Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung.
Ich habe Ihnen einige Mitteilungen zu machen. Vor
Eintritt in die Tagesordnung müssen wir noch zwei
Wahlen durchführen.
Für die neue Amtszeit der Vergabekommission der
Filmförderungsanstalt schlägt die SPD-Fraktion vor,
die Kollegin Angelika Krüger-Leißner als ordentliches
Mitglied zu berufen, und die CDU/CSU-Fraktion benennt in ihrem Vorschlag den Kollegen Marco
Wanderwitz als stellvertretendes Mitglied. Sind Sie mit
diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt.
Der Kollege Manuel Sarrazin hat auf seinen Sitz in
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates verzichtet. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
schlägt deshalb vor, den Kollegen Jerzy Montag als
Nachfolger zu berufen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist der Kollege Jerzy
Montag als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5
Nr. 1 Buchstabe b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 1 und 2 auf Drucksache 17/8323
({0})
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({1}), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen nutzen - Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt einleiten
- Drucksache 17/8346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2011/12 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 17/7710 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 27
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/8350 18142
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sigmar
Gabriel, Ute Vogt, Heinz-Joachim Barchmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rückholung der Atommüllfässer aus der
Asse II beschleunigen
- Drucksache 17/8351 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 28
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
fassungsgericht 2 BvE 9/11
- Drucksache 17/8361 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({2})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
fassungsgericht 2 BvF 3/11
- Drucksache 17/8362 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2670/11
- Drucksache 17/8363 ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Solidarität von LINKEN-Abgeordneten mit
dem syrischen Präsidenten Assad
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 12 a und 27 d werden abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 17 wird nach dem Tagesordnungspunkt 11 und der Tagesordnungspunkt 12 b
im Zusammenhang mit dem Tagesordnungspunkt 27
aufgerufen. Können Sie sich auch damit einverstanden
erklären? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben
wir das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in der kommenden Woche und im ganzen Jahr
2012 wird aus gegebenem Anlass an einen großen preußischen Monarchen erinnert werden. Heute möchte ich
vor Eintritt in unsere Tagesordnung einer großen Abgeordnetenpersönlichkeit gedenken, die wie kaum eine andere die deutsche Parlamentstradition verkörpert.
Am 17. Januar 1812, also fast auf den Tag genau vor
200 Jahren, wurde Ludwig Windthorst im kleinen Ort
Ostercappeln bei Osnabrück im Emsland geboren, dem
er zeit seines Lebens verbunden blieb. Als führender Repräsentant der Zentrumspartei war er wichtigster innenpolitischer Gegenspieler Otto von Bismarcks und vielleicht - so lautet jedenfalls das fundierte Urteil Golo
Manns, den ich zitieren darf - einer der „genialsten Parlamentarier, den Deutschland je besaß“.
Nach einer vergeblichen Kandidatur für die Frankfurter Nationalversammlung, seiner Wahl in die Zweite
Kammer der Ständeversammlung des damaligen Königreichs Hannover, dem er für zwei Jahre auch als Justizminister diente, wurde er 1867 in das Parlament des
Norddeutschen Bundes und schließlich 1871 in den
Reichstag gewählt, dem er bis zu seinem Tod 1891
20 Jahre ununterbrochen angehörte.
Ludwig Windthorst war nicht nur einer der ersten Berufsparlamentarier, er ist auch unübertroffen der redefreudigste Abgeordnete aller Zeiten gewesen. Über
zweitausendmal soll er das Wort in den Parlamenten, denen er angehört hat, ergriffen haben - fast immer kurz
und prägnant und im Reichstag fast immer von seinem
Platz aus. In dieser Beziehung hat er, was ich persönlich
bedauere, nicht wirklich stilbildend gewirkt.
Wenn Otto von Bismarck, der Reichskanzler, in seiner großen Zeit überhaupt einen parlamentarischen Widersacher und Opponenten hatte, den er ernst nahm und
nehmen musste, war es Ludwig Windthorst. Sein härtester Gegner war zugleich sein größter Bewunderer. Heute
hängen die Porträts der beiden Antipoden im Salon der
Parlamentarischen Gesellschaft einträchtig nebeneinander, in der sich Ludwig Windthorst vermutlich deutlich
wohler fühlen würde als Otto von Bismarck, der seine
Missachtung des Parlaments nur selten verbergen konnte
und wollte.
({4})
Ludwig Windthorst gehörte zu den Wegbereitern des
demokratischen Rechtsstaats. Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion hat er es nie
an persönlicher Unabhängigkeit und an eigener Urteilsbildung fehlen lassen. Mit einem unbändigen Elan und
mit einer souveränen Sturheit verteidigte er die Wahrung
von Menschenrechten und insbesondere die Rechte von
Minderheiten. „Ich werde das Recht, welches ich für die
Katholiken und für die katholische Kirche und deren
Diener in Anspruch nehme, jederzeit vertreten, auch für
die Protestanten und nicht minder für die Juden. Ich will
eben das Recht für alle“, sagte er 1880. Im preußischen
Kulturkampf vertrat er ganz selbstverständlich die Interessen der Kirche gegenüber dem Staat, und er hat genauso wenig gezögert, mit den Sozialdemokraten gegen
das Sozialistengesetz zu stimmen.
Ludwig Windthorst wurde vor 200 Jahren in ein
Deutschland hineingeboren, das mit dem Land, in dem
wir heute leben - von der Geografie einmal abgesehen -,
nicht viele Ähnlichkeiten hatte. Dass daraus der freiheitliche demokratische Rechtsstaat wurde, dass daraus eine
gefestigte parlamentarische Demokratie wurde, die wir
heute längst als schiere Selbstverständlichkeit ansehen,
das verdanken wir Persönlichkeiten vom Format eines
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ludwig Windthorst. Ihnen gebührt unsere dankbare Erinnerung und unsere Hochachtung.
({5})
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
zum
Jahreswirtschaftsbericht 2012
Vertrauen stärken - Chancen eröffnen - mit
Europa stetig wachsen
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2012 der Bundesregierung
- Drucksache 17/8359 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({7}), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen nutzen - Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt einleiten
- Drucksache 17/8346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2011/12 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 17/7710 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dagegen höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Philipp Rösler.
({10})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Im Jahre 2010 hatten
wir ein Wachstum von 3,7 Prozent, im Jahre 2011 ein
Wachstum von 3,0 Prozent. Und das Beste an beiden
Zahlen ist: Das Wachstum kommt auch bei den Menschen an:
({0})
Rekordbeschäftigungszahlen, die niedrigste Arbeitslosigkeit seit mehr als 20 Jahren, also seit der Wiedervereinigung, steigende Renten, sinkende Beiträge, mehr verfügbares Einkommen für die Menschen. Das erklärt,
dass 76 Prozent der Deutschen optimistisch in das Jahr
2012 hineingehen. Das können sie auch tun; denn sie haben sich dieses Wachstum selber erarbeitet. Die Menschen haben sich den Wohlstand in Deutschland selber
geschaffen. Und sicher ist: Für diese Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP war, ist und bleibt Wachstum das erklärte Ziel ihres Handelns.
({1})
Auch 2012 wird die deutsche Wirtschaft auf Wachstumskurs bleiben; allerdings wird sich das Tempo vorübergehend verlangsamen. Wir rechnen für dieses Jahr
mit einem Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent. Die
Gründe liegen vor allem im außenwirtschaftlichen Umfeld. Die Weltwirtschaft expandiert langsamer durch
eine schwache Erholung in den USA und nachlassende
Dynamik in den Schwellenländern. Auch die Staatsschuldenkrise in einigen Ländern des Euro-Raums belastet die deutsche Konjunktur. Wir erwarten aber nur eine
vorübergehende Wachstumsdelle, ausdrücklich keine
Rezession. Wir erwarten mehr als 220 000 zusätzliche
Beschäftigte auch im Jahre 2012. Dieser Erfolg widerlegt all die selbsternannten Wirtschaftspropheten und
Zukunftsforscher, die noch vor kurzem das Ende der Arbeit ausgerufen haben. Die deutsche Wirtschaft hat diese
selbsternannten Propheten mit ihrem Beschäftigungsboom Lügen gestraft.
({2})
Ich sage Ihnen: Wer das Ende der Arbeit beschwört
und herbeiredet, der kann doch niemals für mehr Arbeitsplätze sorgen. Das ist definitiv nicht unser Weg. Die
Grünen sehen das offensichtlich anders. All das, was wir
erleben, ist das Ergebnis guter Wirtschaftspolitik in den
letzten beiden Jahren. Wörtlich heißt es in einem Papier
von Herrn Trittin und Frau Künast - sie ist nicht anwesend -:
({3})
Wir halten den Abbau des Wachstumszwangs auch
aus ökologischen Gründen für erforderlich.
Mit Verlaub, das ist Unsinn. Wir jedenfalls gehen einen anderen Weg. Wir setzen auf Wirtschaft, Wachstum
und Arbeit.
({4})
Damit setzen wir uns als Regierungskoalition sehr wohltuend von den Pessimisten, Fortschrittsverweigerern und
Neinsagern in Deutschland ab. Wir sind das gelebte Gegenmodell zu roten,
({5})
grünen und linken Pessimisten in Deutschland.
({6})
Trotzdem verlieren wir nicht den Blick für die Risiken. Die weitere wirtschaftliche Entwicklung bei uns
hängt wesentlich von der Entwicklung in Europa ab. Es
ist jetzt 60 Jahre her, dass der Bundestag den Vertrag zur
Gründung der Montanunion ratifiziert hat, übrigens gegen die Stimmen der SPD. Seitdem hat uns die europäische Integration Frieden und Wohlstand gebracht. Die
Bundesregierung will und wird diese Erfolge bewahren
und weiterführen.
({7})
Wir gestalten die notwendigen Schritte zu mehr Stabilität und Wachstum in Europa aktiv und mit wirtschaftspolitischer Vernunft.
Die SPD hingegen will anscheinend ihre europakritische Haltung in der Vergangenheit kompensieren. Herr
Gabriel - auch nicht da ({8})
möchte Europa jetzt zu einer Föderation umbauen. Bei
Licht betrachtet sind die Vorschläge der Sozialdemokraten aber keine Vorschläge für eine Föderation, sondern
für eine Förderunion. Anstatt die Ursache der Krise, die
Staatsschulden, zu bekämpfen, wollen Sie mit Konjunkturpaketen und teuren staatlichen Wachstumsprogrammen die Probleme noch verschärfen. Mit Ihren Programmen wächst weder die Wirtschaft in Griechenland oder
in Italien noch die Wirtschaft in Deutschland, sondern es
wächst so immer nur der Staat. Wir lassen nicht zu, dass
eine laxe Haushaltspolitik in Europa auch noch mit
Euro-Bonds belohnt wird.
({9})
Eine solche Politik schadet dem deutschen Steuerzahler,
schadet Deutschland und damit Europa insgesamt.
Sie wollen, dass sich die Stärkeren an den Schwächeren orientieren; aber damit schaden Sie vorsätzlich den
Starken und verhindern, dass es künftig überhaupt noch
Starke gibt, die Schwachen helfen können. Man kann die
Uhr danach stellen: Sobald im Ausschuss über Wirtschaft gesprochen wird, melden sich die Linken und
wollen die gute Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland
verhindern.
({10})
Sie reden unsere Außenhandelsbilanzüberschüsse schlecht.
Die Grünen haben sich dem angeschlossen und kürzlich
beschlossen, Außenhandelsbilanzüberschüsse zu verbieten, ja sogar zu bestrafen. Ich bleibe dabei: Außenhandelsbilanzüberschüsse sind kein Nachteil, sondern, ganz
im Gegenteil, ein Zeichen unserer Wettbewerbsfähigkeit. Sie sind die Stärke unserer Volkswirtschaft. Strafen
sind hier fehl am Platz.
({11})
Angesichts der Schuldenkrise in Europa haben wir die
Wachstumserwartungen zurückgeschraubt; das stimmt.
Umso mehr müssen wir jetzt über Wachstum reden, gerade wenn das Umfeld schwieriger wird. Jetzt gilt es, die
Wachstumskräfte zu stärken. Bemerkenswert ist, dass in
diesem Jahr ausschließlich die Binnenwirtschaft unser
Wachstum trägt. Dahinter steht die Nachfrage vieler
Menschen, die gerade in diesem Jahr bei Steuern und
Abgaben entlastet werden. Das bedeutet für jeden im
Durchschnitt 413 Euro mehr im Jahr.
({12})
- Ja. Die SPD behauptet, so Frau Nahles, dass die von
der Koalition auf den Weg gebrachte Entlastung nichts
bringt.
({13})
- Meine Damen und Herren von der SPD, das Problem
ist nicht meine Aussprache. Das Problem liegt an Ihren
Ohren, vielleicht auch dazwischen. ({14})
Vielleicht ist das für Sie kein großer Beitrag. Aber für
die Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft
({15})
sind 413 Euro viel Geld. Wenn Sie jetzt sagen, dass diese
Entlastung nichts bringt, dann beweist das in Wahrheit,
wie weit sich die Sozialdemokraten in der heutigen Zeit
von der Mitte unserer Gesellschaft entfernt haben.
({16})
Wir werden die deutsche Wirtschaft stärken. Es geht
dabei um Fachkräftesicherung und Rohstoffversorgung.
Es geht natürlich auch um Energie. Es geht um neue
Märkte und neue Chancen. All das können wir durch
Innovationen erringen.
({17})
Was die Fachkräfte betrifft, sind wir sehr erfolgreich.
Wenn Sie sich die Arbeitslosenzahlen ansehen, werden
Sie feststellen, dass nicht nur der bloße Rückgang der Arbeitslosigkeit ein Erfolg ist, sondern auch die strukturellen Veränderungen. Heute gibt es deutlich weniger Langzeitarbeitslose, die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit, die
wir je hatten, und immer mehr ältere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt. All das sind
Erfolgsmeldungen. Meine Damen und Herren, wer angesichts solcher Zahlen jetzt versucht, eigene Reformen zurückzudrehen - ich nenne nur die Rente mit 67 -, der hat
das Problem auf dem Arbeitsmarkt in Wahrheit definitiv
nicht verstanden.
({18})
Wir werden nicht nur daran arbeiten, das inländische
Fachkräftepotenzial zu nutzen, sondern es geht auch um
Zuwanderung. Wir waren gerade im letzten Jahr sehr erfolgreich. Erstmals gibt es ein gesteuertes System der
qualifizierten Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt: gestaffelt nach Berufen, Qualifikationen und abgesenkten Gehaltsschwellen. Ausländische Fachkräfte
sind ein wesentliches Thema, wenn es darum geht, auch
in Deutschland das Wachstum zu verstetigen. CDU,
CSU und FDP haben den Einstieg in die gesteuerte Zuwanderung geschafft. Wir werden die Wachstumsbremse
Fachkräftemangel gemeinsam lösen. Wir, meine Damen
und Herren, stehen gemeinsam für Fachkräftesicherung
in Deutschland.
({19})
Die Unternehmen klagen nicht nur über fehlende
Fachkräfte, sondern auch über steigende Rohstoff- und
Energiepreise. Beides ist heute von zentraler Bedeutung,
wenn wir das Wachstum in Deutschland verstetigen wollen. Oft sind die Kosten für Rohstoffe und Energie höher
als die Personalkosten.
({20})
Das zeigt doch: Ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort
ist nicht nur auf eine umweltfreundliche, sondern auch
auf eine zuverlässige Rohstoff- und Energieversorgung
angewiesen. Deswegen ist es richtig, dass diese Bundesregierung eine Rohstoffstrategie hat und wir gemeinsam
und partnerschaftlich mit anderen Staaten über den Abbau von Rohstoffen diskutieren. Die Bundeskanzlerin
hat gerade eine Rohstoffpartnerschaft mit der Mongolei
unterzeichnet. Im Februar dieses Jahres steht eine Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan an.
Wer eine Energiewende will, der braucht erneuerbare
Energien, zum Beispiel Windräder. Wer Windräder will,
der braucht aber auch Seltene Erden, und zwar 1,9 Tonnen pro Windrad einer Offshorewindkraftanlage. All das
zeigt: Wirtschaftspolitik heißt immer auch Außenwirtschaftspolitik, Rohstoffpolitik und Rohstoffsicherung.
Auch das ist ein Zeichen guter Wirtschafts- und Regierungspolitik. Wir brauchen uns nicht zu verstecken oder
uns dafür zu entschuldigen, wenn wir dafür sorgen, dass
die deutsche Wirtschaft jetzt, aber auch in Zukunft mit
Rohstoffen versorgt wird;
({21})
denn andere Staaten machen dies längst. Wir müssen
auch hier versuchen, den Wettbewerbsvorteil der deutschen Wirtschaft zu erhalten.
({22})
Das aktuell wichtigste Thema ist unbestritten die
Energiepolitik.
({23})
Der Umbau der Energieversorgung ist eine große
Chance, aber auch eine große Herausforderung. Wir
werden sie meistern. Wir brauchen Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und natürlich Bezahlbarkeit
von Energie. Wir werden diesen Dreiklang nur mit den
Instrumenten der sozialen Marktwirtschaft in der richtigen Balance halten können.
({24})
Wir werden gemeinsam mit der Wirtschaft die Netze
ausbauen und neue Kraftwerke bauen. Wir werden das
Erneuerbare-Energien-Gesetz effizienter gestalten und
die Energieeffizienz sowie die Forschung und Innovation gerade im Bereich der Energietechnologien fördern.
({25})
Ich erinnere daran: Als Sie damals den Atomausstieg
beschlossen haben, haben Sie nichts gemacht.
({26})
Sie saßen ungefähr so da wie jetzt:
({27})
Sie haben die Hände in den Schoß gelegt. Wir hingegen
haben gehandelt: Wir haben das NABEG, die Novelle
zum Energiewirtschaftsgesetz, die Anreizregulierungsverordnung und die KWK-Novelle auf den Weg gebracht, und wir werden einen Bundesnetzbedarfsplan
dem Deutschen Bundestag vorlegen.
({28})
Wir werden die Offshoreanbindung verbessern. Und wir
werden auch dafür sorgen, dass dieser Energieumbauprozess durch eine Monitoringkommission vernünftig
begleitet wird. Von Ihnen lassen wir uns nicht vorwerfen, es sei nichts passiert. All diese Leistungen zeigen:
Ihre Vorwürfe sind absurd.
({29})
An die Bremser hier im Hause: Sie blockieren im
Bundesrat doch gerade das CCS-Gesetz, das der Deutsche Bundestag beschlossen hat.
({30})
Sie schaden damit den Kommunen und den kleinen und
mittelständischen Energieversorgern und bremsen den
Umbau der Energieversorgung.
({31})
Als Sie damals den Ausstieg beschlossen haben, haben Sie gefordert, man müsse die kleinen kommunalen
Versorger unterstützen. Wenn es dann aber darum geht,
sind Sie die Blockierer vor dem Herrn.
({32})
Gleiches gilt für die energetische Gebäudesanierung. Sie
schaden damit der Energieeffizienz, aber auch dem mittelständischen Handwerk in Deutschland.
Ich frage Sie: Wo ist denn Ihr Engagement für mehr
Forschung, zum Beispiel in der Energiepolitik? Sobald
Sie das Wort „Forschung“ hören, bekommen Sie doch
Hautjucken. Es gibt doch kaum technologiefeindlichere
Politiker als hier bei den Grünen.
({33})
Es muss Ihnen doch eine Warnung sein, dass große deutsche Unternehmen ganze Technologiesparten wie die
Biotechnologie ins Ausland verlagern, weil sie Angst
vor Ihrer Technologiefeindlichkeit haben. So werden Sie
die Probleme in Deutschland nicht lösen können.
({34})
Wir werden diese Aufgaben meistern:
({35})
Ausbau der Netze - über 4 000 Kilometer neue Leitungen -, Investitionen in neue Kraftwerke mit einer Leistung von 17 Gigawatt allein bis zum Jahre 2020.
Wir werden auch gemeinsam über Preise reden müssen. Es geht um die Bezahlbarkeit von Energie.
({36})
Wenn Sie öfter mal in die Zeitung schauen würden, dann
würden Sie feststellen, dass das ein aktuelles Thema ist.
Ich halte es ausdrücklich für richtig, dass wir erneuerbare Energien fördern. Es war schließlich eine schwarzgelbe Regierungskoalition, die die Förderung der erneuerbaren Energien mit dem Stromeinspeisungsgesetz damals auf den Weg gebracht hat. Das war richtig, und darauf können wir auch gemeinsam stolz sein, liebe
Freundinnen und Freunde.
({37})
Es wird aber Zeit, gemeinsam auch über eine effiziente Förderung nachzudenken. Vielleicht werden Sie
es nicht verstehen: Es gibt einen Unterschied zwischen
effektiv und effizient.
({38})
- Schön, dass Sie sich so aufregen. Das richtet sich nämlich gerade an Sie. ({39})
Wir wollen gemeinsam den Ausbau der erneuerbaren
Energien, aber nicht zu den Kosten bzw. Preisen, die Sie
sich an dieser Stelle vorstellen; denn es geht auch wesentlich effizienter.
({40})
Es kann doch nicht sein, dass die Hälfte der EEGUmlage, mehr als 6 Milliarden Euro, für die Photovoltaik ausgegeben wird, mit der nur 3 Prozent der gesamten Energie produziert werden. Mit Wirtschaftlichkeit
hat das nichts zu tun. Hier müssen wir ran. Es geht um
die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und
auch um die Preise für die Menschen in unserem Lande.
({41})
Wir brauchen auch den Zugang zu neuen Märkten. In
der Außenwirtschaftspolitik werden wir nicht nur auf die
klassischen Partnerländer USA und Japan und auf die
neuen Partnerstaaten Brasilien, Russland, Indien oder
China setzen, sondern auch auf weitere Staaten, die gerade wesentlich stärker werden als viele andere, weil sie
ein enormes Wachstum vorzuweisen haben: Malaysia,
Mexiko, Vietnam. Die Märkte all dieser Staaten werden
von uns neu erschlossen werden. Das sind neue Märkte
für die deutsche Wirtschaft. Wenn es darum geht, das
Wachstum im Inland zu stärken, werden wir uns um
neue Märkte bemühen müssen. Wir kämpfen dabei auch
gegen den zunehmenden Protektionismus in der Welt. In
vielen Schwellenländern steigt das Selbstbewusstsein,
aber leider nehmen auch die nichttarifären Handelshemmnisse zu.
({42})
Gerade wir, Deutschland, als Exportnation müssen ein
Interesse daran haben, dass das Grundprinzip von Außenwirtschaft erhalten bleibt. Offene Märkte, freier Handel und fairer Wettbewerb, das sind die Grundlagen einer
guten Außen- und Wirtschaftspolitik. Das sind die
Grundlagen unserer Politik in dieser Regierungskoalition.
({43})
Wir setzen weiter auf Innovationen. Allein im Energiebereich stellen wir in den nächsten vier Jahren
3,5 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung und Innovation zur Verfügung, zum Beispiel im Bereich der Speichertechnologie. In dieser Legislaturperiode investieren
wir 12 Milliarden Euro in Bildung, Forschung und Innovationen und auch in viele andere Bereiche.
Wir sind davon überzeugt, dass man in Deutschland
nur mit Fortschrittsoptimismus weiterkommen kann und
dass Wachstum nur mit Fortschrittsoptimismus überhaupt erst möglich wird. Sie werden nicht weiterkommen, wenn Sie glauben, dass man Probleme, die durch
die Anwendung und Nutzung von Technologien entstehen, allein durch Verbote wird beseitigen können. Vielmehr wird es nur durch bessere technologische Lösungen und eben durch Innovationen gelingen, solche
Probleme von vornherein zu vermeiden. Deutschland
wird nicht umweltfreundlicher, indem man Plastiktüten
und Autos verbietet,
({44})
sondern indem man Katalysatoren erfindet oder Innovationen im Bereich der Elektromobilität entwickelt. Deswegen setzen wir auf Forschung, Technologie und Innovationen, und wir grenzen uns damit von Ihnen ab.
({45})
Sie sind technikfeindlich und innovationsfeindlich.
({46})
Sie wollen in Wahrheit nicht den Ausbau der Energieversorgung; schließlich versuchen Sie in vielen Bereichen, ihn zu behindern und auszubremsen. Sie wollen
nicht die Stabilisierung der Europäischen Union, weil
Sie selber an Ihrer Vergangenheit noch zu knabbern haben. Ich sage Ihnen: Wir stehen gerade im Jahre 2012
vor nicht ganz einfachen Herausforderungen.
({47})
Genau deswegen haben wir uns vorgenommen, gemeinsam daran zu arbeiten, Europa zu stabilisieren, die
Wachstumskräfte im Inland durch Fachkräftesicherung,
Sicherung der Rohstoffversorgung, gute Energiepolitik,
neue Märkte, neue Chancen, Innovationen, Forschung
und Technologie freizusetzen.
Die Menschen werden sich darauf verlassen können,
dass wir alles dafür tun, dass Deutschland auch in Zukunft auf Wachstumskurs bleiben kann. Das, was Sie
hier eben vorgeführt haben, zeigt doch in Wahrheit nur
eines: Sie dürfen dieses Land gar nicht regieren. Sonst
wird es niemals gelingen, Deutschland auf Wachstumskurs zu halten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({48})
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ausblick auf die wirtschaftliche Entwicklung in
Deutschland verlangt vor allen Dingen eines: einen realistischen Blick. Deshalb, Herr Bundeswirtschaftsminister, sagen wir als Opposition: Es ist nicht die Zeit für
Alarmismus; denn Deutschland hat in den letzten Jahren
durchaus Stärken an den Tag gelegt, die wir brauchen
können und weiter brauchen. Es ist aber auch nicht die
Zeit für Schönfärberei.
Herr Rösler, eines muss ich Ihnen sagen:
({0})
Angesichts dessen, was Sie hier eben geboten haben,
mache ich mir ernsthaft Sorgen über die Form von Realitätsverweigerung, die Sie hier an den Tag legen.
({1})
Hubertus Heil ({2})
Ich glaube, Herr Rösler, dass das vor dem Hintergrund
Ihrer Funktion als FDP-Vorsitzender vielleicht nachvollziehbar ist. Wenn man bei 2 Prozent steht, dann muss
man ein bisschen die Realität ausblenden; sonst kommt
man gar nicht mehr durch den Tag. So schwierig ist das.
Das ist aber Ihr Problem.
Für Deutschland wird es ein Problem, wenn ein Bundesminister für Wirtschaft die Realität der wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land und in Europa ausblendet.
({3})
Wie oberflächlich Sie sich als Bundeswirtschaftsminister mit den tatsächlichen ökonomischen Fragen dieser
Zeit auseinandersetzen, sieht man an der Art und Weise,
wie Sie versucht haben, zum Beispiel gegenüber Bündnis 90/Die Grünen Pappkameraden aufzubauen. Ich habe
Frau Merkels Gesicht gesehen: Es sah noch trauriger aus
als sonst.
({4})
Herr Rösler, man kann mit dem, was Sie hier bieten, fast
nur noch Mitleid haben.
({5})
Kommen wir zur Sache, zum Jahreswirtschaftsbericht.
({6})
- Ich muss ja irgendwann einmal darüber reden. Wenn
der Wirtschaftsminister nicht über Wirtschaftspolitik redet, dann muss es wenigstens die Opposition tun, meine
Damen und Herren.
({7})
Tatsache ist: Deutschland ist besser durch die vergangenen Jahre der Krise gekommen als andere Volkswirtschaften in Europa. Ich finde, wir sollten jetzt aufhören,
zu versuchen, uns wechselseitig selbst auf die Schulter
zu klopfen. Jeder hat eine unterschiedliche Wahrnehmung, wer einen Beitrag geleistet hat.
Eine wesentliche Ursache ist, dass Deutschland im
Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften nach wie vor
ein breites und starkes industrielles Rückgrat hat. Von
der Grundstoffindustrie bis zu den Hightechschmieden
haben wir eine Wertschöpfungskette, die andere Länder
- ob Großbritannien, Irland, Griechenland oder andere so nicht haben. Das hat dazu geführt, dass wir in den
letzten Jahren als exportstarkes und wettbewerbsfähiges
Land mit den besten Produkten, Verfahren und Gütern
auf den Märkten der Welt und auch in Europa erfolgreich waren.
Das ist keine Banalität, Herr Rösler. Denn ich kann
mich erinnern, dass vor zehn Jahren auch Vertreter Ihrer
Partei Industrie noch für etwas, sagen wir mal, Altmodisches erklärt haben, was ins Bergbaumuseum gehöre.
({8})
Sie haben uns damals geraten, dem irischen Beispiel zu
folgen und allein auf Finanzdienstleistungen zu setzen.
Wir wissen, wo das geendet hat.
({9})
Deshalb ist die Lehre aus dieser Krise, dass nicht nur
der unverantwortliche Umgang mit öffentlichen Geldern, den es auch gab, die Länder ins Defizit gebracht
hat, sondern vor allen Dingen auch eine ökonomische
Fehlentwicklung, eine Entwicklung, die sich von realwirtschaftlichem Handeln und industrieller Produktion
verabschiedet hat. Denn das haben die Defizitländer in
Europa alle gemeinsam.
Deshalb muss man in dieser Zeit zum Jahreswirtschaftsbericht leider feststellen, Herr Rösler, dass sich
die Stärke der deutschen Wirtschaft dauerhaft auch zur
verwundbaren Stelle entwickeln kann. Weil 60 Prozent
der Exporte Deutschlands in die Europäische Union,
40 Prozent in die Euro-Zone und derzeit lediglich 6 Prozent nach China gehen, wissen wir: Wir können als Exportnation, wenn es dem Rest Europas schlecht geht,
nicht dauerhaft wirtschaftlich erfolgreich sein, weil die
Nachfrage nach deutschen Produkten, Verfahren und
Dienstleistungen wegbricht.
({10})
Die Antwort darauf bleiben Sie schuldig.
Neben Realitätssinn fehlt Ihnen die Tatkraft, das zu
tun, was jetzt notwendig ist. Wir brauchen eine Doppelstrategie, um dieser Herausforderung zu begegnen.
({11})
Dazu gehört erstens, dass wir in Deutschland mithelfen,
nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell die
Binnennachfrage und die Kräfte im Inland zu stärken.
Dazu gehören Investitionen in Bildung, Forschung und
Infrastruktur, aber an der richtigen Stelle, Herr Rösler; es
geht nicht darum, ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie vom Arbeitsmarkt für Frauen einzuführen.
({12})
Dazu gehört zweitens aber auch eine angemessene
Lohnentwicklung. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt haben Sie etwas verschwiegen. Tatsache ist: Es ist gut, dass
mehr Menschen in Beschäftigung sind als früher, auch
im sozialversicherungspflichtigen Bereich. Wer möchte
das bestreiten, und wer sollte das schlechtreden? Es ist
aber schlecht, dass immer mehr Menschen in diesem
Land zwar Vollzeit arbeiten, aber nicht mehr von der ArHubertus Heil ({13})
beit leben können, weil sie mit Armuts- und Hungerlöhnen abgespeist werden.
({14})
- Das ist kein Zerrbild. Wenn mittlerweile 25 Prozent
der Arbeitnehmer, die arbeitslos werden, direkt in die
Grundsicherung, in das Arbeitslosengeld II herunterrasseln und aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen,
({15})
dann hat das mit der Lohn- und Gehaltsentwicklung in
diesem Land zu tun. Es hat damit zu tun, dass es einen
Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit gibt und dass es im
Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland leider
Gottes keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt.
({16})
Wir brauchen - da sind die Tarifvertragsparteien zuvörderst gefragt - angemessene Lohnabschlüsse, um die
Kaufkraft zu stärken. Wir brauchen private und öffentliche Investitionen in diesem Land. Und: Wir müssen
mithelfen, dass sich Deutschland so entwickelt, dass es
wettbewerbsfähig bleibt. Aber dafür brauchen wir Staaten und Märkte, die in der Lage sind, unsere Produkte,
Verfahren und Dienstleistungen abzunehmen.
Deshalb, Herr Rösler, finde ich Ihre Betrachtung der
Krise in der Euro-Zone und den Defizitländern sehr
oberflächlich. Wer weiterhin glaubt, dass die betroffenen
Länder alleine mit kurzfristigen Hilfskrediten und
gleichzeitig mit massiven Sparauflagen ökonomisch
wieder auf die Beine kommen, der hat nicht begriffen,
dass die wirtschaftliche Dynamik in diesen Ländern bestimmte Strukturen, beispielsweise eine bestimmte Infrastruktur, aber auch eine industrielle Struktur, braucht.
Aber dazu haben Sie nichts gesagt. Wer einem Staat wie
Griechenland mit einer Verschuldung von mindestens
180 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, nur
kurzfristig Hilfskredite hinterherwirft und gleichzeitig
die dortige Wirtschaft mit kurzfristigen Sparprogrammen und -auflagen abwürgt, der tut nichts dafür, dass
dieses Land auf lange Sicht ökonomisch wieder auf eigenen Beinen steht.
({17})
- Herr Döring, ich habe vor kurzem in der Zeitung gelesen, dass Sie als Patrick Lindner bezeichnet wurden. Ich
glaube aber, dass Sie Döring heißen.
({18})
- Herr Döring, stellen Sie eine Zwischenfrage, oder halten Sie die Klappe!
({19})
Ich sage Ihnen etwas zur Sache. Wir wollen das nicht
durch eine höhere Staatsverschuldung finanzieren. Wir
brauchen nicht nur einen Fiskalpakt mit Auflagen - der
ist in Europa sicherlich notwendig -, sondern auch ein
europäisches Wachstumsprogramm. Ich sage Ihnen
auch, wie wir es finanzieren wollen:
({20})
durch das Aufkommen einer Finanztransaktionsteuer in
der Euro-Zone, deren Einführung Sie blockieren wollen.
({21})
Herr Rösler, das bringt mich wirklich dazu, mir Sorgen zu machen. Man könnte sich mit Blick auf den Zustand dieser 2-Prozent-Partei FDP getrost zurücklehnen
und Witze über die FDP machen. Das reicht aber nicht
aus, weil Sie selbst mittlerweile durch Ihr Handeln in der
Bundesregierung zu einem Standortrisiko geworden
sind.
({22})
Wenn die Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene in
Sachen Finanztransaktionsteuer entschlossen auftreten
und im Kreis ihrer Kollegen Überzeugungsarbeit leisten
will, dann können diejenigen, die die Einführung einer
solchen Steuer skeptisch sehen oder dagegen sind, immer wieder mit Blick auf die FDP die Frage stellen: Wie
will sich eine Kanzlerin in Europa durchsetzen, die sich
in Deutschland noch nicht einmal gegenüber ihrem
schwächelnden Koalitionspartner in Sachen Finanztransaktionsteuer durchsetzen kann?
({23})
Jetzt will ich etwas zu Ihrer Argumentation sagen,
Herr Rösler. Sie müssen sich entscheiden. Sie haben gestern in der Bundespressekonferenz zum Thema Finanztransaktionsteuer zwei Antworten gegeben. Zuerst haben
Sie gesagt, warum Sie eine solche Steuer grundsätzlich
schlecht finden. Dann haben Sie gesagt: Wenn man sie
einführt, dann nur in der Europäischen Union.
({24})
Ich sage Ihnen dazu Folgendes: Wenn man eine solche
Steuer einführt, dann wäre es ganz toll, wenn man es
weltweit machen würde. Das wäre das Beste. Ich wünsche mir, dass das zumindest in der gesamten Europäischen Union möglich wäre. Aber Sie wissen ganz genau,
dass das mit einer britischen Regierung, die so sehr von
der City of London abhängig ist, nie möglich ist. Deshalb sind Sie in dieser Frage nicht ganz ehrlich. Sie argumentieren in Sachen Finanztransaktionsteuer nach dem
Hubertus Heil ({25})
Motto: Dafür, weil Ablehnung durch Briten gesichert. Das ist keine ehrliche Position. Dann sagen Sie doch,
dass Sie diese Steuer nicht wollen.
({26})
Ich sage Ihnen, warum wir diese Steuer brauchen, und
zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist sie eine effektive
Bremse gegen kurzfristige, volkswirtschaftlich schädliche Spekulationen beispielsweise im Bereich des
Hochfrequenzhandels. Zum anderen brauchen wir sie
schlicht und ergreifend, weil wir das Aufkommen dieser
Steuer in Europa brauchen, weil wir die Staaten nicht in
neue Schulden stürzen dürfen und weil wir den Steuerzahlern nicht die Kosten dessen aufhucken dürfen, was
jetzt notwendig ist, nämlich ein wirtschaftliches Aufbauprogramm. Das wird sicherlich lange dauern. Aber ich
erinnere daran, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ohne ein solches wirtschaftliches Aufbauprogramm - es hieß damals
Marshallplan - nicht auf die Beine gekommen wären.
Was Sie betreiben, ist Voodoo-Ökonomie. Zu glauben,
dass man mit Sparauflagen und Hilfskrediten die betroffenen Länder ökonomisch wieder flottmachen könne,
hat mit ökonomischem Sachverstand nichts zu tun.
({27})
Zum Thema Energiepolitik. Herr Rösler, war das
nicht die Rede eines Bundeswirtschaftministers, der
auch für Energiepolitik zuständig ist?
({28})
Das war die Rede eines hilflosen Hilfsreferenten: Man
müsste mal, man sollte mal, man könnte mal. Die deutsche Wirtschaft schreibt Ihnen ins Stammbuch, dass die
Art und Weise, wie Sie sich bei der Umsetzung der Energiewende mit Herrn Röttgen verhakeln, dass das Fehlen
eines Masterplans - er ist notwendig, um die Netze auszubauen, die Erneuerbaren tatsächlich zu integrieren,
Planungs- und Investitionssicherheit zu schaffen und
Energieeffizienz voranzubringen -, dass dieser Zickzackkurs und diese Unsicherheit mittlerweile zum Problem werden können für die Verbraucher, was die Preisentwicklung betrifft, und für die energieintensiven
Unternehmen in diesem Land. Sie sind durch diese Form
von Energiepolitik ein Standortrisiko. Das müssen Sie
sich zurechnen lassen.
({29})
Herr Rösler, zum Thema Fachkräftesicherung und
Personalentwicklung. Abgesehen davon, dass Sie das zu
einem wichtigen Thema erklärt haben, ist der einzige
Beitrag, der im Bereich Personalentwicklung im Moment geleistet wird - ob das Fachkräftesicherung ist,
weiß ich nicht -, das, was Ihr Kollege Niebel im Entwicklungsministerium an Personalpolitik macht. Er hat
wahrscheinlich Entwicklungspolitik mit Personalentwicklung verwechselt.
({30})
Aber es gibt in der Sache keine Fachkräfteallianz und
keine Strategie in Deutschland, die die Spaltung des Arbeitsmarktes überwindet.
Wir erleben, dass demografiegetrieben die Arbeitsmarktsituation in diesem Jahr stabil bleibt. 150 000 Menschen weniger als im letzten Jahr stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Das ist nicht nur eine politische
Leistung; das ist schlicht und ergreifend Demografie.
Herr Kollege.
Deshalb ist die Fachkräftesicherung Thema Nummer
eins. Kümmern Sie sich einmal darum, und bauen Sie
hier keine Pappkameraden auf! Sie sind eine Nummer zu
klein für das Amt, Herr Rösler; das kann ich Ihnen nicht
ersparen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Fuchs für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die
Zahlen von Herrn Heil verfolgt, dann muss man sagen:
Es macht eigentlich überhaupt keinen Sinn, darauf zu
antworten, und deswegen erspare ich Ihnen und mir das.
({0})
Herr Heil versucht, uns beizubringen, dass das Glas
allenfalls halb leer ist. Es ist aber mehr als halb voll. Es
gibt kein Land in Europa, dem es so gut geht wie
Deutschland.
({1})
Darauf können wir stolz sein. Wir lassen uns das von
niemandem aus der Opposition schlechtreden.
Die Situation in Deutschland ist viel besser als in jedem anderen Land. Ich habe vor kurzem Gespräche mit
Vertretern anderer Länder geführt. Das Einzige, was ich
immer wieder gesagt bekommen habe, war: Eure Probleme möchten wir haben. - Genau so ist die Situation,
und dies sollten wir auch erfreut zur Kenntnis nehmen.
So gut wie Deutschland ist kein anderes Land aus dieser
Krise herausgekommen.
Es ist die Politik, es sind aber auch die Unternehmen
sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
Deutschland standortsicher gemacht haben, die dafür gesorgt haben, dass wir innovative Produkte haben und
dass wir unsere Produkte weltweit vernünftig absetzen
können. Die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland
wurde in den letzten Jahren gewaltig gesteigert. Deswegen geht es uns so gut.
({2})
Wenn Sie sich die Zahlen aus Europa angucken, dann
sehen Sie: Es gibt kaum ein Land, das sagen kann, seine
Wirtschaft werde in diesem Jahr um mindestens 0,7 Prozent wachsen. Das ist nicht viel in Relation zu dem, was
wir in den letzten Jahren hatten, nämlich 3,7 Prozent und
3,0 Prozent. Aber es ist Wachstum, und es ist konservativ gerechnet; denn ich bin davon überzeugt, dass der
Export besser laufen wird, als wir dies im Jahreswirtschaftsbericht angenommen haben. Meiner Meinung
nach wird der Export schon deswegen besser laufen,
weil wir durch den schwachen bzw. schwächeren Euro
natürlich auch gewisse Windfall Profits haben. Schwach
ist der Euro wahrlich nicht. Ich erinnere daran, dass er in
Relation zum US-Dollar einmal bei 85 Cent gestanden
hat; jetzt steht er bei 1,27 bzw. 1,28 Euro. Das ist wahrlich nicht dramatisch und zeigt im Prinzip die nach wie
vor vorhandene innere Stärke des Euro.
Der Arbeitsmarkt profitiert davon am allermeisten.
Wir werden in diesem Jahr laut Projektion voraussichtlich 41,3 Millionen Erwerbstätige haben. Wir haben über
29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
Das führt dazu, dass unsere Sozialsysteme sicherer geworden sind. Es führt dazu, dass wir im nächsten Jahr
den Rentenversicherungsbeitrag wahrscheinlich erneut
senken können, ja sogar müssen, weil wir über die Reserve von 1,5 Monatsausgaben hinauswachsen werden.
All dies sind Erfolgsstories.
Aber ein Punkt ist mir am allerwichtigsten - dafür
habe ich mich persönlich auch als Unternehmer immer
eingesetzt -: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland
ist so niedrig wie in keinem einzigen anderen Land
Europas. Das sollten wir auch einmal zur Kenntnis nehmen. Das könnte sogar die Opposition erfreut zur Kenntnis nehmen.
({3})
Es gibt für mich kein größeres gesellschaftspolitisches Problem, als sich darum zu kümmern, dass junge
Menschen eine Perspektive haben, eine Chance, in den
Arbeitsmarkt hineinzukommen, damit sie eine Lebensperspektive entwickeln können. Genau dies haben wir
erreicht. In meinem Wahlkreis gibt es keinen einzigen
jungen Menschen mehr, der noch keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, aber 327 offene Stellen.
({4})
Bei diesem Punkt müssen wir darüber nachdenken:
Wie bekommen wir es hin, die Jugendlichen, die noch
nicht ausbildungsfähig sind, möglichst schnell in Ausbildung zu bringen? Das ist aber eine wesentliche Aufgabe
der Länder. Darüber gibt es keine Diskussion. Das muss
gelingen, und es muss schnell gelingen.
Wir müssen außerdem darüber nachdenken, ob junge
Menschen aus dem europäischen Umland, in dem die Jugendarbeitslosigkeit gewaltig hoch ist, zu uns kommen
können. Auch das wird eine Aufgabe der Politik sein,
genauso wie es sehr wichtig ist, dass wir den Facharbeitermangel angehen. Aber dort haben wir bereits im letzten Jahr - Herr Bundesminister, vielen Dank dafür - eine
Reihe von Maßnahmen ergriffen, die sich sicherlich bewähren werden.
({5})
Die Situation ist also alles andere als schlecht, und
wir lassen sie uns auch von der Opposition nicht
schlechtreden.
({6})
Wichtig ist aber, dass wir wissen, warum es uns so gut
geht. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, uns geht es
deswegen so gut, weil wir eine funktionierende soziale
Marktwirtschaft haben. Diese Marktwirtschaft ist der
Grund, warum es bei uns besser läuft als in vielen anderen Ländern. Es ist unsere Aufgabe, hier im Hohen
Hause darauf zu achten, dass wir weiter auf dem Weg
der Marktwirtschaft gehen und diese nicht immer infrage
stellen. Das tun viele. Der Marktwirtschaft wird häufig
auch noch Raubtierkapitalismus vorgeworfen. Völliger
Quatsch! Wer von Marktwirtschaft spricht, der meint damit bewusst auch Ordnung und Staat. Das gehört zusammen. Aber der Staat ist nicht der bessere Banker und
schon gar nicht der bessere Unternehmer. Er hat die Regeln zu setzen, aber sich aus der Marktwirtschaft, aus
dem Markt herauszuhalten. Dort haben wir in den letzten
Jahren das eine oder andere durchaus falsch gemacht.
Der Marktanteil privater Banken in Deutschland beträgt gerade einmal 26,9 Prozent, und dabei habe ich die
Commerzbank dazugerechnet.
({7})
Aber wenn der Staat die Sperrminorität bei einer Bank
hat, kann man nicht wirklich von privat sprechen. Wenn
wir diese Bank nicht dazurechnen, sind wir bei 19 Prozent. Das ist mit 15 Prozent die Deutsche Bank, und der
Rest sind das Bankhaus Metzler und einige andere
kleine. Dann davon zu sprechen, dass all diese schuld
seien, ist sehr fragwürdig.
({8})
Meiner Meinung nach wäre es besser - der Kollege
Gysi hat das ja immer in seinen Redeschleifen -, wenn
wir einmal darüber nachdenken würden, wie wir mehr
Private in den Bankensektor hineinbekommen; denn sie
haben weniger Probleme als die ganzen staatlich organisierten Banken, angefangen bei allen Landesbanken, vor
allem denjenigen in sozialdemokratisch geführten Ländern.
({9})
Lassen Sie mich - Sie warten wahrscheinlich schon
darauf - noch einige Worte zum Energiemarkt sagen.
Auch dort ist es so, dass das Ganze mit Markt nicht mehr
allzu viel zu tun hat. Wir haben nur noch 34 Prozent
Markt; 66 Prozent sind staatlich organisiert. Das ist der
gesamte Bereich der staatlichen Lasten; das sind 42 Prozent. Hinzu kommen die regulierten Netzentgelte mit
einem Anteil von 24 Prozent. Also sind nur noch 34 Prozent des gesamten Strompreises privat oder marktwirtschaftlich organisiert. Das zeigt, dass wir da in eine Falle
laufen, die immer problematischer wird. Denn je mehr
erneuerbare Energien wir einsetzen - und wenn wir diesen Bereich so organisieren, dass dieser Markt komplett
reguliert ist -, desto mehr wird aus der privatwirtschaftlichen Organisation herausgenommen.
Ich warne davor; denn das kann zu Verteuerungen
führen, die wir uns nicht leisten können. Die können wir
uns deswegen nicht leisten, weil ich nicht möchte, dass
Industrieunternehmen aus Deutschland abwandern müssen, weil sie nicht in der Lage sind, die Strompreise zu
bezahlen bzw. ihre Produkte wettbewerbsfähig in
Deutschland herzustellen.
({10})
Es kann nicht sein, dass wir die Fehler, die wir beim
EEG gemacht haben, auch in Zukunft nicht beseitigen.
Produce and forget - das ist die Methode, die das EEG
vorgibt: Ich stelle den Strom her; ob den irgendeiner benötigt und wo der gebraucht wird, ist mir völlig egal. Ich
sage Ihnen eines: Als Unternehmer hätte ich es sehr
gerne gesehen, wenn ich die von mir hergestellten Produkte einfach auf den Hof hätte stellen und sagen können: Mich interessiert der Vertrieb nicht. Das ist eine
Vorgehensart, die ich nicht als Unternehmertum bezeichnen möchte.
({11})
Der Vertrieb des Stroms muss von denjenigen, die ihn
produzieren, mitorganisiert werden. Wir werden eine
entsprechende Änderung im EEG vornehmen müssen;
denn ansonsten wird es einen gewaltigen Zubau geben,
den aber keiner gebrauchen kann. Keiner kann dann
nämlich den produzierten Strom abnehmen, weil er gar
nicht dahin transportiert werden kann, wo er gebraucht
wird. An dieser Stelle muss es Veränderungen geben.
({12})
Wir müssen auch darüber nachdenken, ob die unwirtschaftlichste Methode, Strom zu produzieren, nämlich
die Photovoltaik, so wie bisher weiter gefördert werden
kann. Im letzten Jahr wurden 7 500 Megawatt zugebaut,
allein im Monat Dezember über 3 000 Megawatt.
({13})
Dies wird so nicht weitergehen können. Das zeigt zugleich, dass die Kostensenkungen bei den Paneelen weit
höher waren als die Absenkungen der Einspeisevergütung, die wir vorgenommen haben. Im letzten Jahr sind
die Preise für Solarpaneele um rund 40 Prozent gesunken. Diese machen aber ungefähr 70 Prozent der Kosten
einer Solaranlage aus. Also kann man davon ausgehen,
dass es beim Aufbau von Solaranlagen eine Kostendegression in Höhe von ungefähr 30 Prozent gab. Zugleich haben wir aber zum 1. Januar 2012 nur eine
mäßige Kostendegression von 15 Prozent bei der Einspeisevergütung vorgenommen. Das heißt, der Profit
derjenigen, die eine Solaranlage auf ihr Dach montiert
haben, hat sich deutlich erhöht. Das kann nicht sein. Das
ist eine Umverteilung von unten nach oben. Die Mieter,
die Hartz-IV-Empfänger bezahlen das, was wohlhabende
Bürger auf ihrem Dach installieren. Das muss sich ändern. Ich bin gegen diese Umverteilung von unten nach
oben.
({14})
Es handelt sich auch um eine Umverteilung von Nord
nach Süd. Es ist sozusagen ein Länderfinanzausgleich
auf umgekehrtem Wege. Die Bayern sind die größten
Profiteure, während die Länder im Norden und NRW am
meisten dafür zahlen. Das kann so nicht weitergehen;
das ist ungerecht, das sehe ich so nicht ein. Wir müssen
das gemeinsam angehen. Wir werden das EEG in diesem
Jahr umbauen müssen, sodass es marktwirtschaftlicher
organisiert ist, dass Elemente hineinkommen, die dafür
sorgen, dass die Strompreise durch die Erzeugung von
erneuerbaren Energien nicht zu stark steigen und somit
die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Unternehmen
in Deutschland nicht zu sehr belastet werden. Deutschland ist ein Industrieland, ein Industriestandort; das muss
so bleiben. Wir werden uns dafür einsetzen.
({15})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten
Vierteljahr ist die wirtschaftliche Entwicklung bereits
um 0,25 Prozent zurückgegangen; sie ist quasi eingebrochen. Wir liegen also bereits im Minus. Spätestens angesichts dessen stellt sich doch die hochbrisante Frage, ob
eine Rezession droht. In solch einer Situation erleben
wir hier einen Wirtschaftsminister, der sich schlicht in
Realitätsverweigerung übt. Ich halte es schon für skandalös, wie hier operiert wird.
({0})
Was sagt der Wirtschaftsminister? Er sagt: Wir haben
eine leichte Wachstumsdelle. Das wird am Rande zur
Kenntnis genommen; dabei ist es, wie gesagt, schon
mehr als eine Wachstumsdelle. Dann wird anhand
irgendwelcher wunderlicher Gründe, die nicht näher belegt werden, behauptet, dass es ab nächsten Sommer
wieder aufwärtsgehen wird. Das sind schlicht haltlose
Fantastereien, mit denen wir hier konfrontiert werden.
({1})
Wir haben im letzten Jahr und auch in den Jahren zuvor erlebt, dass von deutscher Seite den anderen Ländern
in der EU ein massives Kürzungs- und Strangulierungsprogramm aufgeherrscht worden ist. In den anderen
Ländern wird die deutsche Kanzlerin mittlerweile fast
schon als selbsternannte, selbstgekrönte Kaiserin über
Europa empfunden. 600 Milliarden Euro beträgt die
Summe, die in den nächsten zwei bis drei Jahren in Europa auf deutschen Druck eingespart wird. Hier läuft
momentan ein atemberaubendes Strangulierungsprogramm. Das ist das Gegenteil von Konjunkturunterstützung.
Auch das und die damit verbundenen Risiken werden
von dieser Regierung und von diesem Wirtschaftsminister überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Wir wissen
doch, dass 60 Prozent der deutschen Exporte in die EU
gehen. Es ist vollkommen klar, dass dieses Strangulierungsprogramm auch auf Deutschland zurückschlägt,
sodass wir auch hier in Deutschland in höchster Gefahr
sind. Das muss man anerkennen, das muss man sehen,
und darauf muss man Antworten geben.
({2})
Die Grundantwort darauf heißt: Eine Rezession in
Deutschland kann sehr wohl verhindert werden. Sie ist
nicht gottgegeben. Die Verhinderung einer Rezession in
Deutschland setzt aber voraus, dass wir unverzüglich auf
eine deutliche Stärkung der Binnenwirtschaft in
Deutschland umsteuern müssen.
({3})
Dazu gehören zum einen Zukunftsinvestitionsprogramme und Konjunkturprogramme. Wir müssen viel
mehr Geld für dringend zu lösende Aufgaben ausgeben,
für Infrastruktur, Bildung usw. Der zweite ganz wichtige
Punkt ist aber: Wir brauchen richtig knackige Lohnerhöhungen, um es einmal so klar zu formulieren. Lohnerhöhungen sind die Parole der Stunde.
({4})
Es muss endlich Schluss sein mit dem, was wir seit
zehn Jahren erleben, nämlich ein atemberaubendes
Lohndumping. Die Reallöhne sind in den letzten zehn
Jahren um 4,5 Prozent gesunken. Daran ändert auch die
Tatsache nichts, dass es in den letzten ein, zwei Jahren
geringfügige Verbesserungen und Korrekturen gegeben
hat. Dieses Lohndumping in Deutschland muss endlich
beendet werden.
({5})
Es muss Schluss sein damit, dass auf der einen Seite
die Gewinne in den Himmel fliegen und die Einkommen
der Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen auf der anderen Seite noch um 20 Prozent gekürzt werden, sodass
sie am Ende als Aufstocker Mittel aus der öffentlichen
Tasche, Steuermittel beanspruchen müssen, um überhaupt überleben zu können.
Die erste große Tarifrunde in diesem Jahr ist die im
öffentlichen Dienst. Aus manchen Bemerkungen hört
man schon heraus, dass selbst beim Wirtschaftsminister
das ganz rudimentäre Verständnis besteht, dass ein weiteres Ansteigen des privaten Konsums wichtig sei. Dazu
brauchen wir deutliche Lohnerhöhungen. Wenn im öffentlichen Dienst die erste Tarifrunde stattfindet, haben
Sie sehr wohl Handlungsmöglichkeiten. Sie könnten als
Arbeitgeber auch auf Ihrer Seite mit dafür sorgen, dass
schon in der ersten Tarifrunde der deutliche Nachholbedarf im öffentlichen Dienst ausgeglichen wird und dass
es zu einer massiven Lohnerhöhung kommt.
({6})
Über die Lohnentwicklung hinaus brauchen wir deutliche Verbesserungen in den Bereichen, die von den Gewerkschaften im Rahmen der Tarifpolitik schon gar
nicht mehr reguliert werden können; schon 50 Prozent
der Menschen in Deutschland arbeiten nicht mehr unter
einem Tarifvertrag. Dazu gehört zuallererst die Einführung eines wirklichen Mindestlohns, der gesetzlich festgelegt wird. Dieser Mindestlohn muss 10 Euro betragen;
denn nur diese Größenordnung bringt wirklich etwas.
({7})
Wirtschaftsminister Rösler feiert in seinem Ausblick
fröhlich angeblich Hunderttausende neuer Jobs in diesem Jahr. Sollte das eintreten, würde nur das fortgesetzt,
was wir die ganzen Jahre ohnehin schon erlebt haben:
Weiterhin werden massiv Vollzeitjobs zugunsten der
deutlichen Ausweitung von massenhaften miesen und
prekären Beschäftigungsverhältnissen abgebaut, in denen Menschen befristet, in Leiharbeit oder in anderen
Formen wie zum Beispiel Minijobs arbeiten müssen.
Diese Androhung formulieren Sie faktisch gegenüber
diesem Lande. Das ist ein Skandal und kein Positivpunkt.
({8})
Ich komme zum Schluss. Man muss ganz klar festhalten: Die Ausweitung prekärer Beschäftigung hilft uns
nicht weiter. Was wir vielmehr brauchen und was in der
momentanen Situation angezeigt ist, um dieses Land vor
einem Hineinschlittern in die Rezession zu bewahren,
sind eine deutliche Umsteuerung auf die Binnenwirtschaft und deutliche Lohnerhöhungen in der kommenden Tarifrunde. Alle, die für dieses Land etwas tun wollen, müssen da massive Unterstützung leisten.
Danke schön.
({9})
Hermann Otto Solms ist der nächste Redner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich kann mich nicht daran erinnern, während
meiner langjährigen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag - ich bin seit gut 30 Jahren Mitglied - schon einmal in einer schwierigen Zeit und in einem schwierigen
Umfeld einen so positiven Jahreswirtschaftsbericht gehört zu haben. Das möchte ich hier betonen.
({0})
Das ist schon herausragend. Zu diesem Ergebnis
kommen Sie, wenn Sie sich das Umfeld in Europa und
weltweit anschauen. Deswegen gilt unser Dank der Bundesregierung dafür, dass sie dazu beigetragen hat, dass
dieser positive Bericht abgegeben werden konnte. Ein
besonderer Dank gilt natürlich dem Wirtschaftsminister,
der in erster Linie die Verantwortung dafür trägt.
({1})
Deutschland ist heute eine Insel der Stabilität, eine Insel der sozialen Sicherheit und zugleich eine Insel des
Wachstums und des Fortschritts. Alle anderen Länder
um uns herum wären froh und glücklich, wenn sie in unserer Lage wären. Aber einige, insbesondere die Politiker der Opposition, mäkeln daran herum. Warum sagen
Sie nicht stolz: „Wir haben mit der Agenda 2010 auch
unseren Anteil an diesem Erfolg“?
({2})
Stattdessen verleugnen Sie die Vaterschaft für diese Tat
und versuchen jetzt, sie zu bekämpfen. Das ist doch
kurios. Damit werden Sie keine Wahlen gewinnen. Das
sage ich Ihnen voraus.
({3})
Die positive Entwicklung zeigt sich insbesondere auf
dem Arbeitsmarkt. Damit verbunden ist auch eine positive Entwicklung der sozialen Situation; denn die Menschen können wieder aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt verdienen und sind nicht mehr auf staatliche
Transfers angewiesen.
Zu dem Kollegen Schlecht möchte ich sagen: Nomen
est omen. Es war ziemlich schlecht, was Sie gesagt haben. Die Lohnsteigerungen - Sie haben beklagt, dass es
sie nicht geben würde - sind jetzt faktisch da. Das haben
wir erreicht. Ich will noch dazu sagen, dass dies ökonomisch gesehen eine hochinteressante Entwicklung ist;
denn hier treten zwei Phänomene zugleich ein, die sich
die Ökonomen seit langem gewünscht und gefordert
haben:
Erstens. Die Exportkonjunktur, die uns aus der Krise
herausgeführt hat, geht jetzt in eine Binnenkonjunktur
über. Wir sind nicht mehr so stark vom Export abhängig,
wie wir es in der Zeit davor waren. Die Binnenkonjunktur ist angesprungen. Das liegt insbesondere an der Beschäftigungsentwicklung und dem damit verbundenen
Effekt, weil die Menschen durch mehr Beschäftigung
und durch Lohnerhöhungen mehr Kaufkraft haben und
diese Kaufkraft auch einsetzen und nutzen. Das ist ein
positives volkswirtschaftliches Ergebnis.
Zweitens. Jetzt ist die These, die die FDP immer aufgestellt hat, praktisch bewiesen, dass nämlich Entlastung
bei Steuern und Abgaben
({4})
und Haushaltskonsolidierung - das ist unsere Strategie Hand in Hand gehen und zusammengehören. Entlastungen schaffen die Voraussetzungen für wirtschaftliches
Wachstum. Wirtschaftliches Wachstum wiederum trägt
dazu bei, dass sich die Kassen des Finanzministers wieder füllen und die Neuverschuldung zurückgeführt werden kann, und zwar weit mehr, als wir dies noch vor kurzem für realistisch gehalten hätten.
({5})
Es gibt natürlich auch einige Risiken. Ein Risiko, gegen das wir dieses Jahr angehen müssen, liegt in der
Krise des Euro. Wir sind endlich auf einem guten Weg
und wollen übereinstimmend über eine Stabilitätsunion
zu einem Erfolg kommen. Das gilt jedenfalls für die
Koalition und für die Regierung; die Opposition kämpft
noch mit sich, ob sie nun für Euro-Bonds eintreten soll
oder nicht. Eine Vergemeinschaftung der Haftung kann
für uns nicht infrage kommen.
({6})
Der einzige Weg, die Krise zu bekämpfen, ist, die Ursache der Krise zu bekämpfen. Das ist die Verschuldung
der Staaten, und diese muss zurückgeführt werden. Das
setzen wir durch.
({7})
Das zweite Risiko liegt in der Entwicklung der Preise
auf dem Energiemarkt. Die Energiepreise sind heute das,
was früher die Brot- oder Milchpreise waren. Sie sind
von fundamentaler Bedeutung. Der sehr schnelle Umstieg in der Energiepolitik birgt erhebliche Risiken. Es
muss klar sein: Die Belastung der Volkswirtschaft durch
die Energiepreise muss beherrschbar bleiben. Das heißt,
die EEG-Umlage darf den Wert von 3,5 Cent pro Kilowattstunde nicht überschreiten. Deswegen muss die Subventionierung im EEG zurückgeführt werden. Ich will
jetzt nicht über die Technik sprechen, aber es muss klar
sein und wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass die
Obergrenze für die EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent
pro Kilowattstunde eingehalten wird und die Preise nicht
weiter steigen. Das würde unsere Wettbewerbsfähigkeit
im internationalen Wettbewerb erheblich erschweren.
({8})
Das dritte Risiko liegt in der Steuerpolitik. Ich will
die Grusel- und Schockvorschläge der Grünen, die vielfältige Steuererhöhungen beschlossen haben, hier nicht
wiederholen. Die SPD ist etwas zurückhaltender, aber
ebenfalls auf dem falschen Weg. Es zeigt sich doch jetzt,
dass eine maßvolle Steuerbelastung positive Auswirkungen auf die Wirtschaft und die privaten Haushalte hat.
Sie führt dazu, dass Investitionskapital in Deutschland
bleibt und vom Ausland nach Deutschland gebracht
wird. Das wiederum ist die Voraussetzung für Wachstum. Also: Lasst diesen Unsinn mit diesen vielen Steuererhöhungen, sondern schließt euch uns an.
({9})
Maßvolle Steuerpolitik ist die Voraussetzung für Wohlstand und Wachstum, und dabei muss es bleiben.
({10})
Es bleibt das Thema Finanztransaktionsteuer. Ich will
jetzt gar kein Tabu aufstellen. Ich will nur sagen: Diejenigen, die das fordern, müssen erst einmal den Nachweis
erbringen, dass die volkswirtschaftlichen Nachteile, die
damit verbunden sind, geringer sind als die volkswirtschaftlichen Vorteile.
({11})
Die Finanztransaktionsteuer ist mittlerweile eine
reine Wundertüte: Sie soll die Märkte beruhigen. Sie soll
die Spekulationen eindämmen. Sie soll die Finanzindustrie bestrafen. Sie soll für mehr steuerliche Gerechtigkeit
sorgen. Sie soll im Übrigen Geld in die Kasse spülen. Das ist natürlich alles schön und gut. Aber: Geht das?
Kann sie das? Das ist doch die Frage.
({12})
Es gibt einen einzigen praktischen Versuch. Der ist in
Schweden durchgeführt worden. Der ist total in die
Hose gegangen. Die Schweden haben in den 80er-Jahren die Börsenumsatzsteuer eingeführt. 80 bis 90 Prozent der Umsätze sind sofort nach London abgewandert.
Sie haben gehofft, 1,5 Milliarden Euro an zusätzlichen
Steuereinnahmen zu bekommen. Hereingekommen sind
50 Millionen Euro. Wer ist zum Schluss besteuert worden? Nur noch die kleinen Unternehmen, die allein an
der schwedischen Börse notiert waren. Bei allen anderen
Unternehmen, die auch international notiert waren, sind
die Umsätze abgewandert. Das droht auch hier.
Die Kommission hat erkannt, dass es so nicht funktionieren kann, weil es zu Abwanderungen führt. Deshalb
soll das Wohnsitzprinzip gelten. Aber auch das Wohnsitzprinzip haben sie nicht durchgehalten; denn bis jetzt
gibt es beispielsweise keine Vereinbarung in den jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen über einen entsprechenden Datenaustausch. Wie wollen Sie denn die Behörden in Singapur zwingen, die Namen derjenigen, die
Transaktionen veranlasst haben, bekannt zu geben? Das
ist doch gar nicht machbar. Auch die Behörden in London tun es nicht.
({13})
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Bevor diese technischen Fragen nicht geklärt sind, können wir die Diskussion über die Finanztransaktionsteuer beenden.
({14})
Erst einmal müssen die Fachleute ran und sagen: Wir
haben ein System, das funktioniert. Dann reden wir weiter darüber, ob das auch politisch sinnvoll ist. Aber dann
muss man die Vor- und Nachteile abwägen. Es darf hier
nicht dazu kommen, dass die kleinen Leute, die für ihre
Altersvorsorge sparen, belastet werden
({15})
und dass die kleinen Unternehmen in Deutschland, die
nur an der deutschen Börse notiert sind, diese Steuer bezahlen müssen und die großen Unternehmen zu anderen
Börsenplätzen abwandern. Das kann keiner von uns wollen.
({16})
Wir brauchen in Deutschland einen funktionierenden
Finanzplatz zur Finanzierung der realen Wirtschaft.
Darüber müssen wir uns alle einig sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
war schon gestern bei der Lektüre des Jahreswirtschaftsberichts enttäuscht; aber bei Ihrer Rede, Herr Rösler,
hatte ich irgendwie das Gefühl, Sie nehmen es gar nicht
ernst, worüber wir in Deutschland und in Europa gerade
diskutieren.
Ich halte es für eine Beschönigung, wenn Sie sagen:
Na ja, wir gehen um 2,3 Prozent herunter; das ist dann
eben eine „Delle“. - Jedoch wissen alle, die den Jahreswirtschaftsbericht gelesen haben, dass die Grundlage für
die Annahme, dass es sich nur um eine „Delle“ handelt,
darin besteht, dass wir im Jahr 2012 die Euro-Krise in
den Griff bekommen und somit die europäische Krise
gelöst werden kann. Diese Annahme liegt Ihren Zahlen
zugrunde.
Ich sage: Angesichts der Krisenpolitik dieser Regierung, die auch den Namen von Frau Merkel trägt, bin ich
ebenso wie viele Experten im Zweifel, ob es wirklich
gelingen wird, diese Krise im Jahr 2012 in den Griff zu
bekommen.
({0})
Sie haben vieles falsch gemacht. Sie haben zuerst
lange gezögert, und zwar zum großen Schaden für viele
Länder in Europa. Dann haben Sie eine Politik gemacht,
die sich ganz auf eine Sparpolitik der Staaten konzentriert, die aber keine Möglichkeiten und Spielräume
mehr für Investitionen lässt.
({1})
Das ist völlig falsch. Wir müssen sparen und investieren.
Wer nur spart und sich dann wundert, dass die anderen
nicht investieren können, der ist ökonomisch zu kurz gesprungen. Das sind Sie in Ihrer Rede und in dem, was
Sie in Ihrem Bericht verfasst haben.
({2})
Herr Rösler, ich will Ihnen am Rande sagen: Sie persönlich kommen in der Europapolitik sowieso nicht vor.
({3})
Die ganze EU-Debatte ist spurlos an Ihnen vorübergegangen, obwohl Sie als Wirtschaftsminister dafür elementar zuständig wären. Darüber sollten Sie sich einmal
Gedanken machen. Sie treten lediglich an einer Stelle
auf, nämlich als Bremser bei der Finanztransaktionsteuer.
Es ist doch geradezu lächerlich, dass Sie jetzt den
kleinen Mann entdecken, wir aber bei der Finanztransaktionsteuer über Steuersätze von 0,1 Prozent auf Aktien
und 0,01 Prozent auf Derivate reden. Dass Sie nun plötzlich das Herz des kleinen Mannes entdecken, ist doch
irgendwie fadenscheinig. Ihnen geht es um die Großbanken.
({4})
Sie glauben, dass diese Ihnen über die 5-Prozent-Hürde
helfen. Aber auch das wird sich als Illusion erweisen.
Ein Punkt stört mich in ökonomischer Hinsicht: Früher war das Wirtschaftsministerium immer auch ein Ort
der ökonomischen Theorie. In Ihrem Bericht jedoch sagen Sie: Die Ungleichgewichte in Europa und die Leistungsbilanzunterschiede sind ein Problem. - Für Sie
besteht ein Problem nur dann, wenn ein Land Leistungsbilanzdefizite hat. Dass es aber auch einen Zusammenhang gibt zwischen Defiziten und Überschüssen und
dass man dieses Problem durch gemeinsame Wirtschaftspolitik in Europa angehen muss, das kommt im
gesamten Jahreswirtschaftsbericht nicht vor.
({5})
Davon haben Sie noch nichts gehört. Der Debatte wollen
Sie sich offensichtlich nicht stellen.
Dann kommen Sie mit dem Wachstum. Das will ich
am Beispiel der Energie deutlich machen. Ich werfe
Ihnen für meine Fraktion konkret vor, dass Sie bei der
Energiewende so auf der Bremse stehen, wie man nur
auf der Bremse stehen kann.
({6})
Sie haben die Energiewende zwar beschlossen, wenn
auch wider Willen, aber jetzt tun Sie nichts.
({7})
Sie haben nichts im Zusammenhang mit der Energieeffizienz getan. Sie haben den EU-Vorschlag blockiert,
der von jedem Energieversorger eine Steigerung der
Energieeffizienz um 1,5 Prozent im Jahr verlangt.
({8})
Das nennen Sie Planwirtschaft - und beim EEG kommen Sie mit dem depperten Quotenmodell, das in England schon in Bausch und Bogen gescheitert ist.
({9})
Das ist doch keine Ordnungspolitik, das ist reine Interessenpolitik. Für Sie bedeutet die Energiewende lediglich,
neue Kohlekraftwerke zu bauen. Wir haben doch Augen
im Kopf.
Der Strom wird teurer, weil Sie die Netzentgeltregelung für Großkunden eingeführt haben, um sie von den
Kosten zu befreien. Das ist ordnungspolitisch übrigens
sehr interessant: Wer sehr viel Strom braucht, zahlt kein
Netzentgelt, und wer wenig braucht, der muss zahlen.
Das ist eine ganz tolle Ordnungspolitik, mit der Sie hier
aufwarten.
({10})
Und was machen Sie bei der EEG-Umlage? Die Kostenbefreiung wird von den bisher 600 Betrieben auf sehr
wahrscheinlich 6 000 Betriebe ausgeweitet. Das ist der
Grund für die Kostenbelastungen - weil Sie immer die
Vorstellung haben, es sei gut, den Großen zu helfen, dafür aber nicht in die Infrastruktur investieren.
Ich sage Ihnen, Herr Rösler: Wenn Sie eine Sonnenallergie haben, dann müssen Sie zum Arzt gehen; aber
dann müssen Sie hier nicht mit allen Tricks versuchen,
die Photovoltaikentwicklung in Deutschland zu sabotieren. Das ist nicht der richtige Weg.
({11})
Sie haben, seit der Atomausstiegsbeschluss gefallen ist,
nichts Nennenswertes getan, was uns wirklich voranbringt. Es sind verlorene Jahre für eine vernünftige Energiepolitik.
Übrigens bringt eine solche Politik Wachstum: Mit
grünen Ideen können Sie schwarze Zahlen schreiben.
Wir könnten in dem Sektor neue Arbeitsplätze schaffen,
um uns unabhängiger von Energieimporten zu machen,
die gefährlich, teuer und riskant sind. Wer da aber auf
der Bremse steht, der kann einfach keine gute Politik
machen.
Von Wachstum brauchen Sie uns nichts zu erzählen.
Wir freuen uns, wenn die Wirtschaft wächst; aber wir erlauben uns den Luxus, zu fragen, ob sie an den richtigen
Stellen wächst.
({12})
Wir erlauben uns politisch den Luxus, zu fragen: Was
passiert eigentlich, wenn die Wirtschaft einmal nicht
mehr wächst? Geht der Staat dann baden, oder haben wir
für eine solche Situation vorgesorgt? Diese Fragen erlauben wir uns. Ihre Jubelarie „Wachstum, Wachstum über
alles“ ist einfach peinlich. Im Bericht steht jetzt sogar,
dass Sie ein „breites Wachstum“ ermöglichen wollen. Es
ist ein solcher Hirnriss, dass das Wachstum jetzt auch
noch breit sein soll; da kann ich doch nur lachen.
Wir müssen im Jahr 2012 schauen, dass die richtigen
Bereiche wachsen; das ist die staatliche Aufgabe. Darum
kümmern sich die Grünen, und Sie, Herr Rösler, haben
sich verdrückt.
({13})
Ernst Hinsken ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Alle Jahre wieder steht der Jahreswirtschaftsbericht auf
der Tagesordnung. Es ist gesetzlich festgeschrieben, dass
er abgegeben wird. In keinem Jahr zuvor kann man trotz
Wirtschaftskrise auf so viel Positives verweisen wie
heute. Mit 3 Prozent Wachstum im Jahr 2011 ist
Deutschland zur wichtigsten Wachstumslokomotive auf
dem ganzen Kontinent geworden. Verehrte Kolleginnen
und Kollegen, wir stehen heute besser da, als wir vor der
Wirtschafts- und Finanzkrise dastanden. Das sollte einmal gewürdigt werden.
({0})
Wir Deutsche sind wirtschaftlich spitze. Ich möchte
nur einige Bereiche benennen: Ob Export, Tourismus,
niedrige Arbeitslosigkeit oder erneuerbare Energien,
überall sind wir vorne dran. Und dann kommen Sie, verehrter Herr Kuhn, hierher und versuchen, das Ganze
schlechtzureden, als würden Sie von der Realität nichts
verstehen.
({1})
Sie waren in den Ausschüssen sonst immer mit dabei
und haben sich konstruktiv eingebracht; aber was Sie
heute hier abgeliefert haben, war unter „ferner liefen“.
Da möchte ich Ihnen jetzt, wo Sie hinausgehen wollen,
ein Wort des Bedauerns mit auf den Weg geben.
Ich habe auch nicht verstanden, dass sich gerade Kollege Heil bei dieser Debatte nicht dessen bewusst war,
dass er vor dem Plenum des Deutschen Bundestages und
nicht auf dem SPD-Parteitag spricht. Die Ausfälle, die
Sie geliefert haben, spotten jeder Beschreibung.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn ich die
wirtschaftliche Entwicklung, wie ich es vorhin getan
habe, so positiv hervorhebe, so auch deshalb, weil sich
die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland
Gott sei Dank halbiert hat, weil wir in den letzten 20 Jahren bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
und der Arbeitslosigkeit noch nie so gut dran waren wie
zurzeit. Wir müssen uns gerade auch bei dieser Debatte
fragen: Was sind denn die Gründe dafür, dass wir so
dastehen? Wir haben fleißige und gut ausgebildete Menschen, kreative, leistungsstarke und exporterprobte
Unternehmen sowie gezielte Innovationen und Investitionen in die Zukunft, vor allen Dingen richtige Regelungen am Arbeitsmarkt und einen entschiedenen Sparwillen.
Hinzu kommen die richtigen Entscheidungen in der
europäischen Verschuldungskrise. Verehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie hatten gerade auf diesem Gebiet immer
eine glückliche Hand. Es soll uns alle freuen, dass wir
hier in der Europäischen Gemeinschaft und im weltwirtschaftlichen Konzert nach vorne marschieren, dass andere versuchen, uns nachzuahmen, dass andere uns loben. Stattdessen kommt die Opposition und versucht,
das alles niederzumachen bzw. schlechtzureden.
({3})
Es war vor allen Dingen der Dreiklang aus Abwrackprämie, Konjunkturprogramm I und II und auch die Kurzarbeiterregelung, der uns so erfolgreich machte.
({4})
Natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der
Jahreswirtschaftsbericht aufzeigt, dass die Bundesregierung aufgrund der Unwägbarkeiten der europäischen
Staatsschuldenkrise 2012 mit deutlich weniger Wirtschaftsdynamik rechnen kann als in den hervorragenden
beiden letzten Jahren. Dieser Entwicklung wollen und
müssen wir entgegenwirken.
Es gibt aber trotz des schwierigen Umfelds keinerlei
Anzeichen für Stagnation oder gar Rezession, sondern
nur für eine Abschwächung der Konjunktur. Warum?
Weil wir auf intakte Wachstumskräfte bauen können.
Dazu heißt es im Jahreswirtschaftsbericht, dass die Binnenwirtschaft mehr und mehr zur tragenden Säule wird.
Für vernünftige Rahmenbedingungen müssen allerdings
wir, die Politik insgesamt gesehen, sorgen.
({5})
Unsere Mitbürger profitieren davon: durch mehr Arbeitsplätze, durch höhere Einkommen und durch bessere
Zukunftschancen. Lassen Sie es mich auf einen Nenner
bringen: Unser wirtschaftspolitischer Kurs ist erfolgreich und erweist sich als goldrichtig, und er wird daher
fortgesetzt.
({6})
Arbeitnehmerfleiß, Unternehmergeist und vernünftige Rahmenbedingungen der Politik sind die Zauberworte für Erfolg; denn es läuft nicht alles von selbst.
Schauen wir doch in die Nachbarstaaten. Hier stellen wir
einen gegenteiligen Trend fest. In Frankreich wird die
Arbeitslosenquote in diesem Jahr von 9,9 Prozent auf
10,6 Prozent steigen, in Italien von 8,3 Prozent auf
9 Prozent und in Spanien sogar von 21,9 Prozent auf
23 Prozent. Bei uns sinkt sie! Darauf sollten wir alle gemeinsam stolz sein und die Entwicklung nicht schlechtreden.
({7})
Dieses und vieles andere, wie die Beitragssatzsenkung
der gesetzlichen Rentenversicherung, ist bürgernahe, erfolgsorientierte Politik.
Ich würde gerne noch vieles zur Energiepolitik sagen,
aber der zeitliche Rahmen lässt das nicht zu. Grundsätzliches haben mein Kollege Dr. Fuchs und Sie, verehrter
Herr Wirtschaftsminister Dr. Rösler, bereits ausgeführt.
Das kann ich inhaltlich voll teilen. Das ist der richtige
Weg in eine vernünftige Zukunft; denn gerade die Energiepreise sind der Wettbewerbsfaktor Nummer eins in
der Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen wirtschaftlich bestehen. Darum brauchen wir Energiepreise, die
auch für den Einzelnen - sei es Großindustrie oder sei es
der kleine Mann, der nur eine kleine Wohnung hat - bezahlbar bleiben. Darum sind wir bemüht.
({8})
Am Ende darf ich darauf hinweisen, dass der Mittelstand und das Handwerk unter der enormen Belastung
durch die Bürokratie am meisten leiden. Die jetzt vorgelegten Eckpunkte für einen weiteren Bürokratieabbau
sind ein ganz großer Wurf.
({9})
Jetzt wird das Ziel erreicht. Die Kosten, die der Wirtschaft durch Bürokratie entstehen, werden im Vergleich
zum Jahr 2006 um sage und schreibe 25 Prozent reduziert.
Bürokratie ist die Geißel der Wirtschaft.
({10})
Deshalb ist Bürokratieabbau ein Wachstumsprogramm
zum Nulltarif, es stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland und macht ihn zukunftsfähig.
({11})
Jahrelang wurde zum Beispiel die vorgesehene Reduzierung der Aufbewahrungsfristen von Rechnungen, Bescheiden und anderen Belegen auf fünf Jahre gefordert.
Jetzt wurde das Ganze auf den Weg gebracht. Verehrte
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das jüngst im Kabinett
beraten. Verehrter Herr Bundesminister Dr. Rösler, Sie
haben gesagt: Jetzt wird geliefert. Das zeigt sich jetzt.
({12})
Das möchte ich besonders unterstreichen, damit Sie sehen, dass Sie beim Wort genommen werden und den notwendigen Rückhalt finden.
({13})
Ihnen gebührt alle Anerkennung. Das gilt ebenso für den
Finanzminister Dr. Schäuble, der die Verantwortung dafür trägt, dass das Ganze umgesetzt werden kann. Ich
setze in gewisser Hinsicht auch darauf, dass Sie auf die
Bundesländer einwirken, hier nicht zu blockieren, sondern den Weg der Entbürokratisierung mitzugehen.
Denn das braucht die Wirtschaft dringend.
({14})
Herr Kollege Hinsken, Sie hatten schon vor geraumer
Ich weiß.
- die Beendigung der Rede in Aussicht gestellt.
Jawohl. Deshalb nur ein Satz:
({0})
Ich meine, dass gerade die Erfolge für uns ein Ansporn
sein sollten, auch 2012 den Bürokratiedschungel zu lichten,
({1})
das Notwendige an Maßnahmen zu ergreifen und der
Wirtschaft zu sagen und zu zeigen: Wir sind für die Wirtschaft da. Wir sind bereit, das Notwendige zu machen,
damit sie sich im weltweiten Konzert auch weiterhin zu
behaupten vermag.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Der Kollege Garrelt Duin ist für die SPD-Fraktion der
nächste Redner in dieser Debatte.
({0})
Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind ja gelernter Mediziner, und
auch aufgrund des Fachbereichs, in dem Sie unterwegs
sind, müssten Sie doch wissen, dass es einen großen Unterschied zwischen Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit
gibt und dass es einen großen Unterschied gibt, ob Sie
Vorsorge treffen und präventiv tätig werden oder ob Sie
immer nur dann handeln, wenn das Kind schon längst in
den Brunnen gefallen ist.
({0})
Ihre Politik - und damit meine ich nicht nur Ihren Jahreswirtschaftsbericht, sondern auch Ihre 20-minütige
Rede hier heute Morgen - macht allerdings deutlich,
dass Sie nichts von Vorsorge verstehen. Ihre Politik ist
kurzsichtig. Das haben Sie heute Morgen hier bewiesen.
({1})
Ich will das an dem großen Beispiel, über das wir uns
alle doch so intensiv den Kopf zerbrechen, deutlich machen. Die Stärke der deutschen Wirtschaft - und dies gilt
gerade für die letzten zwei Jahre - ist elementar abhängig von unseren Nachbarn, von den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union. Dadurch, dass sie Produkte aus
Deutschland gekauft und Dienstleistungen aus Deutschland in Anspruch genommen haben, waren sie Triebfeder zur Erlangung unserer starken wirtschaftlichen Position.
({2})
Durch die Politik, die Sie gemeinsam mit der Bundeskanzlerin und mit vielen anderen in Europa diesen Ländern aufoktroyieren, sägen Sie doch an dem Ast, auf
dem wir alle sitzen. Die Schwächen dieser Länder müssen doch beseitigt werden, aber das erreicht man nicht
allein durch Sparprogramme.
({3})
Vielmehr müssen wir Investitionen auslösen, damit diese
Länder wieder auf die Beine kommen, und das hilft dann
auch der deutschen Wirtschaft. Dieser Zusammenhang
müsste Ihnen doch einleuchten.
({4})
Ich bin fest davon überzeugt - und auch die SPDBundestagsfraktion ist dies -, dass wir sechs Punkte in
den Blick nehmen müssen, um die positive Entwicklung,
die wir in den letzten Jahren vollziehen konnten, zu verstetigen und um Sicherheit, Planbarkeit und eine deutlich positive Perspektive für dieses Land und die Teilnehmer auf diesem Markt zu kreieren.
Das Erste ist, dass wir ein Investitionsklima brauchen.
Herr Minister und auch Herr „Generalsekretär im Werden“, ein Investitionsklima ist notwendig, um die überfälligen Investitionen in die Infrastruktur - ob es die
Verkehrsnetze, die Energienetze oder die Telekommunikationsnetze sind - auszulösen. Dann reicht es aber
nicht, Herr Minister, sich hier hinzustellen und Ankündigungen zu machen. Das ist übrigens das Einzige, was Sie
von Herrn Brüderle übernommen haben. Ansonsten unterscheidet Sie vieles, aber auch Herr Brüderle hat sich
sehr oft hier hingestellt und nur Ankündigungen gemacht.
Was wir jetzt tatsächlich brauchen, ist zum Beispiel
ein Energiewirtschaftsgesetz mit einer vernünftigen Anreizregulierung, die die Investitionen in die Netze tatsächlich auslöst. Dies meine ich nicht nur bezogen auf
die Übertragungsnetze, sondern auch bezogen auf die
Verteilnetze. Wir brauchen intelligentere Netze, um die
Energiewende hinzubekommen. Dafür brauchen wir jedoch Investitionen, und diese dürfen nicht nur angekündigt werden, sondern müssen jetzt getätigt werden, weil
sie wirtschaftliches Wachstum auslösen können. Da ist
bei Ihnen Fehlanzeige.
({5})
Für Investitionen in Deutschland - und das wissen
wir nicht nur wegen dieses einen Infrastrukturprojektes
in Baden-Württemberg - ist Akzeptanz eine ganz zentrale Voraussetzung. Die Akzeptanz für Infrastrukturprojekte kommt aber nicht von alleine. Vielmehr muss die
Politik klare Linien aufzeigen und sagen, wofür wir
diese Infrastrukturprojekte brauchen. Warum müssen
Leitungen gebaut werden? Warum brauchen wir Investitionen auch in Kraftwerke und in viele andere Bereiche?
Wenn Sie schon ein Wegmoderierer sind, wie Ihr General gesagt hat, dann sind doch gerade Sie gefordert, diesen Prozess in der Bevölkerung, in der Gesellschaft zu
moderieren. Ich habe zu einer solchen Infrastrukturinitiative von Ihnen bisher nichts gehört, auch heute Morgen nicht.
({6})
Das Zweite, das wir brauchen, ist die Bekämpfung
des Fachkräftemangels. Sie haben dies heute zu Recht
als wichtiges Thema beschrieben. Aber Sie haben so getan, als hätten Sie das Problem im Griff. Im Handelsblatt
stand letzte Woche folgende Überschrift: „Ingenieurmangel erreicht Rekordhoch“. Das Problem ist also bei
weitem nicht im Griff.
Noch etwas gehört zum Thema Fachkräfte; dazu habe
ich heute von Ihnen in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht kein Wort gehört. Wir in Deutschland sind
stolz auf die duale Berufsausbildung und auf die Perspektive, die wir jungen Menschen damit bieten. Für
junge Männer, für junge Frauen in Deutschland ist die
duale Berufsausbildung ein Pfund, an dem wir unbedingt
festhalten müssen. Aber wir müssen über alle Parteigrenzen hinweg - wir hier im Deutschen Bundestag
sind uns da hoffentlich alle einig; wir müssen das mit unseren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern diskutieren - für die gleiche Anerkennung des Abiturs und der
beruflichen Ausbildung sorgen. Die Diskussionen über
den Qualifikationsrahmen müssen eine Gleichbehandlung und keinen Unterschied zum Ziel haben; so stellen
wir uns das vor. Das möchte ich deutlich sagen.
({7})
Der dritte Punkt: die gute Arbeit. Mein Kollege Heil
hat schon darauf hingewiesen, dass fast 7 Millionen
Menschen in Deutschland jeden Tag hart arbeiten, ohne
dass sie davon leben können, weil Sie nach wie vor - die
CDU ist zumindest gedanklich dabei, sich damit auseinanderzusetzen - die Einführung eines Mindestlohns in
Deutschland verhindern; dieser ist längst überfällig. Sie
verhindern auch - das führt zur Verunsicherung in der
Bevölkerung -, dass wir den Missbrauch bei der Leiharbeit endlich in den Griff bekommen und dass gleicher
Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird. Wir müssen es
endlich schaffen, gleiche Bezahlung nicht nur im Hinblick auf Festangestellte und Leiharbeitnehmer, sondern
vor allen Dingen auch im Hinblick auf Männer und
Frauen in Deutschland durchzusetzen.
({8})
Dieser Punkt wird von Ihnen überhaupt nicht in Angriff
genommen.
Der vierte Punkt betrifft die Energie- und Rohstoffversorgung. Wo ist der von allen Beteiligten eingeforderte Masterplan zur Bewältigung der Energiewende?
Sie verlieren sich mit dem Umweltminister in einem
kleinlichen Streit über Energieeffizienzrichtlinien und
andere Dinge. Es war Herr Töpfer, der, glaube ich, letzte
Woche gesagt hat: Für die Energiewende ist nicht allein
Minister Röttgen zuständig, sondern auch der Bundeswirtschaftsminister muss diese Energiewende im Sinne
des Standortes Deutschland gestalten.
Sie sprechen zu Recht über die Bezahlbarkeit. Sie sagen, dass Sie das EEG irgendwann abschaffen und eine
Anschlussregelung finden wollen. Sie fabulieren über
Quoten. Das Modell mit den Quoten ist in anderen Ländern - nicht nur in Europa, sondern weltweit - ausprobiert worden und mehrfach gescheitert. Das EEG und
der Ansatz dahinter sind wesentlich erfolgreicher, jedenfalls wenn Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien wirklich vorantreiben wollen. Noch viel schlimmer
ist - das haben Ihnen diese Woche die Verbraucherschützer noch einmal ins Stammbuch geschrieben -: Wenn
Sie eine solche Quotenregelung einführen würden, dann
würde sich der Preis immer an dem am teuersten produzierten Strom, beispielsweise offshore, orientieren. Sie
machen das Problem mit dieser Lösung also größer und
nicht kleiner, wie Sie es hier angekündigt haben.
({9})
Der fünfte Punkt, der notwendig ist, ist der Ausbau der
technologischen Leistungsfähigkeit. Wir fordern - wir
bieten Ihnen hier Zusammenarbeit an - eine Initiative zu
Technikfreundlichkeit und Technikoffenheit in Deutschland. Das können wir über alle Grenzen hinweg machen.
Sie können hier aber nicht das Abwandern eines Unternehmens aus Deutschland in die USA beklagen und dafür der Opposition die Verantwortung geben. Sie sind es,
die in Deutschland regieren, während ein solches Unternehmen Deutschland verlässt.
({10})
Das Gleiche gilt für CCS; das haben Sie hier als Beispiel genannt. Herr Rösler, wer hat denn schon in der
letzten Wahlperiode eine Einigung bei diesem Thema
verhindert?
({11})
In Schleswig-Holstein, in Bayern und in Niedersachsen
- Sie waren lange genug dabei - sind es schwarz-gelbe
Landesregierungen, die sagen: Wir sind zwar für technologische Leistungsfähigkeit, aber dies wird es hier niemals mit uns geben. Daraus wird kein Schuh. Das ist
Doppelzüngigkeit von Schwarz und Gelb in diesem
Punkt.
({12})
Was wir bei Ihnen ebenfalls vermissen, ist ein klares
Bekenntnis zum Forschungsstandort Deutschland. Sie
kündigen seit Jahren an - Sie haben es auch in die Koalitionsvereinbarung geschrieben -, dass wir in Deutschland eine steuerliche Forschungsförderung bekommen.
Aber Sie geben Geld für lächerliche Steuersenkungsprogramme und für ein gesellschaftspolitisch katastrophales
Betreuungsgeld aus, anstatt das für den Standort
Deutschland so wichtige Instrument der steuerlichen
Forschungsförderung endlich Realität werden zu lassen.
Lassen Sie Ihren Worten doch endlich einmal Taten folgen, meine Damen und Herren!
({13})
Lieber Herr Rösler, abschließend der sechste Punkt.
Es ist wichtig, dass ein Bundeswirtschaftsminister auf
der europäischen Ebene für die Interessen der hiesigen
Wirtschaft und der hiesigen Industrie kämpft. Wo waren
Sie, als es dort um die Handelsabkommen gegangen ist?
Wo sind Sie, wenn es um den Emissionshandel und die
Befreiung von zusätzlichen Kosten geht? All das sind
Punkte, die auf der Tagesordnung stehen. Sie sind aber
nicht wahrzunehmen, wenn es auf der europäischen
Ebene um diese Themen geht, weil Sie keine Zeit haben.
Sie müssen sich nämlich mit der FDP beschäftigen. Sie
müssen irgendwie versuchen, klar Schiff zu machen. Sie
müssen sich mit Herrn Schäffler oder anderen, zum Beispiel ganzen Kreisverbänden, die austreten, herumärgern. Dort werden Sie für Deutschland aber nicht gebraucht. Ob die FDP überlebt oder nicht, kann uns allen
egal sein. Aber ob Deutschland in Europa in wirtschaftspolitischer Hinsicht mit starker Stimme spricht oder
nicht, ist uns nicht egal. Dort wären Sie gefordert.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Martin Lindner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!
Wenn man diesen Jahreswirtschaftsbericht liest und sich
vor allen Dingen die Zahlen vergegenwärtigt, kann man
wirklich stolz sein, dieser Koalition anzugehören.
({0})
Dr. Martin Lindner ({1})
Wir sind stolz darauf, Ihnen heute diese Zahlen vorlegen
zu können.
({2})
Dieses Land ist wirtschaftspolitisch in einem exzellenten Zustand. Das wird deutlich, wenn man die Situation in Deutschland mit der Situation im Ausland und
mit dem europäischen Durchschnitt vergleicht. In keinem anderen Land der entwickelten Welt hat es solch
hohe Zuwachsraten gegeben, wie wir sie in Deutschland
erlebt haben. In keinem anderen Land gibt es so niedrige
Arbeitslosenzahlen. Wir sind stolz darauf, dass wir dabei
helfen, die Leute in Lohn und Brot zu bringen statt vor
die Arbeitsagenturen, wo Sie sie gerne sehen würden,
meine Damen und Herren.
({3})
Es war spannend, gerade dem Vertreter der Grünen
zuzuhören, der wie immer seine Rede gehalten und sich
dann aus dem Plenum verabschiedet hat. Der Kollege
Kuhn hat gesagt: Ich erlaube mir einmal den Luxus, zu
fragen, wo Deutschland wächst. Wir erlauben uns den
Luxus, immer wieder zu kritisieren, dass Wachstum an
genau dieser Stelle nicht erwünscht ist. - Sie sind eine
Luxuspartei. Sie muss man sich erst einmal leisten können. So stabil und so robust, dass sich dieses Land diese
Luxuspartei leisten kann, kann kein Wachstum sein.
({4})
Wir haben - auch darauf sind wir stolz - einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Europa zu einer
Kultur der Stabilität zurückkehrt, die unter Ihrer Verantwortung verlassen wurde. Sie haben dafür gesorgt, dass
die Stabilitätskriterien aufgeweicht wurden. Unter Ihrer
Verantwortung wurde Griechenland in die EU aufgenommen. Jetzt versuchen Sie, Euro-Bonds und andere
Formen der Vergemeinschaftung von Schulden als einzige Antwort und als Rezept darzustellen. Sie wollen
den Deutschen wieder an die Kasse, wieder ans Portemonnaie. Sie verraten die Interessen der ganz normalen
Bürger in diesem Lande. Auch dies werden wir deutlich
machen. Auch dies wird diese Koalition bekämpfen.
