum beschrieben.
Mit der Deutschen Digitalen Bibliothek ist demnächst
ein Portal geschaffen. Es fehlt aber der Raum dahinter,
und vor allem fehlen die Inhalte. Der Grund dafür ist
Geldmangel. Eine solch große Zukunftsaufgabe wie die
Digitalisierung des Kulturerbes ist aus den ohnehin viel
zu knappen Bibliothekshaushalten nicht ohne zusätzliche Bundesmittel zu schaffen.
({2})
Selbst wenn man wie die Münchner Staatsbibliothek
mit Google kooperiert, wird Geld für eigene öffentliche
Digitalisierungsinitiativen und für die Datenpflege benötigt. Auf 30 Millionen Euro schätzte das FraunhoferInstitut den Finanzbedarf. Leider haben Sie unseren
Haushaltsanträgen seit 2010, die eine solche Förderung
stets gefordert haben, ebenso wie alle anderen Fraktionen nie zugestimmt. Dabei könnten Sie etwa mit einem
Bruchteil der Kosten für das Berliner Stadtschloss ein
wahrhaft modernes, lebendiges und demokratisches Kulturdenkmal errichten.
({3})
Der zweite Grund für die Verzögerung liegt im Urheberrecht. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu
60 Prozent der Werke in unseren Archiven und Bibliotheken als verwaist gelten können. Die Rechtesituation
bei diesen Werken ist unklar. Rechteinhaber sind nicht
aufzufinden und können auch vor einer digitalen Zugänglichmachung nicht um Erlaubnis gefragt werden.
Ohne eine praktikable und effektive Lösung dieses Problems wird es keine Massendigitalisierung der Werke
aus dem 19. und 20. Jahrhundert geben.
Die Fraktion Die Linke hat deshalb eine Beschränkung des Urheberrechts in diesem einen Punkt vorgeschlagen. Natürlich soll die Nutzung vergütet werden,
aber erst dann, wenn es glaubhafte Adressaten für diese
Vergütung gibt, die ihre Ansprüche bei einer Verwertungsgesellschaft geltend gemacht haben. Der Wechsel
des Weltwissens in die digitale Sphäre wird kommen.
Was unsere vielen Schatzkammern bergen, sollte unbedingt dabei sein.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Dr. Konstantin von Notz. Bitte schön,
Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
wurde schon mehrfach gesagt: Die Digitalisierung von
Kulturgütern ist eine enorme Herausforderung für uns.
Diese neue Form der Zugänglichmachung und Archivierung von Kulturgütern ist aber auch eine wichtige staatliche Aufgabe, und es ist gut, dass wir uns wie gestern im
Ausschuss heute im Plenum erneut mit diesem bedeutenden Thema auseinandersetzen.
Aber Ihr Antrag, liebe Fraktionen von CDU/CSU und
FDP, bringt trotz der wohlgesetzten Worte schon sprachlich im Antragstext selbst - der Kollege Ehrmann hat es
gesagt - Ihre große Distanz zu dem Projekt Deutsche Digitale Bibliothek zum Ausdruck.
({0})
Ihr Antrag ist eben keine Offensive, wie Sie ihn betiteln.
Vielmehr stehen Sie mit dem Antrag auf der Bremse,
meine Damen und Herren.
({1})
Warum aber handelt es sich bei dem Projekt um eine
so wichtige und vorrangige Aufgabe, dass es tatsächlich
eine zupackende Offensive bräuchte? Hier zeigt sich, ob
eine Regierung visionär zu denken vermag und sich zur
rechten Zeit mit Kraft und Entschiedenheit an die Spitze
eines historischen Umbruches setzt oder aber nicht.
({2})
Sie entscheiden sich letztlich leider für die zweite Alternative.
({3})
Der Kontext, in dem wir über die DDB verhandeln,
ist durch die Frage des Umgangs unseres Gemeinwesens
mit Informationen und Wissen gekennzeichnet. Genau
diese Frage ist eine Schlüsselfrage unserer modernen,
fast schon postindustriellen Gesellschaft. Die DDB steht
dabei in einem Kontext mit den Diskussionen über Open
Data, Open Access und Public Sector Information. Für
meine Fraktion und mich ist entscheidend: Mit der Digitalisierung wird die Idee einer digitalen Wissensallmende endlich realisierbar. Deren Kern ist die Teilhabe
aller durch digitale Zugänglichmachung von Inhalten
und Wissen. Das aber ist kein Selbstzweck, sondern vor
allem - Luc Jochimsen hat es ähnlich gesagt - ein Beitrag zur demokratischen Kultur und zur Demokratisierung von Kultur in unserem Land sowie ein Versprechen
an die Bürgerinnen und Bürger, egal ob sie auf der Museumsinsel oder auf dem flachen Land wohnen.
({4})
Deshalb muss der Bund in Sachen DDB viel aktiver und
viel offensiver werden, viel aktiver als bisher und viel
offensiver als in Ihrem Antrag. Aufgrund der gesamtstaatlichen Bedeutung des Projekts ist es Aufgabe der
Bundesregierung, jetzt eine umfassende Digitalisierungsstrategie zu entwickeln, die über die bislang beschlossenen Eckpunkte - auch über diejenigen, die heute
vorliegen - deutlich hinausgeht. Hierzu fordern wir sie
in unserem Antrag ausdrücklich auf.
Natürlich muss für ein solches Jahrhundertprojekt
auch eine langfristige Finanzierungsstrategie entwickelt
werden. Die Bundesregierung aber versäumt es, überhaupt eine Bedarfsanalyse vorzulegen. Dabei gibt es Anhaltspunkte; das ist in der Debatte schon angeklungen.
Der Rat der Weisen zum Beispiel rechnet mit 100 Millionen Euro für vier Jahre für die EU. In der gestrigen
Anhörung war von 35 Millionen Euro die Rede. Wer
hier aber mit kleiner Münze dabei sein will, dem sei gesagt: Die finanziellen Risiken des Verschlafens der Digitalisierung sind deutlich höher. Ein solches Projekt zahlt
sich auf jeden Fall im wahrsten Sinne des Wortes aus.
({5})
Selbstverständlich müssen für ein solch ambitioniertes
Vorhaben Kooperationen gesucht werden, auch mit Privaten. Doch die Bedingungen dafür müssen gesetzlich
klar formuliert werden. Dabei ist sicherzustellen, dass
die Inhalte gemeinfrei und die Persönlichkeitsrechte der
Nutzenden gewahrt bleiben.
Last, but not least das Urheberrecht und die verwaisten Werke. Ohne Rechtssicherheit wird sich die erforderliche Dynamik beim Ausbau der DDB nicht entwickeln.
Auch hier liefern Sie leider nichts. Der Glaube daran,
dass der dritte Korb noch kommt, der vielleicht irgendetwas enthält, das helfen könnte, bröckelt selbst bei Ihren
tapfersten Anhängern. Für die Beseitigung der Rechtsunsicherheit der öffentlichen Einrichtungen im Umgang
mit verwaisten Werken braucht es wohlabgewogene Regelungen, die die Rechte der Urheberinnen und Urheber
im Blick haben, aber auch das besondere öffentliche Interesse an der Zugänglichmachung berücksichtigen.
Lassen Sie mich damit abschließen: Bei der Digitalisierung läuft uns die Zeit davon. Wichtige Kulturgüter
verschimmeln in den Kellern von Bibliotheken. Wir fordern Sie deshalb auf: Setzen Sie unsere Vorschläge zum
weiteren Verfahren um, damit die DDB endlich richtig
an den Start gehen kann!
Ganz herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. von Notz. - Letzter Redner
in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Reinhard Brandl. Bitte schön, Kollege
Dr. Brandl.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege von Notz, es war doch wohl diese
Bundesregierung, die im Dezember 2009 mit der Deutschen Digitalen Bibliothek ein Jahrhundertprojekt angestoßen hat.
({0})
- Ich spreche von dieser Bundesregierung. Ich weiß
nicht, wovon Sie sprechen.
Bücher, Noten, Skulpturen in 3-D, Bilder, Filme und
vieles mehr, alles, was heute in über 30 000 deutschen
Kultureinrichtungen und Museen irgendwo im Keller, in
Regalen und Ausstellungen schlummert, soll digital erfasst werden und im Internet über ein einziges Portal
kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Damit sind unglaubliche Chancen für die Wissenschaft, die Bildung
und die Kultur verbunden,
({1})
aber auch für jeden einzelnen privaten Nutzer, der sich
darüber Zugänge zu Wissen erschließen kann, die vor einer Generation noch undenkbar gewesen wären. Die Digitalisierung ist ein wichtiger Baustein für den Erhalt unseres reichhaltigen deutschen kulturellen Erbes.
So schön das alles klingt - der Aufwand dafür ist
enorm. Ich hoffe nicht, dass der Prozess ein Jahrhundert
dauert, aber es werden sicher aus heutiger Sicht einige
Jahrzehnte werden. Aber was dann nicht im Internet zu
finden ist, wird es für die breite Masse der kommenden
Generationen nicht mehr geben. Wir müssen deswegen
Hürden für eine verstärkte Digitalisierung, wie zum Beispiel beim Urheberrecht für verwaiste Werke, aus dem
Weg räumen und zusätzliche Finanzierungsquellen erschließen.
Durch öffentlich-private Partnerschaften zum Beispiel haben wir schon viel erreicht. 87 Prozent der deutschen Beiträge zur Europäischen Digitalen Bibliothek
„Europeana“ stammen von der Bayerischen Staatsbibliothek.
({2})
Das ist nur möglich, weil die Bayerische Staatsbibliothek bereits 2007 mit großer Unterstützung des dortigen
Wissenschaftsministeriums einen Vertrag mit Google
geschlossen hat, der die Digitalisierung des gesamten urheberrechtsfreien Bestands der Bibliothek vom 17. bis
zum 19. Jahrhundert zum Gegenstand hat. Dabei handelt
es sich um über 1 Million Werke. Von diesen über 1 Million Werken wurden bisher schon 680 000 Werke digitalisiert und frei ins Netz gestellt. Google bekommt als
Gegenleistung für diese Digitalisierung eine Kopie des
Buches für sein Angebot. Es verbleibt aber auch eine
physische Kopie bei der Bayerischen Staatsbibliothek
zur uneingeschränkten Nutzung. Die Nutzung erstreckt
sich auch auf Portale wie zum Beispiel die Deutsche Digitale Bibliothek oder die „Europeana“ und auf die
Langzeitarchivierung. Der Wert dieser Dienstleistung
von Google wird auf ungefähr 50 Millionen Euro geschätzt. Die Bayerische Staatsbibliothek kann dadurch
ihre eigenen Mittel für die Digitalisierung, die zum großen Teil von der DFG kommen, auf besonders wertvolle
und ältere Werke konzentrieren, zum Beispiel auf Drucke aus dem 16. Jahrhundert oder auf Handschriften.
Auch davon wurden bereits 85 000 Werke ins Netz gestellt.
({3})
So ein Modell hat natürlich auch seine Grenzen, aber
es zeigt, wie durch geschickte Kooperation zwischen
privaten und öffentlichen Auftraggebern ein echter
Mehrwert für den Erhalt unseres kulturellen Erbes geschaffen werden kann.
({4})
Man darf aber bei den Kosten nicht nur die Kosten für
die einmalige digitale Erfassung betrachten. Zur Langzeitarchivierung gehört auch das sichere Speichern, die
ständige Überprüfung der Daten und die Aktualisierung
der Dateiformate. Um Ihnen eine Vorstellung zu geben:
Alleine das, was Google momentan in München scannt,
wird geschätzte Kosten von mindestens einer halben
Million Euro jährlich für die Langzeitarchivierung verursachen. Das heißt, wir brauchen für diese Projekte
auch eine Langzeitfinanzierung. Aber das Ergebnis - wir
alle haben eben über die Chancen gesprochen - ist in jedem Fall das Geld wert. Wir müssen auf allen Ebenen
versuchen, die Vorhaben der Digitalisierung auf allen
Ebenen unseres Landes voranzutreiben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Kollege Dr. Reinhard Brandl.
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Eduard Oswald
Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich herzlich Staatsminister Michael Link begrüßen, der auf der
Regierungsbank Platz genommen hat. Bisher saß er in
unseren Reihen. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer
neuen Aufgabe!
({0})
Sie werden sehen: Man geht nicht immer so freundlich
mit Ihnen um. Genießen Sie also den Augenblick.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 17/8486. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/6315 mit dem Titel „Digitalisierungsof-
fensive für unser kulturelles Erbe beginnen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Opposi-
tionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/6296 mit dem Titel „Kulturelles Erbe 2.0 - Digi-
talisierung von Kulturgütern beschleunigen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Frak-
tion der Sozialdemokraten und Teile der Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und Teile der Fraktion Die Linke. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6096 mit dem
Titel „Die Digitalisierung des kulturellen Erbes als ge-
samtstaatliche Aufgabe umsetzen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion Die Linke. Ent-
haltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/8164 mit dem Titel „Rechtssicherheit für ver-
waiste Werke herstellen und den Ausbau der Deutschen
Digitalen Bibliothek auf ein solides Fundament stellen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das ist die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das
sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Links-
fraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 a bis f auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft stärken
- Drucksache 17/7186 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Petra Crone, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach
2013 weiterentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach
2013 - Förderung auf nachhaltige, bäuerli-
che Landwirtschaft ausrichten
- Drucksachen 17/2479, 17/4542, 17/5299 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Christel Happach-Kasan
Friedrich Ostendorff
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Heinz-Joachim Barchmann, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach
2013 - Konzept zum „Greening“ der Direkt-
zahlungen vorlegen
- Drucksachen 17/6299, 17/7413 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Christel Happach-Kasan
Friedrich Ostendorff
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr.
Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Klare Regelungen für Intensivtierhaltung
- Drucksachen 17/6089, 17/7198 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Vizepräsident Eduard Oswald
Hans-Michael Goldmann
Friedrich Ostendorff
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Gemeinsame Europäische Agrarpolitik ab
2014 sozial und ökologisch ausrichten
- Drucksache 17/8378 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Cornelia Möhring, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Agrarförderung in Deutschland und Europa
geschlechtergerecht gestalten
- Drucksachen 17/5477, 17/6385 Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Poland
Dr. Christel Happach-Kasan
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier. - Bitte sehr, Herr Kollege Dr. Priesmeier.
({8})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich
nach rechts blicke, bin ich ein wenig traurig; denn die
Regierung ist, aus welchen Gründen auch immer, heute
Abend nicht mehr vertreten.
({0})
An sich wollte ich die Gelegenheit nutzen, die Ministerin für den von ihr initiierten Charta-Prozess zu loben.
Damit hat sie wahrlich einen wichtigen Anstoß in der
Debatte geliefert. Nur, wenn ich mir das Ergebnis anschaue, kann ich nur sagen: mangelhaft, unzureichend,
nicht zu Ende gedacht.
({1})
Das, was angekündigt worden ist, bedarf zweifellos noch
der Umsetzung. Ich hoffe, dass das, was verkündet worden ist - Änderung der Düngeverordnung, Verbesserungen im Tierschutz -, endlich real wird. Angesichts der
Debatte innerhalb der CDU/CSU-Fraktion habe ich allerdings erhebliche Zweifel. Die Landesgruppe Niedersachsen hat ja gerade beschlossen, sich einem Verbot des
Schenkelbrands nachhaltig zu widersetzen, und Herr
Kollege Stier verweigert als tierschutzpolitischer Sprecher der Unionsfraktion der Ministerin seine Unterstützung. Die Frage ist: Hat die Ministerin für diese Politik
überhaupt noch eine klare und deutliche Mehrheit? Ich
glaube nicht.
In anderen Bereichen mangelt es ebenfalls. Wir Sozialdemokraten haben schon vor einigen Jahren gefordert, den Tierschutz-TÜV umzusetzen. Das wird auch
von Niedersachsen befürwortet, dem Land, in dem es regional verdichtete, intensive Tierhaltung gibt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nimmt die Regierung diese Umsetzung nicht in Angriff. Ich habe Defizite genannt, die
aufgearbeitet werden müssen. Ich glaube, angesichts des
jetzigen Zustands dieser Koalition wird das wohl kaum
gelingen, zumindest nicht im Bereich der Agrarpolitik.
({2})
Wir müssen endlich beginnen, die Agrarpolitik im
Hinblick auf das, was wir nach 2013 neu zu gestalten haben, auszurichten. Wir brauchen eine moderne Agrarpolitik und nichts, was im Sinne dessen ist, was uns hier
von der Koalition bislang geboten worden ist. Dabei beziehe ich mich auch auf das, was in den Brüsseler Gesprächen bislang verhandelt worden ist. Wir sollten diesen Wandel als Einstieg in den Ausstieg aus den
Zahlungssystemen begreifen. Insofern, glauben wir Sozialdemokraten, ist das bisherige System der ersten
Säule nur noch ein Übergangssystem. Wir hoffen, dass
dieses System, das an sich als Übergangssystem geplant
war, 2020, wenn es fast 30 Jahre alt ist, endlich ausläuft;
denn wir brauchen die Ressourcen in diesem Bereich
auch für eine zielgerichtetere Politik, die mit weniger finanziellen Ressourcen - sie sind ja allenthalben knapp versucht, ein Maximum an Wirkung, ein Maximum an
Veränderung und ein Maximum an Stabilität im ländlichen Raum zu erreichen.
({3})
Schauen Sie sich doch einmal interessehalber den
Vorschlag zur Durchführung der Zahlungen an. Ich kann
nur anregen, über Art. 14 dieser Verordnung nachzudenken und ihn nicht einfach pauschal abzulehnen. Dieser
Artikel eröffnet die Möglichkeit, aufgrund des Plafonds,
den wir in Deutschland haben, aus der ersten Säule
510 Millionen Euro in die zweite Säule zu verlagern. Ich
kann nur dazu ermuntern, sich Art. 34 dieser Verordnung
zu Gemüte zu führen. Dieser Artikel eröffnet die Möglichkeit, in der ersten Säule unmittelbar das zu tun, was
man sonst in der zweiten Säule tut, nämlich benachteiligte Gebiete zu fördern. Das macht Ressourcen in der
zweiten Säule frei, die von den Ländern eh kaum noch
kozufinanzieren ist. Diese Ressourcen können wir nutzen, um die zusätzlichen 510 Millionen Euro zu kofinanDr. Wilhelm Priesmeier
zieren und um anzufangen, damit eine wirklich effektive
Politik für den ländlichen Raum zu gestalten.
Die Ministerin hat eingeräumt, dass es Defizite gibt,
vor allen Dingen im Hinblick auf die Bewältigung des
demografischen Wandels. Das ist richtig. Wir dürfen
über dieses Problem aber nicht nur reden, sondern wir
müssen es endlich anpacken und müssen handeln.
({4})
In diesem Sinne kann ich nur an alle appellieren: Fangen
Sie endlich an, eine vernünftige, zukunftsfähige Agrarpolitik zu machen! Zögern Sie nicht! Setzen Sie um, was
an sich richtig ist! Wir Sozialdemokraten können Ihnen
da Nachhilfe geben.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Dr. Priesmeier. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Hans-Georg von der Marwitz. Bitte
schön, Kollege von der Marwitz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im Agrarpolitischen Bericht 2011 ein klares Leitbild für die deutsche Landwirtschaft formuliert. Sie soll leistungsfähig sein und nach
dem Grundprinzip der Nachhaltigkeit wirtschaften. Ich
meine, dieser Vorstellung wird am ehesten der bäuerliche Familienbetrieb gerecht, der in seiner Heimatregion
verwurzelt ist und dörfliches Leben intensiv mitgestaltet.
({0})
„Bäuerlicher Familienbetrieb“, manch einem scheint
dieser Begriff überholt zu sein. Nennen Sie es von mir
aus: inhabergeführtes Agrarunternehmen. Entscheidend
ist die den bäuerlichen Berufsstand prägende Kombination aus Eigentum und Arbeit,
({1})
aus unternehmerischer Initiative und Verantwortung für
die nächste Generation.
({2})
Die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe nimmt ständig
ab. Das muss uns zu denken geben. Natürlich gibt es immer einen Strukturwandel, der unter anderem mit dem
Generationswechsel, auch mit der Technisierung zusammenhängt. Aber eines steht fest: Je weniger Betriebe,
desto weniger Selbstständige, desto weniger Vielfalt,
desto weniger Engagement im ländlichen Raum.
({3})
In Brandenburg erlebe ich Betriebskonzentrationen in
bisher nicht vorstellbaren Ausmaßen. Außerlandwirtschaftliche Investoren kaufen einen Landwirtschaftsbetrieb nach dem anderen, meist die wirtschaftlich schwachen Nachfolger ehemaliger LPG. Die Firmensitze
dieser Investoren befinden sich oft weit entfernt von den
Betrieben. Die Gewinne werden zumeist nicht in der Region investiert, sondern fließen ab an Eigentümer, Gesellschafter oder Aktionäre, die persönlich oft keinen
Bezug zur Landwirtschaft und zu den Dörfern haben.
Die systematische Konzentration der Landwirtschaft
in den Händen weniger Holdings bzw. Konzerne kann
nicht Ziel unserer Agrarpolitik sein.
({4})
- Jetzt warten Sie mal ab, meine Herren. Ich freue mich
ja, dass die Opposition so viel Spaß an mir hat.
Wir stehen für eine vielfältige Landwirtschaft, für aktive, heimatverbundene Landwirte und deren Familien.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik mitgestalten und die Fördermechanismen grundlegend überarbeiten. Die Agrarsubventionen sind der zentrale Hebel, um Entwicklungen zu
beeinflussen.
Die wichtigste Frage zur GAP-Reform lautet: Wohin
soll sich die Landwirtschaft in Deutschland und der EU
bis 2020 entwickeln?
({5})
Was wollen Verbraucher und Erholungssuchende? - Naturschutz, Erholungsraum, lebendige Dörfer, vielfältige
Landschaften und nicht zuletzt günstige Nahrungsmittel,
die zugleich gesund sind und umweltgerecht erzeugt
werden. Das klingt ein bisschen wie die Quadratur des
Kreises.
({6})
Wollen wir uns diesen Zielen zumindest annähern,
brauchen wir Strukturen, die Privatinitiative und verantwortliches Handeln miteinander verbinden. Die meisten
Vorschläge der Europäischen Kommission vom 12. Oktober 2011 gehen in die richtige Richtung. Ob allerdings
das Vorhaben, 7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche eines Betriebes als sogenannte ökologische Vorrangflächen bereitzustellen, zielführend ist, muss gut
überlegt werden. Es gehört zur Gemeinsamen Agrarpolitik, für mehr Umweltschutz innerhalb der Landwirtschaft einzutreten. Der Weg, dies über ökologische Vorrangflächen zu erreichen, erschließt sich aber jedenfalls
mir nur unzureichend.
Wie halten wir es außerdem mit der von der EU vorgeschlagenen Kappung oder Degression der Direktzah18602
lungen? Sie wissen, dass ich ein Befürworter dieses Vorschlags bin.
({7})
Ich weiß, dass ich damit verhältnismäßig einsam in meiner Fraktion bin.
({8})
Dennoch: Zurzeit laufen wir Gefahr, mit EU-Mitteln einen negativen, durch Konzentration gekennzeichneten
Strukturwandel zu fördern.
Ich glaube, dass die rund 11 Milliarden Euro, die
Deutschland jährlich zum EU-Agrarhaushalt beisteuert
und für die jeder deutsche Steuerzahler jährlich im
Durchschnitt 140 Euro zahlt, besser für leistungsstarke
Familienbetriebe, für eine breite Streuung des Eigentums, für eine gesunde Diversifizierung der Landwirtschaft sowie für lebendige ländliche Räume eingesetzt
werden sollten.
({9})
Kein Steuerzahler möchte mit seinem Geld Agrarstrukturen unterstützen, die diesen Zielen zuwiderlaufen.
Auch die ökologische Landwirtschaft hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Deshalb verankerte die
Bundesregierung auf Empfehlung des Rates für Nachhaltige Entwicklung in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie das
Ziel, die ökologische Anbaufläche auf 20 Prozent der
deutschen Agrarfläche auszuweiten. Zugegeben, eine
zeitliche Vorgabe für die Umsetzung dieser Maßnahme
gibt es noch nicht. Aber der Kurs ist klar.
Ich bin froh über den Bedeutungszuwachs der ökologischen Landwirtschaft. Leider wächst vor dem Hintergrund von Lebensmittelskandalen und Etikettenschwindel das Misstrauen auch gegenüber dem ökologischen
Landbau. Der Verbraucher in Deutschland ist gut beraten, wenn er sich an den Siegeln der Ökoverbände, zum
Beispiel Demeter, Bioland oder Naturland, orientiert.
Ihre Kontrollen sind wesentlich weitreichender und
strenger als die unter dem deutschen Bio-Siegel.
({10})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, natürlich unterstützen wir auch die ökologische Landwirtschaft. Jeder verantwortlich denkende
Landwirt - egal ob er biologisch oder konventionell arbeitet - fühlt sich dem Grund und Boden verpflichtet
und hat ein ureigenes Interesse daran, natürliche Ressourcen und Tiere pfleglich zu behandeln. Er wird stets
alles daransetzen, dem Boden das zurückzugeben, was
ihm genommen wurde, um ihn für künftige Generationen zu erhalten.
Darum geht es - nicht, wie Sie es zum Teil verengt
darstellen, um Arbeitsmarktpolitik, Weltanschauung
oder etwa Geschlechterfragen. All dies greift zu kurz.
Die positiven Aspekte, die wir fördern wollen, sind viel
weitreichender. Dazu gehören vor allem die Schaffung
eines Bewusstseins für den Umgang mit Lebensmitteln,
Tieren und natürlichen Ressourcen, die Stärkung regionaler Lebens-, Arbeits- und Vermarktungskreisläufe sowie der Erhalt der Natur- und Kulturlandschaft.
({11})
Der Ökolandbau ist Bestandteil einer zukunftsweisenden, multifunktionalen Agrarwirtschaft, für die auch ich
mich einsetze.
Zum Schluss möchte ich sagen: Nutzen wir die nächsten Monate, um unsere Überzeugungen in die Reform
der GAP einfließen zu lassen. Bemühen wir uns, strategisch in die Zukunft zu planen, zum Wohle von und im
Einklang mit möglichst vielen Akteuren, Landwirten
und Verbrauchern, Kulturfreunden und Naturliebhabern,
und nicht zuletzt für uns alle, die wir von einer lebendigen, vielfältig verwurzelten Landwirtschaft profitieren.
Immerhin gestalten wir Agrarpolitik für die nächsten sieben Jahre.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank, Kollege von der Marwitz. - Jetzt für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Dr. Kirsten
Tackmann. Bitte schön, Frau Dr. Tackmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Politik sollte eigentlich immer vom Ende gedacht werden. Deswegen hat die Linke bei der Agrarpolitik ein klares Ziel: Wir wollen Agrarbetriebe, die vor
Ort verankert sind, die fair bezahlte Arbeitsplätze in den
Dörfern schaffen oder erhalten und die mit Natur und
Umwelt verantwortungsvoll umgehen. Was wir nicht
wollen, ist auch klar: den Griff von Industriellen, Banken oder Energiekonzernen nach unseren Äckern. Ihre
ebenso kurzfristigen wie hohen Renditeerwartungen gehen nämlich auf Kosten der Beschäftigten, der Umwelt
und auch der Dörfer.
({0})
Sie treiben die Pacht- und Bodenpreise in eine Höhe, die
durch landwirtschaftliche Arbeit nicht refinanziert werden kann. Das ist eine bedrohliche und aus unserer Sicht
völlig inakzeptable Entwicklung. Wenn wir das aber
nicht wollen, dann müssen wir die landwirtschaftlichen
Betriebe stärken. Dazu gehört eine kluge und gesellschaftlich akzeptierte Förderpolitik. Deshalb brauchen
wir ein klares Prinzip: öffentliches Geld für öffentliche
Leistungen. Die Fördergelder müssen bei den aktiven
Landwirten ankommen und nicht als Extrabonus für
Spekulanten dienen.
({1})
Die Erwartungen an die Landwirtschaft sind sehr
hoch. Sie soll die Versorgung mit bezahlbaren Lebensmitteln und Energie sichern, sie soll Arbeitsplätze in den
Dörfern bieten und gut bezahlen, sie soll den Klimawandel verlangsamen und ihm trotzen, und sie soll die biologische Vielfalt erhalten oder wieder verbessern. Zumindest die letzten drei Punkte verursachen höhere Kosten.
Die deshalb erforderlichen höheren Preise können die
Agrarbetriebe auf den Märkten nicht durchsetzen, sie bekommen keine höheren Erzeugerpreise. Die Lebensmittel sollen ja auch bezahlbar bleiben. Deswegen müssen
die Fördermittel bei den Betrieben ankommen, die diese
zusätzlichen öffentlichen Leistungen im Interesse der
Gesellschaft erbringen.
Damit das klappt, hat die Linke in ihrem heute vorliegenden Antrag der Bundesregierung für die Verhandlungen in Brüssel ein paar Hausaufgaben aufgeschrieben.
Davon möchte ich einige vortragen.
Dort steht zum Beispiel, dass die Förderung unabhängig von der Größe des Betriebes erfolgen soll. Ich nenne
zwei Beispiele: Die Ökohöfe Brodowin in Brandenburg
bewirtschaften 1 250 Hektar nach Demeter-Richtlinien.
Ist das ein böser, großer Fachbetrieb? Die Agrargenossenschaft Neuzelle bewirtschaftet 5 700 Hektar Ackerund Grünland, sie hält Schweine und Rinder und gibt damit 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Arbeit, davon
zehn Auszubildenden. Warum sollen sie weniger Förderung pro Hektar bekommen? Lassen wir also das Ausspielen Groß gegen Klein, und reden wir über die öffentliche Leistung pro Hektar.
({2})
Dazu gehören unserer Meinung nach auch Arbeitsplätze. Deshalb ist es aus unserer Sicht wichtig, auch die
Lohnkosten bei der Förderpolitik zu berücksichtigen.
Auch der Vorschlag zu ökologischen Vorrangflächen
geht für uns in die richtige Richtung. Sie als Flächenstilllegung zu diffamieren, ist aus meiner Sicht unredlich.
({3})
Was spricht denn gegen Ackerrandstreifen, Blühstreifen,
Feldgehölze, Überflutungsflächen, Wasserrand- oder
Waldrandstreifen, Lerchenfenster oder gegebenenfalls
auch Eiweißfutterpflanzenanbau? Eigentlich sind all das
Zukunftsinvestitionen, nämlich in gute Böden, mehr biologische Vielfalt und Klimaschutz. Deshalb sollten die
vorhandenen Hecken und Sölle auch auf die 7 Prozent
angerechnet werden. Das fordern wir ganz klar.
({4})
Wir teilen auch die Forderung des EU-Kommissars
nach mehr Ackerpflanzenvielfalt. Aber eine Frucht auf
bis zu 70 Prozent der Ackerfläche ist nun wirklich ein
Witz. Deswegen muss das auf maximal 33 Prozent vernünftig begrenzt werden; denn dann bekommen wir eine
wirkliche Fruchtfolge und nicht nur einen gelegentlichen
Fruchtwechsel.
Auch der Erhalt des Dauergrünlandes wird von uns
ganz klar unterstützt; denn wir brauchen es für die biologische Vielfalt und für den Klimaschutz, da CO2 im Boden gebunden wird.
Zwischen 2003 und 2008 haben wir in Deutschland
3 Prozent des Dauergrünlandes verloren. Die Festsetzung eines Referenzjahres 2014 ist doch geradezu eine
Aufforderung, bis zu diesem Zeitpunkt Dauergrünland
umzubrechen. Deswegen muss es unbedingt ein früheres
Referenzdatum geben. Das ist ganz klar unsere Forderung.
({5})
Zum Schluss. Die Agrarförderung muss auch geschlechtergerecht sein. Nur 8 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland werden von Frauen geleitet, und das zumeist in Teilzeit. Der Lohnunterschied zu
Männern ist in den ländlichen Räumen mit über 30 Prozent sogar noch höher als in den Städten. Die Landfrauen nehmen das nicht mehr hin. Ich finde, wir müssen
sie da unterstützen.
({6})
In unserem Antrag „Agrarförderung in Deutschland
und Europa geschlechtergerecht gestalten“ steht, was
man alles tun muss, um Frauen in den ländlichen Räumen zu stärken. Deswegen bitte ich um unbedingte Zustimmung zu diesem Antrag. Im Übrigen freue ich mich
auf die Diskussion unseres Antrags zur Gemeinsamen
Agrarpolitik im Ausschuss.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Tackmann. - Nächste
Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP
unsere Kollegin Frau Dr. Christel Happach-Kasan. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Agrardebatte findet am Rande der Grünen Woche statt. Wir alle haben uns in der vergangenen Woche
zu einem Rundgang getroffen. Dabei war deutlich zu
spüren, dass es zwar in einigen Bereichen Gegensätze
gibt, dass es aber auch eine Gemeinsamkeit der Mitglieder des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz gibt, nämlich dass wir ländliche
Räume stärken wollen.
({0})
Die Methoden sind teilweise unterschiedlich, aber wir
alle sind uns einig, dass wir die ländlichen Räume in
Deutschland stärken wollen. Über 50 Prozent der Menschen leben in den ländlichen Räumen. Sie sind Heimat
für sehr viele Menschen. Diese Räume sind kulturell
sehr unterschiedlich; sie sind Erholungsraum, sie sind
Erlebnisraum. Wir wollen diese Räume stärken. Deswegen müssen bei der Gemeinsamen Agrarpolitik darauf
achten, dass das europäische Agrarmodell, das uns diese
starken ländlichen Räume beschert hat, tatsächlich erhalten bleibt. Das ist die große Aufgabe.
({1})
Die Grüne Woche ist wohl die einzige Ausstellung,
die zeigt, wie ein Produkt entsteht - in diesem Jahr ist es
die Zuckerrübe -, wie es also verarbeitet und hinterher
zu einem Lebensmittel wird, das fertig zum Verkauf ist.
Ich glaube, die Grüne Woche ist - entgegen allen früheren Überlegungen - enorm erfolgreich und hat sich behauptet, obwohl wir 1990 dachten, dass es mit der Grünen Woche irgendwann einmal vorbei sein würde. Die
Grüne Woche vollbringt eine gute Leistung.
In der Diskussion um die Gemeinsame Agrarpolitik
sind wir uns der Tatsache bewusst, dass wir im Augenblick noch nicht wissen, wie viel Finanzmittel uns zur
Verfügung stehen werden. Das heißt: Alle unsere Überlegungen kranken daran, dass wir gar nicht genau wissen, wie viel Geld da sein wird.
Wir sind uns darüber einig, dass wir die Belastungen
der Landwirte durch Bürokratie mindern wollen; denn
sie haben enorm hohe Lasten. In anderen Fragen sind
wir uns nicht ganz einig. Beispielsweise wird das Greening unterschiedlich bewertet. Gleichzeitig ist uns aber
allen klar, dass es uns gelingen muss, die Belastung der
Natur durch Landbewirtschaftung zu mindern. In diesem
Zusammenhang spreche ich ehrlicherweise als Erstes
das Problem Stickstoff an;
({2})
denn dieses Problem wurde bereits vom Nachhaltigkeitsbeirat thematisiert und im Übrigen auch im Nachhaltigkeitsbericht der Bundesregierung angesprochen. Da
müssen wir ran.
({3})
Ich teile die Einschätzung meines Kollegen von der
Marwitz, dass die Kappung eine gute Maßnahme wäre,
nicht. Ich lebe relativ nah an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es gewachsene Betriebsstrukturen, die ihre Chance haben müssen. Diese Betriebe sollten sich nicht an Rechtsanwälte wenden
müssen, damit sie diese Betriebsstrukturen aufteilen, sodass sie weiter Förderung erhalten können. Das halte ich
nicht für gut.
({4})
In dem Zusammenhang will ich daran erinnern, dass
wir nach Göttingen eingeladen wurden und uns dort mit
Studenten unterhalten haben. Die Studenten haben uns
ebenfalls aufgefordert, ein solches Vorgehen auf jeden
Fall abzuwenden; sie berichteten, dass es auch dort
Landwirte gibt, die sich zu GmbHs zusammenschließen,
um gemeinsam eine größere Fläche zu bewirtschaften.
Wir sollten solchen Dingen nicht entgegenstehen. Wir
sollten uns vielmehr bewusst sein, dass gerade in den
ländlichen Räumen der Tourismus blüht. Bayern, ein
Land mit starken ländlichen Räumen, ist gleichzeitig Ferienland Nummer eins. Ferienland Nummer zwei ist
Mecklenburg-Vorpommern; hier gibt es ebenfalls große
Betriebe. Ferienland Nummer drei ist Schleswig-Holstein, wo es auch große Betriebe gibt. Insofern stimme
ich dem SPD-Antrag natürlich in diesem Punkt zu:
Dabei spielt die absolute Betriebsgröße keine Rolle.
Wesentlich ist vielmehr die Art und Weise, wie die
Betriebe bewirtschaftet werden - nämlich durch
verantwortungsbewusstes Handeln der Landwirte.
Das ist vollkommen richtig; da sind wir völlig einer
Meinung.
Wir wissen, dass die Herausforderungen, die an die
Landwirtschaft gestellt werden, immens sind. Wir wissen: 7 Milliarden Menschen leben auf der Erde; es werden noch mehr werden. Wir wissen, dass wir deswegen
eine nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft benötigen, um zu einer Effizienzsteigerung zu gelangen.
Anders wird es nicht gelingen, dass wir alle Menschen
satt bekommen.
Wir wissen auch, dass die Produktion von Biomasse
für die energetische Verwertung eine weitere Herausforderung darstellt. Wir wollen unsere Wirtschaft auf Nachhaltigkeit umstellen. Das heißt, nachwachsende Rohstoffe gewinnen an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund
bin ich der Meinung, dass wir eine Effizienzsteigerung
brauchen. Deswegen finde ich es gut, dass die SPD in ihrem Antrag zum Ökolandbau darauf hinweist, dass wir
erstens Forschung benötigen - da sind wir völlig einer
Meinung - und zweitens auch im Ökolandbau eine Effizienzsteigerung brauchen. Wir können nicht damit zufrieden sein, dass die Erträge im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft teilweise nur bei 50 Prozent
liegen.
Wenn wir uns schon in diesem Punkt einig sind, dann
sollten wir uns auch gemeinsam fragen: Wollen wir eigentlich solche tiefen Gräben zwischen moderner Landwirtschaft und Ökolandwirtschaft? Wäre es nicht an der
Zeit, sie ein bisschen zuzuschütten?
({5})
Wäre es nicht an der Zeit, dass wir gegenseitig voneinander lernen, dass die konventionellen, die modernen
Landwirte von den Ökos lernen und, umgekehrt, die
Ökos von den konventionellen Landwirten? Ich glaube,
es ist an der Zeit, dass wir in diese Richtung denken.