({5})
Wer soll die Konjunkturprogramme, die Sie vorschlagen, eigentlich finanzieren, mein lieber Herr Heil? Wer
bringt denn das Geld für die Investitionsprogramme in
Griechenland auf?
({6})
- Nein, wir verlangen, dass die Griechen ihre Hausaufgaben erst einmal selber machen. Es ist genug Geld da.
Das Land leistet es sich, seine Bürger mit 55 Jahren in
Rente zu schicken. Dies muss erst einmal abgestellt werden, bevor wir mit deutschem und europäischem Steuergeld dort in die Wirtschaft eingreifen.
({7})
Das können wir erwarten. Wir sind nämlich auch Sachwalter der Interessen der Bezieher ganz normaler Einkommen in Deutschland.
({8})
Jetzt kommen wir zum Thema Einkommen. Sie sprechen wieder von Ihrem Mindestlohn. Liebe Leute, mit
Ihrem Vorschlag eines Mindestlohns von 8,50 Euro, wie
Sie ihn gestern im Wirtschaftsausschuss vorgestellt haben - eine Kommissionslösung -, erreichen Sie doch die
wesentlichen Teile des verarbeitenden Gewerbes überhaupt nicht. Da wird doch deutlich mehr verdient.
({9})
Rechnen Sie sich das einmal aus! Wenn eine Familie
mit zwei Kindern 8,50 Euro pro Stunde verdient, dann
muss sie doch auch wieder zur Arbeitsagentur gehen.
Das sind doch keine Lösungen - vor allen Dingen nicht
für die Menschen, die in Ostdeutschland in kleinen Betrieben im Dienstleistungsgewerbe arbeiten und deshalb
wieder zur Arbeitsagentur gehen müssen.
({10})
Lassen Sie uns gerne über branchen- und regionalbezogene Ansätze diskutieren, aber einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, festgestellt durch eine Lohnkommission, lehnen wir ab. Das sage ich Ihnen an dieser
Stelle auch ganz klar.
({11})
Mein lieber Kollege Schlecht, Sie müssen mir einmal
sagen, wie man es schafft, angesichts dieser Daten eine
solche Rede zu halten. Was muss man eigentlich zum
Frühstück eingenommen haben, um zu einer solchen
Verzerrung der Wahrheit zu kommen?
({12})
Das müssen Sie mir einmal sagen. Vielleicht wirkt das ja
auch umgekehrt.
Spannend ist, dass Sie von diesem Pult hier dazu aufrufen, der öffentliche Dienst müsse tapfer voranschreiten. Sie haben von „richtig aus der Pulle“, „noch kräftiger“ und „noch stärker trinken“ gesprochen.
({13})
- „Sehr gut“; ja, das habe ich mir richtig gemerkt.
({14})
Herr Gewerkschaftssekretär, ich lese Ihnen einmal
eine Pressemitteilung von Verdi vor. Verdi hat am 9. Februar 2010 zum Streik gegen eine Landesregierung in
Deutschland aufgerufen - Zitat -: „1,2 % ab Oktober
2010 - zu wenig und zu spät“. - Man muss dazu natürlich sagen: 2010 standen wir mit 3,7 Prozent Wirtschafts18162
Dr. Martin Lindner ({15})
wachstum auf dem Gipfel des Wachstums. Welche Landesregierung war das, Herr Gewerkschaftssekretär? Rot-Rot in Berlin! Sie reden hier von einem kräftigen
Schluck aus der Pulle, aber da, wo Sie regieren, bieten
Sie 1,2 Prozent an.
({16})
Das ist lächerlich. Sparen Sie sich solche Büttenreden
jetzt vor dem Karneval und verschonen Sie uns mit einer
solchen von der Wirklichkeit entkoppelten Phrasendrescherei, wie Sie sie hier abgeliefert haben.
({17})
Damit sind wir natürlich auch beim Thema Fachkräfte. Wir haben die Gehaltsgrenze von 66 000 Euro auf
48 000 Euro abgesenkt. Ihre Antwort bei einem Mangel
an Fachkräften in Deutschland ist, dass Sie das, was Sie
einmal richtigerweise eingeführt haben, nämlich die
Rente mit 67, nun wieder bekämpfen.
Herr Duin, ich fand es auch ganz spannend, wie Sie
hier gerade von einer Gleichstellung von Abitur und
Fachkräfteabschluss gesprochen haben. Ich teile hier
ausdrücklich Ihre Meinung. Aber ist es nicht Ihre Partei
gewesen, die seit den 70er-Jahren gewerbliche Abschlüsse und das duale System miesgemacht und gesagt
hat, das Einzige, was zähle, sei das Abitur, sodass Sie
dort, wo Sie regiert haben, die Leistungsanforderungen
abgesenkt haben, nach dem Motto: Jeder soll ein Abitur
haben?
({18})
Sie haben doch das duale System miesgemacht und mit
Zwangsabgaben für die Wirtschaft gedroht.
({19})
Sie sind doch der Feind der dualen Ausbildung. Das
muss man auch sagen.
({20})
Herr Heil, an der Stelle auf Herrn Niebel anzuspielen,
ist lächerlich. Ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen: Im
Hause Niebel gibt es keinen Staatssekretär wie bei der
roten Heidi, der ein Schild aufgestellt hat, auf dem stand:
„In diesem Haus wird SPD gewählt“. Es gibt keine
nepotistischere Partei als die SPD, keine Partei, die sich
den Staat mehr zur Beute gemacht hat als Ihre Partei.
Das lassen Sie sich an dieser Stelle auch einmal sagen.
({21})
In meinem letzten Punkt möchte ich kurz zum Thema
Export etwas sagen.
Das muss jetzt aber schnell gehen, Herr Kollege.
Das ist auch sehr spannend. Sie reden - auch hier immer wieder davon, die Leistungsbilanzunterschiede
müssten ausgeglichen werden. Dann sagen Sie mir einmal, wie und wo.
({0})
Sagen Sie einmal, wo Sie den Export noch mehr besteuern wollen. Sagen Sie mir einmal ganz genau - und sagen Sie es vor allen Dingen den Menschen, die im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt sind -, wie Sie die
dortigen Arbeitsplätze gefährden wollen. In der wehrtechnischen Industrie, in der sonstigen Industrie: Überall
sind Sie mit dabei, wenn es darum geht, es dem deutschen Export schwer zu machen. Auch dies werden wir
verhindern.
Wir werden dafür sorgen, dass Deutschland weiter auf
Wachstumskurs ist,
({1})
dass wir expandieren und dass wir auch einen leistungsfähigen Export haben. Dafür steht diese Koalition; dafür
steht meine Fraktion.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort erhält die Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen! Kollegen! Herr Rösler,
Herr Lindner, Ihre Prognose von Deutschland als Insel
der Glückseligkeit in der Brandung der europäischen
Wirtschaft ist wirklich Schönfärberei der krassesten Art.
({0})
Kommen wir zur Wirklichkeit, Herr Lindner. Sie erklären, die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte sollten um 3 Prozent steigen. Gleichzeitig haben
Sie, Herr Rösler, gestern in der Pressekonferenz ausdrücklich gegen Lohnerhöhungen Stellung genommen
und sich für Lohnzurückhaltung ausgesprochen.
({1})
Wie sollen da die Einkommen steigen?
Sie sagten heute Morgen in Ihrer Rede, Wachstum sei
bei allen Menschen angekommen. Die OECD stellt fest:
In keiner anderen Industrienation trifft die Redensart
„Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer
reicher“ mehr zu als in Deutschland. 1,2 Millionen Menschen werden mit Stundenlöhnen unter 5 Euro abgespeist. Das ist ein Armutssektor. Da ist bei ganz vielen
Menschen in Deutschland nicht Wachstum, sondern
Armut angekommen. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
({2})
Das gilt nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Ihre Forderung heißt jetzt nicht mehr nur Kürzen
der öffentlichen Mittel, sondern auch Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in den anderen europäischen Staaten.
Neben Sparen bei den Armen in den öffentlichen Haushalten heißt das - ausdrücklich formulieren Sie es auch
so -: Senkung der Lohnstückkosten und der Löhne europaweit. Das setzt eine neue Spirale des Kampfes um
Niedriglöhne und eine Auseinandersetzung darüber,
Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, in Gang. Dieser Weg
führt nicht zum Aufschwung, sondern zum Gegenteil,
Herr Rösler.
Kommen wir zu Ihrer Erfolgsgeschichte am Arbeitsmarkt. Ja, es stimmt: Inzwischen haben über 41 Millionen Menschen Arbeit. Aber die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist von 2010 auf 2011 gesunken. Das
Statistische Bundesamt stellt fest: 8,4 Millionen Menschen in Deutschland sind unterbeschäftigt. Dazu zählen
2,9 Millionen Erwerbslose; 1,2 Millionen Menschen in
der stillen Reserve sowie 2,2 Millionen Menschen, die
gern ihre Teilzeit aufstocken würden.
Was Sie auch verschweigen, ist, dass dieser Aufschwung bei der Beschäftigung eben auch der Aufschwung der Leiharbeit, der befristeten Beschäftigung
und der Minijobs mit niedrigeren Löhnen, schlechteren
Arbeitsbedingungen und weniger Rechten am Arbeitsplatz ist. Dafür sollen dann die Menschen „Danke,
Deutschland!“ sagen? Das ist wirklich eine Verhöhnung.
({3})
Deshalb auch von mir: Handeln Sie! Beenden Sie
diese unwürdigen Arbeitsverhältnisse! Führen Sie einen
gesetzlichen Mindestlohn ein! Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit und gleiche Rechte und Bedingungen am Arbeitsplatz, das wäre eine Anerkennung der Leistung und der
Würde der Menschen. Das wäre ein Beitrag zur Steigerung der Binnennachfrage.
({4})
Sie versagen bei der Bekämpfung der Armut. Sie versagen erst recht, wenn es darum geht, die Wirtschaft für
die Anforderungen der Zukunft umzubauen. Wir warten
auf eine moderne, ökologische Industriepolitik und
Dienstleistungspolitik! Sie stellen sich hier hin und greifen die Opposition als Fortschrittsverweigerer an. Der
Fortschrittsverweigerer sitzt auf der Regierungsbank:
Das sind Sie, Herr Rösler!
({5})
Klimawandel, technologische Innovation und Knappheit von Rohstoffen führen zu tiefgreifenden Veränderungen. Für die Bewältigung der industriellen Erneuerung braucht es motivierte und kompetente
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Lohndumping und
Prekarisierung gefährden auch hier die Erneuerungsfähigkeit. Es braucht eine aktive Industriepolitik, die
Umwelttechnologien, Materialproduktivität, Energieeffizienz und Kreislaufwirtschaft fördert. Sie aber stellen
nur die Verteilung der Rohstoffe in den Mittelpunkt Ihrer
Politik und bewältigen damit diese Zukunftsaufgabe
nicht.
Die Antwort auf den Klimawandel erfordert nicht nur
neue technologische Lösungen, sondern auch neue
Dienstleistungen. Ob Mobilitätsdienstleistungen, Recyclingsammelstellen oder Energieberatung, ohne hochwertige Dienstleistungen ist ein sozial-ökologischer Wandel
nicht denkbar. Hier vermissen wir jegliche Ansätze von
Ihnen, um Beschäftigungschancen für hochwertige Industrie- und Dienstleistungsarbeitsplätze zu entwickeln.
({6})
Den Vogel schießen Sie aber in der Energiepolitik ab,
nicht nur mit der Ablehnung der Energieeffizienzrichtlinie, sondern auch jetzt mit der Diskussion über eine
Quotenregelung für erneuerbare Energien. Das führt nach
allen Erfahrungen zu höheren Energiepreisen - dies ist
unter anderem in Großbritannien vorexerziert worden statt zu einer Senkung. Sie bremsen den Beschäftigungsaufschwung in dem Bereich, in dem immerhin 360 000
Menschen arbeiten. Sie bremsen damit auch eine Entwicklung, die dezentral neue Beschäftigungschancen in
diesem Bereich schafft. Sie setzen auf Quoten für die
großen Vier und damit auf Kohle und weiterhin Atomenergie. Das führt nicht in die Zukunft.
({7})
Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die Strukturwandel aktiv gestaltet, statt nur die übliche Klientel zu
bedienen, und nicht auf alte Zöpfe setzt, sondern sich
den sozialen und ökologischen Anforderungen stellt.
Ihrem vorliegenden Bericht zufolge bedeutet das eine
Wirtschaftspolitik, für die die FDP keine Verantwortung
mehr trägt.
Danke.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Heinz Riesenhuber
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Er hat dennoch eine begrenzte Redezeit, was ich
sicherlich nicht eigens vortragen muss.
Vielen Dank für die Mahnung. Ich komme darauf
zurück.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In dieser zuversichtlichen Debatte sind uns aus
den Reihen der kompetenten Oppositionsredner zwei
wesentliche Vorwürfe gemacht worden. Herr Kuhn, der
uns zu unserer Freude wieder heimgesucht hat und unter
uns weilt, sagte: Wir haben uns ganz auf die Sparpolitik
konzentriert. Hubertus Heil sagte: Wir brauchen Investitionen in Bildung und Forschung.
({0})
Das ist eine tolle Position.
Unsere Politik zeigt: Wir haben in der Tat mit Energie
und Entschlossenheit die Haushalte konsolidiert.
({1})
Wolfgang Schäuble ist gerade nicht anwesend. Dass wir
auch in einer Zeit, in der die Steuereinnahmen geflossen
sind, mit Entschlossenheit vorgegangen sind, zeigt die
sensationell niedrige Neuverschuldung.
({2})
Vor dem Hintergrund haben wir aber auch gleichzeitig Wachstum in den Bereichen erzielt, in denen es nötig
ist. Herr Rösler schreibt in seinem Jahreswirtschaftsbericht, dass Deutschland Stabilitätsanker und Wachstumsmotor in Europa ist. Das ist kein Anspruch auf allgemeine Bewunderung, sondern ein Anspruch an uns
selber. Wenn wir die Stabilität nicht herbeiführen und
nicht entschlossen konsolidieren, dann werden wir mit
diesen Argumenten niemanden in Europa gewinnen.
Wenn Europa nicht gemeinsam in einer neuen Zusammenarbeit konsolidiert und Verlässlichkeit schafft, dann
werden wir auf den Weltmärkten nicht stark sein.
({3})
Wir haben aber mit großer Entschlossenheit Wachstum angelegt und folgen damit den Vorschlägen von
Hubertus Heil.
({4})
Sie wollen in Forschung und Bildung investieren, Herr
Heil. Ältere Leute erinnern sich noch, dass Herr
Schröder 1998 gesagt hat, er wolle die Ausgaben für
Forschung im Bundeshaushalt in fünf Jahren verdoppeln. In sieben Jahren hat er 20 Prozent geschafft. In der
Großen Koalition haben wir ein Plus von 6 Milliarden
Euro in einer Wahlperiode erreicht. Wir danken für die
herzliche Brüderlichkeit, die Sie im Sinne der Vernunft
gezeigt haben.
({5})
Unsere jetzige Koalition hat 12 Milliarden Euro aus
Bundesmitteln für Bildung und Forschung draufgelegt.
Das heißt, dort, wo Wachstum gefördert werden kann,
wo wir in die Zukunft aufbrechen und wo die Chancen
Deutschlands liegen, Wachstum aufgrund von Intelligenz zu erzielen, dort investieren wir massiv. Das ist die
Grundlage für den künftigen Wohlstand.
({6})
Es gibt hier eine differenzierte Landschaft. Eine Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht umfasst nicht
nur die Begeisterung über die vergangenen erfolgreichen
Taten, sondern auch die Frage, was man zukünftig angehen will. Im SPD-Antrag sieht man die Löwenpranke
des Garrelt Duin zur steuerlichen Forschungsförderung.
Herr Duin, in der Großen Koalition haben wir das leider
nicht hinbekommen. Nun liegt ein Antrag Ihrer Fraktion
dazu vor. Prima! Wir haben in der Kieler Erklärung, die
wir vor wenigen Tagen verabschiedet haben, festgehalten: Soweit sich bei der Konsolidierung - konsolidieren
müssen wir auf jeden Fall zuerst - irgendein Spielraum
eröffnet, wollen wir es machen. - Dass ein Bohren
dicker Bretter mit Geduld und Augenmaß notwendig ist,
wissen wir beide. Wenn wir uns alle aber aufmachen und
das harte Herz des Finanzministers gewinnen und wenn
die Forschungsministerin und der Wirtschaftsminister
mit ähnlicher Begeisterung mitmachen, dann werden wir
es hinbekommen.
({7})
Ein weiterer Punkt ist: Wir reden auch über das, was
noch zu tun ist. Wir sind in vielen Bereichen stark. Ich
nenne als Beispiele nur die Projektförderung, die Energieforschung, die Hightech-Strategie. Wir sind in vielen
Bereichen institutioneller Förderung stark und entschlossen: 5 Prozent Steigerung bei der Helmholtz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der FraunhoferGesellschaft, die Exzellenzinitiativen für die Hochschulen und der Hochschulpakt. Aber wir haben in einem
Bereich durchaus noch Potenzial, weiter zu wachsen:
Bei der Gründung von Unternehmen brauchen wir mehr
Dynamik. Wir können sie haben; denn wir haben tüchtige Leute in diesem Land. Wir werden morgen über den
Bericht der Expertenkommission der Bundesregierung
für Forschung und Innovation diskutieren. Dabei geht es
um die beiden Punkte, die wichtig sind: steuerliche Forschungsförderung und die Gründung von Unternehmen.
Was wir bei der Förderung der Gründung von Unternehmen und im Bereich des Wagniskapitals zu tun haben, ist
ausdiskutiert und durchdekliniert. Wir brauchen darüber
nicht mehr lange nachzudenken. Von der Transparenz
bei der Besteuerung von Wagniskapitalbonds über den
Erhalt der Verlustvorträge bis hin zur Umsatzsteuerfreiheit für Management-Fees und bessere Bedingungen für
Business Angels, das ganze Spektrum ist ausdiskutiert.
Der Koalitionsvertrag enthält den Vorschlag einer Garantiefazilität für Investoren. Es ist eine große Aufgabe,
aber auch eine große Chance, jetzt Rahmenbedingungen
zu schaffen, die eine Dynamik entfesseln, die mit der in
den USA oder in Großbritannien - diese Länder investieren proportional doppelt bzw. viermal so viel in Wagniskapital wie wir - vergleichbar ist und die den jungen
Leuten die Chance eröffnen, in Begleitung kompetenter
Business Angels bzw. kompetenter Wagniskapitalinvestoren ihr eigenes Geschäft und ihre Zukunft aufzubauen.
({8})
Unsere Landschaft ist geprägt durch eine starke,
große Industrie, einen lebendigen, forschenden Mittelstand - hunderttausend mittelständische Unternehmen
sorgen für Innovationen - und eine exzellente Wissenschaft mit energischen, tüchtigen jungen Leuten - Frauen
und Männer -, die ein Unternehmen gründen wollen. Für
sie müssen wir die Voraussetzungen schaffen, um sich
auf den Märkten zu bewegen. Wir dürfen nicht nur große
Bundesprogramme wie EXIST, High-Tech Gründerfonds II - prima, dass Sie ihn wieder aufgelegt haben,
Herr Rösler -, ERP-Startfonds usw. auflegen, sondern
müssen auch die Privaten einbeziehen, die für eigenes
Geld kämpfen; denn nur wenn jemand für sein eigenes
Geld mit den besten Ideen, die er hat, kämpft, bekommen wir den Schwung hinein, der in einer freien Gesellschaft und auf offenen Weltmärkten erfolgversprechend
ist.
({9})
Wir werden handwerklich noch nachlegen müssen.
Wir werden die AIFM-Richtlinie umsetzen. Wenn wir
das richtig machen, dann können wir großen Schwung
entwickeln. Wenn wir das falsch machen, dann kommen
wir in die gleiche Falle wie beim MoRaKG zum Wagniskapital - damit sind wir in der Großen Koalition auf die
Schnauze gefallen - und beim Unternehmensteuerreformgesetz. Aber diese christlich-liberale Koalition
und diese exzellente Regierung mit ihrer überlegenen
intellektuellen Kompetenz
({10})
und ihrer Begeisterung für die Notwendigkeiten der Zukunft werden nicht in diese Falle tappen.
({11})
Entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Sie Präsidentin sind.
({0})
Deswegen habe ich die Aufgabe, Ihnen zu sagen, dass
Ihre Redezeit zu Ende ist.
Ja, ich bin gerade richtig in Fahrt. - Ich darf den Satz
noch sagen?
Den einen.
Diese Regierung mit ihrer Kompetenz, mit ihrer Dynamik, mit ihrer visionären Kraft, mit ihrer Entschlossenheit,
({0})
das ganze Parlament mitzureißen auf dem Weg in eine
kraftvolle Zukunft, schafft das auch. Das haben wir beschlossen, und so machen wir es.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Riesenhuber, auch die Hände gen Himmel können an der
Stelle nicht mehr helfen. Von „kraftvoll“, „visionär“,
„Esprit“ und „Elan“ haben wir in Ihrer Rede gehört, aber
ich muss Ihnen ehrlich sagen: Die intellektuelle Kompetenz, die Sie hier der Koalition und dem Minister zugesprochen haben, haben wir zumindest in den letzten anderthalb Stunden nicht gehört.
({0})
Was so dramatisch ist - den Eindruck haben wir -:
Sie reden hier aus einem Tunnelblick heraus. Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Bericht über die Nation
Deutschland, über die Frage, wie es der Wirtschaft hier
geht - das ist richtig -, aber Sie können es nicht lösen
von der Frage Europa; ich komme im Einzelnen darauf
zu sprechen. Wenn Sie hier hoffen, dass sich in diesem
Jahr die Euro-Krise löst, und wenn Sie hier ein Schönwetterszenario entwerfen, dann frage ich Sie: Wo ist
denn Ihre Initiative, die Euro-Krise zu bekämpfen?
Sie sagen selber - Herr Rösler, bitte hören Sie zu;
danke schön -: Das Risiko liegt in der Weltwirtschaft.
Das waren Ihre Worte gestern und jetzt hier. Aber in der
Weltwirtschaft und in Europa droht eine massive Rezession, drohen soziale Verwerfungen. Die Menschen nehmen Europa als Bedrohung wahr. Ich sage Ihnen eines:
Wenn Europa nicht mehr akzeptiert wird, wenn der
Grundgedanke eines zusammenwachsenden Europas abgelehnt und als Bedrohung empfunden wird, dann ist das
das größte Risiko, das wir haben. Darauf müssen Sie eingehen.
({1})
Mit anderen Worten heißt das - das ist das, was der
Herr Kollege Kuhn mit „sparen und investieren“ gemeint hat, Herr Riesenhuber -: Nur Schuldenbremsen zu
verschreiben, reicht nicht aus. Das ist eine kurzsichtige
Politik.
({2})
Da dürfen wir von einem Wirtschaftsminister deutlich
mehr verlangen. Dem Sparen muss ein Investieren an die
Seite gestellt werden: Investitionen in ökologisch sinnvolle Maßnahmen.
Aber vor allem bei einem haben wir und auch SPD
und die Linke wirklich fassungslos dagesessen: Wenn
Sie das Problem der wirtschaftlichen Ungleichgewichte
und die Frage der Leistungsbilanzen, sowohl der Leistungsbilanzüberschüsse als auch der Leistungsbilanzdefizite, derartig negieren und nicht auf das Problem eingehen, dass wir unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit in
Europa haben, dass wir, wenn wir so weitermachen, Europa insgesamt an die Wand fahren und es uns dann gar
nichts nützt, wenn wir hier in Deutschland singulär stabil
sind, haben Sie als Wirtschaftsminister an der Stelle
komplett versagt. Sie müssen das Problem der Leistungsbilanzen in den Blick nehmen.
({3})
Finanztransaktionsteuer. Es geht nicht mehr um das
Ob; es geht nur noch um das Wie. Bei dem Wie können
Sie mitgestalten, anstatt immer nur zu sagen: Nein, nein,
nein. Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft,
Michael Hüther - wahrlich kein Grüner -, hat gestern in
einem Interview gesagt:
Es muss der Politik gelingen, neue Schocks an den
Finanzmärkten mit aller Macht zu verhindern.
Mit aller Macht, Herr Rösler! Das heißt, kraftvoll und
engagiert und nicht mit dieser einlullenden Schönfärberei! Das müssen Sie tun. Das wäre der richtige Weg.
({4})
Nun soll der Jahreswirtschaftsbericht ja Perspektive
geben, auch für die deutsche Wirtschaft hier. Was in diesem Jahreswirtschaftsbericht völlig fehlt, ist der ganze
Bereich grüne Technologien, ökologische Modernisierung. Umwelt taucht immer auf im Zusammenhang mit:
Die Energieversorgung muss aber bezahlbar sein. - Aber
dass die Zukunft, der Kern der Ökonomie in der Beantwortung der ökologischen Frage liegt, das ignorieren Sie
völlig.
Es kommt noch schlimmer. Das merkt man, wenn
man sich Ihre Rede auf dem Dreikönigstreffen anhört,
wo Sie vermutlich als Letzter begriffen haben, dass der
Begriff der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft
kommt.
({5})
Ich habe mir diese Rede angehört. Da ging es immer um:
Wachstum, Wachstum, Wachstum.
({6})
- Ich habe sie mir sogar angehört; ich habe es mir wirklich angetan - wie Sie ja auch.
({7})
Frau Andreae, Herr Fuchs möchte Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?
Sie stoppen die Zeit, und ich darf den Gedanken nachher noch zu Ende führen. Dann höre ich sie mir gern an.
Verehrte Frau Andreae, wenn ich richtig informiert
bin, kommen Sie aus Baden-Württemberg. Ist es richtig,
dass die Grünen dort zumindest in der Energiepolitik
eine völlig neue Ausrichtung eingeleitet haben; denn Ihr
Umweltminister Franz Untersteller - ich gehe davon aus,
dass Sie ihn kennen - sagte Folgendes - ich zitiere -:
Wenn wir uns dem Problem
- er meint den Kraftwerkstandort Baden-Württemberg nicht widmen, werden wir nach 2015 in eine Situation kommen, doch Atomkraftwerke am Netz lassen zu müssen.
Heißt das, dass die Grünen in ihrer Energiepolitik jetzt
Atomkraftwerke doch als eine Notwendigkeit betrachten?
({0})
Soll ich antworten oder das Plenum? - Wenn ich
dürfte, würde ich gern antworten. Mein Sohn ist jetzt in
der 6. Klasse und lernt dort gerade deutsche Grammatik.
Es ist immer ganz wichtig, sich den Satzbau anzuschauen und zu überlegen, ob dort Bedingungen formuliert werden. Was Herr Untersteller sagt, ist: Wenn es
uns nicht gelingt, jetzt die Energiewende forciert voranzutreiben und diesen Umbau wirklich hinzubekommen,
dann stehen wir 2050 vor der Situation, dass wir nicht
wissen - ({0})
- 2015, ja, aber Sie müssen es jetzt angehen. Das ist es,
was er sagt. Er wirft Ihnen und auch dem Wirtschaftsminister vor, dass die Energiewende nicht kraftvoll angenommen wird.
({1})
Jetzt möchte ich meinen Gedanken fortführen.
Es gibt noch eine Zwischenfrage, Frau Andreae.
Möchten Sie diese zulassen?
Aber immer.
({0})
- Gerne, wenn die Frage besser ist. - Was sie sein wird.
Frau Kollegin, kann es sein, dass der Kollege Fuchs
möglicherweise Teil des Problems ist, das angesprochen
wurde, nämlich dass der Umweltminister von BadenWürttemberg andeutet, wenn es jetzt nicht gelingt, die
Energiewende umzusetzen, neue Kraftwerkskapazitäten
zu bauen, erneuerbare Energien zu integrieren und Speicher zu bauen, sodass sich 2015 Leute wie Herr Fuchs
hinstellen und sagen: „Nun müssen wir aber die Restlaufzeit der Kernkraftwerke verlängern“? Kann es sein,
dass das gemeint war?
Das würde ich unterstützen, zumal wir die Position
von Herrn Fuchs kennen, der sich als einer der wenigen
dazu äußert und die Energiewende eigentlich nicht unterstützt.
({0})
Ich nehme an, dass es in Ihren Fraktionen viele gibt,
die das heimlich tun. Ich meine es wirklich ernst - nehmen wir einmal die Polemik und alles heraus -: Sie müssen es schaffen, diese Energiewende umzusetzen. Sie haben mit Minister Röttgen einen Minister, der ein hohes
Interesse daran hat, die Energiewende auch mit uns gemeinsam zu schaffen. Sie haben mit Minister Rösler jemanden, der diese Energiewende blockiert, wo auch immer er kann - in der EU und in Deutschland.
({1})
Schaffen Sie es endlich, in Ihren Köpfen umzudenken
und diese Energiewende umzusetzen!
({2})
Weitere Zwischenfragen möchte Frau Andreae nicht
zulassen.
Ich möchte nun, bevor Sie sich festbeißen, mit meinem Gedanken zum Dreikönigstreffen zum Ende kommen, weil mir das neben der Energiewende wirklich
wichtig ist.
Auf diesem Dreikönigstreffen hat der Minister Rösler
einen Wachstumsfetischismus formuliert, wie wir ihn in
den letzten 30 Jahren nicht mehr gehört haben.
({0})
Ich dachte, ehrlich gesagt: Wir waren weiter bei der
Frage, darüber tatsächlich ernsthaft nachzudenken, wie
es hier weitergehen soll.
Ich nenne Ihnen zwei Nachrichten, die an einem Wochenende gemeldet wurden: Der siebenmilliardste Erdenbürger ist geboren worden. Gleichzeitig kam die
Nachricht, dass wir im Jahr 2010 trotz aller Bemühungen die höchsten CO2-Emissionen überhaupt hatten.
Wenn Sie diese beiden Nachrichten zusammen denken,
erkennen Sie: Es führt kein Weg an einer ökologischen
Wende vorbei, die ernst gemeint ist.
({1})
- Das, mein lieber Herr Lindner, ist überhaupt keine Luxusdiskussion, sondern es ist zwingende Notwendigkeit,
diese Diskussion zu führen. Darüber denkt im Übrigen
auch der Finanzminister nach. Ich weiß nicht, ob man
kurz vor Weihnachten ganz besonders in sich geht und
nachdenkt; aber Ihr Finanzminister, der auf dem Dreikönigstreffen auf eine Art abgekanzelt wurde, die Ihresgleichen sucht, sagt nicht nur: „Wir müssen über das
Wirtschaftswachstum in den hoch entwickelten Industrienationen nachdenken“, nein, er geht sogar weiter.
Frau Kollegin.
Er sagt: Wir müssen es begrenzen. - Diese Diskussion sollten Sie einmal intern führen:
Frau Kollegin.
- Wie gehen Sie nachdenklich, klug und ernsthaft mit
der Frage um, dass wir so nicht weitermachen können
und eine ökologische Wende brauchen?
Ich komme leider zum Schluss.
Frau Kollegin, Sie hätten zum Schluss gekommen
sein müssen. Sonst toppen Sie noch Herrn Riesenhuber.
Herrn Riesenhuber? Immer, ganz klar. Ich darf jetzt
also noch eine Zwischenfrage zulassen?
Nein.
Schade. Hätte ich gerne.
Definitiv nicht.
Ich hätte wirklich gerne Ihre Frage zugelassen. - Ich
hoffe, Sie können über das eine oder andere nachdenken
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
- und sind dazu intellektuell in der Lage. Dann freue
ich mich über die weiteren Diskussionen.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine lieben Damen! Meine
Herren! Der Wirtschaftsbericht am Ende dieser Weltfinanz- und -wirtschaftskrise zeigt auf der einen Seite,
dass es der Großen Koalition gut gelungen ist, sie zu
meistern: mit einem bewussten Investieren gegen die
Krise, dem Schaffen bleibender Werte und dem Finanzieren von Arbeit statt Arbeitslosigkeit. Er zeigt auf der
anderen Seite aber auch, dass es der christlich-liberalen
Koalition gelungen ist, nicht nur zu reagieren, sondern
auch gut zu regieren. Das hat sie getan, indem sie gesagt
hat: Bildung ist der Schlüssel zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die wir heute haben. - Die
christlich-liberale Koalition hat gemeinsam das Projekt
einer Bildungsrepublik ausgerufen. Seit 1949 hat keine
Bundesregierung mehr in Bildung und Forschung investiert - 13 Milliarden Euro in diesem Haushaltsjahr - als
die jetzige christlich-liberale Bundesregierung.
({0})
All das hat bewirkt, dass anders als 2005, als RotGrün noch regierte, nicht jeden Tag 2 400 Arbeitsplätze
abgebaut werden, sondern dass wir im letzten Jahr immerhin 1 583 Arbeitsplätze jeden Tag netto, nach Abzug
der Arbeitsplatzverluste, geschaffen haben.
({1})
Auch in diesem Jahr wird der Stellenzuwachs täglich bei
über 600 Arbeitsplätzen liegen. Dadurch sorgen wir dafür, dass Menschen und Familien wieder eine Zukunft
haben, ein frei verfügbares Einkommen erhalten und so
ihr Leben vernünftig gestalten können. Von der christlich-liberalen Koalition wurde also geradezu eine Arbeitsmarktoffensive aufgelegt.
Dies hat auch eine finanzielle Dimension: 100 000 in
Beschäftigung gebrachte Arbeitslose bedeuten 1,8 Milliarden Euro weniger Leistungsausgaben und mehr
Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge für die öffentlichen Haushalte. Es ist gut, dass dank unserer Politik
auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen in den letzten
zwei Jahren um 40 Prozent abgesenkt werden konnte.
({2})
Wir erleben am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft einen Paradigmenwechsel: Arbeit ist wieder etwas wert.
Arbeit wird wieder nachgefragt. Arbeit ist nicht nur Kostenfaktor, sondern auch Innovationsfaktor und Aktivposten im Unternehmen. Das ist die neue Denke, die die
christlich-liberale Koalition hervorgerufen hat.
({3})
Das zeigt sich auch an der Zahl der Patentanmeldungen. Wir sind das Land in Europa, das die meisten Patentanmeldungen hat. Jedes Jahr werden über 60 000 Patente
angemeldet. Über 80 Prozent dieser Patente werden von
den Beschäftigten in den Unternehmen entwickelt und in
den Unternehmen zur Umsetzung gebracht. Dieses
Potenzial in den Unternehmen müssen wir zusammen mit
den Unternehmern und Beschäftigten weiterentwickeln.
Dazu brauchen wir Bildung, Forschung und Innovation.
({4})
Der Jahreswirtschaftsbericht mahnt aber auch, dass
wir alle Potenziale ausschöpfen müssen. Es ist gut, dass
die Bundesregierung die Kraft hat, endlich ein Anerkennungsgesetz für die 300 000 Menschen in unserem Land,
die ausländische Berufsabschlüsse haben, auf den Weg
zu bringen. Es wird nun überprüft, wie diese Berufsabschlüsse und die dabei erworbenen Kompetenzen anerkannt werden können und mit welchen Weiterbildungsmaßnahmen ein vollwertiger Berufsabschluss, wenn er
nicht ohnehin schon vorhanden ist, erreicht werden
kann. Hier gilt es, das Potenzial der Fachkräfte vor der
Bürotür zu entwickeln und auch diesen Menschen im
Land eine bessere Chance als in der Vergangenheit zu
geben. Wir wissen: Jeder Euro, der in Bildung investiert
wird, spart perspektivisch 3 bis 4 Euro an Sozialkosten
ein. Wer sparen will, der muss in Bildung investieren.
Das ist die Botschaft auch dieser Bundesregierung. Von
daher erklärt sich der hohe Haushalt für Bildung und
Forschung.
({5})
Das Flaggschiff dieser Bildungslandschaft - das ist
vollkommen richtig - ist die duale Berufsausbildung.
Gestern fand im Ausschuss für Bildung und Forschung
dazu eine Anhörung statt. Es ist ganz klar Position über
alle Fraktionsgrenzen hinweg, dass Berufsausbildung
und Abitur gleichwertig sind. Es kann nicht sein, dass
von europäischer Seite beispielsweise gefordert wird,
dass das Abitur Voraussetzung für eine Pflegeausbildung
ist und dass somit eine Abwertung der dualen Ausbildung stattfindet.
({6})
Wir werden dafür sorgen, dass der Bachelor dem
Meister und die duale Ausbildung dem Abitur gleichgestellt werden. Wir wissen, dass Lernen in der Praxis für
die Praxis eine starke Integrationskraft hat. Das zeigen
die guten Zahlen sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch
auf dem Ausbildungsmarkt. Wir wissen, dass die Wirtschaft über 30 Milliarden Euro in die duale Ausbildung
investiert, für Ausbildungsvergütungen, für Ausbildungswerkstätten und für Ausbilder, die ja finanziert
werden müssen.
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben gemeinsam zwei große Ziele, die wir miteinander auch erreichen werden. Das eine Ziel ist: Arbeit für alle; Vollbeschäftigung ist wieder möglich. Zum anderen wollen wir
2014 auf Bundesebene einen Haushalt verabschieden,
der ohne Nettoneuverschuldung auskommt. Das wäre
erstmals seit 1969 wieder der Fall. Nach meiner Überzeugung werden wir für dieses Ziel eine Finanztransaktionsteuer brauchen. Herr Solms, ich teile Ihre Auffassung, dass wir diese Steuer weder in ihrer positiven noch
in ihrer negativen Auswirkung überhöhen dürfen. Wir
müssen sie objektiv und sachlich prüfen. Erst dann können wir richtig entscheiden. Diese Steuer sollte Bestandteil einer solchen gemeinsamen Politik sein.
Alles wird gut!
({7})
Rita Pawelski hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Unserem Land geht es gut.
({0})
Die deutsche Wirtschaft wächst. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt. Und - das ist besonders erfreulich -: Auch
die Einkommen legen wieder zu. Deutschland - damit
trifft der Jahreswirtschaftsbericht den Nagel auf den
Kopf - ist der Stabilitätsanker und Wachstumsmotor
Europas. Das ist wahrlich kein Naturgesetz, sondern das
Ergebnis harter und intensiver Arbeit, der Arbeit der tatkräftigen Unternehmer und ihrer fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch - das muss man deutlich
sagen - der Arbeit der christlich-liberalen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel.
({1})
Die aktuelle gute und robuste Lage ist für uns aber
kein Ruhekissen, sondern ein Ansporn, um das Wachstum zu verstetigen. Eine wesentliche Herausforderung,
vielleicht sogar die wesentlichste Herausforderung der
Zukunft ist der demografische Wandel. Schon heute
- das ist klar - heißt es: Während die Wirtschaft wächst,
schrumpft die deutsche Bevölkerung. Zwar hat es im
letzten Jahr einen erfreulichen Ausreißer nach oben gegeben. Dies hat aber nichts mit der Kinderzahl, sondern
mit der Zuwanderung zu tun. Grundsätzlich muss man
sagen: Wir haben zu wenig Kinder. Diese leider nicht so
erfreuliche Tatsache wird die Zukunft unseres Landes
bestimmen. Darum muss es uns gelingen, auch mit weniger Kindern ein möglichst großes Wachstum in Deutschland zu schaffen. Das ist nicht einfach, wie jeder weiß.
Ich bin deshalb der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass sie das Thema Demografie ernst nimmt und im
Frühjahr eine Demografiestrategie vorlegen wird.
Der demografische Wandel hat nicht nur Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, sondern
auch auf das Angebot der Arbeitskräfte. Das Statistische
Bundesamt hat errechnet, dass das Arbeitskräftepotenzial bis 2030 um 7,6 Millionen abnehmen könnte:
7,6 Millionen weniger Arbeitskräfte, 7,6 Millionen weniger Konsumenten, 7,6 Millionen weniger Einzahler in
unsere Sozialsysteme. Diese Zahl ist doch wirklich alarmierend; denn fehlende Fachkräfte können schnell - das
wissen wir - zur Wachstumsbremse werden.
Darum hat die Bundesregierung im letzten Sommer
das Konzept „Fachkräftesicherung“ auf den Weg gebracht. Ein wesentliches Ziel dieses Konzepts ist es, das
in Deutschland vorhandene Arbeitskräftepotenzial noch
besser zu nutzen. Wir wollen die Erwerbsbeteiligung
von Frauen und älteren Menschen erhöhen. Bei der Beschäftigung älterer Menschen sind wir auf einem wirklich guten Weg. Seit 2000 hat sich die Erwerbsquote der
60- bis 64-Jährigen auf 41 Prozent verdoppelt. Im europäischen Vergleich können wir uns mit dieser Quote
schon sehen lassen. Trotzdem reicht das noch nicht. Wir
alle müssen umdenken. Vor allem aber sind die Wirtschaft und die Gewerkschaften gefordert, altersgerechte
Arbeitsbedingungen zu schaffen. Wir können es uns einfach nicht erlauben, auf die Älteren zu verzichten. Sie
sind leistungsfähig, motiviert und verfügen über vielfältige Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen.
({2})
Kommen wir zum nächsten Thema, zur Fachkräftereserve Frauen. Die Erwerbsquote bei den 20- bis 64-jährigen Frauen liegt bei rund 70 Prozent und damit 10 Prozent unter der der Männer. Dem deutschen Arbeitsmarkt
fehlen vor allem die Frauen mit Kindern. 2009 lag die
Quote der erwerbstätigen Mütter, deren jüngstes Kind
unter drei Jahre alt war, bei nur 30 Prozent. Bei den Vätern lag sie bei 81 Prozent. Von diesen 30 Prozent der
Mütter waren wiederum nur 31 Prozent in Vollzeitbeschäftigung; bei den Vätern waren es 93 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 1,2 Millionen
Mütter mit Kindern, die nicht berufstätig sind, dem Arbeitsmarkt zusätzlich zur Verfügung stehen könnten. Sie
brauchen jedoch familienfreundliche Arbeitsplätze und
gute Betreuungsangebote, was heißt: Wir brauchen keine
jobgerechten Familien, sondern familiengerechte Jobs.
({3})
Bei den Betreuungsangeboten sind wir auf gutem
Weg. Bis 2013 wird es einen Rechtsanspruch für die Betreuung der unter Dreijährigen geben. Für die Drei- bis
Sechsjährigen gibt es bereits seit vielen Jahren einen
Rechtsanspruch, aber in der Regel nur für vier Stunden
und in manchen Ländern für sechs Stunden. Bei Berücksichtigung der Zeiten für An- und Abfahrten reicht das
für die Aufnahme einer Beschäftigung nicht aus.
Die christlich-liberale Koalition kennt nicht nur die
Probleme, wir arbeiten auch sehr intensiv daran, sie zu
lösen. Wir verbessern die Rahmenbedingungen so, dass
mehr Frauen, vor allem mehr Mütter, dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung stehen.
Eine Ungerechtigkeit müssen wir allerdings noch beseitigen, und zwar den Lohnunterschied zwischen den
Geschlechtern. Frauen verdienen durchschnittlich
23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Das
geht nicht. Ich weiß, dass jetzt die Kritiker sagen, diese
Zahl sei undifferenziert und man müsse schließlich die
Qualifikation, die Berufserfahrung, die Größe des Unternehmens sowie den beruflichen Status berücksichtigen.
Ja, das will ich nicht abstreiten. Aber selbst wenn man
all diese Komponenten herausrechnet, verdienen Frauen
immer noch 13 Prozent weniger als ihre männlichen
Kollegen; das ist das Ergebnis einer Studie des Institutes
der deutschen Wirtschaft. 13 Prozent weniger, obwohl
Frauen in der Regel besser qualifiziert und ausgebildet
sind als ihre männlichen Kollegen.
({4})
Das geht nicht, und das werden wir auch nicht hinnehmen.
({5})
Der demografische Wandel wird die wirtschaftliche
Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich
beeinflussen. Es liegt an uns allen, an unserer Gesellschaft, die Rahmenbedingungen in der Politik, in der
Wirtschaft, bei den Gewerkschaften - im Grunde überall so zu gestalten, dass die Auswirkungen möglichst gering
sind. Ich verspreche Ihnen: Diese Regierung ist dabei,
dieses Problem zu lösen. Wir bleiben dran.
Vielen Dank.
({6})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8359, 17/8346 und 17/7710 an die
Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. - Sie sind damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Soziale Bürgerrechte garantieren - Rechtsposition der Nutzerinnen und Nutzer sozialer
Leistungen stärken
- Drucksache 17/7032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Hierzu ist verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade in den letzten
Jahren gab es vielfältige Beobachtungen und Erfahrungen, dass im Bereich der sozialen Rechte die Bürgerinnen und Bürger die gesetzlich vorgesehenen Leistungen
nicht oder erst vor Gericht realisieren konnten. Einige
Beispiele. Eine Krankenkasse enthält einem unfallbedingt Einbeinigen die notwendige Ersatzprothese vor,
die der Versicherte für seine Berufsausübung als Fernmeldetechniker benötigt. Die Krankenkasse verweist auf
eine noch vorhandene Badeprothese und stützt sich bei
der Begründung auf ein Gutachten des Medizinischen
Dienstes, das dieser nach Aktenlage, ohne mit dem Betroffenen gesprochen zu haben, gefällt hat. Der Rechtsstreit endet erst nach 15 Monaten vor dem Landessozialgericht zugunsten des Betroffenen.
Ein zweites Beispiel. Beinahe regelhaft verweisen einige überörtliche Sozialhilfeträger, darunter die bayerischen Bezirke, leistungsberechtigte Menschen mit Behinderungen an private und gemeinnützige Stiftungen,
wenn es um Hilfen geht. Den Betroffenen wird erklärt,
sie könnten sich, sofern ihre Anträge und Bewerbungen
bei den privaten Stiftungen keinen Erfolg hätten, dann ja
noch einmal an die Träger der Sozialhilfe wenden.
Oder ein drittes Beispiel. In Berliner Jobcentern
- nicht nur dort, aber dort besonders häufig - reagieren
die Mitarbeiter oftmals einfach nicht. Vor wenigen Tagen gab die Präsidentin des Berliner Sozialgerichts bekannt, dass jeden Tag Dutzende von Klagen wegen
Untätigkeit der Behörden das Gericht erreichen. Das Gericht selbst schiebt sagenhafte 40 000 unerledigte Fälle
seit einem Jahr vor sich her.
Das alles sind leider keine bedauerlichen Einzelfälle.
Wenn Sie mit Beratungsstellen von Kirchen, Sozialverbänden, unabhängigen Vereinen sprechen, stellen Sie
fest, dass die Sozialleistungsträger sich auf einer gefährlichen Drift zur Rechtlosigkeit befinden. Die Zunahme der
zumeist erfolgreichen Klagen vor den Sozialgerichten, die
längst nicht nur das Zweite Buch Sozialgesetzbuch oder
Hartz IV betreffen, lässt mit Recht die Vermutung zu, dass
die kalkulierte systematische Verweigerung von LeistunMarkus Kurth
gen zumindest bei einzelnen Sozialbehörden zur Geschäftspolitik gehört. Natürlich kann man nicht nur
Schwarz-Weiß-Malerei betreiben, und es gibt auch gute
Beispiele, wo die Rechtsverwirklichung gelingt. Doch
die drastischen negativen Beobachtungen sind in ihrer
Häufung alarmierend. Ein Richter vom Bundessozialgericht sprach im Mai 2011 in der schriftlichen Urteilsbegründung vom „Krieg einer gegen den anderen innerhalb
des Staatswesens“ mit Blick auf den Zustand unserer
Systeme der sozialen Sicherung. Das ist zwar drastisch,
trifft aber den Nagel auf den Kopf.
({0})
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, wollen mit unserem
heute eingebrachten Antrag „Soziale Bürgerrechte garantieren“ die Verfahrensrechte, die Mitwirkungsrechte,
die Durchsetzungsrechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen stärken. Wir wollen dies um der Betroffenen willen tun, aber auch um der Effektivität, Effizienz und um der Legitimationsbasis der Systeme der
sozialen Sicherung willen.
({1})
Denn welchen Sinn macht es gesamtstaatlich, wenn
Jobcenter überforderte psychisch kranke Menschen
sanktionieren und sie sehenden Auges in die Wohnungslosigkeit schicken? Welcher wirtschaftlichen Logik folgt
denn die Ablehnung eines berufsbedingt notwendigen
Hilfsmittels durch die Krankenkasse, wenn durch die
Verzögerung Arbeitslosigkeit entsteht? Und was denken
sich eigentlich Jugendämter, die Angebote der Jugendsozialarbeit abbauen, auf angeblich vorrangige Leistungen der Jobcenter verweisen, wenn sie genau wissen,
dass die Zielsetzungen der Jugendhilfe - Entwicklungsförderung - mit den Zielsetzungen der Jobcenter - Leistungsreduzierung - überhaupt nicht übereinstimmen?
Für die betroffenen jungen Menschen hat die Leistungsverweigerung der Jugendhilfe unter Umständen wegen
der drastischen Konsequenzen bei Sanktionen fatale, ja
existenzbedrohende Konsequenzen, und die Zunahme
der Obdachlosigkeit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist ebenfalls ein alarmierendes frühes Zeichen.
({2})
In jedem dieser skizzierten Fälle übersteigen die langfristigen gesamtgesellschaftlichen Folgekosten den vermeintlichen Einsparnutzen bei einem einzelnen Sozialleistungsträger bei weitem. Auch die weiteren Folgen in
den Behörden - Paternalismus, Abwehrhaltung gegenüber Ansprüchen - sind dramatisch. Die Folgen für die
Bürgerinnen und Bürger sind nicht zu unterschätzen.
Diese werden in die Rolle von Bittstellerinnen und Bittstellern gedrängt. Sie machen die Erfahrung der Entmündigung, des Ausgeliefertseins. Besonders übel ist es
in den Bereichen, wo es eine besondere Schwächung der
Rechtsstellung gibt, insbesondere beim Sozialgesetzbuch II oder bei Hartz IV, wo zum Beispiel ein Widerspruch, anders als in anderen Sozialsystemen, keine aufschiebende Wirkung hat und sich der Betroffene
überhaupt nicht wehren kann, sondern gleich zum Gericht laufen muss.
Das Ergebnis ist völlig kontraproduktiv. Die Betroffenen werden nicht - was wir als Grüne aber wollen - gestärkt; ihre Leistungsfähigkeit wird nicht verbessert.
Vielmehr werden Folgekosten verursacht und Bürger
entmündigt. Problemlösungen werden verschleppt. Die
Selbstbestimmung wird geschwächt, ebenso wie die
Selbsthilfefähigkeiten der Betroffenen.
Insgesamt kann man sagen: Der Weg, auf dem wir
uns befinden, führt, wenn wir ihn so weitergehen, letztlich zu einem Zustand, in dem unser System der sozialen
Sicherung freiheitsfeindlich wird. Freiheit braucht
Voraussetzungen, Infrastrukturen und Befähigungen, damit man sie wirklich wahrnehmen kann, wenn man auf
Unterstützung angewiesen ist. Das sage ich in Richtung
der selbsternannten Partei der Freiheit.
({3})
Der Zustand, den ich hier skizziere, ist auch fortschrittsfeindlich. Das sage ich in Richtung der Union all denjenigen, die sich gerne als Propheten des Fortschritts verstehen. Neue Leistungsformen wie das trägerübergreifende
Persönliche Budget, bei dem unterschiedliche Leistungsträger zusammenarbeiten, werden dadurch letzten Endes
verhindert. Schließlich ist dieser Zustand auch innovationsfeindlich. Das Ganze ist nicht nachhaltig, weil Prävention bzw. vorbeugende Sozialpolitik dadurch nicht
ermöglicht wird.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen schlagen für den gesamten Bereich der sozialen Leistungen eine Stärkung
von Verfahrensrechten und materiellen Rechten vor. Wir
wollen zum Beispiel unabhängige Beratungsstellen
schaffen, vergleichbar mit der Unabhängigen Patientenberatung.
Wir setzen uns für Wunsch- und Wahlrechte ein; denn
eines ist klar: Durch die Mitwirkung der Betroffenen lassen sich bei Weiterbildungsmaßnahmen, bei Arbeitsmarktmaßnahmen, aber auch bei Kuren und Therapien
wesentlich bessere Ergebnisse erzielen, wenn man auf
die Wünsche und Fähigkeiten der Betroffenen eingeht.
Das ist eine Binsenweisheit.
({4})
Wir wollen, dass weiterhin Menschen mit geringem
Einkommen die Möglichkeit haben, sich juristischen
Beistand zu leisten und Prozesskostenhilfe zu erhalten,
wenn dies notwendig ist. Ein niedrigschwelliger und gebührenfreier Zugang zu den Sozialgerichten ist hierbei
unverzichtbar.
({5})
Es kann wirklich nicht sein, dass, wie in der Vergangenheit, Vorstöße aus Ländern wie Bayern kommen, wo
man auf die Misere mit der Einführung von Gebühren
für Sozialgerichte reagiert hat. Damit werden für diejenigen die Zugangshürden zum Rechtsstaat erhöht, die so18172
wieso schon große Vorbehalte und Hemmnisse haben,
vor Gericht zu ziehen.
({6})
Wir wollen die Rechte für anerkannte Verbände
durch ein Verbandsklagerecht stärken. Diese Verbände
sollen - ähnlich wie heute bereits im Umwelt- oder Verbraucherschutz - selbstständig eine Klage erheben können.
Besondere Aufmerksamkeit haben wir noch einmal
dem SGB II gewidmet. Dort gibt es bekanntermaßen die
größten Probleme, alleine von der schieren Zahl der Betroffenen her. Die jüngsten Änderungen nicht nur seitens
der schwarz-gelben Koalition, sondern - das kann ich
Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Sozialdemokraten - auch von der Großen Koalition haben zu einer Verschlechterung der Rechtsstellung
der Hartz-IV-Beziehenden geführt. Wir wollen, dass
auch in diesem Bereich Wünsche ernst genommen werden. Wir wollen die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen wieder einführen.
Grüne Sozialpolitik hat das Ziel, allen Menschen eine
gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen.
({7})
Wir wollen die Menschen mit ihren Potenzialen und mit
ihren Fähigkeiten ernst nehmen. Eine solcherart verstandene Sozialpolitik hat neben dem Selbstzweck einer
humanen und inklusiven Gesellschaft auch den Vorteil,
politisch stabilisierend und sogar volkswirtschaftlich
stimulierend zu wirken. Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, Abwehrrechte gegen übermächtige Kollektive, Gestaltungsrechte, Stärkung der eigenen Selbsthilfepotenziale - das ist unsere soziale Idee. Sie
verbindet materielle Garantien und Infrastrukturen zur
Befähigung von Menschen mit Wunsch- und Wahlrechten und schafft so erst die Voraussetzungen, dass Menschen, die Unterstützung brauchen, diese Freiheit wahrnehmen können. Freiheit braucht Voraussetzungen, und
Freiheit braucht auch soziale Bürgerrechte.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In dieser Sitzungswoche finden zwei größere
sozialpolitische Debatten statt, morgen eine zum Thema
Mindestlohn. Da gibt es, jedenfalls aus Sicht der CDU,
den einen oder anderen Anlass, auch Positives zu der
Vorlage der Grünen zu sagen. Heute müssen wir allerdings eine kritische Betrachtung dessen anstellen, was
Sie dem Hohen Hause vorgelegt haben.
({0})
Es dokumentiert eher eine gewisse Themennot der Grünen,
({1})
dass Sie jetzt versuchen, in diesem Bereich das Haar in
der Suppe zu finden.
Der Antrag fängt ganz gut an, und zwar mit dem Satz:
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer
Rechtsstaat.
Das stimmt; das steht schon seit vielen Jahrzehnten im
Grundgesetz. Man muss das hier im Deutschen Bundestag nicht noch einmal beschließen. Man muss es nur in
die Wirklichkeit umsetzen.
Wir sind auch bei Ihnen, wenn Sie sagen: Der soziale
Rechtsstaat muss gesichert werden; Partizipation bzw.
Teilhabe in selbstbestimmter Weise muss gesichert werden. Wir sind uns sicherlich auch darüber einig, dass
kein Regularium der Welt, auch nicht die fast 3 000 Paragrafen des Sozialgesetzbuches, in der Lage sein wird,
hier eine wasserdichte Regelung zu schaffen, die in jedem Einzelfall hundertprozentige Gerechtigkeit sichern
kann; das ist vollkommen klar.
Jedoch muss derjenige, der von einer - ich zitiere aus
Ihrem Antrag - „nicht durchgängig auf Partizipation
ausgerichteten Sozialgesetzgebung“, einer „restriktiven
Rechtsumsetzung“ und einer „mangelnden Kooperation
der Sozialleistungsträger“ spricht, Beweise dafür anführen. Beweise, lieber Herr Kollege Kurth, sind übrigens
nicht Überzeichnungen wie jene in Ihrem Antrag. So
schreiben Sie, es komme „immer wieder vor, dass Arbeitsuchende bei Fragen an das Jobcenter eine kostenpflichtige Telefonhotline anrufen müssen,
({2})
dass älteren Menschen bei der Suche nach und Antragstellung von assistierenden Diensten nicht adäquat geholfen wird und dass Patienten durch eine zögerliche Bearbeitung des Antrages auf eine Anschlussbehandlung
die gesundheitliche Verschlechterung droht“. Niemand
in diesem Hause wird bestreiten, dass so etwas vorkommt.
({3})
Wogegen wir uns wehren, ist, dass Sie aus diesen Einzelfällen eine Verallgemeinerung herleiten. Das ist nicht
seriös. Wir weisen es zurück, dass Sie hier allen Sozialbehörden, die übrigens, wie Sie in Art. 20 des Grundgesetzes nachlesen können, an Recht und Gesetz gebunden
sind, also der Bundesagentur, den Jobcentern und den
Sozialversicherungsträgern - in Rentenversicherung,
Krankenversicherung und Pflegeversicherung -, pauDr. Johann Wadephul
schal vorwerfen, es gebe eine - ich zitiere, was Sie gerade gesagt haben - „systematische Verweigerung“.
({4})
Das ist eine Verunglimpfung aller Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter, all derjenigen, die ehrenamtlich in den Gremien arbeiten. Meine sehr geehrten Damen und Herren,
das stimmt nicht; Sie zeichnen hier ein Zerrbild. Das ist
falsch.
({5})
Wenn Sie über soziale Rechte reden, sollten Sie wissen, dass das Sozialgesetzbuch schon sehr viel vorsieht:
§ 13 SGB I - Sie sollten vielleicht einmal einen Blick
hineinwerfen - verpflichtet die Leistungsträger im Rahmen ihrer Zuständigkeit zur Aufklärung, zur Belehrung
über Pflichten und Rechte nach dem Gesetzbuch. § 14
sieht sogar einen Anspruch des einzelnen Leistungsempfängers oder Versicherten auf Beratung vor. Das wird
auch umgesetzt.
({6})
Meldet sich beispielsweise eine Witwe wegen der Hinterbliebenenrente und beantragt sie für sich, vergisst
aber - um ein einfaches Beispiel zu nennen -, sie auch
für die Kinder zu beantragen, so muss der Rentenversicherungsträger darüber aufklären, dass auch Waisen
entsprechende Ansprüche haben. Wird dies verabsäumt,
Herr Kurth, und stellt sich dies erst mehrere Jahre später
heraus, dann ist da nichts verfristet, präkludiert oder ausgeschlossen. Vielmehr hat das Bundessozialgericht
einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch normiert.
Bei einem derartigen Pflichtenverstoß muss der Betrag
im Nachhinein erstattet werden.
Weil Sie auf Europa Bezug nehmen, frage ich Sie: Wo
in der Welt, wo in Europa gibt es eine derart soziale
Rechtsprechung, eine derartige Gesetzgebung, wie wir
sie haben? Wir sollten stolz auf das sein, was wir haben,
und es umsetzen, anstatt zu beklagen, dass es in Einzelfällen Probleme gibt.
({7})
Herr Kollege, es ergibt sich praktischerweise, dass Ihnen Herr Kurth gerne eine Zwischenfrage stellen würde.
Ja, bitte schön.
Bitte schön.
Herr Wadephul, zunächst einmal möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meiner Rede
ausdrücklich davon gesprochen habe, dass man nicht
pauschale Schwarz-Weiß-Malerei betreiben soll und die
Drift zur Rechtslosigkeit zwar nur bei einzelnen Sozialbehörden und einzelnen Trägern der Sozialversicherung
zu beobachten ist, aber eben immer öfter.
Sie haben hier die Beratungspflicht angesprochen. Ich
frage Sie: Wie häufig besuchen Sie eigentlich Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden und Arbeitslosenzentren? Ist Ihnen dort nie berichtet worden, dass genau
diese Beratung und Aufklärung in aller Regel - in diesem Fall tatsächlich systematisch und nicht nur in Einzelfällen; die Motive mögen unterschiedlich sein: Überlastung oder Unkenntnis der Mitarbeiter - nicht
stattfindet?
Lieber Herr Kollege Kurth, im Rahmen meiner Abgeordnetentätigkeit besuche ich solche Stellen regelmäßig.
Darüber hinaus bin ich als Rechtsanwalt niedergelassen
und mache viel Sozialrecht. Deswegen habe ich viele
Mandanten, die diese Probleme haben. Auch wenn ich
an mancher Stelle Anlass zur Klage habe, und zwar im
doppelten Sinne - für die Mandanten, und auch ich habe
einiges zu bemängeln -, stelle ich fest: Eine systematische Verweigerung gibt es nicht.
({0})
Ich finde es unerhört, dass Sie die Sache hier umkehren. Natürlich gibt es immer schwarze Schafe und überlastete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Natürlich gibt
es auch überforderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter;
denn wir geben ihnen eine Gesetzgebung an die Hand,
mit der Sie kaum arbeiten können. Daran sind Sie als
Grüne nicht ganz unschuldig. So wie das Hartz-IV-Regelwerk den Deutschen Bundestag verlassen hat, war es
zum Teil nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die damit arbeiten
müssen, eine Zumutung. Das muss man ehrlicherweise
sagen.
({1})
Sie haben das Problem im Nachhinein verallgemeinert.
({2})
- Doch, Sie kehren es um, Herr Kurth, und das finde ich
ärgerlich an Ihrem Vorwurf. Sie sagen: Im Zweifel handelt die Behörde oder der Sozialversicherungsträger
nicht im Sinne des Leistungsempfängers bzw. des Versicherten. Das stimmt nicht. Das ist nicht meine Erfahrung, und das ist auch nicht die soziale Wirklichkeit in
Deutschland.
({3})
Ich will Sie darauf hinweisen, dass wir uns nicht nur
hier im Parlament und in den Petitionsausschüssen mit
diesem Thema beschäftigen. In meinem Heimatland
Schleswig-Holstein gibt es Bürgerbeauftragte, die die
Bürgerinnen und Bürger mit großem Erfolg beraten und
unterstützen. Ich will Sie auch darauf hinweisen, dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, an deutschen Arbeitsund Sozialgerichten - auch an unzuständigen Gerichten selber eine Klage zu erheben. Dort liegen Formulare aus,
die er nur auszufüllen braucht. Wenn er damit nicht klarkommt, gibt es ausgebildete Rechtspfleger, die sich stundenlang Zeit nehmen, um mit den einzelnen Betroffenen
die Klage anzufertigen. Die werden sich nicht darauf berufen, dass sie nicht zuständig sind; das dürfen sie gar
nicht. Sie helfen dabei, dass man Erfolg hat.
Herr Kurth, Sie haben auf Europa Bezug genommen.
Ich wiederhole es: Wo in Europa gibt es so etwas? Welcher europäische Mitgliedstaat - ich bin wirklich Proeuropäer und möchte andere Mitgliedstaaten nicht pauschal verdächtigen, ein schlechtes soziales Niveau zu
haben - hat ein derart dichtes soziales Netz, wie wir es
haben? Diesen Beweis bleiben Sie schuldig. Deswegen
sage ich: Es ist die bare Not, die Sie dazu gebracht hat,
diesen Antrag zu stellen. Sie überzeichnen die Situation
insgesamt ganz deutlich.
({4})
Als Anwalt könnte ich ein bisschen traurig darüber
sein, dass Sie das anwaltliche Gebührenrecht nicht erwähnen. Es geht an dieser Stelle nicht um Reichtümer.
Aber die Kollegen, die auf dem Gebiet des Sozialrechts
tätig sind, arbeiten für Betragsrahmengebühren - fragen
Sie einmal Frau Kramme -, für die man einen Sozialrechtsfall wirtschaftlich gesehen überhaupt nicht bearbeiten kann. Sie sollten die Justizministerin, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, die einen entsprechenden
Entwurf unterbreitet hat, unterstützen, damit diese Gebühren etwas angehoben werden.
({5})
Der Vorschlag, die SGB-II-Verfahren gebührenpflichtig zu machen, ist mir vollkommen unverständlich.
({6})
- Doch, das haben Sie gemacht, selbstverständlich. Lesen Sie einmal Ihren eigenen Antrag!
({7})
Sie wollen unter Ziffer 9 Pauschalgebühren einführen.
({8})
- Für die Jobcenter. Meinen Sie denn im Ernst, ein Jobcenter werde einen Widerspruchsbescheid zulasten eines
Leistungsempfängers nicht aussprechen, nur weil das
Jobcenter fürchtet, Gerichtsgebühren zahlen zu müssen?
Oder umgekehrt: Wollen Sie, dass Jobcenter gegen die
eigene Rechtsauffassung und gegen die eigene Tatsachenfeststellung einen Widerspruchsbescheid erlassen,
nur weil das Jobcenter andernfalls Gerichtsgebühren
zahlen müsste? Das halte ich für kompletten Irrsinn. Das
zeigt, dass Sie hier insgesamt auf dem Holzweg sind,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Grünen-Fraktion.
({9})
Ich finde es auch traurig, dass Sie über die Kostensituation, also das, was in Deutschland dafür aufgewandt
wird, nicht einen Satz verlieren.
({10})
Wir wenden im Bundeshaushalt etwa 160 Milliarden
Euro für soziale Leistungen auf. Das ist nur der steuerfinanzierte Teil, von dem ein erheblicher Teil in die Rentenfinanzierung fließt. Hinzu kommt das Beitragsaufkommen, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
Arbeitgeber erwirtschaften müssen. Wenn Sie das addieren, sehen Sie, dass wir hier in Deutschland dank unserer
wirtschaftlichen Stärke - diese ist gerade diskutiert worden - in der Lage sind, uns ein soziales System zu leisten, das seinesgleichen sucht und sich nicht verstecken
muss.
Das, was Sie verteilen wollen, müssen wir erst einmal
erwirtschaften. Bei dieser Reihenfolge muss es bleiben.
Deswegen ist es auch richtig, dass wir diese Debatte direkt nach der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht, den
der erfolgreiche Bundeswirtschaftsminister hier vorgelegt hat, führen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die richtige
Grundlage für einen sozialen Rechtsstaat, von dem Sie
sprechen, ist ein wirtschaftlich erfolgreiches Deutschland, und wir sind mit dieser Regierungskoalition sehr
erfolgreich.
Vielen Dank.
({11})
Anette Kramme hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Existenz sozialer Bürgerrechte ist sicherlich eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zeit.
Wenn wir über soziale Bürgerrechte sprechen, dann geht
es darum, dass Menschen nicht Bittsteller, sondern Träger von Rechten und Ansprüchen sind.
({0})
Es geht darum, dass Würde erhalten bleibt und Erniedrigungen ausbleiben.
Es ist aber sicherlich so: Wo gearbeitet wird, fallen
Späne. Manchmal vermittelt eine Behörde auch den Eindruck der Königlich-Bayerischen Amtsgerichtsbarkeit.
Manchmal ist es allerdings auch so, dass die Welt der
Wünsche mit der Welt des Machbaren kollidiert. Mancher Beamte würde bestimmt gerne Leistungen gewähren, wenn ein Härtefall vorliegt oder wenn ihm ein Bürger bzw. eine Bürgerin sympathisch erscheint. Es gibt
jedoch die Vorgabe rechtskonformen Verhaltens, und die
Politik setzt die rechtlichen Maßstäbe.
Herr Kurth, an dieser Stelle finde ich Ihre Kritik überspitzt. Natürlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland auch schwarze Schafe, aber diese sind nicht der Regelfall. Sie vernachlässigen die vielen Hunderttausend
Fälle, die in der Bundesrepublik Deutschland Jahr für
Jahr völlig reibungslos ablaufen.
({1})
Unstreitig ist allerdings, dass es innerhalb der Bundesrepublik Deutschland Verbesserungsbedarf gibt. Hier geht
es, denke ich, insbesondere um sechs Punkte.
Erstens brauchen wir in mehr Fällen eine übergreifende Beratung, weil das Sozialrecht verheerend kompliziert ist. Ich finde, die Pflegestützpunkte, die wir mit
dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eingeführt haben, sind ein gutes Beispiel dafür.
({2})
Es geht zweitens darum, dass Bearbeitungszeiten von
Behörden und Gerichten kurz bleiben. Dies ist aber in
vielen Fällen eine Kostenabwägung, und in vielen Fällen
stehen wir in einem Dissens mit den Ländern.
Es geht drittens darum, dass wir jeweils eine genaue
Abwägung vorzunehmen haben, ob wir einem Bürger
bzw. einer Bürgerin einen Rechtsanspruch oder einen
Anspruch gewähren, der nur im Ermessen der Behörde
steht. Hier ist es leider beispielsweise im SGB II oder im
SGB III zu verheerenden Entwicklungen gekommen, bei
denen es nur darum ging, Kostenreduzierungen vorzunehmen. So werden natürlich die Weiterbildungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern in letzter Konsequenz beschnitten.
Es geht viertens darum, mehr Partizipation in den Sozialgesetzbüchern zu verankern. Ich bin allerdings der
Meinung - darin sind wir uns einig -, dass diesbezüglich
gute Entwicklungen stattgefunden haben. Ich verweise
beispielhaft auf das SGB IX.
({3})
Fünftens geht es darum, die Schnittstellen zwischen
verschiedenen Rechtsgebieten aufzulösen, damit nicht
jede Behörde Leistungen ablehnen kann und der Bürger
letztlich zwischen allen Stühlen sitzt. Die Zusammenlegung der Agenturen für Arbeit und der Sozialhilfebehörden ist hierfür ein hervorragendes Beispiel.
Letztens geht es darum, einen kostenfreien und einfachen Zugang zur Gerichtsbarkeit zu haben.
Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen und diese
näher thematisieren.
Sie rennen bei uns offene Türen ein, wenn es um den
Erhalt der Sozialgerichtsbarkeit geht. Seit Jahren beobachten wir leider immer wieder Anstrengungen mit
dem Ziel einer Zusammenlegung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit. Wer sich in der
Materie auskennt, weiß um den Umfang des Sozialrechts
und die Kompliziertheit dieser Rechtsmaterie. Allein die
Rechtsprechung zum SGB II hat sich ins Unendliche
entwickelt. Leider ist auch die Politik daran schuld; denn
wir haben immer wieder rechtliche Änderungen vorgenommen. Die Einarbeitungszeiten sind dadurch lang.
Nach meiner Auffassung würde eine Zusammenlegung
schlichtweg zu einem Qualitätsverlust führen. Es nutzt
auch nichts, wenn spezialisierte Sozialrechtsanwälte
Richtern gegenüberstehen, die in die Materie nicht eingearbeitet sind. Die langen Bearbeitungszeiten dürften
eher zunehmen als abnehmen.
Lassen Sie mich auf ein konkretes Beispiel zur
Schnittstellenproblematik eingehen. Ich finde, wir sollten die Sozialgesetze unter diesem Gesichtspunkt systematisch durchkämmen. Ihr Antrag ist ein guter
Aufschlag; aber den hehren Ansprüchen, die Sie formulieren, wird er nicht gerecht, weil Sie die Schnittstellenproblematik ein wenig vernachlässigen. Lassen Sie mich
ein Beispiel nennen; es handelt sich um einen unglaublichen Fall, von dem ich vor wenigen Tagen gehört habe.
Bei einer 85-jährigen Frau lag ein Beckenbruch vor; sie
war nicht krankenversichert. Die Tochter wandte sich an
die GKV, und die GKV brauchte eine Woche, um den
Sachverhalt zu bearbeiten. Dann hat sie die Kostenübernahme mit dem Hinweis, möglicherweise komme die
PKV in Betracht, abgelehnt. Die Tochter wandte sich an
die PKV. Auch die PKV bearbeitete die Anfrage zunächst einmal nicht. Dann teilte sie mit, die gesetzliche
Krankenversicherung sei zuständig. Später stellte sich
heraus, dass die PKV doch zuständig ist. Das Sozialamt
der zuständigen Stadt lehnte gar die Entgegennahme des
Antrages ab.
Man kann sich vorstellen, welche Sorgen dies bei der
Tochter auslöste. Es ging um einen dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt und eine anschließende Reha-Maßnahme, die zunächst einmal verschoben werden musste.
Dabei ließe sich dieses Thema ganz einfach regeln. Das
war damals in der Großen Koalition nicht möglich. Es
müsste ausreichen, einen der Träger anzugehen. Die
Kassen müssten das dann untereinander regeln bzw. im
Einvernehmen mit den Sozialämtern.
({4})
Lassen Sie mich abschließend auf ein Thema eingehen, das Herr Wadephul angesprochen hat. Ich finde, er
hat damit recht. Es geht um die Vergütung der Anwälte
im Bereich des Sozialrechts. In vielen Fällen wird Beratungshilfe in Anspruch genommen. Der Vergütungsanspruch für solch eine Beratung beträgt 30 Euro bzw.
für die gesamte außergerichtliche Tätigkeit 70 Euro. Das
Problem ist, dass oft Menschen betroffen sind, die sich
nicht selber helfen können, die mit Wäschekörben voller
Unterlagen zum Anwalt kommen, der diese Unterlagen
erst einmal sortieren muss. Dadurch sind diese Angelegenheiten extrem arbeitsaufwendig. Leider gibt es viele
Anwälte, die dem Sozialstaatsauftrag nicht Rechnung
tragen und einfach sagen, sie könnten erst in sechs Wochen einen Termin anbieten oder sie seien in der Materie
fachlich nicht kompetent, obwohl sie das Problem sehr
wohl lösen könnten. Ich denke, wir brauchen entweder
ein anderes Vergütungssystem oder zumindest für den
Bereich des Sozialrechts öffentliche Rechtsberatung;
dies gibt es bereits in einigen Bundesländern.
({5})
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Ich
finde, Sie haben einen interessanten Aufschlag gemacht;
aber den hohen Ansprüchen wird dieser Antrag nicht gerecht. Wir müssen die Materie in den nächsten Jahren
gemeinsam angehen und jedes einzelne Sozialgesetzbuch durchschauen, um herauszufinden, wo es Schnittstellenproblematik gibt, wo wir verbesserte Beratung anbieten können etc.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Pascal Kober hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, aus Anlass Ihres Antrags möchte ich auf zwei
grundsätzliche Aspekte des Sozialstaates hinweisen.
Ich bin schon bei der Überschrift Ihres Antrags stutzig geworden. Da sprechen Sie einerseits von sozialen
Bürgerrechten und andererseits von Nutzerinnen und
Nutzern sozialer Leistungen. Man kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, einen
Computer, eine Eisenbahn oder eine Zahnbürste nutzen.
Ich glaube, wir alle spüren: Wenn es um den Begriff
„nutzen“ geht, dann geht es auch um Wahlfreiheit. Aber
wenn man von sozialen Rechten oder gar von sozialen
Bürgerrechten spricht, dann sollte man nicht von Nutzerinnen und Nutzern sprechen. Wir gehen in unserem Sozialstaat davon aus, dass diejenigen, die Leistungen des
Sozialstaates beziehen, dies tun, weil sie gerade keine
andere Wahl haben.
({0})
Deshalb sollten Sie über die Formulierung der Überschrift Ihres Antrags noch einmal nachdenken.
Sie sollten auch über einen zweiten Aspekt des Sozialstaates nachdenken - darauf hat mein Kollege Herr
Dr. Wadephul schon hingewiesen -: Wer erwirtschaftet
eigentlich die Leistungen, die der Sozialstaat zu Recht
verteilt? Der Sozialstaat besteht nicht nur aus Leistungsberechtigten einerseits und institutionellen Sozialleistungserbringern andererseits,
({1})
sondern auch aus der Masse von Menschen, die mit ihrer
Hände und Köpfe Arbeit das Geld, das wir in Form sozialer Leistungen verteilen können, erwirtschaftet.
({2})
Diese Seite des Sozialstaates findet in Ihrem Antrag mit
keiner Silbe Erwähnung.
({3})
Das ist insofern bedauerlich, lieber Herr Kurth, als der
Umstand, den Sie in Ihrem Antrag zum Teil zu Recht
problematisieren, seine Ursache darin hat, dass die Sozialleistungsträger gehalten sind, die dem Sozialstaat nur
begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel nach den
Grundsätzen der Sparsamkeit und Effizienz einzusetzen.
({4})
Darauf müssen sich die Menschen verlassen können:
diejenigen, die mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit die
Leistungen des Sozialstaates erwirtschaften, aber vor allem diejenigen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind.
Eines ist klar: Wir können jeden Euro nur einmal ausgeben. Wenn wir zum Beispiel Geld für eine Leistung
wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeben,
steht entsprechend weniger Geld für andere Leistungsberechtigte, beispielsweise für schwerstmehrfachbehinderte Menschen, zur Verfügung. Deshalb ist es auch im
Interesse der Schwächsten, dass die jeweils weniger
Schwachen das ihnen Mögliche zur Überwindung ihrer
Situation beitragen und dass der Sozialstaat seine finanziellen Ressourcen sorgfältig abwägend einsetzt. Dass es
hierbei in zahlreichen Einzelfällen zu für die Betroffenen
ärgerlichen und teils problematischen Situationen kommen kann, will ich gar nicht leugnen. Aber zunächst einmal muss man die Ursache dieser Probleme identifizieren. Es geht um den sorgsamen Umgang mit den
Leistungen des Sozialstaates. Deshalb stellt sich die
Frage, wie wir angemessen auf diese Situation reagieren
sollten.
Für meine Fraktion stellen sich die Prioritäten, ganz
allgemein gesprochen, wie folgt dar: Erstens. Wir müssen so viele Menschen wie möglich dabei unterstützen,
sich aus der Abhängigkeit vom Sozialstaat zu befreien.
Zweitens. Wir müssen die Leistungsberechtigten zu so
viel Eigenverantwortung wie nur möglich ermächtigen;
dies kann man vielfach zum Beispiel durch die Pauschalierung von Leistungen erreichen. Drittens. Wir müssen
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialleistungsträger noch besser als bisher durch eine gute Ausbildung und motivierende berufliche Perspektiven bei
ihrer Arbeit unterstützen. Dieser Dreiklang ist der richPascal Kober
tige Weg. Ihr Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen, ist zu einseitig.
Nun möchte ich mich noch mit einzelnen konkreten
Forderungen, die Sie in Ihrem Antrag gestellt haben,
auseinandersetzen. Da Sie eine ganze Reihe von Forderungen formuliert haben, beschränke ich mich auf zwei.
So fordern Sie zum Beispiel, die geltenden Sanktionsregelungen zu flexibilisieren und ein Sanktionsmoratorium
zu erlassen, bis die Rechte der Arbeitsuchenden gestärkt
worden sind. Zudem soll es keine verschärften Sanktionsmechanismen im Hinblick auf Menschen unter
25 Jahren geben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, natürlich gibt es empirische Belege dafür, dass
Sanktionen positive Wirkungen entfalten.
({6})
Aber es geht eigentlich um etwas anderes: Ohne Sanktionen gäbe es keine Unterscheidung mehr zwischen
denjenigen, die sich bemühen - unabhängig davon, ob
die Bemühungen erfolgreich sind -, und denjenigen, die
keinerlei Anstrengung unternehmen. Wir müssen uns
immer auch die Frage stellen, welche Akzeptanz Sozialleistungen wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende
bei den Erwerbstätigen noch hätten, wenn es keinerlei
Notwendigkeit zur Eigeninitiative gäbe.
({7})
Insofern wirken Sanktionsmechanismen nicht nur innerhalb des Systems stabilisierend, sondern sie tragen auch
zur Glaubwürdigkeit und zur Akzeptanz des Systems
nach außen bei. Deshalb sind sie unverzichtbar.
({8})
Des Weiteren fordern Sie in Ihrem Antrag die Schaffung der Möglichkeit zur Einrichtung von Ombudsstellen bei allen Trägern des SGB II. Es gibt ja heute schon
diese Möglichkeit. Jedes Jobcenter kann eine Ombudsstelle einrichten. Wir müssen uns aber auch fragen, was
eigentlich die Aufgabe der Ombudsstellen ist. Schon
heute zeigt sich in der Praxis, dass sie sich nur bei speziellen Fallkonstellationen eignen, nämlich dann, wenn
es um einen Beurteilungsspielraum geht. In diesen Fällen kann die Rolle einer Ombudsperson als Vermittler in
der Tat sehr sinnvoll sein. In allen anderen Fällen ist das
aber nicht der Fall.
Obwohl es durchaus Optimierungsbedarf bei der Umsetzung des SGB II gibt, können wir aber auch festhalten, dass im Jahr 2011 die Anzahl der Klagen erstmals
seit Einführung des Arbeitslosengeldes II zurückgegangen ist. Die schwarz-gelbe Bundesregierung lässt es aber
nicht dabei beruhen. So wird die teils zu lange Bearbeitungsdauer von Widersprüchen angegangen. Hierzu
erarbeitet die Bundesagentur für Arbeit gerade ein Konzept zum Abbau der Rückstände in der Widerspruchsbearbeitung. Mit einem Handbuch „Interne Kontrollsysteme“ soll zudem eine höhere Qualität in den Jobcentern
erreicht werden.
Es freut mich, dass Frank-Jürgen Weise immer wieder
betont, wie wichtig auch die Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit ist. Das ist, glaube ich, der richtige Weg, auf dem
wir weiter fortschreiten sollten. Dies tut diese Bundesregierung mit Unterstützung der beiden sie tragenden
Fraktionen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Matthias Birkwald hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Linke steht für Menschenwürde und für soziale Sicherheit.
({0})
Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Betroffene, Menschen
mit Behinderung, Kranke und Pflegebedürftige ein Leben in Würde führen können.
Ein würdevolles Leben kann der Mensch jedoch nur
in Freiheit führen. Die Freiheit, die wir meinen, ist jedoch nicht die Freiheit der Märkte und der Marktradikalen; denn wir wollen nicht, dass die einen im Champagner baden und die anderen gezwungen sind, ihr
Essen aus den Mülltonnen zu holen.
({1})
In einer menschlichen Gesellschaft, die es mit sozialen Rechten ernst meint, darf das Recht des Stärkeren
nicht gelten. Wir Linken meinen eine Freiheit, die vor
staatlicher Willkür schützt, dabei aber nicht stehen
bleibt; denn die Freiheit der Armen, sich als Bittstellerinnen und Bittsteller an den Staat oder an die Mitbürgerinnen und Mitbürger zu wenden, wenn das Geld nicht
zum Leben reicht, ist eine würdelose Freiheit. Das ist einer der zentralen Gründe, warum wir Linken niemals unseren Frieden mit Hartz IV machen werden.
({2})
Würde braucht Freiheit, aber ohne soziale Rechte
bleiben Freiheit und Würde für einen großen Teil der
Menschen nur eine Möglichkeit, die sie sich nicht leisten
können. Deswegen ist die Linke die Partei der Freiheit,
der Würde und der Solidarität.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
haben Ihren Antrag mit „Soziale Bürgerrechte garantieren“ überschrieben. Diese wichtige Forderung teilt die
Linke ausdrücklich. Mit den vielen Einzelforderungen
Ihres Antrages haben Sie unter dem Strich ein Ziel: Die
Bürgerinnen und Bürger dürfen vom Staat und von der
Verwaltung nicht als Bittstellerinnen und Bittsteller behandelt werden. Das sehen wir Linken ganz genauso.
({4})
Es geht um soziale Rechte und nicht um Almosen.
Das muss selbstverständlich für alle gelten, die hier leben, also zum Beispiel auch für Flüchtlinge, für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und für alle Menschen
ohne deutschen Pass. Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sagen Sie in Ihrem Antrag leider
kein Wort, und das ist schwach.
({5})
Sie reden über soziale Rechte, beschränken sich aber
allein auf das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zur
Sozialverwaltung. Die sozialen Bürgerrechte umfassen
aber auch die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie müssen deshalb sowohl in den Amtsstuben
der Sozialverwaltung als auch an den Werkbänken in
den Fabriken und an den Schreibtischen in den Büros
gelten. Wenn Sie in Ihrem Antrag also von sozialen
Rechten sprechen, dann dürfen Sie von einem gesetzlichen Mindestlohn, von gleichem Lohn für gleiche Arbeit
und von gesunden, sicheren und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen nicht schweigen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke teilt viele
Einzelforderungen des vorliegenden Antrags. Auch wir
sehen zum Beispiel, dass es nicht reicht, nur von einem
Recht auf Beratung zu sprechen. Die Linke fordert schon
lange, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen,
Menschen mit Behinderung und Hartz-IV-Beziehende
professionell, unabhängig und vor allem wohnortnah
und kostenlos
({7})
beraten werden. Eine gute und vor allem auch eine gut
und barrierefrei erreichbare Beratung ist dafür unverzichtbar.
({8})
Soziale Rechte und Ansprüche muss jede und jeder
ohne Spezialausbildung oder ein langjähriges Studium
verstehen und wahrnehmen können. Genau deshalb
müssen die Gewerkschaften, der Erwerbslosenverband
Deutschland oder Sozialverbände, wie zum Beispiel die
Volkssolidarität, ein eigenständiges Verbandsklagerecht
erhalten.
({9})
Damit würden die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer
sozialer Leistungen auch unabhängig von konkreten Einzelfällen deutlich gestärkt werden. Das ist notwendig.
Das ist machbar. Das ist längst überfällig.
({10})
Wenn wir des Morgens zum Bäcker gehen, finden wir
in der Regel eine reichhaltige Auswahl an Brötchen vor.
Die Bäckerin würde aus wohlverstandenem Eigeninteresse nicht im Traum auf die Idee kommen, ihr Angebot
einzuschränken oder uns zum Kauf eines bestimmten
Brötchens zu nötigen; denn wir würden uns entweder vehement beschweren oder sofort den Laden verlassen und
beim nächsten Mal nicht wiederkommen. Wir würden
also protestieren, uns beschweren und im besten Falle
damit die Qualität der Bäckerei verbessern. Falls das
nichts hülfe, könnten wir künftig unsere Brötchen
schlicht woanders kaufen.
Ich lege hier jetzt einigen Wert darauf, festzuhalten,
dass die Sozialverwaltungen keine Bäckereien und Sozialleistungen keine Brötchen sind. Aber wie hieß es
doch so schön im Zuge der Einführung der Hartz-Reformen? Die Arbeitsagenturen sollten die Menschen als
Kundinnen und Kunden behandeln, so wie beim Bäcker.
Das ist doch nun wirklich hanebüchener Unsinn.
({11})
Haben Sie schon einmal einen Bäcker erlebt, der Ihnen mit Strafen droht, wenn Sie ihm nicht das Brötchen
abnehmen, das er für Sie vorgesehen hat? Ich frage Sie:
Können denn Langzeiterwerbslose wie beim Bäcker einfach das Geschäft wechseln und ihre Grundsicherung
woanders holen, wenn sie sich im Jobcenter schlecht beraten, mies vermittelt oder zu Unrecht bestraft fühlen?
Nein, das können sie eben nicht.
({12})
Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass die Leistungsberechtigten in den Jobcentern darauf pochen können,
mitzuentscheiden, welche Weiterbildung, welcher
Schulbesuch oder welche sonstige Maßnahme für sie die
Richtige ist.
({13})
Im Unterschied zu den Grünen sagen wir Linken: Die
Arbeitslosen müssen beispielsweise auch frei wählen
dürfen, welcher Fallmanager oder welche Fallmanagerin
für sie zuständig ist; denn auch Hartz-IV-Betroffene haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Das darf nicht an
der Tür des Jobcenters enden.
({14})
Hartz-IV-Betroffene haben nicht die Möglichkeit, das
Jobcenter zu wechseln wie ihre Bäckerei. Sie können
sich nur beschweren, Widerspruch einlegen oder klagen.
Das heißt: Erstens. Widersprüche der Hartz-IV-Leistungsberechtigten müssen eine aufschiebende Wirkung
bekommen. Zweitens. Ihnen darf der Klageweg auch in
Zukunft nicht durch Kosten versperrt werden.
({15})
Die Sozialgerichtsprozesse müssen für die Betroffenen
grundsätzlich kostenfrei bleiben.
({16})
Dieses grundlegende soziale Recht darf nicht geopfert
werden, weil es, Herr Kollege Kober, nach wie vor eine
anhaltende Klageflut bei Hartz IV gibt. Es gibt jetzt gerade mal einen leichten Rückgang. 2011 ist das Jahr mit
der zweithöchsten Zahl an Prozessen gewesen. Für die
Klageflut ist nämlich nicht die Kostenfreiheit verantwortlich, sondern das handwerklich schlecht gemachte
Hartz-IV-Gesetz, oder, wie es Martin Kühl, Richter und
Pressesprecher des Landesarbeitsgerichts Essen, vornehmer ausdrückte, die „sehr komplexe Rechtslage“.
Kein Wunder, dass wegen des viel zu komplizierten
Gesetzes fast die Hälfte aller Verfahren zugunsten der
klagenden Hartz-IV-Betroffenen entschieden wird, so
zum Beispiel auch am Kölner Sozialgericht. Mich wundert es auch nicht, dass die Berliner Präsidentin des
größten Sozialgerichts in Deutschland, Frau Sabine
Schudoma, fordert, dass nicht die Betroffenen, sondern
die Jobcenter wieder mit einer Pauschgebühr an den Gerichtskosten beteiligt werden müssten; denn dann hätten
die Jobcenter einen Grund, stärker auf die Betroffenen
zuzugehen. Damit könnten Klagen vermieden werden,
ohne die Rechte der Betroffenen einzuschränken. Kurz
und gut: Ein sehr guter Vorschlag!
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
halte fest: In den Punkten Kostenfreiheit für die Betroffenen und Pauschgebühren für die Jobcenter sind wir uns
völlig einig. Aber im Unterschied zu Ihnen war die
Linke nicht daran beteiligt, Hartz IV zu erfinden und die
Erwerbslosen damit nun schon seit Jahren zu drangsalieren.
({18})
Wir wollen kein Hartz-IV-Gesetz, mit dem den Betroffenen an jeder Ecke Kürzungen drohen. Die Linke will
Hartz IV abschaffen und durch eine sanktionsfreie soziale Mindestsicherung ersetzen, die die sozialen Rechte
der Menschen achtet.
({19})
Wir wollen uns nicht darauf beschränken, Hartz IV
hier und da zu verbessern. Dennoch gilt: Die besonders
harten Strafmaßnahmen, die in Hartz IV gegen unter
25-Jährige verhängt werden können, müssen sofort abgeschafft werden.
({20})
Denn es ist unwürdig, dass jungen Erwachsenen der Regelsatz und sogar die Leistungen für Wohn- und Heizkosten vollständig gekürzt werden können. Es ist unwürdig, dass junge Menschen bis 25, die auf Hartz IV
angewiesen sind, den Staat um Erlaubnis fragen müssen,
wenn sie zu Hause ausziehen wollen. Diese brachiale
Freiheitseinschränkung muss dringend abgeschafft werden.
({21})
Auch für die Erwachsenen in Hartz IV bringen die
Sanktionen und die Schnüffelpraxis der unsäglichen
Hausbesuche mit ihrer ausdrücklichen Missbrauchsunterstellung keinen Arbeitsplatz mit guter Arbeit. Sie
bringen weniger statt mehr Würde, und sie bringen weniger statt mehr Freiheit. Darum müssen alle Sanktionen
und Strafmaßnahmen sofort ausgesetzt werden.
({22})
Im Unterschied zu den Grünen wollen wir Linken
aber, dass die Sanktionen umgehend und vollständig abgeschafft werden und der Hartz-IV-Regelsatz auf
500 Euro erhöht wird. Denn es bleibt dabei: Sozial ist,
was Würde schafft.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Linnemann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den zehnseitigen Antrag liest, Herr Kurth,
und vor allen Dingen wenn man Herrn Birkwald zuhört,
dann muss man erstens den Eindruck bekommen, dass
diejenigen, die in Deutschland wohnen, arm dran sind.
Zweitens muss man den Eindruck bekommen, dass der
Rechtsschutz für bedürftige Menschen in Deutschland
nicht großzügig ausgeprägt ist.
Ich habe mir gestern die Mühe gemacht und die Zeit
genommen, in Ruhe mit einem Sozialrichter am Bundessozialgericht zu sprechen, der mir bestätigt hat, was auch
Herr Wadephul gesagt hat, nämlich dass in kaum einem
anderen Lande der Rechtsschutz für bedürftige Menschen so großzügig ausgeprägt ist wie in Deutschland.
({0})
Das ist erst einmal eine gute Nachricht für Deutschland,
für den Sozialstaat und für den Rechtsschutz.
({1})
- Damit findet man sich nicht ab, Herr Kurth. Sie haben
völlig recht, aber Sie müssen eines beachten: Dass jemand das Instrument Widerspruch und Klage in Anspruch nimmt, ist zunächst einmal ein Zeichen dafür,
dass unser Rechtsstaat funktioniert.
({2})
Das ist zunächst der entscheidende Punkt. Sie haben natürlich recht, auch mit Ihrem Antrag: Die Zahl der Widersprüche und Klagen ist zu hoch. Trotzdem sollte man
nicht alles schlechtreden, Herr Birkwald.
Wir haben gestern vom Arbeitsministerium die aktuellen Zahlen zu den Widersprüchen bekommen. Sie
gehen zum ersten Mal seit Inkrafttreten der Hartz-IVGesetzgebung im Jahr 2005 zurück, und zwar meiner
Meinung nach signifikant. Ich will nicht von einer großen Trendwende reden, aber wir sollten das zur Kenntnis
nehmen.
Ich habe die aktuellen Zahlen bekommen; sie beziehen sich auf das dritte Quartal 2011. Im Vergleich zum
dritten Quartal 2010 ist die Zahl der Widersprüche von
200 000 auf 170 000 zurückgegangen. Das ist signifikant.
({3})
- Ja, Herr Birkwald, das ist so. Sie sind doch von Haus
aus Volkswirtschaftler.
({4})
- Ja, das ist völlig richtig, Herr Kurth: im SGB II. Wir
sollten aber beide Interesse daran haben, dass diese Zahl
weiter zurückgeht. Wir sollten über Konzepte sprechen.
Sie sprechen ein paar Konzepte an. Zum Beispiel
wollen Sie mit Ombudsstellen erreichen, dass es erst gar
nicht zum Rechtsstreit kommt. Über solche Instrumente
sollten wir im Ausschuss reden.
Aber ich bitte, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir seit
Jahren versuchen - das begann in der Großen Koalition,
und jetzt machen wir es erst recht; die entsprechenden
gesetzlichen Regelungen sind in Kraft getreten -, bei
den Widersprüchen, die vor allen Dingen bei den Eingliederungsvereinbarungen und den Kosten der Unterkunft auftreten, gegenzusteuern. Ich nenne Ihnen zwei
Beispiele. Wir haben im letzten Jahr den Kommunen bei
den Kosten der Unterkunft die Möglichkeit eröffnet,
Pauschalen festzulegen. Zuerst gab es einen großen Aufschrei. Trotzdem erhoffen wir uns - die Kommunen
müssen dies auch in Anspruch nehmen - weniger
Rechtsstreitigkeiten und weniger Klagen, weil es nun
Rechtssicherheit gibt. Die Opposition sagt nun: Die
Hartz-IV-Empfänger leiden darunter. - Das ist nicht so.
Erstens werden die Pauschalen vom jeweiligen Landessozialgericht überprüft. Zweitens kann ein SGB-II-Empfänger, wenn ihm die Kommune zum Beispiel 350 Euro
zugesteht und er eine Wohnung für 250 Euro anmietet,
die Differenz von 100 Euro behalten. Die oft monierte
Härtefallregelung gilt weiterhin, auch bei Pauschalen. In
einem bekannten, renommierten Urteil wurde festgestellt, dass es sich bei einer Familie mit vier Kindern, die
wohnortnah zur Schule gehen, und die in der Nachbarstraße einen Angehörigen hat, der gepflegt werden muss,
offenkundig um einen Härtefall handelt. Das gilt auch in
Zukunft. Wir erhoffen uns, dass die Klagewelle aufgrund
unserer Regelung zurückgeht.
({5})
Zu den Eingliederungsvereinbarungen. Ich muss zugeben, dass ich in der gestrigen Ausschusssitzung überrascht war, dass die Zahl so positiv ist. Ich kann die Zahl
gleich nennen, weil sie öffentlich ist. Seit Juni 2010 wird
nach einem Vier-Phasen-Modell gearbeitet. Danach können die Vermittler vor Ort die Eingliederungsvereinbarung individueller ausgestalten. Dadurch kommt es
seltener zu Rechtsstreitigkeiten. Nach einer internen
Überprüfung der Bundesagentur für Arbeit sind 88 Prozent der Eingliederungsvereinbarungen individueller,
Herr Kurth. Dadurch erhoffen wir uns weniger Klagen.
Wie Sie sehen, setzt sich das gesamte System aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Es gibt immer etwas
zu optimieren. Es gibt immer Schieflagen. Es ist richtig,
dass wir versuchen müssen, die Schieflagen zu beseitigen und den Rechtsschutz sicherzustellen. Aber genauso
wichtig ist es - lieber Pascal Kober, das hast du eben zu
Recht angesprochen -, die Eigeninitiative des Einzelnen
zu stärken. Auch darauf heben Sie im Antrag Ihrer Fraktion ab, Herr Kurth. Aber ich würde mich freuen, Frau
Pothmer, wenn Sie dann, wenn es konkret wird, nicht
wegliefen, sondern uns unterstützten. Sie sollten nicht
nur auf die hehren Ziele hinweisen.
({6})
Ich nenne Ihnen als Beispiel den Bundesfreiwilligendienst. Wir haben den Freibetrag von 60 auf 175 Euro erhöht, weil wir der Meinung sind, dass 60 Euro für Langzeitarbeitslose, die bereit sind, 30 Stunden in der Woche
geschätzte und sinnstiftende Tätigkeiten für die Gesellschaft zum Beispiel im Umweltschutz zu übernehmen,
zu wenig sind. Sie haben damals gesagt: Hartz-IV-Empfänger sind keine Lückenbüßer für die wegfallenden Zivildienststellen. - Nun haben wir das umgesetzt, und es
gibt - soweit ich das mitbekomme - keine Kritik, weder
von den karitativen Trägern und Verbänden wie der
Caritas noch von den Betroffenen selbst. Viele melden
sich per E-Mail und schreiben: „Das ist eine gute Regelung.“ Gerade ältere Arbeitslose bekommen damit eine
Chance auf Teilhabe in dieser Gesellschaft. Das sind sicherlich kleine Bausteine. Aber die Arbeits- und Sozialpolitik erlaubt es nicht, einen großen Schlag zu tun, sodass dann alles funktioniert. Es handelt sich nun einmal
um ein lernendes System. Wir werden weiterhin mit den
genannten Bausteinen arbeiten. Ich denke, wir machen
das höchst erfolgreich.
Herzlichen Dank.
({7})
Silvia Schmidt hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Kurth, der Antrag Ihrer Fraktion
enthält durchaus richtige Feststellungen. Aber wir müssen eines bedenken: Wir haben das beste Sozialsystem
weltweit. Wir werden um dieses Sozialsystem beneidet.
Das ist einfach so.
({0})
Natürlich haben wir auch die große Verantwortung, dieses historisch gewachsene Sozialsystem weiterzuentwickeln.
Die Entwicklung von Sozialrecht ist ein Prozess, der
mit den gesellschaftlichen Verhältnissen einhergeht. Es
darf nicht der Eindruck entstehen, wie in diesem Antrag,
dass dieses hohe Gut der sozialen Rechte, das auch erkämpft worden ist, nicht genug geschätzt wird. Glauben
Sie mir: Ich weiß, wovon ich rede. Die ehemalige DDR
hatte auch sogenannte soziale Rechte. Da waren Klagen
absolut unerwünscht. Es war nicht so, dass man da etwas
bekommen hat.
Meine Fraktion weiß, dass das zergliederte Sozialsystem ein großes Problem darstellt, nicht nur für Menschen
mit Behinderung. Wir alle haben hier gemeinsam 2001
mit dem Sozialgesetzbuch IX ein deutliches Zeichen gesetzt, um dieser Zergliederung zu begegnen.
Man kann auch nicht pauschal die Leistungsträger
verurteilen und sagen, sie sähen das alles nur unter Kostenaspekten. Sie haben natürlich auch die Pflicht, verantwortlich mit den Steuer- und Beitragsmitteln umzugehen. Das ist so.
({1})
In den letzten Jahren sind die Haushalte deutlich geschrumpft, gerade in den Kommunen. Da gibt es Probleme. Wir haben die Kostenexplosion in der Eingliederungshilfe.
Hier wollen wir als SPD neue Wege gehen. Wir haben
sie Ihnen vorgestellt. Wir haben in unserem Positionspapier zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, ein Teilhabegesetz für Menschen mit
Behinderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufzunehmen. Wir haben vorgeschlagen, zu prüfen, ob man
die Leistung der Eingliederungshilfe als Leistungsbestandteil in das SGB IX aufnimmt. Wir haben den Gedanken „Leistungen aus einer Hand“ in unserem Positionspapier noch einmal deutlich festgeschrieben. Wir
wollen natürlich auch ein Teilhabegeld.
Wir können deutlich sehen, dass viele Schnittstellenprobleme auftreten, gerade im Bereich der Behindertenpolitik. Ich möchte ein Thema nur anreißen, und das ist
die Frühförderung. Seit zehn Jahren existiert sie, und wir
haben noch keine endgültige Lösung. Ich hoffe, dass das
Rundschreiben von BMAS und BMG jetzt auch Früchte
trägt und die Eltern endlich zu ihrer Komplexleistung, so
wie im SGB IX festgeschrieben, kommen. Die Eltern
warten darauf. Wir müssen die Verschiebebahnhöfe und
die Kleinstaaterei der Träger beenden; wir müssen sie
einfach aufheben.
({2})
Wir wollen klare Kompetenzen im SGB IX schaffen,
die Rechte der Betroffenen stärken und in der Praxis
konsequent umsetzen. Auch das haben wir in unserem
Positionspapier deutlich gemacht. Das ist der richtige
Weg; hier sind wir uns alle einig.
Natürlich gibt es den Beratungsanspruch gegenüber
den Leistungsträgern; das ist schon erwähnt worden.
Aber es gibt Tausende von Beratungsstellen. Jede verfügt über ein bestimmtes Teilwissen. Die Menschen werden auch weiterhin von Pontius zu Pilatus geschickt. Wir
wollten das mit unserem Konzept der Servicestellen ändern. Auch Ulla Schmidt hat das mit den Pflegestützpunkten deutlich gemacht.
Die Akzeptanz der Beratungsstellen ist mitunter sehr
gering. Sie werden in den Ländern auch sehr unterschiedlich bewertet. Die Menschen, besonders ältere
Bürger und Bürgerinnen sowie Menschen mit Behinderung, brauchen eine trägerunabhängige und wohnortnahe Beratungsstelle. Sie brauchen, wie wir immer wieder einfordern, Beratung aus einer Hand.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD
stimmt Ihnen zu: Beratung und Zugang zu Sozialleistungen müssen barrierefrei sein. Hier geht es nicht nur um
den barrierefreien Zugang zu Behörden oder zu den
Leistungsträgern, sondern auch um eine einfache und
deutliche Verständigung. Es sind nicht nur die Gebärdensprache und der Bescheid in Brailleschrift gefragt. Es
gibt 7,5 Millionen funktionale Analphabeten, die Sozialleistungen nicht erreichen können, weil sie es nicht
verstehen und nicht begreifen. Das sind nicht wenige.
Frau Schavan hat in diesem Zusammenhang schon mit
einem Förderprogramm im Umfang von 20 Millionen
Euro reagiert.
Wir vergessen auch nicht, dass es im Sinne der UNBehindertenrechtskonvention verpflichtend ist, dass
Menschen mit Lernbehinderung ihre Informationen in
schriftlicher oder mündlicher Form in einfacher Sprache
von der Behörde erhalten. Wir alle kennen den Ausdruck
Behördendeutsch. Manchmal haben auch wir in unserer
Bürgersprechstunde Probleme, einen Bescheid zu lesen;
das wissen wir alle.
Seitdem es den Rechtsanspruch auf das trägerübergreifende Persönliche Budget, seit 2008, gibt, ist besonders deutlich geworden: Wir haben das festgeschrieben,
aber es läuft schleppend. Wir könnten hier Beispiele aufzählen. Wir wissen durchaus, dass dieses Budget blockiert wird.
({3})
Menschen müssen vor Gericht ziehen - und das täglich.
Sie kämpfen. Die Bürger und Bürgerinnen werden immer noch so behandelt, als wären sie Bittsteller.
Die meisten Budgets gibt es im Sozialhilfebereich.
Hierzu muss man feststellen, dass die Kooperation der
Träger untereinander nicht funktioniert und man hierfür
einfach Gesetzesänderungen braucht.
Silvia Schmidt ({4})
Das SGB IX sollte gerade hier neue Grundsätze definieren und trägerübergreifende Leistungen aus einer
Hand überhaupt ermöglichen. Das ist nicht erreicht worden. Es gibt in diesem Land offenbar noch immer Sozialleistungsträger, die die gesetzlichen Vorgaben und
vor allem den Willen dieses Hohen Hauses ignorieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gebe Ihnen recht: Ein einheitliches Planverfahren in allen Sozialgesetzbüchern ist sinnvoll. Das SGB IX bietet hierfür
Orientierung. Der ehemalige Staatssekretär und
Behindertenbeauftragte aus Rheinland-Pfalz, Richard
Auernheimer, hat es einmal so zusammengefasst:
Die Hilfeplanung ist out, das Denken muss sich an
Teilhabe orientieren. …
Das Von-oben-Herab … der alten Verwaltungspraxis hat seine Wurzeln in der öffentlichen Fürsorge.
… Die … Sachbearbeiter brauchen Qualifizierung,
um an die neue Praxis herangeführt zu werden. Der
Hilfeempfänger soll nach SGB IX Teilhabeberechtigter sein. Der Paradigmenwechsel vollzieht sich
in der Alltagsform.
Der Teilhabeberechtigte muss in diesem Verfahren
mit seinen Interessen beachtet werden. … Die Feststellung des Bedarfs an Unterstützung zur Teilhabe
kann nicht eine Stelle allein treffen. Es müssen alle
beteiligt werden, … Die Kostenträger haben Gewohnheiten entwickelt. Noch immer ist es für den
Sachbearbeiter beruhigend, jemanden gut untergebracht zu wissen.
Das neue Denken, gefordert in der Teilhabekonferenz, muss erst erlernt werden. Die Entscheidung
darf im Teilhabeverfahren nicht übergestülpt werden. Es ist eine gemeinsame Suche nach der richtigen Entscheidung.
Das heißt, dieses Planverfahren sollte für alle Sozialgesetzbücher gelten. Ich hoffe, wir werden im Ausschuss
intensiv darüber diskutieren. Es ist der richtige Vorschlag. Wir haben ihn in unseren Positionspapieren und
in anderen Anträgen bereits deutlich gemacht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Heinz Golombeck hat nun das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unsere Politik ist vom Respekt vor den Bürgerrechten geprägt. Ziel ist es, diese Rechte so zu gestalten, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potenziale
und Möglichkeiten in unserem sozialen Rechtsstaat nutzen können und für den Einzelnen neue Chancen eröffnet werden. Eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und
Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung
stehen dabei im Mittelpunkt. Teilhabe zu ermöglichen,
ist das Ziel unserer Sozialpolitik.
({0})
Wir sind auf einem guten Weg, all die Bürgerinnen
und Bürger, die soziale Leistungen in Anspruch nehmen,
in ihren Teilhabe- und Leistungsrechten zu stärken. Hervorheben möchte ich die Leistungsrechte für Menschen
mit Behinderung. Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am
gesellschaftlichen Leben ist eine umfassende Barrierefreiheit. Das Sozialgesetzbuch I sieht bereits in § 17
Abs. 1 Nrn. 3 und 4 vor, dass der Zugang zu Sozialleistungen möglichst einfach zu gestalten ist und die Verwaltungs- und Dienstgebäude frei von Zugangs- und
Kommunikationsbarrieren sein sollen. Art. 9 der UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen den
Zugang zu Information und Kommunikation zu gewährleisten.
Mit § 4 Behindertengleichstellungsgesetz wurde für
den Bund ein umfassendes Verständnis von Barrierefreiheit entwickelt. Handlungsbedarf besteht sicherlich hinsichtlich einer Forderung aus dem hier vorliegenden Antrag, die sogenannte leichte Sprache für Menschen mit
Lernschwierigkeiten ausdrücklich als Anforderung an
Barrierefreiheit zu definieren.
({1})
Um die sogenannte leichte Sprache ausdrücklich als
Anforderung an Barrierefreiheit zu definieren, fehlt es
jedoch noch an einer hinreichenden Festigung der Erkenntnis zu „leichter Sprache“. Daher wird eine konkrete Regelung in den Sozialgesetzbüchern zum jetzigen
Zeitpunkt noch abgelehnt. Damit aber aus diesen Kommunikationsschwierigkeiten nicht ein Fehlverhalten resultiert, wurde Ende letzten Jahres eine neue Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung in Kraft gesetzt.
Diese Verordnung hat die Regelung einer „leichten Sprache“ aufgenommen. Deren Umsetzung wird nach drei
Jahren evaluiert.
Damit unterstützen wir die Feststellung der UN-Behindertenrechtskonvention, dass die Herstellung von
Barrierefreiheit ein dynamischer Prozess ist, der schrittweise und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu vollziehen ist.
({2})
Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt von allen
Vertragsstaaten und auf allen Ebenen, die in ihr verankerten Rechte planmäßig in der Politik zu verfolgen.
Viele Inhalte der Konvention haben wir, wie gerade aufgezeigt, schon durch Einzelgesetze geregelt.
Die FDP hat sich jedoch seit jeher dafür eingesetzt,
eine ausufernde Gesetzeslage, besonders in der Behindertenpolitik, zu lichten. Ziel der Leistungsgesetze für
behinderte Menschen muss deshalb sein, bisher bestehende Regelungen weiter zusammenzufassen, zu vereinfachen und somit noch transparenter und zugänglicher
zu machen.
({3})
Die Inanspruchnahme von sozialen Leistungen soll dabei auf die Bedürfnisse der anspruchsberechtigten Personen ausgerichtet sein. Einbeziehung statt Ausgrenzung
ist sozialpolitisch dringend geboten.
Eine zentrale Staatsaufgabe ist die Sicherung von
Chancen- und Leistungsgerechtigkeit für alle Menschen.
Allen Bürgern muss ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Handeln ermöglicht werden.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der eigentümlichste Moment in dieser Debatte war, als vor
wenigen Minuten der Kollege Birkwald das Hohelied,
die Hohe Messe von Freiheit und Würde zelebriert hat,
({0})
ganz so, als hätten es die Linken erfunden.
({1})
Man muss in solchen Momenten immer wieder sagen,
meine Damen und Herren: Über der Partei der Linken
liegt der lange Schatten des real existierenden Sozialismus, in dem Freiheit und Würde der Menschen mit Füßen getreten worden sind.
({2})
Ich wäre an Ihrer Stelle angesichts der vielen Opfer ein
wenig demütiger, wenn ich über Freiheit und Würde
spräche.
({3})
Wir reden über den Antrag der Grünen „Soziale Bürgerrechte garantieren - Rechtsposition der Nutzerinnen
und Nutzer sozialer Leistungen stärken“. Es handelt sich
um einen sehr ausführlichen Antrag.
({4})
Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass es hier sehr differenzierte Positionen gibt. Ich denke da zum Beispiel an
den Beitrag des Kollegen Wadephul oder den Beitrag der
Kollegin Kramme. Ich will, weil wir die Diskussion natürlich auch im Ausschuss fortführen, an dieser Stelle
nur eine erste Bewertung abgeben. Ich habe schon den
Eindruck, dass wie bei vielen Anträgen der Grünen Licht
und Schatten eng beieinanderliegen.
Viele Stichpunkte der Grünen, etwa die in Ziffer 5 genannten, kann ich im Grundsatz unterstützen. Hier geht
es um eine Stärkung der Selbstverwaltung der Sozialleistungsträger. Die Praxis der Friedenswahlen etwa so weit
wie möglich zurückzudrängen, ist, so denke ich, ein gemeinsames Ziel. Das ist im Übrigen auch eine Forderung, die vom Bundesbeauftragten für die Sozialwahlen,
Gerald Weiß, ganz klar unterstützt wird. Aber es kommt
eben auf das Detail an. Deshalb lassen Sie uns den
Schlussbericht des Bundeswahlbeauftragten zu den Sozialwahlen abwarten. Dieser Bericht wird eine Reihe
von Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Sozialwahlrechts und der Selbstverwaltung beinhalten. Lassen Sie
uns auf Grundlage dieses Berichtes über die Weiterentwicklung des Sozialwahlrechts debattieren.
Ich bin auch nahe bei Ihnen, wenn es darum geht,
Mittel zu finden, die Flut der Sozialgerichtsverfahren
einzudämmen. Hier könnte die Idee eines Ombudsmannes bzw. einer Ombudsfrau durchaus hilfreich sein.
Viele Verfahren könnten vermieden werden, wenn die
Bescheide vernünftig erklärt würden. Hier steht unsere
Fraktion schon seit einiger Zeit in engem Dialog mit
dem Ministerium, um Modelle einer solchen vorgerichtlichen Streitklärung zu prüfen. Es muss übrigens nicht
immer Geld kosten. Ich könnte mir durchaus vorstellen,
dass in Hessen beispielsweise die Sozialbezirksvorsteher
in eine solche Funktion mit eingebunden werden könnten.
An anderer Stelle kann ich Ihnen nicht folgen. Das
betrifft zum Beispiel die Fiktion der Klagerücknahme,
die Sie ansprechen. Wenn jemand trotz Aufforderung
des Gerichts eine Klage länger als drei Monate nicht betreibt, gilt sie als zurückgenommen. Sie stellen dieses
Vorgehen infrage. Aber diese Regelung im sozialgerichtlichen Verfahren ist keine Orchidee in der Prozesslandschaft, sondern eine sachgerechte Antwort auf die Vielzahl der Prozesse.
Wer seine Rechte ernsthaft verfolgt, schafft es innerhalb von drei Monaten, selbst oder durch einen Bevollmächtigten eine Prozesshandlung vorzunehmen. Auch
das hat etwas mit unserem Verständnis vom Menschen
zu tun.
Im Übrigen lässt der Antrag der Grünen auch einen
Blick auf das den Grünen zugrunde liegende Menschenbild oder zumindest auf ihre Unsicherheit mit dem Menschenbild zu. Ich will das anhand von drei Bereichen erläutern; vielleicht lohnt sich eine Diskussion darüber
schon deshalb, wenn sie zur Klärung Ihrer eigenen Position beiträgt.
Da ist zum einen das seltsame Oszillieren zwischen
dem Leitbild eines selbstständigen und eines betreuten
Menschen. Sehr häufig betonen Sie in Ihrem Antrag Partizipationsrechte; auch wollen Sie die Eigeninitiative der
Menschen fördern. Das kommt unserem Menschenbild
sehr nahe: Der Mensch ist mündig, vernunftbegabt und
frei, über seine Bindungen selbst zu entscheiden. Er gestaltet sein Leben selbst. Gleichzeitig wollen Sie die
Freiheit und Selbstverantwortung gewissermaßen risikofrei stellen. Die Belehrung über Rechtsfolgen beispielsweise soll grundsätzlich schriftlich erfolgen, auch wenn
die Rechtsfolgen bekannt sind. Sie wollen die Präklusionsklausel einer Evaluation unterziehen, und auch hier
spürt man die Absicht: Sie wollen damit die Tür für eine
weitere staatliche Sicherungsleine für den betreuten
Menschen öffnen. Dahinter steht: Wenn der Mensch
nicht selbst das für sich Beste tut, muss es der Staat tun.
Die Grünen trauen Menschen, die auf soziale Leistungen
angewiesen sind, nicht zu, sich selbst aus dieser Situation zu befreien. Jeder Schritt muss vorgegeben werden.
Das ist nicht das Verständnis der Union vom Menschen
und vom gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ich will
nicht unterstellen, Sie wollten die Menschen zwangsbeglücken. Doch ein wenig fällt diese Diskrepanz zwischen dem Leitbild des selbstständigen und dem des betreuten Menschen in Ihrem Antrag schon auf.
({5})
Wäre ich zynischer Marxist, würde ich sagen: Kein
Wunder, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Schließlich
lebt ein Großteil der Grünen auf die eine oder andere
Weise von Staatsknete und kennt die Risiken eines
selbstverantwortlichen Lebens etwa in freien Berufen
nur aus Erzählungen anderer.
({6})
Es ist schon kuschelig unter der warmen Decke staatlicher Zuwendungen.
({7})
Dies, meine Damen und Herren, würde ich in der Tat nur
dann sagen, wenn ich ein zynischer Marxist wäre.
Ernster scheint mir bei Ihnen das ungeklärte Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten. Schon in anderen
Debatten ist dies deutlich geworden; einiges wiederholt
sich hier. Es betrifft vor allem die Regelungen des
SGB II. Sie wollen die geltenden Sanktionsregelungen
flexibilisieren, den Grundbedarf nicht mehr sanktionieren und ein Sanktionsmoratorium erlassen. Ich meine
hingegen: Gerade in diesem Bereich gibt es nicht nur
Rechte, sondern auch Mitwirkungspflichten. Wer gegen
diese Pflichten verstößt, muss mit Sanktionen rechnen.
Das sind wir schon alleine denjenigen schuldig, die die
ganzen Leistungen finanzieren.
Aber auch rechtstechnisch kann meines Erachtens ein
Versäumnis, seine Pflichten zu erfüllen, durchaus als
Verzicht auf Leistungen interpretiert werden. Herr
Kurth, ich erkenne an, dass Sie nicht die umstandslose
Abschaffung aller Sanktionen fordern, wie es eine andere Fraktion in diesem Haus tun. Mir scheint aber doch,
dass gerade dann, wenn man von dem mündigen und
selbstbestimmten Menschen ausgeht, das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten bei Ihnen noch der Feinjustierung bedarf.
Mein letzter Punkt ist der von Ihnen hergestellte Zusammenhang zwischen Leistungsrechten und der Legitimation des sozialen Rechtsstaats. Ein wenig davon war
in den vergangenen Monaten auch in der Debatte über
die Neuberechnung des Arbeitslosengeldes II zu spüren.
Wir hatten damals bestimmte anteilige Bestandteile aus
den Grundbedürfnissen herausgerechnet, etwa Geld für
Zigaretten und Alkohol, für einen Lieferservice für
Essen oder für das Kabelfernsehen.
({8})
Sie haben das damals vehement kritisiert, ganz so, als sei
der umstandslose Hedonismus Ihre Leitvorstellung für
die erneute Integration in den Arbeitsmarkt.
Wir hingegen meinen: Es ist Aufgabe des Staates,
Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Nach unserem Verständnis ist es die Aufgabe eines jeden Einzelnen, der dazu fähig und in der Lage ist, sein Leben so zu gestalten, dass
er Zufriedenheit und Glück finden kann.
({9})
Die Legitimation unseres Gemeinwesens hängt sehr viel
mehr davon ab, dass wir den Menschen diese Freiheit ermöglichen. Der Kern unserer politischen Ordnung und
ihrer Legitimität ist die Tatsache, dass sie eine Freiheitsordnung ist, und nicht, dass sie möglichst viele und hohe
Wohltaten verteilt.
({10})
Gerade dann, wenn wir dies tun, nehmen wir den
Menschen als Subjekt ernst. Sie beklagen, dass der Staat
den Menschen bisweilen zum bloßen Objekt mache. Das
mag an der einen oder anderen Stelle, die Sie im Antrag
aufgeführt haben und die auch in der Debatte zur Sprache kam, durchaus so sein. Aber noch viel mehr macht
Ihr politischer Ansatz den Menschen zum Objekt, nämlich zum Experimentierfeld fürsorglicher staatlicher Belagerung, zum Projekt sozialstaatlicher Planung, zum betreuten Menschen eben.
({11})
Sie haben einen paternalistischen Zugang zur Sozialpolitik. Wir hingegen nehmen den Menschen als Subjekt
und als selbstverantwortlichen und freien Menschen
ernst und sehen sozialstaatliche Hilfe im Wesentlichen
als Hilfe zur Selbsthilfe. Sie sehen den Staat als Selbstbedienungsladen für soziale Ansprüche. Wir sehen den
Staat als Gemeinschaftsaufgabe, die alle finanzieren.
({12})
Sie interpretieren die Gesellschaft vom Rande her, also
von den unterschiedlichen Interessengruppen her, wie es
eine Klientelpartei nun einmal tut. Wir interpretieren die
Gesellschaft aus der Mitte heraus und zur Mitte hin, wie
dies Volksparteien - bei dem Plural zögere ich etwas gewöhnlich tun.
Ihr Antrag gab Anlass, über diese Unterschiede einmal im Hohen Haus nachzudenken. Zumindest dafür
darf ich mich bei Ihnen herzlich bedanken.
({13})
Das Wort hat Gabriele Lösekrug-Möller für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben eine ziemlich lange Debatte zu einem sehr ausführlichen Antrag der Grünen. Ich finde es richtig, dass wir in
dieser Zeit über dieses wichtige Thema reden. Selbstverständlich wird auch in der Sozialdemokratie intensiv
über dieses Themenfeld diskutiert.
Wir sprechen über die zwölf Bücher, die das Sozialgesetzbuch insgesamt beinhaltet. Es gibt wirklich Grund,
das eine oder andere in diesen Büchern auf den Prüfstand zu stellen. Das müssen wir kontinuierlich tun;
denn wir wissen: Keines dieser zwölf Bücher ist in Stein
gemeißelt.
Am Anfang des SGB I werden die Aufgaben des Sozialgesetzbuchs beschrieben. In § 1 Abs. 1 heißt es, die
Aufgabe sei,
ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche
Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen,
zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine
frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur
Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.
Es stellt sich jetzt nicht mehr die Frage, ob wir uns das
leisten können; denn wir haben diesen Anspruch, angefangen beim SGB I bis hin zum SGB XII, zu erfüllen.
({0})
Wenn ich den Antrag der Grünen genauer betrachte,
dann muss ich sagen, dass sich die Ergebnisse Ihrer
Fachkonferenz, die im Mai letzten Jahres stattgefunden
hat, in Ihrem Antrag, über den wir jetzt im Plenum debattieren, niedergeschlagen haben. Das ist ein normaler
Vorgang; das finde ich völlig in Ordnung.
Es gibt aber einen Punkt in diesem Antrag, den ich
beklage. Herr Kurth, da spreche ich Sie jetzt an, weil Sie
in diese Debatte eingeführt haben. Sie malen ein meines
Erachtens viel zu düsteres Bild.
({1})
Da sind Ihnen ein paar leuchtende Farben abhanden gekommen. Vielleicht standen sie Ihnen auch nicht zur
Verfügung. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem
umfangreichen Antrag noch einen Satz aufgenommen
hätten, in dem gewürdigt wird, wie viele Vorgänge und
wie viele Verfahren korrekt abgelaufen sind, wie viele
Bescheide korrekt ergangen sind und wie groß die Anzahl der Beratungs- und Informationsgespräche war, die
auf Augenhöhe stattgefunden haben. Auch das gehört zu
unserem sozialen Rechtsstaat heute dazu.
({2})
Gleichwohl haben wir in diesem Haus öfter Anlass,
zu streiten, weil etwas nicht so funktioniert, wie wir das
aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven gerne hätten.
Auch das haben wir heute erlebt. Wir haben Reden gehört, die eher den Gutmenschen in den Mittelpunkt gestellt haben. Andere Redner haben gesagt, dass all das,
was man in einem sozialen Rechtsstaat organisieren will,
der wichtigen Frage unterliegt, ob wir uns das leisten
können.
Ich möchte allen in diesem Haus sagen: Wir können
stolz auf den sozialen Rechtsstaat sein, den wir weiter
entwickeln wollen. Hier sind wir an Ihrer Seite, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Wenn wir
das unter dem Vorbehalt der Kassenlage machen, müssen wir uns fragen, ob wir dem eben zitierten Anspruch
des § 1 Abs. 1 SGB I gerecht werden. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir Politik entwickeln müssen. Da
stelle ich Folgendes fest: Wenn es Vorschläge gibt, unser
Recht zu ändern, dann müssen wir uns fragen, ob die
Probleme, mit denen viele Bürgerinnen und Bürger konfrontiert werden, wirklich aus der Rechtslage oder ob sie
nicht viel häufiger aus der Umsetzung des Rechts resultieren.
({3})
Meines Erachtens ist das Zweite viel öfter der Fall.
Meine Kollegin Silvia Schmidt hat das sehr deutlich gesagt. Auch Frau Kramme hat das in den Mittelpunkt ihrer Rede gestellt. Ich denke, was die unzureichende Umsetzung angeht, gibt es eine Menge zu tun. Meines
Erachtens können wir hinsichtlich der Umsetzung vieler
Vorschriften der Bücher des SGB besser werden als wir
sind. Dazu brauchen wir die umsetzenden Behörden an
unserer Seite. Wir brauchen selbstverständlich auch Behörden, die die Haltung einnehmen: Wir haben denjenigen gegenüber, die zu uns kommen und ihr gutes Recht
in Anspruch nehmen wollen, eine Dienstleistung zu erbringen. - Manchmal, glaube ich, ist der Alltag in vielen
Behörden ein anderer. Er wäre so nicht zu beschreiben.
Deshalb sage ich: Bevor wir allen Forderungen, die Sie
aufstellen, entsprechen, sollten wir zunächst einmal prüfen, wo wir Umsetzungsprobleme haben und wo Handlungsbedarf besteht, der rechtfertigt, dass wir unsere Gesetze ändern. Dies ist zum Teil angesprochen worden,
auch von Frau Kramme.
Im Blick auf das große Thema Inklusion haben wir
eine Menge rechtlichen Änderungsbedarf, wenn wir
ernst nehmen, wozu wir uns, das gesamte Haus, verpflichtet haben. Meines Erachtens haben wir in diesem
Sinne sehr viel - ich benutze mit Absicht das Wort - zu
liefern, weil Menschen erwarten, dass wir den vollmundigen Bekundungen jetzt auch Taten folgen lassen.
Da meine Redezeit bald zu Ende ist, will ich einen
Punkt ansprechen, der hier mehrfach genannt wurde. Es
geht um die Frage: Wie gehen wir mit Bitten und Beschwerden um? Wir haben die Bestellung eines Ombudsmanns oder einer Ombudsfrau erörtert. Das ist
sicher ein möglicher Weg. Wir haben schon heute Petitionen, in denen sich zahlreiche Bürger - Zigtausende
kann man sagen - mit Beschwerden über die Umsetzung
der SGB-Normen an den Bundestag wenden. Ich nenne
eine Beschwerde, die deutlich macht, wo meines Erachtens ein großes Problem liegt. Uns hat eine Frau geschrieben, dass sie nicht versteht, warum Kinder aus
Bedarfsgemeinschaften gegen Sanktionsandrohung zu
Gruppengesprächen eingeladen werden, wenn sie kurz
vor dem 15. Lebensjahr sind, weil sie sich beraten lassen
müssen, wie es mit Bildung und Ausbildung weitergehen soll. Sie fragt: Warum steckt diese Pflicht dahinter?
Die Kinder können nichts dafür, dass ich von meiner
Hände Arbeit weder selbst leben noch meine Kinder
finanzieren kann. - Das ist in der Tat diskriminierend. Es
ist ein Beispiel für eine kleine Regelung, die vielleicht
gut gemeint ist, aber schlecht umgesetzt wird.
Wir haben eine Fülle solcher berechtigter Kritikpunkte. Wir haben jede Menge zu tun. Wir können den
Antrag der Grünen zum Anlass nehmen, hier besser zu
werden. Es wäre wunderbar, wenn bei der Debatte und
dem Ringen um gute Lösungen nicht jene unter die
Räder kommen, die hohe Erwartungen an uns als Gesetzgeber haben. Sie nehmen nämlich unseren sozialen
Rechtsstaat ernst. Sie wollen, dass die Rechte, die sie haben, respektiert werden, und zwar sowohl vom Gesetzgeber als auch von den Behörden, die ihren Zuwendungsbescheid erteilen.
Vielen Dank.
({4})
Sebastian Blumenthal kommt jetzt zu Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Kurth, Sie hatten vorhin versucht, sich mit der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als Vorkämpfer der individuellen Freiheit in Szene zu setzen.
({0})
Das nenne ich politische Kühnheit. Ihre programmatischen Leitlinien folgen gewöhnlich dem Dreiklang Restriktion, Regulierung und Verbote.
({1})
Das hat mit Freiheit wirklich wenig zu tun, dafür umso
mehr mit Fremdbestimmung und Bevormundung.
Ich wollte aber eigentlich etwas Lobendes zu Ihrem
Antrag sagen, auch wenn dieser dazu offenkundig nicht
viel Anlass bietet. Auf Seite 3 unter Punkt 5 Ihres Antrags haben Sie allerdings das Thema Sozialwahlen angesprochen und dort Reformbedarf angemeldet. Das ist
ein Punkt, der uns inhaltlich verbindet und den ich einmal konstruktiv aus Sicht der FDP-Fraktion darstellen
möchte.
Ich selbst bin Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung und habe mich an den letzten Sozialwahlen
beteiligt. Dabei habe ich mich, genau wie viele andere
Versicherte, darüber geärgert, dass das ganze Verfahren
mehr als 40 Millionen Euro gekostet hat, wie man in der
Bilanz zur Kenntnis nehmen musste. Dabei konnte eine
Wahlbeteiligung von gerade einmal 30 Prozent verzeichnet werden.
Gründe hierfür gibt es sicher viele. Zum einen ist für
viele nur schwer nachvollziehbar, was die gewählten
Gremienmitglieder eigentlich zu entscheiden haben.
Zum anderen ist es genauso schwer, die verschiedenen
Positionen der Kandidaten inhaltlich zu prüfen, um sich
selbst eine Meinung für die Wahlentscheidung bilden zu
können.
Erschwerend kommt ferner hinzu, dass die allermeisten Wahlen sogenannte Friedenswahlen sind; das heißt,
die Vorschlagslisten sind nicht nur schon vorab ausgehandelt, sondern die Kandidaten sind im Grunde damit
bereits gewählt. Mit einer wirklichen Wahl hat das nicht
viel zu tun. Von insgesamt 10 000 Mandaten in den Gremien werden letztlich nicht einmal 200 Mandate über die
Stimmenabgabe vergeben.
Insofern gibt es bei den Sozialwahlen zu wenig Transparenz; auch das Kriterium einer echten Auswahlmöglichkeit ist nicht komplett erfüllt. Mein Kollege
Johannes Vogel hat dazu im Rahmen der letzten Sozialwahlen ein sehr gutes Statement abgegeben, das ich
gerne wiederhole: Wir brauchen einen echten Wettbewerb zwischen mehreren Kandidaten; und es muss
klar sein, wie die Vereinigungen ihre Kandidaten auswählen. - Wohl wahr! Den Kollegen Vogel kann man
gar nicht oft genug zitieren. In diesem Fall mache ich es
ganz besonders gerne.
({2})
Angesichts dieser Situation sehen wir, dass auf jeden
Fall noch Reformbedarf besteht. Diesen Punkt - einer
der wenigen positiven - haben Sie in Ihrem Antrag erfreulicherweise herausgestellt. Der Kollege von der
Union hatte vorhin bereits dargestellt, dass es hierzu
Reformvorschläge geben wird. Den Antrag kann man in
diesem Punkt zur Grundlage nehmen, hier gestalterisch
mitzuwirken. Wir werden seitens der FDP-Fraktion
eigene Vorschläge und Beiträge einbringen. Insofern
freue ich mich auf die weiteren Beratungen im parlamentarischen Verfahren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Freunde von den Grünen,
({0})
mit Ihrem Antrag „Soziale Bürgerrechte garantieren Rechtsposition der Nutzerinnen und Nutzer sozialer
Leistungen stärken“ und Ihrer damit verbundenen Forderung nach einer Stärkung der Verfahrens-, Leistungsund Partizipationsrechte der Nutzer sozialer Leistungen
glänzen Sie einmal mehr mit einem weder zielführenden
noch notwendigen Antrag.
Lieber Kollege Kurth, es wurde bereits einiges ausgeführt. Hätten Sie sich in Ihrem Antrag auf die Ziffer II.16
beschränkt, dann hätten wir dem Antrag noch einiges
Positive abgewinnen können. Alles andere indiziert aber
offensichtlich, dass Sie mit Ihrem Antrag so tun, als ob
Sie jetzt soziale Beteiligungsrechte einführen wollen, die
es noch nicht gibt.
Von Frau Kollegin Lösekrug-Möller wurde bereits § 1
des SGB I zitiert. Die Juristen unter uns wissen, dass das
SGB I quasi die Klammer sämtlicher Sozialgesetze darstellt. Die Vorschriften im SGB I gelten für alle Sozialgesetze. Im SGB I ist unter anderem der Beratungsanspruch in § 14 geregelt, und in § 15 ist der
Auskunftsanspruch normiert. Ich darf mit Erlaubnis der
geschätzten Frau Präsidentin zitieren:
({1}) Die nach Landesrecht zuständigen Stellen, die
Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und
der sozialen Pflegeversicherung sind verpflichtet,
über alle sozialen Angelegenheiten nach diesem
Gesetzbuch Auskünfte zu erteilen.
({2}) Die Auskunftspflicht erstreckt sich auf die Benennung der für die Sozialleistungen zuständigen
Leistungsträger sowie auf alle Sach- und Rechtsfragen, die für die Auskunftsuchenden von Bedeutung
sein können und zu deren Beantwortung die Auskunftsstelle imstande ist.
({3}) Die Auskunftsstellen sind verpflichtet, untereinander
- auch da tun Sie so, als ob ein Kleinkrieg zwischen den
jeweiligen Sozialleistungsträgern herrschte und mit den anderen Leistungsträgern mit dem Ziel
zusammenzuarbeiten, eine möglichst umfassende
Auskunftserteilung durch eine Stelle sicherzustellen.
Sie müssten einfach einmal ins Gesetz schauen. Ein
Blick ins Gesetz erleichtert das Verständnis des bestehenden Rechts.
({4})
In § 17 ist die Ausführung der Sozialleistungen normiert. Hier ist unter anderem bestimmt:
({5}) Die Leistungsträger sind verpflichtet, darauf
hinzuwirken, daß …
3. der Zugang zu den Sozialleistungen möglichst
einfach gestaltet wird, insbesondere durch Verwendung allgemein verständlicher Antragsvordrucke
und
- wir diskutieren über Formulare; die Frage der „leichten
Sprache“ wurde bereits von den Vorrednern thematisiert 4. ihre Verwaltungs- und Dienstgebäude frei von
Zugangs- und Kommunikationsbarrieren sind und
Sozialleistungen in barrierefreien Räumen und Anlagen ausgeführt werden.
All dies steht bereits im Gesetz, Herr Kurth; dazu
brauchen wir Ihren Antrag nicht.
({6})
- Es nützt aber nichts, eben schnell ein neues Gesetz zu
machen. Dann lassen Sie uns an den Stellen auf Ände-
rungen hinwirken, an denen nichts geregelt ist. Ich teile
da die Auffassung der meisten Vorredner. Sie haben bei
den bisherigen Wortbeiträgen feststellen können, dass
der Antrag mit großer Wahrscheinlichkeit keine Aus-
sicht auf Erfolg hat, weil sich fast alle Redner - mit Aus-
nahme der Kollegen von der Linken - skeptisch zu
Ihrem Antrag äußern.
Sie tun so, als ob es hier um ein Massenphänomen
ginge. Ja, es gibt Missstände; die Vorredner haben darauf
hingewiesen. Auf Einzelfälle müssen wir eingehen. Aber
es ist schon sehr weit hergeholt, hier pauschal zu sagen,
die Sozialstaatlichkeit in Deutschland sei noch nicht um-
gesetzt. Ihrer Ansicht nach sollen die Effektivität, die Ef-
fizienz sowie die Legitimationsbasis des sozialen
Rechtsstaats gesteigert werden. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, Sie verkennen jedoch
schlichtweg, dass, wie ich bereits ausgeführt habe, die
meisten der von Ihnen geforderten Maßnahmen weder
zielführend noch notwendig sind.
Unsere sozialen Sicherungssysteme gehören - auch
darauf wurde von den Vorrednern bereits hingewiesen -
zu den leistungsfähigsten der ganzen Welt und bieten
den Menschen einen verlässlichen Schutz, wenn sie in
Not geraten. Nennen Sie mir ein Land der Welt, das sich
nicht bemühen würde, ein vergleichbares soziales Siche-
rungssystem, wie es in Deutschland besteht, zu installie-
ren, wenn es finanziell machbar wäre! Das Recht des
Sozialgesetzbuchs trägt durch Sozialleistungen zur Ver-
wirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicher-
heit bei und gestaltet sie zudem durch soziale und erzie-
herische Hilfen mit.
Vorhin wurde hier, ebenso im Antrag, die Befürch-
tung einer Abschaffung der Sozialgerichte geäußert. Das
war bereits in der letzten Legislaturperiode ein Thema.
Aufgrund der Spezifität der Sozialgerichtsbarkeit macht
es Sinn - darauf wurde bereits hingewiesen -, sie nicht
unter die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu subsumieren,
sondern sie als eigenständigen Gerichtszweig zu erhal-
ten. Ich gehe davon aus, dass es auch in Zukunft dabei
bleiben wird. Ich kenne zumindest zum aktuellen Zeit-
punkt keine diesbezügliche Diskussion. Es besteht keine
Notwendigkeit, die Leute, auch die Beschäftigten und
Mitarbeiter im Sozialgerichtsbereich, zu verunsichern;
denn eine solche Diskussion wird nicht geführt.
Im Übrigen hat bereits heute nach dem Sozialgesetz-
buch jeder einen umfassenden Anspruch auf Beratung;
dieser wird durch weitere Formulierungen zu den Bera-
tungsangeboten in den jeweiligen Sozialgesetzbüchern
konkretisiert. Ich habe bereits auf § 16 SGB I hingewie-
sen. Darüber hinaus möchte ich kurz den Pflegebera-
tungsanspruch nach § 7 a SGB IX ansprechen - die Pfle-
gestützpunkte wurden von Vorrednern angesprochen; bei
uns in Würzburg wurde der Pflegestützpunkt im Dezem-
ber 2011 offiziell in Betrieb genommen -, ebenso die
Sicherung der Beratung behinderter Menschen nach § 61
SGB IX - die gemeinsamen Servicestellen wurden hier
bereits thematisiert -, die Beratung und Unterstützung
nach § 11 SGB XII und § 22 SGB IX und die Beratung
nach §§ 29 bis 34 SGB III. Sie sehen, meine Damen und
Herren, dass folglich mitnichten von einem Mangel an
Beratungsansprüchen gegenüber den Leistungsträgern
gesprochen werden kann.
Des Weiteren gewährt Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz
den Bürgerinnen und Bürgern das Grundrecht auf effek-
tiven Rechtsschutz durch die unabhängigen Gerichte und
damit die Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Rechte
gegenüber der öffentlichen Verwaltung. Die soziale
Sicherung und der Rechtsschutz durch die Sozialge-
richtsbarkeit gehen Hand in Hand. Die Sozialgerichts-
barkeit stellt sicher, dass jeder seine sozialrechtlichen
Ansprüche notfalls gerichtlich überprüfen und durchset-
zen lassen kann. Für Versicherte, Leistungsempfänger
und Behinderte ist das Verfahren vor den Gerichten der
Sozialgerichtsbarkeit kostenfrei und bleibt es auch.
Jedoch sehen sich gerade die Träger der Sozialleistun-
gen nach SGB II, SGB III und SGB XII einer Flut von
Klagen und Widersprüchen ausgesetzt. Kollege
Linnemann hat bereits darauf hingewiesen, dass die Zahl
der Widersprüche im letzten Jahr etwas gesunken ist. Im
vorhin erwähnten Teilabschnitt Ihres Antrages haben Sie
die Ombudsstellen angesprochen. Hierzu darf ich ver-
sichern: Aufgrund der Komplexität der Materie des
SGB II, übrigens auch des Bildungs- und Teilhabepake-
tes, macht es sicherlich Sinn, mögliche Kommunika-
tionsirritationen zwischen dem Betroffenen und dem
Fallmanager im Jobcenter in einem Vorklärungsverfah-
ren auszuräumen.
Es gibt in § 380 StPO ein vergleichbares Instrument,
das sogenannte Sühneversuchsverfahren. Es muss bei
kleineren Delikten vorgeschaltet werden, wenn beide
Kontrahenten den Wohnort in derselben Gemeinde ha-
ben. Bereits hier kann man eine Vielzahl der ansonsten
erforderlichen Strafanzeigen im Vorfeld abhandeln. Wir
können also überlegen, ob es Sinn macht, in den Jobcen-
tern eine Vorklärungsstelle einzurichten - man könnte
einen Ombudsmann heranziehen oder nach dem soge-
nannten Pirmasenser Modell verfahren -, um a) die Be-
scheide zu erklären - oft genug gibt es Verständnispro-
bleme, die man auf schriftlichem Wege nicht einfach so
ausräumen kann - und um b) mögliche Kommunikationsschwierigkeiten, die gelegentlich zwischen den Betroffenen und den Fallmanagern bestehen, in einem kleinen Gremium auszuräumen. So kann geklärt werden, ob
möglicherweise ein Fehler passiert ist.
Ich teile Ihre Auffassung, dass es nicht sein kann, dass
ein Großteil der Sozialgerichtsbarkeit durch SGB-II-Klagen, die zum großen Teil sogar zum Erfolg führen, belagert wird. Als Gesprächspartner haben Sie mich da ganz
auf Ihrer Seite. Alles andere, Herr Kurth, können wir leider nicht mittragen.
Der Antrag ist in Teilen gut gemeint, aber insgesamt
viel zu pessimistisch; ich teile die Auffassung von Frau
Kollegin Lösekrug-Möller. Sie haben die bunten Farben
in Ihrem Antrag vergessen. Deutschland ist keine Republik, in der schwarz in schwarz Sozialpolitik betrieben
wird. Das ist gut so, und das bleibt bei dieser Koalition
auch so.
Herzlichen Dank.
({7})
- Rot-rote Farbe brauchen wir nicht.
(Matthias W. Birkwald ({8}): Fahren
Kom-
men Sie mal in den Osten!
Vielen Dank, Kollege Paul Lehrieder. - Er war der
letzte Redner in unserer Debatte. Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7032 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
dies so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis c, e bis k
und 12 b sowie den Zusatzpunkt 5 a und b auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die elektromagnetische
Verträglichkeit von Betriebsmitteln, des Gesetzes über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen sowie des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/8234 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksache 17/8235
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 2011 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Europäischen Aufsichtsbehörde für
das Versicherungswesen und die betriebliche
Altersversorgung über den Sitz der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung
- Drucksache 17/8236 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan
Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Tourismus als Chance für die Einhaltung der
Menschenrechte nutzen
- Drucksache 17/8347 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung reduzieren
- Drucksache 17/8348 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Gesundheit
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Sahra Wagenknecht,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Duisburger Hafen AG in öffentlichem Eigentum erhalten
- Drucksache 17/8349 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Volker Beck ({5}), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Transparenz im Rohstoffsektor - EU-Vorschläge umfassend umsetzen
- Drucksache 17/8354 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({7}), Tabea Rößner, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sofortprogramm zur Ausweitung des barrierefreien Filmangebots auflegen
- Drucksache 17/8355 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({8})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({9}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({10})
Chancen und Herausforderungen neuer Energiepflanzen
- Drucksache 17/3891 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
k) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({12}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({13})
Innovationsreport
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Hinblick auf die EU-Beihilfepolitik am Beispiel der Nanoelektronik
- Drucksache 17/4982 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Eduard Oswald
12 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Deutschen Qualifikationsrahmen zum Erfolg
führen - Gleichwertigkeit von Abitur und Berufsabschlüssen sicherstellen
- Drucksache 17/8352 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/8350 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sigmar
Gabriel, Ute Vogt, Heinz-Joachim Barchmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rückholung der Atommüllfässer aus der
Asse II beschleunigen
- Drucksache 17/8351 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a und b sowie
die den Zusatzpunkt 6 a bis c auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprachen vorgesehen sind.
Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Mai
2011 zur Änderung des Abkommens vom
3. Mai 2006 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Slowenien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/7917 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({17})
- Drucksache 17/8204 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({18})
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/8204, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/7917 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen?
- Die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19})
zu dem Grünbuch Überarbeitung der Richtlinie über Berufsqualifikationen
KOM({20}) 367 endg.; Ratsdok. 12111/11
- Drucksachen 17/6985 Nr. A.31, 17/8181 Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön ({21})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8181, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Keine. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Zusatzpunkt 6 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({22})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 9/11
- Drucksache 17/8361 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, zum Streitverfahren Stellung zu nehmen
und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Frank
Schorkopf als Prozessbevollmächtigten zu bestellen.
Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 6 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({23})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvF 3/11
- Drucksache 17/8362 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Streitverfahren Stellung zu nehmen
und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Bernd
Vizepräsident Eduard Oswald
Grzeszick als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer
stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 6 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({24})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2670/11
- Drucksache 17/8363 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Streitverfahren Stellung zu nehmen
und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Frank
Schorkopf als Prozessbevollmächtigten zu bestellen.
Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und
die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Stimmenthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Solidarität von LINKEN-Abgeordneten mit
dem syrischen Präsidenten Assad
Erster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff. Bitte schön, Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff.
({25})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beobachten weiter mit großer Sorge die Entwicklungen
in Syrien. Präsident Assad führt einen brutalen Unterdrückungskrieg gegen das syrische Volk. Nach Angaben
der Vereinten Nationen sind bisher mindestens
5 000 Menschen von den Schergen Assads getötet worden. Zehntausende wurden in Gefängnisse geworfen und
gefoltert. Die CDU/CSU steht an der Seite des unterdrückten syrischen Volkes.
Das Assad-Regime ist in der arabischen Welt bereits
isoliert. Die Mitgliedschaft in der Arabischen Liga
wurde suspendiert, Sanktionen wurden verhängt. Nun
muss endlich die Weltgemeinschaft handeln. Im UN-Sicherheitsrat setzt sich Deutschland seit Beginn des Aufstands in Syrien mit Nachdruck dafür ein, das Töten des
Assad-Regimes zu stoppen. Leider ist man bislang am
Veto Chinas und Russlands gescheitert. Wir appellieren
an Moskau und Peking, endlich eine entsprechende Resolution zu unterstützen.
({0})
Ich sage aber auch in aller Klarheit: Es ist in diesem
Zusammenhang nicht hinnehmbar, dass Russland weiter
Waffen an das syrische Regime liefert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das syrische Volk
zeigt uns nun seit fast einem Jahr mit übermenschlichem
Mut, dass es keine Unterdrückung mehr will. Die Linke
aber steht nicht auf der Seite der Freiheit für das syrische
Volk.
({1})
Stattdessen beten Sie
({2})
nur die Propaganda Assads nach, die von einer Verschwörung ausländischer Kräfte redet.
({3})
Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass das syrische Volk
sehr wohl seine politische und gesellschaftliche Ordnung
selbst bestimmen will, und die hat nichts mehr mit dem
Diktator Assad, sondern mit Freiheit und Demokratie zu
tun. Ihre Solidarität mit dem Mörder-Regime
({4})
ist Ihnen offensichtlich wichtiger, und das ist menschenverachtend.
({5})
Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass es keineswegs
der Westen ist, der ein militärisches Eingreifen fordert;
der NATO-Generalsekretär hat dies bereits vor Monaten
ausgeschlossen. Vielmehr sind es führende Stimmen aus
der syrischen Opposition, die dies fordern, ebenso wie
zuletzt hochrangige Vertreter der Arabischen Liga. Sie
nehmen auch nicht zur Kenntnis, dass die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte in ihrem Bericht von
Ende November eindeutig Verbrechen gegen die
Menschlichkeit in Syrien festgestellt hat.
Sonst schwadroniert die Linke gerne darüber, dass
mit militärischen Interventionen angeblich Rohstoffinteressen gesichert werden sollen.
({6})
Die Sanktionspolitik sowohl gegen Syrien als auch gegen den Iran will doch die Ölausfuhren unterbinden, um
die Regime zum Einlenken zu bewegen.
({7})
Dies geschieht, auch wenn es für einige Länder in der
EU schmerzhaft ist. Einen besseren Beweis dafür, dass
es uns um die Freiheit der Menschen geht, gibt es nicht.
Die Tatsachen blenden Sie aber lieber aus, weil sie nicht
in Ihre abstrusen Verschwörungstheorien passen.
Es ist noch schlimmer: Erneut beweist die Linke, dass
sie nichts aus unserer Geschichte gelernt hat. Sie machen
sich wieder einmal gemein mit Diktatoren, die den Weltfrieden gefährden.
({8})
Über die brutale Unterdrückung der darunter leidenden
Völker sehen Sie hinweg. Ja, ich kann Ihnen das nicht
ersparen: Sie billigen einen Schießbefehl auf Zivilisten ({9})
wie Sie es aus Ihrer eigenen Geschichte gut kennen -,
den laut Berichten von Human Rights Watch syrische Sicherheitskräfte auf explizite Anweisung des Regimes erhalten haben. Das ist die Wahrheit.
({10})
Sie leugnen, dass der Iran mit seinem Atomprogramm
Nuklearwaffen produzieren will. Herr van Aken - ich
darf nicht darüber reden, was Sie im Auswärtigen Ausschuss gesagt haben; aber Sie haben das auch außerhalb
dieses Ausschusses immer wieder gesagt -, Sie leugnen
die Berichte der IAEO über das Nuklearprogramm des
Iran. Sie leugnen, dass der Iran der Auslöschung Israels
das Wort redet. Herr Gehrcke, Sie haben das wiederholt
getan. Dies ist vor dem Hintergrund der antisemitischen
Geisteshaltung mancher in Ihrer Fraktion für uns nicht
weiter verwunderlich. Es ist - das bleibt leider festzuhalten - erschreckend, dass die Linke nichts, aber rein gar
nichts aus unserer Geschichte gelernt hat.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Günter
Gloser. Bitte schön, Kollege Günter Gloser.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Natürlich ist Syrien ein wichtiges Thema; deshalb steht es in diesem Parlament morgen auf der Tagesordnung.
({0})
Ich habe nicht geglaubt, dass wir eine Aktuelle
Stunde zu einem solchen Thema brauchen. Ich muss sagen: Welch ein Zynismus, welch eine Geschichtsklitterung! Als ich durch Presseberichte von dem Aufruf erfuhr, über den wir hier heute diskutieren, war ich
erschüttert, und ich bin es immer noch. Was besagt dieser Text, der von sechs Mitgliedern der Bundestagsfraktion der Linken unterzeichnet worden ist? Der Aufstand
der Menschen in Libyen gegen die blutige Gewalt des
jahrzehntelang herrschenden Tyrannen Muammar alGaddafi wird darin als bloßer Angriffskrieg der USA
und der NATO dargestellt.
Ist es an Ihnen vorbeigegangen, dass es für den Einsatz in Libyen ein UN-Mandat unter Billigung von
China und Russland gab, außerdem die Zustimmung der
Arabischen Liga, um die menschenverachtenden Angriffe des libyschen Regimes auf die eigene Bevölkerung zu stoppen? Die Embargomaßnahmen gegen Syrien
und den Iran werden in einen Topf geworfen und nach
demselben Schema als bloße Angriffsvorbereitung durch
die USA, die NATO und Israel gewertet. Sarkastisch
merke ich an: natürlich auch durch Israel. Kann es denn
in den Augen solcher Autoren eine Weltverschwörung
ohne Israel geben? Natürlich nicht.
({1})
Noch schlimmer wiegt: In den letzten Wochen und
Monaten gab es in Syrien mehr als 5 000 Tote, noch
mehr Verletzte und Zehntausende Verhaftete. Was ist die
Reaktion der sechs Abgeordneten der Linken darauf? Sie
unterschreiben diesen makabren Aufruf und verschweigen im Fall Syrien - wie im Fall Libyen - den Volksaufstand, der vor den Augen der Welt der blutigen Gewalt
des syrischen Staates trotzt.
Wer hat denn einen Angriff gestartet? Die NATO, die
USA, die EU? Es war Präsident Assad, der einen Angriff
auf seine eigene Bevölkerung begonnen hat.
({2})
Haben Sie jemals gelesen, was die Sicherheitskräfte
Kindern und Jugendlichen in der Stadt Daraa im Süden
des Landes angetan haben? Ist Ihnen bewusst, dass die
Rebellion der Syrerinnen und Syrer trotz aller Gewalt
schon zehn Monate andauert? Das sind die Tatsachen,
die Sie ignorieren. Nichts, aber auch gar nichts ist zu sehen von den durch Sie ins Spiel gebrachten kriegslüsternen Imperialisten. Wo sind denn Ihre Verschwörer?
Noch ein Wort zum Iran. Es steht für mich außer
Frage, dass wir alle friedlichen Mittel einsetzen müssen,
um den Iran daran zu hindern, eine Atombombe zu
bauen. Darin sind sich übrigens Deutschland, die EU
und die USA mit Russland und China völlig einig. Nur
Abgeordnete der Linken scheinen Despoten wie Herrn
Ahmadinedschad und Herrn Assad eher zu unterstützen
({3})
als Menschen, die sich gegen diese Despoten erheben.
Ich merke an: Ich habe linke Politik eigentlich immer etwas anders verstanden.
({4})
Ich weiß - ich sage das ganz offen -, dass es in Ihrer
Fraktion auch viele andere Stimmen gibt; ich will jetzt
nicht einzelne nennen. Ich finde - das haben auch Sie zu
Beginn der arabischen Rebellion angesprochen -, dass
es zu Recht um die Würde der Menschen geht.
({5})
Das sage ich ganz bewusst und auch selbstkritisch. Ich
frage mich, was Sie in diesem Bereich gemacht haben.
Wo ist eigentlich die Fraktionsführung, wo ist eigentlich
die Parteiführung, die einem solchen Unsinn widerspricht, meine sehr verehrten Damen und Herren?
({6})
Es bleibt dabei: Das ist ein Zeugnis des blanken Zynismus gegenüber den Opfern, gegenüber einem großen
Teil der syrischen Bevölkerung
({7})
und gegenüber der Weltgemeinschaft, die sich unter großen Schwierigkeiten bemüht, im Hinblick auf zwei sehr
komplexe, aber auch sehr drängende Krisenherde eine
Lösung zu finden, eine Lösung, die die Gewalt beendet,
ohne neue Gewalt zu provozieren, die den Menschen zu
Hilfe kommt, ohne neues Leid zu erzeugen, und die auch
eine Einigung mit Mächten wie Russland und China
sucht, um Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, nicht zu wiederholen.
Dieser Politik bleiben wir Sozialdemokraten verpflichtet. Wir werden uns auch weiterhin laut und deutlich von denen abgrenzen, die den Menschen in Not
durch irrwitzige Verschwörungstheorien Hohn sprechen
und den Blick auf die notwendigen Lösungen im Rahmen der internationalen Organisationen und des internationalen Rechts versperren.
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unsere Kollegin Birgit Homburger.
Bitte schön, Kollegin Birgit Homburger.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Lage in Syrien gibt Anlass zur Besorgnis. Seit Syrien am
19. Dezember des letzten Jahres das Protokoll der Beobachtermission der Arabischen Liga unterschrieben
hat, geht die Gewalt weiter. Die Militäroperationen gehen weiter, und Verhaftungen und Hausdurchsuchungen
finden unvermindert statt. Seit dem Eintreffen der Beobachtermission der Arabischen Liga sind über 400 Zivilisten getötet worden. Trotz der Beobachtermission
finden weiterhin militärische Operationen und landesweite Verhaftungen statt. Trotz dieser Repressionen
trauen sich die Menschen auf die Straße und demonstrieren. Allein in der Zeit vom 5. bis 7. Januar 2012 hat es
landesweit 339 Demonstrationen gegeben, und seither
hat dies unvermindert angehalten. Die Menschen in Syrien sind offenbar fest entschlossen, Menschenrechte
und Demokratie einzufordern und sich nicht weiter vom
Regime unterdrücken zu lassen. Dabei haben sie unsere
Unterstützung.
({0})
Seit dem letzten September gibt es den Syrischen Nationalrat, der eine politische Plattform für die Inlandsund die Auslandsopposition bietet. Bundesaußenminister Westerwelle hat im November letzten Jahres in Brüssel dessen Vorsitzenden empfangen und damit ein klares
Signal des Beistands an die syrische Opposition gesendet. Ich bin dankbar für diese klare Haltung des Bundesaußenministers, der Bundesregierung und der Europäischen Union. Ich finde, die Haltung der Linken ist
beschämend.
({1})
Ende November 2011 hat die Arabische Liga erstmals
Sanktionen gegen eines ihrer Mitgliedsländer verhängt.
Am 1. Dezember 2011 wurden vom EU-Außenministerrat weitere Sanktionen verhängt und bestehende damit
verschärft. Am 19. Dezember 2011 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution verabschiedet, die die fortgesetzten schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen in Syrien verurteilt.
Wir wünschen uns, dass es eine glasklare Stellungnahme der Vereinten Nationen gibt. Diese gibt es bisher
nicht. Aber ich finde, dass die Weltgemeinschaft die
Lage in Syrien so eindeutig wie selten beurteilt. So
wurde die entsprechende UN-Resolution mit 133 Stimmen bei nur 11 Gegenstimmen und weiteren Enthaltungen - leider haben sich auch China und Russland enthalten - angenommen. Vor diesem Hintergrund tauchte der
Aufruf, den Sie von den Linken unterzeichnet haben,
auf. Die Solidarisierung mit einem Regime,
({2})
das ohne Einsicht mit Brutalität gegen das eigene Volk
vorgeht, ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen in Syrien, die für Menschenrechte und gegen Unterdrückung
auf die Straße gehen.
({3})
Sie werfen in Ihrem Aufruf den USA und der NATO
vor, Krieg gegen Libyen geführt zu haben, um das Land
zu kolonialisieren und seinen Reichtum auszuplündern.
Aus dem gleichen Grunde werde jetzt, so der Aufruf,
von der westlichen Welt inklusive Deutschland ein Krieg
gegen Syrien und den Iran vorbereitet. Das ist an Realitätsverweigerung nicht mehr zu überbieten. Selten haben
so viele Länder der Welt gemeinsam die Lage in einem
Land so eindeutig kritisiert und gleichzeitig mit Klarheit
und Augenmaß reagiert.
({4})
Es geht eben nicht um militärische Intervention, sondern
um die Unterstützung eines demokratischen Transformationsprozesses.
({5})
Wir stehen an der Seite des syrischen Volkes. Diejenigen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um Menschenrechte
einzufordern, haben unsere Solidarität und Unterstützung.
({6})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
den Linken, ich will Ihnen sagen: Sie können Ihr Programm getrost bereinigen und alle Stellen streichen, an
denen Sie je über Menschenrechte gesprochen haben.
Wer sich so dreist an die Seite eines solchen Regimes
stellt, hat jegliche Berechtigung, sich über Menschenrechte zu äußern, verloren.
({7})
Und kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument,
es sei kein Beschluss. Vier Ihrer führenden Kollegen, die
für Sie die internationale Politik verantworten, haben daran mitgewirkt. Alle sind nach wie vor in ihren Ämtern.
Das heißt, die Linke unterstützt diesen Aufruf komplett.
Ich muss Ihnen sagen: Die Verschwörungstheorien,
die Sie hier verbreiten, sind nicht nachvollziehbar. Es
sind syrische Panzer, die im ganzen Land rollen. Sie von
den Linken agieren deshalb nicht nur politisch blind,
ideologisch und ignorant, sondern Sie machen sich mit
Ihrem Verhalten auch zu Mittätern.
({8})
Wer den von Ihnen unterzeichneten Aufruf liest, der
sieht, dass das eine ideologisch begründete Verdrehung
der Realitäten ist. Sie ignorieren den Tod von mehr als
5 000 Zivilisten in einem Jahr. Sie behaupten in Ihrem
Aufruf, dass es dem syrischen Volk unter diesem Regime möglich ist, die politische und gesellschaftliche
Ordnung des Landes allein und souverän zu gestalten.
Aber wer verhindert denn die politische Partizipation des
syrischen Volkes? Es sind genau diejenigen, mit denen
Sie sich solidarisieren.
Bei einem Regime, das schon heute ankündigt, den
Bericht der Beobachtermission der Arabischen Liga, der
übrigens heute vorgelegt und abgegeben werden soll,
nicht anzuerkennen, ist eine klare Haltung der internationalen Gemeinschaft notwendig. Wir werden gemeinsam
mit der internationalen Gemeinschaft und vor allem in
enger Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga weiter
an der Seite des syrischen Volkes stehen. Wir fordern
Russland und China auf, ihre Haltung zu überdenken
und den Weg für eine gemeinsame Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen freizumachen.
Wir wollen, dass das Blutvergießen ein Ende hat, und
wir fordern den syrischen Präsidenten Assad dazu auf,
Reformen zuzulassen und sein Land nicht in einen Bürgerkrieg zu manövrieren.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Ulrich Maurer.
Bitte schön, Kollege Ulrich Maurer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe gelernt, dass es im Parlament erlaubt ist, zu
lügen. Das haben Sie ausgiebig getan.
({0})
Was ich hier gehört habe, waren viele Lügen und viele
Verleumdungen.
({1})
- Ich werde Ihnen das jetzt belegen. - Wenn jemand seit
Jahren an der Seite des syrischen Widerstands gegen
Assad steht, dann sind es die Linken in Deutschland. Sie
nicht!
({2})
Sie haben eine lange Tradition der Kollaboration mit
dem Regime Assad.
({3})
Es war nicht gut, dass in diesem Aufruf, den sechs
von uns unterzeichnet haben, die Brutalität des Regimes
nicht angesprochen wurde. Ich zitiere hier aus einer Erklärung der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW:
Keiner der Unterzeichner des Aufrufs verteidigt die
brutale Gewalt des syrischen Präsidenten gegen
sein eigenes Volk. Ziel des Aufrufs ist allein, vor
der drohenden Kriegsgefahr für die Bürger in Syrien und im Iran durch eine Eskalation der Konflikte aufgrund der Embargopolitik und permanenter Kriegsdrohungen zu warnen.
({4})
- Ja, Sie lesen auch viel ab; aber ich lese wenigstens
wahrheitsgemäß ab.
({5})
Diese internationale Ärzteorganisation hat den Vorwurf also zurückgewiesen.
Ich sage es noch einmal: Es war nicht gut, dass in dem
Aufruf, den sechs von uns unterschrieben haben, nichts
von der Brutalität des Regimes stand. Aber jetzt kommen wir zur Wahrheit und zum Kern des Problems.
Ich zitiere Frau Kollegin Steinbach aus Ihren Reihen,
die in der Rheinischen Post sagte:
Wenn am Ende überall der islamische Fundamentalismus obsiege, werde man „vielleicht sagen müssen, dass für Christen die Regime von Mubarak &
Co. das kleinere Übel waren …“
({6})
Fangen Sie mit den Klärungsprozessen in diesem Punkt
also einmal bei sich an. Fangen Sie damit an!
({7})
Ich zitiere aus Parlamentsdokumenten, dass Sie auf
Anfrage der Fraktion Die Linke eingeräumt haben, dass
noch 2011 166 Menschen aus Deutschland nach Syrien
abgeschoben werden sollten,
({8})
darunter Deserteure, die sich gegen Assad gewandt haben. Wir verteidigen diese Menschen, und Sie sagen, ab
nach Ungarn zu den Parteifreunden! Von ihnen weiß
man ja, dass sie diese Deserteure direkt an die syrischen
Folterer weitergeben. Das ist Ihre Praxis in Deutschland.
({9})
Deswegen ist das, was Sie hier betreiben, verlogen und
heuchlerisch.
({10})
Bei einem Treffen des syrischen Widerstands vor wenigen Wochen waren mein Kollege Gehrcke und ein Beobachter der SPD anwesend. Von Ihnen wurde niemand
gesehen. An der Erklärung des syrischen Widerstands
hat unser außenpolitischer Sprecher als Autor maßgeblich mitgearbeitet.
Und weiter zu Ihren Traditionen. Noch 2009 ist Ihr
damaliger Wirtschaftsminister Guttenberg auf der Tagung „Gastland Syrien“ in Berlin zum Zweck der Exportförderung herumstolziert. Dabei ging es um Geschäfte. In einer Panorama-Sendung aus dem Jahre
2011, die ich Ihnen empfehle, ist ein hochrangiger Entwicklungsexperte der GIZ mit den Worten zu hören: Natürlich habe ich mich nie mit der syrischen Opposition
getroffen; das wäre für meine Mission schädlich gewesen.
Im Deutschen Bundestag gab es einen Antrag der
Linken mit dem Titel „Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung
der deutschen Unterstützung von Diktatoren“, in dem
Syrien ausdrücklich genannt wird. Dieser Antrag wurde
mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke abgelehnt. Das ist das, was hier in
diesem Parlament real passiert.
({11})
Um es auf den äußersten Punkt zu bringen: Sie haben
es sogar geschafft - ich zitiere aus dem entsprechenden
Protokoll -, im Jahre 2011 einen Antrag der Linken mit
folgendem Titel abzulehnen: „Exporte von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern nach Syrien endgültig
stoppen“. Dieser Antrag wurde in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 29. Juni 2011 beraten. In der
Abstimmung im Bundestag ist dieser Antrag mit den
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
- auf deren Verlangen die heutige Debatte stattfindet gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden. Sie schaffen es, im
Juni 2011 einen Antrag der Linken gegen Waffenlieferungen an Assad abzulehnen. Dann stellen Sie sich hierhin, blasen sich auf und verbreiten Lügen und Verleumdungen gegen unsere Partei.
({12})
Ich zitiere aus einer Anfrage meiner Kollegin Inge
Höger:
Ist die Bundesregierung angesichts der andauernden Gewalt in Syrien und des fatalen Signals an syrische Deserteure und Verweigerer, das durch die
drohende Abschiebung von syrischen Deserteuren
aus der bayrischen Abschiebehaft nach Ungarn und
von dort nach Syrien gegeben wird, bereit, die bisherige Praxis der Rückführung in angeblich sichere
Drittstaaten aufzugeben und zukünftig allen Menschen, die sich dem Militärdienst in Syrien und damit der gewaltsamen Unterdrückung von Aufständischen verweigern, in Deutschland Asyl zu bieten?
Wissen Sie, wie die Antwort der Bundesregierung
war? Sie ist dazu nicht bereit. Das, was Sie hier offenbart
haben, sind Abgründe von Verleumdung und vor allem
von Heuchelei.
({13})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck.
Bitte schön, Kollege Volker Beck.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die Menschenrechtssituation in Syrien und im
Iran ist dramatisch. In den letzten Tagen seit Beginn der
Beobachtermission der Arabischen Liga in Syrien wurden allein 400 Menschen vom syrischen Regime umge18196
Volker Beck ({0})
bracht. Es gab 5 400 Tote seit Beginn der Demokratiebewegung. Die Opposition spricht sogar von über
6 000 Toten. 10 000 Menschen wurden seit Beginn der
Proteste willkürlich festgenommen. Tausende sind aus
Syrien in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien
geflüchtet. Letzten Freitag gab es Demonstrationen von
fast 2 Millionen Menschen auf den syrischen Straßen.
Es gäbe in diesem Zusammenhang viel, was es sich
im Hohen Hause zu diskutieren lohnt. Ich finde den Titel
und den Gegenstand der heutigen Debatte unangemessen
angesichts der Probleme, die wir in diesem Zusammenhang haben, angesichts der Situation der Menschen in
Syrien und der außenpolitischen Fragen, die sich uns
stellen.
Wie können wir auf ein Ende der Gewalt durch das
Assad-Regime drängen?
({1})
Um Reformen geht es dort längst nicht mehr, Frau
Homburger. Es geht um ein Ende des brutalen Terrorregimes.
Wie erreichen wir, dass China und Russland den Weg
zu einer eindeutigen Sicherheitsratsresolution freimachen? Und, Frau Steinbach: Wie sieht die Politik der
Opposition gegenüber Kurden, Aleviten und Christen
aus, wenn es zu einer Beteiligung oder Übernahme der
Herrschaft in Syrien durch die Opposition kommen
sollte?
Das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Dazu gehört auch, wie wir darauf konkret Einfluss
nehmen können. Deshalb finde ich es unwürdig für das
Hohe Haus, dass wir heute dieses politische Klein-Klein
veranstalten, obwohl wir morgen, von unserer Fraktion
beantragt, eine Debatte zu einem Antrag von Kerstin
Müller führen werden, in dem es um genau diese Fragen
geht.
({2})
Diese Fragen hätte man zuerst diskutieren können. Dann
hätte man sich nebenbei mit dem albernen Aufruf von
sechs Kolleginnen und Kollegen aus der Linksfraktion
beschäftigen können; denn das ist nicht das eigentliche
Problem, das wir zu lösen haben.
({3})
Wenn Sie von Solidarität mit dem Assad-Regime
sprechen, dann will ich einen Punkt ansprechen, der die
Kumpanei der Bundesregierung mit dem Assad-Regime
betrifft. Im Jahre 2009 hat Deutschland nach jahrelangen
Verhandlungen mit Syrien ein Abkommen zur Rückübernahme von Flüchtlingen abgeschlossen. Dieses Abkommen ist nicht ausgesetzt. Es gibt noch nicht einmal
einen Runderlass, der einen Abschiebestopp nach Syrien
verhängt. Es gibt lediglich ein Schreiben, dass es gegenwärtig nicht „ratsam“ sei, abzuschieben. Dennoch gibt es
noch Abschiebefälle. Noch im November, als der Aufstand schon im Gange war, wurden Flüchtlinge von
deutschen Ausländerämtern zur syrischen Botschaft geschickt. Letzte Woche hat die taz darüber berichtet, dass
Flüchtlinge über Ungarn nach Syrien abgeschoben werden sollen.
Wenn es ehrlich gemeint ist, dass wir gegen das syrische Regime vorgehen und auf der Seite der Opposition
und der Menschenrechte stehen, dann kündigen Sie das
Abkommen! Verhängen Sie unverzüglich einen Abschiebestopp für syrische Flüchtlinge aus der Bundesrepublik Deutschland!
({4})
Ich will aber das Thema der Debatte nicht verfehlen,
auch wenn es mir nicht gefällt. Nun zu Ihnen und diesem komischen Aufruf. Ich meine, es geht nicht an, dass
Herr Gysi und Sie, Herr Maurer, ihn als Fehler bezeichnen - die Kollegin Enkelmann hat sich ähnlich geäußert -,
dass aber gleichzeitig die Unterzeichnerin und Sprecherin für internationale Politik sagt, das sei zu hundert Prozent Programm der Linken. Was ist denn dann hundert
Prozent Programm der Linken?
Der Vorwurf der Solidarität ist Quatsch. Das haben
die Kolleginnen und Kollegen auch zurückgewiesen.
Was in dem Text steht, ist schlimm genug. Darin heißt
es:
Das iranische und syrische Volk haben das Recht,
über die Gestaltung ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung allein und souverän zu entscheiden.
Der Satz ist richtig. Aber in diesem Zusammenhang
klingt das so, als ob das aktuelle Regime im Iran und in
Syrien Ausdruck dieses freien und souveränen Willens
wäre.
({5})
Als nächster Satz folgt:
Die Erhaltung des Friedens verlangt es, dass das
Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten konsequent eingehalten
wird.
Sagen Sie mal, wo leben Sie denn? Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht, dass ich auf einen Knopf gedrückt habe und mich auf einer Zeitreise in die 80erJahre zur Zeit der alten Sowjetdoktrin der Politik der
Nichteinmischung befinde.
({6})
Aber das haben wir im Rahmen des OSZE-Prozesses
überwunden.
Wenn man sich für die Einhaltung der Erklärung der
Menschenrechte, die völkerrechtlich verbindlich ist und
auch von den betreffenden Staaten unterzeichnet wurde,
einsetzt, dann handelt es sich nicht um eine Einmischung
in innere Angelegenheiten. Die Staaten haben vielmehr
die Pflicht, die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und
Volker Beck ({7})
Bürger zu achten und zu wahren. Offensichtlich ist die
völkerrechtliche Diskussion über die Responsibility to
Protect an Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, spurlos vorbeigegangen. Wenn ein Staat massenhaft
Menschenrechtsverletzungen begeht und beispielsweise
ethnische Säuberungen durchführt oder die Bevölkerung
nicht entsprechend davor schützt, dann geht gemäß der
Resolution, die die Vollversammlung der Vereinten
Nationen 2005 einstimmig angenommen hat, die Pflicht
zum Schutz der Bevölkerung - das ist eigentlich die
Pflicht eines jeden Staates - an die Völkergemeinschaft
über. Sie hat dann zu versuchen, mit angemessenen Mitteln die Rechte der Menschen durchzusetzen und zu
schützen.
Ich darf Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Dazu findet sich in Ihrem komischen Aufruf kein
Wort.
Sie schweigen auch zu einer ganzen Reihe anderer
Punkte. Sie erwähnen nicht, dass es sich bei diesem
Konflikt in der Region auch um einen Konflikt zwischen
sunnitischen und schiitischen Gläubigen, zwischen dem
Iran und Saudi-Arabien über die Vormachtstellung am
Golf handelt. In Ihrem Aufruf ist nur von israelischen
und US-amerikanische Interessen an der Vorbereitung
eines Krieges die Rede. Das ist antiamerikanisch und
antiisraelisch und politisch reichlich unterkomplex. Herr
Dehm, Sie als Kundschafter des Friedens stehen für
diese Unterkomplexität in außenpolitischen Zusammenhängen.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass der
ehemalige Botschafter der Deutschen Demokratischen
Republik, der im Jahre 1989 seinen Dienst in der Volksrepublik China versah und im Jahre 2008 zu den Schüssen auf dem Platz des Himmlischen Friedens gesagt hat:
„Es blieb dann nur diese Möglichkeit, es mit bewaffneten Kräften zu beenden“, einer der Mitunterzeichner
Ihres Aufrufs ist.
({0})
In diese Gesellschaft begibt man sich, wenn man solche
unterkomplexen Aufrufe schreibt bzw. unterschreibt.
Ich kann Ihnen nur sagen: Stellen Sie sich der internen Auseinandersetzung! Ansonsten sind Sie für niemanden politisch anschlussfähig, weil Sie in einem anderen Orbit leben.
({1})
Sie können nicht die Menschenrechte verteidigen, wenn
Sie solche Positionen in Ihrer Partei dulden und es zulassen, dass einige Ihrer Leute in Anspruch nehmen, dies
sei hundert Prozent Programm der Linken.
({2})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist unser
Kollege Jürgen Klimke für die Fraktion der CDU/CSU.
Bitte schön, Kollege Jürgen Klimke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Soll man sich wundern, oder
soll man über diesen bizarren Aufruf der Linken gegen
die vermeintliche Kriegstreiberei der USA und der
NATO gegen den Iran und Syrien erschrocken sein, also
gegen jene beiden Staaten, denen sich die Linken offenbar besonders verbunden fühlen?
({0})
Die Linke meint den Grund für die angeblich aggressive
Politik der USA entdeckt zu haben. Er besteht neben den
dort vorhandenen Rohstoffen darin, dass diese Staaten
„eine eigenständige Politik verfolgen und sich ihrem
Diktat“ - gemeint ist das Diktat der USA - „nicht unterordnen“. Eigenständige Politik betreibt man nach Auffassung der Linken offensichtlich dann, wenn man Oppositionelle niederknüppelt, die Menschenrechte mit
Füßen tritt,
({1})
Christen verfolgt oder heimlich Atombomben baut.
Man kann sich darüber wundern, aber man kann auch
darüber erschrocken sein, auch darüber, dass Bundestagsabgeordnete der Linken diesen Aufruf mitunterzeichnet haben. Ein solcher Vorgang ist nicht neu. Ich
darf an den Brief der Linken anlässlich des 85. Geburtstags Fidel Castros erinnern, in dem die Errungenschaften
des sozialistischen Kuba mit seiner beispielgebenden
Wirkung für so viele Völker der Welt gerühmt wurden.
Ich erinnere an die Probleme, die die Linke mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen hat. Wenn die Parteiführung Resolutionen gegen den Antisemitismus beschließt, müssen Abgeordnete den Raum verlassen,
damit Einstimmigkeit erzielt wird.
({2})
Das Existenzrecht Israels wird von den Politikern der
Linken nicht anerkannt.
({3})
Das zeigt zum Beispiel die Teilnahme von führenden
Linken an der sogenannten Gaza-Flottille oder das Sitzenbleiben der Linken-Abgeordneten am HolocaustGedenktag bei der Begrüßung des israelischen Präsidenten Shimon Peres.
Diese Liste ließe sich noch sehr lange weiterführen bis hin zum Plakat an der Tür der Abgeordneten Ploetz,
das unsere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan als
Schweine verhöhnt, oder der Abgeordneten Hänsel, die
den Mördern und Entführern von der kolumbianischen
FARC Unterstützung angedeihen lässt.
({4})
Meine Damen und Herren, soll man sich wundern,
soll man darüber erschrocken sein? Ich wundere mich
nicht mehr; ich erschrecke mich eigentlich sehr darüber.
Leider bleibt es aus meiner Sicht bis auf Weiteres so,
dass sich im Deutschen Bundestag drei Bereiche wiederfinden: die Regierungsfraktionen, die demokratische
Opposition, bestehend aus SPD und Grünen, und eine
Fraktion, bei der man Zweifel haben muss, ob sie wirklich auf dem Boden unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht.
({5})
Deswegen halten es viele auch für richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Partei Die Linke weiterhin vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
({6})
Dabei ist es aus meiner Sicht immerhin ein kleiner
Trost, dass es auch vonseiten einiger Politiker der Linken andere Meinungen gibt: andere Meinungen zu
Israel, andere Meinungen zu Kuba und andere Meinungen zu den USA.
Auch der Aufruf zu Syrien und zum Iran ist innerhalb
Ihrer Partei nicht unwidersprochen hingenommen worden. Das macht ein bisschen Hoffnung. Man kann eigentlich nur diese Kräfte unterstützen, allerdings nur ein
wenig, wenn man bedenkt, dass die innerparteilichen
Kritiker des Aufrufs von den Hardlinern als Nestbeschmutzer bezeichnet wurden.
Die Aktion macht eines klar: Die Linke weiß nicht,
wohin sie will. Die Linke weiß nicht, was sie will. Will
sie eine parlamentarische Opposition sein?
({7})
Will sie eine koalitionsfähige Alternative im linken Parteienspektrum werden? Ist sie eine ideologische Fundamentalopposition, die im Grunde die Abschaffung der
demokratischen Grundordnung zum Ziel hat? Die Austragung dieses Konflikts wird aus meiner Sicht darüber
entscheiden, ob die Linke in diesem Hause in Deutschland noch Zukunft hat.
Im Übrigen: Im Konflikt befindet sich offensichtlich
auch die Kollegin Sevim Dağdelen, nach deren Meinung
der Aufruf zu Syrien und zum Iran zu hundert Prozent
das Parteiprogramm der Linken widerspiegelt.
({8})
Das schließt nicht aus, dass man sich in antiamerikanischer Mission auch einmal direkt zum Erzfeind begibt
und der Außenministerin persönlich Vorhaltungen
macht, wie auf diesem Bild hier dokumentiert ist.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen hier Sevim
Dağdelen in ihrer heikelsten antiimperialistischen Mission - wie immer sehr kämpferisch und sehr entschlossen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Johannes Pflug. Bitte schön, Kollege Johannes Pflug.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ende letzten Jahres hatte sich der Deutsche Bundestag aus aktuellem Anlass wiederholt mit den Besonderheiten linker Außenpolitik befasst. Einmal ging es
um den Antrag der Linken, jedes militärische Engagement in Afghanistan sofort zu beenden.
({0})
So weit, so gut.
Einige Wochen zuvor hatte es eine Aktuelle Stunde
zum Thema Antisemitismus gegeben, allerdings nicht
von Ihnen beantragt. Bereits bei der Debatte Ihres
Afghanistan-Antrags hatte ich darauf hingewiesen, dass
dieser Antrag und der geforderte Abzug Musterbeispiele
sind für den Widerspruch zwischen dem proklamierten
Internationalismus und der Verpflichtung zum Schutz
der Menschen einerseits sowie der Nichteinmischung
oder dem - ich sage das einmal so - Schaufenster-Antimilitarismus andererseits.
Heute gibt es erneut Grund, uns mit dem Verständnis
der Linkspartei von internationaler Verantwortung zu befassen. So ist es bemerkenswert, dass es für die Kollegin
Dağdelen oder den Kollegen Dehm offenbar ein Akt der
Solidarität und der Völkerfreundschaft ist, sich an einem
Aufruf zu beteiligen, der die Unterdrückung der Iraner
und Syrer durch ihre diktatorischen Regime mit keinem
Wort erwähnt, geschweige denn verurteilt. Stattdessen
wird auch noch die Propaganda der Diktatoren übernommen, die ja Aufruhr stets als Ergebnis ausländischer
Agenten und Sabotage brandmarkt. Christian Bommarius,
Journalist unter anderem für die Frankfurter Rundschau,
schrieb dazu erst kürzlich sehr treffend, für die Linke sei
es stets „offenbar der Westen, der die in glücklicher Harmonie mit ihren Unterdrückern lebenden Völker in den
Aufstand hetzt“. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Diejenigen Mitglieder der Linken-Bundestagsfraktion, die den Internetaufruf unterzeichnet haben, haben
zunächst noch vollmundig erklärt, dieser decke sich zu
100 Prozent mit dem Programm der Partei. Mittlerweile
haben sie den Aufruf aber schon wieder relativiert wegen der starken öffentlichen Kritik und Empörung, und
ich füge hinzu: Gott sei Dank auch aus den Reihen der
eigenen Partei, zum Beispiel des Kollegen Bartsch und
der Kollegin Enkelmann.
Die Unterzeichner erklärten daraufhin wieder einmal,
sie seien bewusst falsch interpretiert und missverstanden
worden. Hierzu kann ich mit Blick auf die Vergangenheit nur sagen: Es muss auch an Ihnen liegen, dass Sie
sich so häufig missverstanden oder falsch interpretiert
fühlen. Ob es um die erklärte Solidarität einiger Parteimitglieder mit der Hamas ging, um das Gezerre um eine
gemeinsame Erklärung gegen Antisemitismus hier im
Hause oder um undifferenzierten Aktionismus gegen Israel, stets waren die Aussagen eigentlich eindeutig.
({1})
Teile der Linkspartei vertreten offen einen radikalen
Anti-Israel-Kurs. Dies geht sogar so weit, dass sich Mitglieder Ihrer Fraktion weigern, sich bei einer Veranstaltung am Holocaust-Gedenktag für den israelischen Präsidenten Peres zu erheben.
({2})
Darüber hinaus scheinen Teile der Linkspartei einen
gewissen Hang zu Exoten und Diktatoren zu besitzen.
({3})
Egal ob Fidel Castro oder Hugo Chávez - und neuerdings auch Assad und die Mullahs im Iran -, egal wie
verbrecherisch das Regime: Solange es einen dumpfen
Antiamerikanismus bedient, gibt es auch Freunde in Ihrer Partei.
({4})
Dies nimmt dann so groteske Züge an wie in der
jüngsten Vergangenheit, als sich die Kollegin Dağdelen
und andere zu den letzten Verbündeten Assads und seines Terrors gemacht haben, offensichtlich weil das Bedürfnis nach Antiamerikanismus und Anti-Israel-Politik
bedient wurde. Möglicherweise ist es genau das, was Ihr
demnächst neuer Spitzenkandidat Lafontaine mit den Eigentorschützen in der eigenen Partei meinte. In solchen
Fällen sagt man: Der Trainer sollte sie nicht wieder aufstellen. Aber die Frage ist: Wer ist bei Ihnen eigentlich
der Trainer?
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Redner aufrufe, muss ich Ihnen mitteilen, dass
mir der Wunsch nach persönlichen Erklärungen vorliegt.
Dies ist nach unserer Geschäftsordnung auch bei Aktuellen Stunden möglich. Ein Mitglied des Bundestages
kann sich nach unserer Geschäftsordnung zu Wort melden. Der Präsident darf solche Wortmeldungen nicht zurückweisen, er kann aber nach Maßgabe der Geschäftsordnung den Zeitpunkt der Worterteilung nach seinem
Ermessen bestimmen. Da sie unmittelbar angesprochen
wurde, gebe ich zunächst Frau Kollegin Heike Hänsel
das Wort und bitte Sie, den entsprechenden Zeitrahmen
einzuhalten. - Bitte schön, Frau Kollegin Heike Hänsel.
Danke schön, Herr Präsident. - Ich möchte eine persönliche Erklärung abgeben. Der Kollege Jürgen Klimke
hat mich konkret angesprochen, mich namentlich genannt und gesagt, dass ich der kolumbianischen Guerillaorganisation FARC Unterstützung angedeihen lassen
würde. Ich möchte diesen Vorwurf zurückweisen und darauf aufmerksam machen, dass es eine breite Initiative
von Abgeordneten gibt, die sich für eine politische Lösung des seit Jahrzehnten bestehenden bewaffneten Konflikts in Kolumbien einsetzen. Aus allen Fraktionen gibt
es Unterschriften unter Appelle an den kolumbianischen
Präsidenten für eine politische Lösung und einen Friedensprozess in Kolumbien. Es herrscht in diesem Land
eine sehr ernste Situation, nachdem dort viele Menschen
ihr Leben verloren haben. Es ist eine schlichte Verleumdung, daraus eine Unterstützung für die Guerillaorganisation zu machen.
Ich möchte darauf hinweisen, Herr Klimke, dass die
Bundesregierung jahrzehntelang Präsidenten in Kolumbien unterstützt hat, die militärisch vorgegangen sind,
die mit Paramilitärs verstrickt waren, wie zum Beispiel
Präsident Uribe. All diese haben für ihre brutale Politik
in Lateinamerika massive Unterstützung bekommen.
Dass in diesem Hause von Teilen der Bundesregierung
und vonseiten der FDP, insbesondere durch die
Friedrich-Naumann-Stiftung, Putsche in Honduras mit
unterstützt wurden, zeugt davon, dass Sie eine brutale
Politik unterstützen.
Die Linke hat bisher in keiner Weise - das muss ich
auch dazu sagen - Waffenlieferungen in irgendein Land
unterstützt. Sie senden in alle Welt Waffen. Deutschland
ist drittgrößter Waffenexporteur auf der Welt. Sie tragen
zu Leid und Tod bei. Deshalb ist diese Debatte hier absurd.
({0})
Als Nächstem gebe ich zu einer persönlichen Erklärung, nachdem auch er direkt angesprochen wurde, dem
Herrn Kollegen Dr. Diether Dehm das Wort.
({0})
Kollege Beck, Sie haben meinen angeblichen Hang
zu unterkomplexen Aufrufen angesprochen. Sie haben
zwar auch viel zur Differenzierung der Diskussion beigetragen, aber da ging der Gaul wieder mit Ihnen durch.
Ich will Ihnen nur noch einmal ganz deutlich das sagen, was ich auch im Interview mit der taz gesagt habe:
Keiner der Unterzeichner von uns hat irgendeinen Hauch
von Sympathie mit den Staatsterroristen Assad und
Ahmadinedschad.
({0})
Wir wissen nämlich, dass Linke, dass Kommunisten,
dass Sozialisten von diesen Schlächtern verfolgt und gefoltert werden.
({1})
Linke sind es, unsere Freunde, die im Iran und in Syrien
hingerichtet werden. Das will ich Ihnen zunächst sagen.
Das haben wir auch schon mehrfach gesagt. Sie wissen
das auch; Sie haben das auch in dem Teil Ihrer Ausführungen gesagt, in dem Sie Differenzierungen vorgenommen haben.
Darüber hinaus will ich sagen: Wir haben in dem Aufruf davor gewarnt, dass Kriegsvorbereitungen getroffen
werden. Diese Kriegsvorbereitungen laufen - das ist unsere feste Überzeugung - gegen den Iran; sie laufen,
möglicherweise gedämpfter, gegen Syrien. Im Hinblick
auf den Iran wird es ein Atomkrieg werden.
({2})
Hier besteht, Herr Kollege Beck - das will ich Ihnen
ganz deutlich sagen -, die Differenz zwischen uns. Wir
sind jetzt an jenem Punkt, wo damals gegen Außenminister Westerwelle eine unauffällig scheinende Flugverbotszone von der SPD und, wie ich glaube, auch von
den Grünen entschieden gefordert wurde. Wie vor dem
Jugoslawien-Krieg wurde hier ja von Rot-Grün immer
gefordert, an der Durchsetzung einer unauffälligen Flugverbotszone gegen Libyen mitzuwirken. Doch dies hat
zu einem Krieg mit über 40 000 Toten geführt, zu einem
Bombardement der Städte dort. Dabei ist auch der modernste Sozialstaat Nordafrikas zerbombt worden.
({3})
- Genau das ist Libyen gewesen - das ist unbestreitbar -,
der modernste, entwickeltste Sozialstaat Nordafrikas, wo
Ölprofite in sozialstaatliche Investitionen geleitet wurden.
({4})
Angesichts dessen und der Tatsache, dass das Wirtschaftsembargo gegen den Irak, das Tausende von Kindern das Leben gekostet hat, zugleich ein unauffälliger
Einstieg in das Bombardement Iraks war,
({5})
werden wir jetzt umso hellhöriger.
Ich muss Ihnen ehrlich gestehen: Wenn ich die Wahl
habe, keine Warnung vor einem Atomkrieg gegen den
Iran zu unterschreiben oder eine möglicherweise unvollkommene, kann es auch in Zukunft noch passieren, dass
ich mich dafür entscheide, eine möglicherweise, wie Sie
sagen, unterkomplexe Erklärung zu unterschreiben.
Denn die Warnung vor Krieg ist für Linke das oberste
Gebot.
({6})
Wir fahren fort in der Reihenfolge der Wortmeldungen zur Aktuellen Stunde. Für die Fraktion der FDP hat
als Nächster das Wort Kollege Patrick Kurth.