Insofern stimme ich dir, Kollege Priesmeier, nicht zu:
Der Charta-Prozess war sehr wohl wichtig, um eine Diskussion zwischen Landwirtschaft und Zivilgesellschaft
zu eröffnen, um sich mit der Landwirtschaft auseinanderzusetzen und um voneinander zu lernen; ich halte
dies für ausgesprochen richtig.
Ich bedauere, dass in den Anträgen noch einige Ladenhüter enthalten sind. Der sogenannte Weltagrarbericht ist nun vier Jahre alt; er ist absolut überholt. Ich
glaube, wir sollten nicht mehr darüber reden.
({6})
Es gibt andere Berichte, die ein deutlich realistischeres
Bild von der Zukunft zeigen, beispielsweise der Bericht
der britischen Regierung The Future of Food and Farming, den ich für deutlich sinnvoller halte.
Liebe Grüne, wenn ihr von der Landwirtschaft als
„Träger biologischer Vielfalt“ schreibt, dann möchte ich
doch einmal darauf hinweisen, dass auf einem Weizenacker immer Weizen steht, egal ob ihn ein Ökobauer
oder ein moderner Landwirt bewirtschaftet. Nix da mit
biologischer Vielfalt!
({7})
- Wir sollten schlicht und ergreifend einmal zur Kenntnis nehmen, dass das so ist. - Ich bin der Auffassung, die
FDP ist der Auffassung, dass die Herausforderungen der
Zukunft - ({8})
- Vielleicht sollten Sie erst einmal zuhören, bevor Sie
hier dazwischenrufen. Es bleibt dabei: Auf einem Weizenacker steht Weizen, sonst möglichst nichts. Deshalb gibt
es dort keine biologische Vielfalt; wir wollen sie dort
nämlich gerade nicht haben.
({9})
Auf dem Erdbeerfeld stehen Erdbeeren, auf dem Spargelfeld steht Spargel. Deswegen haben wir dort keine
biologische Vielfalt.
Wenn Sie bitte Ihren Schlusssatz machen.
Ich möchte gern meinen Schlusssatz sagen: Wir, die
FDP, sind der Auffassung, dass nur eine unternehmerische Landwirtschaft, die Gestaltungsspielräume hat, von
Bürokratie befreit ist und der von einer Wissenschaft zugearbeitet wird, die sie für die Zukunft fit macht, die Herausforderungen meistern kann.
Ich danke für eure Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan. Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Friedrich Ostendorff. Bitte schön, Kollege Friedrich
Ostendorff.
Herr Präsident! Liebe Damen und Herren! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Ich will versuchen, an
die sehr perspektivische Rede des Kollegen Hans-Georg
von der Marwitz anzuschließen; aber das fällt nach der
doch wieder sehr schwierigen Rede der Kollegin
Happach-Kasan nicht leicht.
({0})
Sie versucht, den Graben tiefer zu machen, nach dem
Motto: Die konventionelle Landwirtschaft ist modern,
alles andere ist irgendetwas Altertümliches.
({1})
Ich glaube, Sie müssen schleunigst darüber nachdenken,
ob Sie daran festhalten wollen.
Das Greening ist der Kern der Reform der EU-Agrarpolitik. Es kann dazu führen, dass wir die Probleme von
Klimawandel und Artenschutz endlich flächendeckend
angehen können. Greening kann dazu führen, dass es
insbesondere dort, wo heute eine monotone Agrarwüste
ist, bunter wird und Bienen und Vögel wieder Lebensräume finden. Greening kann dazu führen, beim Ziel einer multifunktionalen Landwirtschaft in Europa endlich
voranzukommen.
({2})
Zusätzlich - darauf sei hingewiesen - bieten uns allein
die Art. 14, 23, 34 und 38 des Kommissionsentwurfes,
wie Kollege Priesmeier schon sagte, durch ihre Umsetzung die Möglichkeit, 23 Prozent der nationalen Obergrenze von 5,1 Milliarden Euro für sinnvolle Förderung,
für ländliche Entwicklung und für ökologische Leistung
umzuwidmen.
({3})
Die Frage ist nur: Was macht Ministerin Aigner daraus?
Die Antwort kennen wir. Sie lautet wie immer: Nichts
machen wir daraus!
({4})
Wie EU-Agrarkommissar Ciolos diese Woche in Berlin
wieder betont hat, bewegt sich der Elefant namens Gemeinsame Agrarpolitik vorwärts. Aber anstatt diesen
Elefanten zu reiten, springt die Ministerin aus Angst und
Verzweiflung vor Veränderungen in die Büsche.
({5})
Die Bundesregierung hat in der Reformdebatte gezeigt: Sie hat keine Strategie, sie hat keine Haltung, sie
hat keine Idee! Das einzige Ziel von Frau Aigner ist: Das
Greening muss verhindert werden. Anstatt für Greening
zu werben, verbreiten Frau Ministerin und ihr Staatssekretär Peter Bleser die Mär des Deutschen Bauernverbandes von der 7-prozentigen Flächenstilllegung. Dabei
ist selbst in Frau Aigners schriftlicher Antwort auf unsere Kleine Anfrage keine Rede von Stilllegung mehr,
sondern es werden bereits sehr detaillierte konkrete Vorschläge zur umweltgerechten Ausgestaltung gemacht.
Das verstehe, wer will. Ich nenne es doppelzüngig.
Anstatt das Greening wasserfest zu machen, arbeitet
die Ministerin an windelweichen Ausnahmeregeln. So
sollen alle als irgendwie nachhaltig bezeichneten Betriebe vom Greening ausgenommen werden.
({6})
Was das in der Diktion der Ministerin heißt, ist uns bekannt; das haben Sie bei der faktischen Abschaffung des
Bundesprogramms Ökologischer Landbau bewiesen.
({7})
- Frau Happach-Kasan, lesen Sie es nach. - Nachhaltig
ist man in der Diktion der Ministerin schon, wenn man
Mitglied im Deutschen Bauernverband ist.
({8})
Nicht einmal beim scharfen Grünlandumbruchverbot
steht die Ministerin zu ihrem Wort, sondern sie redet in
der „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ plötzlich von einem vollkommen unscharfen Grünlanderhaltungsgebot. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollen das Greening verhindern. Wir Grüne
wollen aus dem Vorschlag der Kommission aber eine zukunftsfähige Reform machen. Das ist der Unterschied
zwischen Ihnen und uns.
({9})
Sie laufen auf der Grünen Woche herum und erzählen
sich gegenseitig, dass Sie die Größten, die Besten und
überhaupt das Wichtigste sind.
({10})
Nur leider versteht Sie draußen im Land keiner mehr. Sie
igeln sich ein in Ihrer Wagenburg und beschimpfen
23 000 Menschen, die für eine andere Agrarpolitik auf
die Straße gehen.
({11})
Sie betrachten die Agrarpolitik weiter als Ihre Beute und
wollen Sie im Hinterzimmer unter sich aufteilen.
({12})
Wir hingegen sagen: Wir müssen vorangehen und dürfen
nicht auf der Bremse stehen. Wir müssen die Fenster
aufreißen und frische Luft in die verstaubten Stuben der
Agrarpolitik lassen.
({13})
Wir brauchen eine offene, demokratische und transparente Agrarpolitik, gemeinsam mit unserer Gesellschaft
und nicht gegen sie. Deshalb: Heraus aus dem gesellschaftlichen Abseits! Auf der DLG-Tagung wurde dies
als These formuliert, von daher habe ich es zitiert.
Die nächste Bundestagswahl spätestens 2013 wird
auch eine Abstimmung über Ihre falsche Politik in
Europa werden. Wir freuen uns darauf; denn wir Grüne
haben es schon lange satt.
({14})
Vielen Dank, Kollege Friedrich Ostendorff. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Carola
Stauche. Bitte schön, Frau Kollegin Carola Stauche.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute eine ganze Reihe
Oppositionsanträge,
({0})
die wir von der christlich-liberalen Koalition natürlich
alle ablehnen. Das brauche ich Ihnen sicher nicht zu sagen. Ich bin der Meinung, dass in den Anträgen einige
ökologisch-romantische Ideologien vorkommen,
({1})
die nicht immer mit einer effizienten Land- und Lebensmittelwirtschaft zu tun haben.
Ich habe etwas mit dem Kopf geschüttelt, als ich zur
Vorbereitung dieser Sitzung die Anträge gelesen habe,
mit denen Sie an das Hohe Haus herantreten. Lassen Sie
mich einige Themen Ihrer Anträge erörtern. Im Antrag
17/7186 der SPD-Fraktion heißt es unter anderem:
Die Rahmenbedingungen sind auf internationaler,
europäischer und nationaler Ebene so zu verbessern, dass die Potenziale des Ökolandbaus und der
ökologischen Lebensmittelwirtschaft weiter ausgebaut und die gesellschaftlichen Leistungen der Biolandwirte verlässlich honoriert werden.
({2})
Dazu möchte ich Ihnen als jemand, der aus der Landwirtschaft kommt, sagen, dass wir generell die Leistung
aller Landwirte und deren Produkte besser honorieren
müssen. Wir sind für alle da.
({3})
Ihre einseitige ideologische Betrachtung wird unserer
konventionellen Landwirtschaft und ihren Leistungen
sowohl für die Lebensmittelversorgung als auch für den
Landschaftsschutz in keinster Weise gerecht. Das ist einseitig.
Im gleichen Antrag fordern Sie zur einseitigen Förderung der Forschung in Richtung ökologische Anbausysteme auf. Wir brauchen die Förderung dort. Aber Einseitigkeit widerstrebt mir; denn wir brauchen das gute
Nebeneinander von konventioneller Landwirtschaft und
Ökolandbau.
({4})
Aufgrund des 300-jährigen Geburtstags von Fritz
dem Großen, der in den letzten Tagen gefeiert wurde,
({5})
möchte ich eines seiner bekanntesten Zitate auf die
Landwirtschaft umdeuten: Jeder Landwirt muss nach
seiner Fasson selig werden, egal ob als konventioneller
Landwirt oder als Ökobauer.
({6})
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der
Opposition und der Regierungskoalition.
({7})
- Der sagte noch mehr.
Wir stellen es den Landwirten frei, wie sie produzieren wollen. Eine einseitige Förderung, wie von der Opposition gefordert, steht diesem Ansinnen entgegen.
Aber lassen Sie mich zu den weiteren Anträgen kommen. In dem Antrag auf Drucksache 17/2479, ebenfalls
von der SPD, heißt es:
Die Zahlungen an die europäische Landwirtschaft
können dauerhaft nur dann gesellschaftlich legitimiert werden, wenn sie auch qualifiziert werden.
Zukünftig werden daher alle Zahlungen nur noch
für konkret benannte und gesellschaftlich gewünschte Leistungen gewährt.
({8})
Die SPD weiß natürlich ganz genau, was die Gesellschaft wünscht.
({9})
Ihr Forderungskatalog scheint mir aber nicht so ganz
durchdacht zu sein.
({10})
„Integrierte Entwicklung der ländlichen Räume“
klingt spannend. Aber dabei fehlen mir etwas die Bedürfnisse der Landwirte. Ich zitiere weiter:
Agrarinvestitionsprogramme werden nicht mehr
angeboten.
({11})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Was macht ein Landwirt, der sich für die Biolandwirtschaft entscheidet und
umbauen will? Ich kann mir schwer vorstellen, dass das
ohne Investitionsprogramme so einfach zu bewerkstelligen ist. Das gilt auch für die tiergerechte Haltung.
Auch die weiteren Anträge enthalten Aussagen oder
Forderungen, die ich nicht nachvollziehen kann. So heißt
es in einem SPD-Antrag zur Intensivtierhaltung, dass die
intensive landwirtschaftliche Produktion von der breiten
Mehrheit in der deutschen Gesellschaft abgelehnt wird.
Erste Frage: Was ist intensive Tierhaltung? Ist das ein
Ökobauer mit 200 Fleischrindern, der nur auf Weiden
produziert und auch einen großen Stall hat? Ist auch das
intensive Landwirtschaft?
({12})
Die zweite Frage, die sich mir stellt, ist: Warum werden
die ökologischen Produkte trotzdem nicht von der Mehrheit gekauft? Ist es der zwei- bis dreimal so hohe Preis,
oder ist es die nicht wirklich bessere Qualität?
({13})
Interessanter ist für mich: Was machen wir mit unserer heimischen Landwirtschaft, wenn wir den Anträgen
der Opposition folgen? Denn wenn wir komplett auf
ökologische Fleischherstellung umstellen, wird das konventionell produzierte Fleisch eben aus dem Ausland importiert, und die heimische Landwirtschaft hat das Nachsehen. Das wollen wir nicht.
({14})
Ich will aber nicht weiter auf die Unzulänglichkeiten
der Anträge eingehen, sondern Ihnen noch einmal die
klaren Forderungen darstellen, die wir in der christlichliberalen Koalition haben. Wir haben eigene Antworten
und eigene Forderungen, und die sind: Erhaltung der
Zwei-Säulen-Struktur in der GAP; eine starke erste
Säule, finanziell gut ausgestattet; klare Trennung der
Maßnahmen von erster und zweiter Säule. Agrarumweltmaßnahmen sollen wie bisher aus der zweiten Säule der
GAP finanziert werden. Die Landwirte müssen Anreize
haben, eine größere Wertschöpfung am Markt und in der
Umwelt zu erzielen. Die Entkoppelung der Direktzahlungen von der Produktionsart, die wir in Deutschland
schon haben, müsste in allen europäischen Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Ferner soll sich die Bundesregierung dafür starkmachen, dass die Einführung einer
degressiven Ausgestaltung und eine Deckelung der
Direktzahlungen verhindert werden. Das ist für uns
Vermischung von Agrar- und Sozialpolitik und widerspricht dem Gedanken, der den Zahlungen im Rahmen
der Agrarpolitik zugrunde liegt. Es sollte keine nach
Größen und Betriebsarten unterscheidende Regelung
geben; denn alle haben ihre Berechtigung, die großen
Betriebe - das wurde vorhin schon gesagt - ebenso wie
die kleinen und die ökologischen Betriebe.
Meine Damen und Herren -
Das macht nichts. Es ist ohnehin Schluss.
({0})
Ja, jetzt ist Schluss.
Wir als christlich-liberale Koalition sind bereit, abseits von Ideologie und einseitiger Neuausrichtung die
heimische Landwirtschaft zu unterstützen. Deshalb zitiere ich zum Abschluss Friedrich den Großen:
Unseren Dünkel müssen wir verlieren; wir sollen
handeln, nicht philosophieren.
({0})
In diesem Sinne: Danke!
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Carola Stauche. - Letzter
Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Heinz Paula. Bitte schön,
Kollege Heinz Paula.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dioxin, Ehec, Antibiotikamissbrauch - ein Skandal folgt
dem nächsten. Eine ganze Branche gerät in Misskredit.
Die Verbraucher sind verunsichert.
({0})
Wir sind uns hoffentlich darüber einig, dass wir eine
ernsthafte Grundsatzdebatte führen können. Herr von
der Marwitz, ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen,
weil ich während Ihrer Rede den Eindruck hatte, dass
das möglich ist; anders als bei meiner Vorrednerin. In
einer solchen Debatte müssen wir uns diese Fragen stellen: Wie wollen wir die Nahrungsmittelproduktion gestalten? Welche Qualität verlangen wir? Wie gehen wir
mit unseren Nahrungsmitteln um? Man stelle sich vor:
20 Millionen Tonnen werden pro Jahr in den Abfall geworfen. Wir müssen uns auch fragen, welche Art der
Tierhaltung wir zukünftig wollen und welche wir verantworten können.
({1})
Die bisherige Form der Intensivtierhaltung ist mit einer
enormen Belastung für die Umwelt und einem hohen
Antibiotikaeinsatz verbunden. Man stelle sich vor: Zwei
Drittel der verordneten Antibiotika gehen in die Tiermast. Diese Haltung landwirtschaftlicher Nutztiere führt
zunehmend zu Akzeptanzproblemen in der Bevölkerung.
({2})
Alarmierende Ergebnisse wurden gestern im ZDFBeitrag „Tödliche Keime aus der Massentierhaltung“
vorgestellt. Es geht nicht an, dass wir irgendwo verharmlosen. Wir Sozialdemokraten nehmen diese Fragen ernst.
Wir fordern in unserem Antrag klare Regelungen für die
Intensivtierhaltung. Wir fordern zum Beispiel eine
Änderung des Baugesetzbuches. Sie hatten ja einen Vorschlag vorgelegt. Leider wurde er am nächsten Tag wieder zurückgezogen. Damit hätten wir einen konkreten
Ansatzpunkt gehabt, über den wir uns hätten unterhalten
können.
({3})
Aber Frau Aigner ist halt wieder einmal vor der Agrarlobby eingeknickt. Sehr bedauerlich!
({4})
Wir brauchen weitere Änderungen, zum Beispiel im
Bereich der Umweltgesetzgebung. Frau Happach-Kasan,
bei der Stickstofffrage bin ich absolut an Ihrer Seite.
Lassen Sie uns hier konsequent nach Lösungen suchen.
Beim Tierschutz brauchen wir Verbesserungen. Sämtliche Verstümmelungen von Tieren sind umgehend einzustellen.
({5})
Die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung muss dringend überarbeitet werden.
({6})
Wir müssen endlich Tiere wie Puten oder Kaninchen
einbeziehen und vor allen Dingen die Haltungsbedingungen verbessern.
Frau Aigner redet in letzter Zeit sehr viel über das
Tierwohl. Ich habe häufig den Eindruck, dass mit ihren
Vorschlägen eher eine Verlängerung des Tierelends verbunden ist. Nehmen wir allein ihre Überlegungen zum
Tierschutzgesetz: Die betäubungslose Ferkelkastration
soll erst ab 2017 verboten sein. Was soll das bitte? Wir
haben bewährte Alternativen. Lasst uns diese endlich
einführen.
({7})
Auch bei den Äußerungen zur Charta habe ich den
Eindruck, dass etwas auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
verschoben wird. Aus dem sehr guten Diskussionsprozess müssen endlich konkrete Ergebnisse hervorgehen.
Wir brauchen Ergebnisse und nicht nur Diskussionen.
({8})
Liebe Regierungskoalitionäre, die Umfrage, die Ihr
Ministerium, Herr Staatssekretär, im Dezember 2011
vorgestellt hat, hat ergeben, dass über 90 Prozent der Bevölkerung Tierschutz als wichtiges Kriterium ansehen.
Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Folgen Sie diesen
Wählern.
({9})
Folgen Sie Ihrem Parteifreund Minister Lindemann, der
klipp und klar sagt: Wir müssen die Haltungsbedingungen den Tieren anpassen und nicht umgekehrt.
Ganz kurz zum ökologischen Landbau. Man kann
feststellen: Qualität setzt sich durch. Wir sind mit
5,9 Prozent meilenweit von den ursprünglich angedachten 20 Prozent entfernt; das wissen Sie. Geben Sie diesem Landbau eine faire Chance, indem Sie die Mittel für
den ökologischen Landbau nicht auch der konventionellen Landwirtschaft zur Verfügung stellen.
Insgesamt möchte ich sagen: Lassen Sie uns die Signale, die heute aus Ihrer Richtung gekommen sind, aufgreifen und gemeinsam versuchen, eine positive Entwicklung zum Vorteil der Verbraucher, der Tiere und
auch der Produzenten zu erreichen. Ich schlage Ihnen
vor, das Motto, das dieses Bundesministerium auf der
Grüne Woche ausgegeben hat, ernst zu nehmen: „Verbraucher und Landwirtschaft - Gemeinsame Verantwortung für Mensch, Tier und Umwelt“. Gut so.
({10})
Handeln Sie entsprechend, und stimmen Sie unseren Anträgen zu. Dann sind wir auf einem guten Weg.
Ich bedanke mich.
({11})
Vielen Dank, Kollege Heinz Paula. - Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7186 und 17/8378 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/5299.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/2479 mit
dem Titel „Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach
2013 weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4542 mit dem Titel „Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach 2013 - Förderung
auf nachhaltige, bäuerliche Landwirtschaft ausrichten“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten
und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach 2013 Konzept zum ‚Greening‘ der Direktzahlungen vorlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7413, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6299 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 10 d. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion der SPD mit dem Titel „Klare Regelungen
für Intensivtierhaltung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7198, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6089
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 10 f. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Agrarförderung in
Deutschland und Europa geschlechtergerecht gestalten“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/6385, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/5477 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und Teile der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Gegenprobe! - Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Jetzt sind wir schon am Ende dieses Tagesordnungspunktes. Aber alle sind herzlich eingeladen, die weiteren
Beratungen des heutigen Abends hier zu verfolgen und
den Rednern zu lauschen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Abschiebestopp und Bleiberecht für Flüchtlinge aus Syrien
- Drucksache 17/8456 18610
Vizepräsident Eduard Oswald
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Jelpke.
Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke
hat schon im Jahr 2009 einen Abschiebestopp bzw. ein
Bleiberecht für Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland
gefordert, übrigens im Unterschied zur Bundesregierung, die die Behörden bis 2011 damit beschäftigt hat
und in 180 Fällen die Abschiebung von Syrern und vor
allen Dingen Staatenlosen aus Syrien vorbereiten wollte.
Wir halten es für einen Skandal, dass wir schon im Jahr
2009 die Menschenrechtsverletzungen in Syrien kritisiert haben und uns im Nachhinein unterstellt wird, wir
seien solidarisch mit Assad. Das ist zu keiner Zeit der
Fall gewesen. Ganz im Gegenteil: Die Linke hat, wie gesagt, einen Abschiebestopp gefordert. Die Linke hat betont, dass in ein Land, in dem Misshandlungen und Folter stattfinden, auf gar keinen Fall abgeschoben werden
darf. Aber hier im Haus wurden unsere Anträge mehrheitlich abgelehnt. Auch das halten wir für einen Skandal.
({0})
Ich kann Ihnen einige Beispiele nennen. Am 1. September 2009 wurde Khaled Kanjo nach Syrien abgeschoben. Er wurde dort drei Monate in Dunkelhaft gehalten und gefoltert. Er konnte fliehen, weil er auf
Kaution freigestellt war. In der Türkei hat er über den
UNHCR erneut den Flüchtlingsstatus bekommen. Nur
aufgrund der Proteste, die es in Deutschland gab, und
wegen der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat sich
Deutschland verpflichtet gesehen, ihn wieder aufzunehmen.
Zehn solcher Fälle, die bis zum vergangenen Jahr, bis
zum Jahr 2011, zu verzeichnen waren, könnte ich aufzählen. Es wurden sogar ganze Familien nach Syrien abgeschoben, und das zu einem Zeitpunkt, als es unter den
dortigen Oppositionellen schon Hunderte von Toten gab
und klar war, dass man niemanden in dieses Land zurückführen darf. Das ist wirklich ein Skandal. Leider
kann ich nicht alle Fälle vortragen; Sie können sie aber
jederzeit einsehen. Besonders interessant und wichtig ist,
dass wir bis heute nicht wissen, wo all diese Menschen
verblieben sind, und das, obwohl Flüchtlingsorganisationen versucht haben, dies herauszubekommen.
Die Situation in Syrien eskaliert immer weiter. Von
Tausenden Toten ist die Rede. Es gibt Meldungen, dass
sich unter den Aufständischen bewaffnete Gruppen befinden. Immer mehr Soldaten desertieren. Die Reaktion
des Assad-Regimes wird immer brutaler - das ist überhaupt keine Frage -, und es ist schlicht nicht absehbar,
wann die Menschen wieder sicher in Syrien leben können.
Natürlich wissen wir, dass zurzeit nicht nach Syrien
abgeschoben wird. Dennoch will ich ganz deutlich sagen: In Deutschland leben 7 000 Flüchtlinge aus Syrien,
die nur einen Duldungsstatus haben. Das heißt, sie dürfen hier nicht arbeiten, sie haben Residenzpflicht, und
sie haben vor allen Dingen Angst, abgeschoben zu werden. Diese Menschen brauchen endlich eine Perspektive.
({1})
Deswegen haben wir schon 2009 gefordert, dass es für
diese Menschen ein Bleiberecht gibt und man sie nicht
nach Syrien abschiebt.
Außerdem hat die Bundesregierung, die plötzlich so
tut, als habe sie nie etwas mit dem syrischen Regime zu
tun gehabt, im Jahre 2009 ein sogenanntes Rückübernahmeabkommen mit Syrien abgeschlossen; man kann
dazu auch „Abschiebeabkommen“ sagen. Dieses Abkommen ist bis heute nicht gekündigt worden. Ich fordere Sie auf: Kündigen Sie dieses Abkommen mit der
syrischen Regierung! Ein Abkommen mit einem solchen
Staat darf für Deutschland nicht weiter eine Verpflichtung sein.
({2})
In den vergangenen Wochen haben vier Syrer beim
Petitionsausschuss des Bundestages darum gebeten, in
Deutschland Asyl zu bekommen. Sie sind aus Ungarn
nach Deutschland eingereist, und die deutschen Behörden wollen sie wieder nach Ungarn abschieben, obwohl
bekannt ist, dass Ungarn wiederum an Syrien abschiebt.
Darunter befinden sich zwei Deserteure. Ich will mir
hier nicht ausmalen, was es möglicherweise bedeuten
würde, wenn diese Menschen abgeschoben würden. Ich
bitte Sie hier noch einmal: Stimmen Sie der Petition zu,
dass es keine Abschiebung nach Ungarn gibt, weil wir
wissen, dass Ungarn kein Asylsystem hat und die Menschen dort nicht wirklich schützen wird.
({3})
Zum Schluss: Ein verbindlicher Abschiebestopp, ein
Bleiberecht für Menschen aus Syrien und die Kündigung
des Rückübernahmeabkommens sind das Mindeste, wofür die Bundesregierung nun sorgen muss. Das wäre übrigens echte Solidarität mit den Opfern, die Sie hier in
der letzten Woche eingefordert haben, und hilfreicher als
das Säbelrasseln der NATO und eine Embargopolitik gegen die syrische Bevölkerung.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. - Jetzt spricht für
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Christoph Bergner. Bitte schön, Herr Staatssekretär.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jelpke, es herrscht ja Übereinstimmung, dass die
Menschenrechtslage in Syrien „desaströs“ ist, wie es in
Ihrem Antrag heißt, und es besteht kein Zweifel, dass sie
sich im Verlaufe des letzten Jahres erheblich zugespitzt
hat.
Die Bundesregierung hat die schweren Menschenrechtsverletzungen in Syrien, insbesondere die anhaltende Gewalt syrischer Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und andere Zivilpersonen, mehrfach scharf
kritisiert. Zudem hat sich Deutschland nachdrücklich für
die Verschärfung von EU-Sanktionen gegen Syrien und
für die Verurteilung des Regimes von Präsident Baschar
al-Assad durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingesetzt.
Es ist klar, dass eine solche Menschenrechtslage auch
Konsequenzen für den Umgang mit schutzsuchenden
Flüchtlingen und Asylbewerbern dieser Herkunft hat.
Das Bundesministerium des Innern hat den Innenministerien und Innensenatoren der Länder vor dem Hintergrund der zunehmenden staatlichen Repressionen gegen
Demonstranten in Syrien bereits am 28. April 2011 empfohlen, vorläufig keine Abschiebungen nach Syrien vorzunehmen.
({0})
- Sie kennen doch die Zuständigkeiten. - Nach Angaben
der Bundesländer haben Rückführungen nach Syrien seit
Ende April 2011 nicht mehr stattgefunden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sieht vor dem Hintergrund der aktuellen Lage bis auf Weiteres davon ab, ablehnende Asylentscheidungen zum Herkunftsland Syrien
zu treffen. - So weit zu der Forderung, entsprechende
Konsequenzen für die Abschiebepraxis zu ziehen.
Nun zu der Forderung, das Rückübernahmeabkommen aufzukündigen. Ich glaube, bei dieser Forderung
gehen Sie von einer unzutreffenden Beurteilung der
Funktion und Tragweite dieses Abkommens aus. Die
Einleitung und Durchführung der Rückübernahmeverfahren liegt in der Zuständigkeit der Ausländerbehörden
der Länder. Das Abkommen zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Arabischen Republik Syrien über die Rückführung von
illegal aufhältigen Personen aus dem Jahre 2008 beschränkt sich auf prozedurale Regelungen.
({1})
Es bedeutet für die zuständigen Bundesländer keine
Verpflichtung zur Durchführung von Abschiebungen
und auch keinen Hinderungsgrund, Abschiebungen in
Gefährdungssituationen auszusetzen. So werden zum
Beispiel die Möglichkeiten zur Aussetzung einer Abschiebung bei humanitären und menschenrechtlichen
Aspekten im Ausländer- bzw. Asylrecht berücksichtigt;
sie werden durch das Abkommen nicht berührt. Eine
Kündigung des Abkommens hätte nur zur Folge, dass
die Vereinbarungen zu Nachweis- und Glaubhaftmachungsmitteln, Fristen und Rückübernahmeverfahren
nicht mehr gelten würden, was für die Lösung des von
Ihnen angesprochenen Problems in der Sache eigentlich
irrelevant ist.
Eine weitere Forderung ist, die Überstellungen im
Rahmen der Dublin-II-Verordnung auszusetzen. Deutschland überstellt Asylbewerber, für die gemäß Dublin-Verordnung ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen
Union bzw. ein anderer am Dublin-Verfahren teilnehmender europäischer Staat zuständig ist, wenn dort keine
konkrete Gefahr der Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention droht und nicht im Einzelfall außergewöhnliche
humanitäre Umstände einer Überstellung entgegenstehen. Dieser Grundsatz gilt auch hier. Die Bundesregierung sieht derzeit keine Veranlassung, generell von der
Überstellung syrischer Staatsangehöriger in andere EUMitgliedstaaten abzusehen
({2})
und das Asylverfahren - ich komme gleich zu Ungarn in Deutschland durchzuführen.
Sie hatten Ungarn angesprochen. Im Hinblick auf Ungarn haben das dortige Innenministerium sowie das ungarische Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft
gegenüber den Vertretern deutscher Behörden in Budapest erklärt, dass Ungarn derzeit keine Personen mehr
nach Syrien zurückschicke. Syrien werde von ungarischer Seite nicht mehr als sicherer Herkunftsstaat bewertet. Ich finde, innerhalb der Mitgliedstaaten der EU sollte
man solche Worte ernst nehmen.
({3})
Die Bundesregierung geht jedenfalls davon aus, dass
auch Ungarn die Gewährleistungen des europäischen
und internationalen Flüchtlingsrechts sowie die einschlägigen Menschenrechtskodifikationen einhält. Verletzungen dieser Standards in einzelnen Fällen, die naturgemäß
vielleicht nicht völlig ausgeschlossen werden können,
und Erkenntnisse zu systemischen Rechtsverletzungen
des ungarischen Asylsystems liegen nicht vor.
Ich fasse also dahin gehend zusammen: Die Bundesregierung nimmt die Menschenrechtslage in Syrien sehr
ernst.
({4})
Sie stellt sich den Verpflichtungen, die sich flüchtlingspolitisch aus dieser Menschenrechtslage ergeben. Was
die Regelungen im Umgang mit der Dublin-Verordnung
und die angesprochene Situation in Ungarn betrifft, so
haben wir dies nach Rückfrage mit den zuständigen Stellen in Ungarn geklärt. Wir haben innerhalb der EU keinen Anlass, an den Aussagen Ungarns zu zweifeln.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Dr. Bergner. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Josip Juratovic. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in der vergangenen Woche in großer Einigkeit über die unhaltbaren und menschenverachtenden Zustände in Syrien gesprochen. Es ist ein wichtiges Zeichen, dass wir die unsagbare Gewalt durch das
Assad-Regime einmütig verurteilen.
Es wurde auch über die internationale Schutzverantwortung gesprochen, ob wir nicht verpflichtet sind, die
Zivilbevölkerung vor der Massakrierung durch das syrische Regime zu schützen. Hier möchte ich die Bundesregierung loben, dass sie sich an der Finanzierung der
Flüchtlingsaufnahme durch das internationale Rote
Kreuz und den Roten Halbmond in der Türkei beteiligt.
({0})
Das zeigt: Die Problematik in Syrien und auch die
Flüchtlingsproblematik sind bei allen hier im Haus und
in der Regierung angekommen.
Diese außenpolitische Einigkeit muss jedoch auch
Konsequenzen in unserer eigenen Flüchtlingspolitik haben. Davon sehe ich bisher leider viel zu wenig. Bereits
seit längerem fordern wir Sozialdemokraten, dass das
Rückübernahmeabkommen mit Syrien gekündigt oder
zumindest ausgesetzt wird. Das haben wir auch schon
vor dem aktuellen Gewaltausbruch der syrischen Regierung gesagt. Ich weiß, dass dieses Abkommen während
der Großen Koalition geschlossen wurde. Natürlich war
uns klar, dass Syrien auch damals kein gefestigter
Rechtsstaat war. Dennoch war dies eine ausländerrechtliche Entscheidung. Die Situation hat sich aber dramatisch verschlechtert; das ist uns allen bekannt.
Herr Wolff von der FDP sagte Anfang 2010, dass die
Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft
werden muss, wenn die im Rückübernahmeabkommen
enthaltenen Vereinbarungen zu den Menschenrechten
nicht eingehalten werden.
({1})
Ich frage mich, welche Beweise wir noch aus Syrien
brauchen, damit uns eindeutig klar wird, dass das Menschenrechtskapitel in diesem Abkommen in Syrien mit
Füßen getreten und mit Gewehrkolben geschlagen wird
und dass wir endlich konsequent handeln müssen.
({2})
Dazu reicht der Schritt nicht aus, dass das Innenministerium den Ländern empfiehlt, weitere Abschiebungen nach Syrien auszusetzen. Wir dürfen uns nicht einzig und allein auf die Lage im Ausländerrecht
zurückziehen und behaupten, rechtlich sei doch alles
klar. Gerade bei einem außenpolitischen Brennpunkt wie
Syrien müssen wir politische und nicht rein rechtliche
Entscheidungen treffen. Gerade hier müssen wir mehr
denn je unser humanitäres Gewissen einschalten.
Wir alle wissen, dass es bei Flüchtlingspolitik immer
um Einzelschicksale geht. Dem müssen wir gerecht werden, und zwar nicht nur mit Paragrafen, sondern auch
mit eindeutigen Aussagen, dass wir uns um die Menschen kümmern, die in unserem Land sind, die meisten
übrigens seit mehreren Jahren.
Herr Grindel hat im Januar 2010 betont, dass unter
denen, die wir bisher nach Syrien abgeschoben haben,
auch sehr viele Kriminelle gewesen seien. Verzeihen Sie
mir, aber ich finde diese Verknüpfung absolut unerträglich, abgesehen davon, dass Sie dies überhaupt nicht beweisen können.
({3})
Wenn Sie der Meinung sind, dass vermeintlich kriminelle syrische Flüchtlinge in unserem Land ohne Gewissensbisse den Gewehrkolben von Assads Schergen ausgesetzt werden dürfen,
({4})
dann frage ich Sie: Was ist Ihr Verständnis vom Rechtsstaat? Denn auch Flüchtlinge und vermeintlich Kriminelle besitzen Menschenrechte.
({5})
Es ist keine Frage, dass kriminelle Taten strafrechtlich
verfolgt werden müssen, aber immer im Rahmen eines
Rechtsstaates und nicht mit den Mitteln der Abschiebung.
({6})
In Zeiten von rechtsradikalem Terror in unserem
Land, dem zahlreiche Mitbürger mit Migrationshintergrund zum Opfer gefallen sind, die auch zuerst als kriminelle Ausländer angesehen wurden, sollten wir mit solchen Vorurteilen deutlich vorsichtiger sein. Wir müssen
uns zudem bewusst sein, dass viele Flüchtlinge, die zu
uns kommen, traumatisiert sind. Viele Menschen können
ihre schrecklichen Erlebnisse nicht einfach wegstecken
und sind nicht so sicher im Umgang mit unserer Gesellschaft. Wir müssen Respekt haben vor den traumatischen Erlebnissen dieser Flüchtlinge.
Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass aus
Deutschland direkt derzeit niemand mehr nach Syrien
abgeschoben wird. Gott sei Dank, könnte man sagen.
Aber wir wissen, dass es indirekte Abschiebungen gibt,
und zwar über Ungarn. In diesen Tagen haben wir sowieso schon Probleme mit Ungarn und dem Verhältnis
der nationalkonservativen rechten Regierung von Viktor
Orban zum Rechtsstaat. Gerade in einer solchen Situation müssen wir sagen: Es kann nicht sein, dass Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, über Ungarn,
das Syrien unverständlicherweise nach wie vor als sicheren Drittstaat bezeichnet, nach Syrien abgeschoben werden. Wir haben nach der Dublin-II-Verordnung das
Recht, das Asylverfahren an uns zu ziehen und nicht in
Ungarn zu belassen. Das sollte dringend geschehen.
({7})
Erlauben Sie mir zum Schluss, Ihnen meine persönlichen Erfahrungen in der Flüchtlingspolitik mit auf den
Weg zu geben: Während der Kriege im ehemaligen
Jugoslawien in den 90er-Jahren war ich in der Friedenspolitik aktiv. Ich war im Kreis Heilbronn eine Anlaufstelle für Flüchtlinge aus den Kriegsländern des ehemaligen Jugoslawien. In meinem Haus lebten teilweise bis zu
18 Flüchtlinge, übrigens aus verschiedenen Ethnien aus
dem ganzen ehemaligen Jugoslawien. Ich kann nur sagen: Gott sei Dank gab es damals eine andere Flüchtlingspolitik und noch keine Dublin-II-Verordnung. Zum
Glück konnten diese Menschen hier in Sicherheit leben.
Im Übrigen ist keine dieser Familien noch in unserem
Land. Das mag die Union freuen, die oft Angst hat, dass
Flüchtlinge unser Land überrennen und dann hier weiterhin vermeintlich auf Kosten des Staates leben wollen.
Mich stimmt es aber auch traurig; denn offensichtlich
haben diese Menschen in den USA, in Australien oder
anderswo bessere Chancen gesehen. Wir sollten dringend überlegen, wie wir Flüchtlingen und Geduldeten,
die oft von uns ausgebildete Fachkräfte sind, eine
Chance auf unserem Arbeitsmarkt und in unserer Gesellschaft geben können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Juratovic. - Nächster Redner
für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Serkan Tören.
Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es schon empörend und ein bisschen zynisch,
Frau Jelpke, dass auf der einen Seite die Linke den vorliegenden Antrag stellt
({0})
und auf der anderen Seite sich Mitglieder Ihrer Fraktion
mit der Regierung in Syrien und dem Machthaber
Baschar al-Assad solidarisieren. Das passt nicht. Das ist
nichts anderes als Scheinheiligkeit.