({0})
Bitte schön, Kollege Patrick Kurth.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Wochen wieder: Die Linke glänzt durch gesellschaftspolitische oder in diesem Falle außenpolitische
Peinlichkeiten. Außenpolitische Fragen, die schon bisher
von Ihnen sehr peinlich behandelt wurden, betreffen
Afghanistan, Kuba und den Nahen Osten. Worüber haben wir hier alles geredet? Über die Gaza-Flottille, über
antisemitische Auswüchse, über Castro-Verehrung. Sie
hatten damals in der Aktuellen Stunde zum deutsch-polnischen Verhältnis vor allem das Verhältnis zwischen der
DDR und Polen unter der SED gelobt. Dabei haben Sie
aber völlig unterschlagen, dass es die SED war, die erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Streitkräfte
für den Einmarsch in Polen mobilisierte. Sie haben mit
einer Staatspartei sympathisiert - sie ist ja auch Ihre Vorgängerpartei -, was für uns insgesamt in der außenpolitischen Darstellung nicht gut war. Sie können sich im Inland benehmen, wie Sie wollen. Da werden Sie auf jeden
Fall auf unseren Widerstand stoßen. Das ist in erster Linie Ihr Problem. Wenn Sie sich aber außenpolitisch so
benehmen, wie Sie das tun, dann wird es ein Problem für
alle Deutschen. Das geht nicht. Sie haben auch im Ausland eine Verantwortung.
({0})
Seit fast einem Jahr - die dpa schrieb es gestern geht das Regime in Syrien mit Gewalt gegen die Opposition vor. 5 500 Menschen starben. 5 500 Menschen!
Dann kommt diese Solidarisierung, ein vorläufiger Höhepunkt der außenpolitischen Geisterfahrten. Ich muss
Ihnen sagen: Gerade wir Deutsche haben in der jüngeren
Geschichte eine ganz wunderbare Erfahrung gemacht
und ein ganz großes Glück gehabt.
Patrick Kurth ({1})
({2})
Wir hatten in diesem Land eine friedliche Revolution. In
diesem Land wurde niemand erschossen. Das war ein
ganz großes Glück für unser Land. Dass dieses Glück
keine Selbstverständlichkeit ist, das zeigt Syrien. Deshalb verbietet es sich, mit diesen Staatsterroristen in irgendeiner Weise zu sympathisieren.
({3})
Meine Damen und Herren, unsere Erfahrungen, unsere Geschichte, unser Glück, aber eben auch die Gewalt
dieser Diktatoren, der Kampf gegen Demonstranten
müssen uns als Abgeordnete in diesem Hause Verantwortung, Auftrag und Mahnung zugleich sein. Gerade
wir Deutsche haben deshalb eine gewisse Vorbildstellung. Wir haben eine immense Verantwortung. Für das
Außenbild tragen wir alle, die wir Mitglieder dieses
Hauses sind, Verantwortung. Herr Maurer, Sie haben
hier wunderbar gesprochen.
({4})
Im Sinne der leninistischen Propagandarede war das hervorragend.
({5})
Ich nehme den Spieß und drehe ihn um. Aber was denn
nun? Butter bei die Fische! Dafür oder dagegen? Hopp
oder top? Sie haben keine Antwort geliefert. Sind Sie
nun dafür, oder sind Sie dagegen?
({6})
Distanzieren Sie sich von diesem Pamphlet, oder sind
Sie doch dafür? Gibt es irgendwelche Konsequenzen? Ist
Ihre menschenrechtspolitische Sprecherin, die dieses
Machwerk unterzeichnet hat, noch im Amt, oder ist sie
nicht mehr im Amt? Was sind denn Ihre Konsequenzen?
Sie verunklaren Ihr Bild. Sie bleiben völlig unklar, in der
Hoffnung darauf, dass die einen ganz links in irgendeiner Weise befriedigt werden und die anderen, die ein bisschen mehr in der Mitte sind, relativ friedfertig bleiben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen.
({7})
Nehmen Sie einmal Ihr Pamphlet, und ersetzen Sie den
Begriff „Syrien“ oder auch „Iran“ durch „DDR“. Tauschen Sie das einmal aus. Da wird Ihnen übel.
Es kann einem auch übel werden, wenn man sich die
Unterzeichnerliste anguckt. Ich weiß es nicht: Haben Sie
das einmal gemacht? Wissen Sie, mit wem Sie in einem
Boot sitzen? Haben Sie sich das einmal angeschaut? Wer
unterzeichnet im Zusammenhang mit Abgeordneten des
Deutschen Bundestages, mit Volksvertretern, diesen
Aufruf? Es wimmelt nur so von Verschwörungsideologen, Esoterikern und - das ist besonders interessant Rechtspopulisten. Ich habe mir die Namen aufgeschrieben, habe mich aber dazu entschieden, sie nicht zu nennen. Wir wollen niemanden auf dieser Liste adeln.
({8})
Die einen versteigen sich zu Verschwörungstheorien bezüglich Iran. Sie verharmlosen die Hetzreden des iranischen Staatspräsidenten. Es gibt auf dieser Liste Leute
- die befinden sich in Ihrer Gesellschaft -, die erklären,
dass das Erdbeben in Japan künstlich erzeugt worden
sei, um Japan zu schaden.
({9})
Dann gibt es andere, die sagen, dass die Terroranschläge vom 11. September von den USA selbst inszeniert wurden. Das sagen Ihre Mitunterzeichner. Die
Judenverfolgung wird verharmlost. Das ist Ihre Gesellschaft! Einer sagt, Aids gebe es nicht, es sei eine Erfindung der - Achtung! - Pharmaindustrie. Dann kommt
sogar ein Bündnis - das ist ganz interessant im Hinblick
auf die Linke; ich wusste gar nicht, in welcher Gesellschaft Sie sich befinden -, welches erklärt, das deutsche
Reich gebe es noch, die Bundesrepublik gebe es nicht,
sie sei nicht rechtmäßig. In diese Liste reihen Sie sich
ein. Uns fällt es wirklich schwer, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich um Abgeordnete handelt, die sich in
diese Gesellschaft begeben.
Wenigstens die Führung der Linken - sie hat sich ja
schon öfter verbogen - muss sich von diesem Aufruf distanzieren. Geschieht das nicht, hat sich diese Partei außenpolitisch erneut diskreditiert.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächster Redner ist unser Kollege Christoph Strässer
für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Kollege Christoph Strässer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will zwei Punkte aus dieser Aktuellen Stunde aufgreifen. Wenn ich die Quintessenz aus allen Redebeiträgen zusammenfasse, dann
komme ich zu zwei Erkenntnissen.
Erste Erkenntnis. Wir müssen uns alle gemeinsam
Gedanken darüber machen, wie die Geschichte der Beziehungen Deutschlands, Europas und der Vereinigten
Staaten zu bestimmten Diktaturen in der Welt ist. Darüber müssen wir reden.
({0})
Wir müssen auch aus Fehlern lernen. Der Umstand, dass
ein Land in einer Region für Stabilität sorgt, rechtfertigt
niemals, dass in dieser Region Menschenrechte verletzt
werden. Ohne die Gewährung von Menschenrechten
aber ist in diesen Regionen keine Stabilität möglich.
Diese Erkenntnis sollten wir aus dieser Debatte mitnehmen.
({1})
- Ja.
Zweite Erkenntnis. Wenn das, was über den arabischen Frühling und über Syrien gesagt worden ist, ernst
gemeint ist, dann erwarte ich Initiativen von Ihrer Partei,
die im Moment versucht, sich wieder als Bürgerrechtspartei zu profilieren. Wir sollten in den nächsten Wochen
im Deutschen Bundestag Klarheit darüber schaffen und
entsprechende politische Willenserklärungen abgeben,
dass Abschiebungen nach Syrien auch über den Umweg
Ungarn ab sofort nicht mehr möglich sein dürfen.
({2})
Die Aktuelle Stunde zwingt uns natürlich dazu, zu
dem Aufruf, der von einigen unterschrieben worden ist,
Stellung zu nehmen. Man konnte die ganze Zeit - ich
habe direkt daneben gesessen - Zurufe wie „Heuchler“
und „Lügner“ hören. Ich möchte jetzt etwas zitieren und
hoffe, dass es dabei solche Zurufe nicht gibt. Unter der
Überschrift „Gegen linke Solidarität mit den Schlächtern
von Syrien und Iran!“ heißt es:
Die Souveränität Syriens und Irans liegt nicht bei
den Regimen von Assad und den Ayatollahs, sondern bei den Menschen. Sie sind es, die ihre Rechte
einfordern.
Entgegen der Einschätzung des Appells sind es
nicht die NATO, die USA oder Israel, die einen
Bürgerkrieg in Syrien anfachen, sondern das syrische und iranische Regime, die auf diese Weise mit
aller Brutalität versuchen, einen Keil zwischen die
Aufständischen zu treiben. Beide Regime gehen dabei mit unglaublicher Brutalität gegen die eigene
Zivilbevölkerung vor, z. B. mit gezielten Tötungen
durch Scharfschützen, die sogenannte „Abschussquoten“ zu erfüllen haben.
Ende des Zitates; der Aufruf geht aber noch weiter.
Veröffentlicht worden ist dies von dem Bundesarbeitskreis Shalom der Linksjugend Solid, die sich aufs
Schärfste von dem Syrien-Appell abgrenzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, rufen Sie bitte nicht „Heuchler“
und auch nicht „Lügner“, sondern solidarisieren Sie sich
mit Ihrer Jugendorganisation und distanzieren Sie sich
von dem Syrien-Aufruf, der unerträglich ist.
({3})
Ich möchte auch aus einem anderen Blickwinkel - der
Kollege Beck hat schon darauf hingewiesen - zu diesem
Aufruf Stellung nehmen und insbesondere auf die Feststellung eingehen, dass das konsequente Einhalten des
Nichteinmischungsgebots das Gebot der Stunde sein
soll. Ich will mich gar nicht darauf kaprizieren, zu fragen, was das mit der Responsibility to Protect und mit
dem Verhältnis Menschenrecht zu Völkerrecht zu tun
hat. Ich will aber auf einen Zwischenruf reagieren und
sagen: Ich bitte Sie, die Responsibility to Protect im Interesse der Menschenrechte ernsthaft zu verfolgen. Es ist
nämlich nicht so, dass der Sanktionskatalog der RtoP mit
einer militärischen Intervention beginnt.
({4})
Nehmen Sie bitte einfach zur Kenntnis, dass der erste
Schritt die Prävention ist und dass wir an dieser Stelle
gefordert sind, zu helfen und zu unterstützen, damit es
gerade nicht zu einer militärischen Intervention kommt,
die wir alle verhindern wollen. Diese Botschaft muss
von dieser Auseinandersetzung ausgehen.
({5})
Ich will noch eine weitere Bemerkung machen und
darlegen, was mir ebenfalls gegen den Strich geht. Ich
habe in meiner politischen Vergangenheit viele Aufrufe
und Appelle unterschrieben. Ich war mir immer im Klaren darüber, wie Aufrufe interpretiert werden können.
Ich würde mir wünschen, dass auch Sie sich dies bewusst machen. Denn Sie sind doch nicht so naiv, zu
glauben, dass es in der Öffentlichkeit keine Rolle spielt,
dass das, was Sie nicht wollen, im Aufruf nicht enthalten
ist.
Aber ich will eines zum Prinzip der Nichteinmischung und zum Prinzip der linken Solidarität sagen
- das meine ich wirklich ernst -: Sie verkaufen und verraten Ihre eigene Geschichte. Das will ich ganz deutlich
sagen. Wir haben gemeinsam auf der Straße gestanden
und gefordert, dass unsere Regierungen boykottieren,
Embargos ausüben gegen Südafrika, waren gemeinsam
gegen das faschistische Regime in Chile, gegen andere
für uns unerträgliche politische Systeme.
({6})
Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: „Nichteinmischung ist des Teufels“, dann verraten Sie Ihre eigenen
linken solidarischen Ideale. Damit sollten Sie einfach
aufhören. Das ist unsinnig.
({7})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Thomas
Feist. Bitte schön, Kollege Dr. Thomas Feist.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das zeitgeschichtliche Forum in meiner Heimatstadt Leipzig wirbt mit dem Motto: „Geschichte kann zu Einsichten führen und verursacht
Bewusstsein“. Weder Einsicht noch Bewusstsein ist genau das, was den Geist dieses Aufrufes im Internet kennDr. Thomas Feist
zeichnet, den sechs Abgeordnete der Linkspartei unterschrieben haben. Ich muss ganz ehrlich sagen, Herr
Kollege Maurer, Ihre Rhetorik des Kalten Krieges, mit
der Sie versucht haben, eine Pro-Assad-Unterzeichnung
ins Gegenteil zu verkehren, ist entweder verquaste Dialektik oder schlicht und einfach verlogen.
({0})
Historisch betrachtet ist das Mittel, dass man Initiatoren von Volksbewegungen, Freiheitsbewegungen der
Verschwörung bezichtigt, immer ein gutes Mittel gewesen, um diese Bewegung zu diskreditieren. Das sieht
man natürlich nicht nur an den Ländern des ehemaligen
Ostblocks, sondern das sieht man ganz genau und deutlich auch an unserer eigenen deutschen Geschichte. Insofern, lieber Herr Kollege Beck, hätte ich mir
gewünscht, dass Sie in Ihrer Ansprache darauf eingegangen wären, dass Sie heute immer noch nur „Die Grünen“
wären, wenn die Lügen, die die SED und ihre Parteiführung damals über Bündnisleute verbreitet haben, zugetroffen hätten. Wenn das durchgegangen wäre, wären Sie
heute immer noch „Die Grünen“. Ich denke, Sie sind
sehr froh, dass Sie heute „Bündnis 90/Die Grünen“ sind.
({1})
- Das ist doch wunderbar.
({2})
- Das muss der Präsident machen.
Zurück zu dem Aufruf. Manchmal fühlt man sich um
Jahrzehnte zurückversetzt, wenn man liest, dass die
Feinde diejenigen sind, die dies schon immer waren. Das
sind die imperialistischen Aggressoren, hier namentlich
USA und Israel.
({3})
In dieser Aufzählung fehlen eigentlich nur noch die Bonner Ultras. Dann würde man erkennen, was dieser Aufruf eigentlich ist: Er ist eine Blaupause aus der Abteilung
Agitation und Propaganda beim ZK der SED.
({4})
Als Leipziger, der von Anfang an auch an den Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen in Leipzig
teilgenommen hat, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung
sagen, wie schlimm und verheerend es ist, wenn ständig
unterstellt wird, man sei ein Agent eines feindlichen
Staates. Es ist unerträglich, dass man mit Sabotage in
Verbindung gebracht wird. Man kann sich gegen diesen
Vorwurf nicht wehren. Ich bin sehr froh, dass wir es gerade durch die westlichen Massenmedien geschafft haben, einen Rückhalt zu bekommen, um diesen abstrusen
Verschwörungstheorien ein für allemal einen Riegel vorzuschieben.
({5})
Ich habe heute in einen Artikel der jungen Welt vom
September 1989 geschaut. Das war die Zeit der großen
Ausreisewelle. Viele Menschen haben versucht, das repressive System der DDR zu verlassen. In dieser Zeitung
gab es einen Leserbrief, der suggerieren wollte, dass diejenigen, die im Westen waren, mit K.-o.-Tropfen außer
Gefecht gesetzt wurden. Das war die normale Propaganda, die erzählt worden ist. Die Einmischung von Außen war letztendlich für alles Übel verantwortlich.
Ich muss Ihnen eines sagen - das sage ich vor allen
Dingen auch zur Führung der Linken -: Wenn man ein
tyrannisches System unterstützt, das nicht nur für über
5 000 Tote verantwortlich ist, sondern auch für Folter
und Repression, und sich als Parteiführung nicht gegen
ein paar Spinner wehrt, die das unterzeichnen, dann ist
das nicht nur fahrlässig, sondern zynisch und ein Skandal.
({6})
Ich fand es sehr interessant, dass auch diesmal wieder
die üblichen Verdächtigen diesen Aufruf unterschrieben
haben; denn ich habe mich entsonnen, dass es genau diejenigen waren, die damals als Friedensaktivisten über
das Mittelmeer gesegelt sind,
({7})
und zwar unter dem fröhlichen Abspielen von Liedern,
in denen zu Massakrierungen an Juden aufgerufen worden ist.
({8})
Das muss man sich wieder ins Bewusstsein rufen. Es
handelt sich um genau dieselben Edelkommunisten - ich
kann es nicht anders sagen -, die mir damals auf ihrer
Transitreise von Westdeutschland nach Westberlin mit
ihrem Westgeld in der Tasche erzählt haben, wie toll der
Kommunismus ist. Das hat mit Realität oder mit Realitätssinn nichts zu tun.
({9})
Abschließend will ich noch auf Folgendes hinweisen:
Sie haben ja im Zusammenhang mit Syrien und Iran
Nichteinmischung und den eigenen Weg der Staaten propagiert. Mir hat in dieser Auflistung eigentlich nur noch
ein Staat gefehlt, der am konsequentesten seinen eigenen
Weg geht - und das ist Nordkorea.
({10})
Ich bitte Sie, mit der Kim-Il-Sungisierung der Linkspartei aufzuhören. Nehmen Sie sich einmal den Kommentar der heutigen SZ zu Herzen. Darin steht, dass die
Linken in ihrem Fraktionssaal ein Schild anbringen sollten: „Parteien haften für ihre Spinner“.
Vielen Dank.
({11})
Letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Wolfgang
Götzer. Bitte schön, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die jüngsten Solidaritätsbekundungen von Abgeordneten der Linken mit den menschenverachtenden Regimen
in Syrien und im Iran zeigen einmal mehr, wes Geistes
Kind sie sind.
({0})
Unverhohlene Sympathien mit Diktaturen und das altbekannte Feindbild, nämlich Amerika und die NATO, prägen ihr Weltbild.
Die sechs Abgeordneten der Linken, die den strittigen
Internetaufruf unterzeichnet haben, haben damit nicht
nur ihre ganze Fraktion ins außenpolitische Abseits gestellt, sondern sie haben all die Menschen, die in ihren
Ländern für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte
kämpfen, verhöhnt.
({1})
Dass zu den Unterzeichnern des am 3. Januar dieses
Jahres veröffentlichten Textes auch die Sprecherin der
Linken für internationale Beziehungen gehört, zeigt, wie
tief dieses Denken in der Partei verhaftet ist, die sich
heute Die Linke nennt, die aber die alte SED ist.
({2})
In dem Punkt, Herr Kollege Kurth, muss ich Sie korrigieren: Hier sitzt nicht die Nachfolgepartei der SED,
sondern das ist ein und dieselbe Partei geblieben, die
sich nur mehrmals umbenannt hat. Das sollte wieder einmal angesprochen werden.
({3})
Frau Dağdelen und die anderen fünf Abgeordneten
der Linken - Eva Bulling-Schröter, Dieter Dehm, Heike
Hänsel, Annette Groth und Ulla Jelpke ({4})
haben eine Erklärung unterzeichnet, die den USA und
der NATO vorwirft, „offen den Krieg gegen die strategisch wichtigen bzw. rohstoffreichen Länder Syrien und
Iran“ vorzubereiten.
Die USA und die EU würden durch Embargos die
Wirtschaft des Iran und Syriens bewusst in eine tiefe
Krise stürzen, innere soziale Konflikte zuspitzen und einen Bürgerkrieg entfachen wollen, um einen Vorwand
für die längst geplante militärische Intervention zu
schaffen. Doch damit nicht genug: Die sechs LinkenAbgeordneten fordern des Weiteren die Bundesregierung auf, „die Embargomaßnahmen gegen den Iran und
Syrien bedingungslos und sofort“ aufzuheben.
Das geschieht vor dem Hintergrund der jüngsten Drohungen Irans, die Straße von Hormus für den internationalen Seeverkehr zu schließen.
({5})
Man stelle sich das bloß einmal vor - oder lieber nicht -:
Der Iran droht mit der Verletzung der Freiheit der Seewege, was laut Einschätzung nicht nur der USA einer
Kriegserklärung gleich käme, und Deutschland belohnt
diese Androhung eines völkerrechtswidrigen Akts auch
noch mit der Aufhebung von Sanktionen.
Ein ähnliches Szenario gibt es in Syrien: Wie vor einigen Tagen die jüngste Ansprache von Assad in der Universität von Damaskus gezeigt hat, schreckt er vor keiner noch so ungeheuerlichen Lüge und Verdrehung
zurück. In dieser Rede streitet er jegliche Verantwortung
für die bürgerkriegsähnlichen Zustände in seinem Land
ab, die laut UN-Angaben mittlerweile circa 5 000 Menschen das Leben gekostet haben, und bezeichnet die
Aufständischen als Terroristen, die ihn durch ihre vom
Ausland geförderten Terrorakte davon abhalten würden,
das Land zu reformieren. Das ist an Ungeheuerlichkeit
wirklich nicht zu überbieten.
Auch in der arabischen Welt ist das Assad-Regime
mittlerweile isoliert. Nur die Linke sympathisiert nach
wie vor offen mit diesem Unrechtsregime.
({6})
Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit
Unrechtsregimen haben diejenigen in der Linkspartei,
die eine SED-Vergangenheit haben, ja ganz offensichtlich keine Probleme.
({7})
Schließlich war Syrien - daran möchte ich erinnern einmal ein sozialistisches Bruderland der DDR. Schon
vergessen?
({8})
Die Solidaritätsbekundungen der Linken sind, wie
Kollege Gröhe zu Recht gesagt hat, ein Schlag ins GeDr. Wolfgang Götzer
sicht aller, die im arabischen Frühling ihr Leben für Freiheit und Demokratie riskieren.
({9})
Zynischer und menschenverachtender - die beiden Begriffe kommen in dem Aufruf vor; ich verwende sie jetzt
ganz bewusst, und zwar gegen die Unterzeichner - geht
es wahrlich nicht mehr. Wie lange will die Linkspartei
eigentlich noch Schießbefehle verteidigen?
({10})
Sie haben aus Ihrer SED-Vergangenheit nichts gelernt.
({11})
- Frau Kollegin, Sie haben völlig recht: Das macht es
noch schlimmer.
Wenn jetzt einige Unterzeichner zurückrudern und
behaupten, sie hätten mit diesem Aufruf nicht die menschenverachtenden Regime, sondern die notleidenden
Bevölkerungen Syriens und Irans unterstützen wollen,
möchte ich dazu ganz klar sagen: Das nimmt Ihnen keiner ab.
({12})
Wir verlangen deshalb, auch im Hinblick auf die Tausenden Opfer syrischer Gewaltherrschaft, eine klare Distanzierung der linken Führungsspitze von diesem Aufruf. An die Adresse der sechs Unterzeichner sage ich:
Sie sollten sich schämen.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Wenn wir wieder die notwendige Ruhe im Hause haben, rufe ich den nächsten Tagesordnungspunkt auf.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gero
Storjohann, Dirk Fischer ({1}), Arnold
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick
Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Verkehrssicherheit in Deutschland weiter verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kirsten
Lühmann, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Sicher durch den Straßenverkehr - Für eine
ambitionierte Verkehrssicherheitsarbeit in
Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Masterplan Straßenverkehrssicherheit Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011-2020 vorlegen
- Drucksachen 17/5530, 17/5772, 17/7466,
17/8341 Berichterstattung:
Abgeordnete Gero Storjohann
Oliver Luksic
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sie sind
damit einverstanden? - Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Gero Storjohann. Bitte schön, Kollege Gero Storjohann.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist wie im alltäglichen Leben: Wenn die
Tagesordnung bzw. das Programm wechselt, dann
kommt meistens ein Werbeblock. Damit möchte ich
gerne anfangen. Am 16. Januar 2012, vor drei Tagen, ist
eine neue Internetseite freigeschaltet worden:
www.riskiernichts.de. Unter dem Leitspruch „Sei clever!
Riskier nichts!“ haben das Bundesverkehrsministerium
und die Deutsche Verkehrswacht die Aktion Landstraße
gestartet.
({0})
Sie ist Teil des neuen Verkehrssicherheitsprogramms der
Bundesregierung. Diese Kampagne richtet sich an Fahranfängerinnen und Fahranfänger im Straßenverkehr bis
zum Alter von 24 Jahren. Thematisiert werden insbesondere die Risiken von Landstraßenfahrten.
({1})
Denn sechs von zehn Personen, die im Straßenverkehr
zu Tode kommen, sterben bei Unfällen auf Landstraßen.
Um die jugendlichen Fahrer zu erreichen, werden
Szenarien thematisiert, mit denen sich die junge Zielgruppe besonders gut identifizieren kann. Am Beispiel
der Heimfahrt von einem Diskothekenbesuch wird so
unter anderem auf die Gefahren von Alkohol am Steuer
und einer überhöhten Geschwindigkeit bei nächtlichen
Überlandfahrten hingewiesen. Gleichzeitig nutzt diese
Aktion verstärkt das Internet, etwa Facebook und YouTube, um so die Zielgruppe zu erreichen. Diese Kampagne
ist modern, sie ist notwendig. Ich finde es gut, dass wir
hier neue Wege beschreiten; denn diese Wege sind zeitgemäß, und wir müssen Aufmerksamkeit erreichen, um
Fortschritte in der Verkehrssicherheitsarbeit zu erzielen.
Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionfraktionen, die Verkehrssicherheit in Deutschland weiter zu
verbessern, beschließen wir heute ein ambitioniertes
Programm, um die Verkehrssicherheitsarbeit stetig zu
optimieren und auch an neue Entwicklungen anzupassen. Wir sprechen uns aus für die Akzeptanz von Straßenverkehrsregelungen. Diese Akzeptanz muss erhöht
werden. Wir sprechen uns aus für das freiwillige Tragen
von Fahrradhelmen, und wir sprechen uns aus für die
freiwillige Gesundheitsüberprüfung für ältere Verkehrsteilnehmer. Arnold Vaatz guckt ungläubig. Wir sind uns
noch nicht einig, ab welchem Alter man zu den älteren
Verkehrsteilnehmern zählt.
({2})
Wir bekennen uns zum Aus- und Neubau von Verkehrsinfrastruktur. Auch Ortsumgehungen sind ein Beitrag für
die Verkehrssicherheit. Das ist für die CDU/CSU ein besonders wichtiger Punkt.
Die Verkehrssicherheit in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig besser geworden. Von 2000
bis 2010 ist die Zahl der jährlichen Verkehrstoten um
über die Hälfte auf 3 657 gesunken. Im Vergleich zum
Nachwendejahr 1991 ist das ein Rückgang um 68 Prozent. Wir müssen aber auch feststellen, dass diese Zahlen erstmals seit 2011 wieder leicht angestiegen sind. Es
zeigt sich: Wir haben ein hohes Niveau bei der Verkehrssicherheitsarbeit, aber das ist nicht selbstverständlich,
und auch eine Verbesserung ist nicht leicht zu erzielen.
Deutschland verzeichnet im EU-weiten Vergleich gemessen an seiner Bevölkerungszahl den viertbesten Wert
an Verkehrstoten. 1991 lagen wir noch auf Rang 13.
Wir stoßen natürlich an Grenzen, wenn wir neue Konzepte umsetzen wollen; denn der Fortschritt lässt sich
nur noch Schritt für Schritt erzielen. Deshalb wollen wir
die bisherige bewährte Arbeit fortsetzen, aber auch ergänzen. Vielleicht können wir von unseren Nachbarländern lernen. Ich möchte hierzu zwei Beispiele geben.
In Österreich wird sehr erfolgreich ein Mehrphasenmodell bei der Fahrausbildung erprobt und angewandt.
Dort ist es so, dass die Fahranfänger nach einigen Monaten selbstständigen Fahrens weitere Lerneinheiten absolvieren müssen. Bei sogenannten Feedbackfahrten unter
Anleitung eines Fahrlehrers können Fehler, die sich in
den ersten Monaten selbstverständlich einschleichen, registriert, besprochen und abgestellt werden.
({3})
Außerdem ist die Teilnahme an einem Fahrsicherheitstraining und einem verkehrspsychologischen Gruppengespräch verpflichtend. Ich selbst habe an einem solchen
Gruppengespräch teilgenommen, und ich muss feststellen: Es hat mich beeindruckt, wie nachvollziehbar der
Lernprozess bei Jugendlichen ist. Im Ergebnis verzeichnet Österreich seit Einführung der Mehrphasenausbildung 30 Prozent weniger Unfälle in dieser speziell betroffenen Altersklasse. Deshalb haben wir die Prüfung
von Verbesserungen bei der Fahranfängervorbereitung
und -ausbildung und die Prüfung einer Begleitphase
nach abgelegter Fahrausbildung und Fahrprüfung als einen wichtigen Punkt in unseren Koalitionsantrag aufgenommen.
Weiterhin sieht unser Antrag die Prüfung der Einführung sogenannter Alcolocks bei durch Alkoholkonsum
auffällig gewordenen Verkehrsteilnehmern vor. Alcolocks werden derzeit in Österreich, in den Niederlanden
und auch in den USA sehr erfolgreich eingesetzt.
({4})
Ich stelle fest: Auch in finnischen und französischen
Schulbussen erfolgt der Einsatz bereits. Was sind Alcolocks? Das sind handygroße Geräte, die Sie vor Fahrtantritt bedienen müssen. Wenn ein erhöhter Alkoholwert
festgestellt wird, lässt sich das Fahrzeug nicht starten.
Wir meinen, dass die Alcolocks dafür Sorge tragen können, dass Alkoholiker im Straßenverkehr keine Gefährdung mehr darstellen. Das halten wir für eine wichtige
Maßnahme.
({5})
Das sind nur einige Beispiele für wichtige Impulse
der zukünftigen Verkehrssicherheitsarbeit, die diese Koalition setzen will. Wir fordern die Bundesregierung auf,
das ambitionierte Ziel von 40 Prozent weniger jährlichen
Verkehrstoten bis 2020 anzugehen. Gleichzeitig soll der
Fokus nicht nur auf die Verkehrstoten gerichtet werden,
wir müssen auch die Zahl der Schwer- und Schwerstverletzten reduzieren. Wir brauchen dafür einheitliche Bewertungsmaßstäbe innerhalb Europas, damit wir vergleichbare Zahlen miteinander vergleichen können. Wir
müssen einen Fokus auf die besonders gefährdeten Personen richten; das sind Kinder unter 15 Jahren, Fahranfänger zwischen 17 und 24 Jahren und Personen über
75 Jahren.
Meine Damen und Herren, die Unfallforscher der
Versicherer kommen zu dem Ergebnis, dass die Verkehrssicherheit in Deutschland anders beurteilt wird, als
es die Statistik aussagt. Man sagt, dass das Verkehrsklima rauer geworden ist. Das zeigt uns sehr deutlich: In
der Verkehrssicherheitsarbeit ist weiterhin viel zu tun,
und mit unserem Antrag - so glauben wir - machen wir
einen wichtigen Schritt nach vorne.
({6})
Vielen Dank, Kollege Gero Storjohann. - Jetzt spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Verehrte Gäste! Seit 20 Jahren sinkt die Zahl der
Todesopfer bei Verkehrsunfällen, obwohl die Zahl der
Verkehrsteilnehmer in dieser Zeit deutlich gestiegen ist.
2011 - mein Vorredner hat es erwähnt - ist sie zum ersten Mal wieder gestiegen. Natürlich stellen wir uns als
Verkehrspolitiker die Frage, was wir verkehrt gemacht
haben. Ich denke, wir haben nichts verkehrt gemacht.
Das sagen uns auch die Experten.
Diese Zahl muss uns aber eine Mahnung sein - eine
Mahnung, dass die Verkehrssicherheitsarbeit niemals zu
Ende sein wird. Dem trägt auch der vorliegende Antrag
der SPD Rechnung. Wir fordern eine ambitionierte, moderne Verkehrssicherheitsarbeit für Deutschland. Dieses
Thema ist augenscheinlich auch von anderen Fraktionen
aufgegriffen worden. Schließlich liegen uns auch Anträge der Grünen und der Koalitionsfraktionen vor.
Etwas verwundert bin ich allerdings darüber, dass das
Konzept, über das wir heute diskutieren, vom Verkehrsminister schon vorgelegt wurde. Herr Ferlemann, dass
Minister Ramsauer die 40 Empfehlungen des von ihm
dazu beauftragten Beirats zum großen Teil ignoriert,
wundert mich nur mäßig. Dass aber auch die Beratungen
dieses Parlaments so wenig Aufmerksamkeit in Ihrem
Hause finden, dass Sie das Konzept einfach früher vorlegen, finde ich doch bedenkenswert, zumal noch nicht
einmal alle Ideen Ihrer eigenen Fraktion in dieses Verkehrssicherheitskonzept eingeflossen sind.
Die SPD fordert in ihrem Antrag die Bundesregierung
auf, konkrete Ziele für die Verkehrssicherheitsarbeit zu
definieren und neue Wege auszuprobieren, um die gute
Arbeit der vergangenen Jahre fortzuführen.
Ich erinnere an das Thema Fahranfänger. Der Kollege
Storjohann hat es ausgeführt: Diese sind eine besonders
gefährdete Gruppe mit einer traurigen Steigerungsrate an
Verkehrsunfalltoten. Wir schlagen vor, Maßnahmen zu
entwickeln, um eine Lernzeitverlängerung zu erreichen.
Das heißt, auch nach dem Erwerb der Fahrerlaubnis
müssen Fahranfängern Maßnahmen angeboten werden.
Der Koalitionsantrag - wir haben es gehört - erkennt
dieses Thema zumindest an. Allerdings ist im Regierungsprogramm Fehlanzeige. Das wichtige Thema
„Mehrphasenmodell in der Fahrausbildung“ kommt in
diesem Programm schlicht nicht vor.
Also, Herr Ferlemann, sollte nur einer der heute diskutierten Anträge angenommen werden, heißt das für
Sie: Nachsitzen! Hausaufgaben machen!
({0})
Wenn das Verkehrssicherheitsprogramm also aufgrund der Vorschläge unserer Fachleute sowieso überarbeitet werden muss, dann können wir es auch gleich auf
stabile Füße stellen. Denn was bisher vorliegt, ist eine
nette Sammlung lang bekannter Maßnahmen, die übersichtlich und sorgfältig zusammengestellt sind. Weit und
breit finden wir aber keine neuen Impulse. Vorausschauende und nachhaltige Verkehrssicherheitsarbeit, meine
Herren und Damen, sieht wahrlich anders aus.
Was gesellschaftliche Diskurse zum Beispiel über das
Thema Höchstgeschwindigkeit - wir alle wissen, dass
überhöhte Geschwindigkeit eine der Hauptursachen für
tödliche Verkehrsunfälle ist - angeht, so finde ich darüber nichts. Was ist mit selbsterklärenden Verkehrsräumen oder neuen Verkehrskonzepten für die gemeinsame,
gleichberechtigte Nutzung von Verkehrsflächen in Innenstädten? Fehlanzeige. Selbst die von Ihnen dargestellten Maßnahmen sind unwirksam, wenn sie erstens
nicht die Akzeptanz der Bevölkerung finden und wenn
die Polizei zweitens ihre Einhaltung nicht überwacht.
Bei der Akzeptanz geht es um Aufklärung. Die Verkehrswachten zum Beispiel leisten hier eine hervorragende Arbeit; mein Kollege Hacker wird noch näher
darauf eingehen. Ich möchte an dieser Stelle ein persönliches Dankeschön an alle hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter richten, die sich hier engagieren.
({1})
Für die Überwachung ist die Polizei zuständig. In
dem Antrag der SPD fordern wir, die Kontrolldichte zu
erhöhen. In der Diskussion im Verkehrsausschuss habe
ich von den Kollegen der Koalitionsfraktionen gehört:
Dafür sind wir als Bundesbehörden doch gar nicht zuständig. Richtig, Polizeiarbeit ist Ländersache. Das wollen wir auch nicht ändern. Aber selbst in Ihrem eigenen
Verkehrssicherheitsprogramm stellen Sie fest, dass zahlreiche der von Ihnen genannten Maßnahmen keinen Erfolg haben werden, wenn die Einhaltung nicht überwacht, also die Kontrolldichte nicht erhöht wird. Welche
Folgerungen, Herr Ferlemann, zieht Ihr Minister aus
dem, was ich eben gesagt habe? Augenscheinlich keine.
Das ist sicherlich die einfachste Lösung, aber ich habe
erhebliche Zweifel daran, ob es die sachgerechteste ist.
Letzte Woche war ich an der Hochschule der Polizei in
Münster und habe vor angehenden Führungskräften das
Thema Verkehrssicherheit angesprochen und dargelegt,
welche Wünsche wir als Parlament an die Polizei bei der
Verkehrssicherheitsarbeit haben. In der anschließenden
Diskussion haben mir die Teilnehmenden dargelegt, welche Rolle sie sich hierbei wünschen. Als Fachleute, die
Verkehrsunfälle aufnehmen, Ursachen ermitteln und
frühzeitig Trends darlegen können, möchten sie gerne in
eine Arbeit, die sie direkt betrifft und deren Erfolg von ihrer eigenen Leistung abhängt, eingebunden werden. Sie
haben recht damit.
Unsere Fraktion hält es für unabdingbar, dass sich alle
Akteure verstärkt austauschen und zusammenarbeiten,
um das bestmögliche Ergebnis, die Vision Zero, zu erreichen. Wir sind der Meinung, dass man dieses Thema
weiter ausbauen sollte. Man könnte zum Beispiel eine
Koordinierungsstelle als Bindeglied zwischen der entsprechenden Unterarbeitsgruppe der Innenministerkonferenz und unserem Verkehrsministerium einrichten.
Das Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung ist überarbeitungsbedürftig; das hat Kollege
Storjohann dargelegt. Stimmen Sie also auch dem Antrag der SPD zu. Dann können wir mit den Vorschlägen,
die auch von den Experten in der Anhörung als notwendig erachtet wurden, gemeinsam ein Verkehrssicherheitsprogramm gestalten, das besser geeignet ist, sich
den neuen Herausforderungen moderner Mobilität zu
stellen - zum Wohle der Menschen in unserem Lande.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Oliver
Luksic. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass unsere umfangreichen Beratungen zur
Verkehrssicherheit heute zu einem, denke ich, guten Ende
kommen. Wir wissen - das wurde zu Recht betont - um
die großen Erfolge der Vergangenheit, die wir alle gemeinsam erzielt haben. Dennoch ist richtig: 2011 gab es
zum ersten Mal wieder einen kleinen Anstieg der Zahl
der im Straßenverkehr Getöteten. Das sollte uns in der
Tat mahnen, uns nicht auf erreichten Erfolgen auszuruhen.
Das, was Kollegin Lühmann eben gesagt hat, kann
ich voll und ganz unterstreichen: Wir haben in Deutschland zahlreiche Verbände sowie ehrenamtliche Helfer,
die sich beispielsweise als Schülerlotsen engagieren und
bei Kampagnen der Verkehrswacht mitarbeiten. Sie alle
machen Deutschland jeden Tag ein Stück weit sicherer.
Dafür ist, glaube ich, der Dank aller Fraktionen im Deutschen Bundestag besonders wichtig und richtig.
({0})
Das Thema Verkehrssicherheit geht alle an. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir uns in der Anhörung
so intensiv damit befasst haben. Ich glaube, trotz aller
Diskussionen, die geführt werden müssen, haben wir bei
diesen Themen sehr viel Gemeinsames entdeckt. Es war
eine konstruktive Anhörung. Es ist gut und richtig, dass
wir dieses große Fachwissen nutzen.
Ich glaube, Einigkeit besteht - das wurde eben angesprochen - beim Thema „Verbesserung der Fahrausbildung“. Dies muss bald angegangen werden. Die sogenannte zweite Stufe, also die Betreuung nach der ersten
Ausbildung, liegt uns als FDP sehr am Herzen. Ich hätte
mir dazu ein klareres Bekenntnis im Verkehrssicherheitsprogramm gewünscht. Sie wissen, dass die BASt,
die Bundesanstalt für Straßenwesen, aktuell Empfehlungen zur Verbesserung der Fahrausbildung ausarbeitet.
Ich bin sehr hoffnungsfroh, dass dieser Gedanke dort
aufgenommen wird und wir dieses Thema weiter verfolgen können. Es bietet nämlich großes Potenzial für die
Verkehrssicherheit. Deswegen steht die FDP klar zu dem
Modell, das wir auch aus Österreich kennen.
({1})
Was die technische Seite betrifft, ist es, glaube ich,
wichtig, dass wir uns auf die neuen Herausforderungen
der Verkehrssicherheit einstellen. Pedelecs gewinnen an
Bedeutung. Dies ist ein wichtiges Thema, weil schon
heute technische Schwierigkeiten bestehen und es zu
Rahmenbrüchen kommt, wodurch die Unfallzahlen steigen. Wir müssen meiner Meinung nach auch über die
Schaffung neuer Fahrzeugklassen nachdenken. Wir werden mit Sicherheit, weil dies gerade im Bundesrat ein
Thema ist, auch über die Helmpflicht strittig diskutieren.
Wir als FDP und die Koalition setzen auf freiwillige
Maßnahmen und Kampagnen wie „Ich trage Helm“ und
„Fahrradhelm macht Schule“. Würde man eine Helmpflicht einführen, bestünde nämlich die große Gefahr,
dass das Radfahren unattraktiver und geschwächt würde.
Das ist unserer Meinung nach genau der falsche Weg,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Bei aller Übereinstimmung beim Thema Verkehrssicherheit gibt es natürlich auch Unterschiede zwischen
den Fraktionen, auch bei den Ansätzen. Unsere Leitlinie
ist nicht Vermeidung von Verkehr, sondern lebenslange
Mobilität; diese soll natürlich sicher sein. Eine gute Verkehrserziehung soll so früh wie möglich anfangen, auch
im motorisierten Bereich. Deswegen begrüßen wir es
ausdrücklich, dass im Hinblick auf AM 15, den Mopedführerschein mit 15, in drei Bundesländern Feldversuche
durchgeführt werden, nämlich in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Unser Ziel ist eine bessere Ausbildung der jungen Fahrer, vor allem im Vergleich zur aktuell schlechten Mofaausbildung. Wir meinen, man
sollte diese Feldversuche nicht von vornherein ablehnen,
sondern die Ergebnisse der Prüfung abwarten. Wir finden es gut, dass drei Bundesländer bei diesem Thema, zu
dem es auch einen Beschluss des Deutschen Bundestages gibt, vorangehen.
({2})
Den geschützten Erfahrungsaufbau müssen wir natürlich weiterdenken. Die Koalition hat sich schon sehr
lange und sehr frühzeitig mit dem Thema BF 17 beschäftigt. Es ist ein Erfolgsprojekt. Allerdings nehmen noch
zu wenige Angehörige der entsprechenden Altersgruppe
daran teil, nur knapp 50 Prozent. Diesen Anteil müssen
wir steigern und zusammen mit allen Verbänden und
Fahrschulen höhere Teilnahmezahlen erwirken. Wir
müssen auch über das nachdenken, was wir in der Anhörung erfahren haben. Das Thema „Begleitetes Fahren
mit 16“ sollte schon als Idee angedacht werden, natürlich verbunden mit Geschwindigkeitsbeschränkungen
oder dem verpflichtenden Einbau von Fahrerassistenzsystemen. Die FDP jedenfalls steht dem Gedanken des
begleiteten Fahrens mit 16 sehr offen gegenüber.
({3})
Von Fahrerassistenzsystemen erwarten wir und erhoffen wir uns besonders viel für die wichtige Gruppe der
älteren Fahrer. Da die demografische Entwicklung so ist,
wie sie ist, und da wir uns die Unfallzahlen genau anschauen müssen, ist es wichtig, im Hinblick auf Fahrerassistenzsysteme mehr zu tun. Das bringt unserer
Meinung nach mehr als Drohungen wie der Führerscheinentzug oder eine Pflichtprüfung alle zehn Jahre, wie es
die Grünen in ihrem Antrag fordern. Die Koalitionsfraktionen sind der Meinung, dass wir kein Beschäftigungsprogramm für bestimmte Berufsgruppen brauchen. Wir
wollen die Mobilität erhalten, gerade die der älteren Fahrer, die wir nicht ausgrenzen wollen. Das ist, glaube ich,
ein ganz wichtiger Punkt, den wir festhalten müssen.
({4})
Strittig sind immer wieder die Promillegrenzen; das
waren sie auch in den Ausschüssen. Ich glaube, ein
Thema, das wir wirklich angehen müssen - hier wird
wahrscheinlich Konsens bestehen -, ist die Promillegrenze für Radfahrer. Mit 1,6 Promille kann man kein
Fahrzeug mehr steuern, auch kein Fahrrad. Darüber wird
gerade auch in der einen oder anderen Universitätsstadt
heftig diskutiert.
({5})
Eine allgemeine 0,0-Promille-Grenze im Straßenverkehr lehnen wir als unverhältnismäßig ab. Das Problem
sind unserer Meinung nach die Fahrer, die 1 Promille Alkohol und mehr im Blut haben. In der Anhörung hieß es
zu Recht, dass es eher um fahrende Trinker als um trinkende Fahrer geht. Dieses Thema müssen wir angehen,
statt diejenigen, die zum Essen ein Bier trinken, zu gängeln. Das ist unserer Meinung nach falsch.
Falsch ist auch die Forderung nach Tempolimits. Es
gibt schon heute genug Möglichkeiten, auch innerorts,
wie es die Oppositionsfraktionen anregen, überall
Tempo 30 einzuführen, wenn dies im Hinblick auf die
Verkehrssicherheit notwendig ist. Wir meinen, dass eine
umfangreiche Verbotskultur, wie wir sie Ihren Anträgen
entnehmen, in die falsche Richtung führen würde.
Klar ist - das ist ein weiteres wichtiges Thema, bei
dem, glaube ich, Konsens besteht -: Wir sollten den Fokus mehr auf die Landstraßen richten und die Idee von
der selbsterklärenden und Fehler verzeihenden Landstraße verfolgen. Wir können auch hier über Sicherheitsaudits vor möglichen Aus- und Umbaumaßnahmen
nachdenken, um Unfallschwerpunkte zu entschärfen.
Klar ist: Wir müssen gemeinsam an diesem Thema arbeiten. Zehn Tote pro Tag sind noch immer zu viel. Unser Ziel muss eine lebenslange und sichere Mobilität
sein. Dafür stehen die Koalitionsfraktionen.
({6})
Vielen Dank, Kollege Oliver Luksic. - Jetzt spricht
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Herbert
Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verkehrsunfälle gehören zu den grausamsten Todesursachen, die wir kennen. Angehörige und Freunde bleiben
gezeichnet für ihr ganzes Leben zurück. Das passiert
tausendfach in unserem Land: 2010 waren es 3 657 Verkehrstote, 2011 werden es vermutlich 3 900 gewesen
sein. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn die Zahlen
wieder steigen. Unser oberstes Ziel muss sein: Runter
mit der Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr, und
zwar deutlich!
In der Europäischen Union ist man sich hier einig.
Die Zahl der Unfalltoten auf den Straßen soll in den
nächsten zehn Jahren im Vergleich zu 2010 halbiert werden. Das heißt, 2020 sollen es in Deutschland nicht mehr
als 1 800 Todesopfer auf der Straße sein.
Die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion halten das für
unrealistisch und verabschieden sich von diesem gemeinsamen europäischen Ziel. Damit widersprechen Sie
selbst dem Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung. Dort ist zu lesen: Jedes Opfer von Verkehrsunfällen ist eines zu viel. Das bedeutet doch wohl: Es soll
keine Toten mehr im Straßenverkehr geben. Das sagt die
Bundesregierung.
In den Beratungen haben wir Fraktionen der Opposition versucht, Sie davon zu überzeugen, mutiger zu sein,
als Sie es dann waren. Die Linke hat Sie aufgefordert,
die 40 Einzelmaßnahmen, die Sie aufgeschrieben haben,
zusammenzufassen, damit ein wirkliches Programm erkennbar wird, das zu mehr Verkehrssicherheit führen
soll. Sie haben das abgetan mit dem Hinweis, die Bundesrepublik stehe im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten doch gut da, weil wir in Bezug auf die
Verkehrssicherheit an vierter Stelle stehen. Damit werden wir dem Problem doch nicht gerecht!
Die Linke fordert eine neue Verkehrspolitik, das
heißt, weniger Straßenverkehr und mehr Geld für Verkehrssicherheit. Das ist doch besser als der bedarfsgerechte Ausbau des Bundesverkehrsstraßennetzes, den
die Regierungsfraktionen fordern.
Die Menschen müssen und wollen auch mobil sein.
Um ihren Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz zu erreichen,
sind sie häufig auf das Auto angewiesen. Oft haben sie
gar keine andere Wahl als das Auto, um zum richtigen
Zeitpunkt an dem Ort zu sein, an dem sie sein müssen.
Der öffentliche Personenverkehr muss in der Konsequenz also ausgebaut werden, und zwar so, wie ihn die
Menschen brauchen. Das wäre ein wichtiger Beitrag zu
mehr Verkehrssicherheit auf den Straßen, aber das
kommt in keinem der Anträge vor.
„Runter vom Gas!“: Das ist nicht nur eine Aufforderung auf den Plakaten der Deutschen Verkehrswacht,
sondern das heißt auch für uns als Gesetzgeber: runter
mit den Tempolimits auf den Autobahnen, auf Landstraßen und auch innerorts. Tempolimits bringen allen Verkehrsteilnehmern mehr Ruhe, mehr Übersicht und mehr
Sicherheit. Das schützt vor allem die schwächeren Verkehrsteilnehmer. Bis das alle akzeptiert haben, braucht
es Zeit; das ist klar. Sie schreiben auch selber: Ohne Re18210
gelakzeptanz der Bürgerinnen und Bürger geht das nicht.
D’accord; das ist richtig.
Ohne Geld für Verkehrssicherheitsprogramme geht es
aber eben auch nicht. Deshalb haben die Linken und
auch die Fachverbände in der Anhörung gefordert, den
Etat im Bundeshaushalt für diesen Bereich von 10 auf
14 Millionen Euro maßvoll, wie wir denken, zu erhöhen.
Sie waren dagegen.
Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag einen Masterplan. Viele Forderungen stehen darin. Wir
sind zwar nicht mit allen Punkten einverstanden, aber
die Richtung stimmt. Vision Zero als oberstes Ziel, Tempolimits und die Halbierung der Zahl der Verkehrstoten
bis 2020 sind die Kernforderungen, die auch wir unterstützen.
Im Antrag der SPD-Fraktion stehen auch viele wichtige Forderungen, die wir unterstützen können, aber an
der entscheidenden Stelle bleiben Sie doch wieder einmal zaghaft, und Sie bleiben auch hinter der Forderung
Ihrer Partei zurück. 2007 beschlossen Sie auf Ihrem Parteitag, doch Tempo 130 auf den Autobahnen zu fordern.
Sie argumentierten mit der Sicherheit und der Umwelt.
In Ihrem heutigen Antrag tasten Sie sich jetzt langsam
wieder an das Vernünftige und Notwendige heran und
fordern ein Tempolimit zunächst für Kleinlaster. Auch
bei der Frage von Tempolimits in geschlossenen Ortschaften wollen Sie nur prüfen, ob Tempo 30 sinnvoll
ist. Ich denke, es wird Zeit zum Handeln.
Das Verkehrssicherheitskonzept für die Straßen, das
uns hier von CDU/CSU und FDP vorgelegt wird, bleibt
hinter dem zurück, was möglich und was notwendig ist.
Wir alle wollen doch erreichen, dass niemand mehr im
Straßenverkehr zu Schaden kommt. Wir alle wollen
doch mehr Sicherheit und Lebensqualität und akzeptieren nicht, dass 30 Milliarden Euro volkswirtschaftlicher
Schaden nur durch Verkehrsunfälle entsteht. Bei so viel
Übereinstimmung sollte es eigentlich möglich sein, zu
mehr Gemeinsamkeit zu kommen. Die Regierungsfraktionen sind dagegen; das verstehe, wer will.
Die Linke will eine solidarische und ökologische Verkehrspolitik. Das bedeutet an manchen Stellen Grenzen
für die Starken und aktiven Schutz für die Schwachen.
Nur so können wir aber ein faires Miteinander erreichen
und die Zahl der Verkehrstoten konsequent verringern.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Kollege Behrens. - Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Stephan
Kühn. Bitte schön, Kollege Stephan Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung ist
die große Chance verpasst worden, ein ambitioniertes
Gesamtkonzept für das Thema Verkehrssicherheit vorzulegen. Die Vision Zero, das heißt, die Zahl der Verkehrstoten auf nahe null zu reduzieren, wie es die Europäische
Union, der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und der eigene Wissenschaftliche Beirat beim Verkehrsministerium fordern, ist nicht erklärtes politisches Ziel der Bundesregierung.
Trotz jahrelanger Appellpolitik und Kampagnen mit
tollen Websites stagniert die Zahl der Unfälle im Straßenverkehr. Die Zahl der Unfalltoten 2011 ist im Vergleich zu 2010 wieder angestiegen, und zwar um 7 Prozent. Es ist also kein Trend absehbar, der erkennen lässt,
dass das Ziel der Bundesregierung, die Zahl der tödlich
Verunglückten im Straßenverkehr bis 2020 um 40 Prozent zu senken, tatsächlich erreicht werden kann.
Unangepasste Geschwindigkeit und das Fahren unter
Alkoholeinfluss sind Ursache Nummer eins und Nummer zwei von Verkehrsunfällen. Maßnahmen gegen
diese beiden Unfallursachen sind hinlänglich bekannt.
Die Wissenschaft hat sich dazu klar geäußert. Aber trotzdem passiert nichts. Aus meiner Sicht besteht die gesellschaftliche Verpflichtung, diese vorgeschlagenen Maßnahmen umzusetzen, wenn dadurch zahlreiche
Menschenleben gerettet und die schweren Unfallfolgen
vermieden werden können.
({0})
Dazu zählen die Einführung eines Tempolimits auf
Autobahnen, die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, Herr Kollege Luksic, innerhalb von Ortschaften - das hat auch das Europäische Parlament so
beschlossen - sowie ein striktes Alkoholverbot für Autofahrer. Symbolpolitik ersetzt keine Ordnungspolitik.
({1})
Anstatt Klaviermusik-CDs wie „Adagio im Auto“ zu
produzieren, sollte sich der Verkehrsminister an die Umsetzung dieser Maßnahmen machen.
({2})
Die Versuche zum Thema Alkoholverbot für Fahranfänger wurden doch erfolgreich durchgeführt und haben
sich bewährt. Warum gilt dieses Verbot dann nicht für
alle? Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat fordert das
seit Jahren.
Die Zahl der getöteten Fußgänger ist im Vergleich
zum Jahr 2010 um dramatische 25 Prozent gestiegen. Ich
will kurz beschreiben, welchen Unterscheid Tempo 30
gegenüber Tempo 50 macht. Auf trockener Fahrbahn ist
der Bremsweg bei Tempo 30 12 Meter lang, bei Tempo 50
ist er 26 Meter lang.
({3})
Nach 12 Metern ist man immer noch 45 km/h schnell.
Bei dieser Geschwindigkeit ist die Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen sehr hoch. Darum besteht hier dringender Handlungsbedarf.
Von Minister Ramsauer hören wir im Wesentlichen
Appelle zur Verhaltensänderung an die ungeschützten
Verkehrsteilnehmer, wie beispielsweise der Hinweis an
Radfahrer, Helme zu tragen, oder an Schulkinder, Warnwesten überzuziehen. Es geht offenbar nicht darum, den
Verkehr für die ungeschützten Verkehrsteilnehmer sicherer zu machen und den Verkehr entsprechend anzupassen. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Bundesregierung den Schwerpunkt eher auf die Vermeidung
von Unfallfolgen anstatt auf die Vermeidung von Verkehrsunfällen legt.
Gerade beim Radverkehr zeigt sich deutlich, dass die
Fahrradinfrastruktur nicht auf dem Stand der Technik ist.
Die Konsequenz der Bundesregierung: Die Ausgaben
für den Bau von Radwegeanlagen entlang von Bundesstraßen wurden von 100 Millionen Euro im Jahr 2010
auf 60 Millionen Euro im Jahr 2012, also um 40 Prozent,
gekürzt.
Bekleidungsvorschriften, meine Damen und Herren
von der Koalition, für Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer verhindern keine Unfälle, Sicherheitstechnik in
Fahrzeugen allerdings schon. Dazu zählen beispielsweise Abbiege- und Bremsassistenten für Lkw, Türöffnerwarnung und dergleichen mehr. Diese Systeme sind
aber alle nicht verpflichtend. Entsprechend gering ist die
Marktdurchdringung, gerade auch bei den Pkw.
Unfälle und deren Folgen verursachen jährlich volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von über 30 Milliarden
Euro. Mehr Verkehrssicherheit erspart nicht nur Leid,
sondern sie spart auch Geld. Dafür ist es notwendig, klug
in die Verkehrsinfrastruktur und auch in die Aufklärungsarbeit zu investieren. Für mich ist daher unverständlich, warum der Haushaltsansatz für die Verkehrserziehungsmaßnahmen seit Jahren stagniert. Es ist eine
indirekte Kürzung, wenn der Haushaltsansatz nicht aufwächst.
Im Übrigen wird überall von lebenslangem Lernen
gesprochen, nur in der Mobilitätserziehung nicht. Es gibt
eine Konzentration auf den vorschulischen Bereich und
die Grundschule. Dann bricht es massiv ab. Auch hier
würde ich mir eine Initiative der Bundesregierung wünschen, die ich aber nicht erkennen kann.
({4})
Kommen wir zur Verkehrsinfrastruktur. Es gibt keine
Einführung systematischer Sicherheitsaudits, obwohl die
uns viel Geld sparen würden. Es ist nämlich teurer, die
Infrastruktur erst nach Unfällen umzubauen. Wir haben
auch kein durchgängiges Prinzip bei Straßenplanung und
Bau, das „selbsterklärende Straße“ heißt. Wir versuchen
damit, den Straßenraum so zu gestalten, dass dem Verkehrsteilnehmer de facto das richtige Verhalten vorgegeben wird.
Sichere Verkehrsanlagen wären durch sichere Geschwindigkeit möglich. Auch das spart Geld. Es ist ein
Unterschied, ob eine Autobahn für Tempo 120 oder eine
Verkehrsanlage ohne Geschwindigkeitsbegrenzung geplant wird. Man kann Platz sparen, und man kann auch
im Bereich der Sicherungstechnik der Straße etwas sparen.
Herr Kollege, die Farbe Rot hat die ähnliche Bedeutung wie bei der Ampel.
({0})
Daran darf ich Sie erinnern.
Ich nehme das zur Kenntnis und komme abschließend
auf ein Thema zu sprechen, das mir sehr wichtig ist. Vor
wenigen Tagen wurde eine Petition im Deutschen Bundestag eingereicht, die regelmäßige verpflichtende Gesundheits- und Fahrtauglichkeitstest ab dem Alter von
65 Jahren fordert. Hintergrund der Petition ist, dass im
letzten September zwei Mitglieder eines Sportvereins
auf der A 14 durch einen 82-jährigen Geisterfahrer tödlich verletzt wurden.
Ab dem Jahr 2013 ist der Führerschein nicht mehr unbegrenzt gültig, sondern nur noch 15 Jahre. Dies bietet
die Chance, verpflichtende Gesundheitschecks daran zu
koppeln.
Sie haben die Ampel wirklich überfahren.
({0})
Das passiert nicht, und das ist ärgerlich. Hier besteht
Handlungsbedarf.
Bei aller Liebe: Sie kommen jetzt zum Schlusssatz.
Mein letzter Satz: Ich wünsche mir - das ist auch in
der Debatte deutlich geworden; es wird in den Anträgen
deutlich; es wird in der Petition deutlich, und es wird mit
der Zahl der Unfälle deutlich, die sich nicht so entwickelt, wie wir uns das wünschen -, dass das Verkehrssicherheitskonzept der Bundesregierung überarbeitet
wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Volkmar Vogel. Bitte
schön, Kollege Volkmar Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Vorredner aus der Koalition, Oliver Luksic und
Gero Storjohann, haben bereits trefflich zu den Erfolgen
der Verkehrssicherheitsarbeit berichtet. Eigentlich kann
Volkmar Vogel ({0})
man es nicht oft genug sagen. Denn es geht um vermiedenes menschliches Leid. Es geht um Gesundheit und
um Sachwerte, die erhalten bleiben.
Trotzdem will ich mich in meinen Ausführungen
kurzfassen und nur auf einige aus meiner Sicht wichtige
Faktoren hinweisen. Zusammengefasst sind es drei Faktoren, die maßgeblich zum Erfolg beitragen, aber natürlich auch zum Misserfolg führen können, nämlich der
Mensch, unsere Infrastruktur und die Technik. Es ist der
Mensch, der vorsichtig fährt, Gefahrensituationen trainiert hat, gut informiert ist, aber auch durch Radarblitz
oder Bußgeld belehrt wird. Auch das gehört dazu. Es
sind aber auch die Menschen, die ehrenamtlich für die
Verkehrssicherheit arbeiten und die bei der Verkehrswacht und beim Verkehrssicherheitsrat, in den Automobilclubs, beim THW, der Feuerwehr oder in den Hilfsorganisationen Verkehrsteilnehmer schulen, mit ihnen
üben, ihnen helfen und ihnen das Leben retten. Ihnen gilt
unser Dank.
Mit den Investitionen in die Straßeninfrastruktur sorgen wir immer auch ein Stück weit für mehr Verkehrssicherheit, sei es, wenn es um die Kreuzungsgestaltung,
die einen Fehler verzeiht, um die Entschärfung gefährlicher Kurven oder um Ortsumgehungen geht. Ortsumgehungen sind in erster Linie für die Menschen gedacht.
Für mich steht das Schutzgut Mensch noch immer an
erster Stelle, gefolgt von Flora, Fauna und Habitat.
({1})
Neben den Straßen ist es die Technik der Fahrzeuge,
die das Fahren sicherer gemacht hat. Knautschzone, Sicherheitsgurt, ABS und ESP tragen maßgeblich dazu
bei. Man könnte sagen: alles auf gutem Weg, alles im
grünen Bereich. Trotzdem will sich die christlich-liberale Koalition mit dem Erreichten nicht zufriedengeben.
Wir haben frühzeitig unsere Konzepte in einem Antrag
formuliert. Die anderen Fraktionen sind dem gefolgt.
Der Mensch steht für uns weiterhin im Mittelpunkt. Deswegen ist es für uns wichtig, bewährte Programme zu
Information und Ausbildung fortzusetzen. Die Mittelausstattung für die Verkehrswacht und den Verkehrssicherheitsrat ist gewährleistet, natürlich immer mit
Blick auf die gesamte Haushaltslage.
Ordnungsrecht hilft nicht immer. Eine Verschärfung
von Vorschriften allein, Einschränkungen oder gar Verbote für zum Beispiel jüngere oder ältere Fahrer sind
keine Lösung. Immer neue Maßregeln führen sehr
schnell dazu, dass die Akzeptanz bei den Bürgern sinkt
und wir am Ende das Gegenteil erreichen. Ständige Verbote helfen nicht wirklich. Außerdem handelt der weit
größte Teil verantwortungsvoll. Die Menschen haben ein
Recht auf weitreichende, selbstbestimmte Mobilität. Unser Ziel ist nicht, noch mehr Vorschriften zu erlassen.
({2})
Das gilt auch im Hinblick auf die jungen Fahranfänger.
Sie rechtzeitig auf Gefahren hinzuweisen und ihnen zu
helfen, ist besser, als mit Verboten schützen zu wollen.
Das begleitete Fahren mit 17 ist ein gelungenes Beispiel
dafür. Wir sollten die Modellversuche, die das Mopedfahren mit 15 ermöglichen, konstruktiv begleiten.
Trotzdem können Fehler passieren, jedem von uns,
manchmal mit schlimmen Folgen. Deswegen sollten wir
mehr als bisher die technischen Möglichkeiten, die es
heutzutage gibt, nutzen. Sekundenschlaf im Lkw kann
verheerende Folgen haben. Wenn es passieren soll, passiert es, egal wie lange die letzte Pause zurückliegt. Deshalb gehört meiner Meinung nach aktiven Fahrsicherheitssystemen die Zukunft. Neben den passiven werden
es immer mehr Notbremssysteme und Seitenabstandswarner sein, die in Verbindung mit ABS und ESP das
Schlimmste verhindern. Alle Systeme, die Energie herausnehmen, also die bei Gefahr verlangsamen oder
bremsen, sind sinnvoll. Deswegen wird die christlichliberale Koalition den Einbau solcher Geräte weiterhin
unterstützen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass das
hohe deutsche Niveau bei Technik und Sicherheit EUweit erreicht wird.
Dass Sie mich nicht falsch verstehen: Auch die Technik ist kein Allheilmittel. Nicht alles, was im Fahrzeug
machbar ist, ist sinnvoll. Es gilt noch immer: Kraft ist
Masse mal Beschleunigung. Diese Kraft überfordert irgendwann jede technische Einrichtung, sodass es am
Ende immer der Mensch ist, der mit Verantwortungsbewusstsein andere und sich selber schützt.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Volkmar Vogel. - Nächster
Redner für die Sozialdemokraten ist unser Kollege
Hans-Joachim Hacker. Bitte schön, Kollege Hacker.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, in kaum einem anderen Bereich herrscht so viel
Konsens über die Ziele, die wir erreichen wollen, wie bei
den Themen Verkehrssicherheit und Prävention. Mit
dem schon angesprochenen nationalen Verkehrssicherheitsprogramm 2011 und dem dritten europäischen Verkehrssicherheitsprogramm, das bis 2020 reicht, erfolgen
Weichenstellungen für die Verkehrssicherheitsarbeit in
Deutschland und in Europa. Aber die sozialdemokratische Fraktion meint, dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht ausreichen; darüber haben wir schon diskutiert. Ich will im Einzelnen darauf eingehen.
Maßnahmen sind dringend notwendig, weil sonst das
angestrebte Ziel, bis 2020 in Deutschland die Zahl der
Verkehrstoten um 40 Prozent zu reduzieren, nicht erreicht werden kann.
Das Statistische Bundesamt hat für das Jahr 2011 erstmalig wieder eine Steigerung der Zahl der Verkehrstoten, nämlich auf wahrscheinlich 3 900, errechnet. Das ist
eine Steigerung um 7 Prozent gegenüber dem Vorjahr
2010. Es geht mir nicht allein um die Zahl der Verkehrstoten; es geht um das Leid, das für die Familien dahintersteht. Wir sollten in Zukunft auch den Fokus noch stärker auf die Betroffenen von Unfällen lenken, die ihr
Leben lang ein Schicksal als Schwerstverletzte haben.
Wir brauchen Bewertungskriterien. Herr Storjohann, Sie
haben, glaube ich, angesprochen, dass wir zu einer Vergleichbarkeit kommen müssen. Das alles ist Technik.
Wir müssen die Zahl der Verkehrstoten, die Zahl der Unfälle an sich reduzieren.
({0})
Die Untersuchungen des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesverkehrsminister, aber auch die Empfehlungen, die von der Deutschen Verkehrswacht und vom
Deutschen Verkehrssicherheitsrat aufgrund von Erfahrungen gegeben worden sind, stellen besondere Risikogruppen und Gefahrenbereiche in den Mittelpunkt der
Betrachtung. Die schwächeren Verkehrsteilnehmer - das
sind Kinder, ältere Menschen, aber auch Jugendliche
zwischen 15 und 17 Jahren, die keine Erfahrung haben müssen weiterhin im Fokus bleiben, ebenso Kraftradführer. Die Zahl der getöteten Motorradfahrer wird voraussichtlich um 13 Prozent steigen. Um diese Gruppen müssen wir uns in der Präventionsarbeit noch stärker
kümmern.
Die meisten Verkehrsunfälle - das ist eine Tatsache ereignen sich auf Landstraßen. Wir haben dort ungefähr
60 Prozent der Verkehrstoten zu beklagen. Ich will damit
jedoch nicht sagen, dass wir im Deutschen Bundestag
oder im Bereich der Verkehrssicherheitsarbeit jetzt eine
Diskussion über Alleen in Deutschland führen sollten;
denn nicht die Alleen sind Ursache von Verkehrsunfällen,
sondern Ursache ist die unangepasste Verhaltensweise im
Verkehr, nämlich von risikobereiten oder - sagen wir es
einmal richtig - verantwortungslosen Verkehrsteilnehmern. Das müssen wir, denke ich, in der Diskussion über
Präventionsmaßnahmen, über Präventionsarbeit in den
Mittelpunkt stellen.
Wir müssen sagen, worum es geht. Es geht um Alkoholgenuss, es geht um unangepasste Geschwindigkeit,
und es geht um riskante Überholmanöver. Das sind die
Ursachen von Verkehrsunfällen; Ursache ist nicht die
Allee und auch nicht der Straßenbaum.
Die Unfälle wären weitestgehend vermeidbar, wenn
wir alle - ich sage ganz bewusst: wir alle - uns an die
Grundregeln der Straßenverkehrsordnung halten würden, wie sie in § 1 definiert sind: Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme; Gefahrenminimierung.
({1})
Das ist der zentrale Appell, der auch aus dieser Diskussion hinausgehen muss und der von den Ehrenamtlern in
Gesprächen mit Verkehrsteilnehmern immer wieder in
den Vordergrund gestellt wird.
Hier ist heute schon über Geld gesprochen worden;
ich will das auch noch einmal tun. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, Sie haben wider besseres Wissen gegen eine moderate Erhöhung der Verkehrssicherheitsmittel gestimmt. Die SPD-Bundestagsfraktion
hat Anträge im Verkehrsausschuss und im Haushaltsausschuss gestellt. Wir haben damit auch Forderungen der
Deutschen Verkehrswacht und des Deutschen Verkehrssicherheitsrats aufgegriffen. Wir haben nicht übermäßig
hohe Forderungen gestellt. Das hätten wir machen können. Die Ehrenamtler brauchen einen Inflationsausgleich. Seit 20 Jahren sind die Mittel nicht angepasst
worden.
Ich will noch drei zentrale Punkte nennen, die in dem
Programm der Bundesregierung nicht enthalten sind. Sie
haben die Arbeit des eigenen Beirats nicht genügend berücksichtigt. - Herr Ferlemann, Small Talk mit der Kollegin oder Debatte? - Sie haben einen Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium berufen. Der
Bundesminister für Verkehr, Herr Dr. Ramsauer, hat einen Wissenschaftlichen Beirat, und der hat Vorschläge
unterbreitet. Ich nenne sie nur einmal ganz kurz in Stichpunkten.
Die Vorschläge beinhalten ein generelles Verbot des
Fahrens unter Alkohol. Warum schaffen wir es nicht,
endlich eine Regelung für eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 Kilometer pro Stunde auf deutschen Autobahnen zu treffen? Ich nenne auch das Thema
Pedelecs. Sie stellen mittlerweile eine Gefahrenquelle
dar, die wir in den Blick nehmen müssen. Keine Aussage
zu diesen wichtigen Themen in Ihrem Programm!
Kollege Hacker, ich weiß nicht, wie viele Punkte das
Programm umfasst,
({0})
aber es steht fest, dass Ihre Redezeit zu Ende ist.
Frau Präsidentin, ich habe Ihren dringenden Hinweis
schon gesehen. Ich bin auch schon beim letzten Satz.
Ich bitte, ihn jetzt auch zu befolgen.
Natürlich, ich schließe mich immer den Wünschen
der Präsidentin an.
Ich fordere Sie auf, Herr Ferlemann: Handeln Sie!
Appelle reichen nicht. Die Diskussion um eine PkwMaut reicht nicht. Wir brauchen hier mehr konkrete
Maßnahmen. Die Vorschläge sind im SPD-Antrag enthalten.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Den Letzten beißen bekanntlich die Hunde.
({0})
Fast alle guten Vorschläge sind von der einen oder anderen Seite schon unterbreitet worden. Ich möchte aber
schon noch eines sagen, da ich öfter hörte, die Unionsfraktion wagt es, in ihrem Antrag über das aktuelle Verkehrssicherheitsprogramm ihres eigenen Ministers hinauszugehen: Es ist wohl der Sinn des Parlamentarismus,
dass wir nicht nur unserer Regierung blind hinterherhoppeln,
({1})
sondern dass wir auch eigenständig Vorschläge machen
und in der Lage sind, diese schriftlich zu formulieren
und einen Antrag vorzulegen.
({2})
Da wir unseren geschätzten Minister gut kennen, wissen wir, dass er selbstverständlich alle diese Vorschläge
wohlwollend in sein Programm aufnehmen wird.
Es ist bereits häufiger die Statistik genannt worden.
Einerseits ist bis einschließlich 2010 die Zahl der Verkehrstoten deutlich zurückgegangen, andererseits hat
wohl 2011, begünstigt durch das sehr milde Klima im
Frühjahr und damit durch eine früh beginnende Motorradsaison, die Zahl der Verkehrstoten zugenommen. Das
ist dramatisch, und wir sollten uns nicht wegducken; das
ist völlig klar. Ich schließe mich aber all jenen Vorrednern an, die sagten - ich würde es in einem Satz zusammenfassen -: Technik und Theorie ersetzen nicht die Eigenverantwortung im Verkehr. Herr Kollege Hacker, Sie
haben mir dabei wirklich aus der Seele gesprochen, und
auch mein Kollege Vogel sprach es an. Wenn wir uns
alle im Verkehr nicht verantwortlich verhalten - dabei
genügen wirklich einige wenige Prinzipien, an die man
sich zu halten hat -, dann helfen alle guten Appelle,
wünschenswerten Maßnahmen sowie technischen Einrichtungen in Pkw und Lkw relativ wenig. Die Fahrer
müssen damit klarkommen, was ihnen die Technik vorgibt. Dies muss für uns alle das Leitbild sein, wenn wir
über Verkehrssicherheit sprechen.
Es gab in den letzten Jahren gute Kampagnen, die
richtig waren. Sie alle kennen die Plakate „Runter vom
Gas!“ mit markanten Fotos, die uns, denke ich, alle
schon an den unterschiedlichsten Stellen dieser Republik
erschüttert haben.
Wir alle haben uns über den Erfolg des begleiteten
Fahrens ab 17 gefreut. Aus einem Modellversuch ist nun
eine dauerhafte Einrichtung geworden. Dies haben wir
sowohl unseren beiden Regierungsfraktionen als auch
dem Verkehrsministerium zu verdanken. Wie gesagt, das
begleitete Fahren ist ein sehr wichtiger Punkt in dieser
Legislaturperiode. Es hatte schon vorher große Erfolge
aufzuweisen, und in der Zukunft ist sicherlich mit noch
größeren Erfolgen zu rechnen.
Unser Antrag ist bereits angesprochen worden. Er
geht in einigen Punkten über das hinaus, was der Minister vorgeschlagen hat.
Wichtig ist natürlich auch die Sicherheit auf Autobahnen - zur Sicherheit auf Landstraßen hat mein Kollege
Storjohann bereits Ausführungen gemacht -: Zur Sicherheit auf Autobahnen gehört natürlich - da sind wir dabei -,
dass wir adäquate Möglichkeiten bieten, damit LkwFahrer sich ausruhen und parken können. An bestimmten Tagen - ich erlebe das selbst im Grenzgebiet zu Österreich, wenn in Österreich Feiertag ist - müssen die
Lkw bei uns auf dem Seitenstreifen parken, weil sie nirgends sonst halten können - ein unhaltbarer Zustand sowohl für die Fahrer, aber auch für die übrigen Verkehrsteilnehmer, die regelmäßig Gefahr laufen, einen dort
rechtswidrig parkenden Lkw zu übersehen. Wir alle haben noch die dramatischen Unfälle vor Augen, bei denen
ein Pkw in einen parkenden Lkw rast. Hier ist seit 2008
viel getan worden. Wir haben uns die Zielvorgabe gesetzt, die Lkw-Parkplätze an unseren deutschen Autobahnen deutlich auszubauen. Das ist wirklich ein wichtiger Punkt, der nicht wenig Geld kostet, aber sicherlich
unumgänglich sein wird. 11 000 solcher Parkplätze wollen wir bis Ende 2012 erreichen. Auch das hat etwas mit
Verkehrssicherheit zu tun.
Wir haben darüber, ob eine Helmpflicht eingeführt
werden soll oder nicht, ausführlich diskutiert. Meine
Partei ist nicht unbedingt verdächtig, eine reine Verbotspartei zu sein. Entsprechend hat es auch durchaus Aufruhr gegeben, und es wurde gefragt: Wie kann der
Minister eine Helmpflicht vorschreiben? Dazu möchte
ich Ihnen sagen: Meine Mitarbeiterin in meinem Berliner Büro radelt mit großer Begeisterung in Berlin. Sie
sagt: Ich bin zwar auch gegen Verbote, aber zumindest
hier in Berlin müsste man eine Helmpflicht einführen.
Hier leben Radfahrer wirklich gefährlich, manchmal
durch eigenes Verhalten, manchmal durch das Verhalten
der Autofahrer. Auch in diesem Bereich darf es also
keine Tabus geben.
Auch ich wäre froh, wenn wir es schaffen würden, die
Quote derjenigen, die einen Helm tragen - diese beträgt
zurzeit 9 Prozent -, auf freiwilliger Basis zu erhöhen.
Wenn das nicht klappt, werden wir uns zumindest darüber unterhalten müssen, was wir für radfahrende Kinder und Jugendliche tun können. Das sind unsere
schwächsten Verkehrsteilnehmer. Diese müssen wir in
besonderer Weise schützen.
Das, was ich zum Eingang sagte, wiederhole ich zum
Ende: Technik ersetzt nicht die Eigenverantwortung im
Straßenverkehr. Das gilt für uns alle. Da können wir uns
sicherlich alle noch bessern.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/8341.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/5530 mit dem Titel „Die Verkehrssicherheit in
Deutschland weiter verbessern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion bei
Enthaltung der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5772 mit dem Titel „Sicher durch den
Straßenverkehr - Für eine ambitionierte Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7466 mit dem Titel „Masterplan Straßenverkehrssicherheit - Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011-2020 vorlegen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPDFraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Tack, Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren
- Drucksache 17/8182 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer heute eine Versicherung oder einen Fonds abschließen möchte, der
wird hierzu kostenlos vom Versicherungsvermittler oder
Bankberater beraten. Zahlungen erfolgen erst bei Abschluss und gehen häufig über die gesamte Laufzeit als
Provisionen.
Ich möchte dazu exemplarisch einen Sachverhalt
schildern: Frau Meyer wird von ihrem Bankberater eine
Stunde lang beraten. Schließlich schlägt er ihr den Kauf
von Investmentfondsanteilen im Wert von 20 000 Euro
vor. Der Bankberater erhält dafür von der Bank eine Abschlussprovision in Höhe von ungefähr 1 000 Euro.
Hinzu kommen jährliche Bestandsprovisionen von bis
zu 400 Euro.
Alles dies zahlt Frau Meyer. Wenn sie ganz genau
hinschaut, findet sie im Produktinformationsblatt die
Formulierung: 5 Prozent Abschlussprovision, 2 Prozent
Bestandsprovision. Frau Meyer hat also für die Beratung
mit Abschluss bei der Bank roundabout 1 000 Euro gezahlt. Auf diese Art und Weise, durch Provision, erfolgt
in Deutschland die Bezahlung des Finanzvertriebs.
Die Alternative dazu ist naheliegend und Gegenstand
unseres heutigen Antrags: die Bezahlung des Beraters
durch ein Honorar als zeitliche Vergütung seiner Tätigkeit, also die sogenannte Honorarberatung. Wir gehen
davon aus, dass Frau Meyer in unserem Beispiel ein Honorar bezahlt hat, das für eine einstündige Beratung etwa
150 bis 250 Euro beträgt. Somit ergibt sich ein Unterschied im Vergleich zur Provisionsberatung in der Bank
von zu Beginn 800 Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns über
alle Fraktionen hinweg einig, dass wir zur Provisionsberatung eine Alternative anbieten wollen. Wir wollen die
unabhängige Honorarberatung etablieren, und wir wollen, dass den Verbraucherinnen und Verbrauchern bei
der Beratung Wahlfreiheit ermöglicht wird. Wir wollen
kein Verbot der Provisionsberatung. Die SPD will in
Deutschland die Honorarberatung schnell voranbringen.
Die Signale des MiFID-Entwurfs der EU-Kommission
kennen wir: Auch hier wird eine provisionsunabhängige
Beratung gefordert. Das heißt, wir werden in Deutschland die Honorarberatung auch über die Ratifizierung
der entsprechenden europäischen Richtlinie erhalten. Da
wir auf diesen Prozess nicht zu warten brauchen und die
Inhalte des MiFID-Entwurfes bereits kennen, wollen wir
mit unserem Antrag jetzt die Honorarberatung in
Deutschland etablieren.
({0})
Honorarberater kann nach unseren Vorstellungen nur
derjenige sein, der bei oder im Zusammenhang mit der
Beratung kein Geld von Dritten erhält. Dazu gehören
auch die Bestandsprovisionen. Ferner wollen wir ein
klares Berufsbild. Wir unterscheiden uns an dieser Stelle
sehr bewusst vom Vorschlag der Provisionsdurchleitung,
der vom BMELV gekommen ist. Wenn wir die Beratungsleistung anerkennen, dann ist das aus unserer Sicht
nur konsequent. Denn diese wird entlohnt, und dafür be18216
darf es keiner Provision, auch nicht einer, die an den
Kunden fließt. Wir brauchen daher als Grundvoraussetzung der Honorarberatung Nettotarife für die Produkte.
Wir möchten, dass die Anbieter auch dazu verpflichtet
werden. Damit die Honorarberatung funktioniert und die
Palette der Angebote groß ist, brauchen wir eine stärkere
Ausweitung der Nettotarife. Das müssen wir regeln.
Ein weiterer Grundpfeiler zur Herstellung des nötigen
Vertrauens in die Honorarberatung wird auch sein, dass
die Honorarberaterinnen und Honorarberater in allen Bereichen des Finanzmarktes inhaltlich beraten können und
entsprechend qualifiziert sind. Ob ein Versicherungsoder ein Kapitalanlageprodukt besser geeignet ist, ist
ebenso zu bewerten wie die realistische Möglichkeit einer Darlehensaufnahme. Deshalb fordern wir für den
Honorarberater die Kenntnisse in allen Teilbereichen.
Expertenwissen ist gut und richtig, aber man muss auch
andere Produkte mit abwägen, wenn man den Verbraucher oder die Verbraucherin adäquat beraten will.
Besonders wichtig zur Regelung der Honorarberatung
ist der Schutz vor schwarzen Schafen durch klare Wohlverhaltensregeln und eine geeignete Fachaufsicht. Die
Beaufsichtigung der Honorarberater in fachlicher Hinsicht kann aus unserer Sicht ausschließlich durch die
BaFin erfolgen.
({1})
Die Zersplitterung der Aufsicht zwischen den Gewerbeämtern auf der einen Seite und der BaFin auf der anderen Seite, wie wir sie in den letzten Monaten erlebt haben, ist aus unserer Sicht - das haben wir häufig genug
gesagt - die falsche Konsequenz aus der Finanzmarktkrise. Deshalb fordern wir ganz klar eine Zentralisierung
der Aufsicht bei der BaFin.
Aus unserer Sicht sind die Einheitlichkeit des Finanzvertriebes, eine einheitliche Aufsicht und einheitliche
Pflichten wichtig. Das soll unabhängig von der Frage
sein, wer die Aufsicht durchführt und um welches Produkt es sich handelt. Daneben gilt - auch das habe ich
schon gesagt; da befinden wir uns in Übereinstimmung
mit dem MiFID-Entwurf -: Wir wollen eine vollständige
Befreiung von Provisionszahlungen für die Honorarberatung. Das ist konsequent.
({2})
Ich komme zum Schluss. Dass die Regierungskoalition heute der Verbraucherministerin die Zuständigkeit
für dieses Thema wegnehmen will, ist hoffentlich dem
Willen geschuldet, dass man es tatsächlich rasch regeln
will. Denn wir wissen: Die Verbraucherministerin
kommt in der Regel über den Status einer Ankündigung
nicht hinaus.
({3})
Wir halten die Anbindung an den Verbraucherschutz
für wichtig, weil dieses Thema Teil des Anlegerschutzes
ist. Ich möchte Sie daher dringend bitten, der Verbraucherministerin lieber eine deutliche Ansage zu machen,
hier ein Gesetz vorzulegen, als ihr heute das Vertrauen
zu entziehen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die
Unionsfraktion.
({0})
Liebe Kollegin Tack, wir müssen niemandem etwas
wegnehmen. Wir haben nur gute Minister. Darin liegt
der Unterschied zwischen dieser Koalition und anderen
Koalitionen.
({0})
Wir beschäftigen uns natürlich mit dem Thema Honorarberatung. Sie haben es gerade schon erläutert: Wenn
Sie in Deutschland ein Finanzprodukt kaufen, wenn Sie
beraten werden oder eine Vermittlungsdienstleistung in
Anspruch nehmen, dann wird der Dienstleister dadurch
bezahlt, dass er eine Provision bekommt. Das hat sich
seit Jahrzehnten so entwickelt. Die Marktanteile sind
entsprechend.
Jetzt mag man auf die Idee kommen: Wenn jemand
für Produktvermittlung oder -beratung eine Provision
bekommt, dann hat er vielleicht ein Interesse daran, Produkte, die stärker provisioniert sind, mehr zu verkaufen
als die Produkte, die für den Kunden vielleicht das Beste
sind. Schlaue Menschen haben dies erkannt und sind auf
die Idee gekommen, eine Beratung zu organisieren, die
eben nicht von der Provisionierung eines Produktes abhängt, sondern deren Vergütung an den Zeitaufwand des
Beraters gekoppelt ist. Man kauft sich sozusagen Beratungszeit. Das nennt man Honorarberatung.
Die Honorarberatung ist bereits am Markt, übrigens
schon lange. Steuerberater machen Vermögensplanungen. Banken und Freiberufler führen entsprechende Beratungen durch. Das heißt, es ist nichts Neues. Aber anscheinend hat sich dieses Produkt noch nicht richtig
durchgesetzt. Das mag mehrere Gründe haben. Ein
Grund dafür ist, dass schlichtweg die Rahmenbedingungen für das Berufsbild und für das Handeln des Honorarberaters fehlen. Genau das hat die von Ihnen eben
angesprochene Verbraucherministerin, Frau Aigner, aufgegriffen und hat im Sommer des letzten Jahres ein Eckpunktepapier vorgelegt. Da viele Punkte, die auch Sie in
Ihrem Antrag adressiert haben, in diesem Eckpunktepapier bereits behandelt worden sind, möchte ich mir die
Zeit nehmen, kurz darauf einzugehen.
Die erste Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen,
ist: Wie sieht denn eigentlich das Berufsbild aus? Wollen
wir einen Finanzberater, der allumfassend berät? Wollen
wir eine Aufteilung machen, sodass wir Anlageberater,
Versicherungsberater, die es im Übrigen schon gibt, und
Darlehensberater haben? Diese Fragen müssen wir klären. Denn wir wollen ein Qualitätsprodukt haben, und
dementsprechend müssen wir uns Gedanken machen.
Die zweite Frage, die ebenfalls mit der Qualität der
Produkte zu tun hat, betrifft die Qualifikation. Wir müssen eine möglichst gute Qualifikation für diese Berater
organisieren. Im Übrigen müssen wir - auch das ist im
Eckpunktepapier von Frau Aigner enthalten ({1})
durch eine laufende Fortbildung sicherstellen, dass diese
Qualifikation erhalten bleibt. Ich denke, das ist gut und
richtig.
Die nächste Frage, die zu beachten ist, ist, wie diese
Beratung stattfinden soll. Wir finden im Wertpapierhandelsgesetz Wohlverhaltenspflichten. Das heißt, es wird
festgelegt, wie eine Beratung ablaufen soll und was dokumentiert werden soll. Auch das wollen wir haben.
Frau Aigner hat diesen Punkt ebenfalls angesprochen.
Ein weiterer Punkt ist die Vergütung. Wollen wir eine
Gebührenordnung wie bei Rechtsanwälten und Steuerberatern, oder soll die Vergütung frei vereinbart werden
können? Wie hoch sind die Stundenhonorare? Auch das
muss geklärt werden, und auch das ist adressiert.
Wir müssen die Schnittmenge zwischen Vermittlung
und Beratung organisieren. Wenn jemand zu einem Berater geht und dieser das Produkt der Bank X empfiehlt,
dann wird der Kunde nicht unbedingt zur Bank X gehen
und sagen, dass ihm sein Berater dieses Produkt empfohlen hat und er nun dieses Produkt bei der Bank kauft.
Der Kunde wird vielmehr erwarten, dass der Berater einen Kauf vermittelt. Auch das muss organisiert werden.
Wir brauchen die Unabhängigkeit der Berater. Das ist
ein ganz wichtiger Punkt. Was machen wir, wenn ein Berater für ein Bankhaus arbeitet? Ist er dann unabhängig
oder nicht? Gibt es da Chinese Walls oder ähnliche
Dinge? Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, wie
die Aufsicht über diese Berater organisiert wird. Machen
wir es analog zu den Versicherungsberatern und -vermittlern in der Gewerbeordnung? Oder machen wir es
über die BaFin wie bei den Bankberatern?
Wir müssen uns mit einem ganz wichtigen Thema beschäftigen. Versicherungsprodukte gibt es in der Regel
nur mit Provision. Wollen wir Nettoprodukte anbieten?
Wollen wir die Provision durchleiten? Hier kommen wir
vielleicht zu etwas anderen Schlüssen als Sie.
Ein weiteres wichtiges Thema ist: Wir brauchen eine
Überleitung für diejenigen, die heute als provisionsgetriebene Berater tätig sind und dies dann auf Honorarbasis machen wollen.
Das Letzte ist - auch das hat Frau Aigner adressiert -:
Wir brauchen eine steuerliche Gleichbehandlung der
Provisionsberatung und der Honorarberatung.
Wenn Sie in dem einen oder anderen Punkt zu anderen Schlussfolgerungen und Ergebnissen gekommen
sind - es findet sich vieles von dem, was Frau Aigner
vor einem halben Jahr gesagt hat, in Ihrem Papier wieder.
Jetzt könnte ich die Frage stellen: Wofür brauchen wir
den SPD-Antrag?
({2})
Die Frage haben Sie eben schon beantwortet. Sie sagen:
Das geht alles nicht schnell genug. Wir wollen das am
liebsten sofort haben. - Es ist das Privileg der Opposition, zu sagen: Es ist alles ganz einfach. Wir wollen alles
ganz schnell.
({3})
Die Regierung arbeitet nicht schnell genug. - Es ist aber
die Aufgabe der Regierung, vor den Mühen der Ebene
zu warnen und entsprechende Detailregelungen auf den
Weg zu bringen. Genau das möchte ich jetzt tun.
Ich habe als letzten Punkt des Eckpunktepapieres genannt, dass wir eine steuerliche Gleichstellung haben
wollen. Wenn Sie heute eine Krankenversicherung abschließen, können Sie die Provision teilweise im Rahmen Ihrer Vorsorgeaufwendungen steuerlich geltend machen. Bei einer Honorarberatung würde zu fragen sein:
Kann man das Beratungshonorar für eine ganze Stunde
geltend machen? Oder muss man eine Aufteilung vornehmen, wie lange man vielleicht für eine Krankenversicherung, für eine Haftpflichtversicherung oder für einen Aktienfonds beraten wurde? Das alles wird
steuerlich unterschiedlich behandelt. Dadurch ergibt sich
eine sehr große Komplexität. Darauf möchte ich nur hinweisen.
Wenn wir über Steuern sprechen, müssen wir uns
auch die Frage stellen: Wie sieht es mit dem Steuersubstrat aus? Verlieren wir Steuern? Gewinnen wir Steuern?
Ein kleiner Hinweis: Auf welcher Grundlage wird die
Versicherungsteuer berechnet? Nur auf den Nettobetrag
oder auf den Nettobetrag und die Provision? Auch das
muss geklärt werden; denn wir wollen kein Steuersubstrat verlieren. Das ist ein weiterer komplexer Sachverhalt. Das könnte man vielleicht noch gut lösen.
Wir haben aber noch eine andere Frage zu beantworten. Frau Kollegin, auch Sie haben darauf hingewiesen,
dass auf europäischer Ebene bei der Überarbeitung der
MiFID über unabhängige Beratung nachgedacht wird.
Darüber hat man sich Gedanken gemacht. Das wird im
Übrigen noch in Ratsarbeitsgruppen besprochen. Das
heißt, dass die Ergebnisse noch nicht feststehen. Diesen
Eindruck haben Sie aber erweckt. Es geht nicht nur um
die Überarbeitung der MiFID, sondern auch um die Hypothekardarlehensrichtlinie, die bei der Darlehensberatung eine Rolle spielen wird und bei der wir noch nicht
sehr weit gekommen sind. Wir haben auch die Absicht,
im Bereich der Versicherungsvermittler Änderungen
vorzunehmen. Auch das muss beachtet werden.
Jetzt könnten Sie sagen: Liebe Koalitionsfraktionen,
Ihr seid doch an vielen anderen Stellen vorangegangen.
Ihr habt zum Beispiel bei den Leerverkäufen nicht auf
Europa gewartet. Bei der Bankenrestrukturierung habt
ihr nicht auf Europa gewartet. Auch an vielen anderen
Stellen wart ihr Avantgarde. Da sind euch andere gefolgt. - Das ist richtig; nur, in diesem Bereich haben wir
eine etwas andere Situation. Wenn wir jetzt das Berufsbild eines Honorarberaters entwerfen, Menschen sich
darauf einstellen, Menschen sich weiterbilden und wir,
nachdem die Regelung vielleicht ein halbes Jahr in Kraft
ist - je nachdem, wie schnell die Überarbeitung von
MiFID vonstatten geht -, sagen müssen: „Ätsch! Das
war alles nicht richtig; du musst dich ein weiteres Mal
umstellen“, dann haben wir eine Menge Vertrauen verspielt. Deswegen müssen wir genau beachten, wie wir
diesen Spagat schaffen: Auf der einen Seite ist das der
Wille, etwas schnell auf den Weg zu bringen, auf der anderen Seite die Absicht, bei der ganzen Sache im europäischen Geleitzug, also im europäischen Kontext, zu
verbleiben. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben. Es
gefällt mir nicht, dass Sie in Ihrem Antrag dargestellt haben: Es ist doch alles ganz einfach; alles liegt auf dem
Tisch. - Sie haben die Komplexität ausgeblendet, und
Sie haben vor allen Dingen die europäische Dimension
ausgeblendet.
Ein kleiner Exkurs zu Europa. Unabhängig davon,
wie schnell wir mit unserem Gesetz vorankommen - wir
sollten tunlichst daran arbeiten, eine Position zu formulieren, aus der hervorgeht, wie wir uns europäische Regelungen vorstellen. Hier haben wir meines Erachtens
noch Nachholbedarf, den es zu beheben gilt.
Mir gefällt an Ihrem Antrag nicht nur nicht, dass Sie
sagen: Das ist alles ganz einfach. Warum macht ihr das
nicht? Das müsste ja alles viel schneller gehen. - So ist
es ja in der Tat auch nicht. Ebenso gefällt mir nicht, dass
Sie ein Schwarz-Weiß-Bild zeichnen: auf der einen Seite
die böse Provisionsberatung, die provisionsgetriebene
Vermittlung, und auf der anderen Seite die gute Honorarberatung.
({4})
Provisionsberatung ist nicht zwangsläufig böse oder
schlecht.
({5})
Sie ist in vielen Bereichen sehr erfolgreich und wird in
vielen Fällen, gerade bei kleineren Investitionssummen
und bei Kunden, die nicht über die Mittel verfügen, höhere Beratungshonorare zu zahlen, der Sache sehr gerecht. Wir haben sehr stark daran gearbeitet, dass die
provisionsgetriebene Beratung und Vermittlung besser
wird, im Bereich der Banken und auch im Bereich der
freien Vermittler. Sie haben es angesprochen. Diese Bundesregierung hat mit den Koalitionsfraktionen schon
sehr viel auf den Weg gebracht.
Ebenso wenig gefällt mir - da bin ich immer noch
sehr stark Marktwirtschaftler -, wenn Sie sagen: Nachdem wir alles entsprechend organisiert haben, müssen
wir Aufklärungskampagnen durchführen usw. - das sind
die Punkte 11 und 12 in Ihrem Papier -, um dieses Produkt so richtig zu pushen.
({6})
Als Marktwirtschaftler bin ich der Meinung: Wenn wir
vernünftige Rahmenbedingungen gesetzt haben, dann
muss sich das Produkt selbst am Markt durchsetzen. Das
heißt: Es ist nicht Aufgabe des Staates, zu bestimmen,
dass das eine Produkt besser sei als das andere. - Dementsprechend kann ich Ihre Vorschläge so nicht teilen.
Der letzte Punkt, der mir überhaupt nicht gefällt, ist,
dass Sie auch noch die unsägliche Idee eines Marktwächters in diesem Antrag untergebracht haben. Darüber
haben wir schon vor Weihnachten diskutiert; ich erspare
mir jetzt weitere Ausführungen zu diesem Thema.
({7})
Zusammenfassend kann man Folgendes sagen: Die
Stoßrichtung Ihres Antrags ist richtig; das deckt sich
auch mit dem Papier von Frau Aigner. Wir sind sehr daran interessiert, in Deutschland eine vernünftige Honorarberatung auf den Weg zu bringen, weil wir meinen,
dass das eine gute Alternative zur Provisionsberatung
ist. Dafür müssen wir ein Regelwerk und einen Rahmen
schaffen. Dabei muss es aber bleiben; denn das Produkt
muss sich, wie gesagt, selber durchsetzen. Dabei müssen
wir im europäischen Kontext bleiben. Wir müssen also
prüfen, ob wir auf die europäischen Entwicklungen zuwarten müssen oder ob wir diesen Prozess eher schaffen.
Letzter Punkt. Wenn wir diese Rahmenbedingungen
gut gesetzt haben, dann liegt es am Markt und an den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, die Entscheidung
zu treffen, welches Produkt - Honorarberatung oder provisionsgetriebene Beratung - für sie besser ist. Ich vertraue den Menschen in diesem Land, dass sie die richtige
Entscheidung treffen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt genügend Beispiele für schlechte Finanzberatung. Da werden alten Menschen Lebensversicherungen mit 30-jähriger Laufzeit angedreht, garniert
mit dem Hinweis, das sei dann noch gut für die Erben.
Oder denken wir an die Lehman-Zertifikate: Ohne die
hohen Provisionen für die Finanzberater wären diese
Zertifikate kaum in die Hände von so vielen Kleinanlegerinnen und Kleinanlegern gelangt. Doch so haben
zahlreiche Menschen ihre Ersparnisse verloren.
Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. Jährlich verlieren Verbraucherinnen und Verbraucher 20 bis 30 Milliarden Euro allein durch Falschberatung; das sind die
Zahlen der Bundesregierung. Deswegen bin ich der Ansicht: Solange Finanzprodukte gegen Provision verkauft
werden, so lange kann die Beratung nicht unabhängig
sein. Denn nach dieser Logik ist es ganz selbstverständCaren Lay
lich, dass das verkauft wird, was Provision bringt. Je höher der Verkaufswert, desto besser ist es natürlich für
den Verkäufer. Meist handelt es sich dabei genau um die
Finanzprodukte, die besonders riskant sind oder die eine
besonders hohe Laufzeit haben. Das geht zulasten der
Verbraucherinnen und Verbraucher. Deswegen sagen wir
als Linke: Die provisionsgetriebene Beratung muss perspektivisch überwunden werden.
({0})
Es handelt sich nicht um Einzelfälle. In sehr vielen
Finanzinstituten gibt es Vertriebsvorgaben für die
Finanzberater. Darunter leiden auch die Beschäftigten.
Inzwischen beschäftigen sich auch die Gewerkschaften
mit diesem Problem.
Im Laufe der Zeit ist über dieses Thema schon mehrfach diskutiert worden; das zeigt, wie dringlich es ist.
Herr Kollege, ich darf daran erinnern, dass es die Ministerin Aigner war, die bereits im Jahr 2009 angekündigt
hat, dass die Honorarberatung gestärkt werden müsse
und im Jahr 2010 ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt werde. Nach meinem Kalender schreiben wir jetzt
das Jahr 2012; aber es liegt noch immer kein Gesetzentwurf oder ein Antrag der Koalition oder der Bundesregierung vor.
({1})
Das kostet die Verbraucherinnen und Verbraucher zig
Milliarden Euro. Das muss endlich ein Ende haben. Die
Bundesregierung muss in dieser Frage endlich handeln.
Die Linke hat bereits am Anfang dieser Legislaturperiode einen umfassenden Antrag vorgelegt, in dem
sehr viele Themen angerissen wurden, die helfen sollen,
den Nachholbedarf beim Thema finanzieller Verbraucherschutz zu decken. In dem Zusammenhang haben wir
die Bundesregierung bereits damals aufgefordert, die unabhängige Finanzberatung zu stärken und die Provisionsberatung perspektivisch zu überwinden. Passiert ist
seitdem außer Eckpunktepapieren nichts.
Meine Damen und Herren, in Deutschland ist eine unabhängige Beratung leider häufig das Privileg für Vermögende; denn Honorarberatung wird oft erst bei hohen
Mindestanlagesummen angeboten, und das Angebot der
Verbraucherzentralen reicht bei weitem nicht aus. Es
würde nach wie vor etwa 30 Jahre dauern, bis jeder
Haushalt eine unabhängige Finanzberatung von einer
Verbraucherzentrale erhalten hätte. Ich finde, das darf im
vierten Jahr nach dem Zusammenbruch der LehmanBank wirklich nicht wahr sein.
({2})
Das Grundproblem der provisionsgetriebenen Beratung ist, dass die bisherige Praxis geradezu einen Anreiz
schafft, Verbraucherinnen und Verbrauchern teure Produkte aufzuschwatzen, egal ob sie sie brauchen oder
nicht, ob sie angemessen sind oder nicht. Das muss sich
endlich ändern; die Politik muss hier handeln.
({3})
Deswegen fordern wir, die Linke, eine Stärkung der Honorarberatung und ein gesetzlich klar geregeltes Berufsbild für Honorarberaterinnen und Honorarberater. Wir
sagen ganz klar: Eine unabhängige Finanzberatung darf
keine Frage des Geldbeutels sein. Deswegen fordere ich
die Bundesregierung auf - Ministerin Aigner ist heute
leider nicht anwesend -, die Verbraucherzentralen zu
stärken und sie finanziell so auszustatten, dass sie Beratungsleistungen im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes breiter anbieten können, als es bisher der
Fall war.
({4})
Im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes gibt
es noch immer jede Menge zu tun. Die Bundesregierung
hat es bisher verpasst, hier die notwendigen Schritte zu
ergreifen. Noch immer kommt Finanzschrott ungehindert auf den Markt, noch immer ist die Finanzaufsicht
ein einziger Flickenteppich. Wir brauchen endlich einen
Finanz-TÜV, damit Finanzprodukte geprüft werden, bevor sie überhaupt auf den Markt kommen. Wir brauchen
eine einheitliche Finanzaufsicht, die einen umfassenden
Auftrag im Bereich des Verbraucherschutzes erhält. Die
Bundesregierung steht nach wie vor in der Pflicht, diese
dringende Frage endlich anzugehen.
({5})
Meine Damen und Herren, viele andere Länder zeigen, dass es besser geht. Wir von der Linken sagen: Die
provisionsgetriebene Finanzberatung muss ein Auslaufmodell sein, auch in Deutschland.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Professor Dr. Erik
Schweickert für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Lay, Sie überraschen mich immer wieder:
({0})
Auf der einen Seite führen Sie hier aus, dass Sie die Verbraucherzentralen ausbauen wollen, sodass sie im Rahmen einer Art Sozialpolitik Beratungen anbieten können.
Auf der anderen Seite sollen die Verbraucherzentralen
- das haben Sie das letzte Mal gesagt - zu Marktwächtern
ausgebaut werden. Da frage ich mich: Sollen sich die Verbraucherzentralen dann selbst kontrollieren? Ich glaube,
da laufen einige Sachen ins Leere.
Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung,
dass die Honorarberatung für viele der Königsweg ist,
um Falschberatungen zu vermeiden; denn Provisionszahlungen und Vertriebsdruck werden als Ursachen
mangelhafter Anlageberatungen durch Banken ausgemacht. Der Honorarberater soll, anders als der Verkäu18220
fer, eine unabhängige Beratung zum Wohle des Verbrauchers garantieren.
Die Europäische Kommission hat inzwischen einen
Vorschlag zur Neufassung der EU-Finanzmarktrichtlinie
MiFID ins Spiel gebracht, die Einschränkungen solcher
Provisionszahlungen bei Anlageberatungen vorsieht, und
den Weg der Etablierung von Honorarberatungen eingeschlagen. Auch wir von der christlich-liberalen Koalition
sehen in der Honorarberatung eine sinnvolle Ergänzung
zur bisherigen Provisionsberatung.
In diesem Zusammenhang möchte ich deutlich sagen:
Leider hat noch nicht jede Bank verstanden, was sie ihren Kunden in der Vergangenheit angetan hat. Denn solange Banken unverhohlen von AA-Kunden sprechen
- das steht für „alt und ahnungslos“ - oder 80-jährigen
Rentnern Altersvorsorgekonten oder langfristige Schiffszertifikate aufschwätzen, so lange wird es weiterhin
Handlungsbedarf geben, für mehr Transparenz und Anlegerschutz zu sorgen. Die Stiftung Warentest hat hier
mehrfach den Finger in die Wunde gelegt und deutliche
Mängel bei der Beratung durch die Banken festgestellt.
Für uns von der christlich-liberalen Koalition steht
fest: Wir wollen den Anleger besser schützen. Deshalb
haben wir bereits wichtige Schritte unternommen. Mit
dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts,
dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz,
haben wir zum einen Beratungsprotokolle und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht und zum anderen die Regelungen zu Sanktionen bei Falschberatungen
verschärft,
({1})
und das nicht nur für Banken, sondern auch für den Bereich der freien Vermittler und des Grauen Kapitalmarkts. Wir haben das Verbot ungedeckter Leerverkäufe
umgesetzt und damit hochspekulative Anlageformen
vom Markt genommen. Ministerin Aigner hat bereits
lange vor Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von
der SPD, ein Eckpunktepapier zur Honorarberatung vorgelegt.
({2})
Der Verbraucher soll die Möglichkeit haben, zwischen
verschiedenen Beratungsformen die Beratung zu wählen,
die für seine Zwecke am besten geeignet ist. Sie sollen
entscheiden können, ob sie lieber einen kostenfreien Verkäufer aufsuchen wollen oder einen unabhängigen Honorarberater. Eines ist klar: Auch bei McDonald’s wird Ihnen der Verkäufer nicht empfehlen, wegen der Pommes
zu Burger King zu gehen, nur weil sie ihm dort besser
schmecken. - So läuft das auch beim Verkäufer in einer
Bank.
Es wundert mich allerdings, dass die SPD so tut, als
hätte sie den Königsweg Honorarberatung bereits seit
längerer Zeit gepachtet; denn in Ihrer Regierungszeit haben Sie in diesem Bereich außer markigen Sprüchen
nichts unternommen.
({3})
Ich wünschte mir, dass auch Herr Schäuble mehr Elan in
dieser Sache walten lassen würde.
({4})
Wir werden nicht lockerlassen und weiter an einer Regelung zur Honorarberatung arbeiten; denn nach meiner
Überzeugung brauchen wir eine gesetzliche Regelung,
da wir sonst über kurz oder lang unregulierten Wildwuchs haben werden. Wohin dies führt, das hat uns die
Finanzkrise deutlich gezeigt.
Honorarberatung braucht also einen gesetzlichen
Rahmen. Dieser Rahmen wurde von Ministerin Aigner
bereits dargelegt. Er deckt sich in vielen Bereichen mit
Ihrem Antrag. Dazu gehören die Definition des Berufsbildes, die Festlegung der Qualifikationserfordernisse
und auch die Anforderungen an einen Sachkundenachweis. Für uns gehört dazu auch - wie bei freien Vermittlern - die Verpflichtung zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung, damit im Schadensfall eine
Absicherung für den Kunden existiert.
({5})
Es muss klargestellt werden, dass ein Honorarberater
nicht noch zusätzlich Provision erhält.
({6})
Bei der Vergütung muss für die Verbraucher unbedingte
Transparenz bestehen. Der Verbraucher muss vor der
Beratung wissen, was er tut. Frau Tack, ich bin schon etwas irritiert, wenn Sie sagen, die Durchleitung der Provision werde von Ihnen nicht akzeptiert; denn es kann sehr
wohl sein, dass für einen Kunden ein Provisionsprodukt
das bessere Produkt ist. Als Kunde will ich, dass mir das
der Honorarberater auch anbieten darf. Er darf daran nur
nichts verdienen.
({7})
Apodiktisch vorzugehen, ist der falsche Weg.
({8})
Man kann einigen Punkten in Ihrem Antrag zustimmen; aber bei Ihrer Forderung nach einem zusätzlichen
Marktwächter für Honorarberatung hört es dann auf. Neben einer effizienten staatlichen Aufsicht benötigen wir
keine weiteren Institutionen, keinen Marktwächter als
halbstaatlichen Hilfssheriff. Wir finden es viel wichtiger,
die bestehenden Aufsichtssysteme zu stärken und effizienter zu gestalten, als neue Nebenschauplätze zu
schaffen, die am Ende nur gefühlten Schutz ohne tatsächliche Effizienz bringen. Aus meiner Sicht sollte die
Honorarberaterbranche darüber nachdenken, ob sie nicht
selbst eine Anlaufstelle für Verbraucherbeschwerden
schafft, eine Ombudsstelle, vergleichbar mit der der
Bank- und Versicherungswirtschaft, die wir heute schon
haben; denn sie hat sich meines Erachtens bewährt.
Wir brauchen übrigens auch keine staatlichen Aufklärungskampagnen zum Wohle der Honorarberater. Das
sollen diese schon selbst organisieren. Der Staat sollte
sich davor hüten, mit einer eindeutigen Werbekampagne
eine Beratungsform zu bevorteilen und die Honorarberatung zu hofieren,
({9})
und zwar auch, weil es nicht angebracht ist, die Honorarberatung durch die rosarote Brille zu sehen und als Allheilmittel zur Lösung der Problematik der Falschberatung ins Feld zu führen.
({10})
Das suggeriert mir Ihr Antrag - sie schreiben von einer
„echten Alternative“ - an vielen Stellen zu sehr. Die Bezahlung - das sollte man der Fairness halber sagen - ist
keine Gewähr für eine gute Beratung. Ich kann auch viel
bezahlen und schlecht beraten werden. Das muss man so
offen sagen.
({11})
Manchmal wollen die Kunden - man hört vielleicht,
dass ich aus Baden-Württemberg komme - eine Erstberatung oder eine Einschätzung und nichts dafür bezahlen. Danach entscheiden sie, ob sie ihr Geld anlegen
wollen oder nicht. Ich möchte den Menschen die Möglichkeit, sich zu entscheiden, offenlassen. Ich sehe die
Honorarberatung als Ergänzung und nicht als Alternative; denn ich bin davon überzeugt, dass wir auf diesem
Markt sowohl das eine als auch das andere brauchen.
({12})
Beim Honorarberater - das sollte man hinzufügen - wird
bereits die unverbindliche Einschätzung, egal ob sie gut
oder schlecht ist, kostenpflichtig sein.
Alles in allem kann die Honorarberatung den Wettbewerb zwischen den Beratern und den Beratungsformen
beleben und dadurch für die Anleger sehr wohl von Vorteil sein. Zum effizienten Verbraucherschutz braucht es
aber einen sinnvollen Rechtsrahmen ebenso wie die Einsicht, dass auch ein Honorarberater kein Allwissender
ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Nicole Maisch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
unstrittig - das ist aus den Debattenbeiträgen hervorgegangen -, dass Verbraucherinnen und Verbraucher eine
Alternative zur provisionsgetriebenen Beratung brauchen. Aber Markttransparenz und Wettbewerb um mehr
Qualität in der Finanzberatung wird es nur geben, wenn
die Honorarberatung als Alternative rechtlich geregelt
ist. Wenn es weiter Wildwuchs bleibt, dann wird das
keine echte Alternative sein.
({0})
Deshalb brauchen wir eine klare rechtliche Definition
des Berufsbildes, die Mischmodelle, welche das Kassieren sowohl von Provisionen als auch von Honoraren beinhalten, ausschließt und ambitionierte Anforderungen
an Ausbildung und Weiterbildung stellt.
Es war sehr interessant, in der Debatte zu sehen, wie
sich sowohl SPD als auch CDU/CSU und FDP bemüht
haben, die Unterschiede zwischen ihren beiden Konzepten herauszustellen. Die SPD konstruiert die Provisionsdurchleitung zum großen Konflikt mit der CDU/CSU,
und FDP und CDU/CSU freuen sich darüber, dass sie im
Antrag die Aufklärungskampagne gefunden haben; denn
so können sie gegen das SPD-Konzept in Gänze sein.
({1})
Fakt ist: Sie sind sich in weiten Teilen einig, und auch
wir teilen Ihre Auffassung zur Berufshaftpflichtversicherung und zur Definition eines Berufsbildes „Honorarberater“.
({2})
Der SPD-Antrag und die Eckpunkte von Frau Aigner
stellen eine gute Grundlage dar. Es ist deutlich geworden, dass sie in weiten Teilen deckungsgleich sind. Wir
schlagen Ihnen allerdings vor, noch weiter zu gehen;
denn die Regulierung der Honorarberatung ist natürlich
nur der eine Teil. Wenn man fairen Wettbewerb will,
dann darf man nicht nur eine Seite regulieren, sondern
dann muss man auch für diejenigen Regulierungen vorsehen, die Provisionen annehmen. Dazu gehört natürlich
das Thema Nettotarife. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen die Kosten vergleichen können. Deshalb muss es auch Kostentransparenz bei den Produkten
geben, für deren Vermittlung weiterhin Provisionen gezahlt werden. Wir schlagen standardisierte Kostenkennzahlen vor. „Reduction in Yield“ oder „Reduction in Payment“ sind Modelle, die wir uns vorstellen können. Darüber hinaus schlagen wir vor, die Kosten in Euro und
Cent und nicht nur in Prozenten auszuweisen, damit die
Verbraucherinnen und Verbraucher noch einfacher vergleichen können.
Frau Aigner, Ihre Ministerin, weiß, wie notwendig die
Honorarberatung ist. Das hat sie in vielen Interviews
- ich möchte jetzt nicht alle zitieren - ausgeführt. Sie hat
bereits 2008 angefangen, dies anzukündigen. Sie hat
2009 mit zehn Thesen zur Finanzberatung nachgelegt; es
wurde also wieder angekündigt. Auch 2010 wurden in
vielen Medien fairer Wettbewerb und Rechtssicherheit
für die Honorarberater gefordert. Aber weder beim Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und
Vermögensanlagenrechts noch beim Anlegerschutz- und
Funktionsverbesserungsgesetz haben all diese Ankündigungen Niederschlag gefunden, und das finde ich ziemlich schwach. Man muss sich im Kabinett auch einmal
durchsetzen und darf nicht nur im Vorblatt eines Gesetzentwurfes hinterlegen, dass man irgendwann einmal zeitnah die Honorarberatung regeln will. Wenn Sie zeitnah
in diesem Tempo weitermachen, dann ist die Legislatur18222
periode vorbei, bevor wir hier einen Gesetzentwurf gesehen haben.
({3})
Da helfen auch die zehn Eckpunkte nichts, mit denen Sie
uns nach den zehn Thesen beglückt haben.
Wir sind der Meinung: Es reicht jetzt mit den zehn
Thesen und den zehn Eckpunkten und den zehn Interviews. Jetzt ist ein Gesetzentwurf angebracht. Schließlich könnte die Situation nicht günstiger sein. Sie haben
quasi die gesamte Opposition hinter sich, und es hört
sich auch in der Koalition so an, als wären Sie sich einigermaßen einig. Die konzeptionelle Vorarbeit ist geleistet. Es gibt den SPD-Antrag. Es gibt die Eckpunkte. Es
gibt die Thesenpapiere und die zehn Eckpunkte zum Anlegerschutz. Es gibt grüne Positionspapiere, welche Ihnen selbstverständlich auch zur Verfügung stehen. Breite
gesellschaftliche Gruppen wie Gewerkschaften und Verbraucherschutzverbände würden Sie in diesem Vorhaben
unterstützen. Alles, was Sie machen müssen, ist, einen
Gesetzentwurf zu schreiben.
({4})
Vielleicht noch ein Einschub: Die MiFID wird ja seit
vielen Jahren immer wieder gerne angeführt, wenn man
beim Anlegerschutz nichts tun will. Von Zeit zu Zeit gibt
es auch eine neue MiFID. Wenn wir sagen, dass wir warten, bis die Umsetzung der MiFID abgeschlossen ist und
sich die Mitgliedstaaten der EU einig sind, dann können
wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Ich finde,
dass die MiFID als Entschuldigung fürs Nichtstun langsam ausgedient hat.
Frau Aigner hat auf der BMELV-Homepage im Bereich „Finanzen und Versicherungen“ geschrieben:
Es darf nicht sein, dass wegen einer falschen Beratung die sicher geglaubte Altersversorgung plötzlich nichts mehr wert ist.
Es darf nicht sein, aber es ist so. Die Anleger verlieren
jedes Jahr Milliarden durch falsche Beratung, und zwar
auch deswegen, weil Sie die Umsetzung der Lösungsansätze, die auf dem Tisch liegen, verschlafen. Deshalb
fordern wir Sie anlässlich der Grünen Woche - das ist
für die Mitglieder des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eine sehr wichtige
Woche - dazu auf, mehr Slow Food zu konsumieren und
weniger Slow Government zu praktizieren.
({5})
Das fänden wir schön, und das würde auch den Anlegern
guttun.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir, die CDU/CSU, wollen die Honorarberatung. Wir wollen die Honorarberatung als gleichberechtigte Alternative zur Provisionsberatung etablieren. Warum? Verbraucherinnen und Verbraucher sind auf gute
Beratung angewiesen. Man muss heute Experte sein, um
im Dschungel der Geldanlagemöglichkeiten das beste
Papier für die eigenen Bedürfnisse zu finden. Aber die
wenigsten Kunden sind Experten. Sie müssen sich auf
den Rat von Beratern verlassen. Wenn nun aber dieser
Berater nur die Finanzprodukte empfiehlt, bei deren Vermittlung er selbst am meisten verdient, werden die Kunden geschädigt und wird das Vertrauen in den Finanzmarkt zerstört. Deshalb ist klar: Vertriebs- und Anreizsysteme müssen sich der kundengerechten Beratung unterordnen. Es ist auch klar: Eine Provision oder Vergütung an sich ist nichts Verwerfliches, doch sie darf nicht
das Hauptmotiv für eine bestimmte Empfehlung sein.
({0})
Integere, effiziente, transparente und auf das Verbraucherinteresse ausgerichtete Märkte sind die entscheidende Voraussetzung für eine gesunde Volkswirtschaft.
Ja, es gibt schon heute vereinzelt Honorarberater; jedoch
nicht einmal 1 Prozent aller Geldanlagegeschäfte werden
von ihnen vermittelt. In der Versicherungsbranche gibt
es gerade einmal 200 Honorarberater, denen 250 000 Versicherungsvermittler gegenüberstehen. Das liegt daran,
dass der Kunde ungern zweimal für die gleiche Sache
zahlt. Erst informiert er sich kostenpflichtig beim Honorarberater, dann muss er das ausgewählte Produkt bei einem Vermittler kaufen und dort die fällige Provision
zahlen. Der Verbraucher zahlt dann also doppelt. Dies ist
aus Sicht des Kunden also wirtschaftlich meist wenig interessant.
Das Verbraucherschutzministerium hat bereits Mitte
2009 im Thesenpapier zur Qualität der Finanzberatung
eine gesetzliche Regelung hinsichtlich der Honorarberatung gefordert. Wörtlich heißt es dort:
Zur besseren Unterscheidbarkeit und Verlässlichkeit soll ein Berufsbild des Honorarberaters … geschaffen und rechtlich verankert werden.
Auch das vom Kabinett im April 2011 beschlossene Gesetz zur Regelung des Grauen Kapitalmarktes hält im
Vorblatt fest, die Honorarberatung zeitnah zu etablieren.
Frau Aigner hat schon im letzten Sommer in ihrem Eckpunktepapier die Forderung zur Honorarberatung konkretisiert. Jetzt springt die SPD auf den fahrenden Zug
auf. Klasse! Herzlich willkommen, wir nehmen Sie
gerne mit.
({1})
Unser Ziel ist definiert; aber welcher Weg zum Ziel
führt, ist zwischen uns strittig. Der Teufel steckt wie immer im Detail. Wir wollen ein neues Berufsbild etablieren. Für Versicherungen existiert bereits der Versicherungsberater. Für Geldanlagen soll das Berufsbild des
Anlageberaters neu geschaffen werden. Für Darlehen
sollen neben den Darlehensvermittler der Darlehensberater gestellt werden. Drei ganz unterschiedliche Themen werden von drei unterschiedlichen Fachleuten bearbeitet. Der SPD reicht ein Fachmann. Einer allein soll
über die entsprechenden Kenntnisse verfügen und in allen drei Bereichen beraten. Der Versicherungsmakler ist
dann gleichzeitig auch Fachmann für das Derivategeschäft. Klasse! Ihr Modell eines finanzpolitischen Universalgelehrten ist schlicht utopisch und in der Praxis
zum Scheitern verurteilt.
({2})
Kommen wir zu einem weiteren strittigen Punkt. Uns
ist wichtig, dass der Honorarberater in seinen Entscheidungen von den Produktanbietern unabhängig ist. Ein
Honorarberater darf in keinem Fall Provisionen oder
sonstige wirtschaftliche Vorteile von Produktanbietern
für sich behalten. In unserem Eckpunktepapier werden
ausdrücklich zwei mögliche Wege aufgezeigt, dies umzusetzen: Erstens. Man kann dies mithilfe von Nettoprodukten tun. Das sind Produkte, aus denen die Provision
herausgerechnet ist, also Finanzprodukte ohne Provision. Dies ist ein kostenintensiver und vom Aufwand her
hochschwelliger Ansatz.
({3})
Zweitens. Die Provision wird an den Kunden weitergegeben. Dies ist ein niederschwelliger Ansatz, der weitgehend kostenneutral und ohne Bürokratieaufwand umgesetzt werden kann.
Die SPD legt sich auf den ersten, den teuren Weg der
Nettoprodukte fest.
({4})
Das Durchreichen der Provision lehnen Sie ab.
({5})
Die Konsequenz ist, dass ein Teil der gehandelten Finanzprodukte in Deutschland nicht mehr angeboten werden kann.
({6})
Der Kunde geht leer aus. Das lehnen wir ab. Der Markt
muss weltoffen und handelbar bleiben. Wir wollen eine
Provisionsdurchleitung ermöglichen. Da, wo es keine
Nettoprodukte gibt, soll die Provision dem Kunden gutgeschrieben werden. Das hilft der Honorarberatung in
der Übergangszeit, sich im Markt zu etablieren. Honorarberater sollen auch auf eine breite Produktpalette zurückgreifen können. Das wünscht der Kunde, und das
stärkt auch den Wettbewerb zwischen den verschiedenen
Produkten. Die SPD entscheidet sich in ihrem Antrag
aber für ein Modell, das der Einführung der Honorarberatung schadet
({7})
und ihren Erfolg konterkariert.
({8})
Ein weiterer Punkt: die Vergütung der Honorarberater. Wir wollen, dass der Kunde vor Abschluss des Beratungsvertrages über die Höhe der anfallenden Kosten unterrichtet wird - Ende, nicht mehr und nicht weniger. Die
Höhe des Honorars ist Sache zwischen dem Kunden und
seinem Berater. Die SPD will die Vergütung verstaatlichen.
({9})
Sie will ihre Höhe vom Staat vorschreiben lassen. Warum? Aus reiner Regelungswut und aus reiner Lust auf
staatliche Bevormundung.
({10})
Wir wollen einen funktionierenden Markt für die Honorarberatung.
({11})
Wir wollen einen möglichst niedrigschwelligen und minimalen gesetzlichen Eingriff. Wir wollen, dass die Finanzbranche transparenter wird, zum Nutzen der vielen
Kunden, der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um in dieser Debatte einen versöhnlichen Schlusspunkt
zu setzen, will ich sagen: Es gibt eine breite Übereinstimmung, dass wir die provisionsgetriebene Beratung in
Deutschland zurückdrängen und eine Honorarberatung
ermöglichen müssen.
({0})
- Ja, wir brauchen eine klare und starke Alternative. Zumindest ich habe bisher gedacht, dass hier Konsens
besteht. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede, wenn
es um die Frage geht, welchen Weg wir einschlagen.
Ich will Ihnen sehr deutlich sagen, welchen Weg wir
einschlagen. Wir sagen erstens: Wir haben keine Zeit zu
verlieren. - Deshalb verstehe ich nicht, dass die Koalition ihre Verbraucherschutzministerin hängenlässt, dass
sie sie nur Eckpunkte vorschlagen lässt und dass nicht
sie hier im Plenum einen Vorschlag macht, sondern dass
wir die Ersten sind, die hierzu einen Vorschlag machen.
({1})
Dies ist die erste wichtige Feststellung, die die Herangehensweise an dieses Thema betrifft. Wir als Opposition
sagen zumindest: Wir sind nicht nur bereit, sondern natürlich auch fähig, Maßnahmen umzusetzen. Das schaffen Sie als Regierung nicht.
Zweitens. Wenn wir die Regularien verändern, dann
dürfen wir nicht als Tiger starten und als Bettvorleger
landen. Bei Ihrem Modell würde das geschehen. Sie
werden nämlich Vorschläge vorlegen, die nicht zur Stärkung der Honorarberatung und zur Zurückdrängung der
provisionsgetriebenen Beratung führen. Das ist ein wesentlicher Punkt.
Ich will deutlich machen: Wer sich für die Honorarberatung ausspricht und gleichzeitig sagt: „Aber das provisionsgetriebene Modell wollen wir so beibehalten“, der
redet falsch Zeugnis.
({2})
- Ja, natürlich. - Es ist doch völlig klar: Eines geht nur.
Faktisch bzw. im Ergebnis funktioniert das nicht.
Es kommt darauf an, im Zusammenhang mit den Beratungsprodukten auch zu berücksichtigen, dass in der
Vergangenheit viele Fehlberatungen erfolgt sind und
Fehlanreize gesetzt wurden. Natürlich - das ist in dieser
Debatte gesagt worden - gibt es keinen allwissenden
Honorarberater. Es gibt aber auch keinen allwissenden
Berater bzw. Vermittler auf Provisionsbasis. Allerdings
gibt es Vermittler auf Provisionsbasis, die die Absicht
haben, mit dem einen Produkt eine höhere Provision zu
verdienen als mit dem anderen Produkt. Das ist ein Fehlanreiz. So können wir nicht dafür sorgen, dass die Menschen eine ordentliche Versicherung bekommen, ihr
Geld ordentlich anlegen können usw. Darum muss die
Honorarberatung gestärkt werden, meine Damen und
Herren. Das ist der Kern.
({3})
Ich will auch gleich an dieser Stelle etwas zum Punkt
Provisionsdurchleitung sagen. Auch das ist eine Marktverzerrung.
({4})
- Hören Sie mir bitte wenigstens zu. - Wir wollen, dass
das gekaufte Produkt wirklich das ist, was gewollt ist,
und dass keine Verlockungen bestehen, weil der eine
Anbieter eine höhere Provision vorsieht als der andere,
weil er sozusagen die Berater locken will. Dann gibt es
nämlich unterschiedliche Ausstattungen und plötzlich
unterschiedlich viel Geld, das weitergeleitet werden
kann.
({5})
Das führt dann nach Ihrem Durchleitungsvorschlag
dazu, dass man, wenn man Produkt A kauft, vielleicht
1 500 Euro in die Hand gedrückt bekommt, während
man bei Produkt B nur 500 Euro in die Hand gedrückt
bekommt. Ich möchte diese fehlerhafte Verführung der
Menschen nicht, sondern ich möchte Transparenz und
einen klaren Markt auf gleicher Ebene und von gleicher
Art.
({6})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schweickert?
Ja, eine Zwischenfrage lasse ich gerne zu.
Bitte.
Herr Kollege, vielen Dank für die Ermöglichung einer
Zwischenfrage.
Herr Kollege Sieling, können Sie, wenn man vom
Kunden her denkt, ausschließen, dass es für einen Kunden sehr wohl vorteilhaft sein kann, wenn ein Honorarberater zu ihm sagt: Das eine Produkt, das ich dir anbiete
und für das es nun einmal eine Provision gibt, ist für
dich, bei deinen Lebensumständen, das beste Produkt?
Können Sie so etwas ausschließen? Wenn nicht, dann
bin ich der Meinung, dass man vom Kunden her denken
und das Ganze sehr wohl ermöglichen muss.
({0})
Ich bedanke mich sehr für die Zwischenfrage und
kann natürlich sagen, dass das nicht ausgeschlossen ist,
aber ich sage Ihnen ganz deutlich, dass das für uns das
zentrale Argument für Nettotarife und für Transparenz
ist,
({0})
weil dadurch jeder Berater unabhängig von dem Provisionssatz das Gleiche vorlegt.
Der Unterschied zwischen dem Berater und dem Vermittler auf Provisionsbasis ist, dass der Vermittler auf
Provisionsbasis den schlichten Antrieb hat, dass er mit
dem einen Produkt vielleicht mehr verdient als mit dem
anderen. Beim Berater ist das alles gleich. Hier gibt es
einen Markt, auf dem die Akteure die gleiche Anbieterstruktur aufweisen. Darum ist das fairer für die AnlegeDr. Carsten Sieling
rinnen und Anleger, für die Bürgerinnen und Bürger, und
darum sind wir für die Stärkung der Honorarberatung.
Vielen Dank für die Frage. Das ist einer der zentralen
Punkte.
({1})
Zum Schluss will ich hier noch einmal sehr darauf
hinweisen: Wenn Sie die Fachdebatte um unseren Antrag in den letzten Tagen verfolgt haben, dann wissen
Sie, dass alle einschlägigen Akteure, die auf diesem Gebiet kompetent sind, angefangen beim Verbraucherzentrale Bundesverband bis hin zu verschiedenen Verbänden und Organisationen, aufgrund dieser Argumente
deutlich gesagt haben: Unter anderem wegen dieses
Punkts ist der SPD-Antrag dem Konzept von Ministerin
Aigner überlegen. Diese Überlegenheit sollte sich auch
in Gesetzen wiederfinden.
({2})
Ich will diese Überlegenheit auch noch einmal an der
Aufsicht deutlich machen. Die Verbraucherschutzministerin hatte ursprünglich ja die einheitliche Aufsicht. Sie
ist insbesondere durch das Vorgehen der FDP, die sich
beim Vermögensanlagengesetz durchgesetzt hat, aus den
Puschen geschlagen bzw. geschossen worden, sodass es
in Deutschland eine gesplittete Aufsicht gibt. Ich sage:
Es kann nicht ordentlich sein, dass 7 000 unterschiedliche Gewerbeämter 80 000 Vermittler kontrollieren. Das
ist ein löchriger Käse. Das muss man an dieser Stelle
auch verändern. Man braucht eine einheitliche Aufsicht,
übrigens auch für die Honorarberaterinnen und Honorarberater.
({3})
Weil das auch ein wichtiger Bestandteil unseres Antrages ist, will ich zuallerletzt noch einmal sagen: Wir
sprechen uns sehr dafür aus, dass es neben dieser ordentlichen Aufsicht auch einen Marktwächter aus der Gesellschaft heraus gibt.
({4})
Darum sind wir sehr dafür, dass die Verbraucherzentralen diese Marktwächterfunktion erhalten. Wir wollen
nicht warten, bis die MiFID umgesetzt wird und Sie endlich irgendwelche Gesetzentwürfe vorlegen. Das kann
man den Menschen in Deutschland nicht mehr zumuten.
Wir müssen jetzt wissen, was Sie wollen - übrigens auch
in der europäischen Debatte.
Darum: Folgen Sie unserem Antrag, und legen Sie
endlich einmal ein paar eigene Vorschläge vor, die Sie
auch wirklich in dieses Haus einbringen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8182 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die
Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, also
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes ({0})
- Drucksache 17/8343 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was haben wir eigentlich im Blick, wenn wir
heute über Finanzmarktstabilisierung diskutieren und
dazu einen Gesetzentwurf einbringen? Für die Bundesregierung und die sie tragende Koalition geht es beispielsweise um die Sparerinnen und Sparer, die ihre Sparguthaben unkompliziert und sicher in einem
funktionsfähigen Finanzmarkt verwalten wollen. Es geht
aber auch um die Beschäftigten in Deutschland, die ihre
privaten Geschäfte vom Lohnerhalt bis hin zu Konsumausgaben mit Banken und Sparkassen tätigen wollen, die
sie als vertrauensvolle und verlässliche Partnerinnen und
Partner einschätzen.
Es geht um die Unternehmerinnen und Unternehmer
in Deutschland. Deutschland wäre nicht Exportweltmeister und hätte keinen starken Binnenkonsum, wenn
es nicht auf einen funktionsfähigen und leistungsfähigen
Finanzmarkt blicken könnte. Es geht aber auch um die
Interessen der Anlegerinnen und Anleger, die für ihre
Altersvorsorge über das gesetzliche Maß hinaus etwas
tun wollen. All diesen dient die Finanzmarktstabilität.
Sie steht im Fokus dieses Gesetzentwurfs, dessen Inhalt
Ihnen die Koalitionsfraktionen gemeinsam mit der Bundesregierung heute vortragen.
Finanzmarktstabilität ist ein gemeinwohlorientiertes
Anliegen, für das es sich einzutreten lohnt. Deswegen
muss klar gesagt werden: Wir haben nicht nur diesen
Gesetzentwurf erarbeitet. Wir haben auch eine Reihe
von anderen Schlussfolgerungen aus der Finanzkrise gezogen. Ich nenne beispielsweise die Bankenabgabe, die
zu einer solidarischeren Verteilung der Lasten führen
soll, oder die Initiativen, die dem Anleger- und Verbraucherschutz im Finanzmarkt dienen sollen, in dem wir in
den vergangenen zwei Jahren Erhebliches vorangebracht
haben.
Ich erinnere mich noch gut daran, als das erste Finanzmarktstabilisierungsgesetz hier im Oktober im Jahr
2008 beraten worden ist.
({0})
Das war eine Aktion, bei der der deutsche Parlamentarismus innerhalb einer Woche seine Leistungsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit belegt hat, weil uns die Krise eiskalt
erwischt hat und wir handeln mussten und Verantwortung übernommen haben.
Das ist allerdings kein Idealfall von Gesetzgebung.
Deswegen beobachten wir als Regierung, aber auch als
Koalition seit Herbst intensiv die Entwicklung auf den
Finanzmärkten. Rasch wurde uns klar, dass ein zweites
Finanzmarktstabilisierungsgesetz nach dem Auslaufen
der bisherigen Maßnahmen durchaus im Bereich des
Möglichen war.
Der Befund ist klar und deutlich: Eine hohe Staatsverschuldung, anders als in der Bankenkrise, ist die Ursache
von Verwerfungen auf den Finanzmärkten. Ein Vertrauensverlust in die Solvenz und Liquidität einzelner Staaten, nicht immer begründet, aber teilweise von den
Märkten so empfunden, führt zu Verwerfungen im Finanzmarkt. Wir haben einen erheblichen Abschreibungsbedarf in den Bilanzen und damit verringert sich auch
der Risikopuffer im Finanzmarktsystem. Es besteht ein
Misstrauen zwischen den einzelnen Akteuren des Finanzmarktes, das sich daran ablesen lässt, dass das Geld
nicht anderen Banken geliehen oder anderswo investiert
wird, sondern zu schlechten Konditionen über Nacht bei
der Europäischen Zentralbank geparkt wird.
Es wäre verantwortungslos, die Entwicklung abzuwarten, bis das Kind in den Brunnen fällt. Mit dem Mitte
Dezember vom Bundeskabinett beschlossenen und jetzt
von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf
handeln wir diesmal präventiv. Wir wollen Verantwortung zeigen, bevor es zu krisenhaften Veränderungen
kommt, die wir nicht erwarten, die aber im Bereich des
Möglichen sind. Wir reden sie nicht herbei, aber es ist,
glaube ich, richtig, besser vorbereitet zu sein.
Den ersten Schritt - das will ich in aller Klarheit sagen - haben wir gemeinsam mit unseren europäischen
Partnern und der europäischen Bankenaufsicht gemacht.
Die europäische Bankenaufsicht hat festgelegt, dass
mehr Eigenkapital im europäischen Bankensektor einen
Beitrag zur Systemstabilität leisten kann, insbesondere
bei den sogenannten systemrelevanten Banken, also den
großen Finanzakteuren.
Der zweite Schritt war, dass sich auf Grundlage der
Analyse der europäischen Bankenaufsicht die Staatsund Regierungschefs entschieden haben, eine nationale
Rekapitalisierung der Banken anzuordnen. Da, wo es
möglich ist, soll sie vorrangig durch den Markt erfolgen.
Aber da, wo es notwendig ist, haben wir Auffangpositionen zu schaffen, nicht weil wir wollen, dass der Staat als
Erster hilft, sondern weil wir glauben, dass dieses präventive Verhalten die Institute auffordert, das Notwendige zu tun, statt beim Staat anzuklopfen.
Der dritte Schritt, den wir heute gesetzgeberisch beginnen, ist die nationale Umsetzungsstrategie dieser europäischen Festlegung. Das ist das Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz, für das wir uns schon jetzt mehr
Zeit genommen haben als für die gesamten Gesetzgebungsberatungen des Vorläufers.
Was ist der Inhalt? Erstens. Wir ermächtigen die Bundesregierung mit erheblichen Kapitalmengen und Garantiemöglichkeiten, für den Fall der Fälle aktiv Finanzmarktstabilisierung zu betreiben.
Wir ermöglichen zweitens mit diesem Gesetz, Wertpapiere in Zweckgesellschaften geordnet abzuwickeln.
Dieses Instrument hat uns schon in der ersten Finanzmarktkrise gute Dienste geleistet und trägt im Interesse
der Sparer, Anleger, Unternehmen und Beschäftigten erheblich zur Vertrauensbildung auf den Finanzmärkten
bei. Diese Möglichkeit steigert das Vertrauen in die Solvenz der Kreditinstitute und ist damit ein kluger Beitrag.
Drittens. Wir stellen alle diese Aktivitäten unter die
Kontrolle des bewährten Ausschusses.
({1})
Die parlamentarische Begleitung ist Bestandteil unserer
Finanzmarktstabilisierungspolitik. Der in der Begeisterung noch ausbaufähige Kollege Schick ist neuerdings
Mitglied dieses Gremiums und wird zweifelsohne wie
alle Mitglieder dieses Gremiums die Arbeit genauso
konstruktiv wie sein Vorgänger Bonde für seine Fraktion
begleiten.
Das Parlament ist in der Pflicht, wenn es um Finanzmarktstabilisierung geht. Wir sind aber auch in der
Pflicht, die Dinge mit der gebotenen Vertraulichkeit und
Geschwindigkeit von Parlamentsseite zu begleiten, die
möglicherweise notwendig sind.
Viertens. Wir finden mit dem Gesetz eine Form, die
das Anliegen der Schuldenbremse auch auf die Instrumente der Finanzmarktstabilisierung anwendet. Wir verParl. Staatssekretär Steffen Kampeter
schärfen die Schuldenbremse mit den Vorschriften dieses Bereichs, weil wir sagen: Auch hier gilt das, was
notwendig und richtig ist.
({2})
Schließlich schärfen wir die Aufsicht über die Kreditinstitute. Bisher hat die Aufsicht erst bei Bestandsgefährdung eine Eingriffsmöglichkeit. Wir wollen jetzt
eine Risikoeinschätzung zugrunde legen, weil wir gemerkt haben, dass in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern die Aufsicht bisher zu spät eingegriffen
hat, um Finanzmarktstabilität zu garantieren. Das kann
im Einzelfall mehr Eigenkapital bedeuten. Das kann
auch Rekapitalisierung durch den Soffin bedeuten. Wenn
sich Institute weigern, eigenverantwortlich ihren Beitrag
zur Finanzmarktstabilität zu leisten, kann das auch die
Einsetzung eines Sonderbeauftragten bedeuten.
Ich will allerdings auch in aller Klarheit sagen: Die
Verhältnismäßigkeit und die Berücksichtigung des Wettbewerbsgedankens sind neben der Erreichung von Finanzmarktstabilität ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung. Es muss sich keiner vor diesem Instrument
fürchten. Maß und Mitte bleiben auch in dem neuen Gesetz wichtig.
Herr Staatssekretär, Sie können mein Signal weiter
ignorieren, kein Problem. Das hat dann aber Konsequenzen für weitere Redner.
Dass es schon vor dem Inkrafttreten wirkt, zeigt sich
daran, dass schon die ersten Institute gesagt haben: Wir
schaffen mehr Kapital vom Markt. Ein Gesetz, das schon
vor der ersten Lesung im Deutschen Bundestag Wirkung
entfaltet, muss ein gutes Gesetz werden. Wir werden in
der Anhörung am Montag und dann in den weiteren parlamentarischen Beratungen schauen, ob es noch besser
werden kann. Ich werbe für die Bundesregierung um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Bettina Hagedorn für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der Herr Kollege Kampeter hat schon
auf das sogenannte Soffin-I-Gesetz hingewiesen. Das
haben wir, die Große Koalition, in atemberaubender Geschwindigkeit innerhalb einer Woche - das ist nicht beneidens- und nachahmenswert - im Oktober 2008 verabschiedet. Dieses Gesetz hat - ich glaube, darüber sind
wir uns einig - gute Dienste geleistet, zur Beruhigung
der Märkte beigetragen und vor allen Dingen der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gedient. Sie haben zu
Recht darauf hingewiesen - ich will mich dem für die
SPD anschließen -: Ja, Finanzmarktstabilität ist ein öffentliches Gut. - Das haben wir schon damals so gesehen, und das sehen wir heute noch genauso.
Dieses Gesetz ist allerdings am 31. Dezember 2010
ausgelaufen, und das - dieser Hinweis sei mir gestattet gegen die warnenden Worte der Sozialdemokraten, die
in diversen Reden und Anfragen an die Regierung schon
im Herbst 2010 darauf hingewiesen hatten, dass dieses
Instrument durchaus über Dezember 2010 hinaus noch
gute Dienste leisten kann; denn die Krise war damals erkennbar noch nicht überwunden. Was Sie für die Regierung dargelegt haben, nämlich dass Sie in weiser Voraussicht schon seit Wochen präventiv handeln, muss man
ein wenig einschränken. Ich habe zwar Verständnis für
Ihr Eigenlob. Aber zur ganzen Wahrheit gehört, dass das
bereits auf Gipfeln und auf dem G-20-Treffen im Herbst
2011 beschlossen wurde.
({0})
Ich will darauf hinweisen, dass wir uns in der Großen
Koalition 2008 grundsätzlich einig waren. Aber schon
damals gab es einen Punkt, über den wir uns nicht ganz
einig waren - das ist auch so geblieben -, nämlich darüber, wer eigentlich die Kosten der Rettungsaktion tragen soll. Wir stellen heute mit Befriedigung fest, dass
sich offensichtlich wenigstens bei den Kollegen der
CDU/CSU, der Kanzlerin und dem Finanzminister die
Erkenntnis durchgesetzt hat, dass eine Finanztransaktionsteuer eine wesentliche Rolle spielen kann. Die Ankündigung, eine solche Steuer einzuführen, hören wir
gerne. Aber Ankündigungen gab es schon diverse. Jetzt
müssen Sie es nur noch gegen die FDP durchsetzen.
Dann sind wir auch an dieser Stelle auf dem richtigen
Weg.
({1})
Zu Ihrem Gesetz, dessen Entwurf nun vorliegt, kann
man sagen: besser spät als gar nicht. Der Stresstest hat
ergeben, dass die Banken in Europa 115 Milliarden Euro
frisches Geld brauchen werden. 13 bis 14 Milliarden
Euro davon benötigen einige Institute in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund brauchen wir dieses Gesetz. Allerdings hat sich die Welt in den letzten dreieinhalb Jahren weitergedreht. Wir mussten im Herbst 2008 ins kalte
Wasser springen. Wir hatten damals nur eine Woche
Zeit. Dafür war sehr viel Mut erforderlich. Wir haben
trotz der Kürze der Zeit offensichtlich manches richtig
gemacht. Allerdings muss man an dieser Stelle darauf
hinweisen, dass sich seitdem einige Dinge geändert haben. So wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland verankert. Dank herausragender Verfassungsgerichtsurteile diskutieren wir heute
über die Beteiligung des Parlaments - aus gutem Grund auf einem ganz anderen Niveau als damals.
({2})
Vor diesem Hintergrund sind wir als Abgeordnete gerade
in der Anhörung mit 13 Sachverständigen im federführenden Haushaltsausschuss am kommenden Montag in
der Verantwortung, diese beiden Aspekte besonders zu
beleuchten und zu überprüfen, ob das Gesetz den Ansprüchen genügt.
An dieser Stelle will ich konkret werden und darauf
abstellen, dass der Soffin bisher ein reines Informationsgremium ist. Anders als das Neunergremium, über das in
den letzten Wochen vielfach geredet wurde, ist er nicht
mit Entscheidungsbefugnis ausgestattet.
Das Finanzministerium will künftig auch befugt sein
- so sieht es der jetzt vorliegende Entwurf zum Soffin II
vor -, alle Anordnungen zu treffen, die die zweckmäßige
Wahrnehmung der Aufgaben der Anstalt sicherstellen
und überprüfen. Das mag ein wichtiger Schritt sein. Eine
Stärkung des Aufsichtsinstrumentariums ist konsequenterweise angelegt. Auch die Stärkung der Rechts- und
Fachaufsicht des Ministeriums ist angelegt. Ohne Zweifel muss der federführende Haushaltausschuss bei seiner
Beratung dieser gewünschten Stärkung der Exekutive
zwingend eine Stärkung der Kontrolle und Mitsprache
durch den Bundestag an die Seite stellen.
({3})
Gerade für die Grundsatzentscheidungen, die bisher
nicht der Leitungsausschuss des Soffin trifft, sondern der
Lenkungsausschuss, der aus den Ministerien gebildet
wird, muss mehr parlamentarische Mitwirkung sichergestellt werden; denn diese Entscheidungen sind in aller
Regel nicht eilig. Beispielsweise ist die Frage, welche
Kapitalbeteiligung der Bund im Falle einer Kapitalzuführung an eine Bank übernimmt, eine grundsätzliche
und wichtige Weichenstellung. Ich unterstelle daher,
dass wir uns hier über diese grundsätzliche Ausrichtung
fraktionsübergreifend einig sind.
Ich will ergänzend einige offene Fragen aus der Sicht
der SPD ansprechen. Dabei ist vor allen Dingen zu nennen, dass wir uns stets für direkte Beteiligung ausgesprochen haben, zum Beispiel in Form von Stammaktien,
und sie übrigen Instrumenten vorziehen nach dem
Motto: Wer rettet und zahlt, muss an Kurssteigerungen
mitverdienen können und mitreden dürfen.
Die Bundesregierung ist zwar nicht der bessere Banker, aber über den Aufsichtsrat sehr wohl in der Lage,
die grundsätzliche Geschäftsausrichtung eines Instituts
konstruktiv und im öffentlichen Interesse zu begleiten;
denn im öffentlichen Interesse ist, dass Steuergelder im
Interesse aller eingesetzt werden.
Auf die Frage „Wie viel Zwang und wie viel Freiwilligkeit brauchen wir?“ wird nachher mein Kollege
Carsten Sieling eingehen; denn ich muss jetzt zum
Schluss kommen. Ich will noch sagen, dass bei uns allen
inzwischen die Telefone heißlaufen, und zwar deshalb,
weil es natürlich Banken gibt, die wegen der Debatte
zum Zwang sehr wohl ihre Sorgen haben.
Ich hoffe, dass wir es schaffen, die Beratung im Parlament miteinander ohne Anwürfe von Lobbyisten zu führen, und dass wir in erster Linie nicht deren Interessen
berücksichtigen, sondern die der Bürgerinnen und Bürger, die von uns vertreten werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDPFraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das heute vorliegende Gesetzgebungsvorhaben ist ein Baustein in der europaweiten Bekämpfung der Auswirkungen der derzeitigen Staatsschuldenkrise. Es ist im Oktober vom Gipfel der Staats- und
Regierungschef vereinbart worden, dass es notwendig ist
- neben den Maßnahmen, die wir in den europäischen
Verträgen treffen müssen, den Diskussionen um den
Europäischen Stabilisierungsmechanismus -, dass wir
Vertrauen im Bankensektor schaffen, und das europaweit. Genau dazu soll dieses Gesetz seinen Betrag aus
deutscher Sicht leisten.
Wir sehen, dass die Banken in Europa zurzeit ein gewisses Misstrauen gegeneinander haben. Wir erkennen
das daran, wie viel Geld sie zum Beispiel bei der Notenbank anlegen, statt es sich gegenseitig zu leihen. Dies ist
ein Zeichen dafür, dass mehr dafür getan werden muss,
um Vertrauen in die Stabilität des Bankensektors zu
schaffen. Auch das soll europaweit angegangen werden,
indem wir dafür sorgen, dass bis zum 30. Juni alle systemrelevanten, alle für die Stabilität wichtigen Banken
in Europa eine Kernkapitalquote von 9 Prozent bekommen, also stärkere Kapitalpuffer haben und damit besser
für Unsicherheiten, für Probleme auf den Märkten, für
Turbulenzen gewappnet sind und so etwas besser durchstehen können.
Das Ganze wird europaweit einheitlich von der Europäischen Bankenaufsicht gemacht, die die Kriterien aufgestellt hat. Es ist für die europäischen systemrelevanten
Banken einheitlich errechnet worden, wie stark sie für
das Krisenszenario aufgestellt sind oder wie viel Kapital
sie dafür noch brauchen.
Nun schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass in
Deutschland sichergestellt ist, dass jede Bank dieses Ziel
bis zum 30. Juni erreicht. Die Bundesregierung und die
Koalition bekennen sich dazu, dass wir als Deutsche das
erfüllen, was in Europa im Oktober vereinbart worden
ist.
Eines ist allerdings ganz wichtig, wenn man sich die
Geschichte dieses Soffin-II-Gesetzes, dieses neuerlichen
Finanzmarktstabilisierungsgesetzes, anschaut.
Der Soffin II hat einen etwas anderen Charakter als
der Soffin I, der vor drei Jahren verabschiedet worden
ist. Hier geht es im Grunde darum, dass wir einen Kapitalpuffer für bestimmte Problemsituationen vorbeugend
präventiv anlegen. Vor drei Jahren war die Situation so,
dass der Finanzsektor derartig lädiert war, dass der Soffin eher ein Reparaturbetrieb gewesen ist und der Schaden schon so gut wie eingetreten war. Dann musste sehr
schnell gehandelt und interveniert werden, um noch größeren Schaden zu verhindern. Wir gehen heute bei Soffin II davon aus, dass wir sehr stark vorbeugend tätig
werden, während es bisher ein etwas anderes Konzept
war, nämlich dass man besonders stark von der Krise betroffene Banken stabilisiert hat, um schlimmeren Schaden zu vermeiden. Das erklärt, Frau Kollegin Hagedorn,
den Unterschied zwischen dem damaligen und dem heutigen Gesetzgebungsvorhaben, und es erklärt auch, dass
man das, was wir heute tun, insgesamt etwas anders einordnen muss. Es ist nicht die schiere Wiederholung dessen, was vor drei Jahren passiert ist, sondern es ist ein
sehr stark präventiv wirkendes Instrument.
({0})
- Nein, aber Sie sagten, Sie hätten kritisiert, dass man
das alte Finanzmarktstabilisierungsgesetz hat auslaufen
lassen. Dafür haben wir auch ein neues Instrument geschaffen, für die Fälle, in denen wirklich kein tragfähiges Geschäftsmodell vorhanden ist. Für die Fälle, in denen eine Bank derartig krank ist, dass es nicht sinnvoll
ist, dort Steuergelder hineinzugeben, haben wir das Restrukturierungsgesetz - es ist eine Art geordnetes Insolvenzrecht für Banken -, das genau dazu da ist, die wirklich problematischen Fälle geordnet in den Griff zu
bekommen und vom Markt zu bekommen.
Soffin II ist etwas ganz anderes als die Situation des
Restrukturierungsgesetzes. Es ist Vorbeugung und verhindert gewissermaßen, dass der ganze Finanzsektor
krank wird. Es ist nicht dafür da, dass wir Banken ohne
Geschäftsmodell mit Steuergeldern unterstützen, und das
ist schon etwas anderes als das Konzept, das vor drei
Jahren in der Not und unter großem Zeitdruck beschlossen worden ist.
({1})
Wir geben bei unserem Ansatz der unternehmerischen
Eigenverantwortung Vorrang. Es geht darum, dass wir
sehen: Je stärker der Staat an Privatunternehmen beteiligt ist, umso weniger kann er seiner Rolle als neutraler
Wächter fairer Regeln, als Aufseher genauso wie als Gesetzgeber, der sich um faire und angemessene Regeln bemüht, nachkommen. Je stärker der Staat wirtschaftliche
Eigeninteressen verfolgt, umso stärker ist seine Rolle als
ordnender Faktor gefährdet, der faire Regeln, fairen
Wettbewerb, auch einen nachhaltigen Wettbewerb um
das beste Geschäftsmodell, um stabile Geschäftsmodelle
unterstützen kann.
Deshalb ist unser Ansatz gerade nicht, zu sagen: Ziel
ist, dass wir möglichst viel staatliches Geld in möglichst
viele Banken hineinpumpen und dadurch möglichst viel
Einfluss auf möglichst viele Banken bekommen. Wir sehen auch aus den Erfahrungen der Vergangenheit, dass
die Banken, die staatlich beeinflusst gesteuert sind, nicht
die besseren Geschäftsmodelle hatten, sondern diese die
größeren Verlustbringer für die Steuerzahler waren, weil
Anpassungsprozesse, Veränderungen, Reformen und Sanierungen eher verschleppt und verzögert worden sind,
Stichwort „Landesbanken“. Diesen Fehler sollten wir
mit Geld des Steuerzahlers keinesfalls wiederholen, sondern sagen: Vorrang hat, dass die Banken selbst ihre Probleme mit den Instrumenten, die sie für richtig halten, in
den Griff bekommen. Das verlangen wir, die Zielvorgabe legen wir fest, aber wir drängen Geld nicht dort auf,
wo die Probleme mit anderen Mitteln lösbar sind. Dies
tun wir nicht, weil wir nicht wollen, dass der Staat den
deutschen Finanzsektor umfassend steuert und unternehmerisch tätig ist.
({2})
Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass die sechs
Banken in Deutschland, von denen wir wissen, dass sie
noch etwas zu tun haben bis zum 30. Juni 2012, allesamt
erklärt haben, dass sie sich anstrengen werden, das
Ganze ohne Steuergelder hinzubekommen. Ich halte es
für eine Selbstverständlichkeit im Anspruch eines privaten Unternehmers, dass er sagt: Wir schaffen unsere Probleme selbst aus der Welt. Wir strengen uns selber an
und bitten nicht die Allgemeinheit. - Das sollte man anerkennen. Ich denke, dass das gut ist, und es sollte für
Privatunternehmen selbstverständlich sein, dass sie sich
erst einmal selber anstrengen. Wenn dies gelingt, dann
trifft das auf unsere Zustimmung und unser großes
Wohlwollen.
({3})
Aber wir müssen - das ist der Sinn des heutigen Gesetzes - darauf vorbereitet sein, dass es Marktsituationen
geben kann, auch unberechenbare Situationen im Zuge
der Schuldenkrise, in denen es vielleicht nicht hundertprozentig und jedem gelingt, es selber zu schaffen. Genau dafür stellen wir die Instrumente zur Verfügung, die
nun, für ein Jahr befristet, wieder eingesetzt werden sollen. Das ist eine Vorsorgemaßnahme. Wir wollen nicht,
dass sie eingesetzt werden, aber wir wissen, dass sie
möglicherweise gebraucht werden, wenn es die Privatwirtschaft nicht in jedem Einzelfall schafft, alle ihre
Aufgaben bis zum 30. Juni 2012 unter einem durchaus
hohen Zeitdruck zu erfüllen.
Wir werden dafür sorgen, dass das, was nötig ist, auch
im Bereich der staatlichen Finanzmarktstabilisierung so
abläuft, dass der Wettbewerb möglichst wenig beeinträchtigt wird und nicht die Banken, die eigentlich ein
funktionierendes Geschäftsmodell haben und kein staatliches Geld brauchen und es auch nie gebraucht haben,
Nachteile dadurch haben, dass sie kein staatliches Geld
bekommen haben. Der faire und geordnete Wettbewerb
um das beste, das tragfähigste Geschäftsmodell darf
durch solche Interventionen nicht beeinträchtigt werden.
Wir werden durch die Gesetzgebung und die Anwendung der Gesetze dafür sorgen, dass das gewährleistet
ist.
Natürlich gilt auch hier: Wir schonen die Steuerzahlerinteressen. Wer im Zuge dieses Gesetzes Geld vom
Staat bekommt, falls dies überhaupt notwendig werden
sollte, der muss dafür Gegenleistungen erbringen, in der
Regel zum Beispiel Garantien verzinsen, Eigenkapital
verzinsen. Es wird nichts geschenkt. Der Staat wird darauf achten, dass die Banken, bei denen sein Eingreifen
erforderlich wird, ordentliche Geschäftsmodelle haben
und keine unverantwortlichen Geschäftsmodelle, sofern
es diese überhaupt noch gibt, weitergeführt werden. Das
ist Teil dieses Gesetzes, und das ist auch das, was wir
den Steuerzahlern schuldig sind.
Eine letzte Bemerkung, Frau Kollegin Hagedorn, zum
Thema Parlamentsbeteiligung.
Achten Sie bitte auf das Signal. Das müsste Ihr letzter
Satz sein.
Das war ja der Versuch, meinen letzten Satz einzuleiten, Frau Präsidentin. - Wir werden in jedem Fall auch
über das Thema, wie man die parlamentarische Begleitung dieses Prozesses effektiver gestalten und noch verbessern kann, in den nächsten Tagen sprechen. Ich
denke, da ergeben sich für alle tragfähige Lösungen. Das
ist jedenfalls das Angebot. Damit möchte ich meine
Rede auch beenden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Toncar, wenn Sie Ihren Traum von der privaten Verantwortung weiterträumen, müssten Sie beim
Aufwachen zu dem Schluss kommen, dass Sie dieses
Gesetz, das gerade von der Koalition eingebracht wurde,
nicht wirklich brauchen.
({0})
Wir müssen darüber reden, worum es hier geht. Vor
über drei Jahren wurden gigantische staatliche Hilfen für
in Not geratene deutsche Banken beschlossen: 500 Milliarden Euro an Garantien und Kapitalanteilen - das alles
in einer Woche. Aus heutiger Sicht hat sich all das angeblich bewährt. Aber die Wahrheit ist doch, dass durch
die höheren Anforderungen, die die europäische Bankenaufsicht an die Banken stellt, ein höherer Anteil von
Kernkapital notwendig ist.
({1})
Hierzu ist der Öffentlichkeit zu erklären, dass es überhaupt keine Bank gibt, die so viel Geld in ihrem Bestand
hat, wie sie verleiht. Indem das Kernkapital gestärkt
wird, soll nun für mehr Sicherheit gesorgt werden. Das
ist eine vernünftige Angelegenheit. Aber was fällt
Schwarz-Gelb dazu ein? Dafür sollen nicht die Banken
selber sorgen, sondern das soll mit Staatshilfe geschehen.
({2})
Das muss man sich in der Tat einmal auf der Zunge
zergehen lassen. Von CDU und FDP werden hier gigantische Staatshilfen als Vorschlag eingebracht. Noch in
der Großen Koalition hat Steffen Kampeter, damals
Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, gegen dieses Teufelszeug gewettert, als die SPD entsprechende Vorschläge
gemacht hat. Das muss Ihnen einfach einmal gesagt werden, Herr Kampeter. Sie können der Linken nicht permanent Verstaatlichungswahn vorwerfen und dann selbst
munter mit Steuergeld Banken verstaatlichen wollen,
wobei es sich hier in Wirklichkeit ja um eine Verstaatlichung von Schulden handelt. Das passt nicht zusammen.
({3})
Ich will die Bilanz dieser staatlichen Bankenrettung
etwas näher beleuchten. Es geht inzwischen immerhin
um Milliardenverluste in zweistelliger Höhe für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({4})
Ich komme aus einem Bundesland, dessen Gesamtetat
für ein Jahr gerade einmal 10 Milliarden Euro beträgt.
Im Wesentlichen wurden Schulden verstaatlicht. Die beiden größten Schrottbanken, die in Düsseldorf und in
München, sind in Staatshand. Da will ich auch Herrn
Kollegen Toncar widersprechen: Das Elend der Hypo
Real Estate steht dem der WestLB nun wirklich in keiner
Weise nach.
({5})
Die IKB Deutsche Industriebank - sie war der Auslöser
für staatliche Hilfen - wurde inzwischen an eine Heuschrecke verschenkt, hat aber einen totalen Luxusschirm. Auf meinen damaligen Einwand, diesen Schritt
zu machen, wurde mir entgegnet: Seien Sie doch einmal
ruhig! Wenn diese Bank einem großen Investor gehört,
sind wir die Sorgen los. - Wir sind sie aber nicht los.
Wir haben das Überleben der Commerzbank gerettet.
Sie hat dafür keine Gebühr bezahlt.
({6})
Als die Zeit gekommen war, wo sie hätte Gebühren bezahlen müssen, hat sie den Staat ausgetrickst und sich
der Verantwortung entzogen.
({7})
Wir haben die Sparkassen mehr belastet, als es gut
und richtig war. Jetzt wollen Sie damit wieder von vorne
anfangen und das auf neuer Grundlage tun. Dazu sagen
wir Ihnen: Nicht mit uns!
({8})
Damit die Bemühungen, die in diesem Bereich geleistet werden, nicht diskreditiert werden, will ich hier eines
klarstellen: Die Akteure aus den Landesbanken in der
Rettungsbehörde, die den schönen Namen Finanzmarktstabilisierungsanstalt trägt, verdienen durchaus den Respekt, auch den der Linken.
Ich sage das ausdrücklich für die Chefs Johannes
Rehm und Christopher Pleister und ihre Mitarbeiter. Sie
können nichts für die schlechten Gesetze.
Jetzt kommt aber der Skandal. Von Bettina Hagedorn
ist schon auf die große Verantwortung des Lenkungsausschusses, des politischen Steuerungsgremiums, einer interministeriellen Arbeitsgruppe, hingewiesen worden.
Nun können wir nachfragen, wie dieser Ausschuss gearRoland Claus
beitet hat. Die Bundesregierung hat die Akteure bei der
Finanzmarktstabilisierung im Regen stehen lassen. Der
Lenkungsausschuss hat nämlich von September bis Dezember des vergangenen Jahres überhaupt nicht getagt,
nicht ein einziges Mal. Wie will man so lenken und Aufsicht führen? Das ist ein glatter Skandal.
({9})
Zudem haben Sie nicht die Chance genutzt, Ihre Beschwörungen von 2008, man müsse jetzt regulieren, in
Wirklichkeit umzusetzen. Stattdessen schreiben Sie in
Ihrem Gesetzentwurf selbst, man müsse jetzt das Vertrauen der Märkte und der Bürger wiedererlangen. Die
Sprache ist verräterisch. In dieser Reihenfolge will man
überzeugen: erst die Märkte und dann vielleicht auch die
Bürger. Solange der Staat Diener der Banken bleibt, wird
der demokratische Zusammenhalt der Gesellschaft nicht
gewahrt, sondern zerstört.
({10})
Allmählich geht es um einen bankeneigenen Staat und
nicht mehr um staatseigene Banken.
Es ginge auch alles anders. Die Krise von 2008 und
2009 hat uns gezeigt, dass kollektives Handeln unabdingbar ist, dass der Staat gestaltend und regelnd eingreifen muss. Diese Worte stammen nicht etwa von
Lötzsch oder Gysi, sondern von Nobelpreisträger Joseph
Stiglitz. Nötig und möglich wäre es, schrittweise dieses
Kasino zu schließen und die Finanztransaktionsteuer
einzuführen. Nun ist das schon ein großer Schritt, von
dem wir jetzt gehört haben. Wir werden sehen, ob das
Wirklichkeit wird. Wir könnten uns dazu durchringen,
ein Verbot von Spekulationen mit Nahrungsgütern und
Rohstoffen auf den Weg zu bringen. Wir brauchen endlich das Verbot von Schattenbanken, Hedgefonds und
Leerverkäufen. Statt der Knebelung und der unendlichen
Sparprogramme brauchten wir Konjunkturprogramme
und eine Bank für öffentliche Anleihen. Wir müssten
endlich höchste Einkommen solidarisch besteuern. Wir
dürfen Volkswirtschaften nicht kaputtsparen, sondern
wir müssen Wachstum auf den Weg bringen.
({11})
All diese Probleme werden auch mit diesem Gesetzentwurf nicht gelöst. Deshalb wird er unsere Zustimmung
nicht finden.
Kollege Claus, achten Sie bitte auf die Zeit.
Wir müssen endlich unser Wertesystem in den Blick
nehmen. Schluss mit dem Sieg des Ellenbogens! Dafür:
Einer trage des anderen Last!
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst einmal einen Blick zurück auf die
erste Bankenrettung werfen, weil sie teilweise schon in
Vergessenheit geraten ist. Zur Commerzbank: Die EUKommission musste dem deutschen Bundesfinanzminister in den Arm fallen, damit er nicht zu gute Konditionen
festlegt, die den Steuerzahler geschädigt und die Bankaktionäre gutgestellt hätten. Das ist ein Teil der Bilanz
der Bankenrettung in Deutschland.
({0})
Wir dürfen nicht meinen, es wäre danach besser weitergegangen. Es gab ein Gutachten, das vor längerer Zeit
in Auftrag gegeben und im Januar 2011, also vor etwa
einem Jahr, veröffentlicht worden ist. An der Spitze der
Gutachter stand Professor Zimmer. Darin wurde der Vorschlag gemacht, dass man systematisch an den Ausstieg
herangehen und auf eine vollständige Abwicklung der
Hypo Real Estate setzen soll. Das Gutachten ist in der
Schublade verschwunden. Die Bundesregierung setzt
nun weiter auf wenig wahrscheinliche Privatisierungserlöse, was den Steuerzahler möglicherweise noch teuer
zu stehen kommt.
Ein Drittes möchte ich im Rückblick kritisch sagen.
Eine Aufarbeitung der Frage, warum eigentlich die verschiedenen Banken Hilfe vom Steuerzahler gebraucht
haben, hat in Deutschland anders als in anderen Staaten
nicht stattgefunden. Das geht nicht; denn immer dann,
wenn der Steuerzahler zahlen muss, muss begründet
werden, warum es so weit gekommen ist. Wir müssen
aus diesen Fehlern lernen. Das ist nicht der Wille der
Bundesregierung gewesen. Da gilt es nachzusteuern.
({1})
Konkret zu dem Gesetzentwurf: Ich bin Kollegen
Toncar dankbar dafür, dass er angesprochen hat, dass wir
uns noch einmal darüber unterhalten, welche Rolle unser
Gremium spielt, welche Kontrollmöglichkeiten wir haben und welche Kontrollmöglichkeiten vor allem auch
der Bundestag hat. Für uns Grüne ist es nicht in Ordnung, dass ohne die Zustimmung des Parlaments gehandelt werden kann. Wir wollen auch, dass das Parlament
bei der Benennung der Personen, die an der Spitze des
Fonds stehen, mitreden kann; denn das sind ganz wichtige Personalentscheidungen. Wir brauchen natürlich
auch dann, wenn es um Personalentscheidungen im Zusammenhang mit der Besetzung von Aufsichtsräten
geht, die Möglichkeit zur Rückkopplung mit dem Souverän. Sonst ist keine entsprechende Vertretung möglich.
Ich möchte aber auch auf den Punkt Gehaltsdeckelung zu sprechen kommen. Es gab an dieser Stelle immer wieder Probleme. Es ist von der Bundesregierung
jetzt angekündigt worden, dass in diesem Bereich etwas
passieren soll. Es bleibt aber bei einer völlig weichen
Regelung für die Banken, die Garantieleistungen erhalten.
Mit einem weiteren Punkt sind wir Grüne - Herr
Kampeter hat es vorhin angesprochen - nicht zufrieden:
Dass das Gremium geheim tagt, darf nicht zum Vorwand
dafür dienen, dass Informationen, die die Öffentlichkeit
erreichen müssen, nicht rechtzeitig auf dem vorgesehenen Weg bekannt gemacht werden.
({2})
Die Information über die Fehlbuchung bei der Hypo
Real Estate war keine Information für ein geheimes Gremium. Dafür ist der Haushaltausschuss zuständig, und
die Öffentlichkeit muss dementsprechend informiert
werden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns ganz
klare Vorgaben gemacht. Ein Sondergremium darf nicht
zur Folge haben, dass die Abgeordneten dieses Hauses
weniger Informationen erhalten, als sie sonst bekommen
würden. An dieser Stelle besteht Korrekturbedarf.
({3})
Weil das Volumen der Gelder, die mittels dieses Gesetzes ausgereicht werden, wahrscheinlich - so die Hoffnung - eher begrenzt sein wird, will ich den Blick über
den vorliegenden Gesetzentwurf hinaus auf folgenden
Punkt lenken: Die Bankenrettung, die jetzt in Europa
wirklich stattfindet, hat eine ganz andere Dimension. Die
zweite große Bankenrettung in Europa findet im Augenblick über die Europäische Zentralbank statt.
({4})
Diese stellt seit dem 8. Dezember den Banken, befristet
auf drei Jahre, Geld in dem gigantischen Volumen von
489 Milliarden Euro zu Billigstkonditionen, nämlich zu
einem Zinssatz von 1 Prozent, zur Verfügung. Viele Banken, insbesondere in Italien, aber auch in anderen Ländern, die Probleme haben, können nur deswegen diese
Refinanzierung nutzen, weil sie von ihren Staaten Garantien bekommen und dann Bankanleihen einreichen
können. Damit können sie die Renditedifferenz zwischen Staatsanleihen und dem, was sie an die EZB zahlen, nutzen. Das ist die eigentliche Bankenrettung, die
gerade in unbekannter Milliardenhöhe stattfindet. Doch
bei dieser Bankenrettung gibt es keine Kontrolle, mit der
festgestellt werden kann, ob Boni ausgeschüttet werden.
Dort gibt es keine Deckelung der Gehälter. Dort gibt es
keine Transparenz. Die privaten Bankaktionäre werden
nicht an den Kosten der Rettung beteiligt.
Diese zweite Bankenrettung ist der eigentliche Skandal. Denn sie führt zu einer völlig schiefen Verteilung
der Lasten. Damit müssen wir uns beschäftigen. Die Verantwortung dafür trägt diese Bundesregierung, die die
besseren Varianten für eine Stabilisierung des Finanzmarktes in Europa bisher konsequent abgelehnt hat. Wir
brauchen dringend und zügig Alternativen. Das ist noch
wichtiger als die Verbesserung dieses Gesetzes. Dieser
Aufgabe müssen wir uns ganz dringend widmen.
Danke schön.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Bartholomäus Kalb das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dr. Schick, Sie haben von einer schiefen
Diskussion gesprochen. Ich habe den Eindruck, dass Sie
eine etwas schiefe Sichtweise der Dinge haben, sonst
hätten Sie nicht zu diesen Schlussfolgerungen kommen
können.
({0})
Mit der Wiederinkraftsetzung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes greifen wir auf ein bewährtes Instrument zurück; das ist bereits ausgeführt worden. Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Es ist uns
damit gelungen, in der größten Krise den Bankensektor
in Deutschland zu stabilisieren. Wir werden dieses Gesetz aufgrund der Erfahrungen, die wir gemacht haben,
etwas modifizieren. Aber im Kern werden wir es in
zweiter und dritter Lesung - da bin ich mir sicher - im
Deutschen Bundestag beschließen. Dieses Gesetz hat
sich bewährt; es hat in der Krise gute Dienste geleistet.
Viele, die die Möglichkeiten dieses Gesetzes in Anspruch genommen haben, werden heute sagen können:
Es war gut, dass es dieses Instrument gegeben hat. Es
war auch gut, dass man auf diese Möglichkeiten mutig
und rechtzeitig zurückgegriffen hat.
Wir bleiben dabei, dass sowohl der Garantierahmen
als auch das Volumen für die Kapitalisierung in der bekannten Größenordnung vorgehalten werden. Es geht
vor allen Dingen darum - der Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen -, dass wir einer krisenhaften Entwicklung vorausschauend und vorbeugend entgegentreten
wollen. Ich bin überzeugt, dass dies auch gelingen wird.
Es geht darum - auch das wird im Rahmen des Gesetzgebungspaketes der Fall sein -, dass wir entsprechende
bankenaufsichtliche Vorkehrungen treffen. Ich will darauf hinweisen, dass es wichtig ist, nicht alle Institute
über einen Leisten zu schlagen. Wir haben höchst unterschiedliche Banken und Kreditinstitute mit höchst unterschiedlicher Ausrichtung. Auch darauf muss Rücksicht
genommen werden. Wir dürfen auch nicht den Versuch
unternehmen oder zulassen, dass das deutsche Bankensystem, bestehend aus privaten Banken, Sparkassen und
Genossenschaftsbanken, nivelliert wird.
Der Kollege Claus hat den Einwand gebracht, dass
hier zuerst die Frage gestellt wird, wie Banken untereinander wieder mehr Vertrauen bekommen können. Er
hat kritisiert, dass das Bürgervertrauen nicht im Vordergrund steht. Ich will andersherum argumentieren: Es ist
bekannt - und in den letzten Tagen sind dazu Zahlen veröffentlicht worden -, dass 400 Milliarden bis 500 Milliarden Euro über Nacht bei der EZB geparkt werden.
Das ist mehr als in der tiefsten Krise 2008. Das ist ein
Ausdruck dafür, dass zu wenig Vertrauen im Bankensektor vorhanden ist.
({1})
Wir müssen alles tun, damit die Banken wieder einander
vertrauen. Nur dann, wenn die Banken wieder dauerhaft
einander vertrauen, können auch die Bürger uneingeschränkt Vertrauen zu ihren Instituten haben. Deswegen
ist das eine von dem anderen nicht zu trennen.
Wir müssen dafür sorgen, dass wir bei allen Maßnahmen, die ergriffen werden - ich habe das bereits vorhin
angesprochen -, nichts nivellieren, und wir dürfen nicht
zulassen, dass die Axt an das bewährte deutsche DreiSäulen-System gelegt wird.
Ich gebe es offen zu: Meine Sympathie für die europäische Bankenaufsicht und meine Euphorie halten sich
in Grenzen. Manches Problem hätten wir nicht, wenn
sich die EBA stärker der Gesamtverantwortung gestellt
hätte. Auch wenn man sich auf die Unabhängigkeit berufen kann, auch wenn man sich möglicherweise auf den
Gipfelbeschluss vom Oktober berufen kann - keine Institution in Europa ist frei von Verantwortung für das
Ganze. Man hat aus guten Gründen im Rahmen von Basel III - hier rufe ich ausdrücklich die deutschen Verhandlungsführer in Erinnerung - Übergangsfristen festgelegt, wonach die erhöhten Kapitalanforderungen
schrittweise in Kraft treten, damit die Anforderungen
auch erfüllt werden können. Wenn man diese aber verkürzt, dann muss es zu Problemen kommen. Auch deswegen müssen wir tätig werden. Wir sollten diesen Herrschaften immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie
Verantwortung für das Ganze haben und Basel III nicht
auf den Kopf stellen können.
Zum Abschluss noch ein Wort, weil das in der Diskussion, die wir bisher geführt haben, schon eine Rolle
gespielt hat. Wir werden auch die notwendigen Vorkehrungen treffen, damit die Schuldenbremse in Deutschland, die wir im Grundgesetz verankert haben, entsprechend beachtet und eingehalten werden kann. Auch das
werden wir - darin sind wir uns einig - in der parlamentarischen Beratung noch weiter verfolgen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es handelt sich hier in der Tat um eine Neuauflage des
Finanzmarktstabilisierungsgesetzes I. An der Stelle will
ich auch sagen: Es ist nicht wahr, dass das Bankenrestrukturierungsgesetz, welches verabschiedet worden ist,
diesen Weg erspart, weshalb es im Übrigen auch falsch
war, das erste Gesetz damals auslaufen zu lassen. Hier
liegt ein Gesetz vor, das Garantien in dem gigantischen
Volumen von 400 Milliarden Euro und Kreditermächtigungen von 80 Milliarden Euro umfasst. Dessen muss
man sich bewusst sein. Wenn sich die Redner der Koalition und auch der Staatssekretär dafür loben, dass sie
nun präventiv handeln und den Gesetzentwurf früh einbringen, so muss ich sagen, dass ich das ganz und gar
nicht so sehe. Wir befinden uns wieder in einer solchen
Situation, diesmal aber nicht, wie 2008, durch eine Bankenkrise verursacht, die kurzfristig eingetreten ist und
auf die schnell reagiert werden muss. Vielmehr werden
wir vor die vollendete Tatsache gestellt, dass wir heute
die erste Lesung haben, am Montag die Anhörung im
Haushaltsausschuss ist und dann sehr schnell die zweite
und dritte Lesung stattfinden werden.
Meine Damen und Herren von der Koalition und von
der Bundesregierung, das war überflüssig. Spätestens
nach dem Gipfel im Oktober letzten Jahres hätten Sie reagieren können. Dann hätten wir genügend Zeit gehabt,
um sorgfältig zu beraten. Das ist nötig bei einem solchen
Gesetz.
({0})
Ich will einige Punkte nennen, über die wir noch im
Einzelnen diskutieren werden. Zunächst müssen wir
diesmal sehr sorgfältig prüfen, ob es nicht doch klüger
ist, im Ergebnis auch eine Zwangsrekapitalisierung vorzusehen. Dieses Instrument war 2008 nicht eingebaut
worden; und ich frage mich, warum es diesmal fehlt.
Diese Frage stelle ich mir aus zwei Gründen: erstens,
weil der Ursprungsentwurf, der Referentenentwurf aus
dem Ministerium, eine solche Lösung vorgesehen hat.
Zweitens sehen wir, dass sogar Fachleute wie Herr
Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft dieses
Thema nunmehr ansprechen und dafür werben. Ich verstehe nicht, warum im Gesetzentwurf noch nicht einmal
begründet wird, wie Sie zu Ihrer jetzigen Auffassung
kommen. In der ganzen Begründung findet sich kein einziges Argument; es scheint lediglich der Kompromiss
durch, dass man der BaFin ein bisschen mehr an Möglichkeiten zugestanden hat.
An dieser Stelle müssen Sie deutliche Erklärungen
abgeben. Wir haben eine Präferenz und haben immer
deutlich gemacht, dass wir nicht weiter auf Freiwilligkeit setzen können. Das steht in engem Zusammenhang
damit, dass die Entscheidung darüber, ob wir bei den
Rettungen zu Beteiligungen kommen oder nur über stille
Einlagen agieren, eine große Bedeutung haben wird. Das
gilt schon deshalb, weil damit erstens die Frage des Eingriffs in die Geschäftspolitik dieser in Schwierigkeit geratenen Institute verbunden ist. Hier muss es ein Managementversagen gegeben haben, sonst könnte sich das
eine nicht in einer schwierigeren Lage befinden als das
andere.
Zweitens ist das Ganze schuldenbremsenrelevant; das
ist bereits angesprochen worden. Es ist schuldenbremsenrelevant, weil wir im Falle des Aktienerwerbs Aktiva
haben, es aber im Falle der stillen Einlagen zu einer Erhöhung der Kreditaufnahme kommen kann, die ein Überschreiten der Schuldenregel darstellen kann. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie müssen uns erklären, wie Sie das plausibel machen wollen. Sie brau18234
chen dann jedenfalls die Zustimmung des Deutschen
Bundestages; das schreibt das Grundgesetz vor. Die entsprechenden Gerichtsbeschlüsse sind hier eindeutig. Wir
als SPD werden darauf beharren, dass dieses Prozedere
eingehalten wird.
({1})
Ich erwarte auch eine Erklärung - denn das ist nur gesetzt und nicht erklärt, das will ich nur anmerken - der
Tatsache, dass dieses Gesetz streng befristet ist. Sie legen uns ein 480-Milliarden-Gesetz mit einer Zehnmonatslaufzeit vor. Dieses Zehnmonatsgesetz soll bereits am
31. Dezember 2012 auslaufen. Natürlich geht es um den
30. Juni, also die Frage der Anforderungen der Rekapitalisierung. Man muss uns aber einmal erklären, warum
man denn jetzt schon weiß, dass das Gesetz danach nicht
mehr benötigt wird. Diese Setzung bedarf der Erklärung.
Mein letzter Punkt - Herr Kollege Toncar, ich nehme
Sie gern beim Wort: Wir müssen die parlamentarischen
Rechte, die Durchgriffsmöglichkeiten erweitern und verbessern. Ich hoffe, dass das jetzt nicht nur eine Ankündigung war, dass wir darüber reden, sondern dass sich am
Ende wirklich etwas verändert. Das jedenfalls wollen
wir als Sozialdemokraten.
Vielen Dank.
({2})
Das Präsidium würdigt ausdrücklich, dass das der
erste Redner in dieser Debatte war, der sich an die Redezeit gehalten hat.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die
Unionsfraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht liegt das Einhalten der Redezeit auch daran, dass
substanziell nichts mehr zum Thema beizutragen war;
denn wenn ich die Einlassungen der Opposition höre,
dann finde ich, dass das Gesetz so schlecht nicht sein
kann. Die Kritik, die geübt wurde, ist auch ein wenig bemüht. Es wundert mich aber auch nicht, dass die Einlassungen entsprechend ausfallen, weil die Leute, die jetzt
in der Opposition sitzen, teilweise sehr stark am Finanzmarktstabilisierungspaket I mitgewirkt haben. Das ist
mein erster Punkt.
Zweiter Punkt. Als Erwiderung zum Kollegen Claus
möchte ich sagen: Wir können es Ihnen wahrscheinlich
nur recht machen, wenn wir den Bolschewismus wieder
einführen.
({0})
Nichtsdestotrotz: Sie haben bemängelt, dass Banken gerettet werden. Das ist nicht richtig - Herr Kollege
Kampeter hat sich dazu eingelassen -: Wir retten nicht
Banken, sondern wir helfen, dass die Systemstabilität erhalten bleibt.
({1})
Diese Systemstabilität hat ein Gesicht: Es ist nicht der
Investor aus Asien oder Amerika, sondern der Sparer,
der sein Geld zur Bank bringt, der Arbeitnehmer, der
seine Lebensversicherungsbeiträge einzahlt, der mittelständische Unternehmer, der einen Kredit haben will, die
kleine Volksbank, Sparkasse oder auch Privatbank vor
Ort sowie, nicht zuletzt, der Steuerzahler. Deswegen ist
es richtig, dass wir das System stabilisieren.
({2})
Sie haben angesprochen, dass wir mit dem Zweiten
Finanzmarktstabilierungsgesetz gegenüber dem Ersten
Finanzmarktstabilisierungsgesetz nur wenig ändern.
Jetzt muss ich doch noch auf den Kollegen Sieling eingehen, der sich das Gesetz, glaube ich, nicht ganz durchgelesen hat, zumindest nicht Art. 2. Herr Sieling, Sie haben über die Zwangskapitalisierung räsoniert. Natürlich
sieht das Gesetz keine Zwangskapitalisierung vor, so wie
Sie sie sich wünschen; aber wir haben der BaFin mit der
Änderung des § 10 Abs. 1 b KWG ein scharfes Schwert
in die Hand gegeben: Eigenmittelanforderungen können
ohne Vorgaben durch Verordnungen durchaus massiv erhöht werden. Wenn Sie sich die Stellungnahmen, die
vorliegen, durchgelesen haben, dann erkennen Sie: Das
wird in der Branche sehr stark kritisiert. Insofern müssen
wir darauf achten, dass die BaFin mit diesem Instrument
sehr vorsichtig und behutsam umgeht; denn es greift sehr
stark in die unternehmerischen Freiheiten ein. Das
Ganze ist verfassungsrechtlich sehr kritisch. So viel zum
Thema Zwangskapitalisierung: Sie ist nicht der richtige
Weg; wir machen das etwas eleganter. Insofern ist auch
das Problem gelöst.
Ich komme zum nächsten Punkt, der kritisiert worden
ist. Man fragt: Warum habt ihr denn das Ganze zum 31. Dezember 2010 auslaufen lassen? Ja, warum? Darauf gibt
es eine Antwort: weil die Finanzmarktstabilisierung
nach unserem Verständnis - da spreche ich auch für die
Liberalen - nicht der Regelfall sein kann; sie kann nur
eine Ausnahme sein. Im Regelfall gilt immer noch das
Restrukturierungsgesetz, ein Gesetz, das - ich werde
nicht müde, es zu betonen - Maßstäbe in Europa und
weltweit gesetzt hat,
({3})
ein Gesetz, das wirklich Avantgarde war. Auf dieses Gesetz können wir zurückgreifen.
Wir sind aber momentan in einer Situation, die nicht
normal ist. Jetzt könnte man fragen: Warum führt ihr das
jetzt wieder ein, obwohl die Commerzbank heute Morgen erklärt hat, sie kriege das so hin? Wir sind in einer
Situation, in der die Staatsverschuldungskrise wieder
einmal in eine sehr entscheidende Phase gerät, und das
nicht nur wegen Griechenland, sondern insbesondere
deswegen, weil auch Länder wie Italien, Frankreich und
Spanien, übrigens auch wir - da haben wir weniger
Schwierigkeiten -, erheblichen Refinanzierungsbedarf
haben. Das heißt, wir werden in den nächsten Monaten
durchaus sehr viel Spaß haben. Da ist es vielleicht ein
bisschen besser, etwas zu reaktivieren, was in Regelzeiten nicht notwendig ist. Wir arbeiten mit Hosenträger
und Gürtel;
({4})
das Restrukturierungsgesetz ist der Hosenträger, das
Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist der Gürtel,
den wir in dieser Zeit umschnallen. Ich denke, das ist
richtig und gut.
Ich möchte noch einen Punkt beleuchten - vielleicht
spielen hier ein bisschen die Dinge hinein, die Herr
Schick angesprochen hat -: parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle. Es ist so: Wenn wir dieses Gesetz
verabschiedet haben, wenn die Garantien ausgelegt, die
Beteiligungen eingegangen und die Abwicklungsanstalten gegründet sind, dann ist unsere Aufgabe eigentlich
zu Ende. Dann ist es vermeintlich wie in einem Hollywood-Spielfilm: Der Staatssekretär reitet in die untergehende Sonne, und alles ist gut. Das ist aber leider nicht
der Fall; denn wir müssen uns auch im Gremium gemäß
§ 10a FMStFG mit den Mühen der Ebene beschäftigen.
Mit den „Mühen der Ebene“ meine ich: All das ist noch
nicht vorbei, wenn die Dinge, die ich gerade genannt
habe, passiert sind; leider geht es weiter.
Wir wissen: Wir haben noch Garantien aus dem Finanzmarktstabilisierungspaket I in zweistelliger Milliardenhöhe ausliegen; wir müssen sie zurückholen. Das ist
eine Menge Arbeit. Wir sind Beteiligungen eingegangen. Ja, der Staat ist im Sinne von Herrn Claus - er
wünscht sich das - Banker geworden; wir haben faktisch
eine Hauptversammlungsmehrheit bei der Commerzbank und sind Eigentümer der Hypo Real Estate. Das
kann nicht der Regelfall sein.
Herr Schick, Sie haben Professor Zimmer angesprochen. Natürlich müssen wir uns eine Exitstrategie überlegen; denn es entspricht nicht unserem Selbstverständnis, dass wir als Staat den Bankenhandel vorantreiben;
das sollte weiter privatwirtschaftlich erledigt werden.
({5})
Wir haben aber noch eine Baustelle, über die wir uns
bisher viel zu wenig unterhalten haben: die Abwicklungsanstalten der Hypo Real Estate in München und der
WestLB in Düsseldorf. Diese Abwicklungsanstalten haben eine Bilanzsumme von momentan weit über 300 Milliarden Euro. Das ist mehr, als der Bundeshaushalt umfasst. Dort sitzen Männer und Frauen, die sich bemühen,
dieses Portfolio sehr sorgfältig abzuarbeiten - manchmal
gelingt das nicht, siehe: Buchungsfehler - und dafür zu
sorgen, dass dem Steuerzahler dabei keine Verluste entstehen. Ich denke, wir sollten diesen Prozess noch enger
begleiten, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Wenn ich sehe, dass man im Haushaltsausschuss auf
der einen Seite aus gutem Grund teilweise wie die Kesselflicker über einstellige Millionenbeträge streitet, aber
auf der anderen Seite Entscheidungen trifft, die uns dreistellige Millionen- und sogar Milliardenbeträge kosten,
dann finde ich, Herr Schick, dass wir uns mehr einbringen müssen. Dieses Gesetz ist entsprechend angelegt. Es
enthält einen Passus, der vorsieht, dass die Abwicklungsanstalten an die kurze Leine genommen werden.
Das ist gut und richtig.
Hören wir uns an, was am Montag in der Anhörung
von den Experten aus der Wissenschaft und aus der
Branche vorgetragen wird. Lassen Sie uns konstruktiv
darüber diskutieren, wie wir die Beteiligungsrechte vernünftig ausgestalten können. Wir werden eine Menge für
die Finanzmarktstabilisierung tun, und wir werden hoffentlich vernünftig durch die nächsten sechs Monate
kommen. Ich glaube, wir schaffen das.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/8343 an die Ausschüsse
zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze,
Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die UN-Kinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern anwenden - Die Bundesländer
in die Pflicht nehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze,
Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kinderrechte umfassend stärken und ins
Grundgesetz aufnehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner,
Volker Beck ({1}), Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kinderrechte stärken
- Drucksachen 17/7643, 17/7644, 17/7187,
17/8382 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Marlene Rupprecht ({2})
Diana Golze
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dorothee Bär.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Staatssekretär!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Das Thema, das heute auf der
Tagesordnung steht, ist nicht neu; vielmehr streiten wir
seit vielen Jahren sehr kontrovers über die Aufnahme
von Kinderrechten in die Verfassung. Natürlich gibt es
ganz unterschiedliche Denkschulen. Die einen sagen: Es
kann mehr für Kinder getan werden, wenn Kinderrechte
auch in der Verfassung verankert sind. Dann gibt es die
anderen, die sagen: Das ist nicht notwendig. Ich glaube,
wir brauchen uns nicht gegenseitig zu unterstellen, dass
die einen, die für die Aufnahme von Kinderrechten in
die Verfassung sind, potenziell mehr für Kinder tun wollen als diejenigen, die sagen, Kinderrechte sollen nicht
ins Grundgesetz aufgenommen werden.
({0})
- Es ist sehr kleingeistig und kleinkariert, wenn Sie das
so sehen. - Ich bin der Meinung, dass es keinen Unterschied zwischen Mensch und Mensch gibt. Auch Kinder
sind selbstverständlich Menschen und haben Menschenrechte.