({1})
Die Situation in Syrien ist schlicht unerträglich; das ist
von den Vorrednern schon mehrmals gesagt worden. Es
finden Militäreinsätze gegen das eigene Volk statt. Die
Protestbewegung wird mit exzessiver Gewalt niedergeschmettert. Das alles ist in keiner Weise zu akzeptieren.
Mit der Beurteilung politischer Verhältnisse in Staaten wie Syrien geht die Bundesregierung sehr verantwortungsvoll um, insbesondere was mögliche Folgerungen
hinsichtlich der asylrechtlichen Relevanz aktueller Entwicklungen angeht.
({2})
Neben den regelmäßig vom Auswärtigen Amt verfassten
Lageberichten werden anlassbezogene aktuelle Berichte
angefertigt. Diese dienen dann den inländischen Behörden als Grundlage für die Entscheidung über die Anerkennung als Flüchtlinge. Darüber hinaus gibt es eine unmittelbare Kooperation der Innenminister der Länder mit
dem Bundesinnenministerium, um bei aktuellen Krisensituationen sofort reagieren zu können. So hat der Bundesinnenminister auf die im Frühjahr in Syrien erfolgten
militärischen Einsätze gegen die Protestbewegung reagiert und mit den Bundesländern vereinbart: Die Abschiebung von ausreisepflichtigen syrischen Staatsangehörigen wird bis auf Weiteres ausgesetzt. - Seitdem
finden bundesweit keine Rückführungen mehr statt.
({3})
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Da allerdings nicht
absehbar ist, wie sich die politische Situation in Syrien
entwickelt - wir sehen, dass sich Staaten in Nordafrika
bereits stabilisieren -, können wir eine dauerhafte Entscheidung nicht treffen. Die sofortige Aussetzung der
Abschiebung war geboten. Die Vorläufigkeit dieser Anordnung ist allerdings auch richtig.
Die FDP-Bundestagsfraktion sieht keinen Grund, das
deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen zu kündigen.
({4})
Jeder Staat ist zur Rückübernahme seiner Staatsangehörigen verpflichtet, wenn diese aus anderen Staaten ausreisen müssen. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine völkerrechtliche Verpflichtung.
({5})
Das haben Sie bis heute nicht verstanden. Sie tun so, als
ob die Rückübernahmeabkommen geradezu die rechtliche Grundlage dafür wären. Das stimmt nicht.
({6})
Rückübernahmeabkommen begründen nicht die Verpflichtung, sondern regeln das administrative Verfahren,
insbesondere bei der Identitätsfeststellung. Da die Durchführung von Abschiebungen nach Syrien bis auf Weiteres
ausgesetzt ist, besteht kein Anlass für eine Kündigung des
Rückübernahmeabkommens.
({7})
Im Rahmen der sogenannten Dublin-II-Verordnung
ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Asylantragsteller an andere Mitgliedstaaten der Europäischen
Union zu überstellen, wenn diese für die Durchführung
des Asylverfahrens zuständig sind. In der Regel ist dies
dann der Fall, wenn die Ersteinreise in das Gebiet der
Europäischen Union in einem anderen Staat erfolgte.
Ausnahmen von der Überstellung gelten dann, wenn in
dem anderen Mitgliedstaat beispielsweise die konkrete
Gefahr der Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention
besteht.
({8})
Wir gehen davon aus: Ungarn hält in vollem Umfang
die Gewährleistungen des europäischen und internationalen Flüchtlingsrechts sowie der einschlägigen Menschenrechtskodifikationen ein.
({9})
Dies gilt insbesondere für das Refoulement-Verbot. Die
ungarische Regierung hat zudem erklärt - das hat der
Staatssekretär schon aufgezeigt -, dass sie seit Mai 2011
keine Personen mehr nach Syrien zurückschickt, da es
derzeit auch aus ungarischer Sicht kein sicheres Herkunftsland ist.
({10})
Sie müssen Beispielfälle nennen. Sie tun das aber nicht,
sondern stellen Mutmaßungen an. Aber mit Mutmaßungen kommen wir einfach nicht weiter.
({11})
Abschließend sei festgestellt: Ein Drittstaatsangehöriger erhält immer gerichtlichen Rechtsschutz in dem jeweiligen Mitgliedstaat, aber auch vor den europäischen
Gerichten, falls er sich durch eine Überstellung in sein
Herkunftsland in seinen Rechten verletzt sieht.
Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Linken ab.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Josef Winkler. Bitte schön, Kollege Josef
Winkler.
({0})
- Tauschen Sie noch das Manuskript aus?
({1})
Bitte schön, Kollege Josef Winkler.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich hatte Herrn Tören
nur etwas gefragt, weil ich etwas akustisch nicht verstanden hatte. Intellektuell war mir aber das Argument zugänglich.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde, es ist ein Trauerspiel, dass wir hier
fast wöchentlich über die Situation in Syrien im Rahmen
der Außenpolitik debattieren, sich aber innenpolitisch im
Umgang mit den syrischen Flüchtlingen nur wenig verändert. Ich denke - das muss ich nach der Rede von
Herrn Staatssekretär Dr. Bergner sagen -, es schlägt dem
Fass den Boden aus,
({0})
dass Sie sich jetzt hinter der formalen Zuständigkeit der
Bundesländer, der Kommunen und der Ausländerbehörden verstecken und sich auf reine Verwaltungsargumente
zurückziehen.
({1})
Sie haben eben hier gesagt, das Rücknahmeabkommen
beschränke sich auf rein prozessuale Regelungen. Wenn
es wirklich nur um Formalia geht, dann besteht erst recht
kein Grund, an dem Abkommen, das man mit dem
Assad-Regime geschlossen hat, festzuhalten.
({2})
Herr Tören, es ist wirklich kein Argument, zu sagen, wir
seien zu doof, um zu verstehen, wofür Rücknahmeabkommen gedacht seien. Es gibt Regime in der Welt, mit
denen man schlicht und ergreifend keine Verträge
schließt, auch wenn man es darf und wenn man es kann.
({3})
Wir sagen: Die Bundesregierung hat es in der Hand.
Sie können unverzüglich einen Abschiebestopp für syrische Flüchtlinge aus der Bundesrepublik Deutschland
verhängen. Sie können auch endlich gegenüber den Bundesländern sicherstellen, dass kein Syrer mehr bei der
syrischen Botschaft in Berlin vorgeführt wird. Eine Vorführung ist nicht nur für die syrischen Staatsangehörigen
gefährlich, sondern auch für ihre Familienangehörigen,
die noch in Syrien sind und dort mit Repressionen zu
rechnen haben, wenn die Personalien festgestellt werden.
Das ist keine rein theoretische Debatte; denn die Ausländerbehörde in Magdeburg hat am 23. November 2011
mehrere syrische Staatsangehörige zur Vorsprache in der
Botschaft in Berlin aufgefordert. Daraufhin ist der Klageweg beschritten worden, und das Verwaltungsgericht
Magdeburg hat dann festgestellt, dass so etwas in diesen
Zeiten rechtlich nicht zulässig ist. Ich darf hinzufügen:
Diese Praxis ist auch unmenschlich und sollte nicht fortgesetzt werden.
({4})
Deswegen unterstreiche ich für meine Fraktion ausdrücklich die Worte, die Frau Jelpke hier gefunden hat.
Die einzigen Maßnahmen, mit denen wir uns ehrlich gegen die syrische Regierung und an die Seite der syrischen Opposition stellen können, wären die Kündigung
dieses Abkommens, der Erlass eines Abschiebestopps
und die Beendigung der Botschaftsvorführungen.
({5})
Es geht auch nicht, die Flüchtlinge nach Ungarn abzuschieben. So blauäugig wie Herr Tören bin ich nicht.
Nur weil die ungarische Regierung eine Rechtsauskunft
erteilt, muss diese nicht unbedingt stimmen. Ich nehme
es aber dem Herrn Staatssekretär ab, dass Ungarn neuerdings - das war für mich neu - nicht mehr als sicherer
Drittstaat gilt. Bis vor kurzem wurden nach meiner
Kenntnis Flüchtlinge, die aus Deutschland nach Ungarn
im Dublin-II-Verfahren abgeschoben wurden, von Ungarn nach Damaskus weiter abgeschoben und waren
dann perdu. Man weiß nicht, was aus ihnen geworden
ist. In einen Traumurlaub wird sie das Regime allerdings
nicht geschickt haben.
Menschenrechtspolitik, die glaubwürdig ist, fängt im
eigenen Land an. Sie kann nicht nur gegenüber diktatorischen Regimen im Ausland praktiziert werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Josef Winkler.
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist Kollege Michael Frieser. Bitte schön, Kollege Michael
Frieser.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Auch das ständige Wiederholen von Anträgen
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesrepublik Deutschland einiges auf diesem Gebiet tut.
Vielleicht handelt es sich bei Ihnen um das pädagogische
Prinzip der permanenten Wiederholung in der Hoffnung,
dass irgendwann die entscheidenden Argumente verfangen.
Ich will noch einmal darauf hinweisen: Was uns in
dieser Debatte eint, ist die Verurteilung der derzeitigen
Zustände, die durch das Regime verursacht werden, und
der derzeitigen Verfolgung derer, die nichts anderes tun
als das, was auch wir tun, nämlich die Einhaltung von
Menschenrechten in Syrien zu fordern, und die deshalb
gegen das Assad-Regime auf die Straße gehen. Ich
hoffe, dass wir zumindest insoweit in dieselbe Richtung
gehen.
Wir brauchen in dieser Frage keine Nachhilfe, schon
gar nicht von der linken Seite des Hauses. Kollege Tören
hat es mit dem notwendigen Ernst vorgetragen. Ich will
noch einmal daran erinnern: Im Jahr 2008 hat es unter
dem damaligen Innenminister Schäuble tatsächlich eine
Initiative Deutschlands gegeben, bis zu 10 000 syrische
Flüchtlinge in die EU zu bringen und das Kontingent
Deutschlands mit 2 500 voll auszuschöpfen. Also auch
in dieser Frage brauchen die Regierung und wir mit
Sicherheit keinerlei Nachhilfe.
({0})
Ich glaube, dass das der entscheidende Punkt ist. Deshalb sollte man nicht versuchen, in der Diskussion die
beiden Argumente - auf der einen Seite Abschiebung
und auf der anderen Seite Rückführung -, die gar nichts
miteinander zu tun haben, zu verbinden. Wir sind nach
wie vor der Auffassung, dass wir in der derzeitigen
Situation, die wir erkennen und die dazu führt, dass aus
diesem Land niemand nach Syrien abgeschoben wird,
die menschenrechtliche Dimension sehen und dass wir
in dieser Frage mit Sicherheit keine Nachhilfe brauchen.
({1})
Aber worum geht es? Es geht darum, dass wir gemeinsam dafür kämpfen - dazu lade ich durchaus auch
ein -, dass den derzeitigen Zuständen gerade auch auf
EU-Ebene rasche Erweiterungen der Sanktionen gegenübergestellt werden. Wir müssen über die Frage von EUEinreisesperren reden, wir müssen über Finanzsanktionen reden, und wir müssen schauen, dass man auch beim
Thema Ölimportembargo auf Ebene der EU ein Verbot
der Investitionen in den Öl- und Gassektor in Syrien erreicht.
({2})
Das ist etwas, was wirklich funktioniert. Was nicht funktioniert, ist, den Menschen Sand in die Augen zu streuen.
Das tun wir leider Gottes hier auch wieder.
Ich wiederhole es: Die Kündigung des Rückführungsabkommens hat mit der Aufhebung der Abschiebung,
also damit, dass in dieses Land wegen der Zustände dort
nicht abgeschoben wird, überhaupt nichts zu tun. Im Ge18616
genteil: Im Grunde verpflichten wir das Assad-Regime
nach wie vor, an einem völkerrechtlichen Vertrag festzuhalten. Denn wenn wir Staaten, die sich in dieser Art und
Weise verhalten, auch noch aus ihren völkerrechtlichen
Verpflichtungen entlassen, dann entbinden wir sie ja jeglicher Verpflichtung. Damit erreichen wir genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich wollen.
({3})
Daher geht es meines Erachtens darum, dass wir auch
die Tatsache zur Kenntnis nehmen müssen, dass die
Bundesregierung das Notwendige getan hat. Staatssekretär Bergner hat die - ich will es einmal so sagen - Weisung erwähnt. Wir kennen doch alle die Schreiben aus
dem Jahr 2011, in denen es darum geht, dass die zuständigen Länder aufgefordert werden, tatsächlich nicht abzuschieben. Insofern muss man deutlich sagen: Auch das
BAMF trägt durch ständig aktualisierte Situationsberichte dazu bei, dass niemand so tun kann, als könne
er die Situation nicht beurteilen.
({4})
Wir müssen deutlich sagen: In diesem Land muss und
darf keiner Angst davor haben, dass er in ein Land abgeschoben wird, in dem es konkrete Gefahren für Leib und
Leben gibt oder in dem ihm die Folter droht. Genau das
tun wir nicht.
({5})
Versuchen Sie also bitte nicht, den Eindruck zu erwecken, als handele es sich hier um einen herzlosen, gewissenlosen und imperialistischen Folterstaat. Das ist definitiv nicht der Fall.
({6})
Ich hoffe nicht, dass Sie auf der Ebene der Diskussion
über die derzeitigen Zustände in Syrien versuchen, etwas
anderes zu transportieren. Es ist eine Art von Migrationspolitik für jene, die am Ende des Tages hier bleiben
sollen und Ihrer Auffassung nach auch hier bleiben
müssten. Ihre Kritik kommt zum falschen Zeitpunkt.
({7})
Insofern kann ich nur sagen: Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir im Interesse derjenigen, die in diesem
Land berechtigterweise leben, die Position vertreten
müssen, dass wir die Ausreise jener, die zur Ausreise
verpflichtet sind, auch durchsetzen können.
({8})
Diesen Zusammenhang dürfen wir nicht mit der Kündigung eines Rückführungsabkommens, das nicht notwendig ist, verwechseln.
({9})
Ich bitte dringend, diese beiden Punkte auseinanderzuhalten.
Es bleibt dabei: Die bürgerkriegsähnlichen Zustände
in Syrien setzen eine Abschiebung tatsächlich aus. Genauso verhält sich dieses Land. Wir gehen davon aus,
dass das unsere Partner in der EU auch tun. Deshalb
können wir nur eines machen: diesen Antrag erneut
ablehnen.
({10})
Vielen Dank, Kollege Michael Frieser. - Ich schließe
die Aussprache.
Ich komme nun zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8456 mit dem
Titel „Abschiebestopp und Bleiberecht für Flüchtlinge
aus Syrien“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind
die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anton
Schaaf, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen - Gesetzliche
Regelung im SGB VI verankern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Wolfgang Wieland, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen - Gesetzliche
Regelung im SGB VI verankern
- Drucksachen 17/5516, 17/6108, 17/6390 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte
schön, Kollege Peter Weiß.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich will ganz ehrlich sagen: Es ist nicht leicht, die besondere Situation der Menschen, die vor der Verwirklichung
der deutschen Einheit aus der DDR geflohen und in die
damalige Bundesrepublik gekommen sind, wirklich gerecht zu bewerten. Es ist in der Tat auch nicht leicht, eine
gerechte Lösung für das Problem ihrer Rentenansprüche
zu finden.
Wir alle wissen, dass sich mit denjenigen, die es gewagt haben, aus der DDR zu fliehen, in der Regel
schwere Schicksale verbinden. Wir alle wissen, dass zu
einem solchen Entschluss viel Mut und Durchhaltekraft
gehörten, und wir wissen, dass diese Flüchtlinge viel gewagt und auch viel aufgegeben haben. Deswegen haben
wir uns in den vergangenen Monaten noch einmal intensiv mit den Argumenten und den Anliegen der Betroffenen hinsichtlich ihrer Rentenansprüche und namentlich
mit der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge auseinandergesetzt und zahlreiche Fachleute konsultiert.
Die SPD hat im letzten Jahr einen Antrag vorgelegt
- die Grünen haben sich ihm angeschlossen -, in dem
gefordert wird, dass für die Frage, ob nach dem sogenannten Fremdrentengesetz oder nach dem gesamtdeutschen Renten-Überleitungsgesetz die Rentenberechnung erfolgen soll, ein neuer Stichtag eingeführt wird.
Dieser Stichtag soll der Tag des Mauerfalls, der 9. November 1989, sein.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich
diese Forderung genauer anschaut, stellt man fest: Das
ist kaum ein rechtlich gangbarer Weg, also kein Weg, der
auch verfassungsrechtlichen Prüfungen standhält. Es ist
erstaunlich: Elf Jahre lang - in der Zeit nach der deutschen Einheit - hat eine Sozialdemokratin oder ein Sozialdemokrat das für Rentenfragen zuständige Bundesministerium geführt. Alle Versuche, die Berechnung der
Rente ehemaliger DDR-Übersiedler und -Flüchtlinge
neu zu gestalten, wurden abgewiesen, und man hat darauf bestanden, dass das Renten-Überleitungsgesetz zur
Anwendung kommt.
({0})
- Ich komme darauf noch zu sprechen. - Kaum sind die
Sozialdemokraten und die Grünen in der Opposition, ist
offensichtlich all das, was man in der Zeit, in der man
selber regiert hat, wusste, anders zu sehen, und man fordert einen neuen Stichtag. Es ist zumindest verwunderlich, was hier vorgeschlagen wird, und es bedarf schon
einer genauen Prüfung: Woher kommt eigentlich diese
Idee? Würde ihre Umsetzung irgendeines unserer Probleme lösen?
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn es so sein
soll, dass für nach 1937 geborene, aber vor dem 9. November 1989 in die Bundesrepublik gekommene ehemalige DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger die Möglichkeit besteht, die Rente entweder nach dem
Fremdrentenrecht oder, falls man sich damit günstigerstellt, nach dem Renten-Überleitungsgesetz berechnen
zu lassen, dann stellt sich doch die Frage: Warum soll
das eigentlich für vor 1937 Geborene nicht auch gelten?
Die Frage ist unbeantwortet.
({2})
- Entschuldigung, uns liegt eine Petition an den Bundestag vor, in der ein vor 1937 Geborener fordert, nach dem
Renten-Überleitungsgesetz und nicht nach dem Fremdrentengesetz behandelt zu werden.
Was ist eigentlich mit den Menschen, die zwischen
dem 9. November 1989 und dem 18. Mai 1990, dem Tag
des Staatsvertrages über die Schaffung der Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion, in die Bundesrepublik gekommen sind? Konnte jemand, der am 10. November
1989 in den Westen kam, wirklich damit rechnen, dass
die deutsche Einheit wiederhergestellt werden würde?
Auch diese Frage bleibt unbeantwortet.
({3})
Was ist mit den Menschen, die nach dem Mauerfall und
vor der Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion nach Deutschland West gekommen sind?
({4})
Eine weitere Frage ist: Welche Fassung des Fremdrentengesetzes sollen wir eigentlich anwenden? Nach
1990 ist das Fremdrentengesetz ja mehrmals geändert
worden. Das betrifft vor allen Dingen die Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, die nach dem heutigen
Fremdrentengesetz nur noch 60 Prozent der Leistungen
bekommen. Nun frage ich Sie: Ist es wirklich im Sinne
der Gerechtigkeit, dass in Deutschland Deutsche Tür an
Tür leben, von denen nach dem Willen der SPD und der
Grünen die einen nur 60 Prozent der Leistungen und die
anderen 100 Prozent der Leistungen nach Fremdrentenrecht ausgezahlt bekommen sollen? Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun.
({5})
Ich wette, dass, wenn wir eine solche Regelung beschließen würden, diejenigen, die zurzeit nur 60 Prozent
der Leistungen bekommen, Klage - wahrscheinlich auch
vor dem Bundesverfassungsgericht - erheben und sich
gegen diese Ungleichbehandlung wehren würden.
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf, der sich auch vorher schon bemerkbar
gemacht hat?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege Schaaf.
Entschuldigen Sie bitte, dass ich da ein wenig impulsiv bin, Herr Präsident. Aber an dieser Stelle wird zumindest nicht ganz Korrektes verbreitet.
Wenn wir über DDR-Übersiedler und über DDRFlüchtlinge reden, dann gibt es im Prinzip nur einen einzigen Status: Diese Menschen sind nämlich Deutsche.
Wenn wir über Spätaussiedler reden, meinen wir eine
viel größere Gruppe, zum Beispiel auch Russlanddeutsche und andere. Das Rentenrecht für diese Menschen
hat sich natürlich verändert; das stimmt.
Eine Günstigkeitsprüfung für Deutsche, die aus der
DDR geflohen sind, ausgebürgert worden sind oder aus
welchen Gründen auch immer in die Bundesrepublik gekommen sind, hat mit der Kürzung von Leistungen nach
dem Fremdrentengesetz aber überhaupt nichts zu tun.
Deswegen haben wir Sozialdemokraten ja vorgeschlagen, den Deutschen, die aus der DDR geflohen sind, ausgebürgert worden sind oder Ähnliches, die Möglichkeit
einer Günstigkeitsrechnung zu geben. Das miteinander
zu vermischen, Peter Weiß, ist unredlich.
({0})
Vielen Dank, Kollege Anton Schaaf. - Jetzt, bitte
schön, Peter Weiß.
Herr Kollege Schaaf, wenn ich Ihrer Fragestellung
entnehmen darf, dass Sie der Auffassung sind, dass das
Fremdrentengesetz in der aktuellen Fassung, also mit
den auf 60 Prozent abgesenkten Leistungen, angewandt
werden soll, dann halte ich Ihnen entgegen, dass die
DDR-Übersiedler und DDR-Flüchtlinge sagen werden:
Genau das wollen wir nicht; wir wollen 100 Prozent
nach dem Fremdrentenrecht bekommen. - Denn wenn
sie nur 60 Prozent bekämen, würden sich die Betroffenen, bis auf vielleicht ganz wenige Ausnahmen, allesamt
nach dem Renten-Überleitungsgesetz besser stehen, und
dann gäbe es überhaupt keinen Anlass für die SPD-Fraktion, einen solchen Antrag zu stellen. Er wäre nämlich
schlichtweg unnötig.
({0})
Es wird immer wieder behauptet, dass das, was mit
dem Renten-Überleitungsgesetz gemacht wurde, nicht
rechtens sei. Angesichts dessen ist es bemerkenswert,
dass der 5. Senat des Bundessozialgerichts am 14. Dezember 2011 ein Urteil gefällt hat, in dem er klarstellt,
dass der Gesetzgeber das Recht und auch Anlass hatte,
DDR-Flüchtlinge und DDR-Übersiedler in das RentenÜberleitungsgesetz aufzunehmen, zumal über das
Fremdrentenrecht keine Rentenansprüche erworben werden, denen eigene Einzahlungen zugrunde liegen.
Das oberste Sozialgericht in Deutschland hat also
festgestellt, dass das, was der gesamtdeutsche Gesetzgeber mit dem Renten-Überleitungsgesetz getan hat, voll
und ganz rechtens ist. Deswegen, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, sage ich Folgendes: Bei allem Verständnis
für die DDR-Übersiedler und DDR-Flüchtlinge und ihrem Wunsch, eine bessere Lösung zu finden, die vielleicht auch außerhalb des Rentenrechts liegen könnte,
können wir nicht einfach ein Gesetz beschließen, das das
Problem nicht löst und das auch nur zu neuen Ungerechtigkeiten und zu neuen Problemen führen würde, die uns
alle auf die Füße fallen werden. Daher kann man eine
solche Regelung, wie sie vorgeschlagen wird, schlichtweg nicht beschließen. Es ist den ehemaligen DDRFlüchtlingen damit nicht geholfen.
Sie wollten zum Schluss kommen.
Ja. - Es ist damit dem gesamtdeutschen Rentenrecht
nicht geholfen. Außerdem ist es verfassungsrechtlich
problematisch, ein Gesetz zu machen, von dem man von
vornherein weiß, dass man garantiert zig Prozesse, auch
vor dem Bundesverfassungsgericht, führen muss. Das
sollte man tunlichst unterlassen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der SPD unser
Kollege Ottmar Schreiner. Bitte schön, Kollege Ottmar
Schreiner.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Zunächst einmal
möchte ich an die letzte Bemerkung des Kollegen Weiß
anknüpfen. Herr Kollege Weiß, Sie sagen, Sie wollen
bessere Lösungen. Für bessere Lösungen haben Sie inzwischen Jahr um Jahr Zeit gehabt. Geschehen ist nichts.
({0})
Die Interessenverbände der ehemaligen DDR-Flüchtlinge - hier sitzen Kolleginnen und Kollegen der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge - haben
sich seit Jahren bei allen Parteien, die im Deutschen
Bundestag vertreten sind, um Korrekturen bemüht. Sie
empfinden das, was geschehen ist, als tiefes Unrecht und
als Gegensatz zu rechtsstaatlichem Vorgehen.
Ich will Ihnen den Sachverhalt aus einer etwas anderen Sicht vortragen, Herr Kollege Weiß und liebe Kolleginnen und Kollegen der Union und auch der FDP: Worum geht es? Es geht um ehemalige DDR-Bürger, die
damals entweder über den Weg als politische Flüchtlinge
bzw. als freigekaufte politische Häftlinge oder über ein
oft zermürbendes Ausbürgerungsverfahren in den Westen, in die Bundesrepublik, gekommen sind. Um diese
Menschen geht es.
Nun hat es bis 1989 einen sogenannten Wegweiser
der Bundesregierung für ebendiesen Personenkreis gegeben. Das sind die Übersiedler aus der ehemaligen DDR,
Flüchtlinge, freigekaufte Häftlinge usw. In diesem
„Wegweiser für Flüchtlinge und Übersiedler aus der
DDR“ von 1989, 10. Auflage, steht ein schönes Vorwort
des Bundesinnenministeriums. Herausgeber war der
damalige Bundesinnenminister, nämlich Herr
Dr. Schäuble. In diesem Dokument der Bundesregierung
heißt es unter Punkt 17:
… Übersiedler aus der DDR … werden in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich so behandelt, als ob sie ihr gesamtes Arbeitsleben in der
Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten.
Das ist das zentrale Versprechen der Bundesrepublik
Deutschland an die DDR-Flüchtlinge gewesen.
({1})
Von diesem zentralen Versprechen sind Sie abgerückt.
Zu diesem zentralen Versprechen wollen Sie nicht wieder zurückkehren. Das ist der entscheidende Vorwurf.
Herr Kollege Weiß, Sie haben recht, wenn Sie darauf
hinweisen, dass die Führung des Bundesarbeitsministeriums, wer auch immer diese Führung innehatte, in dieser
Frage keine wirklich offensive Rolle gespielt hat. Das
will ich überhaupt nicht bestreiten. Aber lieber spät als
gar nicht.
({2})
Die Betroffenen - es sind immer noch Hunderttausende - empfinden diesen Vorgang, dieses gebrochene
Versprechen der bundesdeutschen Politik, als zutiefst deprimierend und zutiefst erniedrigend. Es ist aber immer
noch Zeit, dies zu ändern.
Es ist dann geändert worden, aber nicht über das Renten-Überleitungsgesetz von 1991, mit dem versucht
wurde, die beiden Rentensysteme überwiegend auf der
Grundlage des westdeutschen Systems zu vereinheitlichen. Die Rechtsgrundlage, Herr Kollege Weiß, ist im
Jahre 1993 geändert worden, und zwar in Form einer
sehr stark verklausulierten, kleinen Formulierung in einem angeschlossenen Gesetz. Die Interessenverbände
haben Frau Babel angeschrieben - damals die sozialpolitische Sprecherin der FDP -, sie haben den Kollegen
Cronenberg von der FDP - damals Vizepräsident des
Deutschen Bundestages - angeschrieben. Aber niemand
war sich der Tragweite der damaligen Regelungen, die in
verklausulierter, versteckter Form irgendwo untergebracht worden sind, in Wirklichkeit bewusst.
Wenn man nach den Gründen fragt, lieber Kollege
Weiß, wird es wirklich spannend. Sie haben als Berichterstatter des Ausschusses in der Bundestagsdrucksache
17/6390 - das ist das aktuelle Dokument - Folgendes
formuliert:
Die Fraktion der CDU/CSU verwies darauf,
- in den Beratungen dass mit der deutschen Einheit
- jetzt kommt es alle Bürger der ehemaligen DDR Bundesbürger geworden seien. Daher sei es systematisch richtig,
dass sie alle nach dem Renten-Überleitungsgesetz
behandelt würden.
Hier wird mit einem ganz faulen sprachlichen Trick
ein Pseudoargument aufgebaut. Es handelt sich bei den
ehemaligen DDR-Flüchtlingen nicht um Bürger der ehemaligen DDR, es handelt sich bei diesen Flüchtlingen
um Menschen, die jahre- und teilweise jahrzehntelang
Bürger der Bundesrepublik Deutschland waren und die
unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes standen.
({3})
Kollege Ottmar Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Karl Schiewerling?
Herr Kollege Schreiner, Sie sind ja Jurist. Sie haben
seinerzeit im Deutschen Bundestag der Änderung zugestimmt.
({0})
Können Sie bestätigen, dass es in der Rentengeschichte der Bundesrepublik Deutschland immer wieder
wichtige Eckpunkte gegeben hat und dass Feststellungsbescheide nicht identisch mit den zukünftigen Rentenbescheiden sind, weil in ihnen zunächst nur Feststellungen
getroffen werden?
Können Sie zudem zustimmen, dass es zum Beispiel
im Jahre 2005 Rentenänderungen gegeben hat, obwohl
Feststellungsbescheide und Feststellungen vorher anders
gelautet haben? Das galt zum Beispiel für den Bereich
der Anerkennung von Schul- und Hochschulzeiten. Es
gab somit Änderungen im Rentenrecht auch für die Bürgerinnen und Bürger, die nicht aus der DDR geflohen
sind und die schon immer hier gelebt haben. Obwohl der
Feststellungsbescheid vorher etwas anderes ausgesagt
hat, wurden hinterher noch einzelne Punkte geändert.
Stimmen Sie mir zu, dass das im deutschen Rentenrecht
nichts Ungewöhnliches ist und dass auch Menschen, die
hier wohnen, von solchen Änderungen betroffen sind?
Lieber Kollege Schiewerling, Sie versuchen jetzt, das
Problem mit juristischen Spitzfindigkeiten kleinzureden.
({0})
Es handelt sich aber um ein eminent politisches Problem
und nicht um ein Problem, das man mit juristischen
Spitzfindigkeiten lösen kann. Es geht um die Frage, ob
die Bundesrepublik Deutschland in Gestalt ihrer verantwortlichen Politiker Hunderttausende von Menschen betrogen hat. Es geht darum, ob sie ihr Wort gegenüber
denjenigen gebrochen hat, die, wie der Kollege Weiß zu
Recht ausgeführt hat, ein zum großen Teil schweres
Schicksal zu ertragen hatten, die viel gewagt und viel auf
sich genommen haben und die teilweise unter Gefahr für
Leib und Leben ihr Land verlassen haben. Es geht darum, ob es angemessen ist, dieser Gruppe von Menschen
gegenüber das Versprechen, das man gegeben hat, zu
brechen. Es geht nicht um juristische Spitzfindigkeiten
über irgendwelche kleinen Details, sondern es geht um
diese Kernfrage.
({1})
Ich will es noch zuspitzen, Herr Kollege
Schiewerling, weil aus meiner Sicht die Situation aus
dem Blickwinkel der Betroffenen noch viel dramatischer
ist. Bei dem Renten-Überleitungsgesetz haben wir seitens der SPD - das können Sie in den Dokumenten des
Bundestages nachlesen - immer wieder Bestrebungen
der Union zurückgewiesen, strafrechtliche Elemente in
die Sozialgesetzgebung einzuführen. Dieser Versuch ist
seitens der Union mehrfach unternommen worden - gelegentlich erfolgreich. Beispielsweise sind für die sogenannten systemnahen Berufsgruppen - ein typisches
Beispiel ist die Mitarbeit bei der Staatssicherheit - die
Renten gedeckelt worden mit dem überhaupt nicht nachvollziehbaren Argument, dass Menschen aus diesen sogenannten staatsnahen Systemen rentenmäßig bessergestellt werden als die meisten anderen.
Aus diesen Gründen ist gedeckelt worden. Wir haben
Sie davor gewarnt. Wir haben gesagt, dass die deutsche
Sozialgeschichte frei ist von solchen strafenden Elementen. Man muss strikt trennen zwischen der Sozialgesetzgebung auf der einen Seite und der Strafgesetzgebung
auf der anderen Seite. In dieser langen Tradition hat es
lediglich eine einzige Ausnahme gegeben, und zwar
nach 1933.
Die Renten der sogenannten staatsnahen Berufsgruppen sind fast alle auf dem Wege gerichtlicher Korrekturen geändert worden. Im Ergebnis hat das zu der Situation geführt, dass Renten, die aus Stasitätigkeiten
bezogen werden, aufgrund der damaligen Gesetzgebung
und der gerichtlichen Korrekturen zu erheblichen Teilen
höher sind als die nach unten abgestuften Renten von
DDR-Flüchtlingen.
({2})
Das heißt, die Renten der Täter sind höher als die Renten
der Opfer. Das muss doch von den Opfern, die damals
aus welchen Gründen auch immer herüberkamen - es
war die Zeit des Kalten Krieges - und als die großen
Freiheitshelden gefeiert worden sind, als eine tiefe Demütigung empfunden werden. Sie müssen das tiefe Gefühl haben, dass der deutsche Rechtsstaat sie vergessen
hat, dass er sie im Stich lässt und seine Versprechen
nicht einlöst. Darum geht es. Deshalb glaube ich, dass
wir gut beraten wären, das zu ändern.
Herr Dr. Kolb, weil Sie hier anschließend sprechen,
möchte ich darauf hinweisen: Es gibt eine Reihe von Dokumenten zur Position der FDP; ich kann hier Frau
Dr. Babel, Herrn Cronenberg, die amtierende Justizministerin und viele andere mehr zitieren.
({3})
Herr Kollege Schiewerling, ich glaube, es ist nicht zu
spät; wir können das immer noch korrigieren. Es muss
nicht Punkt für Punkt und Komma für Komma der Weg
eingeschlagen werden, den wir Ihnen vorgeschlagen haben. Bei all der Kritik, die ich vom Kollegen Weiß gehört habe, ging es eigentlich - Herr Kollege Weiß, nehmen Sie es mir nicht übel! - um Kinkerlitzchen. Es ist
wirklich keine bewegende Frage, ob man einen Stichtag
im November 1989 oder im Mai 1990 wählt. Man kann
darüber seriös reden, wenn man die Korrekturen im
Grunde will.
({4})
Wenn Sie wirklich die Korrekturen wollen, dann kriegen
wir das korrigiert. Sie müssen das nur wollen. Mein Eindruck ist eher, dass Sie Vorwände suchen, um das Thema
möglichst aus dem Feuer zu holen.
Es war schwierig genug - ich kann das hier einmal sagen -, überhaupt eine Plenardebatte zu dem Thema hinzubekommen. Sie hatten ein fundamentales Interesse daran, dass das Thema irgendwann in die Abendstunden
verschoben wird, dass möglichst alles zu Protokoll gegeben wird und eben keine Debatte bei Tageslicht stattfindet. Das entspricht nicht der Bedeutung dieses Themas
und den Erwartungen der Betroffenen.
Herr Kollege Weiß, ich will noch eine Anmerkung
machen. Sie haben in Ihrem Bericht einen zweiten
Grund angegeben: Wenn wir hier eine Regelung träfen,
könne dies ein Präzedenzfall sein; andere Gruppen könnten dann ihre Rentenansprüche korrigiert wissen wollen. Von einem Präzedenzfall kann überhaupt keine Rede
sein, weil es sich um eine völlig andere Rechtsstruktur
handelt. Es geht hier um Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, denen ein Versprechen gemacht wurde. Bei allen anderen Gruppen ist das nicht so.
({5})
Deshalb ist der Hinweis, dass da eventuell millionenoder milliardenschwere Zusatzkosten entstehen, regelrecht an den Haaren herbeigezogen, lieber Kollege Weiß.
Auch darüber kann man in Ruhe reden.
Insofern meine ich: Wenn auf Ihrer Seite der politische Wille vorhanden wäre, hier wirklich zu einer vernünftigen Korrektur zu kommen, zugunsten von Menschen, die es wirklich verdient hätten, dann könnten
Änderungen erfolgen; ich brauche nicht zu wiederholen,
was ich gesagt habe. Aber es ist nichts anderes als Heuchelei, wenn Ihren Worten keine Taten folgen.
({6})
Deshalb fordern wir Sie auf: Bekennen Sie sich dazu!
Sagen Sie zu, dass wir das in absehbarer Zeit korrigieren!
Im Übrigen liegen dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages entsprechende Petitionen vor.
Wir können das Thema also, wenn die Debatte heute
Abend beendet ist, im Rahmen der Behandlung der Petitionsbegehren weiter verfolgen und es, wenn Sie denn
wollen, möglichst zeitnah zu einem vernünftigen Abschluss bringen. - Herr Präsident, es haben sich mehrere
Kollegen zu einer Zwischenfrage gemeldet; sie sind jetzt
ganz munter geworden.
Ja. Ich wollte zwischen Ihre Sätze kommen.
Ach so! Ich versuche, das in der knappen Zeit möglichst angemessen auszuführen.
Das war aber schwierig, weil Sie beim Reden aufs
Atemholen verzichtet haben. - Jetzt möchte Ihnen der
Kollege Weiß eine Frage stellen.
Herr Kollege Weiß, bitte.
Bitte.
Herr Kollege Schreiner, da Sie dem Parlament wesentlich länger angehören als ich, kennen Sie die Usancen des Parlaments. Die Behauptung, wir hätten diese
Debatte in den Abend verschoben, fällt doch auf Sie selber zurück. Denn die Oppositionsfraktionen können
selbstverständlich auch für die Kernzeiten, etwa für den
Donnerstagmorgen, die von ihnen gewünschten Punkte
anmelden. Die Frage ist: Warum hat die sozialdemokratische Fraktion dieses Thema nicht für einen früheren
Tagesordnungspunkt angemeldet? Dann wäre das Thema
ohne Widerspruch von uns zu einer früheren Uhrzeit diskutiert worden.
Zweitens. Sie haben im Gegensatz zu mir, der ich erst
1998 ins Parlament gewählt wurde, an der entsprechenden Gesetzgebung mitgewirkt und sagen jetzt, dass hier
ein Versprechen gebrochen worden sei. Dann frage ich
Sie, Herr Kollege Schreiner: Warum haben Sie, um es
mit Ihren Worten zu sagen, ein Versprechen gebrochen?
Das habe ich erklärt.
Sie haben an dieser Gesetzgebung mitgewirkt. Können Sie uns erklären, warum in den Zeiten, in denen Sozialdemokraten das zuständige Bundesministerium für
Arbeit und Soziales geführt haben, keine Gesetzesinitiative seitens der Regierung mit dem Ziel einer Korrektur
ergriffen wurde?