Ich bin aber dankbar, dass Sie mit einigen komischen
Forderungen die Möglichkeit eröffnen, diese Debatte zu
führen; denn es ist mir ein Anliegen, darauf hinzuweisen, was wir als die christlich-liberale Koalition bisher
für Kinder getan haben. In den vergangenen zwei Jahren
hat sich nämlich eine ganze Menge getan.
Wir haben beispielsweise die finanzielle Unterstützung massiv erhöht. Wir haben die Anzahl der Betreuungsplätze ausgebaut und das Nationale Zentrum Frühe
Hilfen etabliert. Wir haben gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode - vielleicht ist bei einigen das Gedächtnis nicht mehr ganz so auf dem neuesten Stand; deshalb
ist es gut, das in Erinnerung zu rufen - das Kindergeld
erhöht; ich bin mir sicher, dass viele in den Reihen der
Opposition das nicht mehr wissen. Wir haben das Kindergeld für jedes Kind monatlich um 20 Euro erhöht.
Wir haben auch den Kinderfreibetrag erhöht, und zwar
nicht zu knapp, nämlich von 6 024 Euro auf 7 008 Euro.
Wir haben ein Bildungspaket ins Leben gerufen. Wir
helfen Familien, die in eine Notlage geraten sind. Es gibt
seit dem 1. Januar 2011 eine ganze Reihe neuer Leistungen, die wir auf den Weg gebracht haben. Wir haben die
Erstattung der Kosten für Kita und Schulausflüge, den
Zuschuss für ein gemeinschaftliches Mittagessen in Kindertageseinrichtungen und in Schulen und die Übernahme der Kosten für die Lernförderung eingeführt. Wir
haben zudem in Schwerpunktkitas zur Sprach- und Integrationsförderung - es sind 4 000 in ganz Deutschland investiert, damit Kinder in sozialen Brennpunkten mehr
Chancen haben.
Wir haben auch Projekte auf den Weg gebracht, die
kein Geld kosten und so den Steuerzahler nicht belasten.
Wir haben im Wahlkampf versprochen, in den Koalitionsvertrag aufgenommen und tatsächlich umgesetzt - und
zwar in kürzester Zeit -, dass das Bundes-Immissionsschutzgesetz geändert wird, sodass Kinderlärm künftig
nicht mehr beklagbar ist, sprich: Kinderlärm darf nicht
mehr wie vorher - was natürlich extrem pervers war als schädliche Umwelteinwirkung behandelt werden.
Insofern muss ich sagen, dass wir wahnsinnig viele Erfolge verzeichnen können. Diese wirken sich zum einen
fiskalisch aus. Zum anderen dienen sie dem Wohle der
Kinder und vor allem den Kinderrechten in Deutschland.
({1})
Ein ganz großer Durchbruch gelang uns in den letzten
Wochen. Es ist noch ganz frisch, dass wir es nach vielen
Jahren endlich geschafft haben, das Bundeskinderschutzgesetz auf den Weg zu bringen. Ich gebe zu, dass
es, meines Erachtens unnötigerweise, einige Tage des
Zitterns gab. Das lag - das sage ich ausdrücklich - an
anderen. Ich meine nicht Sie, Frau Rupprecht. Ich weiß,
dass Sie uns sehr geholfen haben. Am 1. Januar 2012
konnte das Bundeskinderschutzgesetz in Kraft treten.
Wir haben mit diesem Gesetz den Fokus auf der einen
Seite auf das Thema Prävention und auf der anderen
Seite auf das Thema Intervention gerichtet. So stärken
wir alle Akteure, die sich mit dem Wohlergehen der Kinder beschäftigen. Wir stärken die Eltern. Wir stärken
Kinderärzte. Wir stärken Hebammen. Wir stärken allerdings auch die Jugendämter und die Familiengerichte.
Uns ist also etwas Großartiges gelungen, was jahrelang
aus verschiedenen Gründen - das haben wir hier schon
oft aufgearbeitet - zu scheitern drohte bzw. teilweise
auch gescheitert ist. Deswegen bin ich sehr froh darüber,
dass das Bundeskinderschutzgesetz am 1. Januar 2012 in
Kraft getreten ist.
({2})
Wir haben auch Ergebnisse der Runden Tische
„Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren“ und „Sexueller Kindesmissbrauch“ aufgegriffen. Deswegen
finde ich es schade, dass die Aspekte Kinderschutz und
Kinderrechte immer nur im Zusammenhang mit der Verankerung der Kinderrechte in das Grundgesetz diskutiert
werden; denn das ist natürlich nicht ausreichend.
Ich möchte auf eine Stellungnahme der Deutschen
Kinderhilfe zu sprechen kommen. Darin heißt es: Kinder
erlangen einen Minderheitenstatus, wenn sie mit dem
Umwelt- und dem Tierschutz gleichgesetzt werden; somit gelten sie als gesellschaftliche Randgruppe.
({3})
Das wollen wir natürlich nicht. Ich bin der festen
Überzeugung, dass das, was wir, CDU/CSU und FDP, in
den letzten Jahren geleistet haben, dass unsere konkreten
Taten wesentlich effizienter und zielführender sind und
dass Symbolik an der Stelle nicht weiterbringt. Ich bin
froh über das, was in den letzten zwei Jahren gut gelunDorothee Bär
gen ist. Wir werden die nächsten beiden Jahre für die
Kinder auf diesem Weg weitergehen.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Marlene Rupprecht hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Uns liegen heute einige Anträge vor, über die wir
debattieren. Uns lagen vor Weihnachten Anträge vor,
über die wir in der Zeit um den 20. November, den Internationalen Tag der Kinderrechte, debattiert haben. Heute
liegen uns drei Anträge vor, zwei von der Fraktion Die
Linke und einer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Alle drei Anträge beschäftigen sich ebenso wie die
drei Anträge, die wir vor Weihnachten behandelten - es
waren SPD-Anträge, die mittlerweile verabschiedet
sind -, mit Kinderrechten.
Es geht in allen Anträgen darum, dass die Menschenrechte im Sinne der Kinder angepasst werden. Natürlich
sind Kinder Menschen. Hoffentlich bezweifelt dies kein
Mensch mehr in der heutigen Zeit. Schließlich ist es
noch gar nicht so lange her - so war es bis ins 19. Jahrhundert -, dass Kinder so lange als Sachen angesehen
wurden, bis sie erwachsen waren. Eigentlich galten sie
nicht als eigenständige Wesen.
Seit dem 20. und vor allem seit dem 21. Jahrhundert
sehen wir Kinder als eigenständige Wesen mit eigenen
Bedürfnissen und eigenen Ansprüchen an, was ihre
Rechte, ihre Unterstützung, ihre Förderung und ihren
Schutz angeht. Es geht darum, die Menschenrechte so zu
gestalten, dass sie auch im Hinblick auf die Kinder angewendet werden können. Um nichts anderes geht es.
Die Menschenrechte sind bei uns in dem Werk niedergelegt, das die Werte einer Gesellschaft festlegt. Ich
meine die Verfassung, also das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Als das geschaffen wurde, hat
man Kinder noch relativ stark als Objekte gesehen und
nicht als eigenständige Subjekte, die Rechte haben. Nun
kämpfen wir dafür, dass die Menschenrechte, die Grundrechte so formuliert werden, dass sie auch für Kinder
gelten.
Unterstützt werden wir seit 1989 durch die UN-Kinderrechtskonvention. Sie ist schön zu lesen. Ich habe sie
immer dabei, und, ich glaube, meine Kollegen aus der
Kinderkommission haben sie jetzt auch immer dabei.
Man muss sie wie ein Brevier immer bei sich tragen.
Verfassungsrechtler sagen - ich bin keine Verfassungsrechtlerin -, dass die Artikel der Kinderrechtskonvention
aufgrund ihrer Formulierung direkt im Inland gelten,
dass man sie gar nicht in nationale einfache Gesetzgebung umformulieren muss. In Art. 3 dieser Konvention
heißt es:
Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen
- dort steht nicht „Bundestag“ oder „Landtag“, sondern
„Gesetzgebungsorganen“ getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
Was heißt das? Es heißt, das Wohl des Kindes ist prinzipiell erst einmal zu berücksichtigen. Wenn man sich
nicht an diesen Vorrang hält, muss man dies begründen.
Das besagt dieser Art. 3. Wenn wir diesen umsetzen und
anwenden würden und wenn er bekannt wäre, vor allem
bei denen, die Recht sprechen, dann hätten wir gar kein
Problem; denn es wäre dann noch schneller klar, ob
etwas Recht oder nicht Recht ist. Leider wird die UNKinderrechtskonvention bei der Ausbildung von Juristen
nicht unbedingt gelehrt. Das finde ich sehr schade. Internationales Recht sollte man zumindest einmal gehört
haben.
Uns liegen jetzt Anträge vor, die eindeutig zwei Zielsetzungen haben. Erstens sollen die Kinderrechte gestärkt werden. Das heißt, die Kinderrechte sollen in der
Verfassung verankert werden, und zwar mit kindgerechten Anforderungen. Zweitens sollen wir hier in Deutschland überprüfen, ob das, was wir für Kinder tun wollen,
auch tatsächlich erreicht wird. Man nennt dies ein Monitoringverfahren. Jede Regierung zeigt auf, was sie alles
Gutes gemacht hat. Natürlich vergeht die Zeit nicht,
ohne dass man etwas getan hat; es wäre irrsinnig, dies zu
behaupten. Wir halten vorher fest, was wir erreichen
wollen, und später, was wir erreicht haben. Mit anderen
Worten: Am Ende stellen wir dar, was wir alles gemacht
haben. Wir brauchen einen Aktionsplan. Wir hatten
einen, und wir wollen, dass er fortgeschrieben wird. In
dieser Hinsicht kann ich die vorliegenden Anträge unterstützen; Entsprechendes steht auch im SPD-Antrag zu
diesem Thema.
({0})
Des Weiteren wollen wir, dass unabhängige Anlaufstellen für Kinder geschaffen werden. Dies war Thema
in den Diskussionen über Missbrauchsfälle. Den Kindern fehlte jemand, dem sie Vertrauen entgegenbringen
konnten, an den sie sich wenden konnten. Wir brauchen
unabhängige Ombudsstellen oder Anlaufstellen für Kinder, die ihnen helfen, und zwar auf allen Ebenen. Auch
diese Forderung ist in der UN-Konvention für die Rechte
der Kinder enthalten.
Ja, Sie haben auf die Rücknahme der Vorbehalte hingewiesen. Dafür bin ich sehr dankbar. Dieses Parlament
hat über ein Jahrzehnt dafür gekämpft. Ich bin froh, dass
diese Rücknahme jetzt gelungen ist. Nun muss die einfache Gesetzgebung, zum Beispiel die Sozialgesetzgebung, die Asylgesetzgebung - ich denke an das Asylbewerberleistungsgesetz - und das Aufenthaltsrecht,
angepasst werden. Es kann nicht mehr sein, dass Kinder
- die UN definiert Kinder als Menschen von 0 bis
18 Jahren, nicht bis 16 Jahren - in Abschiebehaft ge18238
Marlene Rupprecht ({1})
nommen werden oder in ein Flughafenverfahren kommen. Sie dürfen auch nicht in Sammelunterkünften untergebracht werden.
Es hat mit unserem eigenen Selbstverständnis zu tun,
dass wir Humanität gewähren. Ich denke, ein Staat, eine
Gemeinschaft, die von sich annehmen, dass sie hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte in der ersten
Liga spielen, können es sich nicht länger leisten, dass sie
bestimmte Rechte für Kinder, und zwar für alle, für inund ausländische Kinder, die sich hier in Deutschland
befinden, nicht gelten lassen.
({2})
Es ist dringend notwendig, dass diese Situation geändert
wird.
Auch das Argument: „Es gibt ein Abkommen zwischen den Bundesländern und dem Bund, das sogenannte Lindauer Abkommen, das nur einstimmig geändert werden kann“, trägt nicht. Ich lese unheimlich gern
Gesetzestexte, wenn ich sie verstehe. Das Grundgesetz
versteht man gut. Auch die Kommentare versteht man
gut. Ich habe mich in den letzten Wochen quer durch alle
möglichen Kommentare gelesen. Ich habe auch Aufsätze
zu diesem Thema gelesen. Die Verfassungsrechtler sagen: Alle haben zugestimmt - bei einem solchen Verfahren wird vorher ja immer die Zustimmung überprüft -,
aber hinterher fragte man sich: Wie kam es eigentlich
dazu, dass wir dem zugestimmt haben? Auch als es um
die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit
Behinderungen ging, wurde gesagt: Wir stimmen zu.
Aber jetzt heißt es: Nein, für uns gilt das nicht. Das habt
ihr allein gemacht. - Das kann nicht sein.
Vielleicht wäre es wirklich gut, wir würden ein paar
ordentliche Urteile bekommen. Das Bundesverfassungsgericht ist in dieser Hinsicht am fortschrittlichsten. Kinder sollten allerdings auch häufiger vor Verwaltungsgerichten recht bekommen. Ich will zwar keine Schelte
betreiben, würde aber sagen: Hier wäre ein bisschen
Nachhilfe gut und notwendig; das gilt auch für manch
andere Gerichte. Deshalb ist die Forderung, die UN-Kinderrechte bekannter zu machen, eine wunderbare Forderung, die ich gern unterstütze. Jedes Kind und jeder Erwachsene muss wissen: Es gibt Menschenrechte in Form
von Kinderrechten. Sie sind in Deutschland bekannt und
werden hier gelebt.
Danke schön.
({3})
Miriam Gruß hat das Wort für die Fraktion der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Über dieses Thema haben wir in den letzten Monaten schon häufiger gesprochen. Anlässlich der vorliegenden Anträge will ich noch ein paar Dinge klarstellen.
Erstens: zur UN-Kinderrechtskonvention; hierzu ist
schon viel gesagt worden. Zu dem Vorwurf, wir hätten
diese Konvention bislang mangelhaft umgesetzt, muss
ich ganz ehrlich sagen - das möchte ich betonen -: Wir
haben die Vorbehalte dagegen zurückgenommen. Keine
Bundesregierung seit 1992 hat das geschafft, auch nicht
Rot-Grün. Für uns hat das sehr wohl auch eine symbolische Wirkung; denn dadurch wird deutlich, dass das
Kindeswohl für uns, die christlich-liberale Koalition, im
Mittelpunkt steht. Dies ist allerdings nur die symbolische Wirkung. Bereits vorher sind nämlich die Vorgaben
der UN-Kinderrechtskonvention erfüllt worden. So hat
beispielsweise der in Art. 22 verankerte Schutz von
Flüchtlingskindern schon immer gegolten.
Es gibt keine Veranlassung, auf Bundesebene Änderungen im innerstaatlichen Recht vorzunehmen. Allerdings kann die Rücknahme selbstverständlich zu Veränderungen in der Anwendungspraxis führen. Für die
Ausgestaltung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren sind aber die Bundesländer zuständig. Wir in
Bayern haben da einiges gemacht. Beispielsweise können Familien nach Beendigung des Asylverfahrens jetzt
sehr viel schneller in eine eigene Wohnung ziehen. Das
heißt konkret: Das Bundesland Bayern hat seine Hausaufgaben gemacht. Alle anderen Bundesländer sind aufgefordert, ihre Anwendungspraxis und ihre Gesetze entsprechend zu verändern.
({0})
Der Bund kann auf einer anderen Ebene aktiv werden; auch dies ist schon angesprochen worden. Es geht
um die Forderung, die Kinderrechte im Grundgesetz zu
verankern. Sie kennen meine Meinung. Ich habe sie
nicht geändert, sondern stehe nach wie vor zu der Position, die wir damals in der Kinderkommission entwickelt
haben. Ich bin für die Verankerung der Kinderrechte im
Grundgesetz. Allerdings gibt es in unserer Koalition derzeit keine Mehrheit für diese Forderung. Trotzdem bin
ich überzeugt, dass von einer solchen Verankerung eine
gute Signalwirkung ausgehen würde. Bis jetzt werden
Kinder eher als Objekte angesehen. Ich will, dass die
Subjektstellung des Kindes deutlicher betont wird. Ich
glaube, dass die Verankerung der Kinderrechte im
Grundgesetz ein wichtiger Schritt wäre. Aber - ich unterstreiche das noch einmal - das ist nicht Konsens, weder in der FDP noch in der Koalition, sondern meine persönliche Meinung, die ich hier zum Ausdruck bringen
möchte.
({1})
- Danke schön, Frau Dörner.
Wir haben einiges zur Stärkung der Kinderrechte getan; auch das ist schon erwähnt worden. Ich möchte betonen: Für uns als FDP-Fraktion ist ein weiterer sehr
wichtiger Punkt, der noch nicht so recht beachtet wird,
das Individualbeschwerdeverfahren. Bislang war es
nicht möglich, dass sich Kinder direkt an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden. Es ist gut,
dass das Zusatzprotokoll für das Beschwerdeverfahren
sehr wahrscheinlich in den nächsten Monaten unterzeichnet wird. Auch dadurch stärken wir die Rechte der
Kinder, und zwar ganz konkret.
({2})
Wir brauchen uns auch auf internationaler Ebene nicht
zu verstecken, sondern wir können zu Recht sagen: In
Deutschland stehen die Kinderrechte im Fokus.
({3})
Zweitens. Kinderlärm. Das ist mein Lieblingsthema.
Als ich 1998 zum ersten Mal für den Landtag kandidiert
habe, habe ich vor den Kindergärten Plakate mit dem
Aufdruck „Kinderlärm ist Zukunftsmusik“ plakatiert.
Dass es uns im letzten Jahr tatsächlich gelungen ist, das
Bundes-Immissionsschutzgesetz zu verändern und damit
zu erreichen, dass Kinderlärm nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden kann, ist mein ganz persönliches parlamentarisches Highlight. Ich glaube, das ist
auch ein ganz wichtiges Signal in Deutschland: Bei uns
dürfen die Kinder lärmen und schreien. Sie haben das
Recht, so zu sein, wie sie wollen, und dürfen in ihrem
Handeln und Tun - lachen, schreien und was auch immer Kinder machen - nicht beschnitten werden.
Drittens. Last, but not least das schon angesprochene
Bundeskinderschutzgesetz. Das ist ein wichtiges Gesetz
für die Rechte von Kindern auf Unversehrtheit. Uns war
es damals ganz wichtig, die Prävention mit aufzunehmen. Auch dadurch stärken wir die Rechte von Kindern.
Über die Familienhebammen wurde hier im Plenum ausführlich gesprochen und diskutiert. Auch hier ist es uns
gelungen, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen.
Ich kann insgesamt sagen, dass sich die Bilanz sehen
lassen kann. Wir haben die Rechte der Kinder in den
letzten zwei Jahren gestärkt, und deswegen brauchen wir
uns in Bezug auf die Kinderrechte wirklich nicht zu verstecken.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist erst wenige Tage her, dass die Sternsinger in Deutschland unterwegs waren.
({0})
Sie haben an viele Türen geklopft, Spenden gesammelt
und gute Wünsche überbracht. In diesem Jahr stand die
ganze Aktion unter dem Motto: „Klopft an Türen, pocht
auf Rechte!“
Viele von Ihnen haben sich sicherlich auch über diesen Besuch gefreut und die jungen Menschen mit einem
Händedruck verabschiedet. Und dann? Ja, was dann?
Was passiert hinsichtlich dieses „Pocht auf Rechte!“?
Wo wird hier der politische Wille deutlich? Diese jungen
Menschen haben auf Probleme aufmerksam gemacht,
die in Deutschland nach wie vor existieren. Ich möchte
mich heute aufgrund der knappen Redezeit auf drei beschränken:
Erstes Problem. Das Kindeswohl hat in der Praxis
nach wie vor keinen Vorrang, auch wenn hier so oft davon gesprochen wird. Ich nenne drei ganz kurze Beispiele dafür:
Erstes Beispiel. Auch mit dem neuen Bundeskinderschutzgesetz werden wir weiterhin nur einen eingeschränkten Rechtsanspruch für Kinder und Jugendliche
auf Beratung haben. Obwohl Frau Bergmann und der
Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ gefordert
haben, es müsse einen uneingeschränkten Rechtsanspruch auf Beratung für alle Kinder und Jugendliche geben, ist dieser Anspruch nicht ins Gesetz aufgenommen
worden.
Zweites Beispiel. Kinder werden trotz des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 wie kleine
Erwachsene und, ganz speziell, wie kleine Erwerbslose
behandelt. Sie dürfen nicht nach den Regelungen dieses
Gesetzes beurteilt werden, aber in diesem Haus gab es
keine Mehrheit für eine Änderung.
Drittes Beispiel. Angebote für Kinder und Jugendliche gelten vielerorts als sogenannte freiwillige Aufgabe
und fallen deshalb immer ziemlich zu Beginn, wenn die
Kommunen einsparen müssen, dem Rotstift zum Opfer.
Das sind für mich ganz eindeutige Beispiele dafür,
dass das Kindeswohl in der Praxis eben keinen Vorrang
hat. Ich sage es deshalb an dieser Stelle zum wiederholten Male: Wer es mit dem Kindeswohl ernst meint, der
muss Kinder ernst nehmen.
({1})
Zweites Problem. Die UN-Kinderrechtskonvention
hat keinen wirklichen Verfassungsrang. Wir fordern deshalb ja nicht ohne Grund die Aufnahme der Kinderrechte
auf Schutz, Förderung und Beteiligung ins Grundgesetz.
Es geht eben um mehr als nur um eine symbolische
Maßnahme. Ich zitiere deshalb an dieser Stelle sehr
gerne den Minister der Justiz des Landes Brandenburg,
Herrn Dr. Schöneburg, der gesagt hat: Die Verfassung
bindet den Gesetzgeber. Das macht den Rechtsstaat aus.
Der Gesetzgeber ist an den Normenbestand der Verfassung gebunden. Insofern ist es wichtig, dass Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden, damit
sich der Gesetzgeber, wenn er Einfachgesetze erlässt,
daran gebunden fühlt.
Es geht eben um mehr als nur um Symbolik. Es geht
darum, den Gesetzgeber bei allem, was in diesem Hause
beschlossen wird, zu binden.
({2})
Ich frage Sie von den Regierungsfraktionen: Wie wird
nun die Bundesregierung, wie werden Sie mit der Entschließung des Bundesrates umgehen? Die Bundesländer haben sich mehrheitlich für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ausgesprochen. Sie können
sich also nicht mehr wie bei der Rücknahme der Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention darauf zurückziehen, dass die Bundesländer dies angeblich nicht
wollen. Die Bundesländer wollen die Aufnahme von
Kinderrechten ins Grundgesetz. Wie gehen Sie damit
um? Welche Reaktion kommt von Ihnen? Ich habe bisher keine zur Kenntnis genommen.
Drittes Problem. Selbst die bereits existierenden
Rechte von Kindern und Jugendlichen werden nicht bei
allen Kindern und Jugendlichen angewandt. 16- und 17jährige Flüchtlinge werden bereits an der Grenze aufgegriffen und sofort wieder abgeschoben. Die Jugendämter
werden in diesen Vorgang überhaupt nicht einbezogen.
Es gibt keine Dienstanweisung an die Bundespolizei,
dass hier die Jugendämter einzubeziehen sind. Es wird
nicht einmal eine Statistik darüber geführt, wie viele 16und 17-Jährige aufgegriffen und wieder abgeschoben
werden, und zwar in einem Land, in dem über alles
Mögliche Statistiken geführt werden. Aber bei so einem
wichtigen Thema gibt es keine Zahlen. Deshalb sagen
wir: Auch nach der Rücknahme des letzten Vorbehalts
gegen die UN-Kinderrechtskonvention sind gesetzliche
Änderungen zum Schutz der betroffenen Kinder notwendig.
Zum Schluss. Man hat es sich auch nicht leicht gemacht, als es darum ging, die Gleichberechtigung von
Mann und Frau in das Grundgesetz aufzunehmen. Damals gab es den Spruch: Frauen sind auch Menschen,
und Menschenrechte stehen im Grundgesetz. Bitte machen Sie nicht länger den gleichen Fehler bei den Kindern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Die Kollegin Katja Dörner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir reden hier im Deutschen Bundestag
jetzt zum dritten Mal in einer relativ kurzen Zeitspanne
über die Kinderrechte. Darüber bin ich sehr froh, und ich
finde das sehr gut. Ich möchte ausdrücklich sagen: Ich
möchte hier über die Rechte sprechen, die Kinder haben,
über die Kinderrechte, und nicht über das, was die Regierung angeblich so Tolles für die Kinder getan hat. Das
ist nämlich ein großer Unterschied.
Ich bin irritiert über die Haltung einiger Kolleginnen
und Kollegen aus den Regierungsfraktionen im Vorfeld
dieser Debatte, die sich regelrecht genervt darüber gezeigt haben, dass wir zum dritten Mal über die Kinderrechte sprechen. Ich finde das völlig unangemessen.
Aber das passt natürlich zu einer Ministerin, die immer
wieder lapidar verkündet: Die UN-Kinderrechtskonvention ist in der Bundesrepublik voll und ganz umgesetzt.
Es besteht kein Handlungsbedarf. Ende der Durchsage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles ist prima, so
konnten wir eben auch Frau Bär verstehen. Das darf
eben nicht das Ende der Diskussion sein, weil es nicht
der Wahrheit entspricht.
({0})
Ich bin sehr froh, dass gerade die Forderung, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, neuen Schwung
durch die Entschließung des Bundesrates zu diesem
wichtigen Thema bekommen hat. Steter Tropfen höhlt
bekanntlich den Stein. Gerade was die Frage Kinderrechte in die Verfassung angeht, können wir bemerken:
Der Tropfen ist nicht nur stetig, sondern er wird auch immer größer. Das ist sehr gut so.
Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention ist heute schon
mehrfach angesprochen worden; ich muss das nicht wiederholen. Aber ich bin mir mit meiner Fraktion völlig sicher, dass der Vorrangstellung der Kinderrechte dadurch
am besten Ausdruck verliehen werden kann, dass man
die Kinderrechte ins Grundgesetz aufnimmt. Die Zeit
dafür ist ohne Frage reif.
({1})
Wie sieht es denn faktisch mit den Kinderrechten in
Deutschland aus? Trotz der von uns allen ausdrücklich
begrüßten Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist es immer noch möglich, dass minderjährige unbegleitete
Flüchtlinge in ihren Asylverfahren wie Erwachsene behandelt werden. Das heißt, sie können in Sammelunterkünften untergebracht werden. Sie können in Abschiebehaft genommen werden. Sie können im Flughafenverfahren einfach und schnell abgefertigt werden. Sie haben
kein Recht auf eine umfassende Gesundheitsversorgung.
Sie haben auch kein Recht auf Leistungen der Kinderund Jugendhilfe.
Ich finde es beschämend, dass das die Sachlage in unserem Land ist. Ich wünsche mir gerade von Kolleginnen und Kollegen, die in ihrem Parteinamen ein großes
C führen, dass sie diesen Tatbestand nicht einfach nur
mit einem Schulterzucken abtun.
({2})
Minderjährige Flüchtlinge werden weiterhin an der
deutschen Grenze abgewiesen und zurückgeschoben. Allein zwischen 2008 und 2010 gab es 16 Zurückweisungen
und 60 Zurückschiebungen. Auch das ist ein klarer Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention. Das muss ein
Ende haben.
Die Bundeswehr kann weiterhin Minderjährige rekrutieren und an der Waffe ausbilden. Ein vernünftiges Monitoringverfahren zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland fehlt immer noch. Unser
schöner Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland wurde sang- und klanglos beerdigt, weil es angeblich überhaupt keinen Handlungsbedarf mehr gibt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben in unseren Anträgen deutlich gemacht, welche gesetzlichen
Änderungen notwendig sind, um die Kinderrechte in
Deutschland zu stärken und zu verbessern und zu ermöglichen, dass die Rechte gerade von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen endlich gewahrt werden. Es ist zudem eine große Herausforderung, die Kinderrechte noch
bekannter zu machen. Das muss schon in den Kitas und
Schulen geschehen, bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. Denn nur wer seine Rechte kennt, hat eine
Chance, sich diese zu erstreiten.
({3})
Das Individualbeschwerdeverfahren ist schon angesprochen worden. Es ist ohne Frage eine sehr gute Sache. Ich gehe davon aus, dass die Bundesrepublik das
entsprechende Zusatzprotokoll schnell ratifizieren wird.
Ich hoffe, dass sich die heute aufgeworfenen Fragen
auch aufseiten der Regierungsfraktionen noch einmal
neu stellen und dann anders beantwortet werden. Die
Zeit ist jedenfalls reif dafür.
Fassen Sie sich endlich ein Herz! Machen Sie sich mit
uns auf den Weg! Machen Sie mit uns einen gemeinsamen Gesetzentwurf! Die Kinderrechte gehören ins
Grundgesetz.
Vielen Dank.
({4})
Eckhard Pols hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kinder und Jugendliche! Um eure
Rechte geht es heute, und hierüber wollen wir heute
noch einmal debattieren. Kindergerechtigkeit und Kinderfreundlichkeit fangen zu Hause an. Diesen Satz aus
meiner letzten Rede möchte ich aufgreifen und weiter
ausführen.
Die theoretische Diskussion über eure Kinderrechte
haben wir in den vergangenen Wochen und Monaten
hier schon ausführlich geführt und die Argumente für
bzw. gegen eine Aufnahme von euren Kinderrechten ins
Grundgesetz hinlänglich und in sachlicher Breite ausgetauscht. Für mich fangen Kinderrechte dort an, wo eure
Lebensbereiche berührt sind, zum Beispiel in der Schule,
in Kindergärten, in Sportvereinen oder in euren Jugendeinrichtungen.
Entscheidend für eine Stärkung der Kinderrechte ist
die Umsetzung vor Ort durch Länder und Kommunen,
also in den Städten und Gemeinden. Länder und Kommunen sind aufgefordert, Aktivitäten zur Entwicklung
eines kinderfreundlichen Umfelds auf den Weg zu bringen, bestenfalls unter Einbeziehung von euch Kindern
und Jugendlichen.
Lasst uns einen Blick auf die aktuelle Schulpolitik
werfen und schauen, inwieweit eure Kinderrechte im
Schulunterricht behandelt werden. In den niedersächsischen Lehrplänen ist das Thema Kinderrechte bzw.
Menschenrechte bereits für das Fach Sachunterricht unter dem Stichwort Politik vorgesehen. Zu den Kerninhalten wird dazu ausgeführt - ich zitiere -:
Zum Bildungsauftrag der Grundschule gehört es,
individuelle Bedürfnisse und gesellschaftliche Anforderungen aufeinander zu beziehen. Die Auseinandersetzung mit Fragen nach Rechten und
Pflichten im Zusammenleben von Menschen, sei es
in der Familie, in der Klassen- und Schulgemeinschaft oder in der politischen Gesellschaft, bahnt
ein Verständnis der demokratischen Grundprinzipien an.
So weit das Zitat.
Erklärtes Lernziel ist, dass ihr Schülerinnen und
Schüler am Ende des vierten Schuljahrganges eure Kinderrechte kennt. Dazu gehören auch Möglichkeiten der
Partizipation, also der Beteiligung.
Der Kerninhalt Politik sieht beispielsweise für die
Realschule vor, dass ihr Schüler am Ende des achten
Schuljahres Wissen über Kinderrechte sowie demokratische Abläufe in Politik und Gesellschaft haben sollt.
Fachbegriffe wie Grundrechte, Menschenrechte, Demokratie, gesellschaftliche Normen sollt ihr kennen, und ihr
sollt sie auch erklären können.
Menschen- und Kinderrechte sind im Land Niedersachsen auch indirekt in den Unterrichtsinhalten anderer
Fächer wiederzufinden, zum Beispiel in den Fächern
Gesellschaftslehre, Deutsch, Werte und Normen oder
Religion. Um schon in der Grundschule auf eure Kinderrechte als wichtigem Bestandteil der universalen Menschenrechte eingehen zu können, hat der niedersächsische Kultusminister eine besondere Aktion gestartet.
Gemeinsam mit dem niedersächsischen Innenministerium und der Klosterkammer Hannover will der niedersächsische Kultusminister die in Baden-Württemberg
erstellte Grundrechtefibel Voll in Ordnung - unsere
Grundrechte übernehmen, natürlich ergänzt und an die
niedersächsischen Belange angepasst. Die Grundrechtefibel soll für euch Kinder ab acht Jahren im Unterricht
der vierten Klasse an Grundschulen eingesetzt werden.
Die Forderung nach der Behandlung des Themas Kinderrechte im Schulunterricht in den Fächern Politik, Gemeinschaftslehre und Sachkunde ist damit in meinem
Bundesland Niedersachsen erfüllt.
Ich möchte euch gern noch ein aktuelles Praxisprojekt
zur Beteiligung von euch Kindern und Jugendlichen aus
meiner Heimatstadt vorstellen. Frau Golze, es gibt also
noch Gemeinden, die sich damit beschäftigen und solche
Projekte nicht dem Rotstift zum Opfer fallen lassen, wie
Sie behaupten. Beteiligung von euch Kindern und Jugendlichen wird häufig leider nicht als Recht angesehen,
sondern als Gunst gewährt. Bislang wird die Beteiligung
von jungen Menschen viel zu oft in das Belieben von
uns Erwachsenen gestellt. Aus diesem Grund freut es
mich besonders, dass die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses der Hansestadt Lüneburg im September 2011
einstimmig ein Grobkonzept zur Beteiligung von euch
Kindern und Jugendlichen beschlossen haben. Das Projekt soll zunächst für zwei Jahre an drei Modellstandorten in drei Stadtteilen getestet werden. Konkret könnt
ihr, die interessierten Jugendlichen, eure Ideen und
Wünsche zum Beispiel zur Freizeitgestaltung in den
Stadtteilzentren vorstellen und die Kosten dafür selbst
ermitteln. Am Ende stimmt ihr demokratisch darüber ab,
welche Projektideen tatsächlich umgesetzt werden. Die
Hansestadt Lüneburg stellt eigens dafür finanzielle Mittel zur Verfügung, über deren Verwendung ihr jungen
Leute selber entscheiden könnt. Das ist ein erfolgreiches
Beispiel für gewollte und unterstützte Beteiligung von
euch Kindern und Jugendlichen. Diese Beteiligungskultur wünsche ich mir auch in anderen Städten und Gemeinden.
Die theoretischen Grundlagen und Kenntnisse über
Kinderrechte sind zwar wichtig. Aber noch wichtiger
und besser ist die praktische Umsetzung vor Ort.
Ich bedanke mich für eure Aufmerksamkeit, liebe
Kinder und Jugendliche, und auch für Ihre, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/8382. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/7643 mit dem Titel „Die UNKinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern anwenden - Die Bundesländer in die Pflicht nehmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben abgelehnt.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7644 mit dem Titel „Kinderrechte umfassend
stärken und ins Grundgesetz aufnehmen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit dem gleichen Stimmenergebnis wie zuvor.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7187 mit dem Titel „Kinderrechte stärken“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch diese
Beschlussempfehlung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren
und -pflanzen
- Drucksache 17/8344 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hier ist ebenfalls verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat das
Wort für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich außerordentlich, dass es uns gelungen ist,
im vergangenen Jahr einen gemeinsamen Antrag zum
Thema Biopatente auf den Weg zu bringen. Ich danke
meinen Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich für die
ausgesprochen konstruktive Zusammenarbeit. Ich danke
Herrn Miersch dafür, der eigene Vorschläge gemacht hat,
genauso meinem Kollegen Max Lehmer. Ulrike Höfken
ist inzwischen Ministerin geworden; Herr Ebner ist hier
an ihre Stelle getreten. Frau Tackmann hat sich ebenfalls
an der Diskussion beteiligt. Dafür ein ganz herzliches
Dankeschön! - Ich finde, ihr könntet den Kolleginnen
und Kollegen, die über ein Jahr daran gearbeitet haben,
ein bisschen Beifall spenden.
({0})
Alle diejenigen, die sich daran beteiligt haben - es waren
auch die Juristen dabei -, haben enorm gute Arbeit geleistet.
Die Fraktionen im Deutschen Bundestag lehnen gemeinsam die Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen
ab. Die Begründung dafür - das will ich auch sagen - ist
sehr einfach: Wir haben mit unserem Sortenschutzrecht
in Deutschland ein sehr gutes Instrument, um im Bereich
der Pflanzenzüchtung den Urheberrechtsschutz für die
Pflanzenzüchter zu gewährleisten. Ich will aber zugestehen, dass für den Bereich der Tierzucht - das ist uns gemeinsam deutlich geworden - ein ähnliches Instrument
fehlt; wir sollten dies gemeinsam mit den Züchtern noch
entwickeln.
Als Wissenschaftsstandort hat Deutschland ein großes
Interesse am Urheberrechtsschutz. Wer in geistige Leistungen wie Erfindungen investiert, muss daraus auch einen Gewinn haben. Was für Autoren eine Selbstverständlichkeit ist, gilt auch für jeden Erfinder, ob im
Maschinenbau oder in der Pflanzenzucht. Die geistigen
Leistungen müssen geschützt werden.
Die Ablehnung der Patentierung im Bereich der konventionellen Pflanzenzüchtung als Instrument des Urheberrechtschutzes muss aber auch zur Konsequenz haben,
dass der Sortenschutz gestärkt und weiterentwickelt
wird. Innovationen in der Pflanzenzüchtung brauchen
den Sortenschutz. Dazu gehört für die FDP auch - das
will ich deutlich sagen -, dass die Pflanzenzüchter dabei
unterstützt werden, die gesetzlich festgelegten Nachbaugebühren zu realisieren. Das Nachbaurecht der Landwirte ist gekoppelt an die Zahlung der Nachbaugebühren.
({1})
Das hat einen ganz praktischen Grund. Wir können
nicht damit zufrieden sein, dass der Züchtungsfortschritt
bei den Hybridsorten, bei Raps und Mais, bei denen
Nachbau nicht sinnvoll ist, deutlich höher ist als beim
Weizen. Wir sind inzwischen Nettoimporteur von Weizen.
Innovationen sind Voraussetzung für Wachstum, für
Chancen für die nachwachsenden Generationen, für eine
nachhaltige Ausrichtung der Wirtschaft. Deutschland ist
ein Land von Erfindergeist und Innovation. Die Bewahrung dieser Tradition ist nach Thomas Morus nicht das
Halten der Asche, also die Orientierung an Innovationen
der Vergangenheit, sondern das Weitergeben der
Flamme. Dazu gehören für mich die biotechnologische
Pflanzenzüchtung und die Nanotechnologie, zwei Beispiele für das, was auch in Deutschland möglich sein
muss.
({2})
Es gibt sehr unterschiedliche Rechtsinstrumente für
den Schutz geistigen Eigentums. Dazu gehören auch Patente. Ihre Stigmatisierung lehnen wir ab. Seit dem
19. Jahrhundert gibt es Patente auf Organismen. Gentechnisch veränderte Mikroorganismen produzieren
Vitamine, Aminosäuren sowie Wirkstoffe für Medikamente. Sie sind patentrechtlich geschützt. Dies ist in einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschaft wichtig; denn so werden Energie und Wasser gespart.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es im
wahren Sinne des Wortes keine gentechnikfreien Regionen in Deutschland. Dazu gehören auch Hefen; denn Hefen sind Alleskönner, nicht nur bei Brötchen, sondern
auch beim Bier heute Abend oder auf der Grünen Woche.
Wir wollen keine allgemeine Änderung der Biopatentrichtlinie, sondern eine Klarstellung, die sicherstellt,
dass keine Patente auf konventionell gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere oder Nutzpflanzen erteilt werden. Diesem Anliegen ist die Große Beschwerdekammer
bereits in ihrem Urteil zum Brokkolipatentantrag gefolgt. Aber es ist so, dass es in der Vergangenheit sehr
wohl die Patentierung von konventionell gezüchteten
Pflanzen und Tieren gab, und dies lehnen wir dezidiert
ab.
Patente für gentechnisch veränderte Tiere wie die
Krebsmaus und Modellorganismen zur medizinischen
Forschung jedoch werden auch in Zukunft möglich und
nötig sein. Die transgene Ziege, die in ihrer Milch humanes Antithrombin produziert, ist ein weiteres Beispiel.
Für ihre Jahresproduktion würde mit herkömmlichen
Methoden das Blut von 50 000 Spendern gebraucht. Hier
sind Patente unverzichtbar.
({3})
Im Bereich der Pflanzenzüchtung ist die Patentierung
von Konstrukten - das sind DNS-Sequenzen, die ein bestimmtes Zielgen enthalten und die in verschiedene landwirtschaftliche Nutzpflanzen eingebaut werden können von Bedeutung.
Die Patentierung von Genen ist schon heute verboten.
Wir müssen mit Nachdruck dafür sorgen, dass Gene
nicht patentiert werden; denn es sind Entdeckungen und
keine Erfindungen.
Die BASF ist in der Entwicklung solcher Konstrukte
und ihrer Verwendung in der Pflanzenzüchtung engagiert. Die jetzt berichtete Verlagerung von Forschungskapazität in die USA ist für Deutschland ein Verlust. Der
Kommentar von Hartmut Wewetzer im gestrigen
Tagesspiegel spricht dies sehr deutlich an - ich zitiere -:
Was in Deutschland um die grüne Gentechnik veranstaltet wurde, grenzt an absurdes Theater.
({4})
Nur eine grüne Landesministerin ist glücklich darüber.
Als ob Hochschulabsolventen ihre Zukunft im Unkrautzupfen auf dem Biohof sehen! Unverständlich, dass die
SPD die Arbeitnehmerinteressen dort völlig aus den
Augen verloren hat. Ich bedaure dies sehr.
({5})
Wir wollen ein staatliches Biopatentmonitoring, um
verfolgen zu können und einen Überblick zu erhalten,
welche Entwicklungen auf europäischer Ebene erfolgen.
Wir wollen im Auge behalten, was dort passiert. Freiheit
für Wissenschaft und Forschung, ethische Verantwortung und züchterischer Fortschritt müssen die Basis für
das Biopatentrecht sein.
Wir als Liberale freuen uns, dass der gemeinsame Antrag die notwendige Balance hält zwischen den Ansprüchen der Zivilgesellschaft und den Erfordernissen von
Wissenschaft und Züchtung.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Happach-Kasan, ich wollte eigentlich nicht darauf
eingehen, aber da Sie uns nun schon einen mitgeben,
muss ich es zurückgeben.
({0})
Es geht uns nicht um die „Vernichtung“ von Arbeitsplätzen, sondern es geht bei der Bewertung der Grünen Gentechnik vor allem auch um die Interessen der Landwirte
und der Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem
Land.
({1})
Da muss jeder eine Abwägung vornehmen.
Ich möchte mich an dieser Stelle auch nicht weiter zu
Ihren Ausführungen zur Nachbauproblematik äußern
oder zu der Frage, inwieweit ein Patent auf eine Krebsmaus gerechtfertigt ist oder nicht, sondern ich möchte
heute ganz bewusst die Gemeinsamkeit, die wir heute
zum Ausdruck bringen, in den Mittelpunkt meiner Rede
stellen. Es ist, denke ich, bei dieser schwierigen Materie
ein sehr wichtiges Signal, das wir heute aussenden.
({2})
Auch ich möchte mich ausdrücklich bei dem Kollegen
Max Lehmer und bei Ihnen, Frau Happach-Kasan, bei
Harald Ebner und Uli Höfken, die inzwischen der Landesregierung Rheinland-Pfalz angehört, sowie bei
Kirsten Tackmann bedanken und damit den Gedanken
verbinden, ob wir es, nachdem wir diesen Antrag überwiesen haben - hoffentlich werden wir ganz schnell wieder hier im Plenum darüber beraten -, nicht schaffen,
einen Antrag aller Fraktionen vorzulegen. Ich finde, alle
Fraktionen sollten diesen Antrag mitunterzeichnen können.
({3})
Dafür will ich mich in den nächsten Wochen starkmachen.
({4})
Das, was wir heute machen, ist ein wichtiges Signal.
Vor anderthalb Jahren, als wir und die Grünen einen
Antrag gegen die Biopatentierung eingebracht haben,
haben wir in den Reden noch darum gerungen, ob es
sinnvoll ist, dass sich der Gesetzgeber äußert, oder ob
man nicht erst die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes, teilweise aber auch die Patenterteilung
des Europäischen Patentamtes in Sachen Brokkoli
abwarten sollte.
Die Spruchpraxis der Großen Beschwerdekammer
des Europäischen Patentamtes hat deutlich gemacht,
dass wir als Gesetzgeber ein deutliches Signal setzen
müssen. Wir sind es, die die Grundlagen erarbeiten und
die damit auch die Grundlagen dafür schaffen können,
wie sich Patentämter zu bestimmten Patenten bzw.
Patentanträgen verhalten. Deswegen ist es wichtig, dass
wir nicht schweigen, sondern ein deutliches Signal über
alle Fraktionsgrenzen hinweg setzen.
({5})
Worum geht es? Es geht um die Frage: Was ist eigentlich patentierbar? Begonnen hat das Ganze - Frau
Happach-Kasan, darin sind wir vielleicht noch unterschiedlicher Auffassung - mit einem Patentantrag, beispielsweise der Firma Monsanto, als es um das sogenannte Schnitzelpatent ging. Es ging um die Frage: Kann
man einen Patentanspruch bis hin zum Produkt rechtfertigen? Schweine, die mit gentechnisch verändertem
Sojafutter gefüttert werden, sollen von diesem Patent
umfasst werden, nicht nur die Schweinerassen, sondern
auch alle nachfolgenden Generationen und Produkte.
({6})
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich
halte das für eine Perversion des Patentrechtes, für einen
Missbrauch, und dagegen müssen wir uns eindeutig
wenden.
({7})
Dann ging es weiter. Es blieb nicht nur bei der Frage
der gentechnischen Veränderung; es ging auch noch in
den Bereich der konventionellen Züchtung. Hier gab es
entsprechende Versuche. Ich nenne das sogenannte
Brokkolipatent; Sie haben es schon angesprochen. Hier
gab es zwar zum Glück die Rechtsprechung der Großen
Beschwerdekammer, dass das konventionelle Züchtungsverfahren so nicht patentierbar ist. Aber alle Fragen, die die Erzeugnisse anbelangen, sind weiter offen.
Wir mussten mittlerweile mitansehen, dass entsprechende Patente für Melone und Sonnenblume erteilt
wurden, bei denen sich die Ansprüche auf die Produkte
bis hin zum Öl erstrecken.
Vor diesem Hintergrund gibt dieser Antrag auch ein
Signal, insbesondere an die Bundesregierung. Ich habe
Sie, Herr Stadler, im November gefragt, wie sich die
Bundesregierung gegenüber der Erteilung des sogenannten Melonenpatents verhalten will, einer konventionellen Pflanzensorte. Da haben Sie mir geantwortet, Sie
beobachteten es und gingen davon aus, dass die Konkurrenten, also die anderen Unternehmen oder auch NGOs,
Einspruch einlegten. Die Einspruchsfrist läuft im
Februar ab. Vor dem Hintergrund dieses Antrags sollten
wir überlegen, ob nicht vielleicht auch die Bundesregierung ein deutliches Signal setzt, indem sie Einspruch
gegen dieses Patent erhebt. Ich glaube, das wäre im
internationalen Bereich ein ganz wichtiges Signal.
({8})
Schwierig wird das Ganze dadurch, dass es bei der
Biopatentierung um komplizierte Rechtsmaterien geht.
Es geht nicht nur um das nationale Patentrecht, sondern
es geht bei der Biopatentrichtlinie um europäisches
Recht und beim Europäischen Patentübereinkommen
sogar noch um eine Stufe darüber hinaus. Insofern ist es
gut, dass wir uns im vorliegenden Antrag auf bestimmte
Schwerpunkte konzentrieren und vor allen Dingen das
nationale Patentrecht in den Fokus nehmen. Ich bin mir
sicher, dass, wenn die Bundesrepublik Deutschland ein
solches Signal setzt, das Auswirkungen auch auf das
Europäische Parlament hat, also auch Abgeordnete aus
anderen europäischen Ländern für diese Frage sensibilisiert werden. Insoweit ist dieser Antrag auch ein ganz
wichtiges Signal für die internationale Rechtssetzung.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden auch
zukünftig mit Sicherheit um diese Problematik ringen.
Ein Sachverständiger hat einmal gesagt: Alle Regelungen, die der Gesetzgeber erlässt, stellen für diejenigen,
denen es um Profit geht, nichts anderes als Slalomstangen dar. Bei den Fragen Ernährung, Energie und Wasser
geht es um elementare Bereiche, von denen weltweit das
Leben abhängt. Immer wird es Leute geben, die versuchen, sich Rechte an diesen Ressourcen und damit
Macht zu sichern. Deswegen sind wir als Gesetzgeber
aufgerufen, die Grenzen so deutlich wie möglich zu formulieren. Es wird auch zukünftig versucht werden, so
der Sachverständige, diese Slalomstangen zu umfahren.
Deswegen ist es wichtig, dass wir in dem Antrag auch
ein Monitoring vorgesehen haben. Damit können wir als
Gesetzgeber regelmäßig die Patenterteilungspraxis überwachen.
Ich glaube, dass wir mit diesem Antrag einen ganz
wichtigen ersten Schritt vollziehen. Ich wünsche mir
aber auch, dass wir in die Beratungen einige weitere
Inhalte, die in den Anträgen von SPD und Grünen enthalten sind, zumindest mitaufnehmen. Ein Punkt ist zum
Beispiel die Stellung des Europäischen Patentamtes. Jeder denkt, dieses Patentamt sei eine Behörde. Mitnichten! Es finanziert sich maßgeblich aus den Gebühren für
erteilte Patente. Dass die Prüfung damit nicht immer
ganz so objektiv ist, wie sie sein könnte, ist doch wohl
immanent. Insofern braucht das Patentamt eine andere
Finanzierungsgrundlage.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
am Samstag werden zahlreiche Menschen hier in Berlin
wieder deutlich machen, dass Ernährung nicht zum Nulltarif zu haben ist, dass wir aufpassen müssen, wie wir im
Bereich der Pflanzenzucht und der Tierzucht vorgehen,
wie wir Lebensmittel in Deutschland und in Europa
erzeugen. Wenn immer mehr Menschen für diese Fragen
sensibilisiert werden, dann hat das auch Auswirkungen
auf die politischen Rahmenbedingungen. Mit dem Antrag, den wir heute beraten, zeigen wir, glaube ich, auch
all denjenigen, die diese Fragen in Demonstrationen etc.
aufwerfen, dass es uns in diesem Parlament tatsächlich
darum geht, in diesem Bereich unserer Verantwortung
als Gesetzgeber gerecht zu werden. Insofern freue ich
mich, dass wir miteinander dieses Signal setzen können.
Ich freue mich auf die Beratungen und hoffe auf eine
möglichst schnelle Beschlussfassung. Diese ist nötiger
denn je.
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Stephan Harbarth hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Bereits in den vergangenen Jahren haben wir häufiger
Anträge zum Thema Patentierbarkeit von Tieren und
Pflanzen diskutiert und uns mit der Frage befasst, wo die
Grenzen der Patentierbarkeit in diesem Bereich verlaufen. Bereits damals lagen Regierungskoalition und Oppositionsfraktionen nach meiner Überzeugung in der Sache nicht weit auseinander. Umso mehr freuen wir uns
heute, dass es gelungen ist, einen ganz breiten, überfraktionellen Antrag vorzulegen, der sich mit den Grenzen
der Patentierbarkeit von landwirtschaftlichen Nutztieren
und Nutzpflanzen befasst. Dafür, dass dies möglich
wurde, möchte ich herzlichen Dank sagen. Nach Monaten wirklich intensiver Debatte möchte ich allen beteiligten Berichterstatterinnen und Berichterstattern des
Rechtsausschusses und des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz Dank sagen.
({0})
Über das Thema der Patentierung von biotechnologischen Erfindungen in der Landwirtschaft gibt es in diesem Haus einen sehr erfreulichen und sehr weitgehenden
Konsens. Wir alle wissen: Biotechnologische Erfindungen unterliegen grundsätzlich dem Patentschutz, es gelten aber besondere Patentierungsverbote. In Deutschland
wird dies inhaltlich durch die Biopatentrichtlinie und
durch das Patentgesetz bestimmt. Nach der Biopatentrichtlinie und dem Europäischen Patentübereinkommen
sind Pflanzensorten und Tierrassen aus gutem Grund
nicht patentierbar. Für eine wichtige Klarheit hat im vorletzten Jahr die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts gesorgt. Sie hat in der Entscheidung
zum Brokkoli- und Tomatenpatent mehr Rechtsklarheit
im Hinblick auf die Abgrenzung der „im Wesentlichen
biologischen Verfahren“ geschaffen. Im zugrunde liegenden Streit wurde verlangt, ein konventionelles Zucht18246
verfahren und unabhängig davon auch die Erzeugnisse,
die aus diesem Verfahren gewonnen wurden, zu patentieren.
In der Entscheidung hat die Große Beschwerdekammer festgelegt, dass auch solche Verfahren im Wesentlichen biologisch und damit nicht patentierbar sind, die
auf Kreuzung und Selektion beruhen. Sie sind auch dann
nicht patentierbar, wenn bei ihnen technische Verfahrensschritte zur Durchführung bzw. Unterstützung von
Verfahren der Kreuzung von Genomen von Pflanzen und
der nachfolgenden Selektion der darauffolgenden Auswahl von Pflanzen genutzt werden.
Technische Hilfsmittel wie genetische Marker können
zwar nach den einschlägigen Rechtsgrundlagen durchaus patentfähige Erfindungen darstellen, ihre Verwendung in einem im Wesentlichen biologischen Verfahren
macht dieses Züchtungsverfahren selbst aber nicht
patentierbar. Das war eine gute Entscheidung, die wir
sehr nachdrücklich begrüßen.
({1})
Allerdings wurde mit der Entscheidung der Großen
Beschwerdekammer nicht klargestellt, ob auch reine
Erzeugnisansprüche auf Pflanzen mit spezifischen
Eigenschaften trotz der Entscheidung zulässig sind. Hinsichtlich der sogenannten Product-by-Process-Patentansprüche gibt es bislang keine Rechtsklarheit, wie wir sie
uns wünschen. Keine Klarheit besteht, wenn es um
Erzeugnisse geht, die mit einem Erzeugnis identisch
sind, das auf einem Herstellungsverfahren beruht, das
selbst patentgeschützt ist. Das ist im Bereich der Tierund Pflanzenzucht deshalb besonders problematisch,
weil diese Product-by-Process-Patentansprüche durchaus geeignet sein können, die Nichtpatentierbarkeit herkömmlicher Züchtungsverfahren zu unterlaufen und auszuhöhlen.
Für uns, die Union, ist klar: Die Vielfalt genetischer
Ressourcen an landwirtschaftlichen Nutztieren und
Nutzpflanzen muss erhalten werden. Für uns, die Union,
ist aber auch klar: Wir bekennen uns zur Bedeutung des
Patentrechts für den Schutz des geistigen Eigentums und
für die Forschungsfreiheit. Innovationen und Erfindungen sind für unseren Wirtschaftsstandort von herausragender Bedeutung und müssen auch künftig möglich
sein. Wir werden deshalb auch in Zukunft berechtigte
Interessen von Forschung und Wissenschaft nicht einfach grundlos vom Tisch wischen. Wir werden sie deshalb nicht grundlos vom Tisch wischen, weil wir nicht
möchten, dass die Früchte herausragender deutscher
Forschungsleistungen primär in anderen Ländern geerntet werden.
Legt man diese Maßstäbe an, dann sind wir überzeugt: Wir brauchen in Deutschland ein leistungsfähiges
Patentrecht, aber kein schrankenloses Patentrecht. Wir
brauchen ein Patentrecht, das auch ethischen Verpflichtungen Rechnung trägt. Deshalb darf es auf konventionell gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere und auf
Nutzpflanzen kein Patent geben.
Mit dem Antrag sprechen wir uns deshalb klar dafür
aus, sicherzustellen, die Schutzwirkung von Product-byProcess-Patenten auf die Verwendung des im Patent angegebenen Verfahrens zu beschränken. Wir fordern die
Bundesregierung auf, sich auf europäischer Ebene dafür
einzusetzen und jetzt zu prüfen, ob auch ohne Rechtsänderungen auf europäischer Ebene Anpassungen im nationalen Patentrecht - das entspricht der Intention des
Antrags - möglich sind.
Wir Christdemokraten sind der tiefen Überzeugung,
dass die natürlichen Lebensgrundlagen für alle da sind
und dass die Erkenntnisse über die Schöpfung für alle
zugänglich sein müssen. Alle müssen die Möglichkeit
zur Teilhabe haben. Es darf nicht zu einer kommerziellen Reservierung dieser Bereiche für einige wenige kommen.
({2})
Es ist schon angeklungen, dass wir einen Impuls mit
Schwerpunkt Europa setzen wollen. Die Frage, ob nur
einige wenige über diese Ressourcen verfügen können
oder ob sie für die Menschheit in Gänze offen stehen,
geht über Europa hinaus. In einer Welt, die durch Bevölkerungswachstum und durch eine immer größere Nachfrage und einen immer weiter steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln geprägt ist, ist dies eine der ganz großen
Zukunftsfragen.
Unsere Position ist klar. Deshalb wünsche ich unserem Antrag, den wir heute gemeinsam verabschieden,
die von uns allen erhoffte Durchschlagskraft auf europäischer Ebene und darüber hinaus.
Vielen herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit.
({3})
Jetzt hat Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ja, der vorliegende Antrag ist ein Gemeinschaftswerk. Seit dem Sommer 2010 hat eine Arbeitsgruppe aller fünf Fraktionen an diesem Antrag gearbeitet. Denn es sollte ein gemeinsames Signal sein, dass wir
bei den Biopatenten Probleme sehen und dass wir in diesem Bereich Grenzen setzen müssen. Deswegen waren
auch wir Linke zu großen und auch schwierigen Kompromissen bereit.
Anlässlich der Grünen Woche 2011 haben wir eine
gemeinsame Presseerklärung herausgegeben. Im April
2011 lag ein gemeinsamer Antragsentwurf vor. So weit,
so gut. Dann passierte monatelang erst einmal nichts.
Aber im Dezember 2011 ist die Linke dann plötzlich
kommentarlos aus der Gruppe entfernt worden. Diese
Fortsetzung des Kalten Krieges - so muss ich das sagen ist der höchsten Volksvertretung unseres Landes nicht
würdig.
({0})
Das grenzt nicht nur meine Fraktion, sondern auch - das
ist eigentlich das Schlimme - unsere Wählerinnen und
Wähler aus. Das ist das größere Problem. Aus meiner
Sicht ist das ein vordemokratisches Verhalten.
({1})
Ich muss ganz ehrlich sagen: Dieses Vorgehen entbindet uns von den Kompromissen, die wir eingegangen
sind. Deshalb werden wir einen Antrag vorlegen, in dem
linke Positionen enthalten sind.
({2})
Zum Antrag selbst. Eigentlich sind Biopatente verboten. Die Realität sieht aber anders aus. Dazu ist schon einiges gesagt worden. In der Dokumentation „Das Saatgutkartell auf dem Vormarsch“ sind dieser Vorgang und
auch der ziemlich schamlose Griff der Agrarkonzerne
nach Biopatenten ziemlich deutlich beschrieben.
Über 250 Biopatentanträge für Gentechpflanzen und
100 für konventionell gezüchtete Pflanzen lagen allein
2010 beim Europäischen Patentamt vor. Die Antragsteller wollen sich damit die alleinigen Rechte am späteren
Produkt sichern. Problematisch ist dabei sowohl die Zahl
der Anmeldungen als auch ihre Reichweite. Auch dazu
ist schon einiges gesagt worden. Es beginnt beim Futtermittel, geht über das eigentliche Tier oder die Pflanze bis
hin zu den Produkten, also Fleisch, Milch oder Mehl.
Ein gutes Beispiel ist das Schweinezuchtpatent
EP 1651 777. Es betrifft ein Verfahren zur Zuchtauswahl
von Schweinen mit bestimmten natürlichen Eigenschaften. Kritisch dabei ist, dass das Patent sich nicht nur auf
das Tier und das Zuchtverfahren selbst bezieht, sondern
auch auf die aus diesem Verfahren stammenden Ferkel.
Der Einspruch eines breiten Bündnisses von BUND bis
zum Deutschen Bauernverband hatte zwar Erfolg, und
das Patent wurde widerrufen. Aber - auch das ist schon
gesagt worden - es blieben einige Fragen hinsichtlich
der Patentierbarkeit von Zuchtverfahren und von Produkten offen. Ein Patent vom Acker bis zum Teller in der
Hand eines Agrarkonzerns ist eine Horrorvision. Die einen mögen sagen, das sei unrealistisch. Andere hingegen
sagen, das sei konsequent bis zum Ende gedacht. Deswegen besteht hier Handlungsbedarf.
({3})
Deshalb lehnt die Linke Patente auf Leben grundsätzlich ab. Gene und Gensequenzen oder ihre Funktionen
können entdeckt oder genutzt werden, aber sie dürfen
nicht privatisiert werden.
({4})
Privates Eigentum auf Leben ist ein geradezu absurder
Gedanke, erst recht, wenn es um Pflanzen oder Tiere
geht, die zur Nahrungsmittelproduktion genutzt werden.
Es ist auch eine problematische Entwicklung, wenn zum
Beispiel wichtige neue Erkenntnisse nicht zuerst in den
wissenschaftlichen Publikationen und Zeitschriften veröffentlicht werden, sondern erst einmal das Patent gesichert wird. Damit wird der für den wissenschaftlichen
Fortschritt notwendige Informationsfluss in der wissenschaftlichen Welt unterbrochen; es dauert sehr lange, bis
es zu einem Wissensaustausch kommt. Ich finde, das ist
nicht akzeptabel.
({5})
Die Linke fordert deswegen die Bundesregierung auf,
ein weltweites, konsequentes und auch weitreichendes
Verbot der Patentierung von Leben durchzusetzen, und
zwar unabhängig davon, ob es sich um klassische Züchtungsverfahren oder gentechnische Verfahren handelt.
Zur Agro-Gentechnik lässt der Antrag einiges offen.
Auch an anderen Stellen hat der Antragsentwurf nach
unserer Ausgrenzung leider einiges an Substanz verloren. So wird die umstrittene Finanzierung des Europäischen Patentamtes nicht einmal mehr erwähnt. Kollege
Miersch hat darauf hingewiesen. Auch unser wichtiger
Vorschlag zur Prozesskostenhilfe ist aufgrund schwarzgelben Drucks leider herausgefallen. Also werden sich
zukünftig wieder Menschen nur deswegen nicht gegen
Patente wehren können, weil sie die Prozesskosten nicht
bezahlen können. Auch das ist nicht akzeptabel.
({6})
Zum Abschluss: Ich denke, dieses wichtige Thema ist
nicht geeignet für parteipolitische Sandkastenspiele. Ich
hoffe, dass die Unionsfraktionen und vielleicht auch die
anderen Fraktionen zumindest den Anstand haben, darauf hinzuweisen, dass es nicht an sachlichen Gründen
liegt, dass die Linke nicht als einreichende Fraktion auf
dem Antrag steht, sondern dass es sachfremde Erwägungen sind.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Ich möchte noch einmal
betonen: Die Linke ist wie alle anderen in diesem Saal
der Meinung, dass man bei Biopatenten eingreifen muss,
dass man restriktivere Lösungen finden muss.
Frau Kollegin.
Ich denke, das sollte auch dokumentiert werden, indem wir einen gemeinsamen Antrag einbringen. Ich bedauere, dass dieser nicht zustande gekommen ist.
Vielen Dank.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege
Harald Ebner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf dem Speiseplan der Bundestagskantine stehen diese Woche Gerichte wie Gemüsecremesuppe mit Sonnenblumenkernen oder vegetarische Pizza
mit Brokkoli. Sowohl auf Sonnenblumen als auch auf
Brokkoli gibt es mittlerweile Biopatente. Wenn wir
heute in Sachen Biopatente nicht handeln, kann es bald
schon zu spät sein, und vielleicht muss die Bundestagskantine eines Tages für solche Zutaten Lizenzgebühren
entrichten.
({0})
Wir handeln aber, und es ist gut, dass dieser Antrag
jetzt doch noch den Weg ins Parlament gefunden hat,
auch wenn der Weg manchmal etwas steinig war. Ich
möchte deshalb ganz gern den Dank, der schon von vielen Kollegen ausgesprochen wurde und den ich bekräftigen kann, um den Dank an den Kollegen Montag erweitern, der sich hier auch eingebracht hat.
({1})
Die Frage der Patentierung von Leben hat allerdings
eine viel größere Tragweite als nur den Lizenzaufschlag
an der Kantinenkasse. Wir haben in Europa ein bewährtes Sortenschutzrecht - Frau Dr. Happach-Kasan hat darauf hingewiesen -, das Landwirten und Züchtern die
Nutzung neuer Sorten nach gewissen Regeln auf einfache Weise erlaubt. Das ist eine Art Open-Source-System
in der Landwirtschaft. Ganz anders ist es bei Biopatenten. Auf die patentgeschützte Eigenschaft hat der Patentinhaber den alleinigen Nutzungsanspruch. Er kann theoretisch sogar die Verwendung seiner Eigenschaften
untersagen. Es besteht Gott sei Dank breite Einigkeit in
der Gesellschaft und auch hier im Hause - wie ich es allgemein höre -, dass wir Patente auf Leben nicht wollen.
({2})
Die 1998 beschlossene Biopatentrichtlinie der EU
sollte genau dies eigentlich verhindern. Leider führen
Lücken in eben dieser Richtlinie immer wieder dazu,
dass trotzdem vom Europäischen Patentamt solche Patente erteilt wurden und werden. Kollege Miersch hat es
am Beispiel des „Schnitzelpatentes“ ganz eindrücklich
ausgeführt.
Ich erinnere daran, dass meine Vorgängerin im Argarausschuss, Uli Höfken - heute Agrarministerin in Rheinland-Pfalz - zusammen mit dem Kollegen Miersch bereits im Sommer 2010 die Initiative für den jetzt
vorliegenden interfraktionellen Antrag gestartet hat.
Hoffentlich gilt jetzt: Was lange währt, wird endlich gut.
Gestern habe ich eine Pressemitteilung gelesen, die
ich nicht ganz verstanden habe. Herr Lehmer, mir wäre
es neu, dass der Kollege Miersch oder die Kollegin
Höfken jetzt in der CDU wären; insoweit habe ich die
Pressemitteilung im Hinblick darauf, von wem der Antrag jetzt ausging, nicht verstanden.
({3})
Im vorliegenden Antrag wird endlich das Problem der
Gesetzes- und Auslegungslücken bezüglich der Patentierung von traditionell gezüchteten Pflanzen und Tieren
aufgegriffen. Das ist ein längst überfälliger Schritt. Besonders wichtig und dringend ist diese gemeinsame Initiative im Hinblick auf die jetzt anstehende Schaffung eines EU-weit einheitlichen Patentrechts. Dieses neue
Patentsystem ist für die Biopatente von besonderer Tragweite. Deshalb freut es mich besonders, dass gerade bezogen auf das wichtige Handlungsfeld der Verankerung
des Landwirte- und Züchterprivilegs ein breiter Konsens
besteht, und zwar nicht nur quer durch die Gesellschaft
und die Verbände, sondern auch hier im Hause.
({4})
Gut ist auch der gemeinsame Wille zum staatlichen
Biopatent-Monitoring, das dringend notwendig ist und
das bislang ausschließlich von Ehrenamtlichen mit einem Riesenaufwand geleistet wurde. An dieser Stelle
möchte ich den Ehrenamtlichen ganz herzlich danken
und meine Anerkennung ausdrücken.
Es gibt aber auch Schatten. Wir hätten uns ein schnelleres Handeln gewünscht; aber besser spät als nie. Inhaltlich hätten wir natürlich gern die Erweiterung dieses
Antrags auf die Gensequenzen und GVO gesehen. Hier
besteht aus unserer Sicht derselbe Handlungsbedarf,
weil die Folgen dieselben sind. Außerdem bräuchten wir
beim EU-Patent auch eine Auskreuzungsregelung.
Ich komme zum Schluss. Wir sind dennoch bereit, im
Interesse eines gemeinsamen Signals aus diesem Hause
diese Punkte zunächst hintenanzustellen und diesen gemeinsamen Antrag mitzutragen. Denn Biopatente sind
viel häufiger Innovationsverhinderer als Innovationsförderer. Sie sind auch ethisch fragwürdig und führen zu soziökonomischen Verwerfungen. Der Weg, den wir heute
beginnen gemeinsam zu gehen, ist daher richtig.
Herr Kollege.
Ich hoffe sehr, dass daraus konkrete Schritte und Ergebnisse für Gesetzgebung und Regierungshandeln hier
und in Brüssel hervorgehen.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Dr. Max Lehmer hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten - Gäste!
({0})
Vor nun mittlerweile fast eineinhalb Jahren, im Juli
2010, habe ich an dieser Stelle den Vorschlag unterbreitet - ich schließe nicht aus, dass es auch andere Vorschläge dieser Art gegeben hat, aber von diesem Zeitpunkt an ging unsere gemeinsame Aktivität los, Herr
Miersch; das können Sie nachlesen -, einen fraktionsübergreifenden Antrag zum Thema Biopatente zu erarbeiten.
Gerade weil die Verhandlungen mitunter etwas zäh
verliefen, möchte ich mich zunächst recht herzlich bei
allen Beteiligten für die gute fachkompetente und mit
Geduld ausgestattete Zusammenarbeit bedanken. Mein
Dank gilt insbesondere den Rechtspolitikern der Union,
die unsere Idee aufgegriffen und einen Antrag auf den
Weg gebracht haben.
({1})
Umso mehr erfüllt es mich mit außerordentlich großer
Freude, dass wir heute den vorliegenden Antragstext
rechtzeitig zur Eröffnung der Grünen Woche 2012 erörtern können. Für die wissenschaftliche Forschung ist das
Patentrecht ein hohes Gut - das wurde bereits mehrfach
erwähnt - und für den Wirtschaftsstandort Deutschland
unerlässlich. Es gewährleistet, dass Innovationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Im Bereich der Biotechnologie, einem sehr komplexen Bereich, müssen wir dabei stets zwei Ziele im Auge
behalten - das ist, glaube ich, der Kern der Bemühungen -:
Neben dem bereits erwähnten Schutz des geistigen Eigentums durch das Patentrecht spielt die allgemeine Verfügbarkeit genetischer Ressourcen eine ganz zentrale
Rolle.
({2})
Wir brauchen in diesem Zusammenhang eine klare
Trennung zwischen Entdeckung und Erfindung. Natürliche Ressourcen können entdeckt werden, sind aber nicht
Gegenstand oder Inhalt einer Erfindung. Genetische
Ressourcen sind für die biologische Vielfalt wesentlich
und dürfen nicht nur durch Einzelne nutzbar gemacht
werden. Vor diesem Hintergrund wird die aktuelle Entwicklung bei Biopatenten seitens der Landwirte mit berechtigter Sorge betrachtet; denn einige Wirtschaftsbeteiligte versuchen, rechtliche Grauzonen zu ihren
Gunsten auszunutzen.
Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat hier in ihrer Rechtsprechung inzwischen
eine grundlegende Entscheidung in unserem Sinne gefällt: Verfahren sind auch dann im Wesentlichen biologisch und somit nicht patentierbar, wenn bei ihnen technische Verfahrensschritte zur Durchführung von Verfahren
der Kreuzung von Pflanzen und nachfolgender Selektion
der geeigneten Pflanzen genutzt werden. - Das ist einer
der Kernsätze.
Nicht abschließend geklärt ist jedoch, ob die durch
diese Verfahren erzeugten Tiere oder Pflanzen patentiert
werden können. Weitere rechtliche Spielräume ergeben
sich aus der Nutzung sogenannter Product-by-ProcessPatentansprüche; auch das ist ein wichtiger Punkt. Insofern sehen wir politischen Handlungsbedarf und haben
im vorliegenden Antragstext unsere Forderungen hierzu
klar formuliert: Es soll keine Patente auf konventionelle
Züchtungsverfahren, auf mit diesen Verfahren gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen sowie auf deren Nachkommen und auf damit hergestellte
Produkte geben. Das soll für alle Arten von Patenten und
sämtliche relevanten Rechtsvorschriften Gültigkeit besitzen, ergo für nationale Patente, für Patente, die nach
dem Europäischen Patentübereinkommen erteilt werden,
und auch für die neuen europäischen Patente. Genau an
dieser Stelle, an der Grenze zwischen konventionellen
und technischen Züchtungsverfahren, wird aus unserer
Sicht eine ethische Grenze überschritten, die der Patentierung entgegensteht.
Begleitend zu diesen Rechtsänderungen, fordern wir
ein staatliches Biopatent-Monitoring; es wurde von einzelnen Kollegen schon darauf hingewiesen. Durch einen
regelmäßigen Bericht über die Auswirkungen des Patentrechts bei Biopatenten und einen Dialog mit allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen können wir die
Entwicklung sorgfältig beobachten und bei Bedarf entsprechend nachsteuern.
Außerdem ist es uns ein wichtiges Anliegen, dass die
im Patentgesetz vorgesehenen Privilegien für Landwirte
- sie sind schon mehrfach angesprochen worden -,
Züchter und Forschung auch im neuen europäischen Patentrecht enthalten sein sollen.
Abschließend möchte ich auf die wichtige Rolle des
Sortenschutzes, einer sehr guten deutschen Einrichtung,
zu sprechen kommen. Der Sortenschutz dient dem
Schutz des geistigen Eigentums und hat sich dabei sehr
gut bewährt. Da es im Bereich der Tierzucht kein entsprechendes Recht gibt, muss es unser Ansinnen sein,
dass wir hier gemeinsam mit den Tierzüchtern eine Lösung finden. Denn es geht auch in diesem Fall um das
Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz geistigen Eigentums und dem freien Zugang zu genetischen Ressourcen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich außerordentlich,
dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten. Es ist ein richtiger und politisch sehr wichtiger
Schritt, so denke ich, zur Abklärung der genannten gegensätzlichen Ziele in einem für die Nutzungschancen
der Biotechnologie sehr bedeutsamen Bereich. Allerdings ist damit sicher für die Zukunft noch nicht alles im
Detail geklärt. Deshalb erfordert das Thema auch in Zukunft unser aller Aufmerksamkeit.
Vielen herzlichen Dank und einen schönen Abend.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8344 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Dazu sehe und
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs ({0})
- Drucksache 17/8131 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Damit sind
Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Burkhard Lischka für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 5. Januar 2012, Berlin: Drei Jugendliche sind in Friedrichshain rassistisch angegriffen worden. Die 15- und 16-Jährigen waren in der Nacht zum Donnerstag am S-Bahnhof
Frankfurter Allee unterwegs, als sie zunächst von drei
Männern mit Steinen beworfen wurden. Anschließend
beleidigten die Angreifer im Alter von 34 und 36 Jahren
ihre Opfer mit antisemitischen Parolen und schlugen einem Jugendlichen ins Gesicht.
Ein Tag später, 6. Januar 2012, Berlin: An der Kreuzung des U-Bahnhofs Eberswalder Straße fügten drei
Neonazis einem jungen Mann marokkanischer Herkunft
massive Verletzungen zu. Nachdem er bereits auf dem
Boden lag, traten sie mehrfach auf ihn ein. Das Opfer
wurde mit einem Nasenbeinbruch und einer schweren
Halswirbelverletzung ins Krankenhaus eingeliefert.
11. Januar 2012, Berlin: Gegen 2.30 Uhr schlug eine
Neonazifrau einem Punk eine Bierflasche auf den Kopf.
Das Opfer erlitt eine Platzwunde und wurde im Krankenhaus behandelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das sind
nur drei Beispiele für braune Gewalttaten in den letzten
Tagen allein hier in Berlin. Aber wir wissen: Diese
braune Gewalt gibt es überall in ganz Deutschland: in
unseren Dörfern, in unseren Städten, auf unseren Straßen
und Plätzen, in Straßenbahnen, in Bussen, in Jugendklubs, in Fußballstadien, also mitten in unserer Gesellschaft, am helllichten Tag und in der Nacht, Tag für Tag,
Jahr für Jahr. Das sind Taten, mit denen wir uns nicht abfinden wollen und nicht abfinden können, Taten, die eine
Schande für unser Land sind.
({0})
Braune Gewalt gehört in Deutschland zum Alltag.
16 375 rechtsextremistisch motivierte Straftaten gab es
allein im Jahr 2010. Das sind 45 rechtsextremistisch motivierte Straftaten jeden Tag. Darunter sind 762 Gewalttaten zu verzeichnen, das heißt, jeden Tag werden in
Deutschland in mindestens zwei oder drei Fällen Mitbürgerinnen und Mitbürger auf offener Straße verfolgt, angegriffen, attackiert, geschlagen, getreten und misshandelt, und zwar nur deshalb, weil sie eine andere
Hautfarbe, eine andere Nationalität oder eine andere Gesinnung haben, vielleicht auch weil sie obdachlos oder
behindert sind. Wir dürfen dem gegenüber nicht abstumpfen. Die Taten richten sich gegen uns alle. Wir alle
müssen dieser menschenverachtenden Gewalt gemeinsam die Stirn bieten.
({1})
Die Mordserie der Zwickauer Terrorzelle war und ist
kein Zufall, sondern sie ist der unfassbare Teil einer viel
größeren Blutspur, die sich seit vielen Jahren quer über
unser Land gelegt hat, mit täglichen Angriffen, mit Körperverletzungen, Bedrohungen, Pöbeleien, und zwar
überall in Deutschland. Diese braunen Gewalttaten sind
inzwischen ein Krebsgeschwür in unserer Gesellschaft,
weil sie die gegenseitige Achtung und Anerkennung der
Menschen untereinander und damit eine fundamentale
Voraussetzung unseres gesellschaftlichen Friedens und
des Rechts infrage stellen. Wir Deutsche mit unserer Geschichte haben allen Grund, uns dem zu widersetzen.
({2})
Deutschland erwartet von seinen Zuwanderern, dass
sie sich zur grundgesetzlichen Ordnung bekennen. Das
ist auch okay so. Aber zu dieser Ordnung gehört eben
auch, dass jeder - aber auch wirklich jeder - in diesem
Land einen Anspruch darauf hat, dass ihn der Staat mit
allen verfügbaren Mitteln vor Terror, Gewalt und Misshandlungen schützt. Dazu gehört auch, diese Taten als
das zu benennen und abzuurteilen, was sie tatsächlich
sind, nämlich ein abscheulicher Anschlag auf die Menschenwürde und auf unsere Rechtsordnung.
({3})
Das unterscheidet übrigens diese braunen Gewalttaten von einem ganz normalen Körperverletzungsdelikt;
denn das Opfer wird von den Nazis nicht als Individuum, als Einzelperson angegriffen, mit dem der Täter
irgendeinen Streit oder Konflikt hat. Nein, der Terror der
Nazis hat eine über die eigentliche Verletzung hinausgehende Bedeutung. Man wird nicht durch individuelle
Beziehungen und Konflikte zum Opfer, sondern weil
man so ist, wie man ist - als Ausländer, Farbiger, Punk,
Obdachloser oder Behinderter. Dem Opfer wird schlicht
und einfach abgesprochen, ein Mensch wie jeder andere
zu sein.
Das bedeutet aber auch, dass das Opfer nichts machen
kann. Es kann sich nicht ändern. Es hat eine bestimmte
Hautfarbe. Die kann man nicht abstreifen. Das heißt, das
Opfer kann sich dieser permanenten Bedrohung nicht
entziehen, und an andere Menschen, die über die gleichen Merkmale wie das Opfer verfügen, senden die
braunen Schläger ein unmissverständliches Signal aus:
Lasst euch hier bloß nicht mehr blicken. Sonst geht es
euch genauso. Ihr seid die Nächsten, die dran sind. Das
soll Angst und Schrecken säen. Das ist die menschenverachtende Ideologie der Nazis seit jeher.
Das ist aber auch ein besonderes Unrecht, das gerade
diese Taten von allen anderen unterscheidet, und deshalb
bedarf es auch einer besonderen Bestrafung, meine Damen und Herren. Es ist doch überhaupt nicht akzeptabel,
dass diese braunen Gewalttaten nach wie vor viel zu
häufig als normale Wirtshausschlägereien oder normale
Körperverletzungsdelikte abgetan werden. Das ist doch
ein Hohn den Opfern gegenüber.
Auch deshalb fordert die Europäische Kommission
gegen Rassismus und Intoleranz seit vielen Jahren von
Deutschland, dass diese braunen Gewalttaten genauso
wie in anderen europäischen Ländern besonders bestraft
werden, indem zum Beispiel rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe des Täters bei dessen Verurteilung berücksichtigt werden. Genau das greifen wir in unserem Antrag hier auf.
({4})
Ich weiß natürlich, welche Einwände wir gleich zu
hören bekommen werden.
({5})
Der erste Einwand wird sein, das sei Gesinnungsstrafrecht. Nein, meine Damen und Herren, das ist es eben
nicht. Hier soll nicht eine bestimmte Gesinnung bestraft
werden; diese kann jeder haben. Aber diese unglückselige Verquickung von Gesinnung auf der einen Seite und
gewaltsamer Durchsetzung dieser Gesinnung auf der anderen Seite muss bestraft werden, und wir haben in
Deutschland nach den Erfahrungen mit der Nazidiktatur
auch allen Grund hierfür.
({6})
Der zweite Einwand, den wir gleich zu hören bekommen werden, ist, dass das deutsche Strafrecht die Motive
und Beweggründe des Täters ja schon heute berücksichtigen würde.
({7})
- Herr van Essen, das stimmt, aber eben nur theoretisch. Machen Sie sich doch einmal praktisch die Mühe
und geben Sie die Begriffe „Rechtsextremismus“ und
„Körperverletzung“ in eine juristische Datenbank ein.
Sie werden nur erbärmlich wenige Treffer angezeigt bekommen, die belegen, dass Gerichte in ihren Urteilen genau diesen Zusammenhang herstellen.
Das ist nicht akzeptabel, meine Damen und Herren.
Insofern ist man als Gesetzgeber gefordert, diesen Zusammenhang ausdrücklich gesetzlich klarzustellen. Darum geht es hier in unserem Antrag, und deshalb haben
wir Sozialdemokraten diesen Antrag hier heute gestellt.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Ansgar Heveling hat jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zweifellos machen uns gerade die Straftaten besonders
betroffen, bei denen Hass die Triebfeder ihrer Begehung
ist. Was sind das für Menschen, die anderen Menschen
Gewalt antun, nur weil sie eine andere Hautfarbe, Religion, Herkunft oder Weltanschauung haben oder weil sie
behindert sind?
Natürlich denken wir dabei unmittelbar an die aktuellen Fälle rechtsextremistischer Täter, die über den Zeitraum eines Jahrzehnts Geschäftsleute griechischer und
türkischer Abstammung ermordet haben. Wir denken aber
auch an die Übergriffe brutalster Art in U- und S-Bahnen
sowie auf öffentlichen Plätzen, die in jüngster Zeit insbesondere von jüngeren Tätern begangen worden sind.
Sicherlich haben wir noch die schrecklichen Bilder, von
Überwachungskameras aufgezeichnet, vor Augen:
Wehrlose Menschen werden verprügelt und zu Boden
getreten, und auch dann noch, wenn sie schon am Boden
liegen, wird zielgerichtet weiter auf ihren Kopf eingetreten.
Allerdings sind uns auch die vielen anderen Vorfälle
präsent: Hetzjagden auf Ausländer, Brände, die in Asylbewerberheimen gelegt werden, Menschen, die wegen
ihrer Hautfarbe oder Herkunft auf brutalste und menschenverachtende Weise gequält und misshandelt, ja getötet werden.
Es handelt sich dabei um schlimmste Übergriffe - auf
Ausländer; aber es gibt auch die umgekehrten Fälle.
Auch diese dürfen wir nicht aus dem Blick lassen. Es
gibt auch Übergriffe von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich gegen Deutsche richten, weil sich ihr
Lebensfrust und ihre Wut als Hass gegen die Deutschen
entladen.
All diese Taten werden von uns gleichermaßen verurteilt. Sie sind auch deshalb von besonderer Bedeutung,
weil sie durch einen besonderen Unrechtsgehalt gekennzeichnet sind. Es geht bei diesen Straftaten nicht um eine
individuelle persönliche Auseinandersetzung zwischen
Täter und Opfer. Das Opfer ist nicht deshalb Opfer, weil
es ein bestimmtes Individuum ist, sondern weil es Teil
einer Gruppe ist, die vom Täter als „anders“ abgestempelt wird.
Diesem besonderen Unrechtsgehalt solcher Hasstaten möchte die SPD-Fraktion nun durch den vorgelegten Gesetzentwurf Rechnung tragen. Der Entwurf hat
dabei zum Ziel, eine Ergänzung in § 46 Abs. 2 des Strafgesetzbuches aufzunehmen und damit die Berücksichti18252
gung des besonderen Unrechtsgehaltes bei der Strafzumessung ausdrücklich zu verankern. Der SPD-Vorschlag
sieht vor, strafschärfende Regelbeispiele in die Strafzumessungsregeln zur Motivation oder Zielsetzung des Täters aufzunehmen. Besonders menschenverachtende,
rassistische oder fremdenfeindliche Motive für die Tat
sollen bei der Strafzumessung strafschärfend zu berücksichtigen sein.
Indessen sind mit diesem Vorschlag im Wesentlichen
drei Fragen verbunden. Erstens. Bedarf es überhaupt solcher Regelbeispiele bei der Strafzumessung? Zweitens.
Greift die von der SPD vorgeschlagene Ergänzung auch
für Täter, die nach dem Jugendstrafrecht zu verurteilen
sind? Drittens. Ist die Regelung, wie sie der SPDGesetzentwurf vorsieht, überhaupt ausreichend?
Lassen Sie mich mit der ersten Frage beginnen. Ohne
Zweifel liegt angesichts der eingangs geschilderten aktuellen Fälle der Ruf nach strafschärfenden Merkmalen
nahe. Doch es bleibt die Frage: Haben wir im geltenden
Sanktionsrecht überhaupt eine Lücke, die es zu schließen gilt, um den Schutz von Personen, die Opfer von
Hasskriminalität werden, zu erhöhen? Strafe ist, so die
ständige Rechtsprechung, eine missbilligende hoheitliche Reaktion, die an ein sozialethisches Unwerturteil
anknüpft, ohne dass dabei die Strafzwecke gesetzlich
ausdrücklich definiert worden sind.
({0})
Generell ist Strafe zunächst einmal Generalprävention. Das heißt, durch die Strafandrohung soll die normative Rechtsordnung bestätigt und die Rechtstreue der Bevölkerung gestärkt werden. Zugleich sollen durch die
verhängte Strafe der Täter selbst, aber auch andere abgeschreckt werden, diese Straftat zu begehen.
Grundlage der Strafzumessung ist dabei in erster
Linie die Schwere der konkreten Tat und der Grad der
Schuld des Täters. Schuld wird also als etwas Individuelles angesehen. Es geht um das individuelle Maß des
Vorwurfs für die jeweilige Tat. Andererseits hat die
Strafe auch die Aufgabe, die geltende Rechtsordnung zu
bestätigen und künftigen Verletzungen vorzubeugen.
Rechtsgüter sollen geschützt werden, und das Vertrauen
der Bevölkerung in den Schutz der Rechtsordnung und
damit die Rechtstreue der Bürger sollen gestärkt werden.
Der Strafrahmen, also das gesetzliche Höchst- und
Mindestmaß, wird durch den konkreten Gesetzesverstoß
mit all seinen Tatmodalitäten und Tatumständen, die den
Strafrahmen erhöhen oder mildern können, festgestellt.
In diesem festgestellten Strafrahmen sind sämtliche Umstände, die zugunsten, aber eben auch zuungunsten des
Täters sprechen, abzuwägen und zu berücksichtigen.
Das geltende Recht gebietet und gestattet es daher schon
jetzt, derartige von Hass geprägte Motivationslagen und
Zielsetzungen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Dazu gehören - sofern dies nicht bereits Tatbestandsmerkmal ist - die Beweggründe und Tatziele,
beispielsweise Taten, die auf eine verfestigte rechtsfeindliche oder gleichgültige Haltung zurückgehen. Als
weiterer Strafschärfungsgrund ist die Gesinnung, die aus
der Tat spricht, zu bewerten, wie etwa eine rohe, böswillige, gewissenlose, grausame oder rücksichtslose Gesinnung.
Also werden bereits jetzt die im Gesetzentwurf der
SPD als Regelbeispiel ausgestalteten Strafzumessungsgründe bei der Strafzumessung tatsächlich berücksichtigt, ohne dass sie ausdrücklich festgeschrieben sind.
Das geschieht auch in der Praxis so.
({1})
Wenn die juristische Literatur dazu sehr dünn erscheint,
dann ist dies meines Erachtens ein Umstand, der dafür
spricht, dass dies in der Praxis so gehandhabt wird,
({2})
weil diese Dinge überhaupt nicht mehr in der Diskussion
stehen.
({3})
Es ist unstreitig so, dass dies bei der Strafzumessung zu
berücksichtigen ist. Das heißt vor allem eines: Eine zu
schließende Lücke gibt es nicht. Das, was durch den
Gesetzentwurf geregelt werden soll, ist bereits geltendes
Recht. Insofern rutscht die Regelung in einen Bereich, in
dem man ihr im Wesentlichen Symbolcharakter zusprechen kann.
({4})
Symbolische Gesetze mögen gelegentlich ihre Berechtigung haben, insbesondere dann, wenn dadurch
Werte und Einstellungen bekräftigt werden. Gleichwohl
sollte man mit symbolischen Gesetzen aber sehr vorsichtig und zurückhaltend umgehen. Sonst sieht man irgendwann vor lauter Symbolen das Wesentliche nicht mehr.
({5})
Daher sollten wir im weiteren Verfahren genau prüfen
und beraten, ob es wirklich Sinn macht, etwas, das bereits geltendes Recht ist - und das vollkommen unbestritten -, nochmals ausdrücklich zu erwähnen.
({6})
Zur zweiten Frage: Wie gehen wir in diesem Zusammenhang mit jugendlichen Tätern um? Viele Hasstaten
werden von jüngeren Tätern begangen. Oftmals sind die
U-Bahn- oder S-Bahn-Schläger diejenigen, die Taten aus
rechts- oder linksextremistischer Gesinnung verüben,
und diejenigen, die aus Frust und Hass gegen Ausländer
oder als Ausländer gegen Deutsche gewalttätig werden,
Jugendliche oder Heranwachsende. Sie sind dann nach
dem Jugendstrafrecht zu beurteilen. § 18 Abs. 1 Satz 3
des Jugendgerichtsgesetzes regelt aber ausdrücklich,
dass der Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts für das
Jugendstrafrecht gerade nicht gilt. In Abs. 2 des § 18
JGG wird im Hinblick auf die Strafzumessung bestimmt:
Die Jugendstrafe ist so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist.
Natürlich sind im Hinblick auf die erzieherische Einwirkung im Jugendstrafrecht schon jetzt die Gesinnung,
die Ziele und die Motivation des jugendlichen bzw. heranwachsenden Täters zu berücksichtigen. Es ist einzubeziehen, ob das Handeln des Täters grausam, gewissenlos, roh oder anders brutal war. Hier gilt im Grunde
genommen das Gleiche wie schon heute mit Blick auf
§ 46 des Strafgesetzbuches. Eine unmittelbare Anwendung von § 46 des Strafgesetzbuches ist im Jugendstrafrecht aber nicht möglich.
Wenn wir zu der Überzeugung gelangen sollten, dass
die unter die Hasskriminalität fallenden Ziele eines Täters bei der Strafzumessung in § 46 des Strafgesetzbuches ausdrücklich erwähnt werden sollen, dann
müsste aus meiner Sicht auch die Brücke zum Jugendstrafrecht geschlagen werden. Ansonsten erzeugen wir
nämlich eine so sicherlich nicht gewollte Asymmetrie,
möglicherweise sogar mit negativen Auswirkungen auf
die Berücksichtigung dieser Ziele im Jugendstrafrecht.
Hier ist für die weitere Beratung meiner Ansicht nach
besondere Aufmerksamkeit geboten. Denn gerade im
Hinblick auf den Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts ist es notwendig, den besonderen Unrechtsgehalt
der Hasskriminalität zu berücksichtigen.
Schließlich stellt sich drittens die Frage, ob es ausreicht, die Regelbeispiele nur bei der Strafzumessung in
§ 46 Abs. 2 des Strafgesetzbuches ins Sanktionensystem
aufzunehmen. Meines Erachtens müsste die Aufnahme
der Regelbeispiele für Hasskriminalität dann nicht nur
bei der Strafbemessung in § 46 Abs. 2, sondern konsequenterweise auch in den Vorschriften der §§ 47 und 56
des Strafgesetzbuches vorgenommen werden. Das sind
übrigens Überlegungen, die der Bundesrat in der letzten
Wahlperiode in seinem Gesetzentwurf zu diesem Thema
aufgegriffen hat. Im vorliegenden Gesetzentwurf der
SPD sind sie aber nicht mehr enthalten.
In diesem Zusammenhang ist auch zu erörtern, ob der
Gesetzentwurf nicht insgesamt zu kurz greift, weil man
mit ihm in erster Linie die extremistisch motivierte Gewaltkriminalität schärfer bestrafen will. Hier stellt sich
die Frage, ob nicht auch über den normalen Unrechtsgehalt der Gewaltkriminalität hinausgehende brutale Übergriffe aus purer Lust an Quälerei und Gewalt, aus undifferenziertem Hass, der sich nicht konkretisieren lässt,
oder gegen Menschen, die nicht ihres Andersseins wegen, sondern nur wegen ihrer zufälligen Anwesenheit
Opfer werden, erfasst werden müssen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Der Gesetzentwurf der SPD wirft eine ganze Reihe von Fragen
auf. Wir wollen uns dem Anliegen nicht grundsätzlich
verschließen, aber wir müssen sorgsam abwägen und
überlegen: Ist die symbolische Erwähnung bereits unbestritten geltenden Rechts den Preis systematischer Unsicherheit wert?
({8})
Mein Eindruck ist: So lobenswert das Grundanliegen
auch ist, hier sollten wir doch sehr vorsichtig sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Raju Sharma hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass das Thema „Rechtsradikale Gewalttaten“
im Parlament weiterhin eine Rolle spielt. Dazu trägt
auch dieser Gesetzentwurf bei.
In der Sache ist der Gesetzentwurf der SPD aber leider auch nicht viel mehr als ein Schaufenstergesetzentwurf. Schon jetzt - das ist auch schon gesagt worden bietet das Strafgesetzbuch die Möglichkeit, die Ziele des
Täters bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.
({0})
Daran würde sich auch mit einem solchen Gesetz nichts
ändern.
Im Gesetzentwurf der SPD ist die Rede von rassistischen, fremdenfeindlichen Motiven. Was ist aber mit
Straftaten gegen Homosexuelle und gegen Obdachlose,
was ist mit antisemitischen Straftaten? Sie sind hier nicht
erfasst. Insofern greift der Gesetzentwurf zu kurz.
Aus der Sicht der Linken würde der Gesetzentwurf
aber auch dann nicht besser, wenn Sie die Aufzählung
der menschenverachtenden Beweggründe verlängern
würden; denn egal, ob ich einem deutschen Rentner oder
einem Polizisten mit Migrationshintergrund den Schädel
einschlage: Solche Gewalttaten wären immer menschenverachtend. Hier ergibt eine Differenzierung keinen
Sinn.
({1})
Der Gesetzentwurf berührt das eigentliche Problem
nicht. CDU, CSU, FDP und, wo sie mitregiert, leider
auch die SPD unterlassen es nicht nur, das Richtige zu
tun, sie tun oft auch noch das Falsche. Sie tragen dazu
bei, dass rechte Gewalt ignoriert, verharmlost und verniedlicht wird.