({0})
Das würde uns wirklich interessieren.
Ich glaube, ich habe eben sehr ausdrücklich gesagt,
dass bei diesen Fragen unabhängig von der jeweiligen
politischen Führung des Ministeriums geblockt worden
ist.
({0})
Gleichzeitig habe ich aber gesagt: Es ist nicht zu spät.
Die Betroffenen und ihre Verbände sind nach wie vor
sehr rührig. Ich weiß, dass sie auch bei Ihnen häufig präsent sind, dass sie bei Ihrem Fraktionsvorsitzenden und
Ihrem Arbeitsgruppensprecher präsent sind. Sie sind
nach wie vor richtig dabei. Ich kann nachvollziehen,
dass die Empörung aufgrund des dargestellten Sachverhalts riesengroß ist. Es geht ihnen in erster Linie wohl
gar nicht um das Geld. Es geht ihnen um die Wiederherstellung von Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat.
Das ist ihr Kernmotiv. Das können wir wieder heilen,
das können wir reparieren, wenn wir denn wollen.
({1})
Ich war damals übrigens bei der Verhandlungsgruppe
zum Renten-Überleitungsgesetz dabei. Ich habe damals
alle Höhen und Tiefen mit dem Kollegen Dreßler und
der Kollegin Regine Hildebrandt miterlebt. Als Minderheit hatten wir häufig versucht, manches zu korrigieren.
Das ist nur in sehr geringen Teilen gelungen; denn es
hieß: Mehrheit ist Mehrheit. Zu der hier in Rede stehenden Frage gab es keine Plenardebatte; es gibt überhaupt
keine Hinweise, in welcher Form diese Veränderung
1993 durch das Parlament gebracht worden ist.
Ich habe eben darauf hingewiesen, dass die Interessenverbände unter anderem meine damalige Kollegin,
Frau Dr. Gisela Babel - ich war Anfang der 90er-Jahre
sozialpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion -,
angeschrieben haben. Man konnte von ihr halten, was
man wollte, aber sie war eine sehr standfeste, prinzipientreue Frau,
({2})
allerdings leider Gottes bei der falschen Firma, nämlich
bei der FDP. Aber es war eine Frau, auf die man sich
verlassen konnte.
({3})
Sie hat den Interessenverbänden in einem Schreiben
an einen Bürger vom 18. April 2004 dargelegt:
Es kommt also viel zusammen und ich kann gut
verstehen, dass Sie auf Grund all dieser Vorkommnisse Zweifel an der Demokratie und am Rechtsstaat hegen.
So Frau Dr. Babel. - Ich würde von den Kollegen der
FDP heute solch ein Bekenntnis zur soliden Rechtsstaatlichkeit auch gerne hören.
Sie schreibt auch:
Das Renten-Überleitungsgesetz sollte Rechtseinheit
… bringen. … Das Fremdrentengesetz beruhte auf
dem politisch gewollten Grundsatz, dass den über
den Eisernen Vorhang Geflohenen eine Alterssicherung gewährt werden sollte. Diese beiden Tatbestände hätten weiter nebeneinander bestehen bleiben können und müssen.
Es hat nicht den geringsten Zwang gegeben, das zu
vereinheitlichen. Was Sie in Ihrem Bericht geschrieben
haben - ich habe es eben formuliert -, entspricht nicht
im Geringsten dem Sachverhalt. Es geht nicht um Bürger der ehemaligen DDR, sondern es geht um Bürger,
die jahrzehntelang in der Bundesrepublik Deutschland
leben. Da kann man doch nicht einfach Äpfel mit Birnen
vergleichen. Genau das machen Sie.
({4})
- Was?
({5})
Herr Kollege Schreiner, der Kollege Vaatz würde Ihnen gern auch noch eine Zwischenfrage stellen. Lassen
Sie sie zu? Das ist die letzte, die ich jetzt zulasse, weil
Sie am Ende Ihrer Redezeit sind.
({0})
Ich hoffe, Sie machen jetzt keinen Volkshochschulkurs.
Herr Kollege Schreiner, ich habe eine Frage zum
staatsrechtlichen Status, den Sie herausgearbeitet haben.
Sie haben gesagt, dass die Flüchtlinge aus der DDR als
Bürger der Bundesrepublik Deutschland einen anderen
staatsrechtlichen Status gehabt hätten als die in der DDR
verbliebenen Menschen, die 1990 im Zusammenhang
mit der Wiedervereinigung in die Bundesrepublik gekommen sind.
({0})
Sie sagen, die im Westen hätten unter der Fürsorge des
Grundgesetzes gestanden.
Ich frage Sie: Ist es nicht der Tatsache zu verdanken,
dass der Begriff „alle Deutsche“ sich in etwa fünf oder
sechs Artikeln der ersten 20 Artikel des Grundgesetzes
findet, dass die damaligen DDR-Bürger genauso in die
Fürsorgepflicht des Grundgesetzes gestellt worden sind,
allerdings mit dem Unterschied, dass das Grundgesetz
gehindert war, für diese DDR-Bürger zu wirken, solange
sie in der DDR davon abgeschottet waren?
({1})
Herr Kollege Vaatz, ich will hier nicht den Eindruck
entstehen lassen, als ob mit dieser Argumentation ehemalige DDR-Bürger diskriminiert werden würden. Das
ist mitnichten der Fall. Der Unterschied ist ein ganz einfacher: In dem Augenblick, in dem die politischen
Flüchtlinge den bundesdeutschen Boden betreten hatten,
wurden sie eingegliedert; sie galten also ab sofort als
Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland. Mit dieser neu erworbenen Staatsbürgerschaft
({0})
wurde das eben zitierte Versprechen der deutschen Politik verbunden, Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz für Berechnungen zugrunde zu legen, das heißt,
ihre Arbeitsbiografie in der DDR wird so gewertet, als
ob sie in der Bundesrepublik Deutschland abgeleistet
worden wäre. Über die Gründe für diese Regelung mag
man sich streiten. Es ist jedenfalls die Regelung, auf die
sich Hunderttausende von Betroffenen verlassen konnten und verlassen mussten.
Das war bei der Einheit eine rechtlich völlig andere
Situation. Der ehemaligen DDR-Bevölkerung ist überhaupt nichts versprochen worden, was Rentenanwartschaften anbelangt,
({1})
sondern es ging darum, ein Rentensystem aus dem Boden zu stampfen, das auch den Bürgerinnen und Bürgern
der DDR gerecht werden konnte. Ich glaube, dass das
nach monatelangen Gesprächen und Verhandlungen zwischen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der sozialdemokratischen Fraktion im Großen und Ganzen
auch gelungen ist. Es ist eine Lösung gefunden worden,
die in der Anfangsphase der deutschen Einheit befriedend wirken konnte.
Aber die Rechtsgrundlagen waren völlig andere. Deshalb vergleicht der Kollege Weiß, der am Anfang seiner
juristischen Bemühungen ist, hier leider Äpfel mit Birnen und kommt dann zu diesen Fehlorientierungen.
Wenn Sie, Herr Kollege Vaatz, bereit wären, in der
nächsten Zukunft den Gedanken des Kollegen Weiß und
hoffentlich mehrerer anderer Ihrer Fraktion, hier alsbald
zu einer vernünftigen Lösung zu kommen, mitzutragen,
wäre viel gewonnen. Deshalb im Vorhinein: Herzlichen
Dank und viel Glück bei der Mitarbeit bei diesem außerordentlich schwierigen und sensiblen Thema!
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schreiner, auch wenn meine Redezeit begrenzt ist,
kann ich das, was Sie heute hier an Schauspiel geboten
haben, nicht unkommentiert lassen.
({0})
Herr Kollege Schaaf, wir sind nicht nur beim Thema
Rente, sondern auch bei anderen sozialpolitischen Themen einiges von Ihnen gewohnt, was die Flexibilität und
Wendigkeit anbelangt.
({1})
Aber ich finde, jemand, der neun Sterne im Handbuch
des Deutschen Bundestages hat, also diesem Haus neun
Legislaturperioden angehört,
({2})
und auch an entscheidender Stelle gewirkt hat in Phasen,
in denen die Möglichkeit bestanden hätte, etwas zu tun,
kann sich heute nicht hier hinstellen und so eine Rede
halten, wie Sie es getan haben, Herr Kollege Schreiner.
Das geht nicht.
({3})
Das ist aus meiner Sicht ein neues, für mich jetzt das erschütterndste Beispiel von Geschichtsvergessenheit, was
Sie hier abgeliefert haben. Das kann ich nicht anders
sagen.
({4})
Alle Fakten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, die Sie hier vorgetragen haben, lagen in der Zeit
von 1998 bis 2009 schon genauso vor. Sie müssen sich
persönlich fragen - das müssen sich natürlich auch diejenigen, die in der Zeit Verantwortung hatten, fragen lassen -, warum Sie nicht gehandelt haben.
({5})
- Dazu komme ich ja noch. - Das müssen Sie sich vorhalten lassen.
({6})
- Wie Sie sich hier aufregen, zeigt ja nur, dass das genau
der Stich ins Wespennest ist, Herr Schreiner.
({7})
Sie wollen hier jetzt opportunistisch vorgehen. Aber
in Zeiten, in denen Sie hätten handeln können, haben Sie
es nicht getan. Das werfe ich Ihnen vor.
Es ist auch so, dass das nicht nur unter einem Minister
so war. Manchmal kann es ja sein, dass da jemand in der
Verantwortung ist, der sagt, er mache das nicht mit. Es
ist in den elf Jahren Ihrer Regierungszeit nicht nur ein
Minister am Wirken gewesen ist, sondern es hat fünfmal
die Möglichkeit gegeben, einen Anlauf in dem Sinne zu
unternehmen, wie es heute von Ihnen hier vorliegt,
({8})
und zwar bei Clement, bei Müntefering, bei Riester, bei
Scholz.
({9})
- Nein! - Bei allen hätte das geschehen können. Für die
Grünen gilt das genauso. Die sind da ja nicht besser; Sie
vielleicht schon.
({10})
- Nein, nein. - Also, die Grünen hätten in ihrer immerhin siebenjährigen gemeinsamen Regierungszeit - da
können Sie sich nicht mit dem Koalitionspartner herausreden - auch Gelegenheit gehabt, hier etwas zu tun.
Das wollte ich vorab einmal deutlich feststellen.
Dann will ich Folgendes sagen: Das Thema, das wir
heute diskutieren, ist sicherlich eines der schwierigsten
und auch unbefriedigendsten. Das räume ich ein. Ich beschäftige mich seit etwa zehn Jahren mit dem Thema
und muss sagen: Es gibt aus meiner Sicht keine Lösung,
jedenfalls keine Lösung im Sinne dessen, was heute hier
vorgeschlagen worden ist, um das Problem zu lösen;
denn - das hat der Kollege Weiß, denke ich, zu Recht
und auch klar herausgearbeitet - eine Stichtagsregelung
führt am Ende zu neuen Ungerechtigkeiten.
({11})
Sie können möglicherweise denen helfen, die uns in
den letzten Jahren sehr intensiv auf dieses Thema hingewiesen haben. Aber es ist unvermeidlich, dass Sie neue
Fragen aufwerfen.
({12})
Das würde dazu führen, dass der nach höchstrichterlichen Entscheidungen jetzt eingekehrte Rechtsfrieden, jedenfalls vor den Gerichten, wieder aufgebrochen würde
und dass wir eine neue Klagewelle in diesem Bereich erleben würden. Das halte ich nicht für zielführend.
({13})
Deswegen haben wir einen anderen Lösungsansatz
verfolgt - Sie kennen ihn; wir haben ihn mit Anträgen
hier im Deutschen Bundestag eingebracht -, nämlich
den Lösungsansatz eines Nachversicherungsangebots,
der unverändert im Raum steht und der die Nachteile Ihrer Lösung vermeidet.
({14})
- Nein, er ist nicht unsolide. Es ist ein Angebot an alle
Versicherten. Es ist eine individuelle Entscheidung, ob
man dieses Angebot annehmen will. Ich habe immer
deutlich gemacht, dass sich dieses Angebot nicht nur an
eine Gruppe der Betroffenen richtet, sondern auch an andere Gruppen, deren Situation natürlich nicht vergleichbar ist mit der Situation der DDR-Flüchtlinge und der
Frühübersiedler. Dieses Angebot wollten wir allen unterbreiten. Wir haben in diesem Haus aber keine Mehrheit
dafür gefunden.
({15})
Wenn Sie sagen, dass es nicht zu spät ist, dann gebe
ich Ihnen recht. Sie sind aufgefordert, auf den von uns
vorgeschlagenen Weg einzuschwenken. Dieser Weg ist
der einzige, der in rechtlicher Hinsicht befriedigend ist,
weil er keine neue Prozesslawine in diesem schwierigen,
verminten Gelände hervorrufen würde.
({16})
- Bitte?
({17})
- Herr Kollege Schreiner, diese Art von Zwischenrufen
zeigt nur, wie ernst Sie dieses Thema nehmen. Ich finde
das, was Sie dazwischengerufen haben, peinlich.
({18})
Das wird der Sache wirklich nicht gerecht.
Der Herr Kollege Schaaf möchte, glaube ich, eine
Zwischenfrage stellen. Will er, oder will er nicht?
Der Herr Kollege Schaaf würde gerne eine Zwischenfrage stellen, Herr Kolb.
Ja.
Bitte schön.
Ich danke Ihnen, Herr Kolb, und ich danke Ihnen,
Herr Präsident, dass Sie diese Zwischenfrage noch zulassen. - Herr Kolb, ich würde Sie gerne fragen: Wann
sagen Sie endlich etwas zum Thema? Langsam finde ich
das, was Sie da gerade betreiben, wirklich nur noch peinlich.
({0})
Sie umschiffen das Thema. Wir haben hier eine Fallgruppe, die mit anderen sicherlich nicht vergleichbar ist.
Diese Gruppe ist in sich aufgespalten, und zwar aufgrund eines nachträglich in das Rentenrecht eingefügten
Stichtages. Den Betroffenen ist noch nicht einmal bekannt gegeben worden, dass aufgespalten wurde.
({1})
So läuft das Spiel. Diese Gruppe ist nicht vergleichbar
mit irgendeiner anderen Gruppe. Nun sagen Sie, dass die
FDP den klugen Vorschlag gemacht hat, dass sich die
Betroffenen nachversichern können. Was Sie da machen,
ist Folgendes: Ein kollektives Versprechen der Bundesrepublik Deutschland an die Betroffenen wollen Sie individualisieren und privatisieren. Genau das wollen Sie
machen.
Wir Sozialdemokraten haben eine Idee entwickelt.
Diesen Vorschlag - Einführung eines neuen Stichtages muss man ja nicht unterstützen. Es hat auch ein wenig
gedauert, bis wir diese Idee hatten.
Das kann man wohl sagen.
Das können Sie Ottmar Schreiner, mir und der Sozialdemokratie in Gänze vorwerfen. Sie aber haben außer
der Individualisierung überhaupt keine Idee zur Lösung
dieses Problem.
({0})
Herr Kollege Schaaf, ich habe unsere Position hier
sehr wohl deutlich gemacht. Der Vorteil unserer Position
ist: Es ist die gleiche, die wir hier schon seit Jahren vortragen. Wir sagen: Bei einem solchen Problem, bei dem
man durch rückwirkende Rechtsänderung keine befriediDr. Heinrich L. Kolb
gende Lösung herbeiführen kann - das gilt insbesondere
angesichts verschiedener Rechtsstände im Bereich des
Rentenrechtes -, ist es die beste Lösung, den Menschen
dadurch gerecht zu werden, dass man ihnen Leistungen
zukommen lässt. Wir schlagen vor, dass dies auf dem
Wege der Nachversicherung geschieht. Ich habe schon in
vergangenen Debatten die Nachversicherung als Lösung
vorgeschlagen. Es ist ja nicht so, dass ich heute im Deutschen Bundestag zum ersten Mal die Nachversicherung
vorschlage. Deshalb wundert es mich etwas, wenn Sie
sagen, wir hätten damit hinterm Berg gehalten. Nein, wir
haben immer gesagt: Wir wollen dieses Nachversicherungsangebot zu günstigen Bedingungen. Dabei muss
auch ermittelt werden, zu welchen Bedingungen die Versicherung in der DDR damals möglich gewesen wäre.
Das wäre - wir haben das berechnet - ein durchaus interessantes Angebot für die Versicherten gewesen.
Man kann es nicht so machen, wie Sie es vorschlagen.
Sehen Sie uns diese Feststellung nach. Man kann nicht
rückwirkend teilweise Fremdrentenrecht zur Anwendung bringen. Das ist keine wirklich zielführende Lösung.
Wir haben das immer gesagt, und wir sagen das auch
weiterhin. Das ist der Unterschied zwischen SPD und
FDP. Sie haben in diesem Hohen Haus in der Vergangenheit mit keinem Wort das vorgeschlagen, was Sie heute
als das Nonplusultra präsentieren. Deswegen sind Sie
unglaubwürdig. Das, was Sie hier tun, ist opportunistisch. Sie können nicht davon ausgehen, dass wir zu diesem opportunistischen Handeln die Hand reichen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat für die Fraktion Die Linke die Kollegin
Martina Bunge.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir müssen uns heute mit der Rente für die Menschen,
die aus der DDR geflüchtet oder ausgereist waren oder
von den Behörden abgeschoben worden waren, beschäftigen, weil sie zu einem komplizierten Problem geworden ist.
({0})
Eigentlich war die Situation ziemlich übersichtlich.
All diejenigen, die vor 1989 nach persönlichem Bruch
mit dem System, nach Diskriminierungen, Schikanen
und teilweise Gefängnisaufenthalten aus der DDR in die
Bundesrepublik kamen, wurden mit offenen Armen
empfangen. Weil diese Vorgänge hier anscheinend nicht
in allen Reihen bekannt sind, möchte ich sie im Detail
erläutern.
Da die Verantwortlichen der Bundesrepublik nie die
DDR-Staatsbürgerschaft anerkannt hatten, war die sofortige Ausstellung eines bundesdeutschen Personalausweises kein Problem. Auch das gelebte Leben wurde für die
Rente so bewertet, als wäre die berufliche Tätigkeit in
der Bundesrepublik absolviert worden. Die Anwartschaften wurden also nach dem sogenannten Fremdrentenrecht gespeichert. Diejenigen, die bis Mitte der 90erJahre in Rente gingen, erhielten ihre Rente auf dieser
Basis.
Von vielen Betroffenen und auch Abgeordneten unbemerkt - ich kann dies bestätigen; ich war damals Mitarbeiterin der PDS im Deutschen Bundestag - kam es
1993 zu einer klitzekleinen Gesetzesänderung - ein
Halbsatz -, die dazu führte, dass das Renten-Überleitungsgesetz von 1991, das bekanntlich die DDR-Ansprüche der Alterssicherung überleitet, auch auf diejenigen übertragen wurde, die lange vor 1989 aus der DDR
in die Bundesrepublik übergesiedelt waren. De facto
heißt das, dass die Geflüchteten, Ausgereisten und Abgeschobenen wieder zu DDR-Bürgern gemacht wurden,
({1})
zumindest rentenrechtlich.
({2})
- Natürlich! - Das ist ein fragwürdiges Konstrukt.
({3})
Unsere Auffassung ist: Rechtssituationen kann man
nicht nach Zweck und nicht nach Anlass wechseln. Das
ist Willkür.
({4})
Diese Personen waren zum Zeitpunkt ihres Übertritts
eindeutig Bundesbürgerinnen und Bundesbürger mit allen Konsequenzen; dies kann nicht nachträglich umgewandelt werden.
Kollege Schiewerling, damals, nachdem diese Gesetzesänderung gemacht worden war, hat keiner der Betroffenen eine Information mit einem anderen Feststellungsbescheid erhalten. Das erleben sie heute peu à peu, wenn
sie in Rente gehen. Aus Gesprächen weiß ich, dass sie
sich wiederum verletzt fühlen. Sie fühlen sich ein weiteres Mal enttäuscht, und zwar von einem Staat, von dem
sie das nicht erwartet hätten, dem sie vertraut hatten.
({5})
Deshalb unterstützen wir die Anträge der SPD und der
Bündnisgrünen.
Damit lösen wir auch ein Versprechen ein, das wir der
Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge
e. V. bei einem Kontakt gegeben haben. Wir haben ver18626
sprochen, nicht allein vorzupreschen. Das ist der Grund,
weshalb die Linke in der Sache nichts gemacht hat.
({6})
Wir haben ein gemeinsames Agieren bevorzugt. Leider
haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, uns bei der Antragstellung
nicht gefragt, obwohl wir Ihnen dieses Begehr übermittelt hatten. Wir werden diesen Anträgen aber zustimmen.
Es geht uns hier um die Betroffenen.
Deshalb appelliere ich auch an die Damen und Herren
der Regierungsfraktionen: Überdenken Sie Ihre ablehnende Haltung. Stehen Sie zu dem, was Sie immer wieder bekunden: Solidarität mit den Flüchtlingen aus der
DDR. Das tun Sie bisher nur mit Worten und nicht mit
Taten.
({7})
Wenn Sie das jetzt nicht tun, laufen Sie Gefahr, zum
Heuchler zu werden. Ich denke, das sollte sich das Parlament nicht antun.
Ich danke.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
wollte eigentlich eine sehr sachliche Rede halten, die angemessen ist. Aber ich muss sagen: Das, was die Union
hier abliefert, ist ein absolutes Trauerspiel.
({0})
Ich fasse es kaum. Es geht nach dem Motto: Wer will,
findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe. - Sie zaubern permanent irgendwelche Gründe aus dem Hut, warum alle vorgeschlagenen Lösungen nicht gehen. Machen Sie endlich einmal etwas!
({1})
Wenn Sie unsere Vorschläge kritisieren: Legen Sie doch
selbst etwas vor! Die Menschen warten auf Lösungen
und nicht auf irgendwelche Hirngespinste und wahnsinnigen Gründe.
({2})
- Ich kann das wiederholen: SPD und Grüne haben in
der damaligen Situation parallel gedacht. Das ist auch
dieses Mal so.
Eigentlich wollte auch ich meine Rede mit einem
Hinweis auf den schönen Wegweiser, von dem schon die
Rede war, beginnen. Auch ich lese Ihnen vor, was darin
geschrieben steht - der Kollege Schreiner hat das schon
getan -:
Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR oder Berlin ({3}) werden in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich so behandelt, als ob sie ihr
gesamtes Arbeitsleben in der Bundesrepublik
Deutschland zurückgelegt hätten.
Das war ein politisches Versprechen, das wir den
Menschen, die in den Westen gekommen sind, damals
gegeben haben. Dieses Versprechen ist später gebrochen
worden, und es wird immer noch gebrochen. Es ist an
der Zeit, das endlich zu ändern.
({4})
Es ist eine Ungeheuerlichkeit, dass ausgerechnet die
Menschen, die vor der DDR geflohen und in den Westen
gekommen sind, durch die Wiedervereinigung benachteiligt werden. Das ist eine solche Ungeheuerlichkeit,
dass mich wirklich erschreckt, dass die Union hier nichts
unternehmen will.
Weil die ganze Geschichte so unsäglich ist, haben wir
ein ungewöhnliches Verfahren gewählt. Wir wollten ursprünglich zusammen mit der SPD einen Antrag einbringen. Die SPD war dann schneller. Wir standen vor der
Entscheidung: Unterstützen wir diesen Antrag einfach
nur, oder stellen wir einen wortgleichen Antrag, um zu
unterstreichen, welche Bedeutung dieses Thema für die
Betroffenen hat?
({5})
Diesen Weg sind wir gegangen.
Ich fand die Idee des Kollegen Schaaf, die Stichtagsregelung anzuwenden, sofort sehr gut und sehr nachvollziehbar. Wir haben das dann mit unseren Juristen abgeklärt; das hat ein bisschen gedauert. Auch sie haben
gesagt: Das ist juristisch haltbar. - Wenn Sie anderer
Meinung sind: Machen Sie es besser! Aber machen Sie
irgendetwas!
({6})
Der Musterbrief von Herrn Schiewerling und Peter
Weiß strotzt nur so vor juristischen Feinheiten, die für
die Betroffenen völlig irrrelevant sind.
({7})
Darin stehen sehr schöne Sätze. Es heißt, dass man den
Betroffenen irgendwie helfen will und dass man Verständnis für sie hat. Aber heute hat man gemerkt: Sie
wollen den Menschen überhaupt nicht helfen. Sie haben
nicht einmal ansatzweise dargestellt, was getan werden
könnte. Ich muss sagen: Ich bin wirklich fassungslos und
weiß kaum, was ich sagen soll.
({8})
Schließen möchte ich, indem ich aus dem Schluss des
Vorworts des erwähnten Wegweisers zitiere. Da heißt es:
Verlieren Sie bitte nicht die Geduld, wenn hier und
da einmal etwas nicht so reibungslos läuft, wie Sie
erhofft hatten.
({9})
Manches Warten und manche Schwierigkeiten werden sich nicht vermeiden lassen. Aber machen Sie
dennoch von Ihren Rechten Gebrauch.
Das haben die Menschen getan.
Sie können dabei stets auf die verständnisvolle und
sachverständige Unterstützung der für Ihre Belange
zuständigen Stellen rechnen.
Für viele DDR-Flüchtlinge klingt das mittlerweile
wie ein Hohn, genau wie das, was Sie auch heute wieder
von sich gegeben haben.
({10})
Die Betroffenen warten schon viel zu lange.
Der Vorschlag von SPD und Grünen liegt auf dem
Tisch. Wenn Sie ihn nicht gut bzw. problematisch finden: Machen Sie es besser! Finden Sie nicht wieder irgendwelche Gründe, die gegen unseren Vorschlag sprechen! Ich bin davon überzeugt, dass auch der Kollege
Lange gleich nur sagen wird, was an unserem Vorschlag
nicht geht. Sagen Sie, was geht! Geben Sie den Leuten
wenigstens ein Stück weit Hoffnung.
Wir sind gerne bereit, konstruktive Verhandlungen zu
führen. Wir haben unsere Anträge vor fast einem Jahr,
im Frühjahr/Frühsommer 2011, eingebracht und Ihnen
viel Zeit gegeben, in einen konstruktiven Dialog mit uns
zu treten. Es ist nichts, aber auch gar nichts passiert.
Auch in Ihrem Musterbrief wird nur argumentiert, warum unser Vorschlag nicht geht. Legen Sie endlich eigene Vorschläge vor! Tun Sie etwas! Sie sind an der Regierung. Wir machen im Sinne der Betroffenen gerne
mit. Die haben es nämlich wirklich nötig.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schreiner, zum Thema Sachlichkeit brauche ich bei
Ihrem Vortrag heute nichts mehr zu sagen. Opportunistischer und heuchlerischer geht es nicht. Dazu kann man
wirklich nichts mehr sagen.
({0})
Ich habe in Kürschners Volkshandbuch erst einen
Stern für die Dauer meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag, Sie haben, wie wir gehört haben, neun
Sterne, aber Sie haben die lange Zeit, für die Sie diese
neun Sterne bekommen haben, nicht positiv nutzen können, um das umzusetzen, von dem Sie jetzt plötzlich
glauben, dass es richtig ist.
({1})
Wenn es nach Ihnen, dem treuen Vasallen von
Lafontaine, gegangen wäre, dann hätten wir das Problem
natürlich nicht; denn dann hätten wir nicht einmal die
Wiedervereinigung. Hier müssen Sie die Kirche doch
bitte einmal im Dorf lassen.
({2})
Herr Schreiner, fangen Sie selber mit der Sachlichkeit
an, bevor Sie darüber reden.
({3})
Liebe Frau Kollegin Bunge, Sie haben in der DDR
Marxismus-Leninismus studiert.
({4})
Vor diesem Staat sind die Menschen in die faire Bundesrepublik Deutschland geflohen, und sie haben dort von
der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat, auch ein faires Rentenangebot bekommen. Nach Ihrem Willen wäre
es so natürlich nicht gekommen.
({5})
Herr Strengmann-Kuhn, wo waren denn Ihre Gesetzentwürfe in den sieben Jahren Rot-Grün? Herr Schreiner,
bei Ihnen waren es elf Jahre.
({6})
Es ist völlig egal, zu welcher Tageszeit sie geführt wird:
Diese Debatte ist opportunistisch.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Übersiedler und
Flüchtlinge aus der DDR wurden in der Bundesrepublik
bis zur Maueröffnung nach dem Fremdrentengesetz bewertet und originären Bundesbürgern gleichgestellt.
({8})
Im Rahmen des Renten-Überleitungsgesetzes kam es
dann zu Neubewertungen.
({9})
Diese Rentenminderungen werden ja zum Teil auch
nicht bestritten. Ihr Argument des Vertrauensschutzes,
den Wegweiser von 1989, den Sie vorlegen, gab es zum
Antritt Ihrer Regierung im Jahre 1998 aber auch schon.
({10})
Warum haben Sie das damals nicht gelesen und entsprechend gehandelt? Der Einstieg, den Sie hier gewählt haben, ist nicht überzeugend, sondern er ist unglaubwürdig
und unfair.
({11})
Wir alle wissen: Die Schaffung eines Vertrauensschutzes im Rentenrecht ist ein äußerst schwieriges Problem. Jeder weiß, dass auf jedem Rentenbescheid, den
man während der Beschäftigungsphase bekommt - so ist
das auch bei meinem -, „Unter Vorbehalt“ steht. Keine
Rentenauskunft ist endgültig und bestandskräftig.
({12})
- Ja, natürlich, „langweilig“. - Wir alle haben das bei der
Umstellung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre
erlebt.
({13})
Auch dadurch gab es natürlich Änderungen hinsichtlich
des Vertrauensschutzes.
Die wesentlichen Punkte hat Ihnen der Kollege Weiß
schon genannt.
({14})
Weder Herr Schreiner noch Herr Strengmann-Kuhn
muss hier jetzt den Empörten spielen. Wo waren Ihre
Vorschläge?
({15})
Ja, wir hätten gerne eine optimale Regelung gefunden. Der Kollege Weiß hat das auch schon deutlich angesprochen. Wir haben mit vielen Interessenverbänden und
Fachbehörden gesprochen. Die beste Lösung, eine echte,
individuelle Rentengerechtigkeit, die wir alle gerne hätten, wird es - das werden wir uns eingestehen müssen am Ende des Tages nirgends geben.
Ich fasse zusammen: Insgesamt haben wir eine gute
und faire Lösung gefunden.
({16})
- Lieber Kollege Schreiner, das sage ich Ihnen hier noch
einmal ganz deutlich: Die Bundesrepublik Deutschland
hat eine faire und ausgewogene Sozialgeschichte.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/6390.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5516 mit dem Titel
„DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor Rentenmin-
derungen schützen - Gesetzliche Regelung im SGB VI
verankern“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf der Drucksache 17/6108 mit dem Titel „DDR-
Altübersiedler und - Flüchtlinge vor Rentenminderun-
gen schützen - Gesetzliche Regelung im SGB VI veran-
kern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht ({0}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann ({1}),
Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abi-
tur gewährleisten
- Drucksache 17/8450 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase,
Klaus Barthel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gleichwertigkeit von Berufsbildung und
Abitur sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Deutschen Qualifikationsrahmen zum Er-
folg führen - Gleichwertigkeit von Abitur
und Berufsabschlüssen sicherstellen
- Drucksachen 17/7957, 17/8352, 17/8490 -
Berichterstattung:
Abgeorndete Uwe Schummer
Willi Brase
Agnes Alpers
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es
handelt sich um die Beiträge von Dr. Thomas Feist,
CDU/CSU, Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
SPD, Heiner Kamp, FDP, Agnes Alpers, Die Linke, Kai
Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, und dem Parlamenta-
rischen Staatssekretär Dr. Helge Braun für die Bundesre-
gierung.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8450 mit
dem Titel „Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abi-
tur gewährleisten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktionen der SPD und der Grünen bei
Enthaltung der Linken.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung auf Drucksache 17/8490. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/7957 mit dem Titel „Gleichwertigkeit von Be-
rufsbildung und Abitur sichern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
1) Anlage 10
die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und der
Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8352 mit dem Titel „Deutschen
Qualifikationsrahmen zum Erfolg führen - Gleichwertigkeit von Abitur und Berufsabschlüssen sicherstellen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Linken und der Grünen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({3})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über
Leitlinien der Union für den Aufbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes
KOM({4}) 650 endg.; Ratsdok. 15629/11
- Drucksachen 17/7918 Nr. A.18, 17/8484 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Arnold Vaatz
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-
len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden der Kollegen Vaatz, CDU/CSU, Lange, eben-
falls CDU/CSU, Burkert, SPD, Simmling, FDP,
Behrens, Linke, und Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 17/8484 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über
Leitlinien der Union für den Ausbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß
Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen gegen die Stimmen der Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({5}) zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Neue Impulse für die Sportbootschifffahrt
- Drucksachen 17/7937, 17/8482 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Dieser Punkt soll debattiert werden. Nach einer inter-
fraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine
2) Anlage 9
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Hans-Werner Kammer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Förderung des
Wassertourismus in Deutschland ist eine Herzensangelegenheit der Union, die wir schon in der letzten Legislaturperiode in einem Antrag aufgegriffen haben. Mit dem
vorliegenden Antrag werden wir neue Impulse für die
Sportbootschifffahrt setzen und so dieses Vorhaben konsequent weiterentwickeln. Die Union hält hier den
Kurs - mit Zustimmung vieler Menschen in Deutschland.
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
dazu auf, zur Erreichung dieses Ziels einen ganzen
Strauß von Maßnahmen umzusetzen. Aus der Fülle der
Maßnahmen möchte ich nur die wichtigsten Punkte ansprechen.
Zunächst möchten wir die Führerscheinprüfung nicht
etwa vereinfachen, sondern systematisieren, entschlacken und entbürokratisieren. Ich weiß, dass die Opposition mit diesen Begriffen wenig anfangen kann. Deshalb
werde ich sie genau erläutern.
({0})
- Vielleicht höre ich dann von Ihnen etwas Neues, Herr
Hacker. Darauf bin ich gespannt. Bisher haben wir von
Ihnen in der Vergangenheit sehr wenig an konstruktiver
Zusammenarbeit erlebt.
({1})
- Ja gut, darin sind wir unterschiedlicher Auffassung.
({2})
Wir wollen die unterschiedlichen Verordnungen zum
Führerscheinwesen so weit wie möglich zusammenfassen. Die Wassersportführerscheine werden in Zukunft
modular aufgebaut. Dies soll auch für die Sonderprüfung
gelten. Wir wollen, dass die Wassersportler nur lernen
müssen, was sie tatsächlich brauchen.
({3})
Wir wollen aber auch, dass die Wassersportler das, was
sie brauchen, tatsächlich lernen.
({4})
- Sparen Sie sich doch die Kraft für Ihre Rede! - Deshalb muss in der Ausbildung stärker als bisher auch auf
relevante praktische Grundfähigkeiten abgestellt werden. Die beste Theorie nützt nichts, wenn es in der Praxis nicht klappt.
({5})
Das ist ein Musterbeispiel für Ihre sozialdemokratische
Wirtschaftspolitik, die nie geklappt hat, die nur theoretisch war.
({6})
Die Sicherheit auf dem Wasser ist ein zentrales Anliegen dieser Koalition. Diesem großen Ziel muss die Qualität der Ausbildung in der Wirklichkeit gerecht werden.
Deshalb wollen wir die Verbände und Vereine dabei unterstützen,
({7})
bis Ende 2016 ein einheitliches Qualitätssiegel zu schaffen, das Mindeststandards in der Ausbildung garantiert.
Sollten die Verbände und Vereine dieses Ziel wider Erwarten nicht erreichen, wird die Bundesregierung die
Initiative ergreifen und allgemeine Mindeststandards für
die Ausbildung sicherstellen.
({8})
Ich habe diese beiden Punkte ausführlich dargestellt,
damit auch den größten Bedenkenträgern und den hartnäckigsten Liberalisierungsfeinden klar wird, dass diese
Koalition weder sich noch andere gefährden wird.
({9})
Wir gewährleisten nicht nur die innere und äußere Sicherheit, sondern auch die auf dem Wasser.
({10})
- Ihre Zwischenrufe werden länger als Ihre Rede nachher.
Wir wollen die Attraktivität der Sportbootschifffahrt
erhöhen und den hart arbeitenden Menschen in diesem
Land den Zugang zu dieser besonders schönen Art, seine
Freizeit zu genießen, erleichtern. Deshalb fordern wir
die Bundesregierung dazu auf, die Führerscheinpflicht
erst ab 15 PS beginnen zu lassen. Wir wollen Hausboote
mit Charterscheinen auf mehr, aber nur auf dazu geeigHans-Werner Kammer
neten Gewässern erlauben. Wir gängeln nicht; wir befreien und geben der Tourismuspolitik eine Chance.
({11})
Wir haben die Entscheidung zum Führerschein mit
großer Sorgfalt getroffen.
({12})
In der Vorbereitungsphase haben wir geprüft, ob nicht
eine Kombination von maximaler Bootslänge und maximaler Geschwindigkeit zweckmäßiger wäre. Diese Lösung hätte man aber nur mit einem sehr komplexen und
damit sehr bürokratischen Verfahren umsetzen können.
So, wie es jetzt geregelt ist, ist es einfach und klar. Das
ist Koalitionspolitik.
({13})
In der Diskussion über den Antrag wurde von interessierten Kreisen ein Weltuntergangsszenario entwickelt.
Das zeigt nur: Die Koalition hat in dem Dschungel der
Bevormundung und der Regulierung wieder einmal eine
Bresche für die Freiheit geschlagen,
({14})
eine Freiheit, die für viele Menschen in der Europäischen Union schon längst eine Selbstverständlichkeit ist.
Genauso wie in den anderen europäischen Ländern wird
der Verkehr auf Deutschlands Gewässern weiterhin in
geordneten Bahnen verlaufen. Ich vergleiche das einmal
mit dem Straßenverkehr: Wer als Fußgänger oder Fahrradfahrer - das heißt ohne Führerscheinprüfung - am
Straßenverkehr teilnehmen will, muss selbstverständlich
die Verkehrsregeln kennen.
({15})
Fahrradfahrer und Fußgänger machen sich daher selbstverständlich mit ihnen vertraut. Dies wird auch bei den
Sportbootfahrern der Fall sein. Die Menschen, meine
Damen und Herren von der Opposition, haben mehr Verantwortungsgefühl, als Sie ihnen zutrauen.
({16})
Es besteht auch kein Anlass, wegen einer möglichen
Gefährdung der Umwelt Krokodilstränen zu vergießen.
Bei den Fragen für die bisherige Führerscheinprüfung
gibt es in der Tat auch solche, die den Umweltschutz und
die Befahrensregelungen für Naturschutzgebiete und
Nationalparks betreffen. Wer allerdings nun annimmt,
dass diese Kapitäne dann auch Umweltexperten sind, ist
gewaltig auf dem Holzweg. Es handelt sich dabei um
insgesamt acht Fragen von beeindruckender Schlichtheit. Wer weiß, dass man Altöl nicht in Gewässer kippt,
beherrscht bereits ein Achtel des Stoffes. Das ist keine
gewaltige Leistung. Gesunder Menschenverstand hilft
hier weiter.
Aus der Anhörung habe ich mitgenommen, dass in
Zukunft durchaus erwogen werden könnte, die technische Sicherheit von motorgetriebenen Wasserfahrzeugen
durch Sachverständige regelmäßig bescheinigen zu lassen. Wir werden über diesen Punkt im Rahmen der
nächsten Weiterentwicklungsoffensive zugunsten des
Wassersports ausführlich diskutieren. Dies wird im Rahmen der in drei Jahren anstehenden Evaluierung der von
der Bundesregierung getroffenen Regelungen geschehen. Damit Sie von der Opposition beruhigt sind: Das
wird dann von dieser Koalition evaluiert werden.
({17})
Sie sehen, diese Koalition ist nicht nur auf dem richtigen Dampfer, sondern auch schnell wie ein Sportboot.
Deshalb bitte ich um Annahme unseres Antrags.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kammer, ich hatte eben den Eindruck, dass wir hier
beim Karneval in Köln am Rosenmontag sind.
({0})
Worum geht es hier eigentlich? Das von Ihnen aufgezeigte Szenario sieht in Wirklichkeit völlig anders aus.
Das, was in Ihrem Antrag steht, ist zum Teil Gegenstand
zweier Anträge aus der letzten Legislaturperiode. Da
sind wir in den Punkten völlig einig.
({1})
Das, was in Ihrem aktuellen Antrag steht, ist zum Teil
überholt, weil die Neuregelung der Führerscheinprüfung
im Mai dieses Jahres in Kraft tritt.
({2})
Dann wird auch Ihre Forderung nach mehr Praxis - die
ich unterstütze - umgesetzt.
({3})
Es geht nicht um die Frage, ob wir den Wassertourismus befördern sollen. Wir alle wissen, dass Wassertourismus ein ganz tolles Potenzial hat.
({4})
Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern, einem Bundesland, das ebenso wie Brandenburg - zumindest touristisch gesehen - zu den großen Gewinnern der letzten
Eiszeit zählt: Es gibt dort tolle Seen und Kanäle. Das gilt
mittlerweile auch für die Lausitz.
Wir haben in den letzten Monaten im Verkehrsausschuss und insbesondere im Tourismusausschuss vereinbart, die Punkte, die auf der Tagesordnung stehen,
gemeinsam abzuarbeiten. Wir haben gesagt: Die Bundesregierung muss endlich Vorlagen liefern. Dann werden wir das auf der Grundlage der beiden Anträge aus
der letzten Legislaturperiode bewerten. Dann kommen
Sie kurz vor Weihnachten und bringen in einer Nachtund-Nebel-Aktion Vorschläge ein, die wir in der letzten
Legislaturperiode nicht aufgegriffen haben.
({5})
Damit bin ich beim Punkt. Es geht um die Führerscheinfreiheit und die Erhöhung der Grenze von 5 auf 15 PS.
({6})
Sie erwecken den Eindruck, als ob eine solche Erhöhung
einen Schub für den Wassersport und den Wassertourismus bringen würde. Das ist eine Annahme, die überhaupt nicht belegt ist.
Ich verweise auf die Anhörung, die wir am 18. Januar
im Deutschen Bundestag durchgeführt haben. Diese Anhörung hat eindeutig belegt, dass die Mehrheit der Sachverständigen der Ansicht war, dass die Punkte, die wir
von Anfang an benannt haben - die Führerscheinpflicht
erst für Boote mit einer Mindeststärke von 15 PS vorzusehen und die Ausdehnung der Charterscheinregelung,
die nach unserer Meinung zu weit geht -, kritisch zu sehen sind. Im Übrigen hat die Bundesregierung selber bestimmte Vorschläge aus Ihrem Antrag gar nicht unterstützt. Ich denke in diesem Zusammenhang an die
Plastikkarte, die als Führerschein dienen sollte. Das ist
von der Bundesregierung verworfen worden.
({7})
- Ja, das ist eine untergeordnete Frage. - Die Anhörung
war für 10 Uhr am 18. Januar angesetzt. Wir haben mit
etwas Verzug begonnen. Bereits um 10.07 Uhr haben
Sie, Herr Staffeldt, das Ergebnis der Anhörung auf Ihrer
Homepage verkündet.
({8})
Sie haben der staunenden Öffentlichkeit mitgeteilt, dass
die Mehrheit der Sachverständigen Ihren Vorschlägen
zugestimmt hat.
({9})
Das ist eine Frechheit und eine Negierung unseres parlamentarischen Verfahrens.
({10})
Ich frage mich: Wozu führen wir hier im Deutschen
Bundestag Anhörungen durch,
({11})
wenn die FDP zu Beginn der Anhörung bereits das Ergebnis vorwegnimmt?
({12})
- Gerade die schriftlichen Stellungnahmen belegen, dass
Ihre Vorschläge zu diesen beiden Punkten nicht unterstützt werden.
({13})
Herr Staffeldt, Sie sagen, die Mehrheit der Sachverständigen habe Sie unterstützt. Dazu sage ich: Sie von
der FDP glauben an Hellseherei.
({14})
Das sind die beiden Gründe, warum wir diesen Antrag
nicht mittragen können.
Wir haben in der vorigen Woche hier in diesem Haus
eine Diskussion über Verkehrssicherheit geführt. Für
mich erstreckt sich Verkehrssicherheit auch auf das
sichere Befahren von Gewässern; sie umfasst den Rhein
und die Mosel, die Müritz und andere Gewässer. Sie
geben freie Fahrt auch für den Rhein und für die Mosel,
ohne eine Altersbegrenzung einzuführen, ohne eine
Haftpflichtversicherung vorzuschreiben, und Sie wollen
die Führerscheinpflicht erst ab 15 PS.
({15})
Ich rate Ihnen: Lesen Sie noch einmal die Stellungnahme der Wasserschutzpolizei Brandenburg durch. Die
Wasserschutzpolizei Brandenburg hat sich mit anderen
Wasserschutzpolizeien abgestimmt. Die Kritik trifft
doch ins Mark, Herr Staffeldt.
({16})
- Aber doch nicht auf 15 PS! Das hat die Wasserschutzpolizei nicht unterstützt. Die Wasserschutzpolizei hat
gesagt: Wenn erhöht wird, dann nur unter veränderten
Rahmenbedingungen.
({17})
Das bedeutet: Versicherungspflicht und Altersbegrenzung. Alles das machen Sie nicht.
({18})
Ich sage Ihnen: Sie sind, was die Verkehrs- und Tourismuspolitik betrifft, ein Risikofaktor für die Gesellschaft.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Torsten Staffeldt von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war
wieder einmal ganz großes Kino vom Kollege Hacker.
({0})
Man kann sich fragen, ob er unter Bewusstseinstrübung
leidet oder nicht. Wir alle waren in dieser Anhörung.
({1})
Wenn Sie wie auch der Kollege Behrens behaupten, dass
die Mehrheit der Experten dafür gewesen sei, dass alles
so bleibt, wie es ist, dann unterliegen Sie einem riesengroßen Irrtum. Derjenige, den Sie, Herr Hacker, immer
wieder als Kronzeugen benennen, Herr Werner von der
Wasserschutzpolizei in Brandenburg, hat ganz klipp und
klar gesagt, dass auch die Wasserschutzpolizei dafür sei,
dass die PS-Grenze für die Führerscheinpflicht hochgesetzt werde.
({2})
So ist das. War ich in derselben Veranstaltung wie Sie?
Ich habe mir die Stellungnahmen durchgelesen.
Wir können das Thema noch einmal behandeln: Von
den sechs anwesenden Experten waren drei ganz klar
verortet: der Experte vom BUND - von dem war nichts
anderes zu erwarten; Entschuldigung, Frau Dr. Wilms,
aber es war nicht unbedingt zu erwarten, dass der BUND
für Motorbootschifffahrt ist -, Herr Roeder vom Deutschen Olympischen Sportbund und Herr Süß vom Deutschen Segler-Verband.
({3})
Die letzten beiden sind anerkannte Verbandsfunktionäre,
die ein sehr großes Interesse daran haben, dass ihre bisherige Beleihung in der Form erhalten bleibt.
({4})
Alle anderen waren dafür, dass wir die Änderungen in
der Form durchführen, wie wir das jetzt auch tun werden.
({5})
Aus diesem Grund, Herr Hacker, ist es völlig klar, dass
die diesbezüglichen Pressemitteilungen zeitnah zur Anhörung herausgingen. Insofern habe ich überhaupt kein
Problem damit.
({6})
Aber dies nur als kleine Replik auf das, was wir im
Laufe des Abends schon hören durften.
Generell kann man feststellen, dass in diesem Fall die
vereinigte Opposition alle Mittel und Wege versucht, um
uns anzugreifen. Darüber kann ich mich, wie gesagt, nur
wundern. Das habe ich schon mehrfach geäußert.
({7})
Im Grunde genommen wissen Sie ganz genau, dass das,
was wir machen und was eben schon der Kollege
Kammer, der große Freiheitskämpfer von der CDU, dargestellt hat, der richtige Weg ist, dass wir die Ziele verfolgen wollen, die Sie in den früheren Legislaturperioden, in denen Sie den Verkehrsminister gestellt haben,
nie erreicht haben. Was nützen uns die wunderschönen
Anträge, die Sie damals gestellt haben? Nichts davon
haben Sie erreicht.
({8})
Wir werden das jetzt umsetzen, Herr Hacker, wozu
Sie nur Lippenbekenntnisse abgegeben haben. In einem
ersten Schritt werden wir dafür sorgen, dass mehr Menschen aufs Wasser kommen, und zwar ohne Regulierungen, die überflüssig oder übertrieben sind.
({9})
Das ist genau der Punkt: Überflüssige Regulierungen,
die ausschließlich dazu dienen, beliehenen Verbänden
Prüfungsgebühren zukommen zu lassen, sind nicht unsere Art von Politik, sondern das ist offensichtlich eine
Form von Klientelpolitik, die Sie hier gerne betreiben
wollen.
({10})
Sie betreiben den Lobbyismus und die Klientelpolitik,
die Sie uns an der einen oder anderen Stelle immer wieder gern vorwerfen.
Es ist ja ganz nett, sich am späten Abend ein wenig zu
beharken.
({11})
- Oder am frühen Abend; je nachdem. - Aber ich
möchte jetzt zum Fachlichen kommen.
Wir haben die Anhörung durchgeführt, bei der auch
Herr Werner von der Wasserschutzpolizei Brandenburg
anwesend war. Dieser hat gesagt, es sei keine signifikante Zunahme der Zahl der Unfälle zu verzeichnen.
Das heißt, auch im Charterscheingebiet, in dem Leute
mit einer kurzen Einweisung große Boote fahren dürfen,
hat es keine signifikante Zunahme der Zahl der Unfälle
gegeben. Das heißt, alle Schreckens- und Horrorszenarien, die Sie hier an die Wand malen, sind wirklich für
die Katz.
({12})
Noch einmal - ich habe es letzten Mittwoch schon gesagt -: Die Unfälle, die geschehen, werden nicht nur von
Menschen verursacht, die keinen Führerschein haben,
sondern auch von Menschen, die einen Führerschein
haben. Insofern wird eine Erhöhung von 5 auf 15 PS,
wie wir sie vorhaben, die Zahl der Unfälle auch nicht erhöhen.
({13})
Wir wollen mehr Verkehr auf dem Wasser, wir wollen,
dass die demografische Entwicklung, die gerade in diesem Sport- und Tourismussegment erkennbar ist - das
Durchschnittsalter der Wassersporttreibenden liegt im
Moment bei 56 Jahren -, dadurch zumindest teilweise
aufgehalten wird, dass die Menschen ohne große Regulierung aufs Wasser gehen können. Sie sollten nicht erst
einen Kurs machen müssen, Geld bezahlen müssen und
während des Kurses so wichtige Dinge lernen müssen
wie die Beantwortung der Frage, wer für die Ausstellung
von Funkzeugnissen in Deutschland zuständig ist. - Das
sind nämlich die Regulierungsbehörden.
({14})
Letztes Jahr habe ich den Sportbootführerschein „binnen“ gemacht; das nur nebenbei.
Wir begrüßen es, dass das Bundesverkehrsministerium das Prüfungsverfahren im Mai dieses Jahres auf
Multiple Choice umstellen wird, dass dieses Prüfungsverfahren entschlackt wird. Das ist sehr gut. Aber wir
haben eben darüber hinausgehende Vorstellungen, was
die Führerscheine angeht, was beispielsweise auch die
Anerkennung anderer bereits erworbener Qualifikationen angeht - wie gesagt, alles mit der Zielsetzung, dass
mehr Menschen aufs Wasser kommen. Denn es ist einfach toll auf dem Wasser. Herr Hacker, ich weiß nicht,
ob Sie schon einmal dort waren. Außer auf der Toilette
waren Sie vielleicht noch nicht auf dem Wasser.
({15})
Wir sind fest davon überzeugt, dass das der richtige
Weg ist. Weil wir aber auch die Bedenken der Verbände
ernst nehmen, ist in unserem Antrag eine Prüfklausel
enthalten. Wir werden also nach drei Jahren schauen,
wie sich das Ganze entwickelt hat. Ich gehe fest davon
aus, dass es sich positiv entwickeln wird. Aus diesem
Grunde denke ich, dies ist nur der Einstieg in eine Vereinfachung. Herr Kollege Kammer hat das eben schon
sehr schön - vielleicht ein wenig polemischer, als ich es
kann - auf den Punkt gebracht. Aber zum Schluss - meine
Redezeit ist gleich abgelaufen - auch ein Spruch von
mir: Wer glaubt, dass er mehr Menschen für den Wassersport begeistern kann, indem er viele Prüfungen vorsieht und Hürden aufbaut,
({16})
der glaubt auch, dass das Verhalten der Opposition, das
wir hier im Laufe der letzten Wochen und Monate erleben konnten, ernst gemeint ist.
Vielen Dank.
({17})
Für die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Herbert
Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es zu dieser Zeit schwer ist: Stellen Sie sich
bitte vor, dass auf Sie im Sommer beim Schwimmen in
einem See ein Motorboot zugefahren kommt. Man muss
doch annehmen können, dass derjenige, der mit einem
solchen Boot unterwegs ist, in der Lage ist, zu begreifen,
wie er sich verhalten muss. Der Normalfall ist, dass jemand, der einen Führerschein besitzt, zumindest in der
Führerscheinprüfung mit einer entsprechenden Frage
konfrontiert worden ist, dass er also weiß, wie er sich in
einer kritischen Situation verhalten muss. Das kann man
erwarten. Einen Führerschein braucht man allein schon
deswegen, weil man sich zumindest einmal mit Fragen
dieser Art auseinandergesetzt haben muss.
({0})
CDU/CSU und FDP wollen nun erlauben, dass Menschen ab 16 Jahre Motorboote mit bis zu 15 PS ohne
Führerschein fahren dürfen. Bisher liegt die Grenze bei
5 PS. Kommt der Vorschlag der Regierungskoalition
durch, könnte sich der überwiegende Teil der Wassersportfreunde ins Boot setzen und einfach losfahren. Sie
haben möglicherweise nie etwas von Vorfahrtsregeln
oder von Verkehrszeichen gehört und brausen dann möglicherweise mit bis zu 40 Stundenkilometern über einen
See oder einen Fluss. Auf dem Wasser ist das gefährlich
schnell; das wissen Sie selber. Die Wasserschutzpolizei,
die in der zitierten Anhörung ebenfalls anwesend war, ist
aus personellen Gründen nicht in der Lage - auch das
wurde erwähnt -, zu kontrollieren, ob Geschwindigkeitsbegrenzungen eingehalten werden. Wir wissen: Blitzer
auf dem Wasser gibt es nicht. So können die Motorbootfahrer zu einer Gefahr werden, und zwar nicht nur für
andere, sondern auch für sich, zum Beispiel wenn sie mit
Ruderern und Kanuten zusammentreffen
({1})
oder wenn sie darauf achten müssen, wie sie mit im
Uferbereich schwimmenden Kindern umgehen. Das ist
nicht zu verantworten. Darum geht das, was Sie hier vorhaben, überhaupt nicht.
({2})
Wenn wir den Naturschutz ernst nehmen, Flora und
Fauna schützen wollen - viele Wassersportler möchten
das -, dann müssen wir verlangen, dass jede Fahrerin
und jeder Fahrer eines Sportboots den Umgang mit dem
Fahrzeug gelernt hat und ihn beherrscht. Genau das haben wir uns letzte Woche in der Anhörung, die hier
schon erwähnt worden ist, von vielen Experten erklären
lassen.
({3})
- Wir waren in der gleichen Anhörung. Wenn Sie die
Ausführungen dort genau verfolgt haben, dann haben
Sie festgestellt, dass insbesondere die geplante Führerscheinfreiheit bei Booten bis 15 PS kritisiert worden ist.
({4})
Es wurde gesagt: Es wird brandgefährlich, wenn sich
künftig so viele Menschen mehr, ohne dass sie vorher
geprüft worden sind, ins Boot setzen können und mit bis
zu 40 Stundenkilometern über die Gewässer brettern
können.
Wir haben sogar vom Motoryachtverband gehört: Das
schadet dem Ansehen des motorisierten Wassersports.
({5})
Das ist heute noch auf der Homepage dieses Verbandes
zu lesen. Wir nehmen diesen Rat ernst.
({6})
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,
wollen Ihren Vorschlag damit rechtfertigen, dass die Regelungen in Deutschland im Vergleich zu denen in anderen europäischen Staaten besonders restriktiv sind; aber
das stimmt nicht. Etwa in Holland
({7})
besteht Führerscheinpflicht, wenn man ein Boot steuert,
das schneller als 20 Stundenkilometer fahren kann. Im
Vergleich dazu liegen wir im Mittelfeld. In Spanien müssen alle, die ein Motorboot fahren wollen, den Führerschein besitzen.
({8})
Ich bin überzeugt davon: Es ist ein Trugschluss, wenn
Sie glauben, dass Regionen für Touristen attraktiver
werden, wenn Bootsverleiher an jede und jeden ihre
Jachten verleihen können, ohne dass sie eine entsprechende Ausbildung vorweisen können.
Über einige Ihrer Vorschläge im Antrag können wir
reden; das haben wir schon angedeutet. Es ist sinnvoll,
die Zahl der Fragen im Prüfungsbogen zu reduzieren und
Berufsabschlüsse aus der gewerblichen Binnen- und
Seeschifffahrt anzuerkennen. Aber an dem Kern, nämlich Motorbootfahrer nur mit einer guten Ausbildung
aufs Wasser zu lassen, müssen wir festhalten. Bevor Sie
mit dieser Regelung Schiffbruch erleiden, sollten Sie,
wenn schon nicht auf uns, auf die Expertenmeinungen
hören und diesen abenteuerlichen und waghalsigen Vorschlag versenken.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Valerie Wilms für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich Revue passieren lasse, was wir in der Anhörung erlebt haben, und das damit vergleiche, wie wir in
diese Debatte eingestiegen sind und was wir hier behandeln, dann finde ich das erstaunlich. Ich bekomme das
nicht zusammen. Das gilt auch für Ihren Antrag.
Ich vermute, dass Sie heute nur einen Testballon starten. Der Koalition sind dabei die Testergebnisse gar
nicht so wichtig - Hauptsache, Sie bekommen ihn erst
einmal in die Luft.
({0})
Sonst bekommen Sie von der FDP nicht mehr viel in die
Luft. Ich bin gespannt, was daraus wird. Vor allem warte
ich mit Spannung darauf, was Ihr Verkehrsministerium
daraus machen wird.
({1})
Wir haben schon lange Beschlüsse des Deutschen
Bundestages, die den Wassertourismus für alle - nicht
nur für Motorbootfahrer - attraktiver machen sollen. Die
stammen noch aus der letzten Wahlperiode. Herr Hacker,
Sie haben das persönlich miterlebt. Herr Liebing, Sie
wissen auch, dass es entsprechende Beschlüsse aus der
16. Wahlperiode gibt, die dann schön weggelegt wurden.
Ich bin immer wieder erstaunt, was alles noch nicht umgesetzt worden ist.
Es hat Ewigkeiten gedauert, bis es jetzt endlich zu einer Reform des Führerscheinrechts gekommen ist. Jetzt,
da es die neuen Regeln gibt, kommen Sie auf einmal wie
Kai aus der Kiste mit neuen Ideen, die sich im Wesentli18636
chen auf eine Befreiung von der Führerscheinpflicht beschränken. Dazu kann ich nur sagen: Tolle Zusammenarbeit mit Ihrem Ministerium! Erstaunlich!
({2})
Noch erstaunter war ich über Ihr Vorgehen in der Sache selbst. Kurz vor Weihnachten brachten Sie ohne jegliche Debatte einen solchen Antrag hier im Plenum ein.
({3})
- Aber bei Ihnen brennen nicht mehr viele Lichter, Herr
Döring. Das ist das Problem.
Sie wollten das Ganze dann im Eilverfahren durch die
Ausschüsse jagen. Da haben wir aber nicht mitgemacht.
({4})
- Sie hatten ja etwas ganz anderes vor. Sie wollten das ja
schon in der letzten Woche vor Weihnachten hier im Plenum durchziehen. Die Anhörung, die wir dann im Januar
gemacht haben,
({5})
weil wir uns massiv dafür eingesetzt haben, hat deutlich
gemacht - auch wenn gerade Sie, Herr Staffeldt, beratungsresistent sind -, dass Sie die Bedenken einfach beiseiteschieben wollen.
({6})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist spät am Abend,
und vielleicht waren einige vorher bei dem Empfang. Da
habe ich zumindest einige von uns gesehen.
({7})
- Ich weiß nicht, was da alles abgelaufen ist, weil ich
rechtzeitig wieder weg war.
Lassen Sie es mich klar und deutlich sagen: Die Befreiung von der Führerscheinpflicht freut vor allem die
Bootsverleiher und die Freunde des Motorbootsports.
Aber das ist bei der FDP mit ihren Speedbootfans gerade
aus dem Norden kein Wunder. Alle anderen müssen sehen, wo sie bleiben. Die Ruderer, die Kanufahrer usw.,
alle bleiben außen vor bei Ihnen.
Vor allem scheinen Ihnen die Folgen für die Natur
und die Sicherheit nicht so wichtig zu sein.
({8})
Der Naturschutz wird völlig ausgeblendet. Das finden
wir vollkommen unangemessen. Ich verstehe Ihre Ignoranz nicht, Herr Staffeldt. Jetzt müssen wir sehen, wie
wir aus dieser Falle wieder herauskommen.
Auch Fragen der Sicherheit scheinen Sie wenig zu interessieren. Klar ist: Die Sicherheit und Leichtigkeit des
Schiffsverkehrs werden durch die Änderung der Führerscheingrenze nicht verbessert. Eher geschieht das glatte
Gegenteil.
Der bereits angesprochene Herr Werner von der Wasserschutzpolizei hat in der Anhörung deutlich darauf
hingewiesen, dass die Wasserschutzpolizei ihre wachsenden Aufgaben bereits heute bei immer weniger Personal nicht erfüllen kann. Die Polizei und sogar der
ADAC verlangen zumindest eine fundierte Einweisung.
Herr Werner von der Wasserschutzpolizei verlangt darüber hinaus für die Freigabe eine Altersgrenze von
18 Jahren, eine Probezeit und eine Haftpflichtversicherung. Hierauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen. Das
haben Sie einfach ausgeblendet.
({9})
Auch Sie, liebe Koalitionäre, wissen, dass auf dem
Wasser alles anders ist: Die Schilder sind mit denen im
Straßenverkehr nicht vergleichbar, die Vorfahrtsregeln
sind etwas komplizierter, und eine Bremse hat ein Boot
auch nicht.
Ein paar Grundregeln muss jeder kennen - für die eigene Sicherheit und für die Sicherheit der anderen, die
sich auf dem Wasser aufhalten, auch die der nichtmotorisierten Wassersportler. Dazu enthält Ihr Antrag aber
keine Vorschläge, sondern ignoriert die Bedenken. Die
Vorteile Einzelner aus der Verleiherbranche stehen bei
Ihnen höher im Kurs. Das ist Politik im Mövenpick-Stil.
({10})
Sie machen da weiter, wo Sie schon vorher ein paarmal gescheitert sind. Anderthalb Jahre müssen wir das
noch ertragen.
Danke.
({11})
Das Wort hat der Kollege Matthias Lietz von der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wie bekannt komme ich
aus dem wunderschönen Mecklenburg-Vorpommern, einem Land, das vor allem aus touristischer Sicht ein herrliches Fleckchen Erde ist.
({0})
Wir haben nicht nur das Meer vor der Tür, malerische
Landschaften, so weit das Auge reicht, sondern natürlich
auch eine große Anzahl Binnengewässer, Flüsse und
Seen. Daher dürfte es auch nicht allzu sehr verwunderlich sein, dass eine große Anzahl von Menschen in unserem Land vom Tourismus lebt, Herr Kollege Hacker.
({1})
Für sie ist es in jedem Jahr entscheidend, wie viele Touristen unser Land besuchen.
Tourismus stellt in vielen Bundesländern einen signifikanten Wirtschaftsfaktor dar. Ebendiesen wollen wir
zukünftig attraktiver und interessanter gestalten.
({2})
Wir wollen den Bereich des Wassersports entbürokratisieren und zu neuen und positiven Entwicklungen in der
Sportbootschifffahrt verhelfen.
({3})
Für diese Vorhaben bedarf es logischerweise einiger Änderungen hinsichtlich der aktuellen Gegebenheiten. Darauf zielt unser Antrag ab; die bisherige Diskussion hat
dies eindeutig gezeigt.
({4})
Vor allem die Führerscheinpflicht spielt eine zentrale
Rolle. Wir wollen die Grenze, bis zu der Führerscheinfreiheit besteht, von bisher maximal 5 PS auf eine Motorisierung von 15 PS anheben. Dieser wesentliche Punkt
liegt darin begründet, dass die Begrenzung der Führerscheinfreiheit Einsteiger in den betreffenden Wassersportarten erheblich abschreckt. Vor allem bei Anfängern in der Sportbootschifffahrt spielt die Sensibilisierung für den neuen Bereich eine bedeutende Rolle.
Bereits seit dem Jahr 2000 wird die Einführung einer
Touristencharterbescheinigung gerade auch in unserem
Land erprobt. Demnach dürfen Touristen nach Einweisung vorübergehend auf ausgewählten Binnengewässern
ein Boot führen. Diese Bescheinigung hat sich in den betroffenen Regionen als voller Erfolg für die Sportbootschifffahrt herausgestellt.
({5})
Ich bin der festen Überzeugung, dass dies weiter ausgebaut und vor allen Dingen vernetzt werden muss. Diese
Regelung führte zu einem nachweislich höheren Interesse am Bootssport und außerdem zu keiner Einschränkung in der Verkehrssicherheit.
({6})
Wir müssen vieles tun, um gerade diesen Bereich des
Wassersports attraktiver zu gestalten.
Ich will noch einige Worte zur PS-Regelung sagen:
Wir teilen die diesbezüglich bestehenden Befürchtungen
ebenso wenig wie zahlreiche Verbände und Akteure, im
Übrigen - es ist heute schon gesagt worden - auch nicht
die Wasserschutzpolizei. Ich möchte noch einmal deutlich machen: Schwächere Motoren bedeuten nicht mehr
Sicherheit. Dies ist auf Bundesstraßen ebenso ein Gesetz
wie auf dem Wasser.
Aus meiner Erfahrung als ehemaliger ehrenamtlicher
Bürgermeister eines Seebads sage ich Ihnen: Ich erwarte
von einem mündigen Bürger, der sich dem Verkehr in
unserer Region stellt, dass er dabei die gleiche Verantwortung an den Tag legt wie bei Sachentscheidungen auf
anderen Gebieten.
({7})
Es sind die gleichen Bürger unseres Landes.
Ich möchte noch einmal kurz zusammenfassen: Wir
fordern in unserem Antrag eine Entbürokratisierung der
Sportbootschifffahrt, die Erleichterung des Einstiegs in
den Wassersport bei - das mache ich noch einmal deutlich - Erhalt der Wassersicherheit, die Stärkung des Praxisanteils in den harmonisierten Prüfungen, die Unterstützung der Verbände bei der Einführung eines einheitlichen Qualitätssiegels für Ausbilder, das Einführen
einer Unfallstatistik, Mindestausrüstungsstandards für
Charterjachten
({8})
sowie eine einheitliche Rechtsanwendung bei der Erteilung von Bootszeugnissen durch die Wasser- und Schifffahrtsämter und die Anerkennung der Funkzeugnisse aus
anderen Ländern der Europäischen Union. Damit trägt
unser Antrag dazu bei, neue Impulse für die Sportbootschifffahrt zu setzen, und verdient die Unterstützung von
uns allen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Martin Gerster von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Neue Impulse für die Sportbootschifffahrt“ - ehrlich
gesagt, es ist in der Debatte deutlich geworden, dass es
zum Teil ganz schön kalter Kaffee ist, was uns hier präsentiert wird.
({0})
Außerdem lautet die entscheidende Frage: Ist es vernünftig, ist es verantwortbar, was Sie beantragen? Hier
muss ich als Vertreter des Sportausschusses ganz klar sagen: Es ist eben nicht verantwortbar.
({1})
Das haben auch alle, die im Sport unterwegs sind, in ihren Stellungnahmen deutlich gemacht.
({2})
Dies hat ganz klar der Deutsche Olympische Sportbund gesagt, ebenso der Deutsche Segler-Verband und
der Deutsche Motoryachtverband. Auch der Deutsche
Kanu-Verband hat Ihrem Antrag in dem Statement, das
dem Ausschuss vorliegt, eine klare Absage erteilt.
({3})
Das, was Sie hier treiben, ist unverantwortlich, weil
es die Attraktivität mancher Sportart in Deutschland aufs
Spiel setzt, ebenso wie die Unversehrtheit und die Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler auf dem Wasser.
Deswegen muss man ganz klar sagen: Das, was Sie hier
auf den Tisch gelegt haben, muss abgelehnt werden.
({4})
Denn schon heute ist die Situation an neuralgischen Stellen gefährlich für all diejenigen, die muskelkraftbetriebene Boote fahren.
({5})
Durch Ihre Initiative wird das Ganze letztendlich noch
gefährlicher.
Hinzu kommt: Lange Wartezeiten an den Schleusen
sind heute schon Usus.
({6})
In der Reihenfolge, in der Priorisierung des Durchlasses
sind die Kanuten die Letzten, die passieren können.
({7})
Durch Ihre Initiative wird es für die Kanuten noch unattraktiver, ihren Sport auszuüben.
({8})
Deswegen ist ganz klar: Sie sollten diesen Antrag zurückziehen. Sie sollten vielleicht auch einmal diejenigen
fragen, die im Sport unterwegs sind. Leider sind Ihre
Mitglieder aus dem Sportausschuss heute nicht anwesend. Bei unserer Debatte im Sportausschuss am Mittwoch war von der FDP noch nicht einmal eine Wortmeldung zu verzeichnen.
({9})
Man muss einfach feststellen: Hier scheint jemand gepennt zu haben. Ihr Kollege Günther, medienscheu wie
er ist, hätte sich wenigstens einmal im Sportausschuss zu
dieser Frage, die wesentliche Bereiche des Sports berührt, zu Wort melden können.
({10})
Darüber sollten Sie mit Ihrem Kollegen einmal reden.
({11})
Sie sollten auch einmal mit dem Staatssekretär, Herrn
Dr. Bergner, reden. Wir zumindest dachten immer, das
Bundesministerium des Innern sei auch Anwalt des deutschen Sports.
({12})
So zumindest stellen sich der Minister und auch der
Staatssekretär bei Versammlungen und Veranstaltungen
immer dar.
({13})
Hier jedoch, auf unsere Nachfrage im Sportausschuss:
Fehlanzeige. Es gab überhaupt kein Parteiergreifen für
die Interessen des Sports.
({14})
Die Antwort lautete: Die Bundesregierung ist zuständig
für Spitzensportförderung, aber eben nicht für die Anliegen der Wassersportverbände. Hierfür fehlt uns das Verständnis. Ihr Antrag ist völlig fehl am Platze.
({15})
Deshalb werden wir ihn ablehnen.
Herr Kollege Gerster, wollen Sie noch eine Zwischenfrage oder eine Endfrage des Abgeordneten Fricke
beantworten?
Ich würde sagen, wir belassen es dabei. Die Argumente sind meines Wissens ausgetauscht.
({0})
Der Kollege Fricke kann gerne mit seinen Kollegen aus
dem Sportausschuss sprechen.
Ich fordere Sie auf, den Antrag zurückzuziehen. Wir
jedenfalls werden nicht zustimmen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Es liegt eine größere
Anzahl von Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-
nung vor. Diese nehmen wir zu Protokoll.1)
Jetzt stimmen wir ab über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
mit dem Titel „Neue Impulse für die Sportbootschiff-
fahrt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8482, den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7937
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
1) Anlage 8
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Jetzt haben wir noch eine Reihe von Tagesordnungspunkten, zu denen nicht gesprochen wird. Wir müssen
aber die Formalitäten noch erfüllen. Ich bitte um Ihre
Anwesenheit.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel,
Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren - Konsequenzen aus den Entscheidungen
des Gerichtshofs der Europäischen Union und
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen
- Drucksache 17/8460 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir nehmen die Reden folgender Kolleginnen und
Kollegen zu Protokoll: Helmut Brandt und Reinhard
Grindel, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid Wolff,
FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Josef Philip Winkler,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8460 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/8098 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({2})
- Drucksache 17/8467 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann
Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, stammen
von Peter Wichtel und Daniela Ludwig, CDU/CSU,
Kirsten Lühmann, SPD, Herbert Behrens, Die Linke,
Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen, und vom Parla-
mentarischen Staatssekretär Jan Mücke.2)
1) Anlage 11
2) Anlage 12
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8467, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8098
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3})
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/32/EG hinsichtlich
des Schwefelgehalts von Schiffskraftstoffen
KOM({4}) 439 endg.; Ratsdok. 12806/11
- Drucksachen 17/6985 Nr. A.63, 17/8211 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Hirte
Torsten Staffeldt
Dr. Valerie Wilms
Die zu Protokoll genommenen Reden stammen von
Christian Hirte, CDU/CSU, Ute Vogt, SPD, Torsten
Staffeldt, FDP, Ralph Lenkert, Die Linke, und
Dr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die Grünen.
Antoine de Saint-Exupéry sagte einmal: „Wenn Du
ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen und Aufgaben zu verteilen,
sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem endlosen weiten Meer.“ - Ich finde, die Menschheit hat sich
die Worte des Dichters wirklich zu Herzen genommen.
Die von Saint-Exupéry so pathetisch formulierte Sehnsucht nach dem Meer und vor allem nach den in seinen
Tiefen schlummernden Ressourcen erweist sich nicht
nur heute schon, sondern vor allem für die Zukunft als
immer größerer Spagat zwischen Meeresschutz und maritimer Nutzung.
Bis vor kurzem schienen die Meere zu groß zu sein,
um verschmutzt oder leer gefischt zu werden, und es gab
wenig Verständnis für ihre nachhaltige Nutzung. Aber
jetzt gibt es immer mehr Sorgen wegen der Meeresverschmutzung, der Abnahme des Fischbestandes oder dem
Abschmelzen der Polkappen.
Die tragischen Ereignisse um die Havarie der „Costa
Concordia“ und die Befürchtung einer Umweltkatastro18640
phe durch das noch im Schiff befindliche Schweröl zeigen das Spannungsverhältnis zwischen Meeresschutz
und der wirtschaftlichen Nutzung unserer Meere nur
allzu deutlich.
Unsere Ozeane sind eben nicht nur Heimat für einen
großen Teil der biologischen Vielfalt. Sie besitzen auch
einen immensen wirtschaftlichen Wert. Nach Angaben
der EU-Kommission lebt jeder zweite Bürger Europas in
einem Küstengebiet. Zwei Fünftel der Wirtschaftsleistung kommen aus diesen Regionen. Die Aktivitäten reichen von der Fischerei über die Schifffahrt und den Tourismus bis zur Energiegewinnung. Ein Großteil der
europäischen Wirtschaftsleistung wird etwa an den Küsten von Nord- und Ostsee erwirtschaftet. Tausende
Schiffe passieren täglich diese Seegebiete und machen
sie zu zentralen europäischen Verkehrsdrehscheiben.
Angesichts der wachsenden Inanspruchnahme der
Ozeane gilt es, die zukünftige Meerespolitik so zu entwickeln, dass die Funktionen und die Leistungsfähigkeit
des Ökosystems Meer nicht gefährdet werden. Wir brauchen ein viel besseres Verständnis dafür, welche Maßnahmen erforderlich sind, um Meere als globalen Gemeinbesitz zu schützen und nachhaltige Praktiken
weiterzuentwickeln.
Ich denke, dass das Positionspapier der CDU anlässlich des maritimen Fraktionskongresses meiner Partei
aus gutem Grund den programmatischen Titel „Nachhaltigkeit - damit die Meere nicht untergehen!“ getragen hat. Ich bin meinen Kollegen Ingbert Liebing und
Eckhardt Rehberg äußerst dankbar, dass sie das Thema
maritime Nachhaltigkeit, stärker als das bislang der
Fall war, in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt haben.
Die Schifffahrt ist einer der wesentlichen Nutzer der
Meere, wobei der Verkehrsträger Seeschiff gemessen an
seiner Transportleistung ein sehr ökologisches Transportmittel mit dem geringsten Energieverbrauch und
den niedrigsten CO2-Emissionen ist. Zu den gesamten
globalen CO2-Emissionen trägt die Schifffahrt lediglich
2,7 Prozent bei, obwohl Seeschiffe über 90 Prozent des
interkontinentalen Güterverkehrs leisten. Die verbleibende Schadstoffbelastung, für die die Schiffe verantwortlich sind, ergibt sich insbesondere auch durch die
Nutzung von Schiffskraftstoffen mit hohem Schwefelgehalt, Ölunfälle oder Plastikvermüllung. Insbesondere an
den Küsten und in den Häfen leiden die Anwohner, aber
auch die Umwelt unter dem hohen Schwefeldioxid- sowie Rußpartikelausstoß. Die meisten Schiffsabgase werden in unmittelbarer Küstennähe und in den Häfen emittiert, in der Nordsee sind es beispielsweise bis zu
90 Prozent innerhalb von 90 Kilometern Entfernung zur
Küste.