Ich habe zwei Wahlkreisbüros in Schleswig-Holstein,
eines davon im schönen Eutin. Dieses Büro war in den
vergangenen Jahren insgesamt neun Mal das Ziel rechts18254
radikaler Anschläge. Der politische Hintergrund liegt auf
der Hand. Einer der ersten Anschläge fand statt, als dort
unmittelbar danach der Runde Tisch gegen Faschismus
tagen sollte. Für die Polizei war der politische Hintergrund aber erst in dem Moment ein Thema, als das BKA
auf Veranlassung des Bundestagspräsidenten intervenierte. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an
Herrn Lammert.
Bei den Büros meiner Kollegen aus der Landtagsfraktion der Linken in Schleswig-Holstein, Ellen Streitbörger
und Heinz-Werner Jezewski, stehen Bundestag und
BKA nicht auf der Matte, wohl aber die Nazis mit ihren
Attacken. Diese Anschläge werden von der Polizei wie
jede andere Sachbeschädigung behandelt. Hier schauen
die Behörden weg. Das Gegenteil wäre richtig.
Wie lösen wir nun das Problem? Was den Antifaschismus angeht, gab es über lange Zeit einen breiten
gesellschaftlichen Konsens, der auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Schwur von Buchenwald zurückging - ich zitiere -:
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln
ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des
Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
({2})
Alle sollten sich hinter diesem Schwur versammeln.
Was passiert aber in Wirklichkeit? In Sachsen werden
- geduldet durch die SPD - diejenigen kriminalisiert und
verfolgt, die sich in Dresden und anderswo den Nazis in
den Weg stellen. Um nur einige zu nennen: Willi van
Ooyen, Bodo Ramelow, Lothar König. In einem merkwürdigen Werbevideo versteigt sich der sächsische Innenminister Markus Ulbig mit Blick auf rechte Gewalttaten zu der Aussage - ich zitiere wieder -: „Antifaschismus ist nicht die richtige Antwort …“.
({3})
Nicht? Was denn dann?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn
Sie etwas Sinnvolles gegen rechte Gewalt und zur Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements tun wollen, dann distanzieren Sie sich von dieser ungeheuerlichen Aussage Ihres Koalitionspartners.
({4})
Oder noch besser: Fordern Sie ihn auf, die Opfer des
Faschismus für diesen Satz um Entschuldigung zu
bitten.
Auch die Bundesregierung könnte etwas tun. Nehmen
Sie endlich diese beschämende Extremismusklausel
zurück.
({5})
Hören Sie auf, die Menschen einzuschüchtern, auf deren
bürgerschaftliches Engagement wir dringend angewiesen sind.
Noch einmal zum Gesetzentwurf: Er ist gut gemeint,
aber letztlich doch nicht gut gemacht. Solange der Verdacht besteht, dass V-Leute das Rückgrat der NPD bilden, und solange Gewalttaten der Nazis ignoriert oder
verharmlost werden, muss ein Gesetz, das strengere
Strafen vorsieht, ins Leere laufen, und es öffnet zugleich
dem Missbrauch Tür und Tor. Die Linke lehnt das ab.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Lischka, die Ansicht, die Sie zum Tatbestand vorgetragen haben, wird von mir voll geteilt. Auch
die Konsequenzen, die Sie fordern, sehe ich genauso wie
Sie. Ich glaube, die bisherige Debatte hat gezeigt, dass
wir insgesamt das Gefühl haben, dass es in Deutschland
keine Situation geben darf, in der rechtsradikale Straftäter ihre Straftaten ohne Konsequenzen begehen können.
Ich bin sehr überrascht, Herr Kollege Sharma, dass
Sie den Eindruck erwecken, als ob die Polizei in irgendeinem Bundesland, egal wer dort Innenminister ist,
die Strafverfolgung nicht in ordnungsgemäßer Weise
durchführen würde. Ich selbst bin wahrscheinlich der
Einzige hier, der praktisch sein gesamtes Arbeitsleben in
der Justiz in entsprechenden Abteilungen tätig gewesen
ist, auch in einer Staatsschutzabteilung. Von daher weiß
ich, dass die Unterlagen zu diesen Straftaten immer in
den entsprechenden Spezialabteilungen der Staatsanwaltschaften landen. Daher kennen diese ihre Leute.
Das führt beispielsweise bei der Strafzumessung zu
den entsprechenden und, wie ich finde, notwendigen
Konsequenzen. Dazu bedarf es keiner Änderung des
§ 46 des Strafgesetzbuches, sondern das ist etwas, was
immer Gegenstand der Rechtsprechung in unserem Land
gewesen ist. Zu Recht berücksichtigt die Justiz, welche
Beweggründe den Täter zu seiner Tat veranlasst haben.
({0})
Ich bin deshalb Ihnen, Herr Sharma, dankbar, dass Sie
deutlich gemacht haben, welche Gefahren drohen, wenn
wir einige wenige Dinge besonders hervorheben. Andere
Taten, die übrigens auch von Rechtsradikalen bzw. von
Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung begangen werden - Sie haben Beispiele angeführt -, sind in gleicher
Weise verachtenswert und erfordern eine entsprechende
strafrechtliche Konsequenz.
Ich empfehle uns dringend, den Weg, den die SPD
vorschlägt, nicht zu gehen. Der Kollege Heveling war da
milder. Ich sage ganz klar und eindeutig: Wir sollten diesen Weg nicht gehen. Ich glaube, dass wir damit niemandem helfen, sondern ganz im Gegenteil sogar eher Schaden hervorrufen. Sie haben dafür Beispiele genannt,
Herr Kollege Sharma. Ich denke, das spricht uns nicht
frei, andere Gedanken, andere Überlegungen anzustellen, wie wir mit diesem Problem besser fertig werden.
Meine Beobachtung aus der Tätigkeit beispielsweise
in der Staatsschutzabteilung ist, dass die Verfahren zum
Teil viel zu lange dauern. Viel besser als irgendeine Änderung am § 46 StGB ist nach meiner Auffassung eine
klare, schnelle und eindeutige Antwort der Justiz auf ein
Fehlverhalten.
({1})
Damit wird dem Täter deutlich, dass wir nicht bereit
sind, so etwas zu akzeptieren.
Je länger die Verfahren dauern, desto mehr hat der Täter Gelegenheit, sich Gründe zu überlegen, warum die
Tat eigentlich gar nicht so schlimm war. Je länger die Taten zurückliegen, desto größer ist die Bereitschaft, vielleicht zu einem milderen Urteil zu kommen als unmittelbar nach der Tat, wenn zum Beispiel die Auswirkungen
auf das Opfer für alle, die eine angemessene Strafe festzusetzen haben, deutlich sichtbar sind.
Mein Plädoyer ist daher, nicht die Hände in den
Schoß zu legen, aber diesen Weg, Änderung des § 46
StGB, nicht zu gehen. Die Begründung dafür haben Sie
in Ihrem Gesetzentwurf selbst gegeben. Sie haben auf
die Frage, was als Konsequenz aus dieser Änderung zu
erwarten ist, richtigerweise selbst geantwortet: Das kann
man nicht abschätzen, weil die Justiz unabhängig ist.
- Genauso ist es. Das heißt also, Sie wissen selbst, dass
es keine wirkliche Änderung gibt.
Deshalb meine Empfehlung: Das, was Sie vorschlagen, sollten wir nicht weiter verfolgen. Aber wir sollten
uns gemeinsam Gedanken machen, dass wir unsere
Hausaufgaben - das haben die Taten der NeonaziGruppe gezeigt -, die wir ohne Zweifel haben, schnellstmöglich erledigen.
Vielen Dank.
({2})
Jerzy Montag spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns alle hat Anfang November das Entsetzen gepackt,
als uns bewusst wurde, dass es wirklich möglich und
dass es Realität war, dass rechtsterroristische Täter in
Deutschland länger als ein Jahrzehnt morden und rauben
konnten. Ich sage Ihnen: Dieses Entsetzen hält jedenfalls
bei mir - ich glaube, bei uns allen - weiterhin an.
Vorletzte Woche war die Witwe eines der ermordeten
Opfer aus München zu einem Gespräch bei mir im
Wahlkreisbüro. Was mir diese Frau über die Behandlung
durch die örtliche Polizei erzählt hat, war für mich ein
Signal. Wir stehen heute und auch in der Zukunft in der
Schuld der Hinterbliebenen und auch der Familienangehörigen.
({0})
Deswegen sind wir alle gefordert - das ist auch von vielen an dieser Stelle gesagt worden -, alles auf den Prüfstand zu stellen, um zu sehen, wo es Mängel und Lücken
gibt und wo wir die Praxis und auch das Recht verbessern können.
Deswegen sage ich in Richtung der Kolleginnen und
Kollegen der SPD: Im Grundsatz ist es richtig, dass wir
uns darüber Gedanken machen, ob wir im Strafgesetzbuch etwas ändern müssen. Aber - auch darüber wurde
an anderer Stelle im gleichen Zusammenhang schon gesprochen - wir müssen uns bei der Abwehr des Rechtsterrorismus und der rechtsradikalen Gewalt, die es in
Deutschland seit vielen Jahren gibt, vor Doppelstandards
hüten. Wir als verantwortliche Politiker in einem Rechtsstaat müssen nicht irgendetwas, sondern das Richtige
tun.
({1})
Da habe ich Bedenken, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, weil mich Ihr Vorschlag nicht überzeugt.
Wenn überhaupt, dann setzt er am Ende einer Kette an.
Sie sprechen in Ihrem Gesetzentwurf von 762 Fällen pro
Jahr. Tatsächlich sind es viele Zehntausende. Die Kriminologen sprechen von über 100 000 inklusive der Dunkelziffer.
Warum kommen diese Fälle bei der Justiz nicht an?
Es gibt eine riesige Dunkelziffer. Das hängt damit zusammen, dass sich viele Opfer scheuen, Anzeige zu erstatten.
({2})
- Ja, das ist die zweite Stufe. Da müssen wir ansetzen:
bei der Polizei. 2001 hat die Innenministerkonferenz der
Polizei den Auftrag erteilt, dass in allen Fällen die politische Motivation festzustellen ist. Das betrifft alle Umstände der Tat, die politische Einstellung, Nationalität,
Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft und sexuelle Orientierung. Alle
diese Motive der Täter sind von der Polizei dingfest zu
machen und als politisch motivierte Kriminalität festzuhalten - und dann werden, wie Sie schreiben, 762 Fälle
in ganz Deutschland ausgewiesen. Da müssen wir ansetzen: bei der Schulung der Polizei und bei den Ermittlungen. Das ist wichtig.
({3})
- Ja, aber das sind nicht Ihre Vorschläge.
({4})
Die nächste Stufe liegt bei der Staatsanwaltschaft.
Das ist sicherlich kein großes Problem, aber es ist eines.
Ich bin der Meinung, dass bei hassmotivierten und vorurteilsbehafteten Straftaten immer ein öffentliches Inte18256
resse zu bejahen ist. Aber so etwas gibt es nicht in den
RiStBV. Es gibt keine Anleitung für die Staatsanwaltschaften, das öffentliche Interesse ausnahmslos zu bejahen. Da müssen wir hinkommen.
({5})
Stattdessen gehen Sie an das Ende der Kette und wollen dem Richter etwas ins Gesetz schreiben, das schon
im Gesetz steht. Sie selber haben in Ihrem Gesetzentwurf geschrieben, dass das, was Sie vorschlagen, eigentlich nicht nötig ist. Aber Sie wollen, dass es noch einmal
schriftlich festgehalten wird.
({6})
Herr Montag, Sie müssten schon zum Ende gekommen sein.
Ich komme zum Schluss. - Wir müssen jetzt erst in
der rechtspolitischen Debatte über Ihren Vorschlag diskutieren. Das werden wir im Rechtsausschuss tun. Lasst
uns nach den richtigen Argumenten greifen und die richtigen Handlungen wählen, statt hier so etwas zu diskutieren. Auch ich muss Ihnen sagen: Ihr Gesetzentwurf ist
leider Gottes ein Schaufensterantrag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8131 an die Ausschüsse vorge-
schlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Haben Sie
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
verfahren wir so.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Erwin Rüddel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Altersbilder positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen
- Drucksache 17/8345 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland - Altersbilder in der Gesellschaft
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 17/3815 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann Kues.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herbstgold ist der Titel eines wunderbaren Dokumentarfilms, den das Bundesfamilienministerium vor einiger Zeit unterstützt hat. Es geht darin um fünf alte
Menschen, die sich für die Senioren-Leichtathletikweltmeisterschaften qualifizieren wollen. Der älteste Teilnehmer geht im Alter von 100 Jahren nach einer HüftOP am Rollator an den Start, und zwar als Diskuswerfer.
Lebensfreude, Optimismus, Humor und Abenteuerlust,
das alles strahlen die betagten Sportler aus.
In einer Gesellschaft, in der jeder alt werden will,
aber niemand alt sein will, ist es leider nicht selbstverständlich, im Alter das Herbstgold zu sehen. Zumeist
denken wir als Erstes an Falten, Krankheit und Gebrechen, wenn vom Altsein die Rede ist. Der Sechste Altenbericht, über den wir heute diskutieren, räumt mit solchen Klischees auf. Er zeigt, dass die vorherrschenden
Altersbilder in unserer Gesellschaft der Vielfalt der Lebensphase „Alter“ nicht gerecht werden und dass wir
dem Potenzial älterer Menschen, dem Herbstgold, noch
viel zu wenig Beachtung schenken. Die Sachverständigenkommission hat mit diesem Bericht wichtige Grundlagenarbeit für die Gesellschaftspolitik in Zeiten des demografischen Wandels geleistet. Ich bedanke mich bei
allen Mitgliedern der Kommission, insbesondere bei ihrem Vorsitzenden, Herrn Professor Kruse.
({0})
Eine alternde Gesellschaft braucht facettenreiche Bilder vom Alter, Bilder, die zeigen, dass die steigende
Zahl älterer Menschen in unserer Gesellschaft nicht nur
eine Herausforderung, sondern auch eine große Chance
ist. Wir brauchen ihre Erfahrung und ihre Tatkraft in den
Familien, in der Arbeitswelt und im Ehrenamt. Das unterstreicht der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen. Diese Überlegungen fließen auch in die Demografiestrategie der Bundesregierung ein, die im Moment unter
Federführung des Innenministeriums erarbeitet wird.
Die Lebensphase „Alter“ spielt dabei in doppelter
Hinsicht eine zentrale Rolle: zum einen als Lebensphase,
in der Menschen auf Hilfe und Fürsorge angewiesen
sind, zum anderen als Lebensphase, in der Menschen
viel zu geben haben und sich engagieren wollen. Das
stellt letztlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor
neue Herausforderungen. Die Älteren sind dabei nicht
das Problem, sondern die Lösung.
Was für unsere Gesellschaft vielfach noch Zukunftsmusik ist, ist ja in der Familie längst gelebter Alltag. Alt
und Jung sind füreinander da. Auf Oma und Opa ist in
den meisten Fällen Verlass, sie nehmen sich gerne Zeit.
Aus dem Deutschen Alterssurvey wissen wir: Für drei
von vier Personen ist es wichtig oder sogar sehr wichtig,
Großmutter oder Großvater zu sein. Ältere wollen die
Enkelkinder auf ihrem Weg ins Leben begleiten. Sie unterstützen damit ihre eigenen, häufig berufstätigen Kinder. Wenn die Enkelin Windpocken hat oder das künftige
Kinderzimmer des Enkels renoviert werden muss, dann
funktioniert der Zusammenhalt in der Familie, und zwar
egal ob man Tür an Tür wohnt oder Hunderte Kilometer
voneinander entfernt lebt. Umgekehrt können die meisten alten Menschen auf ihre Angehörigen zählen, wenn
sie pflegebedürftig werden. Genau das ist der familiäre
Zusammenhalt zwischen den Generationen, den wir uns
für unsere Gesellschaft generell nur wünschen können.
({1})
Menschen, die sich aufeinander verlassen können und
die füreinander Verantwortung übernehmen.
Mit der Familienpflegezeit, die seit dem 1. Januar
2012 die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege erleichtert,
stützen wir Familie als Verantwortungsgemeinschaft.
Entgegen allen Vermutungen und Vorhersagen ist es so,
dass diese gesetzliche Regelung von vielen Betrieben
angenommen wird. Insofern haben wir hier tatsächlich
eine Lösung für einen erheblichen Teil der Bevölkerung
hinbekommen. Wir tragen damit nicht nur der stetig steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen Rechnung,
sondern mit diesem Konzept stärken wir auch den Zusammenhalt zwischen den Generationen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir der Vielfalt der
Lebensphase Alter, so wie wir sie in den Familien längst
erleben, auch in unserer Gesellschaft Raum geben müssen. Dazu soll das Europäische Jahr für aktives Altern
und Solidarität zwischen den Generationen dienen, das
am 6. Februar mit einer offiziellen Auftaktveranstaltung
beginnt. Wenn wir es schaffen, Strukturen hinzubekommen, die die Fähigkeiten und Stärken der älteren Menschen zur Geltung bringen, dann ist das ein Gewinn für
die ganze Gesellschaft.
Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Wir haben den
neuen Bundesfreiwilligendienst in Deutschland sehr bewusst auch für Seniorinnen und Senioren geöffnet. Es ist
eine absolute Erfolgsgeschichte, um das ganz deutlich zu
sagen.
({2})
Dazu gab es anfangs eine sehr kritische Diskussion.
Das begann damit, dass vermutet wurde, man würde
überhaupt keine Freiwilligen bekommen. Die Menschen
haben solche Einschätzungen Lügen gestraft. Wir haben
Freiwillige. Die Zahl der Verträge steigt von Woche zu
Woche. Wir haben jetzt eher das Problem, dass wir uns
fragen müssen: Wie viel soll der Staat Jahr für Jahr fördern? Wie geht er damit um?
Rund 28 000 Verträge sind seit Juli geschlossen worden, darunter auch viele mit älteren Menschen. Dabei
sind einige über 75 Jahre. Die älteste Teilnehmerin, die
ich kenne, ist 83 und kommt zufällig aus meinem Wahlkreis.
({3})
Sie hat gesagt: Ich helfe bei der Tafel mit; wenn ich den
ganzen Tag zu Hause sitze, bekomme ich nur einen steifen Rücken. - Das sind positive Beispiele; daran sollten
wir weiter arbeiten.
Auch der große Erfolg der Mehrgenerationenhäuser
zeigt letztlich, welche Dynamik passende Engagementangebote für die ältere Generation entfalten können. Wir
haben deswegen das Folgeprogramm „Mehrgenerationenhäuser II“ aufgelegt, das zum Jahresanfang gestartet
ist. Auch das sind attraktive Angebote für Menschen, die
Zeit haben, um Verantwortung zu übernehmen. Es sind
gerade die jungen Alten, die nicht daran denken, sich im
Ruhestand zur Ruhe zu setzen. Wir hoffen, dass diese
Strukturen sich weiterentwickeln, auch über die Angebote und die Anreize des Bundes hinaus.
Im Übrigen gilt auch heute noch, was der königlich
preußische Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland schon
vor 200 Jahren gesagt hat: Alter ist nichts für Feiglinge.
- Gerade deshalb braucht eine Gesellschaft des langen
Lebens Altersbilder, die deutlich machen: Alter ist etwas
für Leute, die ihren Schatz an Erfahrungen, Wissen und
Fähigkeiten mit anderen teilen wollen. Ich bin jedenfalls
fest davon überzeugt: Kaum etwas hält so jung wie das
Gefühl, gebraucht zu werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Petra Crone von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Meine Herren und Damen! Tina Turner rockt mit
72 Jahren auf den Brettern dieser Welt. Helmut Schmidt
hält mit fast 93 Jahren eine ganz große historische europäische Rede.
({0})
Einige Ältere sollen ja auch hier im Bundestag sitzen.
Viele ältere Menschen engagieren sich im kulturellen,
sozialen und sportlichen Bereich. Andere wiederum sind
schon mit 60 oder Mitte 60 gebrechlich, ziehen sich ins
Private zurück und sind einsam. Alte Menschen sind
eben nicht alle gleich. Sie haben unterschiedliche Lebensgeschichten, unterschiedliche Lebensmuster und
sind in unterschiedlichen Lebenslagen. Allein schon aus
diesem Grund ist es wichtig, keine Stereotypen über das
Alter zu verbreiten.
({1})
Schon Kleinkinder entwickeln bestimmte Haltungen
zu älteren Menschen. Daran ist natürlich der Fernsehkonsum mit schuld. Die Werbung strotzt nur so von Klischees. Häufig wird der smarte, weltgewandte ältere
Herr für die Werbung für teure Uhren oder noch teurere
Autos herangezogen. Frauen im höheren Alter werden
bevorzugt in die Hausfrauenrolle gedrängt und gern für
die Werbung für magenaufräumende Mittelchen gewählt.
({2})
Unbewusst werden solche Bilder in die Gesellschaft getragen.
Die Wissenschaftler, die am Sechsten Altenbericht
zur Lage der älteren Generation gearbeitet haben, beschreiben uns eine sehr große Vielfalt, die es nun wirklich nicht verdient, über einen Kamm geschoren zu werden,
({3})
eine Vielfalt, wie es sie auch in allen anderen Bevölkerungsgruppen gibt - mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Leben, Alltag, Familie und Freizeitgestaltung. Leider wird viel zu oft davon gesprochen, was
Ältere nicht mehr können und welche Macken sie haben.
Diese Diskriminierung muss endlich aufhören. Stattdessen müssen wir viel stärker die Potenziale und Stärken
hervorheben.
Der Sechste Altenbericht sollte uns sensibilisieren,
auf die Bilder, die wir und die gesamte Gesellschaft vom
Alter haben, achtzugeben. Das ist geschehen; denn wir
diskutieren gerade darüber - in Fachkreisen. Mir persönlich fehlt dabei aber die Handlungsempfehlung an uns
Politiker, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen
wir für größeres Verständnis zwischen den Generationen
sorgen können. Es gibt viele Punkte, die besonders von
schlechten Altersbildern besetzt sind und an denen wir
ansetzen müssen. Ich denke dabei an den Umgang vieler
Banken und Versicherungen mit Älteren, und ich denke
an die gesundheitliche Versorgung oder an die Rentendiskussion.
Noch gelingt es uns nicht, ein differenziertes Bild vom
Alter zu schaffen. Die Ansätze, die im Fünften wie auch
im Sechsten Altenbericht genannt werden - Prävention
stärken, lebensbegleitendes Lernen fördern und ehrenamtliches Engagement angemessen wertschätzen -, sind
wichtig, so wichtig, dass wir für alle Bereiche flexible
Angebote für die älteren Menschen in unserem Land bereithalten müssen. Hierbei hat die Bundesregierung noch
Defizite, Herr Staatssekretär. Sie kürzt und streicht und
verlagert permanent von staatlicher Fürsorge auf - auch
aufgezwungene - Freiwilligkeit.
({4})
Das ist das Gegenteil von Flexibilität und Passgenauigkeit. Wir erwarten wirklich nicht, dass Ältere an die
Hand genommen werden - das brauchen und wollen sie
auch gar nicht -, aber eine Stütze und Begleitung und
Anregung bei all der Vielfalt der Angebote sollte durchaus staatlicher Auftrag sein.
Bereits in der Aussprache zu unserem Antrag „Potenziale des Alters und des Alterns stärken“ aus dem Jahr
2010 habe ich Frau Ministerin Schröder aufgefordert,
die Anregungen aus der Wissenschaft aus dem Sechsten
Altenbericht in konkrete politische Programmatik umzusetzen. Leider ist bis heute überhaupt nichts geschehen,
und darum finde ich es absolut gut, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Regierungsfraktionen, dass Sie der
SPD-Bundestagsfraktion den Rücken stärken und heute
mit Ihrem Antrag auch einen Versuch in diese Richtung
starten. Sie haben sogar den Titel fast wörtlich übernommen, der sich allerdings mehr auf den Fünften als auf
den heute zu debattierenden Sechsten Altenbericht bezieht. Sie wollen unter anderem die Kommunen für eine
gute Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement in
die Pflicht nehmen. Das ist nicht falsch. Leider sind die
wenigsten finanziell dazu in der Lage, eine Infrastruktur
zu schaffen, die den lokalen Gegebenheiten entspricht.
Meine nächste kritische Anmerkung. Der von Ihnen
beschriebene Eintritt in die Rente ist nicht wirklich flexibel. Zu wenige Menschen sind in der Lage, überhaupt
bis zur Regelaltersgrenze zu arbeiten, und darüber müssen wir noch sprechen.
({5})
Ihre Lösung ist aber, den Unternehmen die Investition
in Weiterbildung für Menschen ab 40 als Hausaufgabe
zu verpassen und jeden individuell für seine Gesundheit
in die Verantwortung zu nehmen. Wo bleiben die Anreize? Ja, ja, Wachstum soll sichergestellt werden. Wie
entlarvend! Die Politik solle sich darum bemühen, die
Potenziale und Ressourcen der zweiten Lebenshälfte zu
aktivieren - so Ihr Antrag. Vielen Dank für dieses anschauliche Beispiel der Nutzung demografischer Veränderungen für Ihre Wirtschaftspolitik. Nicht in erster Linie um Menschen und ihr positives Bild voneinander
geht es Ihnen, sondern um den volkswirtschaftlichen Ertrag, der daraus gezogen werden kann. Eindeutig die
Handschrift der FDP!
Weiter fordern Sie die Bundesregierung auf, Barrierefreiheit zu schaffen und gleichzeitig Assistenz- und
Hausnotrufsysteme zu fördern. Skeptisch sind Sie aber
gegenüber dem Programm „Altersgerecht umbauen“.
Das ist doch viel wichtiger. Was nutzt mir denn der beste
Hausnotruf, wenn ich aufgrund nicht zu überwindender
Treppen nur noch selten Tageslicht zu sehen bekomme?
Das ist keine weitsichtige Politik, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Sie sprechen von Prävention. Gut, das tun wir auch,
das tut die SPD-Bundestagsfraktion übrigens schon seit
Jahren.
Sie fordern außerdem ganz richtig, den Pflegebedürftigkeitsbegriff zu modernisieren und die Pflegeausbildungen zu reformieren. Diese Reform ist seit Monaten
überfällig. Das Jahr der Pflege ist verstrichen, und nun
muss sich die Bundesregierung gefallen lassen, von ihren eigenen Koalitionsfraktionen zum Handeln ermahnt
zu werden. Die Modernisierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs soll angeblich schon gar nicht mehr in dieser Legislaturperiode kommen. Hier stimmt in der Zusammenarbeit wirklich überhaupt nichts mehr.
Ich bin skeptisch, ob Sie mit Ihren Appellen und Prüfaufträgen die Ministerin aus ihrem Winterschlaf holen
können. Wünschenswert wäre es.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei
der internationalen Seniorenkonferenz des Familienministeriums hat kürzlich die amerikanische Psychologin
Becca Levy über eine Studie berichtet, in der sie Männer
und Frauen befragte, welche Altersbilder sie mit Älteren
verbinden. Häufig genannt wurden langsames Gehen,
Senilsein, Demenz, körperliche Beeinträchtigungen.
Dann untersuchte die Professorin der Yale-Universität
den Effekt negativer Altersbilder. Ich zitiere Frau Levy:
Wenn wir Menschen mit negativen Stereotypen
konfrontiert haben, konnten wir sehen, dass sich ältere Teilnehmer daran anpassten: Gedächtnisleistungen nahmen ab, sie neigten dazu, langsamer zu
gehen, und reagierten schneller mit Herzbeschwerden auf Stress. Wenn wir die Leute aber positiven
Bildern aussetzten, konnten wir auch die umgekehrte Wirkung beobachten …
Am beeindruckendsten ist, dass ein positives Bild vom
Altern mit durchschnittlich sieben Jahren mehr Lebenszeit verbunden ist.
Mit dem Sechsten Altenbericht haben die Verfasser
wichtige Weichen für einen Wandel bei uns in Deutschland gestellt. Ich möchte Herrn Professor Kruse und der
Kommission für ihre zum Teil langjährige Arbeit und
ihre wichtigen Ergebnisse danken.
({0})
Ihre Erkenntnisse haben wir in unserem Antrag aufgegriffen.
Die Altersbilder von heute sind anders als die von
gestern. Nie zuvor gab es so aktive Ältere, die weiterhin
aktiv sein wollen, obwohl sie ein Alter erreicht haben, in
dem sie in den wohlverdienten Ruhestand gehen können.
In den Fällen, in denen starre Altersgrenzen Aktivsein
blockieren, wird die Koalition Altersgrenzen überprüfen.
Ich bin sicher, dass wir auf viele verzichten können.
Die EU-Kommission hat 2012 zum Europäischen
Jahr des aktiven Alterns erklärt. Dies ist zu begrüßen.
Die Koalition hat die Relevanz des Alters früh erkannt
und bereits im Koalitionsvertrag eine Demografiestrategie festgeschrieben. Den Wandel in den Köpfen kann die
Politik allein allerdings nicht herbeiführen. Dies ist eine
Aufgabe, an der alle gemeinsam arbeiten müssen. Ich
nenne nur das Stichwort „Generationendialog“. Wir
müssen miteinander im Gespräch bleiben, Junge wie
Alte. Altersbilder haben auch Einfluss darauf, was jüngere Menschen für ihr eigenes Alter erwarten und was
ältere Menschen sich zutrauen und erreichen wollen.
Auch Städte, Länder und Bund müssen eng zusammenarbeiten, um gemeinsam eine Infrastruktur für eine altersgerechte Gesellschaft zu schaffen.
In einer Gesellschaft des langen Lebens stecken
enorme Kräfte. Raum für neue Altersbilder bietet bürgerschaftliches Engagement. Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst, der hier schon angesprochen wurde und
der auch für Ältere offensteht, hat die Koalition schon
einen wichtigen Beitrag geleistet.
({1})
Wir brauchen aber auch ein neues Bild vom alten
Menschen in den Medien. Das Bild von der Großmutter
im Bilderbuch von früher passt nicht mehr. Auch in der
Werbung hat sich herumgesprochen, dass sich das Interesse Älterer nicht auf Haftpulver für dritte Zähne beschränkt. Es hat sich auch herumgesprochen, dass Ältere
eine mächtige Käuferschicht darstellen. Medien haben
eine gewaltige Kraft, die Einstellung der Gesellschaft zu
beeinflussen. Die Prämierung guter Beispiele, die die
Vielfalt der Lebensformen widerspiegeln, ist eine von
vielen Möglichkeiten, ein neues Bild zu forcieren.
Wir brauchen auch einen Wandel im Gesundheitswesen. In einer Zeit des langen Lebens müssen wir erkennen, dass nicht alle Krankheiten eine Alterserscheinung
sind.
Ziel unseres Antrages ist es, verstärkt die Potenziale
der zweiten Lebenshälfte zu aktivieren - und zwar auch
für den Bereich Bildung und Qualifizierung. Lebenslanges Lernen ist selbstverständlich geworden. Ich appelliere an die Unternehmen, in den Erhalt der Arbeitsfähigkeit ihrer älteren Beschäftigten zu investieren.
({2})
Das Recht auf Weiterbildung darf nicht mit 40 Jahren
aufhören.
Zur Generationengerechtigkeit gehört, dass die Lebenszeit nicht mehr starr in drei Phasen, Jugend und
Ausbildung, Erwachsenenalter und Erwerbstätigkeit und
schließlich Ruhestand, gegliedert wird. Mit der steigenden Zahl der Älteren wird wahrscheinlich auch die Zahl
der Menschen mit gesundheitlicher Einschränkung deutlich steigen. Wir alle wissen, dass der Begriff Pflegebedürftigkeit neu definiert werden muss. Ich bin froh
darüber, dass unser Gesundheitsminister Bahr diese
wichtige Herausforderung jetzt konkret annimmt.
({3})
Ein weiterer Punkt unseres Antrags ist die Barrierefreiheit. Wir müssen uns fragen, wie eine Gesellschaft
gestaltet sein muss, damit alle Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt leben können. Barrierefreiheit ist
kein Luxus, sondern muss selbstverständlich sein - und
zwar in allen Lebensbereichen und nicht nur in den eigenen vier Wänden. Ich bin dafür, dass das bewährte KfWProgramm „Wohnen im Alter“ fortgesetzt wird und
moderne Technologien wie zum Beispiel das Hausnotrufsystem und andere Assistenzsysteme stärker vorangetrieben werden.
Barrierefreiheit muss für den Besuch des Rathauses
genauso selbstverständlich sein wie in der Städteplanung, im Straßenverkehr wie im Internet, in der Forschung und in der Ausbildung, in der differenzierte
Altersbilder zu vermitteln sind, die Krankheit und Alter
entkoppeln. Ich bin sicher: Wir sind auf einem guten
Weg zu einer Gesellschaft mit neuen Altersbildern.
Ganz herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heidrun Dittrich von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Im Sechsten Altenbericht geht es um Altersbilder. Mit Altersbildern werden Vorstellungen vom
Alter konstruiert. Warum ist das eigentlich nötig? Weil
die Menschen nun länger arbeiten müssen und erst ab 67
in Rente gehen können, und das muss schöngeredet werden. Der rüstige 75-jährige, vitale, über ausreichend
Geld verfügende Rentner soll zum Vorbild werden. Er ist
der Prototyp des aktiven Alterns. Alle, die von diesem
Bild abweichen, werden nun mit einem negativen
Altersbild belegt. Wer, bitte schön, möchte nicht positiv
dargestellt werden? Damit wird aber die Erfahrung der
Beschäftigten ausgeklammert.
Zum 1. Januar dieses Jahres trat die Rente ab 67 in
Kraft. Jetzt geht das Gespenst der Altersarmut wieder
um. Es wird nicht gesagt, dass jedes Jahr der Verlängerung des Renteneintritts auch eine Rentenkürzung
bedeutet. Frauen, Migranten und Menschen mit Behinderung sind in diesem Altenbericht von vornherein ausgeklammert. Das sind aber gerade diejenigen, die im
Erwerbsleben benachteiligt werden und nur eine Grundsicherung aufbauen können. Für sie besteht längst der
Zwang, nach Erreichen des Rentenalters ihre Rente
durch Zuverdienst aufzubessern, nach dem Motto: Alte
Frau pflegt noch älteren Mann.
Diesen Zwang zur Erwerbstätigkeit über das Rentenalter hinaus möchte die Bundesregierung mit diesem
Altenbericht für alle als positiv verkaufen. Gesellschaftliche Teilhabe soll nur durch Arbeit möglich sein. Genau
damit, mit dieser Verarmung im Alter, diskriminiert die
Bundesregierung die ältere Generation. Dagegen setzt
die Linke das Konzept der solidarischen Mindestrente:
Kein Mensch darf im Alter weniger als 900 Euro Rente
beziehen.
({0})
Bereits im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und
FDP festgeschrieben, dass sie die Altersgrenze überprüfen wollen. Auch die SPD und die Grünen versuchen,
mit dem Freiwilligendienst aller Generationen bis
70 Jahre über die bisherige Altersgrenze hinauszugehen.
In tarifvertraglichen Schutzvorschriften werden den älteren Menschen Leistungsminderungen unterstellt. Das ist
negativ, wie wir gerade gehört haben.
Diese Leistungsminderung ist jedoch Realität. Ist die
Vorstellung von einer Erzieherin im Kindergarten realistisch, die mit 67 Jahren im Sandkasten noch viel Geduld
aufbringt? Nach einer Studie von Verdi glauben 70 Prozent der Erzieherinnen nicht, dass sie gesund ins Rentenalter kommen. Arbeit macht auch krank: durch Hetze,
zu wenig Personal und Lärm. Es ist eine Forderung der
Beschäftigten selbst, gesund durchs Erwerbsleben zu
kommen. Den Gewerkschaften und den Beschäftigten
im Altenbericht ein negatives Altersbild zu unterstellen,
damit sie keine Schutzvorschriften einfordern, geht an
der Realität vorbei.
Viele erreichen doch ihr Rentenalter gar nicht erst.
Fast ein Drittel der Männer des Geburtsjahrgangs 1945,
genauer: 29 Prozent, und 19 Prozent der Frauen dieses
Jahrgangs sind schon gestorben. Im Altenbericht wird
der Vorschlag gemacht, das Rentenalter nicht mehr festzulegen - also auch nicht auf 69 Jahre oder 70 Jahre;
lesen Sie es nach! -, sondern es an die individuelle Leistungsfähigkeit zu knüpfen. Das bedeutet, die Berechtigung zum Renteneintritt wird vom Arzt festgestellt. Sie
muss aber vom Gesetzgeber geregelt werden und darf
nicht in das Ermessen eines einzelnen Arztes gestellt
werden. Malochen bis zum Umfallen lehnt die Linke ab.
({1})
Der demografische Wandel hin zu einer älter werdenden Gesellschaft muss keinen Sozialabbau oder Rentenklau erzwingen. Das Älterwerden ist ein historischer
Fortschritt. Außerdem hat in den letzten 50 Jahren durch
technische Neuerungen ein Produktivitätsfortschritt
stattgefunden. Es wird mehr produziert in kürzerer Zeit
und mit weniger Menschen. Also wäre auch mehr zu
verteilen.
Arbeitszeitverkürzung hilft bei Arbeitslosigkeit, und
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Vollzeit
sichert die Einnahmen der Rentenkasse. Das alles verschweigt der Sechste Altenbericht. Stattdessen haben die
Sachverständigen der Bundesregierung Argumente geliefert, um mit lebenslänglichem Arbeiten ein positives
Altersbild zu verknüpfen. Schließlich sollen die Ansprüche auf Rente aufgegeben werden. Für Hänschen soll es
normal sein, wenn Opa Hans noch mit 80 Jahren arbeitet. Es soll ein Schatz gehoben werden, indem die Potenziale des Alters genutzt werden. Aber es geht nicht um
ein individuelles und selbstbestimmtes Ruhestandsalter,
sondern um das Arbeiten über 67 Jahre hinaus.
Das lehnt die Linke ab und bleibt bei der Forderung:
Weg mit der Rente erst ab 67! Es ist positiv, mit 60 in
Rente gehen zu können.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In einem Bericht der Welt zur aktuellen Studie der
Gesellschaft für Konsumforschung wird Deutschland als
Seniorenrepublik bezeichnet, weil ein Viertel der Haushalte der Generation 60 plus angehören. In einem Leserkommentar war dort zu finden: Die Studie macht Angst.
Die Alten sind auf dem Vormarsch, und die Jüngeren haben immer schlechtere Perspektiven. Das ist Sprengstoff
pur für eine Gesellschaft.
Dies zeigt eindrucksvoll, was viele Menschen in diesem Lande vom Alter und von den Alten denken. Wir
reden immer noch vom Pflegefall. Wir reden von der
Last der älteren Langzeitarbeitslosen in den Statistiken
der Arbeitsagentur. Wir reden einseitig von den Kosten
durch die älter werdende Gesellschaft. Wir reden von
Hilfebedürftigkeit.
Auch dank der sehr guten Altenberichte der Altenberichtskommission wissen wir seit Jahren, dass es einer
aktiven Altenpolitik bedarf, um den gerade geschilderten, schlichtweg diskriminierenden und auch vorurteilsbehafteten Bildern vom Alter entgegenwirken zu können. Eine solche Politik muss quer durch alle
Ministerien gehen. Vor allem aber ist das Ministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefragt. Doch
die Leitung dieses Hauses ist schlichtweg ein Desaster.
({0})
Die altenpolitische Bilanz von Frau Ministerin Schröder
ist extrem schwach. Die Seniorenthematik verkommt zu
einem lästigen Anhängsel ihres Ministeriums. Ein paar
Veranstaltungen zu diesem Thema machen noch keine
Altenpolitik. Das Motto im Ministerium lautet: Wer
nichts macht, macht nichts falsch. Damit mogelt sich die
Ministerin durch ihr Amt.
({1})
In einer Gesellschaft, in der die Menschen erfreulicherweise immer älter werden, brauchen wir eine abgestimmte Politik, eine Politik, die die gesamte Spannweite
des Alterns abdeckt: vom aktiven Alter bis zum Unterstützungsbedarf des Alters.
({2})
Wir brauchen eine demografiesensible Generationenpolitik, an der alle mitwirken und bei der wir inklusiv
denken, über alle Altersgrenzen hinweg. Es wäre die
Aufgabe von Frau Schröder, sich für eine solche Politik
einzusetzen. Doch ihr Handeln, wenn man es denn so
nennen will, erschöpft sich in lustlosen Appellen und
freiwilligen Selbstverpflichtungen. Das entspricht dem
Problemlösungsverständnis der leider heute nicht anwesenden Ministerin.
({3})
Gestaltungsfreudige Politik für Menschen sieht unserer Meinung nach ganz anders aus. Es gibt großen Handlungsbedarf im Bereich der Altenpolitik und der Altersbilder. Bei vielen Dingen gibt es doch kein
Erkenntnisproblem. Wir kennen doch altersdiskriminierende Regelungen, etwa im Ehrenamt. Wir müssen solche Regelungen abschaffen und nicht zum zigsten Male
überprüfen, wie es der Antrag der Union und der FDP
fordert.
({4})
Es gilt, die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes
Leben zu schaffen: beim Wohnen, in der Arbeitswelt, in
der Zivilgesellschaft. Leben über alle Generationen hinweg zu gestalten, das ist doch unsere Aufgabe.
Nicht die Alten sind das Problem, sondern wie über
sie geredet wird und welche politische Ignoranz ihnen
auch im zuständigen Ministerium entgegengebracht
wird.
Vielen Dank.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert Geis von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Unsere Generation, unsere Gesellschaft wird immer älter.
({0})
Aber - und das sagt uns der Sechste Altenbericht - wir
hatten nie eine Generation, die im Alter so fit, so gesund
und auch so vermögend ist - trotz aller Altersarmut, die
nicht verschwiegen werden darf -, wie die jetzt lebende
Altersgeneration. Diese Altersgeneration, verglichen mit
der Generation vor 50, 60 Jahren, hat eine ganz neue
Lebensphase dazugewonnen, eine Lebensphase, in der
sie tatsächlich in der Lage ist, mitzuwirken. Dies hat die
Bundesregierung zweifellos erkannt und handelt auch
danach. Ich weise die entsprechenden Vorwürfe als zu
global und völlig undifferenziert zurück.
({1})
Dies hat nicht nur die Bundesregierung erkannt, sondern auch die Europäische Union, die das Jahr 2012 zum
Jahr des aktiven Alterns und der Solidarität zwischen
den Generationen ausgerufen hat. Das will heißen, dass
es darauf ankommt, dass wir den Alten - ihnen sei der
Ruhestand gegönnt, und ihnen seien auch ihre Aktivität
und ihre Vitalität gegönnt -, die bereit sind, ihre Lebenserfahrung mit einzubringen, die Möglichkeit geben, in
der Gesellschaft und der Wirtschaft teilzuhaben, sodass
sie nicht nur - das sage ich ganz bewusst - auf den
Ruhestand angewiesen sind. Denn viele der älteren Menschen wollen ja noch mitarbeiten. Wir müssen ihnen
diese Mitarbeit auch ermöglichen.
({2})
Wir kennen die Leistungsfähigkeit älterer Menschen,
deren Lebensbogen weit hinausreicht. Wir kennen
Staatsmänner, wir kennen führende Männer aus der
Wirtschaft, aus der Literatur und aus der Kunst.
({3})
- Frauen und Männer. Ich bedanke mich für den Hinweis.
Ich meine, dass wir das noch zu wenig beachten. Wir
sehen das immer noch als Ausnahme an, wo doch in
Wirklichkeit viele ältere Menschen in der Lage sind,
mitzuarbeiten und eine solche Leistung bis ins hohe
Alter hinein zu erbringen.
Herr Kollege Geis, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ilja Seifert von den Linken?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Geis, Sie haben das Europäische Jahr
für aktives Altern angesprochen. Sagen Sie mir doch
bitte: Wo bleibt neben dem Appell, den Sie gerade sehr
vehement vorgetragen haben, das Programm der Regierung, um Menschen im hohen Alter die Möglichkeit zu
verschaffen, teilzuhaben und ihre Erfahrungen einzubringen, zum Beispiel im Ehrenamt? Es kann nicht sein,
dass sie das Geld sozusagen noch selber mitbringen
müssen. Das, was sie leisten, sollen sie wenigstens nicht
auch noch bezahlen müssen.
Wenn ich eine zweite Frage gleich anschließen darf:
Wo bleibt die Initiative der Bundesregierung, auf europäischer Ebene - wir reden ja vom Europäischen Jahr
2012 - die allgemeinverbindliche Antidiskriminierungsrichtlinie zu unterstützen, die endlich auch die Diskriminierung im Alter unter Strafe stellt?
Das habe ich jetzt nicht verstanden. Wenn Sie das
bitte wiederholen könnten?
Auf europäischer Ebene wird immer noch darüber
diskutiert, dass wir eine umfassende Antidiskriminierungsrichtlinie brauchen. Die Bundesregierung ist momentan noch dagegen. Wo bleibt die Initiative vonseiten
Ihrer Regierung, sich für diese umfassende Antidiskriminierungsrichtlinie einzusetzen und sie dann in
Deutschland umzusetzen? Das wäre eine richtige Hilfe
für alte Menschen.
({0})
Zur ersten Frage: Wir haben ja diese großartige Initiative der Mitgestaltung - sie ist vorhin schon vom Parlamentarischen Staatssekretär erwähnt worden - im
Rahmen der Initiative „Freiwilligendienste aller Generationen“. Wir stellen fest, dass nicht nur junge Leute, sondern auch Menschen mittleren Alters sowie ältere Menschen - also Menschen über 65 - bereit sind, hier ihren
Beitrag zu leisten. Was wir fürs Ehrenamt getan haben,
das ist nun wirklich nicht wenig. Das finden Sie in anderen Ländern längst nicht in dem Maße, wie wir es hier in
Deutschland haben.
Zur Frage der Antidiskriminierung: Wenn man im
Strafrecht eine neue Norm schaffen will, dann muss man
einen konkreten Straftatbestand benennen und ihn zum
Ausdruck bringen können. Ich glaube nicht, dass wir
über die bereits vorhandenen Tatbestände hinaus noch
einen weiteren Straftatbestand normieren können.
({0})
- Haben Sie eine Frage?
({1})
Herr Geis beantwortet doch gerade eine Frage. - Bitte
beenden Sie Ihre Antwort, Herr Kollege Geis.
Die Frage habe ich schon beantwortet.
Gut, dann hat der Kollege Beck eine Frage. Möchten
Sie die Frage zulassen?
Ja.
Bitte.
Ich wollte an die Frage des Kollegen Seifert anknüpfen. Es geht übrigens nicht zwingend um eine strafrechtliche Antidiskriminierungsrichtlinie. Bei der Europäischen Kommission gibt es seit längerem einen Entwurf,
der von Deutschland bislang blockiert wird, in dem es
um die Diskriminierung aufgrund des Alters geht. Dieser
Entwurf sieht vor, dass im Zivilrecht der Diskriminierungsschutz aufgrund des Alters ausgeweitet wird auf
das Antidiskriminierungsniveau, das wir bei anderen
Kriterien in den Richtlinien bereits haben, was zum Beispiel Rasse, ethnische Herkunft und Geschlecht anbelangt. Es soll einen einheitlichen Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht geben, beispielsweise beim
Abschluss von Kaufverträgen, Versicherungen und dergleichen. Teilen Sie unsere Auffassung, dass es gut wäre,
wenn die Bundesregierung ihre blockierende Position
hierzu überdenkt? Dann würde die Richtlinie auch zustande kommen.
Man muss bei Antidiskriminierungsformulierungen
im BGB sehr vorsichtig sein, weil man hier zu einer
wirklichen Interessenabwägung kommen muss. Ich
glaube, dass bei dem Antidiskriminierungsgesetz, das
wir haben, unter Umständen nicht alle Interessen gut abgewogen werden können. Da gibt es ganz tückische gegenteilige Beispiele.
Um aber Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube nicht,
dass es notwendig ist, die älteren Menschen mit einem
rechtlichen Antidiskriminierungsschutz zu versehen.
Das ist nicht notwendig, weil es ältere Menschen gibt,
die bereit sind, einzugreifen und die Zukunft mitzugestalten. Ich sehe da keine Notwendigkeit für eine Antidiskriminierungsregelung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich fortfahren. Welches sind nun die Altersbilder? Worauf kommt es dabei an? Welche Vorstellungen haben
wir? Ich glaube, eine Gesellschaft braucht die stille Kraft
des Ordnens, des Festhaltens und des Fortführens. Das
ist Sache der älteren Generation.
Die jüngeren Menschen sind darauf aus, im Bewusstsein ihrer Stärke ihren Beitrag zu leisten, und sie meinen
oft genug, das Leben liege ihnen zu Füßen. Das ist auch
ein richtiges Verständnis. Wir brauchen die Tatkraft und
die Innovationskraft der jungen Menschen, insbesondere
eine Gesellschaft wie die unsere, die gezeichnet ist von
Wirtschaft und Industrie. In der Öffentlichkeit nennt
man unsere Gesellschaft ja auch Wirtschafts- und Industriegesellschaft. Da brauchen wir die Innovationskraft
und die Kreativität junger Leute.
Wir brauchen aber auch das Verständnis der Älteren
für den Fortschritt der Gesellschaft. Wir brauchen die
Älteren, die um die Grenzen wissen, die sie selber schon
erlebt haben, die um die Misshelligkeiten und das Leiden wissen, das auf die Menschen zukommt. Wir brauchen die Menschen, die bereit sind, trotz alledem mit
großer Tatkraft, mit einem starken Realitätssinn und mit
einem Mut, der nicht den Charakter der Kühnheit hat,
mit dem Mut der Entschlossenheit zusammen mit den
jungen Menschen ans Werk zu gehen, um die Zukunft zu
gestalten.
({0})
Wir dürfen aber nicht übersehen, dass wir natürlich
auch Alte haben, die vor dem Altwerden kapitulieren,
die sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen, die menschenscheu und oft sehr eigensinnig werden, die an Besitz festhalten, auch wenn er noch so gering ist, und sich
abkapseln. Diesen Menschen müssen wir entgegenkommen. Da braucht es eine gute Nachbarschaft, da braucht
es gute Institutionen wie Kirchen, da braucht es kommunale Gebietskörperschaften, die sich da viel mehr einfallen lassen müssen, als es derzeit der Fall ist.
Es braucht aber insbesondere die Familien. Es ist gut,
wenn es möglich ist, dass die Familien ihre Eltern zu
sich in die Wohnung nehmen. Aber wir haben viel zu
kleine Wohnungen. Die Enge solcher Wohnungen kann
dann bedrückend werden. Deswegen müssen wir überlegen, ob wir die Eigenheimzulage, die wir 2005 aufgegeben haben, wieder einführen. Ich meine, es ist notwendig, dass wir uns darauf besinnen, dass die Familien
einen ordentlichen Wohnraum brauchen. Das muss der
Staat ermöglichen; er kann es ermöglichen, beispielsweise durch die Einführung einer Eigenheimzulage.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
zur letzten Phase, der Phase, in der die Menschen krank
werden, in der sie rundherum auf Unterstützung und
Pflege angewiesen sind. Hier kommt es entscheidend darauf an, dass in der Gesellschaft so etwas wie Güte entsteht - nicht zu verwechseln mit Gutmütigkeit -, vor allen Dingen im Umfeld dieser Menschen, die ganz und
gar auf fremde Hilfe angewiesen sind, eine Güte, die
Kräfte mobilisieren kann, die von den Betroffenen selbst
ausstrahlen kann, aber auch von den Kräften, die die Betroffenen umgeben, die sich um sie sorgen und ihnen
helfen, die schwierige Situation zu meistern. Wenn es
uns nicht gelingt, diesen Herausforderungen gerecht zu
werden, dann versäumen wir eine wichtige Möglichkeit,
die unter Umständen für unsere Kultur mit entscheidend
ist.
({1})
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8345 und 17/3815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Stefan
Schwartze, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Programme „Schulverweigerung - Die
2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ erhalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hände weg von der Initiative „Jugend stärken“
- Drucksachen 17/6103, 17/6393, 17/8329 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Florian Bernschneider
Ulrich Schneider
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Peter Tauber von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat
steht jetzt eine Debatte über Jugendförderprogramme auf
der Tagesordnung des Deutschen Bundestages; die Opposition fordert deren Erhalt. Nun könnte man sagen: Eigentlich ist die Debatte an dieser Stelle schon beendet;
denn die Programme, die im letzten Jahr ausgelaufen
sind, werden von der christlich-liberalen Koalition fortgeschrieben und mit 80 Millionen Euro finanziert.
({0})
Ich will nicht so vermessen sein, zu sagen, dass das
zum Ritual gehört: Die Opposition muss schimpfen und
fordern, dass etwas, was gut ist, fortgesetzt wird. Die Regierung setzt das dann fort. Die Opposition meckert
noch ein bisschen, weil es nicht ganz so ist, wie sie es
sich wünscht. Am Ende sind aber doch alle zufrieden,
weil das, was sich bewährt hat, fortgesetzt wird. - Wenn
es so ist, könnten wir uns eigentlich die Debatte sparen.
Ich erlaube mir daher, den Blick etwas weiter schweifen zu lassen und über das Thema zu sprechen, worunter
das, was Sie beantragen, zu subsumieren ist, nämlich
eine eigenständige Kinder- und Jugendpolitik; denn hinsichtlich dessen, was wir darunter verstehen und was Sie
darunter verstehen, gibt es bestimmt einige Unterschiede.
Über Kinderrechte haben wir heute schon diskutiert:
über die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur
UN-Kinderrechtskonvention, über das Beschwerderechtsverfahren, das von Deutschland mit auf den Weg
gebracht wurde, auch über die Änderung des Aufenthaltsgesetzes, um die Integration gerade junger Menschen zu erleichtern, und über die Frage, wie mit Flüchtlingskindern umgegangen wird. Sie sagen, hier gebe es
noch Regelungsbedarf. Ich weiß, dass Flüchtlingsorganisationen das Handeln einzelner Landesregierungen explizit loben; auch die hessische Landesregierung wird
für ihren Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen gelobt.
Im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendpolitik
sprechen wir aber auch über die jungen Menschen in
Deutschland. Wir sagen ganz selbstbewusst: Die Bilanz
der christlich-liberalen Koalition der letzten zwei Jahre
kann sich durchaus sehen lassen. Das beginnt mit der Erhöhung des Kindergeldes und setzt sich fort mit der Erhöhung des Unterhaltsvorschusses, der Erhöhung des
BAföG und dem Programm „Frühe Chancen“, im Zuge
dessen wir 4 000 Kitas dabei unterstützen, spezielle
Sprach- und Integrationsförderung zu betreiben. Des
Weiteren ist der KJP zu nennen. Wir sorgen trotz des
Spardiktats der Schuldenbremse dafür, dass die Organisationen in unserem Land weiterhin intensive und gute
Kinder- und Jugendarbeit machen können. Ich nenne
auch das Gesetz zu Kinderlärm - für uns ist das kein
Lärm, sondern Zukunftsmusik - und das Kinderschutzgesetz, das, nachdem Sie endlich Ihre Bedenken über
Bord geworfen haben, im Bundesrat beschlossen worden
ist. Nicht zuletzt ist auch der Ausbau der Jugendfreiwilligendienste zu erwähnen. Sie hatten immer schöne
Dinge im Programm stehen; wir haben allein beim FSJ
die Förderung auf über 90 Millionen Euro vervierfacht.
Das sind Säulen für eine eigenständige Kinder- und Jugendpolitik in diesem Land.
({1})
Nun könnten wir wunderbar darüber streiten, ob die
richtigen Schwerpunkte gesetzt sind, ob man nicht andere Akzente hätte setzen müssen. Ich glaube, es gibt einen anderen Unterschied. Wenn Sie über Kinder- und Jugendpolitik reden, dann reden Sie darüber, dass Kinder
und Jugendliche in unserem Land zu wenig Chancen haben, dass es ihnen eigentlich schlecht geht und dass wir
dringend etwas tun müssen, weil es unverantwortlich ist,
in unserem Land Kinder in die Welt zu setzen und sie
selbstständig groß werden zu lassen; das suggerieren Sie
immer wieder. Man braucht nur einmal links und rechts
der Grenzen innerhalb Europas zu schauen, um zu wissen, dass das natürlich nicht so ist. Es gibt wahrscheinDr. Peter Tauber
lich wenige Länder auf diesem Globus, in denen Kinder
so gute Startchancen haben wie in Deutschland.
({2})
Die Programme, die Sie heute auf die Tagesordnung
gesetzt haben, sind der zentrale und spannende Punkt,
wenn es um Kinder und Jugendliche geht, die unterstützt
werden müssen. Wir reden also über diejenigen, die die
Chancen, die ihnen unsere Gesellschaft bietet - sie sind
riesengroß -, nicht alleine wahrnehmen können, weil ihnen die Anreize fehlen, weil sie nicht entsprechend begleitet werden, weil den Eltern vielleicht nicht nur die
materielle Grundlage fehlt, um den Kindern etwas mit
auf den Weg zu geben, sondern auch die notwendige
Herzenswärme. Um diese Kinder müssen wir uns in der
Tat kümmern, und dafür sind die Programme da.
Ich glaube nur, dass es ein völlig falsches Signal ist,
wenn wir in diesem Haus immer wieder sagen, dass in
diesem Bereich alles schlecht sei; denn es gibt unheimlich viele Kinder und Jugendliche in unserem Land, die
es nicht leicht haben, aber die Chancen, die ihnen unsere
Gesellschaft bietet, ergreifen. Das ist manchmal mit Anstrengungen und Hemmnissen verbunden; das will keiner leugnen. Aber zu behaupten, dass sich diese Anstrengungen nicht lohnen, dass gerade junge Menschen von
vornherein chancenlos sind, wenn sie sich in diesem
Land etwas aufbauen wollen, ist das völlig falsche Signal. Das darf nicht das Ergebnis dieser Diskussion sein.
Ich streite mich auch künftig gerne mit Ihnen im Ausschuss darüber, welche Programme besonders gut sind
und welche nicht, welche wir fördern sollten und welche
vielleicht nicht effizient waren. Aber ich möchte ungern,
dass wir den jungen Menschen das Signal geben, dass
sie in diesem Land keine Chancen haben. Sie haben sie
und müssen sie nur nutzen, und zwar selbst. Denen, die
das nicht können, helfen wir gerne. Aber wir dürfen
nicht der Versuchung unterliegen, alle an die Hand zu
nehmen. Das ist nicht Aufgabe der Politik; das können
wir auch nicht. Wir sollten lieber gemeinsam darüber
nachdenken, wie wir unsere guten Programme - und ich
nenne jetzt explizit den Bundesfreiwilligendienst - stärken und auf den Weg bringen.
({3})
Ich erinnere Sie daran: Beim Bundesfreiwilligendienst haben Sie alle geschimpft und gejammert. Sie
haben gesagt: Das wird nichts. Da kommt nichts bei
rum. Das funktioniert nicht. Dafür gibt es keine Freiwilligen.
({4})
Die Wirklichkeit ist eine andere. Wir werden uns der
Frage stellen müssen, wie wir mit den Freiwilligen umgehen, für die wir momentan keine finanzierten Plätze
haben. Herr Rix, da lade ich Sie explizit ein: Machen Sie
einmal einen konkreten Vorschlag, wie wir es schaffen,
statt 35 000 vielleicht 50 000 Freiwillige im Bundesfreiwilligendienst zu fördern. Dann leisten Sie wirklich
einen Beitrag für eine eigenständige Kinder- und
Jugendpolitik.
({5})
Junge Menschen übernehmen so Verantwortung für unser Land, und das ist nicht nur für sie selbst gut, sondern
für uns alle. Wenn wir die Diskussion eher in diese Richtung lenken, dann ist dies meiner Meinung nach zielführender als eine Diskussion über Programme, die schon
längst auf den Weg gebracht worden sind.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Stefan Schwartze von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes bräuchte ich an
diesem Pult eine große Schippe, um diesen Riesenberg
rosaroter Theaterschminke hier wieder abzutragen.
({0})
Ich glaube, wir müssen jetzt einmal auf den Kern zu
sprechen kommen, nämlich auf die Programme der Initiative „Jugend stärken“, die das Ziel haben, die Kompetenzen und Fähigkeiten von benachteiligten Jugendlichen zu stärken.
({1})
Es geht in diesen Programmen also nicht um die
große Masse, sondern gezielt um die Benachteiligten.
Eine gute Angebotsstruktur für diese Jugendlichen eröffnet vielen den Weg hin zu einem selbstbestimmten
Leben und raus aus den staatlichen Leistungen.
Im europäischen Vergleich sind die Schulabbrecherquote und die Jugendarbeitslosigkeit bei uns zum Glück
relativ gering. Die Zahl der Ausbildungsplätze hat sich
bundesweit deutlich verbessert. Dennoch haben wir unsere Ziele bei weitem nicht erreicht. Das Ziel der Großen
Koalition, die Schulabbrecherquote bis 2010 zu halbieren, ist nicht erreicht worden. Ein ganz großes Problem
ist die anhaltend hohe Zahl junger Menschen ohne
Berufsabschluss. In diesem Land haben rund 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren keinen
Berufsabschluss. Nur zum Vergleich: Das entspricht
fünfmal der Anzahl der Einwohner in meinem Wahlkreis
Kreis Herford/Bad Oeynhausen.
({2})
- Ja, genau. Der Wahlkreis ist wichtig; darum erwähne
ich ihn auch. Danke für den Hinweis, Herr
Bernschneider. - Diese jungen Menschen haben schlech18266
teste Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden
immer von Arbeitslosigkeit bedroht sein, wenn sie überhaupt einen Job finden, und sie sind es, die im Niedriglohnsektor feststecken oder nicht aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herauskommen werden.
Die SPD hatte in den Haushaltsberatungen einen
Antrag eingebracht, der allein 200 Millionen Euro dafür
vorsah, diesen Jugendlichen eine zweite Chance auf eine
Ausbildung zu geben. Leider hat Schwarz-Gelb ihn
abgelehnt. Aber nicht nur das. Diese Menschen kommen
in den Planungen der Bundesregierung schlicht nicht
vor. Die Initiative „Jugend stärken“ des Ministeriums
von Frau Schröder, die auch heute leider nicht anwesend
ist, umfasst insgesamt fünf Modellprogramme.
({3})
Ende 2010 gab das Ministerium das Aus für das Programm „Stärken vor Ort“ bekannt. Für zwei weitere Programme, „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“, verkündete es, dass diese im
Jahr 2011 neu ausgeschrieben werden sollten, obwohl
die Förderphase ursprünglich bis 2013 geplant war. Im
Februar 2011 rückte das Ministerium dann mit der kompletten Wahrheit raus, dass nämlich die Mittel des Europäischen Sozialfonds für diese Programme um die Hälfte
gekürzt werden sollten. Zusätzlich - inzwischen ist es
geschehen - ist für das Programm „Kompetenzagenturen“ die 20-prozentige Kofinanzierung über SGB-IIund SGB-III-Mittel entfallen.
Aufgrund dieser Kürzungen kam es zu vehementen
Protesten der Träger, die befürchteten, die Hälfte ihrer
Angebote streichen zu müssen. Als Reaktion darauf kam
die zuständige Ministerin den Trägern entgegen und erhöhte im Mai 2011 den Mittelansatz von 50 Millionen
auf 80 Millionen Euro. Diese Erhöhung erkennen wir
ausdrücklich an. Wir sind froh, dass dieser Erfolg erzielt
wurde. Nichtsdestotrotz müssen wir feststellen, dass der
Mittelansatz um 28 Prozent pro Jahr gekürzt wurde.
Diese Kürzung ist nicht zu verstehen. Wir als SPD wollen, dass die Förderung in damaliger Höhe fortgesetzt
wird.
({4})
Logisch zu begründen sind diese Kürzungen vom Ministerium nicht; denn beide Programme werden für ihre
guten Ergebnisse und ihre hohe Effektivität ausdrücklich
gelobt.
Besondere Bedeutung für diese jungen Menschen
aber hat die Streichung der Kofinanzierung über SGB-IIund SGB-III-Mittel zum 1. Januar dieses Jahres. Auch
hier wäre es durchaus logisch, die Kofinanzierung weiterlaufen zu lassen. Die jungen Menschen sind oft seit
langem arbeitslos und beziehen staatliche Leistungen.
Die Zuständigkeit auf längere Sicht allein auf die Kommunen und die Länder zu verlagern, ist der falsche Weg.
Hier wird wieder einmal ein Verschiebebahnhof hin zu
den Kommunen eröffnet.
Im Blick haben muss man auch die Kürzungen, die
bei den Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vorgenommen wurden. In diesen Bereichen zu kürzen bedeutet im Klartext, dass die Bundesregierung bereit ist,
Menschen ohne Schulabschluss und ohne Arbeit zurückzulassen. Das machen wir nicht mit.
({5})
Wir fordern neben dem Recht auf das Nachholen eines
Schulabschlusses das Recht auf einen Ausbildungsplatz.
({6})
In Zeiten eines drohenden Fachkräftemangels müssen
die Programme, die jungen Menschen einen Schulabschluss oder einen Ausbildungsplatz ermöglichen, ausgebaut werden; denn über diese Programme geben wir
den Menschen die Möglichkeit, aus der Arbeitslosigkeit
und aus der Perspektivlosigkeit herauszukommen. Ich
glaube, das sind ganz wichtige Maßnahmen.
({7})
Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt die Kürzungen der
Mittel für die Programme ab. Wir fordern, die ESF-Mittel in alter Höhe einzustellen. Außerdem fordern wir, die
20-prozentige Kofinanzierung aus Bundesmitteln über
das SGB II und das SGB III bei dem Programm „Kompetenzagenturen“ wieder zu ermöglichen. Geben Sie den
jungen Leuten dadurch eine Chance.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat für ihren Antrag die
volle Rückendeckung der Länder. Vielleicht gibt Ihnen
das zu denken. Der Bundesrat hat im November 2011 die
Bundesregierung aufgefordert, die Kofinanzierung zu
ermöglichen.
({8})
Dieser Appell wurde einstimmig von allen Ländern,
auch von den unionsgeführten Ländern, getragen.
({9})
- Sie wollen jungen Leuten eine Chance geben. Sie wollen, dass junge Leute einen Beruf erlernen und eine Perspektive für die Zukunft haben.
({10})
Ich appelliere noch einmal an Sie: Denken Sie an die
Zukunft der jungen Menschen. Setzen Sie die Programme fort.
({11})
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Bernschneider
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So aufgeheizt wir
diese Debatte in den letzten Tagen und Wochen über die
Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“ auch geführt haben, so wichtig
finde ich es, festzuhalten, dass in dieser Frage eigentlich
fraktionsübergreifende Einigkeit besteht. Wir alle sind
uns einig, dass im Rahmen dieser Programme in den
letzten Jahren eine hervorragende Arbeit geleistet
wurde. Wir alle sind uns auch einig, dass wir es uns nicht
leisten können, junge Menschen auf ihrem Weg in Ausbildung zu verlieren; das gilt wirtschaftlich wie auch
gesellschaftlich. Wir alle wissen, dass eine solche fraktionsübergreifende Einigkeit keineswegs selbstverständlich ist und dass wir sie in vielen anderen Politikfeldern
nicht vorfinden. Deswegen bin ich der Meinung, dies
sollten eigentlich gute Voraussetzungen sein, um diese
Diskussion im Sinne der Sache zu führen.
({0})
Ich habe in dieser Diskussion aber auch gelernt, dass
es nicht nur wichtig ist, die gleiche politische Zielsetzung zu haben, sondern dass es auch wichtig ist, sich
darüber zu verständigen, welche Startbedingungen man
vorfindet. Eigentlich sollte man meinen, dass auch dies
nicht allzu schwierig sein dürfte. Denn wenn es darum
geht, den Status quo zu definieren, dann zählt, wie ich
glaube, weniger das Parteibuch als vielmehr Objektivität. Ich glaube, dass es sich lohnt, die Fakten zu wiederholen.
Im Jahr 2008 haben Union und SPD beschlossen, die
Förderung der Programme „Schulverweigerung - Die
2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ mit einer Förderphase bis August 2011 zu versehen. Damit stand de
facto auch fest, vor welcher Herausforderung wir standen: Wir mussten Nachfolgeprogramme etablieren.
Weil es an diesen Fakten nicht viel zu deuteln gibt,
wundert mich, ehrlich gesagt, der schrille Ton vonseiten
der SPD. Herr Schwartze, Sie haben gerade wieder
gesagt - das ist auch in Ihren zu Protokoll gegebenen
Reden nachzulesen -, dass die Förderphase eigentlich
bis 2013 dauern sollte. Entweder, Herr Kollege
Schwartze, haben Sie die Systematik, nach der die ESFMittel verteilt werden, noch nicht richtig verstanden,
was ich nicht glaube, oder die SPD versucht, die Fakten
möglichst so zu drehen, wie sie ihr am besten passen.
Natürlich dauert die Förderphase im Hinblick auf die
ESF-Mittel bis 2013. Aber das heißt noch lange nicht,
dass alle nationalen Programme, die mit ESF-Mitteln
gefördert werden, bis 2013 laufen. Sie selbst haben dafür den besten Beweis geliefert: Sie haben beschlossen,
dass diese Programme im August 2011 auslaufen. Vor
diesem Hintergrund ist es falsch - ich finde, es ist auch
nicht fair -, dieser Koalition vorzuwerfen, wir würden
bei diesen Programmen kürzen. Das stimmt de facto
nicht.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist der christlich-liberalen Koalition gelungen - das hat der Kollege Tauber zu
Recht gesagt -, dafür zu sorgen, dass diese Programme
mit einem Volumen von 80 Millionen Euro weiter gefördert werden. 50 Millionen Euro davon kommen aus dem
Etat des Bundesfamilienministeriums bzw. waren ESFMittel, auf die das Bundesfamilienministerium Zugriff
hatte. Weitere 30 Millionen Euro konnten die Familienund Jugendpolitiker der Koalition in harten Diskussionen aus Mittelrückflüssen des ESF gewinnen. Ich
glaube, Sie alle wissen: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass uns diese Mittelrückflüsse zur Verfügung stehen. Auch das BMAS hätte sicherlich gute Ideen gehabt,
was mit diesen 30 Millionen Euro getan werden kann.
Ich glaube, dies ist ein Ergebnis, auf das wir Koalitionspolitiker stolz sein können. Ich denke, für dieses Ergebnis könnten Sie uns auch einmal loben. Aber ich weiß
natürlich, dass es vornehmliche Aufgabe der Opposition
ist, die Regierungskoalition zu kritisieren und sie nicht
zu loben. Dafür habe ich Verständnis.
Ich habe aber kein Verständnis dafür, Herr Kollege
Schwartze, dass Sie jetzt so tun, als sei die Aufstockung
der Mittel ein Ergebnis Ihrer Pressemitteilung. Wir haben schon zu einem Zeitpunkt mit Gesprächen mit dem
Ministerium begonnen, als Sie noch gar nicht darüber
nachgedacht haben, Ihre Kürzungsmärchen per Pressemitteilung an die Nation zu verschicken.
({2})
An dieser Stelle sei gesagt: Sie haben zwar viele Pressemitteilungen zu diesem Thema geschrieben. Aber Sie
haben bis heute nicht einen konkreten Vorschlag gemacht, woher Sie die 30 Millionen Euro bzw. die ESFMittel zur Fortführung dieser Programme hätten nehmen
wollen.
Meine Damen und Herren, was die Forderungen betrifft, werden Sie nur von der Linken übertroffen. Auch
auf den Antrag der Linken will ich kurz eingehen. Sie
fordern in Punkt 3, die Mittel in Höhe von 35 Millionen
Euro pro Jahr aus dem KJP zu nehmen. Ich möchte Sie
daran erinnern: Der KJP hat ein Volumen von 147 Millionen Euro. Dieser Betrag entspricht also knapp einem
Viertel des Volumens des KJP. Ich finde, dass Sie uns
heute einmal sagen sollten, an welchen Stellen im KJP
Sie diese 35 Millionen Euro pro Jahr einsparen wollen
oder warum Sie 35 Millionen Euro mehr Schulden
machen wollen. Egal wie Sie antworten: Das kann keine
Antwort im Sinne junger Generationen sein.
Ich komme zum Schluss. Der französische Moralist
Joubert hat einmal gesagt:
Nicht Sieg sollte der Sinn der Diskussion sein, sondern Gewinn.
Diesen Satz sollten Sie sich in dieser Debatte zu Herzen
nehmen. Da dieses Thema sehr wichtig ist, muss es uns
um die Sache gehen. Es darf nicht um Effekthascherei
gehen. Ich glaube aber, genau dies ist das Ziel der SPD.
({3})
Da wir heute unter anderem über das Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ diskutieren, möchte ich
betonen: Auch die Opposition hat eine zweite Chance
verdient, diese Programme weiterhin konstruktiv zu
begleiten.
({4})
Ich glaube, dann kommen wir gemeinsam auf einen
guten Weg.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Yvonne Ploetz von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hin und
wieder passiert es, dass Jugendliche auf ihrem Weg ins
Erwachsenenleben stolpern. Dann brauchen sie jemanden, der sie aufhebt, ihnen den Staub abklopft und sagt:
Mach weiter, ich begleite dich auf deinem Weg.
Genau das leistet ja die Initiative „Jugend stärken“
Tag für Tag. Sie hilft an den schwierigen Übergängen
von der Schule in die Ausbildung und von der Ausbildung in den Beruf bzw. dann, wenn Jugendliche den Unterricht nicht mehr besuchen und zurück in den Schulalltag gebracht werden sollen. Derzeit werden 40 000 junge
Menschen auf diese Art und Weise begleitet. Aufgrund
der Erfolge ist es nicht nur für mich vollkommen unverständlich, warum hier der Rotstift angesetzt werden soll.
Schon im vergangenen Jahr - das haben wir heute bereits gehört - wurde vonseiten der EU und des Bundes
nur noch ein Teil der bisherigen Fördergelder bereitgestellt. Dagegen haben sich die Sozialverbände, die SPD,
die Linken und die Grünen mit Händen und Füßen gewehrt. Gemeinsam mit der Regierungskoalition haben
wir erreicht, dass die Förderung bis 2013 weitgehend erhalten bleibt.
({0})
Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,
mich macht das aber noch nicht wirklich glücklich. Ich
glaube, darauf können Sie sich nicht ausruhen. Das sollten wir gemeinsam nicht tun. Die Initiative bekommt
derzeit nur noch zwei Drittel der bisherigen Fördergelder, das heißt in der Praxis, dass 23 von 200 Standorten
der Kompetenzagenturen bereits geschlossen wurden.
Das ESF-Bundesprogramm „Stärken vor Ort“ wurde
komplett gestrichen, und mein Kenntnisstand bisher ist,
dass 2013 die gesamte Initiative auslaufen wird. Herr
Bernschneider, Sie können mich sehr gerne vom Gegenteil überzeugen. Bei all den Debatten frage ich mich: Haben Sie sich jemals ein solches Projekt vor Ort angesehen? Wissen Sie, was dort geleistet wird?
({1})
Ich war zum Beispiel im Saarland unterwegs, meiner
Heimat, und habe dort von zwei ganz besonderen Beispielen erfahren:
In einem Jugendtreff habe ich dort Anna angetroffen.
Anna ist heute 18 Jahre alt und wollte noch vor einem
Jahr ihre Schule ohne Schulabschluss verlassen. Heute,
nach der Unterstützung durch die Initiative „Jugend stärken“, will sie sich mit einem kleinen Restaurant eine eigene Existenz aufbauen. Wenn das mal kein Erfolg ist!
({2})
Dort wird auch Emrah unterstützt. Er ist 14 Jahre alt
und hat seine Freizeit bisher alleine zu Hause verbracht.
Er hat an einem Projekt im Rahmen des Programms
„Stärken vor Ort“ teilgenommen, durch das ein altes
Grab auf dem städtischen Friedhof restauriert wurde. Er
hat dort am Grabstein mitgearbeitet. Seitdem weiß er,
dass ihm diese Arbeit wahnsinnig viel Spaß macht. Ganz
nebenbei hat er Freunde gefunden. Das ist noch so ein
Erfolg.
Man kann hier also wirklich ganz wunderbare Geschichten nacherzählen.
Ja, die Initiative „Jugend stärken“ muss ganz dringend ausfinanziert werden. Ich will aber auch daran erinnern, dass es insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und all die engagierten Menschen vor Ort sind,
die hier ganz wunderbare Arbeit leisten. Denen möchte
ich heute von ganzem Herzen danken.
({3})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, möchten von genau diesen Frauen und
Männern verlangen, dass sie ihren Schützlingen sagen,
dass sie demnächst keine Unterstützung mehr bekommen werden. Das kann nicht Ihr Ernst sein!
({4})
Ich frage mich auch, wie das alles zu Ihrem Koalitionsvertrag passt. Ich darf Sie zitieren:
Wir stehen für eine eigenständige Jugendpolitik,
eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre
Potenziale fördert und ausbaut. Wir wollen Jugendliche beim Übergang von Ausbildung in den Beruf
besser unterstützen.
Wissen Sie, was Anna und Emrah dazu sagen würden?
Typisch Politiker: schöne Worte und nichts dahinter! Ich glaube, genau das sollten Sie nicht auf sich sitzen
lassen.
Fangen Sie an, nach diesen schönen Worten, die jeder
unterschreiben kann, zu handeln. Ich glaube, der erste
Schritt dahin wäre, die Initiative „Jugend stärken“ vollständig und besonders auch langfristig zu erhalten.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Schneider von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gerade junge Menschen haben das Recht darauf, dass sie in ihren individuellen und sozialen Entwicklungen gefördert werden. Wir müssen ihnen zu diesem Recht verhelfen. Es ist eine zentrale Aufgabe der
Familienpolitik, dafür zu sorgen, dass Jugendliche nicht
benachteiligt werden. Deshalb müssen wir unser Augenmerk insbesondere auf Schulverweigerer und junge
Menschen im Übergang von der Schule in die Ausbildung legen.
({0})
Was Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag verkündet
hat, klang ja verheißungsvoll. Wir haben hier offensichtlich an derselben Stelle nachgelesen. Die Kinder- und
Jugendhilfe, Eltern und Schulen sollten gefördert werden. Zielsetzung war es, jedem Jugendlichen einen
Schulabschluss und den Erwerb einer Ausbildungsstelle
zu ermöglichen. Jugendhilfe und Jugendarbeit sollten
gestärkt werden. Die Koalition wollte junge Menschen
teilhaben lassen und ihre Potenziale fördern.
Aber was wir im letzten Jahr erlebt haben, passt in
keiner Weise zu diesen Koalitionsversprechen. Mit den
Kompetenzagenturen und dem Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ sind seit 2006 gute und wichtige Schritte in die richtige Richtung gegangen worden.
Sie haben es jungen Menschen ermöglicht, wieder in die
Schule zu gehen oder ins Berufsleben einzusteigen. Sie
haben Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur
Verfügung gestellt, die jungen Menschen in dieser Phase
des Übergangs helfen sollten. Sie haben die jungen Menschen unterstützt.
Eigentlich hätte es im vergangenen Jahr darum gehen
müssen, diese richtige Richtung zu verstetigen. Aber
was tat das Familienministerium stattdessen? Es wollte
die Mittel des Europäischen Sozialfonds auslaufen lassen. Viele der erfolgreichen Programme hätten damit vor
dem Aus gestanden. Wenn sich das Ministerium und die
Regierungskoalition jetzt rühmen, die Projekte erhalten
zu haben, so ist festzustellen, dass das nur dadurch möglich war, dass Träger und Fachverbände die Öffentlichkeit und die Opposition informiert haben. Nur dadurch
wurden die Mittel teilweise erhalten.
({1})
Dadurch schmückt sich das Ministerium mit den Lorbeeren, die eigentlich den Verbänden gebühren, die sich hier
engagiert haben.
Auch wenn die Projekte jetzt weiter finanziert werden, so werden sie unterm Strich eben doch geschwächt.
Da hilft es nichts, auf neue Akzente in den Programmen
hinzuweisen. Faktisch fehlen insgesamt 28 Prozent der
vormals gewährten Mittel. Die Folgen daraus sind eine
Verschlechterung der Situation der Jugendlichen. Das
hat wenig mit den Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag zu tun.
({2})
Was bedeutet es denn für eine Schulabbrecherin,
wenn ihre Sozialarbeiterin in Zukunft keine Zeit mehr
für sie hat, wenn das Geld schlicht nicht reicht, um ihr
die Möglichkeit zu geben, ihren Schulabschluss zu machen? Sie wird eben keine echte zweite Chance bekommen, sondern lediglich einen halbherzigen zweiten Versuch. Anstelle der Kürzungen hätten die Projekte
langfristig angelegt werden müssen. Eine Einbindung in
das Programm „Soziale Stadt“ wäre der richtige Schritt
gewesen.
({3})
Nur wenn wir die Lebensbereiche von Jugendlichen
umfassend betrachten und wenn alle Akteurinnen und
Akteure eingebunden sind, können junge Menschen
eben eine echte zweite Chance bekommen. Die teilweise
chaotischen Umstrukturierungen des Ministeriums im
vergangenen Jahr haben zu erheblichen Verunsicherungen geführt, obwohl gerade junge Menschen auf stabile
und verlässliche Unterstützung angewiesen sind.
({4})
Diese Verunsicherung aus dem letzten Jahr muss ein
einmaliges Beispiel bleiben und darf sich im neuen Jahr
nicht wiederholen. Auch deshalb unterstützen wir die
vorliegenden Anträge.
Danke schön.
({5})
Herr Kollege Schneider, Sie sind am 7. Dezember
2011 in den Deutschen Bundestag nachgerückt und haben heute Ihre erste Rede gehalten. Dazu gratuliere ich
Ihnen.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun wiederum der Kollege Norbert Geis das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Forderungen in den Anträgen, die Sie stellen, sind eigentlich erfüllt, aber nicht in dem Umfang,
wie Sie sich das vorstellen. Wir werden die Anträge ablehnen.
Ich meine, man darf bei dieser Diskussion nie vergessen, dass wir ein föderaler Staat sind, in dem die Aufgaben geteilt sind. Das ist ein guter Grund, weshalb bei18270
spielsweise die Länder die Aufgabe der Bildung
übernommen haben. Die Bildung ist nicht zentrale Aufgabe des Bundes, sondern mit die wichtigste Aufgabe
der Länder. Auch die unmittelbare soziale Fürsorge ist
nicht direkt Aufgabe des Bundes, sondern eben der Vereinigungen. Das sind die Kommunen, die die Lage vor
Ort besser einschätzen und abschätzen können. Natürlich muss der Bund die Kommunen dabei unterstützen.
Das darf man bei dieser Diskussion nicht übersehen.
Es kann nicht sein, dass wir ein Programm auflegen und
es zeitlich befristen, wie das bei dem vorliegenden Programm der Fall war - es sollte im September 2011 auslaufen und wird nun fortgesetzt -, aber dann davon ausgegangen wird, dass ein solches Programm plötzlich ad
infinitum vom Bund zu übernehmen ist. Der Bund kann
nicht auch noch die Aufgaben der Länder schultern. Das
müssen die Länder schon selbst tun.
Die Länder haben natürlich größtes Interesse daran,
dass der Bund das weitermacht, Herr Schwartze. Dann
müssen sie es nicht selber bezahlen und können sparen
oder sich auf andere Dinge verlegen. Aber es ist nicht
Aufgabe des Bundes, die Aufgaben der Länder zu übernehmen. Die Länder müssen selber mithelfen und mitleisten.
Natürlich ist es eine allgemeingesellschaftliche Aufgabe. Das sehen wir alle ein. Wir stimmen auch alle darin überein, dass wir die Jugend fördern müssen, und
zwar nicht nur die Jugend aus guten Verhältnissen, sondern wir müssen vor allem auch unser Augenmerk auf
die Jugendlichen richten, die aus Verhältnissen kommen,
wo man nicht so großen Wert auf Bildung legt und nicht
genau darauf achtet, dass das Kind seine Hausaufgaben
macht und vielleicht auch darüber hinwegsieht, ob der
Jugendliche einen Beruf ergreift. Um diese Jugendlichen
müssen wir uns vorzüglich kümmern, nicht nur, weil es
eine Frage der Menschlichkeit oder der Klugheit ist.
Denn solche Jugendlichen fallen, wenn sie keinen Beruf
ergreifen, später den anderen zur Last. Sie müssen von
den anderen mitfinanziert werden und landen unter Umständen zu schnell im sozialen Netz oder gleiten vielleicht sogar in die Kriminalität ab. Deswegen ist es
wichtig und klug, dass wir uns darum kümmern.
Wir müssen und dürfen uns aber auch deshalb um sie
kümmern, weil wir es uns nicht mehr leisten können, auf
diese Jugendlichen zu verzichten. Wir haben zu wenig
Kinder, und wir brauchen die Innovationskraft der Jugend. Dabei können wir nicht nur auf die setzen, die aus
guten Verhältnissen kommen, sondern wir müssen mit
dafür Sorge tragen, dass auch die Jugendlichen herangezogen und wieder in die Mitte der Gesellschaft gestellt
werden, die das vielleicht von Haus aus nicht so mitbekommen haben.
Es geht darum, dass wir alle Jugendlichen erfassen.
Das gilt vor allem auch für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Es wäre völlig falsch, wenn wir davor
die Augen verschließen würden. Natürlich sind viele
Kinder ausländischer Herkunft inzwischen so weit, dass
sie in Deutschland integriert sind, das Schul- und Bildungssystem exzellent durchlaufen und einen wichtigen
Platz in der Wirtschaft oder auch in akademischen Berufen einnehmen oder einnehmen werden. Das erleben wir
täglich.
Es gibt aber noch viel zu viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, die diese Voraussetzungen nicht geschafft haben. Auch um diese müssen wir uns kümmern.
Das ist - das gebe ich zu - eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Es ist aber nicht nur die Aufgabe des Bundes,
sondern es ist vor allem auch die Aufgabe der Länder. Es
ist dem Bund hoch anzurechnen, dass er hier die Initiative ergriffen hat. Die Initiative „Jugend stärken“ ist eine
exzellente Initiative und wird weithin begrüßt.
({0})
Das zeigt sich auch daran, dass die Länder am 4. November vergangenen Jahres einstimmig eine Entschließung verabschiedet haben, in der sie - das habe ich
schon erwähnt - den Bund aufgefordert haben, dieses
Programm fortzusetzen. Der Bund setzt dieses Programm auch fort.
Wir werden es da und dort schmälern. Erlauben Sie,
dass ich die fünf Programmpunkte der Gesamtinitiative
aufzähle, weil sie noch nicht genannt worden sind. Die
fünf Programmpunkte „Jugendmigrationsdienste“ und
die Programme „Stärken vor Ort“, „Aktiv in der Region“, „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und die
„Kompetenzagenturen“ sind Inhalt der Gesamtinitiative
„Jugend stärken“. Sie haben exzellente Arbeit geleistet,
wenn man das so sagen darf. Sie sind bei den Jugendlichen angekommen. Das wird überall bestätigt. Deshalb
und weil es uns allen ein Anliegen ist, setzen wir dieses
Programm fort.
Die Behauptung, wir würden die Segel streichen und
das Handtuch werfen, ist also nicht wahr. Das tun wir
nicht. Wir wollen vielmehr das Programm fortsetzen.
Wir wollen allerdings die Länder auffordern, sich stärker
zu beteiligen, als es bislang der Fall gewesen ist.
Im Übrigen haben wir eine sehr große Leistung für
die Jugendlichen erbracht. Das ist nicht nur eine Leistung der Bundesregierung, sondern auch der deutschen
Wirtschaft. Wir sind das Land mit der geringsten Jugendarbeitslosenquote in ganz Europa.
({1})
Das darf man einmal laut sagen. Das ist immer noch das
beste Programm, das wir den Jugendlichen bieten können, nämlich einen Arbeitsplatz.
Daran müssen wir weiterarbeiten. Wir werden nicht
alle Jugendlichen unterbringen können; das ist ausgeschlossen. Das kann der Staat auch nicht leisten. Aber
die Wirtschaft sowie eine vernünftige Wirtschafts- und
Finanzpolitik haben dafür gesorgt, dass wir uns in der
sehr guten Situation befinden, die ich eben beschrieben
habe. Es kommt nun darauf an, das fortzusetzen. Das
hängt nicht allein von uns ab, sondern auch von den Ländern, in die wir exportieren. Unsere Wirtschaft ist
schließlich nicht auf unseren Binnenmarkt beschränkt,
sondern ist weit verzweigt. Wir haben eine hohe Exportquote. Es kommt also darauf an, dass unsere Wirtschaft
weiterhin floriert. Das ist der wichtigste Programmpunkt
im Sinne der Stärkung der Jugendlichen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/8329. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/6103 mit dem Titel „Pro-
gramme ‚Schulverweigerung - Die 2. Chance‘ und
‚Kompetenzagenturen‘ erhalten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/6393 mit dem Titel „Hände weg von der Initia-
tive ‚Jugend stärken‘“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und von Bünd-
nis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a bis c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/8233 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungs- und
mautrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/7046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Thomas Lutze, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche
- Drucksache 17/7487 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Andreas
Scheuer das Wort für die Bundesregierung.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ein kleiner Gruß an die Jugendpolitiker. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
macht mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, auch
aktive Jugendpolitik; denn ich glaube, die Liberalisierung der Fernbuslinien erhöht die Mobilität der jungen
Menschen in Deutschland.
({0})
Wir befassen uns heute in erster Beratung mit dem
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher
Vorschriften und einem Alternativentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie einem
Antrag der Fraktion Die Linke, der zumindest teilweise
mit den beiden Gesetzentwürfen zusammenhängt. Die
Ziele des Regierungsentwurfs sind klar umrissen. Wir
wollen erstens das Personenbeförderungsgesetz und andere Gesetze an den europäischen Rechtsrahmen anpassen. Wir wollen zweitens den Fernbuslinienverkehr liberalisieren. Wir wollen drittens das Verfahren für
Liniengenehmigungen im öffentlichen Personennahverkehr ausgestalten.
Beim ersten Thema befinden wir uns in Verzug. Die
europäische Verordnung Nr. 1370/2007, um die es hier
geht, ist bereits am 3. Dezember 2009 in Kraft getreten.
Sie enthält - Gott sei Dank - einige Übergangsregelungen, die es gerade noch erlauben, die Anpassung der nationalen Vorschriften für einige Zeit zurückzustellen. In
der europäischen Verordnung wird festgelegt, unter welchen Voraussetzungen Verkehrsunternehmen Finanzhilfen gewährt werden dürfen. Die Verordnung enthält zudem Vorgaben für das Vergabeverfahren und regelt die
Fälle, in denen Verkehrsleistungen direkt, das heißt ohne
Durchführung einer Ausschreibung oder eines anderen
wettbewerblichen Verfahrens, vergeben werden dürfen.
Ferner wird vorgeschrieben, wie die Ausgleichszahlungen im Falle einer Direktvergabe zu berechnen sind.
Hiermit soll verhindert werden, dass die beauftragten
Verkehrsunternehmer ungerechtfertigt hohe Zahlungen
erhalten und damit der Wettbewerb zwischen den Verkehrsunternehmen verzerrt wird.
Die Auswirkungen der europäischen Verordnung beschränken sich in Deutschland faktisch auf den öffent18272
lichen Personennahverkehr. Der Personenfernverkehr
auf der Straße und der Schiene wird grundsätzlich ohne
öffentliche Förderung durchgeführt.
Die Grundpositionen des Regierungsvorschlags lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wir sehen keine
Notwendigkeit für radikale Veränderungen des geltenden Ordnungsrahmens. Das Personenbeförderungsgesetz soll nur dort angepasst werden, wo es europarechtlich erforderlich und sachgerecht ist. Es ist auch Vorgabe
des christlich-liberalen Koalitionsvertrages, dies eins zu
eins umzusetzen. Hierbei wollen wir an dem Vorrang
eigenwirtschaftlicher Verkehre festhalten, den unternehmerischen Wettbewerb fördern und ein möglichst mittelstandsfreundliches Umfeld schaffen. Wir sagen auch
sehr herzlich Danke für die gute Zusammenarbeit mit
den Verbänden und den Unternehmen, die uns aus der
Praxis sehr viele Anregungen gegeben haben, um die
mittelstandsfreundlichen Strukturen, wie wir sie in
Deutschland haben, auch politisch zu unterstützen.
({1})
Die Aufgabenträger haben nach dem Regionalisierungsgesetz die Aufgabe, einen ÖPNV in angemessener
Qualität sicherzustellen. Dieser Verantwortung müssen
sie auch weiterhin gerecht werden. Interessenkonflikte
können vor allem im Verhältnis zwischen Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen auftreten. Es soll dabei
bleiben, dass die Genehmigungsbehörde als Schiedsrichter fungiert.
Der Regierungsentwurf wird in großen Teilen vom
Bundesrat unterstützt. Es gibt allerdings auch einige abweichende Vorstellungen. So zielen mehrere Änderungsvorschläge darauf ab, die Befugnisse der Aufgabenträger
zulasten der Genehmigungsbehörde zu erweitern. Wir
stehen diesen Vorschlägen eher kritisch gegenüber, weil
sie sich gerade für die mittelständischen Busunternehmer nachteilig auswirken könnten. Aber es gibt sicher
auch einige Punkte, über die wir diskutieren können.
Zur Ausdehnung der Fahrgastrechte. Die Verordnung
181/2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr enthält bereits einen verbindlichen Pflichtenkatalog
für die Unternehmer. Da diese Verordnung erst am
1. März 2013 in Kraft tritt, sollten mögliche Erweiterungen sorgfältig geprüft und in einem eigenen Gesetzgebungsverfahren entschieden werden. Nicht zufriedenstellend vorbereitet sind ferner die Änderungsvorschläge,
mit denen eine vollständige Barrierefreiheit erreicht werden soll. Da muss man auch einmal auf die Kostenseite
schauen. Ich denke, dass das unausgegoren und aus unserer Sicht nicht zufriedenstellend ist.
Der zweite Schwerpunkt des Regierungsentwurfs befasst sich mit der Liberalisierung des Fernbuslinienverkehrs. Nach der derzeitigen Gesetzeslage kann ein fahrplanmäßiger Busverkehr nicht genehmigt werden, wenn
eine parallele Eisenbahnverbindung vorhanden ist; das
ist das sogenannte Verbot der Doppelbedienung. Diese
Regelung ist in der jüngeren Rechtsprechung zwar schon
erheblich aufgeweicht worden; wir möchten jedoch
Klarheit schaffen und im Gesetz eine eindeutige Regelung treffen.
Für die Liberalisierung der Fernbuslinien gibt es gute
Gründe. Ich freue mich auch, dass die DB AG hier in
Berlin immer wieder mit Fernbuslinien zu sehen ist. Die
Kritik vonseiten der Bahnbetreiber, dass es hier Wettbewerbsverzerrungen oder Parallelbedienungen gibt, kann
ich nicht nachvollziehen. Ich glaube, dass wir die Wahlfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger, für die Verbraucherinnen und Verbraucher erweitern sollten - mit einem
guten Angebot von Fernbuslinien. Eine Tradition, die es
im Übrigen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union schon lange gibt, sollten wir jetzt übernehmen
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern ein klimafreundliches und gutes Angebot bei den Fernbuslinien
unterbreiten.
({2})
Ich möchte Sie sehr herzlich dazu einladen, dass wir
gemeinsam darum kämpfen, eine Regelung hinzubekommen, es vor allem auch zu schaffen, die Themen, die
über Änderungsanträge hier eingebracht werden, sachlich zu diskutieren. Ich weiß, dieses Thema ist über die
Zeit emotional aufgeladen worden. Wir sind auch in
Zeitdruck. Deswegen möchte ich die Bitte äußern, die
Beratung über den Gesetzentwurf konstruktiv zu führen.