Unser Ziel muss es sein, die durch die Schifffahrt verursachten Emissionen weiter zu reduzieren. Dabei stehen innovative Umwelttechnologien im Zentrum einer
Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Umweltschutz.
In Häfen kann dies beispielsweise in Form von Abwasser- und Müllauffanganlagen sowie landseitige Stromversorgung erfolgen, auf See durch den Einsatz neuer
Treibstoffe oder Abgasreinigungssysteme. Diese neuen
Techniken verbessern nicht nur die Ökobilanz, sondern
sind auch für den Industriestandort Deutschland ein
lohnender Zukunftsmarkt.
So wie Deutschland in anderen Bereichen sich einen
Technologievorsprung erarbeiten konnte, kann auch die
Nutzung neuer Umwelttechnologien auf See zum Maßstab für den Rest der Welt werden. Dann bestünde auch
die Möglichkeit, verlorene Anteile am weltweiten Schiffbau zurückzuerobern. Insoweit schließen sich ambitionierte Ökologie und wirtschaftliche Interessen nicht aus.
Im Gegenteil: Sie könnten sogar deren Treiber sein.
Das heißt aber nicht, dass wir nur niedrigere Grenzwerte bräuchten, um die Innovationskraft unserer maritimen Industrie anzukurbeln. Wenn dem so wäre, dann
wäre Wirtschaftsförderung wohl eine leichte Aufgabe.
Der Schlüssel zum Erfolg ergibt sich vielmehr aus der
Balance zwischen hohen Umweltstandards und deren
Machbarkeit zu vernünftigen Preisen.
Die Verschärfung der Grenzwerte für den Schwefelgehalt in Schiffstreibstoffen in Nord- und Ostsee in den
Sulphur Emission Control Areas, SECAs, durch die Internationale Seeschifffahrt-Organisation, IMO, reduziert ab 2015 die Emissionswerte von derzeit 1 Prozent
auf 0,1 Prozent in Nord- und Ostsee.
Einerseits dient dies der Verbesserung der Meeresökologie, andererseits ergeben sich daraus auch ökonomische Herausforderungen für die Schifffahrt. Um den
Vorgaben der IMO gerecht zu werden, müssen die Reeder in den SECAs auf deutlich kostenintensivere Destillate umsteigen oder alternativ Systeme zur Abgasentschwefelung nutzen. Dies hat eine Erhöhung der
Betriebskosten bzw. neue Investitionskosten zur Folge.
Hier muss die eben erwähnte Balance zwischen niedrigen Grenzwerten und wirtschaftlicher Machbarkeit
gewahrt werden. Das heißt, dass die Branche die notwendige Zeit erhalten muss, um sich auf die neuen
Grenzwerte einstellen zu können. Das betrifft nicht die
neuen oder neuesten Schiffe. Bei deren Bau könnten teilweise die bereits vorhandenen Umwelttechnologien zum
Einsatz kommen. Aber viele der Technologien, und ich
denke hier vor allem an Abgasreinigungssysteme, sogenannte Scrubber, stehen zwar schon zur Verfügung, ihre
volle Marktreife haben sie indes noch nicht erlangt. Zudem gestaltet sich die Nachrüstung bereits fahrender
Schiffe als äußerst schwierig und vor allem kostspielig.
Aber selbst wenn eine Nachrüstung mit Scrubbern nicht
möglich oder nicht mehr lohnend ist, sollte doch der
Einsatz zumindest von Rußpartikelfiltern erwogen werden. Diese stehen bereits zur Verfügung und könnten so
einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität vor allem in Häfen oder Küstennähe leisten.
Klar ist aber, dass an probaten Filtersystemen künftig
kein Weg vorbei führt. Deshalb ist die maritime Zulieferindustrie schon jetzt aufgefordert, die Zeichen der Zeit
zu erkennen und die Weiterentwicklung solcher Abgasreinigungssysteme zu forcieren. Dass hier auch der Staat
gehalten ist, einen Beitrag zu leisten, erachte ich als unverzichtbar. Dieses muss aber nicht unbedingt in einem
groß angelegten finanziellen Engagement seinen Niederschlag finden. Auch durch ordnungsrechtliche InZu Protokoll gegebene Reden
strumente kann der Staat durchaus helfen. Ich denke da
vor allem an die Ausweitung der SECAs, die sich bislang
nur auf die Nord- und Ostsee beschränkten. Es ist nicht
einzusehen, warum die in den SECA-Gebieten fahrenden
Reeder mit höheren Umweltstandards und den damit
verbundenen Kosten belastet werden sollen, während
sich der Verkehr übers Mittelmeer keine Sorgen über höhere Kosten für schwefelarmen Treibstoff oder Abgasfilter machen muss.
Eine derart einseitige Belastung ist nicht nur ungerecht, sondern konterkariert den eigentlichen Zweck der
SECAs, nämlich die Schwefeldioxidbelastung zu verringern. Was nützt es dem Umweltschutz, wenn die Reeder
in der SECA-Zone durch weniger Verkehr Emissionen
einsparen, weil die Kunden ihre Fracht wegen der höheren Umweltkosten in Nord- und Ostsee lieber außerhalb
der Kontrollzonen anlanden und sie dann per Lkw über
unsere Autobahnen und Fernstraßen versenden? Nach
einer Studie des Instituts für Seeverkehrswirtschaft und
Logistik könnten so insgesamt 823 000 Standardcontainer zusätzlich vom Schiff auf die Straße kommen. Das
entspricht einem zusätzlichen Aufkommen von 604 000 Lkw.
Angesichts der ohnehin schon verstopften Autobahnen
kein verlockender und wenig ökologischer Gedanke.
Daher ist es aus Sicht meiner Fraktion unumgänglich, dass sich die Bundesregierung bei der IMO und innerhalb der EU dafür einsetzt, dass die SECAs auf alle
europäischen Seegebiete ausgeweitet werden, um Wettbewerbsnachteile in der Nord- und Ostsee zu vermeiden
und um den positiven ökologischen Effekt auch für die
anderen Meere zu nutzen. In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich, dass die IMO im März 2010
eine ECA - Emission Control Area - für große Teile der
US-amerikanischen und kanadischen Küsten beschlossen hat. Ab August 2012 wird sie für den dortigen
Schiffsverkehr verpflichtend sein. Dies kann aber nur
ein weiterer Schritt sein, um strengere Grenzwerte weltweit zu etablieren.
Es wird nicht leicht sein, den globalen Umbau der
Schifffahrt hin zu einem „Green Shipping“ zu vollziehen. Angesichts des Klimawandels und der vermeidbaren Umweltbelastung ist dies aber möglich und nötig.
Wir sollten diesen Strukturwandel mithin nicht nur als
Bürde begreifen, sondern vor allem als Chance, um
nachhaltige Nutzung unserer Meere und wirtschaftliche
Prosperität in Balance zu bringen. Aus diesem Grund
sollte die Bundesregierung Initiativen ergreifen und unterstützen, die eine Verkehrsverlagerung vom Wasser auf
die Straße verhindern. Dies kann beispielsweise durch
flexiblere Grenzwerte, die der besonderen Situation älterer Schiffe Rechnung tragen, oder durch Anreize zur
Umrüstung geschehen. Besonderes Augenmerk muss
aber darauf liegen, den Grenzwert für den Schwefelgehalt von Schiffskraftstoff in den SECAs auch auf die Hoheitsgewässer der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union und dann darüber hinaus zu erstrecken.
Daher stimme ich dem Entschließungsantrag der
Koalition auf Drucksache 17/8211 zu.
Der von der EU vorgelegte Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie hinsichtlich des
Schwefelgehalts von Schiffskraftstoffen ist als solcher zu
begrüßen. Bedauerlich ist, dass es keine einheitlichen
Schwefelgrenzwerte für alle Staaten geben soll. Darin
sind wir uns zum Glück alle einig. Den Geltungsbereich
in dieser Hinsicht zu vereinheitlichen, wie es die Koalitionsfraktionen in ihrem Entschließungsantrag fordern,
ist vernünftig. Unvernünftig ist es jedoch, dass sie ihre
eigene Forderung gleich wieder konterkarieren, indem
sie weitreichende Ausnahmeregelungen für ältere Schiffe
anstreben.
Die Befürchtung, es könne eine massive Verlagerung
des Transports vom Wasser auf den Landweg geben,
teile ich nicht. Eher scheint mir, dass hier die Koalitionsfraktionen wieder einmal einem Lobby-Bären aufgesessen sind: Diese Verlagerung wird nicht hoch ausfallen. Hintergrund sind die ebenfalls steigenden Abgasstandards für Lkw. Das bestätigt auch eine Studie der
European Maritime Safety Agency, EMSA. Außerdem
kann die Politik entsprechende Anreize schaffen, wenn
sie eine Verlagerung des Transports auf die Straße befürchtet. Wenn hier die Auffassung formuliert wird, dass
dies nicht möglich ist, ist das eine Bankrotterklärung der
eigenen Politik.
Der Vorschlag für diese Richtlinie ist bereits seit Jahren bekannt. Und die Klimaschutzziele der EU noch viel
länger. Und selbst nach dem Inkrafttreten dieser Richtlinie können Schiffe immer noch 500-mal mehr Schwefel
in die Luft blasen als Fahrzeuge im Straßenverkehr in
der EU. Die Richtlinie ist daher überfällig und notwendig, aber noch lange nicht ausreichend.
Von der Richtlinie betroffene Unternehmen hatten jedenfalls mittlerweile lange genug Zeit, sich auf die sich
ändernden Rahmenbedingungen einzustellen. Dass dies
zum Teil noch nicht passiert ist, zeigt nur, wie wichtig es
ist, dass der Staat hohe Messlatten legt. Zudem gibt es
sehr wohl Unternehmen, die bereits jetzt umweltfreundlichen Standards entsprechen. Indem wir Ausnahmeregelungen zulassen, bestrafen wir innovative, umweltfreundliche Unternehmen, die den Zukunftsmarkt darstellen. Dies ist in höchstem Maße ungerecht und unsolidarisch.
Es kann nicht die Aufgabe dieser Bundesregierung
sein, zur Gewinnmaximierung von Unternehmen beizutragen, die gerade nicht zukunftsfähige, innovative
Ideen umsetzen und damit zum Schaden aller handeln.
Ziel einer vernünftigen Politik muss es sein, den größtmöglichen Nutzen für die Menschen in der EU zu erreichen. Und dies ist dann der Fall, wenn möglichst wenige
Schadstoffe in die Umgebung gelangen.
Am vorliegenden Änderungsantrag zeigen sich wieder die zwei Gesichter der Röttgen’schen Umweltpolitik:
auf der einen Seite die Bestrebungen, die Schifffahrt in
den Emissionshandel mit einzubeziehen - das ist der
grüne Mantel -, und auf der anderen Seite die Initiative,
im Einzelfall umweltschädliche Lobbyinteressen zu bedienen. Dies ist leider inzwischen ein Markenzeichen alZu Protokoll gegebene Reden
ler Ressorts dieser schwarz-gelben Regierung. So kommen wir in der Energiewende nicht entscheidend weiter.
Ich möchte zuallererst einmal feststellen, dass es keinen effizienteren Gütertransport als den mit Schiffen
gibt, insbesondere hinsichtlich des Energiebedarfs. Das
wird, mit Ausnahme der Grünen, auch von niemandem
ernsthaft bestritten. Der Wirkungsgrad der modernen
Großmotoren konnte in den letzten Jahren um 50 Prozent verbessert werden und damit der CO2-Ausstoß trotz
zunehmendem Verkehr deutlich verringert werden; doch
die Emissionen von Stickoxiden und Schwefeloxiden aus
der Schifffahrt sind angestiegen. Aus diesem Grund hat
die International Maritime Organisation vor einigen
Jahren MARPOL Annex 6 eingeführt und zwischenzeitlich die Grenzwerte für die SECA-Zonen sogar verschärft, zu denen auch die Nordsee und die Ostsee gehören. Ab 2015 darf hier nur noch mit 0,1 Prozent
Schwefelgehalt im Treibstoff gefahren werden.
Grundsätzlich ist die Zielsetzung richtig, die durch
den Schiffsverkehr in die Atmosphäre eingebrachten
Emissionen zu reduzieren. Wir müssen aber vermeiden,
dass durch überzogene Emissionsschutzziele der positive Effekt, den wir erzielen wollen, konterkariert wird.
Eine ganze Reihe von Gutachten aus unterschiedlichen
europäischen Ländern kommen übereinstimmend zu
dem Ergebnis, dass die Schwefelemissionsziele mit
0,1 Prozent, insbesondere in den Randmeeren der Ostund Nordsee, durch deutlich höhere Treibstoffkosten voraussichtlich zu Verkehrsverlagerungen führen werden.
Insbesondere betrifft das die Ostsee. Denn dort kann
nahezu jede Strecke auch durch Lkw-Verkehre landseitig
ersetzt werden. Im schlimmsten Fall können sogar, wie
das Gutachten des Instituts für Seeverkehrswirtschaft
und Logistik, ISL, darstellt, bis zu 800 000 Container
vom Schiff auf den Lkw zurückverlagert werden. Das
sind 300 000 bis 400 000 Lkw mehr auf den Straßen,
auch und vor allem im Transitland Deutschland. Damit
erweisen wir dem Umwelt- und Klimaschutz einen Bärendienst. Statt Schwefelemissionen im Schiffsverkehr
erhalten wir dann höhere Feinstaubbelastung und CO2Emissionen im Landverkehr.
Daneben muss aber auch festgestellt werden, dass ab
2015 die schärferen Bestimmungen im europäischen
Kontext nur für Nord- und Ostsee gelten, nicht aber für
die anderen Küstenregionen Europas. So dürfen im Mittelmeer, an der Atlantikküste und in der Irischen See zur
gleichen Zeit noch Treibstoffe mit einem Schwefelgehalt
von 3,5 Prozent verwendet werden. Das ist eine einseitige Wettbewerbsverzerrung zulasten unserer norddeutschen Seehäfen und zeigt gleichzeitig den Irrsinn der
bisherigen Regelungen. Eine Fähre von Southampton
nach Dover muss mit 0,1-prozentigen Schwefelgehalt
fahren, zwischen Liverpool und Dublin darf sie es mit
3,5-prozentigem, also dem 35-fachen.
Hier muss gegengesteuert werden. Die Schwefeloxidemissionen des Schiffsverkehrs sind neben dem Absenken des Schwefelgehalts im Treibstoff selbst effektiv nur
durch den Einbau von entsprechenden Filtersystemen zu
bekämpfen. Diese Filtertechnologien für den Schiffsverkehr sind derzeit aber noch nicht marktreif und ihr Einsatz erscheint bei einem Teil der Bestandsschiffe auch in
Zukunft fraglich.
Deshalb ist es richtig, Anreizsysteme zur Unterstützung von Umrüstungsmaßnahmen zu entwickeln. Auch
gäbe es die Möglichkeit, ältere Schiffe im Rahmen eines
Moratoriums für einen bestimmten Zeitraum von der
Verschärfung des Grenzwertes in den SECAs auszunehmen, um Verkehrsverlagerungen zu vermeiden.
Daneben wird es aber auch höchste Zeit, dass endlich
alle Hoheitsgewässer und ausschließlichen Wirtschaftszonen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu
Schwefelemissions-Überwachungsgebieten werden. Nur
so erreichen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen unseren Nord- und Ostseehäfen auf der einen und
den Mittelmeerhäfen auf der anderen Seite. Schließlich
kann es nicht im Sinne des Meeresumweltschutzes sein,
wenn die emissionsstarken Schiffe zukünftig einfach aufs
Mittelmeer ausweichen.
Zu diesen Punkten haben wir im Übrigen bereits im
Mai des letzten Jahres einen Beschluss im Deutschen
Bundestag zur Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft herbeigeführt. Daher fordere ich SPD und Grüne
auf, aktiv etwas für den Umweltschutz zu tun und nicht
nur darüber zu reden. Ich bitte um Zustimmung zu dem
Antrag.
Meinen letzten Sommerurlaub verbrachte ich in Dänemark. Auf der Fahrt auf dem Deck der Fähre genossen Passagiere Sonne, Wind und frische Luft. „Luft!“,
schrie dann meine Lunge, als eine Wechselböe uns alle
in die Abgasschwaden des Schiffsmotors hüllte.
1 Prozent Schwefelgehalt darf Schiffstreibstoff in der
Ostsee haben. Zum Vergleich: Für Lkw gilt ein Grenzwert von 0,001 Prozent. Ich denke, ich werde vorläufig
keine Schiffsfahrten im Ausland buchen und schon gar
nicht als Passagier auf Handelsschiffen, denn dort dürfen sogar 4,5 Prozent Schwefel im Treibstoff sein - das
hält meine Lunge nicht aus.
Meine Fraktion begrüßt, dass die Richtlinie 1999/32/
EG die Grenzwerte deutlich absenkt. Leider folgt in der
EU einem guten Vorschlag nicht immer eine gute Umsetzung. So sollte die neue Norm für Schiffskraftstoffe 2006
umgesetzt sein, das schafften zum Termin immerhin
3 Mitgliedstaaten, gegen 16 Staaten wurde ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet. Aus Sicht von Bewohnerinnen und Bewohnern der Küste, insbesondere von großen Hafenstädten, von Touristinnen und Touristen und
Reisenden ist dies absolut inakzeptabel.
Diese Woche stellte der Naturschutzbund fest, das allein die 15 größten Schiffe der Welt mehr schädliches
Schwefeldioxid und Rußpartikel aus dem Schornstein
entlassen als alle Fahrzeuge weltweit zusammen. Deshalb sind beispielsweise Fahrverbotszonen für ältere
Pkw ein Witz, solange Schiffe als Feinstaubschleudern
ein Vielfaches an Belastung verursachen. Aber selbst die
Umsetzung der Norm hilft nur, wenn auch kontrolliert
Zu Protokoll gegebene Reden
wird. Schwefel- und schadstoffarmer Treibstoff ist teurer,
also wird dieser nur genutzt, wenn es nicht anders geht schließlich herrscht Wettbewerb und die Profite müssen
wachsen. Im Schnitt wird ein Schiff von 1 000 Schiffen
kontrolliert. Da ist die Angst vor Entdeckung klein. Also
dürfen Anwohnerinnen und Anwohner, Urlauberinnen
und Urlauber weiter mit Feinstaub und Schwefeldioxid
ihre Gesundheit belasten. Die Linke fordert deshalb,
dass die Erhöhung der Kontrollfrequenz nicht nur diskutiert, sondern auch umgesetzt wird.
Selbst bei 100 Prozent Umsetzung der Richtlinie sind
Schiffsabgase noch immer stark gesundheitsgefährdend.
Liegen Schiffe im Hafen, dann laufen schiffseigene Motoren zur Stromversorgung des Schiffes, auch wenn da
strengere Grenzwerte gelten, ohne Kontrollen stinkt’s.
Mit einer Pflicht zur externen Stromversorgung könnten
zumindest diese Schadstoffe vermieden werden. Wir fordern dies als zusätzlichen nationalen Schritt zur Reduzierung der Schadstoffe in Hafenstädten.
Die Koalitionsfraktionen haben überraschend zwei
vernünftige Vorschläge zur Änderung der Richtlinie eingebracht. Dass die strengeren Schwefelgrenzwerte für
Schiffstreibstoffe in allen Gewässern der EU gelten sollen, hat die volle Unterstützung unserer Fraktion. Alle
EU-Bürgerinnen und -Bürger haben den gleichen Anspruch auf gesunde Luft.
Wir stimmen auch zu, dass die Bundesregierung Initiativen ergreifen soll, die eine Verkehrsverlagerung
vom Schiff auf die Straße verhindern. Doch dass der
Seeverkehr über großzügige Ausnahmen bei den Schwefelgrenzwerten vor Verkehrsverlagerungen geschützt
werden wird, wie das die Koalitionsfraktionen fordern,
lehnt die Linke ab. Wir registrieren, dass die Grenzwertdiskussion nur als Beispiel in der Beschlussempfehlung
steht. Die Linke würde einer Verlagerung der Transporte
vom Schiff auf die Straße mit einer höheren Lkw-Maut
begegnen. Das wäre ein wirksames Mittel.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich aktiv
für weltweit gültige, strenge Schwefelgrenzwerte einzusetzen. Es wird Zeit, dass die Schiffe nicht als preiswerte
Müllverbrenner für Raffinerien arbeiten und die Abfälle
der Erdölverarbeitung zulasten der Luftqualität entsorgen. Alle Frauen, Kinder und Männer unserer Welt haben das gleiche Recht auf Gesundheit.
Da in der Entschließung zur Richtlinie zum Schwefelgehalt richtige Verbesserungen empfohlen werden, leider mit einer falschen Idee gekoppelt, können wir der
Entschließung nicht zustimmen. Richtige Richtung, falscher Weg, deshalb enthält sich unsere Fraktion. Wenn
die Regierungskoalition mögliche Verlagerungen vom
Schiff auf die Straße zum Beispiel mit einer höheren Belastung des Lkw-Verkehrs verhindert, erhält sie unsere
Unterstützung. Auch die Anwohnerinnen und Anwohner
der überlasteten Straßen würden es ihr danken.
Erlauben Sie mir, bevor ich auf die EU-Vorlage und
den Entschließungsantrag eingehe, ein paar Worte zum
Schiffsunglück vor der italienischen Küste. Wir kennen
derzeit noch nicht alle Details. Wir wissen noch nicht
genau, wie es zu dem Unglück kommen konnte und wie
groß hier der Anteil des menschlichen Versagens war. Es
ist jedoch absehbar, dass die Kreuzschifffahrt in der
Folge nicht mehr dieselbe bleiben wird. Viele Menschen
werden zukünftig genauer hinsehen. Sie werden wissen
wollen, ob ihr Urlaub nicht nur sicher und gut geplant
ist. Es wird auch darum gehen, ob diese Form der
Kreuzschifffahrt noch eine Zukunft hat oder ob es nicht
doch Alternativen zum Preisdumping gibt. Denn der unglaubliche Boom der Kreuzschifffahrt in den letzten Jahren ging mit stetig fallenden Preisen einher - auch auf
Kosten der Umwelt.
Heute diskutieren wir hier auch über Kostenfragen.
Schiffsemissionen reizen Atemwege und erhöhen das Risiko von Herz- und Lungenerkrankungen. In Europa
wird die Zahl der Todesfälle auf etwa 50 000 geschätzt.
Hinzu kommen die Wirkungen auf die Umwelt: Meere,
Gewässer und Böden in Küstennähe werden versauert,
Gebäude beschädigt. Auch Kreuzfahrtschiffe fahren besonders gern und dicht an der Küste. In der Nordsee
werden bis zu 90 Prozent der Schiffsemissionen mit
Schwefel, Stickoxiden und Ruß innerhalb von 90 Kilometern Entfernung zur Küste rausgeblasen.
Die EU schätzt, dass sich durch verbesserte Gesundheit und niedrigere Sterblichkeit 15 bis 34 Milliarden
Euro sparen lassen. Die Einführung niedrigerer Schwefelgrenzwerte in Schiffstreibstoffen würde dagegen zwischen 2,6 und 11 Milliarden Euro kosten. Schon rein
volkswirtschaftlich gesehen liegt die Umsetzung der
Richtlinie damit auf der Hand.
Aber das ist längst nicht alles: Die Schiffbauindustrie
sieht auch sehr gute Möglichkeiten für den innovativen
Schiffbau. Hier ist Deutschland besonders stark, hier
liegt die Zukunft des deutschen Schiffbaus, und wir sollten diese Möglichkeit offensiv nutzen. Von den Fachleuten wissen wir, dass die Technologien vorhanden sind
und sich die Kosten der Umstellung für die Reedereien
nach etwa eineinhalb Jahren rentieren.
Hinzu kommt, dass die Richtlinie nur die Übertragung eines internationalen Abkommens in EU-Recht ist.
Diesem Abkommen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation hat Deutschland zugestimmt. Demzufolge
wäre es mehr als logisch, das Ganze in europäisches
Recht zu übertragen. Aber so einfach ist das bei dieser
Regierung nicht. Wir können uns hier alle nur fragen,
was der wirkliche Grund für diese Geisterfahrerei der
Koalition ist. Sie lässt gesundheits-, umwelt- und wirtschaftspolitische Aspekte völlig außen vor und ignoriert
ein internationales Abkommen. Die Antwort ist offensichtlich: Hierbei geht es nicht um das Gemeinwohl,
sondern um die Interessen einiger weniger - dieses Mal
sind es Reedereien, die bevorzugt auf Nord- und Ostsee
unterwegs sind.
Es bleibt das Geheimnis der Koalition, wieso sie wieder einmal so eine Politik macht. Etwas kurios war hier
das Abstimmungsverhalten der Linken in den Ausschüssen, mit dem dieser politische Unsinn auch noch unterstützt wurde. Zum Glück haben die Linken das eingesehen und ihre Meinung geändert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Selbstverständlich ist richtig, dass die Umstellung
nicht kostenlos zu haben ist. Es ist doch völlig klar, dass
schwefelarmer Treibstoff mehr kostet als der Sondermüll, der heute auf den Weltmeeren verfeuert wird. Aber
das wissen die betroffenen Reeder seit Jahren. Seit Jahren ist klar, dass die Grenzwerte sinken. Hierauf hätte
schon lange reagiert werden können. Stattdessen wird
das Geld lieber in Lobbyarbeit gesteckt. Da werden Studien verfasst, die entscheidende Aspekte einfach nicht
berücksichtigen. Selbst die Bundesregierung gibt das zu.
Aber diese Koalition lässt sich davon nicht beeindrucken, sondern macht einfach weiter ihre Lobbypolitik.
Fassen wir also zusammen: Was hier und heute
beschlossen werden soll, ist gesundheitspolitischer
Unsinn, steht gegen den Umweltschutz und zeugt von
wirtschaftspolitischer Inkompetenz. Dazu wird ein internationales Abkommen untergraben. Dem muss nichts
mehr hinzugefügt werden. Die Fakten sprechen für sich.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8211, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Martin
Dörmann, Gerold Reichenbach, Doris Barnett,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Telemediengesetzes ({0})
- Drucksache 17/8454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von den
Kollegen Andreas Lämmel und Dr. Georg Nüßlein,
CDU/CSU, Gerold Reichenbach, SPD, Claudia Bögel,
FDP, Halina Wawzyniak, Die Linke, Dr. Konstantin von
Notz, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8454 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
1) Anlage 13
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Renten für Leistungsberechtigte des GhettoRentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich
auszahlen
- Drucksache 17/7985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss ({3})
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von
Peter Weiß, CDU/CSU, Anton Schaaf, SPD,
Dr. Heinrich Kolb, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Volker
Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Die Aufarbeitung von NS-Unrecht ist nicht nur eine
rechtlich sehr komplexe Aufgabe, sondern auch ein sehr
sensibles Thema.
Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto, ZRBG, aus dem Jahre
2002 hat der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend
die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, dass die in
einem Ghetto ausgeübte Tätigkeit rentenrechtlich als
Beitragszeit berücksichtigt werden kann. Dieses Gesetz
war und ist ein wichtiger Beitrag, um den Menschen gerecht werden zu können, die die Nazimachthaber in
Ghettos zwangen, und die dort einen harten Kampf ums
Überleben führen mussten.
Mit ihren grundlegenden Urteilen vom 2. und 3. Juni
2009 haben die Rentensenate des Bundessozialgerichts
Leitlinien zur Handhabung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto,
ZRBG, aufgestellt, durch die die frühere teilweise eher
restriktive Rechtsprechung aufgegeben wurde. Damit
sollten die extrem hohen Ablehnungsquoten für Anträge
nach dem ZRBG, die in den ersten Jahren die Umsetzung
des ZRGB geprägt haben in Zukunft vermieden werden.
Die Kriterien „aus eigener Willensentscheidung“ und
„Entgeltlichkeit“ müssen im Lichte der besonderen Zielsetzung des ZRBG gesehen werden, damit die eigentlich
beabsichtigte Regelung nicht ins Leere läuft.
Selbstkritisch betrachtet müssen wir sagen, diese
nachträgliche Auslegung der Voraussetzungen für einen
Rentenanspruch und die Erkenntnis, dass die Ghettobeschäftigung nicht mit den Maßstäben eines allgemeinen
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses
zu messen ist, haben zu lange gedauert.
Die Rentenversicherungsträger haben dennoch versucht, diese neue Rechtsprechung nicht nur umgehend
und zügig umzusetzen, um den teilweise sehr betagten
Menschen eine möglichst rasche Auszahlung zu ermöglichen. Alle zuvor von der Deutschen Rentenversicherung abgelehnten Anträge wurden von Amts wegen
- das heißt ohne erneuten Antrag oder Meldung durch
den oder die Betroffenen - erneut aufgegriffen und überPeter Weiß ({0})
prüft. Die Betroffenen wurden direkt von den zuständigen Trägern der Deutschen Rentenversicherung kontaktiert, wobei sich die Bearbeitungsreihenfolge nach den
Geburtsjahrgängen der Betroffenen richtete.
Insgesamt wurden 56 753 Fälle überprüft, wobei bei
knapp 7 200 Fällen festgestellt werden musste, dass der
Bezug zum ZRBG fehlt. Von den verbleibenden 49 600 Fällen wurden rund 25 000 mit positivem Bewilligungsbescheid abgeschlossen. 3 000 Anträge wurden abgelehnt.
Etwa 22 000 Anträge konnten leider nicht mit einem Bescheid abgeschlossen werden, weil die Betroffenen zum
Beispiel verstorben und die Rechtsnachfolger - das betraf rund 7 000 Fälle - nicht ermittelt werden konnten,
weil es aufgrund der Prüfung zu keinem anderen Ergebnis kam und der ursprüngliche Ablehnungsbescheid
weiter Geltung behielt - 4 200 Fälle - oder weil die
Überprüfung bereits an der Kontaktaufnahme mit den
Betroffenen scheiterte - 10 000 Fälle.
In dem abschließenden Bericht der Deutschen Rentenversicherung zu den Überprüfungen der abgelehnten
Anträge, der Ende November 2011 vorgelegt worden ist,
heißt es:
Setzt man die Zahl der Bewilligungen ({1}) ins
Verhältnis zur maßgeblichen Gesamtzahl zu überprüfender Vorgänge ({2}), ergibt sich eine Bewilligungsquote von über 50 Prozent.
Insgesamt wurde ein Rentenvolumen von über
441 Millionen Euro nachgezahlt, davon 54 Millionen Euro an Zinsen. Die laufenden monatlichen
Rentenzahlungen belaufen sich auf rund 5 Millionen Euro.
Am 7. und 8. Februar 2012, also in nur neun Tagen,
werden die Rentensenate des Bundessozialgerichts über
die Rückwirkung des erleichterten Zugangs zu den Ghettorenten entscheiden.
In den rund 5 000 Fällen, in denen eine ablehnende
Entscheidung wegen eingelegter Rechtsmittel nicht bestandskräftig geworden war, konnten, für bis zum
30. Juni 2003 gestellte Anträge, gemäß § 3 Abs. 1 ZRBG
die bewilligten Leistungen regelmäßig rückwirkend ab
dem 1. Juli 1997 erbracht werden.
Etwas anderes gilt rentenrechtlich jedoch, wenn die
Anträge schon einmal bindend abgelehnt worden waren.
Hier wurde von den Rentenversicherungsträgern § 44
SGB X angewandt, der eine materiell-rechtliche Einschränkung für nachträglich zu erbringende Sozialleistungen vorsieht.
Im Gegensatz zu § 100 Abs. 4 SGB VI, der als Sonderregelung zu § 44 SGB X die Rücknahme rechtswidriger
nicht begünstigender Verwaltungsakte im Bereich des
SGB VI regelt, haben die Rentenversicherungsträger damit die günstigere Regelung angewandt. So wird nach
§ 44 SGB X eine rückwirkende Leistungserbringung
nicht wie bei § 100 Abs. 4 SGB VI quasi ausgeschlossen,
sondern auf einen maximalen Zeitraum von vier Jahren
begrenzt.
In der Praxis haben die Rentenversicherungsträger
die Renten, wenn aufgrund der neuen Rechtsprechung
im Jahr 2009 Überprüfungsanträge gestellt wurden, bei
vorhergehender bindender Ablehnung erst ab dem 1. Januar 2005 gezahlt. Hintergrund dieser Regelung ist der
Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen an einer möglichst vollständigen Erbringung der ihm zu Unrecht vorenthaltenen Sozialleistungen und dem Interesse
der Solidargemeinschaft aller Versicherten an einer
möglichst geringen finanziellen Belastung für Leistungen für zurückliegende Zeiträume.
Trotz der hohen Sensibilität für die Materie darf auch
nicht außer Acht blieben, dass das Sozialsystem bei einer Nachzahlung für vier Jahre bereits eine außerordentliche Belastung von etwa 500 Millionen Euro aufbringen musste. Bei einer rückwirkenden Nachzahlung
generell bis 1997 würden schätzungsweise noch einmal
Mehrkosten in einer Größenordnung knapp unterhalb
1 Milliarde Euro dazukommen.
Die Vierjahresfrist ist eine im Sozialgesetzbuch
durchaus übliche Frist, um Rechte und Pflichten aus einem Sozialleistungsverhältnis auszugleichen. Bereits
vor dem Inkrafttreten des SGB I am 1. Januar 1976 galt
im Rentenversicherungsrecht gemäß § 29 Abs. 3 RVO
die vierjährige Verjährungsfrist.
Außerdem wird bei § 44 SGB X nicht darauf abgestellt, ob und wann ein Überprüfungsantrag gestellt
worden ist, und auch nicht darauf, auf welchem konkreten Rechtsgrund die spätere Entscheidung des Leistungsträgers beruht oder ob sie aufgrund eines geänderten Sachverhalts oder der geänderten Rechtsauslegung
geändert wird.
Die jetzt bevorstehende Entscheidung des Bundessozialgerichts resultiert aus verschiedenen im Rahmen der
Sprungrevision zugelassenen erstinstanzlichen Verfahren, die eine Anwendbarkeit der § 44 Abs. 4 SGB X infrage stellen.
Vorgetragen wurde in den Verfahren, dass es oftmals
von Zufällen abhänge, ob über einen Rentenantrag nach
dem ZRBG im Juni 2009 schon bindend entschieden
war. Vielfach seien gerade auch die Verfahren der ältesten Antragsteller vorgezogen worden, was sich nun als
nachteilig erweise. Würde man den Ghettoarbeitern die
ihnen nach Gesetz und Rechtsprechung zustehenden
Leistungen vorenthalten, widerspreche dies dem Grundgedanken des Wiedergutmachungsrechts.
Von den erstinstanzlich zuständigen Sozialgerichten
gibt es unterschiedliche Urteile: Teilweise wurden den
Klägern rückwirkende Leistungen bereits ab 1. Juli
1997 zugesprochen, teilweise wurden die Klagen abgewiesen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, dass
sich das Bundessozialgericht dieser Frage annehmen
wird und wird im Falle einer positiven Entscheidung dafür Sorge tragen, dass die Rentenversicherungsträger
die neue Regelung umgehend und umfassend umsetzen
werden. Sollten die Richterinnen und Richter zu einer
Anwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X kommen, werden
wir die Urteilsgründe sehr genau überprüfen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Peter Weiß ({3})
Der richterlichen Entscheidung, die ja nun kurz bevorsteht, durch einen Gesetzentwurf des Deutschen Bundestages zuvorzukommen, ist nicht nur der systematisch
falsche Weg, sondern läuft auch Gefahr einer zweigleisigen Debatte, die den Leistungsberechtigten unbedingt
erspart werden sollte. Es ist daher unverständlich und
zeugt von mangelndem Respekt vor der dritten Gewalt
- der Rechtsprechung - wenn die Linken jetzt kurz vor
einem höchstrichterlichen Urteil einen Antrag im Deutschen Bundestag einbringen. Der gesetzgeberische
Handlungsbedarf wird durch die höchstrichterliche
Rechtsprechung schon sehr bald konkretisiert werden,
und damit werden die Voraussetzungen und die Vorgaben für eine Befassung des Deutschen Bundestages gesetzt.
Die Linke greift in ihrem Antrag ein Problem auf, dessen Lösung uns allen am Herzen liegen muss: Wer bis
zum 30. Juni 2003 einen Antrag auf eine sogenannte
Ghettorente gestellt hat, soll, wie es dem Gesetz entspricht - unabhängig vom Zeitpunkt der tatsächlichen
Bewilligung -, ab 1997 auch Leistungen erhalten. In den
meisten Fällen allerdings bekommen die Betroffenen
ihre Renten erst ab dem Jahr 2005.
Um diese unterschiedliche Behandlung der ehemaligen Ghettoarbeiter nachvollziehen zu können, müssen
wir kurz rekapitulieren: Die Gewährung der sogenannten Ghettorenten ergänzt das bestehende Entschädigungsrecht nach Zwangsarbeit und ist damit Teil deutscher Wiedergutmachung nach dem Terror der
Nationalsozialisten. Das im Jahr 2002 verkündete
ZRBG - Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto - regelt die Voraussetzungen. Leistungen werden bei rechtzeitiger Antragstellung ab 1997 gewährt.
Das Jahr 1997, auf das sich das ZRBG bezieht, markiert den Beginn der sogenannten „Ghettorechtsprechung“ und damit einen Wendepunkt deutscher Wiedergutmachungspolitik. Es war die Erkenntnis gereift, dass
Arbeitsleistungen von Verfolgten in den vom Dritten
Reich eingerichteten Ghettos nicht unbedingt mit
Zwangsarbeit gleichzusetzen sind, sondern auch in einem Beschäftigungsverhältnis erbracht werden konnten,
für die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung
zu zahlen sind. Das Gesetz gilt für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort
zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto
sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich
besetzt oder diesem eingegliedert war.
Leider führten die folgenden Anträge der ehemals
Verfolgten auf eine Rente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto in den allermeisten Fällen nicht zur Gewährung
einer Rente. Die Erfordernis, eine versicherungspflichtige Beschäftigung nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung nachzuweisen, bedeutete eine zu
große Hürde.
Rund 90 Prozent der Anträge wurden daher in den
Jahren nach Inkrafttreten des ZRBG abgelehnt. Dies hat
sich erst mit mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts im Jahr 2009 geändert. Mit den neu gefassten
Leitlinien zur Handhabung des ZRBG wurde in Teilen die
frühere, restriktivere Rechtsprechung aufgegeben. Dies
gilt beispielsweise in Bezug auf die Natur des Entgelts;
insofern werden nun auch Nahrungsmittel oder Kleidung
als solches gewertet. Denn im Kontext der Ghettos hatte
Entlohnung in Form von Naturalien einen höheren Wert
als Geld. Damit trägt das Gericht den außerordentlichen
Verhältnissen, unter denen die Verfolgten leben mussten,
Rechnung; mit rentenversicherungsrechtlichen Entgeltbegriffen sind diese kaum zu fassen. Auch auf ein Mindestalter, das bis dahin Voraussetzung für die Gewährung einer Rente war, wurde verzichtet. Zugleich wurde
auch der Begriff der Willensentscheidung, der das Zustandekommen eines Beschäftigungsverhältnisses und
die Grenze zur Zwangsarbeit markieren sollte, vereinfacht.
Im Nachgang zu den Urteilen hat die deutsche Rentenversicherung eine Überprüfung der abgelehnten Anträge vorgenommen, die weitgehend abgeschlossen ist.
Mehrere Tausende an Berechtigten erhalten nun Renten
nach dem ZRBG. Darunter befinden sich viele, deren
Anträge vor der Änderung der Rechtsprechung bereits
einmal bindend abgelehnt worden waren.
Genau hier liegt der wunde Punkt: Für diese Antragsteller begannen die Rentenzahlungen nicht rückwirkend zum 1. Juli 1997, wie dies § 3 Abs. 1 ZRBG für bis
zum 30. Juni 2003 gestellte Anträge vorsieht. Vielmehr
haben die Rentenversicherungsträger die Renten erst ab
1. Januar 2005 gezahlt, wenn aufgrund der neuen
Rechtsprechung im Jahr 2009 überprüft wurde. Insofern
kam § 44 SGB X zur Anwendung. Nach dessen Abs. 1 hat
jeder einen Anspruch auf erneute Überprüfung, wenn
sich ein früherer Bescheid zu seinen Ungunsten als
rechtswidrig erweist. In Abs. 4 der Vorschrift ist darüber
hinaus festgelegt, dass dann Leistungen für vier Jahre
rückwirkend zu erbringen sind.
Besonders tragisch an der geltenden Rechtsanwendung ist, dass besonders ältere Betroffene, deren Anträge wegen ihres Alters vorgezogen beurteilt wurden
und daher zum Zeitpunkt der Urteile des Bundessozialgerichts im Jahr 2009 schon bindend entschieden waren, nun im Nachteil sind. Es ist mehr als fraglich, ob
dies der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers entsprechen kann.
Eine Vielzahl von Antragstellern will die getroffene
Entscheidung nicht akzeptieren und pocht auf einen
Leistungsanspruch ab 1997. Einige Betroffene haben
geklagt. Im Ergebnis liegen nun gegensätzliche erstinstanzliche Urteile der Sozialgerichte vor: Einige wiesen
Klagen ab, andere beschieden im Sinne der Kläger.
Die Folge der gefällten Urteile: Die zuständigen Senate des Bundessozialgerichts werden abschließend am
7. und am 8. Februar 2012 über die Rückwirkung des erleichterten Zugangs zu den Ghettorenten entscheiden.
Das Resultat sollten wir abwarten, bevor wir über den
vorliegenden Antrag abstimmen oder weitere Initiativen
Zu Protokoll gegebene Reden
anschieben. Allerdings ist eine politische Lösung gefragt, sollte das Bundessozialgericht nicht im Sinne der
Ziele des ZRBG entscheiden können.
Auch in der Vergangenheit war in Reaktion auf die
- so vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte - enge Auslegung des ZRBG ein stetiges Ineinandergreifen von
Rechtsprechung und Politik zu beobachten.
So war am 1. Oktober 2007 vor dem Hintergrund der
sehr hohen Ablehnungsquote der Anträge nach dem
ZRBG eine Richtlinie der Bundesregierung erlassen
worden. Seitdem können Verfolgte im Sinne des § 1 des
Bundesentschädigungsgesetzes, die sich zwangsweise in
einem Ghetto im nationalsozialistischen Einflussgebiet
aufhielten, eine einmalige Leistung in Höhe von
2 000 Euro erhalten, wenn für diese Arbeit keine Leistung im Rahmen der Entschädigung nach Zwangsarbeit
gezahlt wurde.
Dies verdeutlicht auch: Das ZRBG gehört zwar zum
Rentenrecht, stellt aber eine Sonderregelung dar. Dies
liegt begründet in der besonderen historischen Konstellation und den extremen Bedingungen, unter denen die
Verfolgten in den Ghettos der Nationalsozialisten zu leiden hatten. Daher dürfen wir auch jetzt nicht in letzter
Konsequenz davor zurückscheuen, der ursprünglichen
Intention des ZRBG, eine Lücke im Recht der Wiedergutmachung für alle Ghettoüberlebenden zu schließen, zum
Durchbruch zu verhelfen. Denn wie sich der Sachverhalt
jetzt darstellt, werden, verursacht durch den langen Klärungsprozess, nicht alle Betroffenen tatsächlich gleich
behandelt.
Mittlerweile sind circa 7 000 Antragsteller verstorben und zu vielen Tausenden konnte - trotz erheblicher
Bemühungen - kein Kontakt mehr hergestellt werden.
Diese Zahlen unterstreichen die besondere Dringlichkeit für eine abschließende und zufriedenstellende Lösung.
Das Thema der heutigen Debatte taugt nicht für eine
parteipolitische Auseinandersetzung.
Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2002 das Gesetz
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto, ZRBG, einstimmig beschlossen. Vorgesehen war die Rückwirkung ab 1. Juli 1997. Leider hat
dieses Gesetz nicht so gewirkt, wie wir alle es uns damals erhofft und gewünscht hatten. Das ZRBG war ein
Versuch, die Problematik der ehemals in einem Ghetto
Beschäftigten rentenrechtlich zu lösen. Diese Überlegung stützte sich auf die vorangegangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, BSG, die ihrerseits seit
1997 erstmals eine rentenrechtliche Lösung für ehemals
in einem Ghetto Beschäftigte vorgab.
Bis zum Urteil des BSG zum Ghetto Łódź vom
18. Juni 1997 wurde davon ausgegangen, dass Arbeit in
Ghettos, die von der deutschen Besatzung oder auf ihre
Veranlassung hin eingerichtet wurden, als Zwangsarbeit
auf Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses geleistet wurde. Da damit keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung vorlag, kamen Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung auch
nicht in Betracht. Mit dem Urteil des BSG wurde dann
die Arbeit im Ghetto Łódź als ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis angesehen, das auf freiem
Willensentschluss beruhte und gegen Entgelt ausgeübt
wurde. Das ist Voraussetzung für jede Rentenzahlung.
Dieser rentenrechtliche Lösungsansatz hat Schwierigkeiten mit sich gebracht. Die für die Verhältnisse des
Ghettos in Łódź passende Regelung war nicht ohne Weiteres auf andere Ghettos übertragbar. Insbesondere der
Kern der rentenrechtlichen Lösung, also die Geltendmachung einer „aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen“ und „gegen Entgelt ausgeübten“
Tätigkeit, war in der Antragspraxis oft nicht nachweisbar.
Die FDP hat sich nicht nur deswegen in der Vergangenheit eher für Entschädigungslösungen als für die
rentenrechtliche Bewertung ausgesprochen. Die aufgetretenen Schwierigkeiten bestätigen unsere Haltung.
In seiner praktischen Anwendung hat das ZRBG nicht
zu befriedigenden Ergebnissen geführt, sondern zu hohen Ablehnungsraten und Klagen. Den Rentenversicherungsträgern, also den zuständigen LVAs, kann das
Scheitern der Umsetzung des ZRBG aber nicht vorgeworfen werden. Sie haben nur nach den im Gesetz geregelten rentenrechtlichen Grundsätzen gehandelt.
Im Jahr 2009 hat das BSG praktikablere Leitlinien
gesetzt und die Entgeltlichkeit der Tätigkeiten erleichtert. Danach waren bis Ende Juni 2011 mehr als
50 000 Anträge bearbeitet und beschieden worden, davon mehr als 90 Prozent positiv. Gut 2 000 Anträge waren zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht abgeschlossen.
Nach wie vor laufen Prüfungen, insbesondere auch
Gerichtsverfahren. Anfang Februar ist erneut mit Urteilen des BSG zur Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X zu
rechnen. Wie schon in der Vergangenheit wird das Richterrecht uns Hinweise geben, ob gesetzgeberische Konsequenzen notwendig und sinnvoll sind.
Ich bin überzeugt, dass der Bundestag bei diesem
Thema wie in der Vergangenheit auf einer sehr breiten
- ich hoffe einstimmigen - Basis agieren wird. Einer Initiative der Linken hätte es dazu nicht bedurft.
Unser Antrag zielt darauf ab, eine Ungerechtigkeit
bei der Auszahlung der sogenannten Ghettorenten auszugleichen.
Im Jahr 2002 hat der Bundestag einen Beschluss des
Bundessozialgerichts umgesetzt und einstimmig beschlossen, dass NS-Opfer, die unter den Nazis in Ghettos gezwungen wurden und dort einer Arbeit nachgegangen
waren, für diese Arbeit eine Rente erhalten sollen. Wir
müssen leider feststellen, dass dieses Gesetz nicht so
umgesetzt worden ist, wie es von uns allen hier im Haus
beabsichtigt war. Durch Fehler und Mängel haben
Zehntausende von überlebenden Ghettoarbeitern kein
Geld erhalten oder weniger als geplant.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich will hier nicht anfangen, Schuldzuweisungen an
Parlament, Bundesregierung und Deutsche Rentenversicherung zu verteilen. Die Linke will, dass der Mangel
behoben wird. Denn eine Seite kann definitiv nichts dafür: Die NS-Opfer, die im Ghetto geschuftet haben. Es
darf nicht sein, dass sie für Fehler bezahlen sollen, die
bei der Anwendung des Gesetzes zutage traten. Deshalb
stellt die Linke diesen Antrag.
Das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, ZRBG, musste praktisch
als gescheitert angesehen werden, als in den ersten Jahren von über 60 000 Anträgen nur 5 100 bewilligt wurden. Das lag zu einem großen Teil an den fragwürdigen
Begrifflichkeiten im Gesetz selbst bzw. ihrer Auslegung,
so etwa der erforderten Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme und dem Erhalt von Entgelt dafür. Etliche Betroffene haben das als Verharmlosung der mörderischen Zustände im Ghetto empfunden. Die Deutsche Rentenversicherung hat fast alle Anträge abgelehnt, weil sie
ebenfalls keine Freiwilligkeit gesehen hat.
Erst spät, 2009, hat das Bundessozialgericht entschieden, dass die Begriffe großzügig interpretiert werden müssen und man die Spielräume berücksichtigen
muss, die es auch im Ghetto gab, so gering sie auch gewesen sind. Auch eine Handvoll Kartoffeln extra stellt
ein Entgelt dar, das damals überlebenswichtig sein
konnte. Dieses Urteil war extrem wichtig. Das zeigt das
Ergebnis der Überprüfungen, die danach von der Rentenversicherung vorgenommen wurden. Ich habe mir
dieser Tage die aktuellen Zahlen geben lassen: Von
knapp 28 000 neu erteilten Bescheiden fielen rund
25 000 positiv aus.
Diese Menschen erhalten jetzt also Rente, nachdem
sie ihnen erst verweigert worden war. Das ist eine erfreuliche Nachricht, die aber dadurch getrübt wird, dass
mindestens 17 000 Betroffene keinen neuen Bescheid
mehr erhalten konnten: 7 000 sind zwischenzeitlich verstorben, weitere 10 000 nicht mehr auffindbar, weil sie
unbekannt verzogen oder ebenfalls verstorben sind.
Und einen weiteren Wermutstropfen gibt es: Noch immer wird das Gesetz nicht so durchgeführt, wie es vom
Bundestag einst beschlossen worden ist. Damals haben
wir den Betroffenen gesagt: Wenn ihr bis Mitte 2003
euren Antrag einreicht, dann zahlen wir euch die Rente
ab dem Jahr 1997 rückwirkend aus. 1997 wurde deswegen als Stichdatum gewählt, weil damals der erste einschlägige Beschluss des Bundessozialgerichts ergangen
war, dass Ghettoarbeit prinzipiell einen Rentenanspruch
begründet. Auszahlung ab 1997 - darin waren wir uns
damals alle einig; auch die Gesetzesbegründung machte
das klar.
Doch das hat nicht geklappt. Bei den 25 000 Anträgen, die nach dem Urteil des Bundessozialgerichts neu
geprüft und anerkannt worden sind, wird die Rückwirkung erst ab 2005 angewandt. Das hat die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage mit der im
allgemeinen Sozialrecht geltenden maximalen Rückwirkung von vier Jahren begründet; und diese vier Jahre
werden von der BGS-Entscheidung an gerechnet.
Im Klartext heißt das also: Die allermeisten Berechtigten erhalten die Rente nicht, wie ursprünglich versprochen, rückwirkend ab 1997, sondern erst ab 2005.
Das hält die Linke für einen Fehler, den wir gutmachen
müssen, auch wenn wir dafür rechtliches Neuland betreten müssen. Das haben wir beim ersten Gesetz ja auch
getan.
Deswegen beantragen wir, dass die Renten ab 1997
rückwirkend ausgezahlt werden. Darin waren wir uns in
diesem Parlament ja alle einig, und ich hoffe sehr, dass
wir uns auch heute noch darin einig sind. Wir können
nicht die NS-Opfer verhöhnen, indem wir sie für unsere
Fehler bezahlen lassen.
Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto, kurz ZRBG, von 2002
wollte Rot-Grün eine Lücke im Entschädigungsrecht
schließen. Hier geht es um Menschen, die unter dem
NS-Regime in ein Ghetto gezwungen wurden und dort,
oft um dem Hungertod zu entgehen, eine Beschäftigung
annahmen. Dieser Personenkreis sollte nach der Intention des Gesetzgebers für die Arbeitszeit im Ghetto Rentenzahlungen erhalten, ohne dafür nachträglich Beiträge zur Rentenversicherung entrichten zu müssen. Das
Gesetz fußt auf einer Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997. Nach dem ZRBG haben Überlebende des NS-Terrors auch rückwirkend ab Juli 1997
deutsche Rentenansprüche erworben, wenn sie in einem
Ghetto gearbeitet haben. 2009 entschied das Bundessozialgericht zudem, dass dies auch gilt, wenn sie im
Ghetto zur Arbeit verpflichtet waren und als Lohn lediglich Nahrung oder Lebensmittelkarten erhalten haben.
Bis dahin wurde davon ausgegangen, dass die Arbeit in
Ghettos, die von der deutschen Besatzung oder auf ihre
Veranlassung hin eingerichtet wurden, als Zwangsarbeit
auf Grundlage eines Gewaltverhältnisses geleistet
wurde und Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung deshalb nicht in Betracht kommen.
Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom Deutschen
Bundestag beschlossen. In seiner praktischen Anwendung hat das Gesetz aber lange nicht zu den vom Gesetzgeber gewünschten Ergebnissen geführt. Von den etwa
70 000 Anträgen wurden anfangs nur wenige positiv
beschieden. Die zuständigen Landesversicherungsanstalten haben viel zu hohe Hürden aufgebaut. Das widerspricht der Intention des Deutschen Bundestages.
Der Gesetzgeber hatte 2002 zugunsten der betroffenen
NS-Verfolgten entschieden, wohl wissend, dass damit
rentenrechtliches Neuland betreten wurde.
Dennoch mussten die Überlebenden der Nazischinderei mit den deutschen Rentenversicherungen kämpfen:
mit deren fehlender Sensibilität für persönliche Schicksale und historische Zusammenhänge. Dadurch wurden
Anträge verzögert, blockiert und oft auch pauschal abgelehnt. Diese langwierige deutsche Bewilligungspraxis
war zuletzt im Vorfeld der deutsch-israelischen Regierungskonsultationen 2011 von der israelischen Regierung kritisiert worden. Aber nicht nur die israelische,
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
auch die deutsche Öffentlichkeit erwartet von SchwarzGelb eine klare Ansage.
Heute warten über 20 000 Holocaustüberlebende darauf, dass ihnen ein Rentenanspruch rückwirkend zum
Jahr 1997 gewährt wird. Bislang beruft sich die Bundesregierung auf das Sozialrecht und gewährt diesen Rentenanspruch nur rückwirkend für vier Jahre, von 2009
gerechnet also ab dem Jahr 2005. Als wir im Bundestag
dieses Gesetz verabschiedeten, war das nicht unsere Absicht als gesetzgebendes Organ. Es ist unhaltbar, dass
nun den letzten überlebenden NS-Opfern durch diese
Verschleppungstaktik Rentenansprüche vorenthalten
werden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man hier
auf eine „demografische Lösung“ des Problems hofft.
Das ist zynisch, unanständig und zutiefst beschämend.
Der Antrag der Linksfraktion, die Rentenzahlungen
rückwirkend ab dem 1. Juni 1997 zu zahlen, findet deshalb die uneingeschränkte Zustimmung meiner Fraktion.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7985 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen die Federführung beim Ausschuss für Arbeit
und Soziales, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen: Federführung beim Innenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Zustimmung der Linken und der Grünen.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD gegen die Stimmen der Linken und der Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Stephan Kühn, Undine Kurth ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein neues Bergrecht für das 21. Jahrhundert
- Drucksache 17/8133 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von
Andreas Lämmel, CDU/CSU, Rolf Hempelmann, SPD,
Klaus Breil, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke,
Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.
Fragen der Rohstoff- und Energiepolitik bleiben auch
im Jahr 2012 von hoher Aktualität und politischer Brisanz. Gleich zum Jahresauftakt erfreuen uns die Grünen
auf ihre Art mit einem Antrag zur angeblichen Modernisierung des Bergrechts. Sie hätten ihren Antrag auch
ehrlicherweise „Bergbau in Deutschland abschaffen!“
oder „Bergbau in Deutschland - im 21. Jahrhundert ist
Schluss!“ nennen sollen.
Diesen Antrag gilt es in einem größeren Kontext zu
sehen, um ihn auch angemessen beurteilen zu können.
Erstens. Deutschland ist umfassend von Rohstoffimporten abhängig. Die christlich-liberale Koalition hat
daher in dieser Legislaturperiode eine umfassende Rohstoffstrategie vorgelegt. Ein wesentlicher Bestandteil
dieser Rohstoffstrategie ist die Diversifizierung der
Rohstoffbezugsquellen. So werden Abhängigkeiten vermieden oder reduziert, und die Versorgungssicherheit
kann erhöht werden.
Zweitens. Zur Diversifizierung zählt auch die Nutzung heimischer Rohstoffe. Damit kann Deutschland
Rohstoffimporte vermeiden, Vermögens- und Kaufkrafttransfers ins Ausland verhindern und Wertschöpfungsketten im Land halten.
Drittens. Neben diesem ökonomischen Aspekt sind
auch ökologische und soziale Aspekte zu beachten. Wir
haben in Deutschland bereits hohe Standards an Umweltauflagen für den Bergbau. Dies gilt auch für den Arbeitsschutz. Findet Bergbau nicht mehr in Deutschland
statt, wird der Bedarf durch den Abbau in anderen Weltregionen gedeckt. Wir alle wissen, dass die ökologischen
und sozialen Standards in den meisten Ländern viel
niedriger sind als bei uns. Eine Verlagerung des Bergbaus aus Deutschland steigert die Nachfrage nach importierten Rohstoffen, die unter niedrigeren bis nicht
vorhandenen ökologischen und sozialen Standards abgebaut wurden.
Viertens. Das Motto der Grünen „Kein Bergbau bei
uns - kein Problem“ ist kurzsichtig und verantwortungslos. Das sollten sie auch gegenüber ihren Anhängern erklären.
Fünftens. Ein weiterer grundlegender Punkt ist die
Energiepolitik. Fast alle Mitglieder des Deutschen Bundestages, auch die Fraktion der Grünen, haben im
Sommer des vergangenen Jahres die „Energiewende“
beschlossen. Wir haben also gemeinsam acht grundlastfähige Kernkraftwerke vom Netz genommen und wollen
schrittweise bis zum Jahr 2022 komplett auf die Kernenergie verzichten. Bis der erforderliche Ausbau der
erneuerbaren Energien erfolgt und insbesondere die begleitende Infrastruktur errichtet ist - ich nenne nur
Netze und Speicher als Stichworte -, werden wir in
Deutschland verstärkt fossile Energieträger nutzen müssen. Dazu gehören neben überwiegend importiertem
Erdgas und Erdöl auch die heimischen Energieträger
Stein- und Braunkohle. Folglich müssen wir in der Lage
sein, die erforderlichen Rohstoffe auch in Deutschland
abzubauen. Diesen Zusammenhang sollten die Grünen
auch ihren Anhängern erläutern. Mit dem Abschalten
von Kernkraftwerken ist es nicht getan. Wer aussteigt,
muss auch einsteigen.
Nun aber zum Antrag. Die Grünen wollen ein Bergrecht für das 21. Jahrhundert, ein neues Bergrecht, um
genau zu sein. Sie übersehen, dass ein in Deutschland
einheitliches Bergrecht in dieser Form seit den frühen
80er-Jahren besteht. Das Bergrecht wurde seit seinem
Inkrafttreten 1982 ständig an umweltrechtliche Vorgaben, insbesondere denen des EU-Rechts, angepasst.
Auch in der ständigen Rechtsprechung der Gerichte
wurden keine Differenzen zwischen dem Bergrecht und
bestehenden umwelt- oder verfahrensrechtlichen Regelungen angemahnt.
Das Bergrecht hat selbstverständlich den Zweck, die
Rohstoffgewinnung zu ermöglichen. Aber dies geschieht
natürlich in einer Abwägung mit den Interessen Dritter,
primär der ansässigen Bevölkerung und der Natur. So ist
seit 1990 für größere Vorhaben die Durchführung eines
Planfeststellungsverfahrens inklusive Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung obligatorisch. Speziell für den Braunkohlebergbau ist noch das
raumordnerische Braunkohlenplanverfahren vorgesehen, welches mehrere Jahre in Anspruch nimmt und
unter Durchführung von Umweltprüfungen, Öffentlichkeitsbeteiligung und auf Basis von zahlreichen Gutachten die gesamtheitliche Abwägung der Braunkohlegewinnung im Tagebau mit allen anderen berührten
Belangen vollzieht. Die Wiedernutzbarmachung der Erdoberfläche nach erfolgtem Abbau ist - das ist weltweit
einmalig - Bestandteil unseres Bergrechts.
Gerade in diesem Punkt zeigt sich eine unsachliche Zuspitzung im Antrag der Grünen. Sie schreiben auf den Seiten 1 und 2 von „300 Ortschaften mit 110 000 Menschen“,
die seit 1945 in Ost- und Westdeutschland aufgrund des
Braunkohlebergbaus ihre Heimat verloren hätten. Sie
übersehen aber dabei, dass das Bergrecht, über das wir
hier sprechen, in der ehemaligen DDR gar nicht galt. Es
ist unseriös, die Ursachen für die Naturschäden in den
mitteldeutschen und Lausitzer Braunkohlerevieren beim
geltenden Bergrecht zu suchen. Dafür sind ein menschen- und naturfeindliches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell verantwortlich, welches die Kollegen der
Linken sicher gern umfangreich erläutern können. Die
ehemaligen Tagebaue werden seit 1990 unter der Geltung des Bergrechtes, mit großem finanziellen Aufwand
des Bundes, saniert und rekultiviert. Das hätte man im
Antrag auch erwähnen können.
Übrigens werden 98 Prozent aller Umsiedlungsfälle
gütlich geregelt und Grundabtretungsverfahren werden
vermieden.
Das geltende Bergrecht erfüllt also seinen Zweck: Es
schafft Ausgleich zwischen den Interessen der Menschen, der Natur und der Rohstoffgewinnung.
Besonders fragwürdig und wirklichkeitsfremd sind
die Forderungen unter Punkt 8 und 14. Bergbauprojekte
sind kapitalintensive Unternehmungen, die sich oft über
Jahrzehnte erstrecken und daher umfassende Rechtssicherheit benötigen. Eine ständige Überprüfung erteilter
Genehmigungen, wie hier gefordert, steht dem aber entgegen. Sie würden jede Investitionsentscheidung im
Bergbau de facto verhindern. Auch verhindert man damit Rechtssicherheit und Klarheit für die Betroffenen,
um die es den Grünen doch vordergründig geht.
Auch der Punkt 18 ist bemerkenswert. Die Grünen
fordern ein umfassenderes Klagerecht für Bergbaubetroffene und auch für Umweltverbände. Dies ist einerseits nicht nötig, da jeder Bürger die Möglichkeit der
Klage hat, falls er seine Grundrechte eingeschränkt
sieht. Dies betrifft selbstverständlich auch bergrechtliche Entscheidungen. Anderseits habe ich Verständnis,
dass diese Forderung gestellt wird. Wahrscheinlich müssen die Grünen die Wutbürger und die Wir-sind-gegenalles-Fraktion in ihren Reihen zufriedenstellen. Jetzt, da
die Bürger den Grünen in Stuttgart per Referendum mitgeteilt haben, dass sie ihre Infrastrukturphobie nicht teilen und ein grüner Ministerpräsident und ein grüner
Verkehrsminister Stuttgart 21 wohl umsetzen müssen,
sind die Grünen natürlich in der Pflicht, ihre Klientel zu
befriedigen, indem sie neue oder erweiterte Klage- und
Verzögerungsbefugnisse fordern.
Wir brauchen Bergbau zur Gewährleistung der Rohstoffversorgung und zur Sicherung des Know-hows in
Deutschland. Das geltende Bergrecht berücksichtigt dabei auch die Interessen anderer Beteiligter.
Schließlich kann ich Urlaub in Sachsen empfehlen.
Dort kann man in der Lausitz beobachten, wie aus alten
Braunkohletagebauen touristische Destinationen entstehen und sich die Natur erholt. Oder man fährt ins Erzgebirge und lässt sich zeigen, wie die Menschen vor Ort
mit Stolz die Tradition des Bergbaus pflegen und die
Folgen der Devastierung einer Landschaft wegen eines
fehlenden Bergrechts fast nicht mehr zu finden sind.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beschäftigt
sich zusammengefasst mit einer Revision des Bergrechts. Auch die SPD-Bundestagsfraktion beschäftigt
sich mit diesem Thema und denkt über eine Weiterentwicklung nach. Hintergrund unserer Diskussion war und
ist unter anderem die aktuelle Situation beim unkonventionellen Erdgas. Wir haben festgestellt, dass das geltende Bergrecht über Unzulänglichkeiten bei den Regelungen zur Aufsuchung und Förderung verfügt. In den
Deutschen Bundestag haben wir dazu einen Antrag eingebracht, der sich mit der Transparenz und der Umweltverträglichkeit von Fördermethoden beim Fracking beschäftigt.
Nun zum aktuellen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen: Ich kann vorausschicken: Über viele Dinge im Forderungsteil des Antrages können wir reden. Jedoch finden wir einige Mängel im Antrag, insbesondere im
Feststellungs- und Begründungsteil. So sind sehr ausführlich die Risiken und Konfliktpotenziale beim Abbau
von Bodenschätzen aufgeführt, aber es gibt keine Würdigung der heimischen Bergbauindustrie und der mit ihr
verbundenen Wertschöpfungskette unter anderem auch
bei der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen und
der Entwicklung von Bergbauregionen. Ohne die heimiZu Protokoll gegebene Reden
schen Bergbauunternehmen wäre der Erfolg der deutschen Industrie nicht möglich gewesen.
Die einheimische Rohstoffgewinnung macht Deutschland unabhängiger von Rohstoffimporten. Sie ist notwendig und verfügt über vielfältige positive Effekte. Die
Versorgungssicherheit bei energetischen und nichtenergetischen Rohstoffen erhöht sich durch den heimischen
Abbau deutlich. Durch heimische Rohstoffe wird die
deutsche Bauindustrie ortsnah mit Baumaterialien für
den öffentlichen und privaten Bau versorgt. Energetische Rohstoffe im eigenen Land sichern eine stabile Versorgung insbesondere der energieintensiven Industrien.
Und nicht zu vergessen ist das deutlich höhere Umweltschutzniveau bei der heimischen Gewinnung im Vergleich zur Gewinnung importierter Rohstoffe. Wenn Sie
im Antrag die negativen Nebenwirkungen der inländischen Bergbauaktivitäten beschreiben, gleichzeitig aber
die positiven Hauptwirkungen außen vor lassen, wird
eine echte Güterabwägung im Sinne eines fairen Chancen-Risiken-Vergleichs kaum gelingen.
Planfeststellungsverfahren laufen heute nicht selten
über 10 bis 15 Jahre. Dies erzeugt weder Rechtssicherheit bei den betroffenen Menschen noch bei den jeweiligen Unternehmen. Die Herausforderung in einer aufgeklärten Zivilgesellschaft besteht heute darin, eine
Beschleunigung der ohne Zweifel zu langen Verfahren
mit einer Verbesserung von Transparenz und Bürgerbeteiligung zu verbinden.
Das deutsche Bergrecht ist eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte. Die enorme Beschäftigungsentwicklung, der Aufschwung der Bergbauregionen oder der
schnelle Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wären ohne die Nutzung der energetischen und nichtenergetischen Rohstoffe aus heimischen Lagerstätten nicht
möglich gewesen. In manchen Teilen scheint das historisch gewachsene geltende Bergrecht trotz mancher
Weiterentwicklung nicht mehr zu einer modernen aufgeklärten und an Teilhabe interessierten Gesellschaft zu
passen. Eine Überarbeitung muss deshalb angemessene
Regelungen zu Transparenz und frühzeitig beginnender
Bürgerbeteiligung enthalten. Auch stehen heute andere
Fragen im Vordergrund als zur Entstehungszeit des
deutschen Bergrechts. Heute spielen zum Beispiel umwelt- und wasserrechtliche Aspekte eine ganz andere
Rolle. Das muss eine Revision des deutschen Bergrechts
überzeugend aufnehmen. Dabei muss Spielraum bleiben
für eine sachgerechte Abwägung ökologischer, sozialer
und ökonomischer Belange.
Bündnis 90/Die Grünen schlagen in ihrem Antrag unter anderem die Einführung einer „generellen Bergschadenvermutung mit Beweislastumkehr“ vor. In der Tat ist
schwer begründbar, warum gerade der Betroffene als
schwächstes Glied die komplette Beweislast, dass die
Schäden aufgrund der Bergbautätigkeit aufgetreten
sind, tragen soll. Ob eine Beweislastumkehr das richtige
Heilmittel ist oder ob weitere Wege möglich sind, sollten
wir versuchen in einer Anhörung zu klären.
Es gibt viel zu besprechen. Dafür haben wir unsere
Ausschüsse. Im Rahmen der Ausschussberatungen haben wir auch, wie gesagt, die Möglichkeit zur Durchführung einer Anhörung. Da können wir noch manche
Frage klären.
Der vorliegende Antrag der Grünen betont, dass
Bergbau in Deutschland auch in Zukunft grundsätzlich
möglich sein soll. Schaut man sich die darin aufgestellten Forderungen jedoch im Detail an, dann lässt das zumindest Zweifel an diesem Grundsatz aufkommen. Vielmehr zeugt der Antrag inhaltlich in schon gewohnter Art
und Weise von der ökologischen Dialektik der Grünen.
Es ist ein Januskopf: Janus der römische Gott des Anfangs und des Endes. Im Antrag ist der Anfang das vermeintliche Bekenntnis zum Fortschritt. Das Ende folgt
in Form der Forderungen, die jeden Fortschritt in der
Realität unmöglich machen.
Doch wie sieht die Realität aus? Seit 1980 gibt das
Bundesberggesetz - zuletzt mit Änderungen im Jahr
2009 - einen verbindlichen ordnungspolitischen Rahmen für die Aufsuchung und Gewinnung von Rohstoffen
sowie die damit verbundenen finanziellen Anforderungen und sicherheitstechnischen Bedingungen vor. Der
gesamte Prozess, von der Erkundung über den Betrieb
bis zum Rückbau, wird dabei mit hoher fachlicher Kompetenz von den jeweiligen zuständigen Landesbehörden
überwacht und geleitet. Selbstverständlich umfassen die
Befugnisse der Behörden auch das Versagen bergbaulicher Tätigkeiten für den Fall, dass umweltrechtliche
oder sicherheitstechnische Probleme aufgetreten sind
oder diesbezüglich Bedenken bestehen.
Dass die zugrundeliegenden Regeln zielführend und
zuverlässig greifen, zeigt nicht zuletzt die Verhängung
eines sofortigen Förderstopps infolge der 2008 durch
Arbeiten im Bergwerk Saar ausgelösten Erdbeben in der
Region. Selbst die Möglichkeit der dauerhaften Stilllegung des Bergwerks, welche in diesem Jahr abgeschlossen sein wird, war auf Basis des geltenden Gesetzes
rechtlich gegeben.
Zur gemäß Bundesberggesetz geforderten Regulierung der aufgetretenen Bergschäden wendete die RAG
Deutsche Steinkohle AG einen dreistelligen Millionenbetrag auf. Derartigen Ansprüchen kann sich das Unternehmen, trotz der Einstellung des Betriebes, auch in den
nächsten Jahrzehnten bei eventuell auftretenden Schäden oder Beeinträchtigungen nicht entziehen. Der
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisiert
wortgewaltig die verheerenden Auswirkungen von Bergbauvorhaben auf die betroffenen Bürger. Sogar ein Bezug zu Menschenrechtsverletzungen wird hierbei gewagt.
Sicherlich sind die im Bundesberggesetz festgelegten
Entschädigungsregelungen nicht immer einfach umzusetzen und bedingen eine spezifische Form des Dialogs.
Als Beispiel für deren konstruktive Anwendung sei an
dieser Stelle aber das in der brandenburgischen Lausitz
gelegene Haidemühl genannt. Als dieses Dorf dem
nahenden Braunkohletagebau Welzow-Süd weichen
musste, wurde den Bewohnern nicht nur in kurzer Entfernung ein neuer Ort mit modernster Infrastruktur und
energieeffizienten Häusern errichtet; vielmehr steht nun
Zu Protokoll gegebene Reden
auch den Vereinen ein Gemeindezentrum mit Kegelbahn
und Schießstand zur Verfügung.
Zudem entspannen sich die Angelfreunde am eigens
für sie angelegten Biotop, und es rückt die örtliche Feuerwehr mit leistungsfähiger Technik aus einem großzügig ausgestatteten Gerätehaus aus. Um den demografischen Effekten in der Region entgegenzuwirken, erhalten
Jugendliche des Ortes zudem bevorzugt einen Ausbildungsplatz bei Vattenfall, dem Betreiber des Tagebaus
und wichtigsten Energieversorger in den neuen Bundesländern.
Vor diesem Hintergrund ist es wohl kaum verwunderlich, dass nahezu alle Einwohner dem Umzug bereitwillig zustimmten. Das Investitionsvolumen, welches in diesem Fall Vattenfall bereitstellte, belief sich auf rund
150 Millionen Euro. Hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf auszumachen, stößt allgemein auf wenig
Verständnis.
Würde man die gestellten Forderungen der Grünen
im Rahmen einer Gesetzesänderung aufgreifen, dann
stünde dem Bergbau in Deutschland die gleiche Entwicklung bevor, wie sie leider immer häufiger bei Projekten zum Ausbau des Stromnetzes oder der Errichtung
von Speicherseen zu verzeichnen ist. Hierin liegt die
Stoßrichtung des Antrags: die Implementierung von
Blockademechanismen, und dies in Form einer angeordneten Berücksichtigung ausgesuchter Partikularinteressen.
Dies ist weder im Sinne einer zukunftsfähigen und
fortschrittlichen Entwicklung unserer Volkswirtschaft,
noch spiegelt dies das überwiegende öffentliche Interesse im Land wieder. Daher lehnen wir den Antrag ab.
Das deutsche Bergrecht ist überholt. Es stammt aus
einer Zeit, in der Begriffe wie Klimaschutz, Energieeinsparung oder Materialeffizienz noch kaum Bedeutung
hatten. Aus dem Berg geholt und verwertet wurde, was
der Berg hergab. Und dieser Abbau hatte Vorrang vor
allen anderen Interessen, seien es Dörfer oder ganze
Städte, die, insbesondere im Braunkohletagebau, riesigen Baggern weichen mussten.
Heute, in einer Zeit, in der die Erderwärmung voranschreitet und zugleich das grenzenlose Wachstum infrage gestellt wird, ist ein Umsteuern angezeigt. Erleichtert wird dieses Umsteuern zu mehr Maß und Umsicht
beim Umgang mit unseren Ressourcen, weil es inzwischen Alternativen gibt. Somit ist etwa die Frage:
„Brauchen wir eigentlich den neuen Tagebau und die
Kohle daraus?“, keine ethisch-moralische mehr, sondern eine ganz praktische.
Beispielsweise gestattet es das rasante Wachstum der
erneuerbaren Energien, die Braunkohleverstromung in
absehbarer Zeit auslaufen zu lassen. Wind und Sonne
ernten, anstatt immer neue Dörfer abzubaggern, das ist
die Zukunft, natürlich auch aus Sicht des Klimaschutzes.
Studien haben ergeben, dass sich die Region BerlinBrandenburg bereits 2030 vollständig mit regenerativen
Energien versorgen wird. Warum dann also neue Tagebaue aufschließen, die noch bis nach 2050 klimaschädliche Braunkohle liefern könnten?
Ähnliche Rechnungen könnte man für NordrheinWestfalen oder andere Bundesländer aufmachen. Kurzum, ein Bergrecht, dass so gestrickt ist, dass es dem
Bergbau automatisch Vorrechte einräumt, weil der Rohstoffabbau alternativlos wäre, fällt vollkommen aus der
Zeit. Es fällt auch aus der Zeit, weil es keine tatsächliche
Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern oder Verbänden kennt, weil in ihm der Umwelt- und Landschaftsschutz kaum eine Rolle spielt, ja weil nicht einmal Varianten des Abbaus geprüft werden müssen.
Das Bergrecht kennt nur das Vorrecht der Konzerne,
mit den Rohstoffen unseres Landes Profit zu machen,
egal wie hoch die langfristigen Kosten des Abbaus sind.
Und deshalb ist eine Reform des Bergrechtes überfällig.
Auch die Linke wird hierzu in Kürze einen Antrag einbringen. Unsere Kernforderungen sind folgende:
Das neue Bergrecht muss den Erfordernissen der
Rohstoffversorgung Rechnung tragen - logisch. Dabei
muss es aber die Interessen der Umwelt und der von Abbau betroffenen Menschen und Unternehmen angemessen berücksichtigen.
So sollten Bergbauvorhaben in besiedelten Gebieten
nur noch dann genehmigt werden, wenn ein volkswirtschaftlich unabweisbares Erfordernis für den Rohstoffabbau an dieser Stelle besteht. Es muss vom Vorhabenträger nachgewiesen werden, dass dieser Abbau
zwingend und alternativlos ist. Die Beweislast dafür
liegt dann also beim Unternehmen.
Diese und weitere Aspekte, insbesondere die Umweltauswirkungen des Abbaus und mögliche Varianten, müssen künftig in einem Planfeststellungsverfahren für das
gesamte Vorhaben geprüft werden. Damit wäre Schluss
mit dem scheibchenweisen Zulassen und Abarbeiten von
unterschiedlichen Betriebsplänen, Schluss mit dem Verwirrspiel für Kommunen und Anwohner. Vor allem aber
hätten die Bürgerinnen und Bürger erstmals realistische
Chancen, Abbauvorhaben gerichtlich überprüfen zu lassen. Wir setzen uns auch dafür ein, dass Gemeinden, Interessenvertretungen von betroffenen Anwohnern und
Umweltverbände der Klageweg offensteht. Und zwar
auch dann, wenn es um die Fragen der Bedarfsfeststellung oder der Umweltauswirkungen insgesamt geht. Anerkannte Umweltorganisationen beispielsweise sollten
sich also im Verfahren nicht nur um den reinen Naturschutz streiten können, sondern auch um den Wasserhaushalt oder den Klimaschutz.
Wir wollen ferner Schluss machen mit dem überkommenen Konstrukt des Bergwerkseigentums, das Abbaurechte handelbar macht. Rohstoffe sind Eigentum des
Volkes, und das Land darüber gehört auch nicht den Energiekonzernen. Darum sollten Abbaurechte erst dann
an Unternehmen verliehen werden, wenn ein Abbau in
einem demokratischen Verfahren beschlossen wurde.
Und zwar unter Abwägung aller Interessen und nach einer sogfältigen Umweltverträglichkeitsprüfung - und
keinen Tag vorher.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke spricht sich zudem für mehr Transparenz in
den bergrechtlichen Verfahren aus. Die Vorhabenplanung muss nicht nur öffentlich bekannt gemacht werden,
sondern auch individuell durch Benachrichtigungen an
Grundstückseigentümer, Träger öffentlicher Belange sowie anerkannte Umweltverbände. Die Bürgerinnen und
Bürger wollen rechtzeitig wissen, was los ist. Denn nur
wer informiert ist, kann seine Rechte wahrnehmen. Das
gilt natürlich auch für den Abbau selbst und die Zeit danach. Darum sollen künftig auch alle Monitoringdaten
ins Internet gestellt werden.
Nicht zuletzt ist das Haftungsrecht bei Bergschäden
zu ändern. Ähnlich wie beim Steinkohlebergbau unter
Tage bereits heute geregelt, muss künftig auch in Tagebauen die Beweislast bei den Vorhabenträgern liegen
und nicht bei den Geschädigten.
Ich bin froh, dass wir uns heute mit dem Thema Bergrecht beschäftigen, das nicht nur die Menschen in den
traditionellen Kohleabbaugebieten Nordrhein-Westfalens, des Saarlandes und der Lausitz bewegt, sondern
auch die Menschen an vielen anderen Orten in Deutschland, an denen Bodenschätze abgebaut werden. Dies geschieht nämlich an mehr Orten, als man gemeinhin
denkt, und das Bundesberggesetz, kurz das Bergrecht, ist
dort immer wieder der Ausgangspunkt für politische und
gesellschaftliche Debatten. Das Bergrecht ist in Deutschland die Rechtsgrundlage für vielerlei Vorhaben: Sei es
der Abbau von Kohle, Salz, Gestein und Kies, die Förderung, aber auch Speicherung von Gas und Öl, die Abfalldeponierung bis hin zur Genehmigung von untertägigen Industriebetrieben und sogar die Erkundung von
Gorleben.
Kaum ein Projekt ohne tiefgreifende Konflikte, für deren Lösung das seit über 30 Jahren nicht mehr entscheidend geänderte Bergrecht mit in großen Teilen noch älteren Rechtsgrundsätzen, die ausschließlich auf die Rohstoffgewinnung ausgerichtet sind, eher Hindernis als
eine Hilfe ist. In unserem heute in der ersten Lesung zur
Debatte stehenden Antrag schlagen wir vor, das Bergrecht grundlegend zu reformieren und an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Unser Antrag
benennt die Probleme des Bergrechts konkret und macht
Lösungsvorschläge.
In Deutschland gibt es eine lange Bergbautradition.
Ohne den Bergbau wäre in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten die wirtschaftliche Entwicklung
Deutschlands so nicht möglich gewesen. Auch wenn der
Bergbau heute nicht mehr die wirtschaftliche Rolle
spielt, wird der Abbau von Bodenschätzen auch in Zukunft in Deutschland ein wesentlicher Bestandteil der
Ökonomie sein und sein müssen. Doch die dafür geltende Rechtsgrundlage ist nicht mehr zeitgemäß. Sie ist
in Teilen regelrecht aus der Zeit gefallen. Moderne Bürgerbeteiligung, Transparenz, Interessenabwägung sind
beinahe Fremdworte bei der Genehmigung von Bergbauvorhaben und der deren Umsetzung. Es bedarf einer
Anpassung dieses Rechts an die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Nicht zuletzt aufgrund neuer Interessen bei
der Bodenschatzgewinnung und auch durch neue Fördermethoden.
Das heutige deutsche Bergrecht ist stark geprägt
durch das Allgemeine Preußische Berggesetz von 1865.
Zur Zeit der NS-Herrschaft kamen weitere Regelungen
hinzu, welche der deutschen Kriegswirtschaft ungehinderten Zugang zu Ressourcen ermöglichen sollten, sich
aber zum Teil noch im heutigen Bergrecht wiederfinden
lassen. Ein einheitliches Bundesberggesetz wurde 1980
geschaffen. Die letzten wesentlichen Änderungen gab es
im Jahr 1990 im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und der Einführung von Regelungen zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung, UVP.
Um es auf den Punkt zu bringen: Das deutsche Bergrecht ist geprägt von einem starren Über- und Unterordnungssystem. Das heißt, dem öffentlichen Interesse des
Bergbaus wird weitgehend Vorrang vor anderen Belangen, Interessen und Rechten, insbesondere denen Privater, eingeräumt. Eine gleichwertige Interessenabwägung
in der Planungs- und Genehmigungsphase findet faktisch nicht statt. Gerade die Menschen in den deutschen
Braunkohlerevieren können ein Lied davon singen.
110 000 Menschen wurden allein für den Braunkohlebergbau zwangsumgesiedelt. Viele von Ihnen versuchten
sich juristisch dagegen zur Wehr zu setzen, dass man
ihre Heimat wegbaggern wollte - vergeblich, weil das
deutsche Bergrecht die Interessen des Einzelnen kaum
berücksichtigt. Die Vertreibung aus und die Zerstörung
der Heimat, einer der schwersten denkbaren Eingriffe in
die Menschenwürde, ohne wirksamen Rechtsschutz das muss ein Ende haben.
Die Anforderungen an das deutsche Bergrecht werden weiter zunehmen, je stärker auch heimische Bodenschätze durch steigende Weltmarktpreise wieder in den
Fokus der bergbautreibenden Unternehmen rücken. Darüber hinaus werden immer mehr Anforderungen durch
neue Technologien wie die Nutzung der Geothermie, die
Förderung von unkonventionellem Erdgas oder die Errichtung großer Erdgasspeicher an den Untergrund gestellt werden. Dafür ist das Gesetz in seiner derzeit gültigen Fassung jedoch überhaupt nicht ausgelegt. Nach
unserer Auffassung steht das deutsche Bergrecht daher
zurzeit von mehreren Seiten unter Druck, und eine Anpassung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts erscheint dringend erforderlich.
Ich möchte im Folgenden drei Sachverhalte nennen,
stellvertretend für weitere wichtige Punkte, die wir in
unserem Antrag formuliert haben, bei denen wir im Bundesberggesetz dringenden Handlungsbedarf sehen:
Erstens fordern wir, dass die durch das Bergrecht gedeckte und leider nach wie vor häufig übliche Hinterzimmerpolitik durch ein öffentliches „Transparenzgebot“ ersetzt wird. Die verfahrensführenden Behörden
müssen dazu verpflichtet werden, die Öffentlichkeit früh,
bürgernah und umfassend zu informieren.
Zweitens muss die Durchführung einer UVP als wesentlicher Bestandteil des Planfeststellungsverfahrens
als ökologisches Bewertungsinstrument mit Frühwarnfunktion gestärkt werden. Gegenwärtig wird eine UVP
Zu Protokoll gegebene Reden
nur in Ausnahmefällen bei bergrechtlichen Vorhaben
durchgeführt; dabei handelt es sich bei nahezu allen
Bergbauprojekten um ganz massive Eingriffe in Umwelt
und Natur, bei denen ökologische Folgeschäden nahezu
unvermeidlich sind. So muss nach aktuell geltendem
Recht zum Beispiel bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas keine UVP durchgeführt werden, obwohl
dabei erhebliche Umweltschäden auftreten können, wie
man vor allem in den USA beobachten kann. Die Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben muss daher dringend geändert werden.
Drittens möchte ich auf die nach unserer Auffassung
dringend gebotene Beweislastumkehr hinweisen. Aktuell
stehen Betroffene von Bergschäden vor der häufig
schwierigen und für Privatpersonen sehr kostspieligen
Aufgabe, nachweisen zu müssen, dass es sich bei Schäden an ihren Immobilien um Bergschäden handelt. Entscheiden sich Bergbaubetroffene, zu klagen, droht Ihnen
vor Gericht eine ungleiche Auseinandersetzung mit einem Großkonzern. Wir Grünen fordern, dass im gesamten potenziellen Einwirkungsbereich bergbaulicher Tätigkeiten bei typischen Schadensmerkmalen von Bergschäden auszugehen ist. Im Zweifel muss der Bergbautreibende nachweisen, dass es sich nicht um einen Bergschaden handelt.
Die sind nur drei exemplarische Punkte, bei denen
wir dringenden Handlungsbedarf im deutschen Bergrecht sehen. Wir möchten mit unserem Antrag eine Debatte über eine Reform des deutschen Bergrechts anstoßen, da wir der festen Überzeugung sind, dass es gerade
auch angesichts der Herausforderungen der kommenden Jahre dringend einer Anpassung an die Verhältnisse
des 21. Jahrhunderts bedarf. Wir freuen uns daher auf
die Beratungen in den Ausschüssen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8133 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Markus Tressel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Regionale Produktions-, Verarbeitungs- und
Vermarktungsstrukturen stärken
- Drucksache 17/7249 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Die zu diesem Punkt zu Protokoll gegebenen Reden
stammen von Marlene Mortler, CDU/CSU, Willi Brase,
SPD, Rainer Erdel, FDP, Alexander Süßmair, Die Linke,
Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Regionale Produktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen im Agrar- und Ernährungssektor
sind wichtig und richtig für die wirtschaftliche Entwicklung des ländlichen Raums. Die Stärkung des ländlichen
Raums ist ein zentrales Anliegen christsozialer Politik.
Das haben wir in Bayern erfolgreich über viele Jahrzehnte unter Beweis gestellt. Die Grünen mit ihrer landwirtschaftsfeindlichen Politik tragen zum Aufschwung
des ländlichen Raums nichts bei.
Diskutieren wir über ländliche Räume als Heimat mit
Zukunft: Auf dem Land sind Leistungsbereitschaft und
Eigenverantwortung besonders gefragt. Die Menschen
sind dazu bereit. Ländliche Räume dürfen aber nicht nur
schöne Lebensräume sein, nicht nur bloße Schlafstätten.
Nein, die Menschen auf dem Land müssen konkrete wirtschaftliche Perspektiven haben. Viele junge Menschen
fragen sich, was ihnen die hohe Lebensqualität im ländlichen Raum nützt, wenn es keine Ausbildungs- und Arbeitsplätze gibt. Ich sage darauf: Nur mit einem hohen
Maß an regionaler Wertschöpfung sind wir in der Lage,
das Leben im ländlichen Raum attraktiv zu gestalten wie bei uns in Bayern.
In Bayern spiegelt sich die Schönheit und Vielfalt der
Lebensräume in einer Vielzahl regionaler Spezialitäten
und Vermarktungsinitiativen wider, die die Wertschöpfung innerhalb einer Region vergrößern und damit die
wirtschaftliche Entwicklung stärken. Beispiele sind das
von der Natur begünstigte Weinland Unterfranken, Mittel- und Oberfranken mit ihren berühmten Bratwürsten
und Bieren, oder der Alpenraum mit typischen Produkten wie Käse, Milch und Rindfleisch.
Regionale Initiativen und Projekte haben sich zum
Ziel gesetzt, die Wertschätzung des Verbrauchers für regionale Produkte und Dienstleistungen zu verbessern.
Regionale Wertschöpfung heißt für mich: Die Wachstumspotenziale der heimischen Region entdecken. Die
regionalen Ressourcen nachhaltig nutzen. Die eigene
Region als Marke verkaufen. Auf regionale Produkte
und Leistungen setzen. Landwirtschaftliche und nicht
landwirtschaftliche Beschäftigung im ländlichen Raum
stärken.
Wertschöpfung hat auch immer etwas mit Besinnung
auf die eigenen Stärken zu tun. Die Stärken können dabei sowohl im eigenen Betrieb als auch in der Heimatregion liegen. Es gilt, so viel Wertschöpfung wie möglich
in der Region zu halten. Hier spielen natürlich die
Marktentwicklung und Nachfragetrends eine entscheidende Rolle. Ebenso wichtig sind die Fähigkeiten der
Erzeuger, sich auf diese Entwicklungen einzustellen.
Artgerechte Tierhaltung und Direktvermarktung der
eigenen Produkte sind heute spürbare Wettbewerbsvorteile. Zusammen können Landwirte ihre Marktmacht
bündeln und so den Absatz ihrer Qualitätsprodukte fördern. Besonders für kleine Betriebe sind innovative
Netzwerke wichtig.
Auch die Verbraucher entdecken verstärkt den Wert
regionaler Erzeugnisse. Sie sind bereit, für regionale
Qualitätsprodukte einen höheren Preis zu zahlen. Zwei
Drittel der Verbraucher achten heute schon auf die regionale Herkunft ihrer Lebensmittel; das hat eine Umfrage im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums ergeben.
Wichtig ist dabei: Wo regional draufsteht, muss auch
regional drin sein. Hier muss die Politik klare Spielregeln vorgeben. Aus Brüssel kommen positive Signale.
Die Regelungen zum Geoschutz und zu traditionellen
Spezialitäten werden in einem einzigen Rechtsakt gebündelt. Das heißt: Klare Erkennbarkeit für den Verbraucher. Das heißt: Klarheit für Produzenten und Vermarkter. Und das ist ein großer Fortschritt. Denn gerade
der Geoschutz ist als Instrument für die Vermarktung regionaler Produkte sehr interessant.
Auch in Deutschland können wir für die Vermarktung
regionaler Produkte neue Impulse setzen. In diesem Zusammenhang fallen oft Begriffe wie „Regionalmarke“
oder „Regionalsiegel“. Wie diese auszugestalten sind,
wird kontrovers diskutiert.
Zum einen kann ein Regionalsiegel als Dachsiegel für
bereits bestehende oder geplante Siegel entwickelt werden. Neben allen Vorzügen eines solchen Siegels besteht
jedoch immer die Gefahr, dass bestehende Regionalsiegel ihre Bezugskraft verlieren können. Denn Regionalität ist stark mit Emotionen verbunden, und weniger rational überprüfbar. Das Regionsverständnis ist auch
abhängig von der Region: So identifiziert sich ein Bayer
zum Beispiel sehr mit Bayern, ein Nordrhein-Westfale
aber eher mit dem Rheinland, mit Westfalen oder aber
mit seiner Stadt, zum Beispiel mit Köln oder Düsseldorf.
Zum anderen könnte versucht werden, ein Konformitätszeichen für Regionalität zu entwickeln. Das heißt,
ein Instrument zu entwickeln, um bestehende oder geplante Regionalitätsprojekte zu zertifizieren, ähnlich einer ISO-Norm.
Zusätzlich muss geklärt werden, wo welche Verarbeitungsschritte stattfinden. Die Leute wollen nicht wissen,
wo ein Stück Fleisch verpackt wurde, sondern wo das
Tier aufgewachsen ist. Und vielleicht auch, wie es gefüttert wurde.
Ein solches Regionalsiegel kann einen wesentlichen
Beitrag zu regionaler Wertschöpfung leisten.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Neben regionalen
Vermarktungsstrukturen sind nationale und internationale Produktions- und Vermarktungsstrukturen unerlässlich für eine ressourcenschonende, nachhaltige und
produktive Landwirtschaft. Wir brauchen sie mit Blick
auf die wachsende Weltbevölkerung. Die Welternährungsorganisation FAO in Rom hat den Begriff „Nachhaltige Intensivierung“ geprägt und versteht hierunter
Wege der landwirtschaftlichen Produktion, Verarbeitung
und Vermarktung, die den Herausforderungen des neuen
Jahrhunderts gerecht werden. Die Welternährungsorganisation sieht beide Wege, Globalisierung und Regionalisierung, als notwendig an, die bestehenden Probleme
im Zusammenhang mit Ernährungsfragen auf unserem
Globus zu lösen.
Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, in Paris betont die
Notwendigkeit, Globalisierung und Regionalisierung
nicht gegeneinander auszuspielen. In ihrem Ausblick für
die Jahre 2011 bis 2020 sieht die OECD die Produktionskosten der Landwirtschaft steigen und das Produktivitätswachstum sich verlangsamen. Dies ist fatal für
die Welternährungssituation vor dem Hintergrund einer
wachsenden Menschheit und eines steigenden Energiebedarfs.
Die Herausforderungen für die Politik sieht die
OECD in folgenden Punkten: in der Unterstützung von
Produktivitätswachstum, in der Verringerung von Verschwendung, in der Unterstützung lokaler Märkte und
zuletzt in der Öffnung der Märkte für Agrargüter, also in
der weiteren Liberalisierung des internationalen Agrarhandelssystems.
Ich komme nun zum Schluss meiner Ausführungen.
Mein Fazit: Es lohnt sich, sich neben klassischen Produktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungswegen über
Regionalität und regionale Herkunftszeichen Gedanken
zu machen. Regionale Initiativen und Projekte arbeiten
erfolgreich daran, die Wertschätzung des Verbrauchers
für regionale Produkte und Dienstleistungen zu erhöhen.
Die europäischen Regelungen zum Geoschutz und zu
traditionellen Spezialitäten wirken regional identitätsstiftend. Die Einrichtung eines Regionalsiegels ist generell wünschenswert, da damit eine erhöhte Wertschöpfung für die Landwirtschaft wie auch für eine ganze
Region generiert werden kann.
Ich bin überzeugt: Mit mehr Regionalität können wir
die ländlichen Räume zukunftsfähig machen, wenn wir
die Leistungsbereitschaft der dort lebenden Menschen
und das Wertschöpfungspotenzial vor Ort sinnvoll miteinander verbinden.
Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist
das sozialdemokratische Leitbild zur Entwicklung ländlicher Räume. Dazu gehört eine gesicherte Daseinsvorsorge unter anderem in den Bereichen Bildung und soziale Infrastruktur sowie Gesundheit. Dazu gehört der
Erhalt der Mobilität der Menschen vor Ort und die Sicherung von Arbeitsplätzen genauso wie der Zugang zu
öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Und selbstverständlich muss die Grundversorgung der Menschen
mit den Dingen des täglichen Bedarfs gewährleistet
sein.
Es wird deutlich: Zur zukunftssichernden Entwicklung ländlicher Räume ist ein Gesamtansatz unabdingbar, und das besonders mit Blick auf die demografische
Entwicklung. Wir wissen, dass es bis 2020 in einigen
Landkreisen einen Bevölkerungsrückgang von über
20 Prozent geben wird. Besonders die ostdeutschen
Bundesländer sind bereits massiv davon betroffen, dass
junge Menschen aus ihren Regionen abwandern, die Bevölkerung immer älter wird - obwohl wir selbstverständlich jedem Menschen ein langes und gesundes Leben wünschen - und die Kinderzahl pro Frau sinkt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Einen Schwerpunkt legen wir dabei auf die Stärkung
der Kommunen. Für die vielfältigen Herausforderungen
im ländlichen Raum gibt es keine Patentlösung. Im Gegenteil: Ideen und Potenziale müssen sich vor Ort entfalten können. Starke Kommunen sind der Schlüssel für
eigenständiges und ortsspezifisches Handeln. Ihren Aufgaben entsprechend benötigen sie eine ausreichende finanzielle Ausstattung.
Für die wirtschaftliche Stabilisierung der Kommunen
ist die Vermarktung regionaler Produkte ein richtiger
Schritt. Allerdings müssen Lebensmittel mit Regionalsiegel auch tatsächlich aus regionalen Rohstoffen bestehen. Die Zeitschrift Ökotest hat jüngst eine Palette von
Lebensmitteln dahin gehend untersucht und Folgendes
festgestellt: Von 53 Lebensmitteln stammten tatsächlich
nur 14 aus der jeweiligen Region. So werden die Verbraucherinnen und Verbraucher aufs Glatteis geführt
und der Region wird geschadet.
Offensichtlich müssen Mindeststandards entwickelt
werden, nach denen Lebensmittel als regional bezeichnet werden können. Die Länder Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz haben dazu in einem Diskussionspapier
erste Leitlinien entworfen. Danach müssten Lebensmittel wie Obst oder Fleisch hundertprozentig aus der Region kommen, wenn sie ein Siegel für ein regionales Produkt tragen. In einem nächsten logischen Schritt müssen
dann natürlich die regionalen Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen gefördert werden - hier liegt der
Antrag völlig richtig. Das hatten wir bereits unter der
rot-grünen Regierung auf den Weg gebracht. Hier sollte
die Bundesregierung tätig werden.
Die ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft
erbringt nicht nur gesellschaftlich gewünschte Leistungen wie Klima-, Arten- und Bodenschutz, sondern sie
leistet einen hohen Beitrag zur regionalen Wertschöpfung. Mittlerweile sind in der deutschen Biobranche
knapp 180 000 Menschen vor allem in ländlichen Regionen beschäftigt. Die Nachfrage ist größer als das deutsche Angebot an Waren. Deshalb ist die Förderung der
Umstellung auf ökologische Landwirtschaft von besonderer Bedeutung. Die Konkurrenz um die Flächen zur
Erzeugung erneuerbarer Energien macht es den Ökobetrieben nicht leichter, zu wachsen. Die Anbauflächen
dürfen nicht zum Spekulationsobjekt von Investoren
werden, die lediglich die eigene Rendite vor Augen haben. Zum Beispiel ist in Brandenburg ein Anstieg der
Bodenpreise zu verzeichnen. Das hat zur Folge, dass
Bauern mit kleineren Höfen, die gerne ihre Ertragsflächen vergrößern wollen, in Bieterverfahren nicht zum
Zuge kommen.
Die Umstellungsphase, bis ökologische Produkte
auch als solche vermarktet werden können, ist für manch
einen Umstellungsinteressierten eine zusätzliche Hürde.
Deshalb ist es so wichtig, dass eine verlässliche Finanzierung von Extensivierungs-, Umstellungs- und Beibehaltungsprämien über Agrarumweltprogramme sichergestellt wird.
Ich freue mich, dass das wichtige Thema Regionalprodukte heute auf der Tagesordnung steht. Hier gibt es
in der Tat Handlungsbedarf. Das sehen wir auch als
Koalition so.
Regionale Produkte schonen die Umwelt, weil beispielsweise die Transportwege kürzer sind, und schaffen
eine Verbindung zwischen den Konsumenten und den
Herstellern von Produkten. Laut einer aktuellen Studie
kaufen 81 Prozent der Menschen regelmäßig oder zumindest gelegentlich Regionalprodukte. Zum Vergleich:
Bei Bioprodukten sind es nur 45 Prozent. Immerhin für
48 Prozent der Verbraucher ist die Frage nach der Regionalität beim Einkauf von erheblicher Bedeutung.
Wenn sich aber gleichzeitig nur knapp ein Fünftel über
den Regionalbezug ausreichend informiert fühlen, dann
gibt es Handlungsbedarf. Die Koalition wird daher für
mehr Transparenz sorgen. Ziel muss es sein, dass der
mündige Verbraucher zuverlässig und schnell erkennen
kann, ob ein Produkt regional ist oder nicht.
Leider machen sich die Grünen ausgerechnet beim
kniffligen Thema: „Wie definieren wir eigentlich genau
ein Regionalprodukt, und wie genau kennzeichnen wir
es?“, einen ziemlich schlanken Fuß. Dabei muss genau
diese Frage am Anfang jeder Strategie zu Regionalprodukten stehen.
Wann genau ist ein Produkt regional? In meiner Heimat Franken gab es vor kurzem eine Kontroverse, ob
Nürnberger Bratwürste, in denen norddeutsches Fleisch
steckt, eigentlich noch ein echtes Regionalprodukt sind.
Ich denke, ja, das sind sie. Der spezielle Geschmack der
Nürnberger Rostbratwürste kommt durch die besondere
Rezeptur und Produktionsweise. Geschmacklich macht
es keinen Unterschied, ob „Nürnberger“ nun Fleisch
aus Franken oder aus Niedersachsen enthalten. Aber
natürlich spielt es für die Verbraucher schon auch eine
Rolle, wo das Fleisch herkommt. Idealerweise kann der
Verbraucher also leicht unterscheiden, welche Nürnberger nicht nur nach traditioneller Rezeptur hergestellt
wurden, sondern zudem auch noch überwiegend oder
gar ausschließlich Zutaten aus der Region enthalten.
Dieses Beispiel macht auch klar, dass der Verbraucher
wissen muss, ob nun die Rohstoffe, die Verarbeitung
oder beides einen regionalen Bezug aufweist. Wie immer
bei der Auszeichnung von Lebensmitteln geht es darum,
den richtigen Mittelweg zwischen hohem Informationsgehalt bei guter Verständlichkeit zu finden. Zu viel Information, die niemand mehr liest, hilft auch nichts.
Selbstverständlich muss dabei auch klar sein, um
welche Region es geht. Ein Siegel à la „Gutes aus der
Region“, welches dann deutschlandweit vertrieben
wird, ist meines Erachtens nicht sinnvoll. Ich begrüße
daher das Konzept von Ministerin Aigner, das sie gestern auf der Grünen Woche erläutert hat, sehr. Wir als
Koalition wollen ein abgestuftes Siegel mit einem bundesweit einheitlichen Rahmen. Dabei muss auf den ersten Blick erkennbar sein, ob die Zutaten zu einem Produkt aus der Region kommen, ob die Verarbeitung
regional war oder ob es zumindest nach regionaler Rezeptur hergestellt wurde. Innerhalb dieses einheitlichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Rahmens könnten meiner Meinung nach dann auch bestehende Regionalsiegel in ein einheitliches Rahmendesign eingebettet werden.
Die genaue Ausgestaltung wird durch das Forschungsinstitut für biologischen Landbau unter Einbindung der Vertreter des Ökosiegels und des bereits bestehenden Regionalsiegels erarbeitet werden. Der
erhebliche Sachverstand der bestehenden Regionalbewegungen ist dabei unbedingt einzubeziehen. Zu klären
sind dabei allerlei Detailfragen. Dass beispielsweise ein
Orangensaft aus Konzentrat, der im Wesentlichen aus
fränkischem Wasser besteht, deswegen noch lange kein
fränkisches Regionalprodukt ist, dürfte zwar intuitiv einsichtig sein - aber hier allgemein gültige, praktikable
und für den Verbraucher nachvollziehbare Abgrenzungen zu finden, dürfte nicht immer einfach werden.
Der Antrag der Grünen macht leider den zweiten
Schritt vor dem ersten. Statt klar zu definieren was „regional“ eigentlich ist, soll an allen möglichen Stellen
Geld ausgeschüttet werden, um Produktion und Vermarktung der Regionalprodukte staatlich zu subventionieren. Auch die Art und Weise, wie hier Gelder mit der
Gießkanne über das Land verteilt werden sollen, ist
schon mehr als eigenwillig. So sollen laut dem Antrag
nicht nur Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes
umgewidmet werden, sondern es soll zusätzlich ein Bundesprogramm „Regionalvermarktung“ geschaffen werden, und neben dem Aufbau von Vermarktungssystemen
sollen auch noch Dorfläden gefördert werden. Mehrere
Förderprogramme parallel aufzulegen, hat nichts mit
transparenter und effizienter Haushaltspolitik zu tun.
Schließlich werden in dem Antrag die Förderung von
Ökobetrieben und Regionalprodukten vermischt. Warum
in einem Antrag, der Regionalprodukte fördern will,
eine Mindestförderquote für Ökobetriebe bei den GAKMitteln festgeschrieben werden soll, erschließt sich mir
nicht. Die GAK-Mittel sind kein Förderinstrument für
die ökologische Landwirtschaft - und das ist auch gut
so.
Wir als Liberale werden gemeinsam mit unserem Koalitionspartner die Rahmenbedingungen für Regionalprodukte verbessern. Wir setzen dabei dort an, wo es nötig ist: bei der Kennzeichnung.
Das Thema regionale Wertschöpfung, das Bündnis 90/Die Grünen mit dem Antrag aufrufen, ist wichtig,
und viele Aspekte, die im Antrag enthalten sind, haben
eine breite politische Mehrheit. Natürlich fordert auch
die Linke eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe
als Beitrag gegen die Landflucht, das soziale Ausbluten
ländlicher Regionen, für Klimaschutz und Ressourcenschonung.
Schade nur, dass der erste Satz im Antrag gleich mit
dem Begriff „Green New Deal“ anfängt und damit so
getan wird, als ob die Stärkung regionaler Wertschöpfung allein eine Sache der Grünen wäre. Zudem klingt
der Begriff für mich nach neoliberaler Ideologie im grünen Gewand. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn
man weiterliest, dass
der Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe Menschen die Chance gibt, mit ihrem Engagement und
Konsumverhalten Verantwortung für ihre Gemeinde
und ihre Region zu übernehmen. Das schafft neues
Selbstbewusstsein vor Ort und ist fruchtbarer Boden für unternehmerische Tätigkeit und ein verstärktes Bürgerengagement.
Ihr Motto lautet also: Läuft die „regionale“ Wirtschaft, sind alle Probleme gelöst, weil das neue Selbstbewusstsein Unternehmertum und verstärktes Bürgerengagement auslöst. Das ist im Kern neoliberales
Gedankengut, und auch in den Forderungen kommt
dann ein Programm der direkten und indirekten Wirtschaftsförderung heraus. Aber genau diese Ideologie ist
weltweit grandios gescheitert und hat zum Niedergang
der ländlichen Räume maßgeblich beigetragen.
Breiten Raum nimmt die Vorbildfunktion des öffentlichen Beschaffungswesens ein und der Ausbau von Förderprogrammen zum Bundesprogramm „Regionalvermarktung“ oder im Rahmen der Programmgestaltung
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“.
Das sind alles, auch aus Sicht der Linken, richtige
Forderungen, die wir auch unterstützen können. Aber
trotzdem bleibt der Antrag unter den Möglichkeiten, die
im Zusammenhang mit einer Politik zur Stärkung ländlicher Räume notwendig sind. Dazu an dieser Stelle vier
Aspekte:
Erstens. Es fehlt eine gezielte frauen- bzw. geschlechterspezifische Förderung. Eines der Hauptprobleme gerade in strukturschwachen ländlichen Regionen ist
Abwanderung von Frauen. Eine Politik, die gegenzusteuern versucht, muss daher eine verstärkte Förderung
von Frauen gerade im Bereich regionaler Wertschöpfung und Vermarktung vorsehen. Es mag zwar sein, dass
sich in gewissem Maß von selber positive Effekte für
Frauen ergeben, aber das ist nicht zwangsläufig.
Zweitens. Nur an der direkten und indirekten Wirtschaftsförderung anzusetzen, reicht nicht aus. Wenn wie
bisher die Infrastruktur im Verkehr, bei Bildung, Gesundheit und im Sozialbereich in vielen ländlichen
Kommunen zusammenbricht, sind die Standorte für
Produktion, Verarbeitung und Vermarktung schon von
vorneherein chancenlos. Eine direkte und indirekte Wirtschaftsförderung allein hilft nicht. Es ist aus unserer
Sicht erforderlich, die regionale Wirtschaftsförderung in
ein umfassendes Programm für ländliche Räume einzubetten. Aber auch eine generelle Verbesserung der finanziellen Situation der Kommunen ist erforderlich, damit diese wieder selbst handlungsfähig werden. Ein
solches Programm muss zwingend die Entwicklung von
Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge mitberücksichtigen.
Drittens. Über die Wirtschaftsförderung hinaus muss
aus Sicht der Linken darüber nachgedacht werden, wie
ökologisches und soziales Verhalten in der Wirtschaft
belohnt wird. So gehört unsere Forderung nach einem
Zu Protokoll gegebene Reden
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn mit dazu.
Nur so kann das Einkommensgefälle zwischen Städten
und ländlichen Regionen wirksam verringert werden.
Und die Frage der Einkommensmöglichkeiten ist für die
meisten Menschen bei der Wahl ihres Wohn- und Lebensortes eine entscheidende.
Viertens. Die Einkommen aus regionaler Wertschöpfung müssen gerecht verteilt werden. So zeigt zum Beispiel die Entwicklung der regenerativen Energien, vor
allem Windkraft und Photovoltaik, dass zwar regional
produziert wird, die Wertschöpfung aber aus den Kommunen bzw. Dörfern abfließt. Hier ist einiges an Fehlentwicklungen zu korrigieren. Und im Agrarbereich
dürfen sich diese Fehler nicht wiederholen, sonst ist
nichts gewonnen. Was bringt denn ein Regionalsiegel,
wenn es zuletzt nur noch über die üblichen Discounter
vermarktet wird? Und es gibt bereits eine Entwicklung
in diese Richtung.
Abschließend möchte ich feststellen: der Antrag der
Grünen hat zwar ein richtiges und wichtiges Thema aufgenommen und spricht auch vieles an. Er bleibt aber in
vielen Aspekten hinter dem zurück, was dringend zur
Stärkung der ländlichen Räume notwendig wäre. Die
Linke wird in den nun folgenden Beratungen diese
Punkte deutlich machen und mit allen Kolleginnen und
Kollegen diskutieren.
Landauf, landab wird beklagt, dass sich die ländlichen Räume entleeren. Mangels wirksamer Gegenstrategien werden Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und
Mobilitätsangebote an die abnehmende Bevölkerung
angepasst und damit Arbeitsplätze und Lebensqualität
weiter abgebaut und die Landflucht beschleunigt. Während Teile der Politik angesichts dessen in scheinbare
Schockstarre verfallen sind, andere Analysen und Studien beauftragen und wieder andere Heimatpakete an
die Wegzügler senden, haben sich einige Heimattreue
längst auf den Weg gemacht. Sie haben überlegt, wie sie
ihre Heimat besser in Wert setzen können, damit Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen werden und die Menschen in der Region bleiben.
Zwar hat die Landwirtschaft in ihrer Bedeutung als
Rückgrat ländlicher Räume abgenommen, doch kommt
ihr nach wie vor eine große Verantwortung bei der Nutzung der Agrarflächen zu. Dieser Verantwortung haben
sich Bauern in verschiedenen Regionen gestellt. Sie haben gemeinsam mit anderen Wirtschaftsbeteiligten wie
Verarbeitern, Vermarktern, Touristikern, Gastronomie
und Hotellerie und mit gesellschaftlichen Gruppen, zum
Beispiel Naturschützern, in einer regionalen Initiative
einen Kodex erstellt, nach dem sie produzieren und ihre
Produkte an die Kundschaft bringen wollen. Ein Kernstück dieses Kodex ist, dass in der Region für die Region
produziert wird, wobei als Absatzmarkt natürlich immer
auch die nächstgelegene Metropole zu sehen ist. So sind
dann die verschiedenen Regionalmarken entstanden wie
EIFEL, SooNahe oder Rhön, um nur einige zu nennen.
Obst und Gemüse, Fleisch und Gewürze aus bäuerlichen Agrarbetrieben, als Frischware angeboten oder
verarbeitet in handwerklichen Betrieben, sind begehrt
beim Verbraucher und haben es dennoch schwer im
Wettbewerb mit Produkten aus der industriellen Landund Ernährungswirtschaft. Das liegt vor allem am Preis.
Viele Städter sind aber sogar bereit, etwas mehr für ihre
Ernährung zu zahlen, wenn sie wissen, woher die Erzeugnisse kommen, und wenn sie die Möglichkeit haben,
dem Bauern, Bäcker oder Fleischer einmal über die
Schulter zu gucken. Aber natürlich spielt auch das
Regionaltypische eine Rolle: die altbekannten Obst- und
Gemüsesorten und die traditionellen Rezepturen.
Aber im Supermarkt stehen Cornflakes neben Haferflocken, es stehen Essiggurken neben Senfgurken, und
Schinken liegt neben Serrano. Das Angebot ist kaum zu
überschauen, und so bedarf es einiger Entscheidungshilfen für Verbraucher.
Die Regionalmarken, erkennbar an ihrem regionalspezifischen Siegel, sind eine gute Hilfe. Dass sie Wirkung entfalten, haben große Erzeuger und Lebensmittelketten schnell erkannt. Inzwischen sind die Siegel wie
Pilze aus dem Boden geschossen. Was einst als Orientierung der Verbraucher entstand und die Wertschöpfung
in ländlichen Regionen verbessern sollte, trägt heute
oftmals zur Verwirrung bei. Deshalb bedarf es bei diesen
vielen Siegeln, die auf Lebensmittelverpackungen zu finden sind, einer Überprüfung, ob drin ist, was draußen
versprochen wird.
Bei Bio ist das klar. Deshalb genießt Bio auch das
Vertrauen der Verbraucher und hat jährliche Zuwachsraten im zweistelligen Bereich.
Bei den Regionalmarken hat sich jedoch Spreu unter
den Weizen gemischt. Deshalb bedarf es eines bundesweit einheitlichen und überprüfbaren Kriterien- und
Kontrollsystems zur Bewertung von Regionalsiegeln.
Das von der Ministerin geplante Regionalfenster auf der
Lebensmittelverpackung ist da keine Hilfe.
Nicht zum Selbstzweck hat die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen eine Arbeitsgruppe Ländliche Entwicklung
eingerichtet, zahlreiche Fachgespräche und Kongresse
organisiert und Einzelgespräche vor Ort geführt. Ziel
war und ist es, Perspektiven für ländliche Regionen auszuloten und die politischen Rahmenbedingungen für
mehr Wertschöpfung auf dem Lande zu schaffen. In unserem Antrag machen wir einige grundsätzliche und
auch ganz konkrete Vorschläge dazu.
Es bleibt abzuwarten, ob die Koalition bereit ist,
durch diese Maßnahmen den bäuerlichen Betrieben und
handwerklichen Verarbeitern in den Regionen bessere
Bedingungen zu verschaffen. Wenn es ihr ernst ist mit
der Entwicklung der ländlichen Regionen, dann sollte
sie nicht länger zögern.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7249 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Januar 2012, ein.
Morgen findet um 9 Uhr hier im Plenarsaal die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages für die Opfer
des Nationalsozialismus statt. Aus diesem Grund beginnt die Plenarsitzung erst um 10.30 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen. Vielen Dank.