Die Verkehrswirtschaft erwartet, dass der Gesetzentwurf, über dessen Inhalte schon jahrelang gestritten
wird, vom Gesetzgeber jetzt endlich beschlossen wird.
Ich freue mich auf die Debatte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Sören Bartol von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Neuordnung des ÖPNV-Rechtsrahmens
ist eine schier unendliche Geschichte, die sich inzwischen über Jahrzehnte hinzieht, Jahrzehnte rechtlicher
Unsicherheit für Verkehrsunternehmen, Verwaltungen
und politisch Verantwortliche. Die EU-Verordnung
1191/69 wurde zum Synonym für ein Gezerre um die
Auslegung von Gerichtsurteilen, das mit dem AltmarkTrans-Urteil des Europäischen Gerichtshofes 2003 noch
lange nicht vorbei war. Im Kern ging es dabei um die
Frage, unter welchen Voraussetzungen die öffentliche
Hand Nahverkehrsleistungen finanzieren darf, ohne gegen Beihilferecht zu verstoßen - ein schwer zugängliches Expertenthema. Die Akten dazu füllen viele
Regalmeter.
Ein Meilenstein auf dem Weg zu einem neuen ÖPNVRechtsrahmen war die Verabschiedung der neuen EUVerordnung 1370 im Jahr 2007 - ein großer Verhandlungserfolg für den damaligen Verkehrsminister
Wolfgang Tiefensee, dem es gelang, einen EU-verordSören Bartol
neten Ausschreibungswettbewerb im ÖPNV zu verhindern.
Seit inzwischen zwei Jahren ist die EU-Verordnung in
Deutschland geltendes Recht. Die notwendigen Anpassungen und Personenbeförderungsgesetze jedoch stehen
immer noch aus. Insofern bin ich sehr froh, dass heute
endlich das parlamentarische Verfahren beginnt. Die
Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir, SPD und Grüne,
haben gemeinsam mit unseren Ländern einen Gesetzentwurf erarbeitet, der das öffentliche Interesse an einem
qualitativ hochwertigen, für alle zugänglichen Verkehrsangebot aus einem Guss in den Mittelpunkt stellt. Wir
gehen dabei von dem Grundsatz aus, dass öffentlicher
Nahverkehr eine Aufgabe der Daseinsvorsorge ist, für
die die Kommunen Verantwortung tragen. Sie müssen
deshalb diejenigen sein, die definieren können - in Abstimmung mit den Verkehrsunternehmen, Vertretern von
Fahrgästen oder zum Beispiel auch Behindertenvertretern -, wie ein solches Verkehrsangebot aussehen soll;
ein Rahmen - das sage ich ausdrücklich -, der für eigene
kommunale Unternehmen ebenso gelten muss wie für
die privaten. Der Regierungsentwurf hingegen gibt mit
dem Vorrang kommerzieller Verkehre keine Gewähr dafür, dass Standards für Qualität, Takt und Bedienung in
aufkommensschwachen Zeiten eingehalten werden.
Ihr Entwurf, meine Damen und Herren von den
Regierungsfraktionen, hat noch weitere Schwächen: Weder die in der Verordnung vorgesehene Möglichkeit der
Direktvergabe an eigene Unternehmen wird rechtssicher
umgesetzt, noch die Möglichkeiten des EU-Rechts, bei
öffentlich finanzierten Verkehrsangeboten Tarif- und
Sozialstandards vorzugeben. Ihr Entwurf bleibt auch
hinter dem Kompromiss zurück, auf den sich der BundLänder-Fachausschuss „Straßenpersonenverkehr“ bereits vor mehr als einem Jahr geeinigt hatte. Kein Wunder, dass der Bundesrat mehrheitlich in vielen Punkten
anderer - nämlich unserer - Auffassung war. Schade,
dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung keinen unserer Vorschläge wirklich aufgreift, angefangen
bei verbindlicherer Barrierefreiheit bis hin zu mehr Gestaltungsspielraum der Länder bei alternativen Bedienformen.
Ich setze jetzt auf mehr Bereitschaft aller Beteiligten,
im parlamentarischen Verfahren zu einer fachlich fundierten Einigung zu kommen. Der Vermittlungsausschuss oder eine Nulllösung, bei der wir einfach sagen:
„Wir haben es nicht gebacken bekommen und tun überhaupt nichts“, mögen zwar als Drohkulisse taugen, im
Sinne der ÖPNV-Unternehmen und der dort Beschäftigten, der kommunalen Auftraggeber und der Fahrgäste ist
dies aber nicht.
({0})
Zum Schluss noch ein Wort zum Thema Fernbuslinien. Ich sage ganz offen: Wir als SPD haben sehr
große Bedenken, dass eine Liberalisierung in diesem Bereich das System Schiene schwächt, dass Fernverkehrsverbindungen wegfallen und die öffentliche Hand zum
Ausfallbürgen auf unattraktiven Strecken und in Fahrplanrandlagen wird.
Andererseits - das möchte ich ebenfalls betonen - sehen wir aber durchaus Chancen. Fernbuslinien können
ein ergänzendes und kostengünstiges Verkehrsangebot
sein, und unser Vorschlag im Gesetzentwurf lautet deshalb: Marktöffnung für Fernbuslinien ja, aber nur unter
vernünftigen Bedingungen. Dazu zählt der Schutz von
öffentlich finanzierten Nahverkehrsangeboten ebenso
wie die Themen Barrierefreiheit und Kundenfreundlichkeit bei Auskunft und Ticketvertrieb.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Werner Simmling
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland braucht einen attraktiven und effizienten
ÖPNV. Busse und Bahnen befördern täglich 28 Millionen Fahrgäste. Er ist damit eine unverzichtbare Voraussetzung für Lebensqualität, Freiheit, Mobilität und Teilhabe. Hochqualitativer ÖPNV ist ein Standortfaktor für
unsere Volkswirtschaft; denn er ermöglicht hohe Verkehrsdichten auf engem Raum. Auch der Tourismus, insbesondere der Städtetourismus, ist auf einen attraktiven
ÖPNV angewiesen.
Hunderttausende Arbeitsplätze sind mit dem ÖPNV
in Deutschland und seiner Industrie verbunden, und er
ist ein wichtiger Beitrag zum Umweltschutz; denn er
schafft die Voraussetzungen dafür, vor allem in Ballungsräumen den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren. Ein leistungsfähiger ÖPNV ist deshalb für uns
ein wichtiges politisches Ziel. Das haben wir bereits im
Koalitionsvertrag ausdrücklich betont.
({0})
Der Regierungsentwurf zum Personenbeförderungsgesetz setzt aus unserer Sicht in gelungener Weise die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag um. Wir orientieren
uns dabei am Leitbild eines unternehmerisch und wettbewerblich ausgerichteten ÖPNV; denn nur so können
wir die für uns wichtigen vier Punkte erreichen.
Erstens. Wir wollen im Interesse der Kunden einen attraktiven ÖPNV. Zweitens. Wir wollen im Interesse der
im ÖPNV handelnden Unternehmen faire, verlässliche
Spielregeln und achten besonders auf die Beteiligung
mittelständischer Akteure.
({1})
Drittens. Wir haben - das unterscheidet uns von den
meisten anderen - auch die Interessen des unsichtbar
zahlenden Dritten im Auge, nämlich die des Steuerzahlers, der die Hälfte der Gesamtkosten des ÖPNV schultert. Viertens. Auftraggeber bleiben selbstverständlich
die Kommunen.
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf wird durch
die Bundesregierung eine angemessene Rollenverteilung
von Markt und Staat beschrieben. Insbesondere wird der
Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre gestärkt. Wir sehen das als angemessenen Ausgleich für die Tatsache an,
dass nach Maßgabe des europäischen Rechts die Eigenwirtschaftlichkeit enger definiert wird als bisher.
Der Gesetzentwurf bringt auch die lange überfällige
Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs mit sich. Warum überfällig? Bereits in den 70er-Jahren wurde auf europäischer Ebene ein Prozess der Wettbewerbsöffnung
im Verkehrsmarkt eingeleitet. In Deutschland wurde dieser Prozess schrittweise und inzwischen weitgehend umgesetzt. Der Straßengüterverkehr ist, bis auf Reste des
Kabotageverbots, weitgehend dereguliert. Gleiches gilt
auch für den Luftverkehr. Diese Deregulierung betraf die
Öffnung des Wettbewerbszugangs und die Preisbildung.
Diese Entwicklung ist in Deutschland seit den 70er-Jahren von allen Bundesregierungen mitgetragen und fortgesetzt worden. Die einzige Ausnahme findet sich eben
im Personenbeförderungsgesetz, in dem diese Veränderungen im Wesentlichen nicht nachvollzogen wurden.
Das gilt nicht nur, aber besonders für den Buslinienfernverkehr. Das Personenbeförderungsgesetz spiegelt demzufolge im Bereich des Fernverkehrs nach wie vor die
ordnungspolitischen Vorstellungen der frühen 30er-Jahre
des vergangenen Jahrhunderts wider.
Bei überregionalem oder grenzüberschreitendem Linienfernverkehr handelt es sich um eine ausschließlich
unternehmerische, eigenwirtschaftlich zu betreibende
Tätigkeit, die nicht bezuschusst wird und keinerlei gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unterliegt. Ein
Verbot solcher Verkehre zum Schutz insbesondere von
parallelen Eisenbahnverkehren ist in einer von Wettbewerb und freiem Unternehmertum geprägter Marktordnung ein systemwidriger Fremdkörper. Es gibt keinen
fachlich zu rechtfertigenden Grund, an den wettbewerbsbeschränkenden Genehmigungsvoraussetzungen des Personenbeförderungsgesetzes festzuhalten.
({2})
Einziger Grund wäre der Fernverkehr der Deutschen
Bahn. Das ist besonders misslich, weil sich im Fernverkehr noch kein Wettbewerb auf der Schiene entwickelt
hat.
Meine Damen und Herren, das derzeitige Personenbeförderungsgesetz bevormundet, wie gesagt, den Bürger,
weil ihm die Freiheit abgesprochen wird, das für ihn geeignete Fernverkehrsangebot selber auszuwählen, und es
behindert unternehmerische Handlungsfreiheit.
({3})
Die FDP hat das seit langem kritisiert und im Bundestag
bereits in der letzten und in der vorletzten Legislaturperiode entsprechende Anträge zur Liberalisierung des
Buslinienfernverkehrs eingebracht. Das wurde seinerzeit
von den damaligen Mehrheiten stets abgelehnt. Aber
diese Regierungskoalition hat es sich zum Ziel gesetzt,
dies gemeinsam mit Ihnen, meine Kollegen von der Opposition, zu ändern. Buslinienfernverkehr wird zugelassen und einem geordneten Wettbewerb zugeführt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wegen meiner knappen Redezeit will ich
mich auf einen einzigen Punkt konzentrieren, nämlich
auf die vollständige Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs, mit der die Bundesregierung ganz offenbar ein
FDP-Steckenpferd reitet. Es geht nicht um die vielen gut
ausgelasteten Charterbusse, mit denen ältere Damen wie
zum Beispiel meine Mutter Urlaubsreisen oder kostengünstige Erlebnisreisen unternehmen. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden.
({0})
Es geht auch nicht um Buslinien, die dort verkehren, wo
die Bahn kein Angebot machen kann. Es geht um Linienbusse im Fernverkehr, die Sie explizit als Konkurrenz
zur Bahn einführen wollen.
({1})
Die Linke stellt sich eindeutig gegen einen solchen
marktradikalen Unsinn.
({2})
Warum? Weil über kurz oder lang dem Schienenverkehr
geschadet wird und weil die Qualität für die Reisenden
dadurch insgesamt eher schlechter als besser wird.
Ein regelmäßiger Linienverkehr mit Bussen würde
sich überhaupt nur dort lohnen, wo ganz dicke Rosinen
zu picken sind, also bei Städteverbindungen und auf
Hauptreisestrecken ohne Zwischenhalt und mit regelmäßig hohen Fahrgastzahlen. Das hat uns übrigens der
Verband der Omnibusunternehmer bestätigt. Die Omnibusunternehmer sagen, dass das Risiko, einen regelmäßigen Fahrplan anzubieten, überhaupt nur von ganz
wenigen und ganz großen Playern gestemmt werden
kann und dass der Mittelstand Angst vor einer solchen
Regelung hat. Die Omnibusunternehmer wissen nämlich
genau, dass dann die Autobahnmaut für Busse auf der
Tagesordnung stehen wird, damit Chancengleichheit
zwischen Bahn und Bussen auch nur annäherungsweise
hergestellt werden kann.
Veolia ist zurzeit der einzige ernsthafte Interessent,
der einen solchen Fernverkehr anbieten will. Veolia
kauft beispielsweise eine Armada nagelneuer Mercedesbusse, fährt achtmal täglich ohne Zwischenhalt zum Beispiel von Leipzig nach Magdeburg und nimmt den knapp
gefüllten Intercitys mit niedrigen Fahrpreisen die Fahrgäste ab, bis die Deutsche Bahn AG beschließt, die Verbindung mit den Intercitys dort einzustellen. Damit wären dann auch Halle und Köthen von der Intercityverbindung abgehängt. Ein führender Bahnmanager hat
genau dies prognostiziert. Er sagte, das Busangebot
werde dazu führen, dass ohnehin schlecht gefüllte ICEs
und ICs noch unwirtschaftlicher werden und dass diese
Verbindungen infolge der neuen Konkurrenz ganz oder
teilweise abgeschafft werden könnten. Nachzulesen ist
dies in der Financial Times Deutschland vom 19. Mai
2011. Der nächste Schritt ist dann, dass Veolia die Preise
erhöht und den Fahrplan ausdünnt, weil sich diese Buslinien eigentlich nur in den Stoßzeiten rechnen.
Alles das ist überhaupt kein leeres Geschwätz. Ich
will an eine Extremvariante eines solchen Kurses erinnern: die Einführung der Greyhound-Überlandbusse in
den USA unter massivem Druck der Automobilkonzerne.
Sie waren maßgeblich für die Zerstörung eines einstmals
großen Eisenbahnnetzes verantwortlich. Man kann es in
einem Report nachlesen, der 1974 für den US-Senat verfasst wurde und den ich sehr empfehle. Diese berühmte
Greyhound-Gesellschaft ist in den 1990er-Jahren pleitegegangen. Dies hatte zum Ergebnis, dass es jetzt in den
USA auch keine regelmäßigen Fernbusverbindungen
mehr gibt. Vor allen Dingen gibt es überhaupt kein flächendeckendes Bahnangebot für die Menschen mehr.
Die Leute wurden de facto in die Autos und in die Flugzeuge gezwungen. Von wegen Wahlfreiheit! Davon ist
überhaupt nicht die Rede.
Auch wenn solche Zustände bei uns nicht vor der Tür
stehen, ist es doch absolut widersinnig, dass heutzutage
überhaupt noch in diese Richtung Politik gemacht wird.
Wir brauchen doch keinen Wettbewerbsdruck auf die
Bahn. Wir brauchen ein besseres Angebot auf der
Schiene.
({3})
Dazu ist der Bund verpflichtet. Das Grundgesetz verpflichtet den Bund dazu, ein Fernverkehrsangebot auf
der Schiene zu gewährleisten, das den Verkehrsbedürfnissen Rechnung trägt. Im Klartext: Dieser Bundestag
und diese Bundesregierung tragen die Verantwortung für
Bahnanbindungen, aber nicht für Busunternehmen. Hören Sie mit dem Liberalisierungsgeklapper auf und sorgen Sie dafür, dass alle Oberzentren eingebunden werden, dass endlich mit dem Deutschlandtakt ernst
gemacht wird, dass es Bahnpreise gibt, die für alle erschwinglich sind, und dass die Bahn besser wird.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Anton Hofreiter
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der zentrale Punkt bei der Reform des PBefG
ist der Marktrahmen für den öffentlichen Personennahverkehr. Dies ist der zentrale Punkt, über den wir streiten.
Warum muss das PBefG reformiert werden? Es muss
reformiert werden, weil - jetzt folgen unverständliche
Zahlen - die 1370/2007 die 1191/69 ablöst. Die 1370 ist
eine EU-Verordnung. Was ist eine EU-Verordnung? Eine
EU-Verordnung ist direkt geltendes Recht. Man kann
also sagen, dass man sie gar nicht in Bundesrecht umsetzen muss, weil sie direkt gilt.
Warum ist es trotzdem klug, das PBefG anzupassen?
Dies ist klug, weil das PBefG in seiner jetzigen Form
dem direkt geltenden EU-Recht, also der EU-Verordnung, entgegensteht. Wir haben also ein direkt geltendes
EU-Recht und ein geltendes Bundesrecht, die sich beide
widersprechen. Das Ergebnis kennen alle, die sich intensiv mit Verkehrspolitik und Kommunalpolitik beschäftigen: Rechtsunsicherheit, rechtliche Streitereien, ewig
lange Vergabeverfahren und andere Verfahren, die sich
lange hinziehen. Zum Teil gibt es Gerichtsprozesse, die
länger dauern, als eine Linienkonzession gültig ist. Dies
ist ein großes Problem für die Kommunen, für die Verkehrsunternehmen und selbstverständlich auch ein Problem für die Fahrgäste.
Nun gibt es zwei Gesetzentwürfe, die das Problem
unterschiedlich zu lösen versuchen. Wir sind der festen
Überzeugung, dass unser Gesetzentwurf und insbesondere auch die Änderungsanträge, die im Bundesrat eine
Mehrheit gefunden haben, die EU-Verordnung nicht nur
klüger, sondern auch weitaus rechtssicherer umsetzen.
({0})
Denn neben dem, was inhaltlich geschieht, ist entscheidend, dass uns eine rechtsfeste Umsetzung gelingt und
dass wir nicht weiter die Rechtsunsicherheit haben, die
im Moment vorhanden ist.
Bei der Umsetzung sind neben der Rechtssicherheit
noch einige andere Dinge von ganz entscheidender Bedeutung. Wir sollten uns auf Folgendes verständigen:
Wenn der Aufgabenträger - bei uns ist es die Kommune bereit ist, Geld, Interesse und Mühe zu investieren, dann
sollte er dies auch tun können.
({1})
Wo öffentliches Geld fließt, muss die öffentliche Hand
entsprechend entscheiden können. Das ist einer der ganz
zentralen Punkte bei der Umsetzung. In unseren Augen
ist es in der 1370 rechtsfest umgesetzt worden. Wir sind
der Meinung, es muss im deutschen Bundesrecht nun
klug vollzogen werden. Aber dies ist in dem Entwurf,
den das Ministerium vorgelegt hat, nicht zu erkennen.
Ich glaube daher, dass wir schnellstens über einige
zentrale Punkte verhandeln müssen, sodass es, wenn öffentliches Geld fließt und ein öffentliches Interesse vorhanden ist, Rechtssicherheit in Bezug auf Entscheidungen gibt. Wir müssen gemeinsam eine kluge Linie
finden. Das Vorhaben darf nicht irgendwie verhungern,
und wir dürfen nicht weiter mit einer Situation konfrontiert sein, die durch zwei konkurrierende Rechtssysteme,
was für die Kommunen und Fahrgäste von Nachteil ist,
geprägt ist. Ich glaube, wir alle gemeinsam sollten ein
großes Interesse daran haben, hier für Rechtssicherheit
zu sorgen.
({2})
Eine letzte Bemerkung zum Fernlinienbusverkehr;
manche haben sehr viel Redezeit darauf verwendet. Wir
haben da eine sinnvolle Regelung gefunden, nämlich
eine Freigabe in einem angemessenen Marktrahmen. Ich
bin der festen Überzeugung, dass es sozial ist, dies zu
tun; denn man sollte auch den Menschen, die nur über
ein geringes Einkommen verfügen, die Möglichkeit eröffnen, sich umweltfreundlich und sicher von A nach B
fortzubewegen.
({3})
Es ist schlichtweg so, dass der Bus ein umweltfreundliches Verkehrsmittel ist; das wissen wir alle.
({4})
Wir wissen auch, dass der Bus ein kostengünstiges Verkehrsmittel sein kann. Wenn Sie sich mit unternehmerischem Denken beschäftigen würden, dann wäre Ihnen
bewusst, dass ein Unternehmen, das keine Zuschüsse erhält, natürlich keine leeren Busse herumfahren lässt.
Deshalb war Ihr Zwischenruf etwas schräg.
Meine Bitte an uns alle ist: Lasst uns vernünftig verhandeln, damit wir ein kluges und rechtssicheres Gesetz
bekommen. Der Bundesrat hat da wertvolle Hinweise
gegeben.
Danke.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volkmar Vogel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind uns in einem einig: Qualität, Zuverlässigkeit und Sicherheit des ÖPNV in Deutschland können sich europaweit, wenn nicht gar weltweit sehen lassen. Ich finde,
das funktioniert nur dank tüchtiger Mitarbeiter, dank
leistungsfähiger Unternehmen und natürlich auch dank
vorausschauender Kommunen. Es hat aber auch etwas
mit den Besonderheiten der Strukturen bei uns in
Deutschland zu tun. Wir haben beim ÖPNV die Pflicht
zur flächendeckenden Daseinsvorsorge, das heißt Bedienung überall in den Städten ebenso wie im ländlichen
Raum. Wir haben kommunale und vor allen Dingen auch
mittelständische Unternehmen, besonders im Busbereich, die in der Region verwurzelt sind und hohe Leistungen erbringen.
Es ist uns, so denke ich, gelungen, die EU-Richtlinie
1370 mit diesem in der Bundesrepublik bewährten System in Einklang zu bringen. Die EU-Richtlinie setzt
maßgeblich das Beihilferecht um. Sie fordert die Begründung, wenn Zuschüsse notwendig sind, und den
Nachweis der Wirtschaftlichkeit möglichst im Wettbewerb. Die EU-Richtlinie 1370 gilt seit dem 3. Dezember
2009 unmittelbar, erlaubt uns aber, ergänzende Regelungen zu treffen, insbesondere wenn es darum geht, die
Rechtssicherheit in diesem Bereich zu verbessern.
Die christlich-liberale Koalition hat die Novellierung
des PBefG im Koalitionsvertrag vereinbart. Wir verfolgen das Ziel, die regionale Verwurzelung der Unternehmen zu stärken. Wir denken hier insbesondere daran, unsere mittelständischen Unternehmen zu stärken und
ihnen gleiche Chancen am Markt zu gewähren. Auch
deswegen halten wir den Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehre für erforderlich, ebenso die Anpassung
der Verfahrensvorschriften für den Genehmigungswettbewerb, um hier mehr Rechtssicherheit herzustellen. Wir
wollen nicht, dass die einen Rosinen picken und die anderen die Brosamen zusammenkehren müssen.
({0})
Wir wollen den regionalen Bezug durch die Möglichkeit
der Direktvergabe erhalten, aber - auch das muss man
ganz klar sagen -: Wer „inhouse“ macht und daraus seinen Vorteil zieht, kann nicht anderswo am Wettbewerb
teilnehmen.
Daseinsvorsorge heißt: Beförderungsleistungen, die der
Markt nicht erbringt, muss der Aufgabenträger - sprich:
unsere Kommunen und Landkreise - regeln. Dieser Satz
birgt meiner Meinung nach viel Brisanz. Das zeigen zum
Beispiel die 16 Änderungsanträge des Bundesrates, die
bunt gefächert sind. Die Frage, vor der wir stehen, ist natürlich: Wie kriegen wir hier Ordnung hinein? Die bewährte Praxis der letzten Jahre hat gezeigt, dass aus meiner Sicht - ich denke, darin stimmen wir weitgehend
überein - der Nahverkehrsplan ein geeignetes Mittel sein
kann, die Interessen der einzelnen Akteure zu koordinieren. Wir sollten uns in den Fraktionen austauschen, wie
der Nahverkehrsplan ausgestaltet sein könnte. Wichtig
ist aus der Sicht meiner Fraktion, dass die Akteure an der
Erarbeitung gleichberechtigt beteiligt sind und ein transparentes und vor allem diskriminierungsfreies Verfahren
Anwendung findet. Dazu ist die Mitwirkung der Bundesländer unerlässlich.
Zwänge und Rechtsvorschriften der Aufgabenträger
könnten so mit den berechtigten wirtschaftlichen Interessen der unterschiedlichen Unternehmen in Einklang gebracht werden. Zur Sicherstellung von Transparenz und
Gleichbehandlung - das ist übrigens auch im Sinne der
Aufgabenträger, damit sie gar nicht erst in Verruf kommen - muss eine neutrale Genehmigungsbehörde entscheiden und kontrollieren. Dies gilt übrigens auch, sofern erforderlich, bei den Fernbuslinien.
Fernbusse sind - Toni Hofreiter hat es gesagt - eine
sichere und ökologische Variante des Reisens, besonders
für Jüngere und Ältere. Sie sind aus unserer Sicht eine
Ergänzung und keine direkte Konkurrenz zur Bahn. Alle
Volkmar Vogel ({1})
Bahnunternehmen betreiben auch Buslinien. Die 50-Kilometer-Regelung, so wie im Entwurf der Bundesregierung vorgesehen, wird die Aushöhlung des Nahverkehrs
eindämmen.
Eine Maut auf Fernbusse wollen wir nicht. Die Entwürfe der Oppositionsfraktionen lehnen wir ab. Der
Kostendeckungsgrad im Busverkehr ist deutlich höher
als der im Schienenfernverkehr. Ein bemauteter Fernlinienverkehr träfe - das gilt ebenso für den Reise- und
Gelegenheitsverkehr - aus unserer Sicht die Menschen
mit schmalem Geldbeutel. Eine Befreiung der Busse im
Nahverkehr, so wie von Ihnen vorgesehen, würde ein
neues bürokratisches Monster erzeugen und ist aus unserer Sicht kaum umsetzbar; denn die Verkehre sind nicht
abgrenzbar.
Ähnlich verhält es sich mit der Ausweitung der Fahrgastrechte und der Barrierefreiheit. Auch diese im Entwurf vorgesehenen Regelungen sind problematisch. Sie
bedeuten aus unserer Sicht das vorzeitige Aus für Busfernlinien. Außerdem zerschlagen sie die Hoffnung von
vielen jungen Leuten, Rucksacktouristen und Menschen
mit wenig Geld auf mehr Mobilität.
({2})
Gerade zur Barrierefreiheit bedarf es weiterer Gespräche. Wir können die Kosten, die auf die Aufgabenträger
und die Unternehmen zukommen, nicht außer Acht lassen. Ich möchte zudem daran erinnern, dass die Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander und die Hilfe, die
das Fahr- und das Servicepersonal vor Ort leisten können, nicht außer Acht gelassen werden dürfen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Ende kommen. Wir gehen mit der Novelle ins parlamentarische Verfahren. Mit Blick auf einen gut funktionierenden ÖPNV in der Bundesrepublik Deutschland sollten alle aufeinander zugehen, damit er am Ende noch
besser und effektiver wird. Das PBefG ist rechtlich kompliziert; das wissen wir. Gesunder Menschenverstand
kann nicht schaden. Wenn wir alle ihn nutzen, bin ich
optimistisch, dass wir zu einer gemeinsamen Lösung
kommen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. All den Kraftfahrern und Busfahrern draußen im Land wünsche ich
allzeit gute und unfallfreie Fahrt.
Danke schön.
({4})
Als letzter Redner hat nun das Wort der Kollege
Martin Burkert von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Liberalisierung des Fernreisebusverkehrs ist
das Koalitionsprojekt der FDP, das wissen wir. Ob es in
der Geschichte am Schluss verkehrspolitisch sinnvoll
sein wird, das muss sich zeigen.
Fakt ist aus unserer Sicht heute, dass wichtige Regelungen für einen fairen Wettbewerb fehlen. Wir vermissen die Lohn- und Sozialstandards, die überhaupt keine
Regelung in diesem Gesetzesentwurf der Bundesregierung finden.
({0})
Wir vermissen auch Vorgaben, wie man die Lenk- und
Ruhezeiten überwachen will.
Sie geben mit Ihrem Gesetzesentwurf Billiganbietern
die Möglichkeit, auf Kosten der Sicherheit zu fahren.
Uns droht ein Preiskampf auf Kosten der Fahrgäste. Ich
prophezeie Ihnen: Nach der ersten Tragödie wegen
Überschreitungen von Lenk- und Fahrzeiten oder Verstößen gegen Ruhezeiten werden wir dieses Thema hier
im Deutschen Bundestag wieder auf dem Tisch haben.
({1})
Wenn in Zukunft die Menschen vom Auto auf den
Bus umsteigen würden, dann gäbe es wenigstens einen
verkehrspolitisch sinnvollen Effekt. Ein Gutachten der
Bundesregierung zeigt jedoch auf, dass wir davon ausgehen müssen, dass ein Umstieg in Höhe von 60 Prozent
von der Schiene auf den Busverkehr erfolgen wird. Insofern halten wir das Ganze für durchaus problematisch.
Natürlich haben die Kunden mit neuen Fernbuslinien
neben günstigeren Preisen auch ein größeres Angebot,
wie sie von A nach B kommen. Wenn die Bahn dann
aber so manche Strecke stillgelegt hat, weil einige Routen auf der Schiene nicht mehr ausgelastet sind, wird das
Geschrei wieder groß sein. Dann gibt es plötzlich nicht
mehr eine größere, sondern eine geringere Auswahl.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ich sehe da überhaupt kein Problem. Wenn man heute einen Fernbus
nehmen kann, der angemeldet ist von Freiburg über
Friedrichshafen nach München, dann mag das eine sinnvolle Ergänzung sein. Seit dieser Woche wissen wir aber,
dass es ein Angebot von Luxemburg nach Frankfurt gibt,
und zwar parallel zur Schiene. Hier - das prophezeie ich
Ihnen - wird die Schiene über kurz oder lang den Kürzeren ziehen. Damit werden der ICE und der Intercity, die
dort heute noch verkehren, wegfallen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fischer?
Gerne, selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Fischer.
Herr Kollege Burkert, bei Ihren Ausführungen haben
Sie wohl übersehen, dass die DB AG auf etlichen Strecken den eigenen Schienenverkehr mit Busverkehr konkurrenziert; die prominenteste Strecke ist Hamburg-Berlin. Man kann dort relativ teuer auf der Schiene oder
relativ preiswert mit einem konkurrierenden Bahnbus
fahren. In diesem Bahnbus sitzen die Wähler, Freunde
und Freundinnen von Toni Hofreiter, die dort gerne
preiswert mit Rucksack und Turnschuh fahren,
({0})
auch wenn die Fahrt etwas länger dauert. Ist Ihnen das
bekannt?
Lieber Kollege Fischer, selbstverständlich ist mir bekannt, dass die Deutsche Bahn AG der größte Busanbieter in Deutschland ist. Mir ist aber auch bekannt - das
dürfte auch Ihnen als Mitglied des Aufsichtsrats eines
Bahnbetriebs bekannt sein -, dass sich die Deutsche
Bahn AG nicht an diesem neuen Markt beteiligen wird,
keine neuen Busse anschaffen wird und keine neuen
Buslinien betreiben wird. Insofern freuen sich jetzt andere. Sie sagen: Gott sei Dank, dass ein großer Player
nicht mehr am Markt ist. - Uns ist auch bekannt, dass
junge Menschen natürlich Busse nutzen werden, weil es
sich um preiswerte Mobilität handelt, wahrscheinlich
auch Senioren, weil sie genug Zeit haben, um einen Stau
zu verkraften; der Manager wird die Busse sicherlich
nicht nutzen. All das ist bekannt.
({0})
Herr Fischer, wir sind kurz vor dem Ende. Bitte.
Herr Kollege Burkert, ist Ihnen bekannt, dass die DB
AG gerade eine neue Fernbuslinie von München nach
Prag eingerichtet hat? Deswegen wundert mich Ihre
Aussage, dass sich die DB AG aus dem Markt zurückziehen und keine neuen Linien einrichten möchte.
Die Deutsche Bahn AG wird nach der jetzigen
Rechtslage keine neuen Linien innerhalb Deutschlands
einrichten. Wie Sie wissen, liegt Prag in Tschechien; da
dürfen wir Nachhilfe geben.
({0})
Im Übrigen fährt die Deutsche Bahn in 3 Stunden 45 Minuten von Nürnberg nach Prag; es gibt dort eine hervorragende Auslastung. Grenzüberschreitend wird sicherlich
auch das Unternehmen Deutsche Bahn AG weiterhin den
einen oder anderen Fernbus einsetzen; da stimme ich mit
Ihnen überein.
({1})
Ich will in der restlichen Redezeit darauf hinweisen,
wo wir große Probleme haben. Wir haben in unserem
Gesetzentwurf eine Maut in Höhe von 0,04 Cent eingefordert. Es wird immer gefragt: Wie soll man die Schaffung von Barrierefreiheit finanzieren? Dazu könnten wir
viel sagen. In meiner Heimatstadt Nürnberg kommt der
CSU-Referent zu mir und sagt: Herr Burkert, wie wollen
wir eigentlich einen Busbahnhof finanzieren, wenn
sechs Linien nach Nürnberg angemeldet werden? - Mit
einer Maut von 0,04 Cent, die für alle in diesem Land zu
verkraften wäre - das sind für jeden Reisenden 1 bis 4
Euro -, könnten wir die Infrastruktur für die Kommunen
finanzieren. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Sie
lassen die Kommunen alleine im Regen stehen.
({2})
Aber das werden Ihnen die bayerischen CSU-Bürgermeister und -Oberbürgermeister sicherlich selber um die
Ohren hauen.
Wir fordern nach wie vor, dass wir uns in den Verhandlungen, auf die ich mich sehr freue, über die
UN-Behindertenrechtskonvention unterhalten; denn das
Gesetz, das Sie vorgelegt haben, wird der Konvention
schlichtweg nicht gerecht. Darüber müssen wir noch reden. Ich sage es noch einmal: Der Zoll hat heute keine
Möglichkeiten zur Überwachung der Lenk- und Ruhezeiten; auch die Polizei hat dafür kein Personal. Darüber
müssen wir reden, damit es wegen der fehlenden Überwachung hoffentlich nicht zu einem schweren Unglück
kommt. Hier fehlt eine gesetzliche Regelung.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen
Abend.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8233, 17/7046 und 17/7487 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir haben jetzt noch einige Tagesordnungspunkte,
bei denen die Reden zu Protokoll gegeben werden. Ich
bitte, trotzdem anwesend zu bleiben, damit wir die Abstimmungen durchführen können.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara
- Drucksachen 17/4271, 17/4932 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Marina Schuster
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller ({1})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Da-
mit sind Sie sicher einverstanden. Das gilt auch für die
restlichen Tagesordnungspunkte. Bei diesem Tagesord-
nungspunkt handelt sich um die Reden der Kollegen
Jürgen Klimke, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Götzer, CDU/
CSU, Günter Gloser, SPD, Marina Schuster, FDP, Heike
Hänsel, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grü-
nen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4932, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/4271 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzbuches
- Drucksache 17/7744 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2})
- Drucksache 17/8205 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Dr. Christel Happach-Kasan
Friedrich Ostendorff
Wir nehmen die Reden der folgenden Kollegen zu
Protokoll: Franz-Josef Holzenkamp, CDU/CSU, Elvira
Drobinski-Weiß, SPD, Dr. Christel Happach-Kasan,
FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, Friedrich
Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen.
1) Anlage 3
Die Landwirtschaft in Deutschland ist auf eine nachhaltige, ertragreiche und sichere Produktion qualitativ
hochwertiger Lebensmittel und nachwachsender Rohstoffe ausgerichtet. Das Dünge- und Saatgutverkehrsgesetz sowie das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch
setzen dafür wichtige Rahmenbedingungen. Mit dem
heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf sollen
an den genannten Gesetzen Änderungen vorgenommen
werden.
Zunächst zur Änderung des Düngegesetzes: Das geltende Düngegesetz schreibt vor, dass Düngemittel der
EG-Düngemittelverordnung oder der deutschen Düngemittelverordnung entsprechen müssen. Düngemittel, die
in anderen EU-Mitgliedstaaten hergestellt wurden und
nicht im Einklang mit der EG-Düngemittelverordnung
oder der deutschen Düngemittelverordnung stehen, dürfen nach dem Wortlaut des Düngemittelgesetzes in
Deutschland eigentlich nicht in Verkehr gebracht werden.
Diese Gesetzeslage deckte sich lange Zeit mit der
Auffassung der EU-Kommission. 2009 änderte die Brüsseler Behörde jedoch ihre Meinung. Die Kommission
vertritt nun die Auffassung, dass beim innergemeinschaftlichen Verkehr mit Düngemitteln das Prinzip der
gegenseitigen Anerkennung gilt. Das Prinzip besagt,
dass der Verkauf einer Ware, die in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt wurde, in einem anderen
Mitgliedstaat nicht verboten werden darf. Dieses Prinzip wird auf Produkte angewendet, für die keine einheitliche Regulierung in der EU besteht. Dies ist bei Düngemitteln der Fall; das Düngemittelrecht ist in der EU nur
teilweise harmonisiert. Die Anwendung des Prinzips auf
den Düngemittelmarkt bedeutet, dass in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig in Verkehr gebrachte Düngemittel grundsätzlich auch in Deutschland angewendet
werden dürfen.
Mit dem Gesetzentwurf wird das Düngegesetz an das
geltende Gemeinschaftsrecht angepasst und ein Vertragsverletzungsverfahren vermieden. Das Düngegesetz
wird dahin gehend geändert, dass künftig in Deutschland alle Düngemittel angewendet werden dürfen, die in
einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, in der
Türkei sowie in den EWR-Mitgliedstaaten Norwegen, Island und Liechtenstein rechtmäßig in den Verkehr gebracht wurden.
Diese Neuregelung darf keinesfalls dazu führen, dass
Düngemittel mit unerwünschten Nebenwirkungen in den
Handel gelangen. Alle auf dem Markt verfügbaren Düngemittel sollten im Rahmen der guten fachlichen Praxis
problemlos anwendbar sein. Deshalb sieht der Gesetzentwurf in einer weiteren Änderung des Düngegesetzes
vor, dass Düngemittel aus den genannten Staaten die
gleichen Anforderungen erfüllen müssen wie inländische. Diese Regelung ist sinnvoll und notwendig, damit
auch von importierten Düngemitteln keine Gefahren für
Mensch und Tier sowie für den Naturhaushalt ausgehen.
Durch die Änderungen am Düngegesetz behält der
Schutz von Mensch und Tier sowie des Naturhaushalts
seinen hohen Stellenwert im deutschen Düngerecht. Der
Bundesrat hat in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf vorgeschlagen, dass neben dem Schutz von Mensch
und Tier sowie des Naturhaushalts auch das Schutzziel
„Fruchtbarkeit des Bodens“ im Düngegesetz verankert
werden sollte. Gegen eine derartige Ergänzung spricht,
dass sie wahrscheinlich nicht von der EU-Kommission
akzeptiert und ein Vertragsverletzungsverfahren nach
sich ziehen würde. Ich halte den Vorschlag des Bundesrates für verzichtbar, weil der ausdrücklich im Gesetz
verankerte Schutz des Naturhaushalts die Erhaltung der
Bodenfruchtbarkeit mit einschließt.
Des Weiteren sollen mit dem Gesetzentwurf Änderungen am Saatgutverkehrsgesetz vorgenommen werden.
Das Saatgutverkehrsgesetz ermächtigt das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, in einer Rechtsverordnung spezielle Anforderungen für Saatgut festzulegen, das zur Erhaltung
und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen bestimmt ist. Diese Ermächtigungsgrundlage wird
nun genauer gefasst: Durch Rechtsverordnung sollen für
diese sogenannten Erhaltungssorten auch Regelungen
zur regionalen Herkunft des Saatgutes, zu Saatgutmengen und zu Aufzeichnungspflichten für Saatguterzeuger
getroffen werden können. Diese Neuregelung ist richtig,
weil sie der Umsetzung von EU-Richtlinien dient und die
rechtlichen Grundlagen in einem Regelungsbereich präzisiert, der für den Erhalt der biologischen Vielfalt bei
Nutzpflanzen von großer Bedeutung ist.
Neben dem Dünge- und dem Saatgutverkehrsgesetz
sieht der Gesetzentwurf auch Änderungen am Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch vor. So werden bestimmte im Gesetz verwendete Begriffe an Begriffe in
den zugrunde liegenden EU-Verordnungen angepasst.
Außerdem wird der fahrlässige Verstoß gegen die
EG-Verordnung über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften unter Strafe gestellt;
bisher war Fahrlässigkeit in diesem Bereich nicht strafbar. Diese Änderungen sind ebenfalls richtig, weil sie
der Rechtsklarheit und der Lebensmittelsicherheit dienen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass mit dem Gesetzentwurf das Dünge- und das Saatgutverkehrsgesetz
sowie das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch auf
sinnvolle und notwendige Weise präzisiert und an EURecht angepasst werden. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung.
In der heutigen Debatte beraten wir über die Änderung von drei Gesetzen: des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches.
Ich möchte an dieser Stelle nicht infrage stellen, ob
nicht bereits 2009, als das derzeit gültige Düngegesetz
beschlossen und veröffentlicht wurde, die Bundesregierung diesen Mangel im Gesetz schon hätte erkennen
können. Die Rechtsauffassung der Europäischen Kommission zwingt uns jetzt, das Düngegesetz nachzubessern. Zukünftig dürfen nicht nur Düngemittel angewandt
werden, wenn sie einem durch die EG-Düngemittelverordnung zugelassenen Typ oder den Anforderungen der
Verordnung des Inverkehrbringens von Düngemitteln
entsprechen. Nein, zukünftig dürfen auch alle Düngemittel verkauft werden, die in Staaten zugelassen sind, die
dem Abkommen über die Gründung der europäischen
Freihandelsassoziation und dem Abkommen über den
Europäischen Wirtschaftsraum angehören.
Auch Art. 2 - die Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes - ist erforderlich, da EU-Richtlinien konkretere
Anforderungen an das Inverkehrbringen von Saatgut zur
Erhaltung und Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen
stellen. Wir unterstützen die Nachfrage nach regional
erzeugten Lebensmitteln, da sie unter anderem die Existenz von kleinbäuerlichen Betrieben sichern und unsere
Kulturlandschaft schützen können. Doch wie überall die Einhaltung der Vorschriften ist nur so gut wie ihre
Kontrolle. Frau Bundesministerin Aigner, nehmen Sie
die Vorschläge des Bundesrechnungshofes auf, stärken
Sie sowohl auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene die Kontrollen, und vor allem: Arbeiten Sie
mit an Strategien für Kampagnen, um unsere Regionen
und deren Produkte bekannt zu machen!
Die Anpassungen im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch hinsichtlich der Strafbewehrung unterstützen wir.
Aber auch hier muss ich mich fragen, warum der „fahrlässige Verstoß“ nicht längst Teil der Straftatbestände
und damit strafbewehrt ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf schafft im Düngegesetz Regelungen für einen freien Warenverkehr von
Düngemitteln in der Europäischen Union, er präzisiert
die Dokumentationsvorschriften für Saatgut von Erhaltungssorten im Saatgutgesetz und regelt den Straftatbestand des fahrlässigen Verstoßes im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch. Die einzelnen Änderungen in den
Gesetzen möchte ich kurz erläutern.
Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
erstreckt sich auch auf den Warenverkehr mit Düngemitteln. Die Europäische Kommission hat eine entsprechende Änderung der rechtlichen Regelungen in
Deutschland angemahnt. Aus diesem Grund verabschieden wir heute das Gesetz zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuches. Dies ist ein weiterer
Schritt beim Bürokratieabbau und zur Harmonisierung
des europäischen Marktes in diesem Bereich.
Dieser Gesetzentwurf schafft nicht nur die rechtliche
Grundlage für die grundsätzliche Verkehrsfähigkeit von
Düngemitteln aus anderen Mitgliedstaaten, sondern ist
auch im Hinblick auf den Umweltschutz gut für eine moderne Landwirtschaft in Europa. Denn der Gesetzentwurf sichert die Wahrung unseres bestehenden hohen
Schutzniveaus. Auch Düngemittel aus anderen Mitgliedstaaten müssen den Anforderungen zum Schutz vor Gefahren für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder
den Naturhaushalt genügen. Die FDP begrüßt, dass
durch diese Harmonisierung die Auswahl an DüngemitZu Protokoll gegebene Reden
teln breiter wird, ohne unsere hohen Qualitätsanforderungen zu verwässern.
Des Weiteren wird der im Saatgutverkehrsgesetz enthaltene Ermächtigungserlass für spezielle Anforderungen an das Inverkehrbringen von Saatgut, das zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer
Ressourcen bestimmt ist, präzisiert. Dies geschieht gemäß den Vorgaben der seit dem Jahr 2008 in Kraft getretenen einschlägigen Richtlinien der EU-Kommission.
Diese sehen für das Inverkehrbringen von Saatgut von
Erhaltungssorten landwirtschaftlicher Pflanzenarten
und Gemüsearten sowie von Erhaltungssaatgutmischungen unter anderem Vorgaben zur regionalen Herkunft
des Saatgutes, zu Saatgutmengen und spezielle Aufzeichnungspflichten für Saatguterzeuger vor. Durch
diese Regelungen wird Klarheit darüber geschaffen, wo
genau Saatgut herkommt. Das ist für den Erhalt pflanzengenetischer Ressourcen nicht unbedeutend, da wir in
Europa eine Vielfalt von regionalen Sorten haben. Eine
genaue Herkunftsdokumentation trägt hier auch zum Erhalt der Biodiversität von Nutzpflanzen bei.
Schließlich wird mit dem Gesetzentwurf ein weiterer
Punkt des Aktionsplanes „Unbedenkliche Futtermittel,
sichere Lebensmittel, Transparenz für den Verbraucher“
umgesetzt. Der fahrlässige Verstoß gegen die in § 58
Abs. 2 a des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches
geregelten Straftatbestände wird nun strafbewehrt und
sorgt somit für mehr Sorgfalt bei der Herstellung von
Lebens- und Futtermitteln.
Zum Schluss wird im Gesetz noch eine der Strafbewehrungen des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches in ihrem Wortlaut an die Begrifflichkeiten des
Gemeinschaftsrechts angepasst.
Eigentlich ist dieser Gesetzentwurf nicht der Rede
wert. Es handelt sich um Änderungen an drei nationalen
Gesetzen, welche auf den neuesten Stand gebracht werden müssen. Aktualisierungen ergeben sich aus dem
EU-Recht. Also eigentlich kein Problem, sollte man meinen. Das sieht die Bundestagsfraktion Die Linke aber
nicht so. Auch der Bundesrat übte Kritik am Vorgehen
der Bundesregierung.
Diese Kritik hat meine Fraktion aufgegriffen und im
Agrarausschuss des Bundestages am 14. Dezember des
vergangenen Jahres einen Änderungsantrag gestellt
({0}). Wir wollten, dass die
Beschreibung der Schutzgüter des Düngegesetzes erweitert bzw. konkretisiert wird. Uns fehlte - wie dem Bundesrat auch - der Bodenschutz. Denn der Boden ist die
wichtigste Grundlage der Agrarproduktion. Ohne fruchtbaren Boden keine Landwirtschaft, ohne Landwirtschaft
keine Nahrungs- und weniger Energieproduktion. Darum müssen wir alles dafür tun, dass die Bodenfruchtbarkeit erhalten bleibt oder wieder verbessert wird, zum
Beispiel durch aufeinander abgestimmte Fruchtfolgen,
die diese Bezeichnung auch verdienen, also mehr sind als
der Wechsel einer Ackerkultur, oder durch bodenschonende Bearbeitung und geschlossene Nährstoffkreisläufe. Wer Mais auf Mais anbaut, bei starkem Gefälle
pflügt oder nur auf Kunstdünger setzt, zerstört unsere
Böden und damit die Produktionsgrundlage der Zukunft.
Der konkrete Schutz des Bodens gewinnt weiter an
Bedeutung. Darum hat die Linke beantragt, das Schutzgut „Bodenfruchtbarkeit“ im Rahmen der aktuellen Novellierung des Düngegesetzes in diesem ausdrücklich zu
verankern. Die Änderung bezieht sich auf den Import
von Düngemitteln nach Deutschland, für die wir die
gleichen Bedingungen festschreiben wollen, die für alle
anderen Düngemittel auch gelten: „Neben der Anforderung, dass im Rahmen des Inverkehrbringens von Düngemitteln, Bodenhilfsstoffen, Pflanzenhilfsmitteln sowie
Kultursubstraten keine Gefahren für die Gesundheit von
Menschen und Tieren sowie für den Naturhaushalt ausgehen dürfen, müssen die bestehenden Anforderungen,
dass diese Stoffe die Ernährung von Nutzpflanzen sicherstellen und die Fruchtbarkeit des Bodens, insbesondere den standort- und nutzungstypischen Humusgehalt,
erhalten oder nachhaltig verbessern sollen ({1}), ebenso gelten“, heißt es in der
Begründung unseres Änderungsantrags.
Der Bundesrat hat sich ähnlich geäußert, aber auch
sein Vorschlag wurde nicht berücksichtigt. Die Bundesregierung begründet die Ablehnung mit der Behauptung,
eine entsprechende Änderung stehe mit dem EU-Recht
in Konflikt und sei im Übrigen sowieso unnötig. Durch
den Begriff „Naturhaushalt“ sei der Boden bereits inbegriffen und der Änderungsvorschlag der Linksfraktion
damit unnötig. Nur die Grünen schlossen sich unserer
Forderung an. Die SPD enthielt sich leider der Stimme,
obwohl sich der SPD-Agrarminister Dr. Till Backhaus
aus Mecklenburg-Vorpommern im Bundesrat für eine
solche Änderung starkgemacht hatte.
Angesichts solcher Widersprüche kann ich verstehen,
dass sich Minister Backhaus öffentlich beklagt, dass die
Agrarpolitik in der SPD einen so geringen Stellenwert
hat, wie in der Fachzeitschrift Agra-Europe vergangene
Woche zu lesen war.
Da der Antrag der Linken von der Koalition abgelehnt wurde, enthält der Gesetzentwurf immer noch den
beschriebenen Mangel. Da wir die übrigen Änderungen
jedoch mittragen, wird sich die Linke in Gesamtabwägung zur Gesetzesänderung enthalten.
Wir stehen in der Landwirtschaft vor einer ganzen
Reihe großer, dringender Herausforderungen. Das zeigt
sich bei den großen Debatten dieser Tage wie der gestrigen Aktuellen Stunde zum Antibiotikamissbrauch in der
Tierhaltung. Das zeigt sich bei vielen Debatten, die wir
anlässlich der heute beginnenden Internationalen Grünen Woche hier in Berlin führen, etwa über die Reform
der EU-Agrarpolitik. Das zeigt sich aber auch bei Änderungen gesetzlicher Details, wie sie der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht. Auch hier haben wir es gleich mit
den drei großen Herausforderungen der Biodiversität,
der Bodenfruchtbarkeit und des Verbraucherschutzes zu
tun, um die sich die Koalition und die Bundesregierung
so gern herumdrücken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn wir über das Düngegesetz reden, müssen wir
natürlich über den Schutz der Bodenfruchtbarkeit reden.
Der weltweite Verlust an Bodenfruchtbarkeit muss uns
mit großer Sorge erfüllen. Für mich als Bauer ist die Erhaltung und Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit eine
der wichtigsten Aufgaben, der ich mich in der Verantwortung für die nächsten Generationen zu stellen habe.
Der Bundesrat hat angeregt, den Schutz der Bodenfruchtbarkeit explizit zu nennen, wenn es um die Zulassung von Düngemitteln geht. Wir unterstützen das. Die
Bundesregierung hat leider nicht schlüssig darlegen
können, warum sie sich hier sperrt.
Zum Zweiten ist hier das Saatgutverkehrsgesetz betroffen. Es geht hier um die Umsetzung der EU-Erhaltungssortenrichtlinie. Das mag ein eher technischer
Schritt sein. Aber wenn es um die Erhaltungssorten geht,
das heißt um die Pflege und Erhaltung alter, wichtiger
Kultursorten, um die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt, dann müssen wir immer sehr genau hinsehen. Diese
Arbeit wird in erster Linie ehrenamtlich von Einzelpersonen und NGOs betrieben, die sich zum Ziel gesetzt haben, diese Kulturgüter für die Allgemeinheit zu erhalten.
Wenn wir gesetzgeberisch mit dieser im höchsten Sinne
gemeinnützigen Arbeit umgehen, so muss es unser Ziel
sein, diese wertvolle Arbeit zu stützen, zu fördern und
keinesfalls Hürden aufzubauen, durch die diese Arbeit
erschwert werden könnte. Hier muss Initiative ermöglicht und darf nicht gebremst werden. Wir müssen daher
sehr genau mit den Betroffenen beraten, wie hier das
Saatgutverkehrsgesetz sinnvoll auszugestalten und anzuwenden ist.
Die Bundesregierung hat in der Ausschussberatung
leider nicht schlüssig darlegen können, ob und wie sie
diesem Ziel bei dem vorliegenden Gesetzentwurf nachgekommen ist.
Das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, der
dritte Teil dieses Gesetzentwurfes, hat uns ja erst vor
kurzem beschäftigt, als es um den Dioxinskandal in der
Landwirtschaft ging. Wir glauben, dass die vorgesehene
Verschärfung der Strafbewehrung beim fahrlässigen
Umgang mit Kokzidiostatika und Histomonostatika
richtig und sinnvoll ist. An diesem Punkt unterstützen
wir den Gesetzentwurf.
Aufgrund der Unklarheiten bei der Änderung des
Saatgutverkehrsgesetzes und der Weigerung der Bundesregierung, den Schutz der Bodenfruchtbarkeit im
Sinne der Forderung des Bundesrates explizit in der Änderung des Düngegesetzes zu benennen, werden wir dem
Gesetz aber nicht zustimmen, sondern uns enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8205,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/7744 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck ({0}), Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Waffengesetzes - Schutz vor Gefahren für
Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche
halbautomatische Schusswaffen
- Drucksache 17/7732 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von
Günter Lach CDU/CSU, Stephan Mayer, CDU/CSU,
Gabriele Fograscher, SPD, Serkan Tören, FDP, Frank
Tempel, Die Linke, und Wolfgang Wieland, Bündnis 90/
Die Grünen.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß,
Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB
unterstützen
- Drucksachen 17/7827, 17/8340 -
Berichterstattung:
Abgeornete Marlene Mortler
Jens Ackermann
Markus Tressel
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von
Marlene Mortler CDU/CSU, Christian Hirte, CDU/CSU,
Gabriele Hiller-Ohm, SPD, Jens Ackermann, FDP, Dr.
Ilja Seifert, Die Linke, Markus Tressel, Bündnis 90/Die
Grünen.
1) Anlage 4
Mit dem Antrag „Tag des barrierefreien Tourismus
auf der ITB unterstützen“ soll die Bundesregierung aufgefordert werden, auf die dauerhafte Einrichtung dieses
Thementages auf der Internationalen Tourismus-Börse,
ITB, ab 2012 hinzuwirken. Sie soll dazu in einen vertieften Dialog mit der Messe Berlin, der Nationalen
Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V., Natko,
dem Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, BKB,
Behindertenverbänden und Marketingorganisationen
eintreten.
Wir sind uns wohl alle hier im Hause einig: Wir wollen den barrierefreien Tourismus in Deutschland voranbringen.
Deshalb begrüßen wir, dass im Rahmen der ITB als
der größten Tourismusmesse der Welt am 8. März 2012
erstmals ein Thementag mit Vorträgen und Diskussionen
zum barrierefreien Tourismus in Deutschland stattfindet. Dieser Thementag wird sicher helfen, die öffentliche
Aufmerksamkeit auf dieses so wichtige Thema zu lenken.
Die Organisation und Finanzierung des Thementages
sollte vor allem bei den beteiligten Verbänden und der
Privatwirtschaft liegen. Federführend ist hier die Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle, der wir an
dieser Stelle herzlich danken. Die Natko trägt seit Jahren dazu bei, den barrierefreien Tourismus in Deutschland zu stärken. Sie zeigt noch bestehende Schwachstellen auf, indem sie Menschen mit Behinderungen in die
Planung und Konzeption einbindet.
Wir freuen uns, dass die Messe Berlin die Veranstaltung bereits durch die kostenlose Bereitstellung von
Räumlichkeiten und mit Marketingmaßnahmen unterstützt. Wir würden begrüßen, wenn sich Tourismuswirtschaft und Tourismusverbände noch stärker freiwillig
beteiligten, sowohl 2012 als auch in den Folgejahren.
Mit vergleichsweise geringen Beträgen könnte sich die
Branche noch stärker zur Barrierefreiheit bekennen und
ihre eigenen Initiativen und vielen positiven Beispiele
herausstellen.
Die Veranstaltung wird bereits über den Beauftragten
der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen unterstützt. Für diese Förderung habe ich mich
persönlich bei Hubert Hüppe mit eingesetzt.
Die Aufgabe der Bundesregierung ist es aber vor allem, die Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in Deutschland zu verbessern. Das tun wir - und
zwar vielfältig -:
So hat das Bundeswirtschaftsministerium Studien
zum Thema Barrierefreiheit gefördert und mit der Konferenz „Barrierefreier Tourismus für Alle - Trends und
Perspektiven“ am 11. September 2008 eine eigene große
Veranstaltung durchgeführt.
Einen wesentlichen Impuls gibt die Bundesregierung
aktuell mit der Förderung des im Oktober 2011 gestarteten Projekts „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines
Tourismus für alle in Deutschland“. Dieses Projekt wird
mit rund 500 000 Euro gefördert. Auch hier ist die Bundesregierung also engagiert.
Träger sind die NatKo und das Deutsche Seminar für
Tourismus, DSFT. In den nächsten zwei Jahren soll so
eine einheitliche Kennzeichnung für barrierefreie Produkte entlang der gesamten Servicekette erarbeitet werden. Parallel dazu starten Schulungsmaßnahmen zur
Qualifizierung der Leistungsträger und der Aufbau einer Internetplattform für barrierefreie Angebote und
Dienstleistungen. Diese Maßnahmen sind dann wirklich
ein großer Schritt zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für den barrierefreien Tourismus in unserem
Land.
Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen, dass
Barrierefreiheit zu einem Qualitätsmerkmal des Deutschlandtourismus wird. Denn: Sie ist eine Grundvoraussetzung für die selbstbestimmte und gleichberechtigte
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Barrierefreie Angebote sind außerdem ein Gewinn für alle: Sie kommen Menschen mit
dauerhaften Behinderungen ebenso zugute wie Familien
mit kleinen Kindern und Kinderwagen, Menschen mit
vorübergehend eingeschränkter Mobilität oder älteren
Menschen. Angesichts des demografischen Wandels
wird dieser Aspekt noch weiter an Bedeutung gewinnen.
Es passiert viel auf diesem Gebiet. Die Sensibilisierung der Branche für das Thema schreitet voran. Tourismusanbieter und Verkehrsunternehmen haben sich in
den vergangenen Jahren zunehmend auf mobilitätseingeschränkte Gäste eingestellt und viele beispielhafte
barrierefreie Angebote geschaffen. Bei der Deutschen
Bahn sind bereits bei 70 Prozent der 5 400 Bahnhöfe die
Bahnsteige ohne Stufen über Gehwege, Rampen oder
Aufzüge erreichbar. Vielerorts ist auch der Zugang zu
Freizeit- und Kultureinrichtungen deutlich verbessert
worden. Gleiches gilt für Nationalparks und Naturparke.
Allerdings ist die Planung und Durchführung einer
Reise für Menschen mit Behinderungen weiter alles andere als leicht. Trotz vielfältiger Investitionen und Informationen besteht noch immer Handlungsbedarf aufseiten der Leistungsanbieter. Bestehende Angebote müssen
besser vernetzt, koordiniert und vermarktet, Mitarbeiter
besser qualifiziert werden.
Ziel muss eine durchgehend barrierefreie touristische
Servicekette sein - von der Information und Buchung
über die Anreise, Unterkunft bis hin zu Freizeit- und
Kulturangeboten am Zielort. Gerade für Menschen mit
Behinderungen ist eine detaillierte Reiseplanung mit
verlässlichen Informationen unverzichtbar.
Wir wollen, dass all diese Schritte auf dem Weg zum
Qualitätsmerkmal Barrierefreiheit im Deutschlandtourismus noch besser verknüpft werden. Wir haben daher
im Tourismusausschuss eine öffentliche Anhörung zu
diesem Thema beantragt. Sie wird am 8. Februar 2012
stattfinden.
Davon erwarten wir uns weitere Impulse und Anregungen. Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Ziel weiterarbeiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Barrierefreiheit, oder vielleicht besser Barrierearmut, ist ein wirkliches Dauerthema in unserem Ausschuss. Über alle Parteigrenzen hinweg arbeiten wir daran - immer sehr sachorientiert - und verfolgen oft
gemeinsame Ziele. Bei vielleicht keinem anderen Thema
tun wir das so intensiv wie bei der Frage des barrierefreien Tourismus. Ich bin jetzt seit vier Jahren im Bundestag und auch Mitglied im Tourismusausschuss, und
ich kann mich eigentlich an keine touristische Initiative
erinnern, bei der wir nicht ganz besonders auch darauf
hingewiesen hätten, dass Barrierefreiheit bei den Angeboten zu berücksichtigen sei. Ich denke da nur einmal an
den Antrag aus dem vorletzten Jahr, den Kulturtourismus zu fördern, oder auch an unsere Initiativen im Rahmen der Luther-Dekade. Oder denken Sie an die Expertenanhörungen in unserem Ausschuss - immer wieder
adressieren Abgeordnete aller Fraktionen an die Vertreter der Tourismusbranche, bei der Barrierefreiheit weiter voranzugehen.
Deshalb ist es auch ein gutes Zeichen, dass in diesem
Jahr bei der größten Tourismusmesse, der ITB, ein Tag
des barrierefreien Tourismus angeboten wird. Das zeigt,
dass auch die Branche um die wachsende Bedeutung
weiß. Denn das muss uns miteinander ebenfalls klar
sein: Wir können Gesetze, Verordnungen, Regeln beschließen und erlassen - ohne das Mittun der Anbieter
geht es nicht. Und dabei brauchen wir nicht nur das Mittun, sondern ein wirkliches Antreiben und Anschieben
eben von der Branche.
Genau an der Stelle sind wir beim Problem dieses Antrages. Sie fordern, dass die Bundesregierung auf einen
dauerhaften Tag des barrierefreien Tourismus hinwirken
soll. Um es vorweg zu sagen: Ich würde mich freuen,
wenn dieser Tag ein großer Erfolg würde und er auch in
Zukunft wieder stattfände. Denn ich bin fest überzeugt,
dass es ein Potenzial für das Thema gibt, dass man damit touristische Produkte erstellen kann, die man auch
verkaufen kann. Aber ob das eine Dauereinrichtung sein
muss, das weiß ich zumindest im Moment wahrlich
nicht. Da würde ich schon gern einmal abwarten, was in
diesem Jahr passiert. Und warum muss denn dies alles
von der Politik kommen? Sie haben ja in Ihrem Antrag
die Akteure genannt: Messen, NatKo, Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, Verbände, Marketingorganisation. Diese sind in diesem Jahr an Bord, und dafür
möchte ich auch Danke sagen.
Denken Sie aber allein an die Zahl von 11 000 Ausstellern auf der ITB. Die ganze Wertschöpfungskette ist
dabei - Reiseveranstalter, Anbieter von Buchungssystemen, Zielgebiete, Airlines, Hotels bis hin zum Autovermieter, so heißt es auf der Internetseite der ITB. 11 000mal Branchenwissen, 11 000-mal Wissen über das, was
in der Praxis notwendig und machbar ist, 11 000-mal
das Wissen um Kundenbedürfnisse, Trends und Entwicklungen. Und auch 11 000-mal Erfahrungen mit Barrierefreiheit - Erfahrungen in Bezug auf gute Beispiele, auf
Entwicklungsbedarf, auf schlechte Beispiele. Wir sind
dabei sicher nicht an einem Punkt, an dem uns nicht
noch viele Verbesserungsmöglichkeiten einfallen würden.
Gerade als Mitglied einer Regierungsfraktion will ich
unsere Bundesregierung ja gar nicht kleinreden. Aber
wenn 11 000 Akteure zusammenkommen, sollte doch genügend Interesse und Sachverstand beieinander sein,
damit von ganz allein ein solcher Tag initiiert wird oder
auch andere begleitende Angebote im Rahmen der ITB
gefunden werden, zumindest dann, wenn eben viele der
Aussteller für sich erkennen, dass ihnen und allen Kunden ein solcher regelmäßiger Tag weiterhilft. Dass der
Behindertenbeauftragte der Regierung den diesjährigen
Tag besonders unterstützt, zeigt ja, dass der Bundesregierung dieses Thema alles andere als egal ist. Auch das
seit 2011 laufende Projekt „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im
Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ unterstreicht das. Das zeigt doch, dass bei uns allen und auch
bei der Regierung das Thema angekommen ist. Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es gewinnt immer
weiter an Bedeutung. Das sehen und erleben wir alle
miteinander täglich. Und Barrierefreiheit geht uns alle
an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir die Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit einem
Kinderwagen. Als Vater zweier kleiner Kinder kann ich
davon ein Lied singen. Wir werden alle aber auch irgendwann einmal älter und sind nicht mehr so mobil,
hören schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren auf. Die demografische Entwicklung kommt hinzu
und macht uns deutlich, dass das Thema immer mehr an
Fahrt gewinnt und weiter gewinnen wird.
Deshalb finde ich es toll, dass es in diesem Jahr einen
solchen Tag auf der ITB gibt. Und deshalb glaube ich
auch, dass es - ganz ohne die Politik - auch ein Interesse an einem dauerhaften Aufgreifen des Themas barrierefreier Tourismus geben kann. Aber an dieser Stelle
möchte ich schon auf genau dieses Interesse der Branche selbst und auch auf die Verantwortung der Branche
hinweisen. Es ist doch am Ende niemandem gedient,
wenn immer die Politik, in diesem Fall die Regierung,
den Antreiber geben muss. Ich bin sehr dafür, dass wir
bei den tourismuspolitischen Initiativen den Aspekt der
Barrierefreiheit immer wieder starkmachen und auch
von den Akteuren bestimmte Dinge einfordern. Aber an
dieser Stelle möchte ich wirklich an die Branche verweisen. Setzt euch zusammen, legt ein bisschen Geld hin
und überlegt, wie das Thema auf der ITB eingerahmt
sein kann. Das geht sicher auf ganz viele verschiedene
Arten; das muss am Ende vielleicht auch nicht der besondere Tag des barrierefreien Tourismus sein, sondern
es sind viele Aktionen, Auszeichnungen von BestPractice-Beispielen, kleine Ideen am Rande der Messe
denkbar. Auch hier bin ich sicher, dass die Kreativität
der Betroffenen im Zweifel größer ist als das, was wir
seitens der Politik forcieren können.
Lassen Sie uns daher die diesjährige ITB abwarten.
Wir sind gespannt, wie dieser Tag des barrierefreien
Tourismus aussehen wird, wie auch die Reaktionen sein
werden. Den Antrag der SPD werden wir heute ablehnen, weil wir zumindest nicht erkennen, warum die Bundesregierung an dieser Stelle aufgefordert werden soll,
hier den Moderator für eine Messe abzugeben, und weil
wir heute nicht eine langfristige Entscheidung treffen
Zu Protokoll gegebene Reden
möchten, ohne zu sehen, wie sich dieser erste Versuch in
diesem Jahr auf der ITB bewährt.
Der Deutschland-Tourismus jagt einen Rekord nach
dem anderen: Auch im Jahr 2011 werden wir das Spitzenergebnis von 2010 bei Übernachtungen in gewerblichen
Betrieben und im Touristikcamping übertreffen. Über
390 Millionen Übernachtungen werden erwartet - ein
tolles Ergebnis für die Branche.
Immer mehr Menschen wollen reisen und Urlaub machen. Das ist erfreulich. Viele Menschen können es aber
nicht - oder nur unter größten Umständen, die den Urlaub verleiden. Ich spreche von den 8 Millionen Menschen mit Behinderung; das ist jeder Zehnte in unserem
Land.
Noch immer gibt es viel zu wenig passende Reiseangebote. Nur ein Bruchteil der Hotels und Gaststätten in
Deutschland ist tatsächlich barrierefrei. Auch der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist längst kein Garant
für eine barrierefreie Anreise.
Wenn Menschen mit Behinderung verreisen, dann oft
mit großer Sorge, ob sie wirklich zum Urlaubsort gelangen und ob sie in ihrer Unterkunft den entsprechenden
Service vorfinden, den sie benötigen.
Wer sich intensiv mit dem Thema befasst, weiß: Besonders wichtig ist es, alle Akteure für Barrierefreiheit
zu sensibilisieren. In erster Linie muss die Tourismuswirtschaft überzeugt werden, wie sinnvoll - und auch
wirtschaftlich lukrativ - barrierefreie Angebote sind.
Wo wäre dies besser möglich als auf der national und
weltweit führenden Touristikmesse, der Internationalen
Tourismusbörse ITB in Berlin? 170 000 Besucherinnen
und Besucher, mehr als 11 000 ausstellende Unternehmen und Organisationen aus 188 Ländern, 7 000 Journalisten, die weltweit berichten, das sind die beeindruckenden Eckdaten der letzten ITB. Die nächste Messe
vom 7. bis 11. März steht schon in den Startlöchern.
Deshalb haben wir uns als SPD-Fraktion im Herbst
letzten Jahres mit dem Antrag „Tag des Barrierefreien
Tourismus auf der ITB unterstützen“ dafür eingesetzt,
dass dieser im März 2012 stattfinden kann. Ich freue
mich sehr, dass der Antrag noch vor der heutigen
Schlussberatung Wirkung gezeigt hat. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, hat
nun seine Unterstützung für den Thementag auf der ITB
im März zugesagt.
Umso befremdlicher ist die Ablehnung unseres Antrages durch die schwarz-gelbe Koalition im Tourismusausschuss. Dabei hatte Frau Mortler als tourismuspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion die Forderung
in ihrer letzten Rede unterstützt, allerdings mit Verweis
auf eine einmalige Veranstaltung.
Als SPD sagen wir aber deutlich: Wir wollen, dass
dieses Leuchtturmprojekt für Barrierefreiheit im Tourismus auch in den kommenden Jahren möglich wird. Nur
so setzen wir das entscheidende Signal: Barrierefreiheit
ist ein Zukunftsthema, gerade auch mit Blick auf unsere
älter werdende Gesellschaft. „Eintagsfliegen“ greifen
bei diesem wichtigen Thema zu kurz.
Dabei ist klar, dass vor allem die Privatwirtschaft gefragt ist, dieses lohnende Projekt zu unterstützen. Die
Bundesregierung sehen wir aber in der Pflicht, alle Akteure zusammenzubringen und für ein stärkeres öffentliches Bewusstsein zu sorgen.
Möglich wird der Tag auf der ITB in diesem Jahr nur
durch den unermüdlichen Einsatz der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für Alle. Es ist gut, dass es die
NatKo gibt. Sie wurde vor 13 Jahren von den Behindertenverbänden ins Leben gerufen und leistet seither hervorragende Arbeit.
Leider wird ihr Engagement für barrierefreien Tourismus durch die derzeit unzureichende Förderung der
Bundesregierung nicht vernünftig abgesichert. Wir
brauchen eine solide Grundfinanzierung der NatKo. Es
kann nicht sein, dass sie sich von Projekt zu Projekt hangeln muss - immer mit der Sorge, für eine kontinuierliche Arbeit die nötigen Gelder nicht zusammenzubekommen.
Erfreulich ist, dass der Regierende Bürgermeister von
Berlin, Klaus Wowereit, das Projekt öffentlichkeitswirksam unterstützen will. Dass wir uns nun auf den Tag der
Barrierefreiheit freuen können, liegt auch an dem weiten
Entgegenkommen der Messe Berlin, an der das Land beteiligt ist, und der beteiligten Kooperationspartner.
Der Tag des barrierefreien Tourismus auf der ITB ist
eine ideale Plattform, um alle Akteure im Tourismus für
Barrierefreiheit zu sensibilisieren - und einen intensiven
Dialog mit den Betroffenen zu ermöglichen. Einem breiten Publikum und Tourismusakteuren können so BestPractice-Beispiele für barrierefreies Reisen nahegebracht werden. Vorbildliche Unternehmen haben hier
die Chance, sich herauszustellen mit ihren barrierefreien Angeboten. Am 8. März wird der Tag des barrierefreien Tourismus auf der ITB erstmalig stattfinden ein toller Erfolg!
Ich freue mich, dass die Vorsitzende der Deutschen
Zentrale für Tourismus, Petra Hedorfer, ihre Teilnahme
zugesagt hat. Auch die AG „Barrierefreie Reiseziele in
Deutschland“ und das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit werden ihre Projekte im Rahmen der Fachveranstaltungen vorstellen.
Zwei Dinge müssen deutlich werden:
Erstens. Menschen mit Behinderung haben ein Recht,
Urlaub zu machen und zu reisen, wie alle anderen Menschen. Das fordert auch die für Deutschland geltende
UN-Behindertenrechtskonvention ein. Es muss sich das
Bewusstsein durchsetzen, dass Menschen nicht behindert sind - sondern behindert werden. Deshalb: weg mit
den Barrieren!
Zweitens. Das Potenzial eines barrierefreien Tourismus in unserem Land ist riesig. 5 Milliarden Euro zusätzlicher Umsatz wären möglich. 90 000 Vollzeitarbeitsplätze könnten damit geschaffen werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und: Das Potenzial wird in unserer älter werdenden
Gesellschaft immer größer. Ältere Menschen mit Mobilitäts-, Seh- oder Hörproblemen profitieren ebenfalls von
gut erreichbaren Hotels und Gaststätten, Museen und
barrierefreien Verkehrsmitteln, genauso Familien mit
kleinen Kindern.
Barrierefreier Tourismus steckt aber leider noch in
den Kinderschuhen. Als SPD fordern wir mit unserem
Antrag „Barrierefreier Tourismus für alle“, der schon
im Mai letzten Jahres eingebracht wurde, deutlich mehr
Anstrengungen für Barrierefreiheit. Wir brauchen endlich einen Masterplan für barrierefreien Tourismus von
Bund, Ländern, Städten und Gemeinden, durchgehende
Barrierefreiheit im Schienenfernverkehr, ein Förderprogramm für barrierefreie Gaststätten und Hotels und ein
bundesweit qualitätsgeprüftes Gütesiegel „Barrierefreier Tourismus für alle“.
Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderung in die Mitte unserer Gesellschaft rücken - und
Urlaub und Reisen für alle Menschen in unserem Land
möglich werden. Dafür reichen nicht nur warme Worte wir brauchen Taten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, im Tourismusausschuss haben Sie unseren Antrag
abgelehnt. Heute haben Sie die Chance, diese Entscheidung zu korrigieren und gemeinsam mit uns ein deutliches Signal für barrierefreien Tourismus zu setzen. Tun
Sie es!
In Deutschland leben rund 10 Millionen Menschen,
die mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen leben müssen. Ziel und zentraler Leitgedanke der UN-Behindertenkonvention ist es, diese Menschen in der Mitte
unserer Gesellschaft willkommen zu heißen und ihre aktive Teilhabe durch Inklusion zu ermöglichen.
Für uns steht die Berücksichtigung der Barrierefreiheit bei allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Tourismuspolitik im Vordergrund. Der Bundesregierung ist dieses Thema ernst und
wichtig! Sie setzt sich dafür ein, dass barrierefreies Reisen im gesamten Spektrum der touristischen Leistungskette verankert wird.
Barrierefreiheit erhöht die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland. Gerade im Hinblick auf die
Sicherung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des
Deutschland-Tourismus stehen wir hier vor einer der
zentralen Aufgaben.
Wir setzen hier auf Verantwortung und Bereitschaft in
der Tourismusbranche. Jedem Hotelier und Gastwirt ist
doch klar, dass er sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn er auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älteren und Behinderten eingeht. Gerade
angesichts der demografischen Entwicklung ist die Teilhabe aller Menschen am Tourismus von zentraler Bedeutung. Wir begrüßen deshalb jedwede Art von Initiativen und Projekten von Verbänden und Vereinen, um die
Öffentlichkeit und die Tourismuswirtschaft weiter für
das Thema barrierefreier Tourismus zu sensibilisieren.
Ich freue mich sehr darüber, dass im Rahmen der ITB,
der weltweit größten Tourismusmesse, erstmals am
8. März dieses Jahres ein Thementag mit Vorträgen und
Diskussionen zum Thema barrierefreier Tourismus stattfindet. Diese Veranstaltung wird vonseiten der Bundesregierung begrüßt und unterstützt. Ob daraus aber eine
dauerhafte Einrichtung wird, muss die Branche selbst
entscheiden.
Den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion lehnen wir
deshalb ab.
Zentrale Aufgabe der Bundesregierung ist es, die
Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in
Deutschland zu verbessern. Zu diesem Zweck hat das
Bundeswirtschaftsministerium Studien zum Thema Barrierefreiheit gefördert. Die ökonomische Bedeutung des
barrierefreien Tourismus in Deutschland wurde untersucht, und Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zu dessen
Qualitätsverbesserung wurden herausgearbeitet.
Ich verweise hier auch gern noch einmal auf die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“. Sie hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und setzt sich engagiert für die
Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste in den
Regionen ein.
Die Bundesregierung begleitet die Umsetzung der
UN-Behindertenkonvention im Bereich Tourismus mit
flankierenden Projekten. Sie fördert die Entwicklung
und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote und
Dienstleitungen. So konnte im November 2011 der Startschuss für das Projekt zur „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im
Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ gegeben
werden. Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich meinem Kollegen Ernst Burgbacher, Staatssekretär beim
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie und Beauftragter für Mittelstand und Tourismus, danken. Ernst
Burgbacher setzt sich seit vielen Jahren intensiv für eine
Stärkung des Tourismusstandortes Deutschland ein und
hat mit diesem Projekt einen weiteren Schritt in Richtung barrierefreier Tourismus getan. Das Projekt läuft
bis 2013 und trägt zur Erfüllung des Nationalen Aktionsplanes der Bundesregierung zur Umsetzung der
UN-Behindertenkonvention bei. Träger des Projekts ist
das Deutsche Seminar für Tourismus in Kooperation mit
der NatKo. In die Durchführung eingebunden sind die
Tourismuswirtschaft, die Deutsche Zentrale für Tourismus, die Behindertenverbände, Verkehrsträger, Landesmarketingorganisationen sowie eine Reihe weiterer
fachlicher Einrichtungen. Sie sehen also: Wir führen einen Dialog mit allen Beteiligten.
Ziel ist es, eine einheitliche Kennzeichnung zu erarbeiten und damit die vielen verschiedenen Kennzeichnungen durch ein einheitliches System zu ersetzen. Damit fördern wir eine Transparenz der bestehenden
Angebote und Leistungen.
Durch eine erfolgreiche Umsetzung des Projekts bietet sich die Chance, zu einer neuen Qualität im barrierefreien Tourismus zu gelangen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Über die Umsetzung des Projekts sowie die Einrichtung einzelner Projektmodule wird der Tourismusbeauftrage der Bundesregierung sicher so bald wie möglich
sehr gern berichten.
Ich denke, es ist deutlich geworden, dass uns das
Thema barrierefreies Reisen am Herzen liegt. Wie bereits in meiner Rede vom Juni vergangenen Jahres angemerkt, müssen wir verstärkt darauf hinwirken, dass öffentliche Bereiche zukünftig mindestens barrierearm
sein müssen. Bei den Bundesländern muss darauf hingewirkt werden, dass die Zielsetzung Barrierearmut bei
Bestandsbauten und Barrierefreiheit bei Neubauten verwirklicht wird. Der öffentliche Bereich kann und muss
Beispiel für den privaten wirtschaftlichen Sektor sein.
Des Weiteren hat der konsequente Wechsel vom staatlichen Fürsorgeprinzip hin zum Recht auf umfassende
gesellschaftliche Teilhabe eine außerordentlich hohe
Bedeutung, denn wirkliche Bedürfnisse können nicht
über den Kopf der Menschen mit Behinderungen konkretisiert werden. Dialog statt Verordnung sollte die Devise
sein!
Bei der Umsetzung von Barrierefreiheit spielen die im
Bundesgleichstellungsgesetz verankerten Zielvereinbarungen eine große Rolle. Behindertenverbände können
mit Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft darin
die Ziele zur Herstellung von Barrierefreiheit vereinbaren. Ich erwähne an dieser Stelle gern noch einmal, dass
die DEHOGA bereits im Jahr 2005 mit den Behindertenverbänden eine entsprechende Zielvereinbarung zur
Erfassung, Bewertung und Darstellung barrierefreier
Angebote im Gastgewerbe unterzeichnet hat. Barrierefreiheit wird auch bei der Hotelklassifizierung thematisiert. Bereits 1999 wurde die Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle e. V. - die sogenannte NatKo gegründet.
Im Rahmen einer Projektförderung durch das Bundesministerium für Gesundheit und zum Teil auch durch
das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie
steht sie Reiseveranstaltern, Verkehrsunternehmen, Tourismusregionen, Hoteliers und weiteren Anbietern als
Ansprechpartner und Berater zur Verfügung, um die Gestaltung barrierefreier Angebote zu unterstützen. Beide
Angebote bieten so eine gute Grundlage, Wünsche und
Bedürfnisse zu erfassen und deren Umsetzung gemeinsam voranzubringen.
Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Tourismus in
Deutschland werden sollte und vor allem werden kann.
Die Teilhabe aller Menschen am Tourismus muss ermöglicht werden. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam erreichen, nicht über die Köpfe der Gehandicapten und
Behinderten hinweg und nicht ohne Absprache mit den
Ländern und den verantwortlichen Akteuren der Tourismuswirtschaft.
Ich freue mich, dass die SPD mit ihrem Antrag meine
Initiativen für die aktive Unterstützung eines Tages des
barrierefreien Tourismus auf der ITB durch die Bundesregierung unterstützt.
Mehr als in anderen Bereichen werden in der Tourismuspolitik die Belange von Menschen mit Behinderungen und die Schaffung von Barrierefreiheit auch von der
Bundesregierung hervorgehoben. Dies wird in den Tourismuspolitischen Leitlinien und auch in der Koalitionsvereinbarung deutlich. Das möchte ich an dieser Stelle
ausdrücklich würdigen. Aber im „richtigen Leben“ gibt
es kaum Veränderungen. Der für Bauen, Stadtentwicklung und Verkehr zuständige Minister Ramsauer kennt
das Wort „Barrierefreiheit“ offenbar überhaupt nicht,
geschweige denn, dass er diesbezüglich irgendwelche
Akzente setzte; der Finanzminister Schäuble sorgt
ebenso wenig dafür, dass Investitionen, Rettungsschirme
und Konjunkturprogramme auch für Menschen mit
Behinderungen positive Veränderungen bewirken, und
auch beim Gesundheitsminister Bahr - in dessen Ministerium unverständlicherweise die Zuständigkeit für die
Förderung des barrierefreien Tourismus noch immer
liegt - und bei Familienministerin Schröder herrscht
diesbezüglich Funkstille.
Hinweisen möchte ich an dieser Stelle deswegen auf
meine Frage an die Bundesregierung vom Sommer letzten Jahres: „Welche Maßnahmen und Aktivitäten zur
Förderung des barrierefreien Tourismus gemäß den in
der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU, CSU und
FDP sowie im nationalen Aktionsplan gesteckten Zielen
wurden im laufenden Haushaltsjahr bereits ausgegeben
bzw. bewilligt - bitte jeweiliges Bundesministerium,
Maßnahme und Summe nennen -, und welche Rolle
spielte dabei die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V. - NatKo?“
Die Antwort des Staatssekretärs Dr. Bernhard Heitzer
vom 22. Juli 2011: „Die Bundesregierung unterstützt
den barrierefreien Tourismus für alle in Deutschland
durch vielfältige Maßnahmen.“
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales,
BMAS, fördert das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e. V., BKB, den Verein der Behindertenverbände
zur Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes.
Das BKB hat auch im Bereich des barrierefreien Tourismus einzelne Projekte auf den Weg gebracht.
Im Rahmen von Zuschüssen und Beiträgen an zentrale Einrichtungen des Gesundheitswesens fördert das
Bundesministerium für Gesundheit auch Projekte der
Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für Alle e. V.,
NatKo. Im Jahr 2011 betrifft das das Projekt „Reisemöglichkeiten für Menschen mit Pflegebedarf“, für das
Zuwendungen in Höhe von 87 412 Euro gewährt werden.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, BMWi, hatte im November 2010 Vertreter der Tourismusbranche, von Behindertenverbänden und Ländern
zu einem Expertengespräch zum barrierefreien Tourismus eingeladen. Ziel war es, Möglichkeiten eines umfangreichen Projektes zur Förderung des barrierefreien
Tourismus zu erörtern. Im Rahmen des Bund-LänderAusschusses „Tourismus“ fanden im Anschluss daran
Zu Protokoll gegebene Reden
weitere Gespräche mit den Vertretern der Länder statt,
um deren Vorschläge in das Projekt einfließen zu lassen.
Ein entsprechender Antrag zur Förderung des Projekts
durch das BMWi ist zurzeit in Vorbereitung.
Die Aktivitäten sind also sehr übersichtlich. Gern
schmücken sich Bundestag und Bundesregierung mit der
NatKo - einem seit zwölf Jahren wirkenden Zusammenschluss von inzwischen elf Behindertenorganisationen.
Völlig zu Recht zeichnete der Tourismusausschuss die
NatKo auf der ITB 2011 mit der Kristallkugel aus.
Gleichzeitig erhält die NatKo aber Jahr für Jahr weniger Mittel aus dem Bundeshaushalt, obwohl die Wünsche, Anfragen und Anforderungen an sie immer größer
werden.
Auf meine Frage an die Bundesregierung „Welche
Aktivitäten zur Förderung des barrierefreien Tourismus
plant bzw. unterstützt die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Internationalen Tourismusbörse, ITB,
im März 2012 in Berlin?“ antwortete Staatssekretär
Stefan Kapferer aus dem Bundeswirtschaftsministerium
am 10. Oktober 2011: „Die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V. plant gemeinsam mit verschiedenen Akteuren, wie zum Beispiel der Messe Berlin
AG, der AG barrierefreie Reiseziele, verschiedenen
Landesmarketinggesellschaften, dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband sowie dem Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, einen „Tag des
barrierefreien Tourismus“ auf der ITB 2012. Die Bundesregierung, der Beauftragte der Bundesregierung für
Mittelstand und Tourismus und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
unterstützen diese Idee. Für die Veranstaltung auf der
ITB 2012 sind im Bundeshaushalt jedoch keine Mittel
eingeplant.“
Aha! Die Regierung unterstützt die Idee, hat aber angeblich keine Mittel, um deren Umsetzung zu unterstützen. Schaut man sich die in der Beschlussempfehlung zusammengefasste Debatte zu diesem Antrag an, wird
deutlich, dass weder die Bundesregierung noch die
Koalitionsfraktionen den Geist und Inhalt der seit März
2009 rechtskräftigen UN-Behindertenrechtskonvention
verstanden haben. Die Staaten haben - so steht es in der
UN-Behindertenrechtskonvention - zu gewährleisten,
dass Menschen mit Behinderungen umfassend am Leben
in der Gesellschaft teilhaben können. Allein Art. 8 „Bewusstseinsbildung“, Art. 9 „Barrierefreiheit“ und
Art. 30 „ Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“ zeigen, dass die Förderung des
barrierefreien Tourismus - auch und gerade auf der
ITB - durch die Bundesregierung keine freiwillige, sondern eine Pflichtleistung ist - und dies nicht durch den
mit einem Minibudget ausgestatteten Behindertenbeauftragten bei der Bundesregierung, sondern durch das
zuständige Wirtschafts- und Tourismusministerium. Es
reicht eben nicht, sich eine freiwillige Beteiligung der
Tourismuswirtschaft zu wünschen, zumal Bundesminister und FDP-Vorsitzender Rösler weiß, wohin die Spenden von Mövenpick und den anderen großen Tourismusunternehmen fließen.
Die Linke begrüßt den Vorschlag, ab 2012 jährlich einen Tag des barrierefreien Tourismus auf der ITB zu organisieren. Dazu wird der von der SPD vorgeschlagene
vertiefende Dialog aber nicht ausreichen. Neben den im
Antrag vorgeschlagenen Akteuren und der Bundesregierung sollten auch die tourismuspolitischen Sprecherinnen und Sprecher aller Bundestagsfraktionen an einen
Tisch, und es bedarf auch der Bereitstellung der erforderlichen finanziellen Mittel. Vielleicht kann der für
Tourismus zuständige Minister seinen Tourismusbeirat
einbeziehen? Dort ist ein Großteil der benötigten Kompetenz versammelt, und angesichts der im Tourismus
2011 vermeldeten Rekordergebnisse sollte auch das nötige Kleingeld einsammelbar sein.
Laut der Studie „Barrierefreier Tourismus für Alle in
Deutschland - Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zur
Qualitätssteigerung“ des BMWi ({0}) ist eine barrierefrei zugängliche Umwelt für etwa 10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für etwa 30 bis
40 Prozent notwendig - das entspricht etwa 25 Millionen Menschen. Komfortabel ist sie für 100 Prozent!
Eine barrierefreie Infrastruktur nützt nicht nur allen
Bürgerinnen und Bürgern. Sie ist auch per Grundgesetz
vorgeschrieben ({1}). Bislang sind wir
noch weit davon entfernt. Die An- und Abreise mit der
Bahn, die Fahrt mit dem Auto, der Flug oder die Reise
mit welchem Verkehrsträger auch immer gehören zu fast
jedem Urlaub dazu. Für viele von uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Eine Reise ohne einen Ortswechsel ist
schlicht und ergreifend nicht möglich - für circa 20 Millionen Menschen mit eingeschränkter Mobilität in
Deutschland ist genau dies aber nach wie vor mit enormen Hindernissen verbunden. Ich spreche hier nicht nur
über die körperliche Bewegungseinschränkung; auch
Einschränkungen beim Hören und Sehen, Allergien und
viele weitere Beeinträchtigungen können die Mobilität
erschweren. Dabei spielen nicht nur die eigenen körperlichen Voraussetzungen eine Rolle, sondern auch die
Frage, wie viel Mobilität uns unsere Umwelt denn überhaupt ermöglicht.
Die Internationale Tourismusbörse, ITB, ist die
größte und umsatzstärkste Reisemesse weltweit. Der Antrag der SPD ist kurz und bündig. Er hat eine klare
Intention, die es zu unterstützen gilt. Wir brauchen Foren wie diese, um auf Probleme der Zukunft wie beispielsweise die Barrierefreiheit Antworten zu finden.
Auch unser Fachgespräch am 12. Dezember letzten Jahres zu „Barrierefreie Mobilität im Bahnverkehr“ hat gezeigt: Es bedarf eines Dialoges zwischen Reisenden und
Reiseindustrie. Was wäre da besser geeignet als die
ITB?
Wir verstehen unter Barrierefreiheit einen breiten Ansatz, der die Bedarfe verschiedener Beeinträchtigungen
umfasst. Eine barrierefreie Infrastruktur enthält keine
Einschränkungen für Eltern mit Kleinkindern, für älter
werdende Menschen, aber auch für Menschen mit Behinderungen. Der Nationalpark Eifel in NordrheinWestfalen bietet da ein schönes Beispiel. Er hat es sich
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Aufgabe gemacht, allen Menschen mit und ohne Behinderung das Erleben der Natur zu ermöglichen. Dazu
werden in Kooperation mit der Nordeifel Tourismus
GmbH alle touristischen Angebote barrierefrei gestaltet,
zum Beispiel durch Führungen in Gebärdensprache,
barrierefreie Wanderrouten, Barrierefreiheit der Informationen im Gelände, spezielle Reisearrangements für
Menschen mit Behinderungen.
Die Zahl der Urlaubsreisenden zwischen 65 und
75 Jahren wird bis 2020 um 40 Prozent zunehmen. In
dieser Reisegruppe findet sich ein besonders hoher Anteil an Deutschlandreisen. Darauf gilt es sich vorzubereiten. Das ist auch ein politischer Auftrag! Mögliche
Effekte sind bis zu 5 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen in der Tourismusbranche sowie zusätzliche
90 000 Arbeitsplätze. Diese Potenziale gilt es zu nutzen.
Auf der ITB sollte man sich dessen bewusst werden. Wir
stimmen dem Antrag daher zu.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8340, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/7827 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Tarifsystem stabilisieren
- Drucksache 17/8148 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von
Ulrich Lange, CDU/CSU, Gitta Connemann, CDU/CSU,
Johannes Vogel, FDP, Jutta Krellmann, Die Linke, Beate
Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. Von der
SPD liegt kein Redetext vor.
In Deutschland haben wir ein sehr gutes Tarifsystem,
basierend auf starken Partnern, unseren Arbeitgebervertretern und unseren Gewerkschaften. Diese beiden
Partner sind als Protagonisten zuständig für die Vertretung ihrer Klientel und für die Ausgestaltung der Tarife.
Die Politik gibt die Rahmenbedingungen vor, unter denen dieses System sich gut entwickeln kann.
Aber die Linken haben unser System bis heute nicht
verstanden, haben den Absprung vom Staatsdirigismus
bis heute nicht geschafft. Wir stehen dafür, dass der
Staat nur eingreift, wenn es die Tarifparteien nicht
schaffen. Dies ist derzeit nicht der Fall.
Wir setzen auf Tarifpartnerschaft und wollen eine
Stärkung der Tarifautonomie durch branchenbezogene
Verfahren. Die Tarifautonomie ist ein Eckpfeiler unseres
Sozialstaates. In keinem Land der Welt ist so eine partnerschaftliche Sozialkultur entstanden wie in unserem
Land.
Die Linken fordern gebetsmühlenartig einen flächendeckenden Mindestlohn. Als Grund führen sie dann europäische Partner an, bei denen es einen Mindestlohn
gibt, wie zum Beispiel in Frankreich. Dabei verschweigen die Linken aber, dass aufgrund des Mindestlohnes
jedes Jahr circa 30 Milliarden Euro an Subventionen
vom französischen Staat an die Arbeitgeber als Ausgleich gezahlt werden. Damit werden viele Mitnahmeeffekte produziert. Wir sind gegen solch eine Stützung der
Wirtschaft, aber für die Absicherung der Arbeitnehmer
mit einem bedarfsorientierten Mindesteinkommen über
das Grundsicherungssystem.
Die Linken fordern in ihrem Antrag eine Steigerung
der Löhne, um die Binnenwirtschaft anzuwerfen. Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen von den Linken: Die
Löhne steigen bei uns, weil die Arbeitslosigkeit sinkt und
die Beschäftigtenzahlen steigen. Die soziale Marktwirtschaft funktioniert bei uns, weil der Staat nicht alles vorschreibt.
Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass in den meisten
Ländern mit gesetzlichen Lohn- und Mindestlohnregelungen eine solch erfreuliche Arbeitsmarktentwicklung
wie hierzulande nicht zu beobachten ist. Das ist der
Lohn einer hohen Verantwortung auf beiden Seiten der
Tarifpartner. Es soll Aufgabe der Tarifpartner bleiben,
dafür zu sorgen, dass Niedriglöhne in Ordnung gebracht
werden.
Wenn der Staat die Tarifautonomie ersetzen würde,
hätten wir Lösungen, die nicht den Gegebenheiten in
den Regionen und Branchen entsprechen. Funktionierende Tarifautonomie braucht starke Arbeitgeberverbände und starke Gewerkschaften, die für ihre Branche
verbindliche Abmachungen treffen können. Um die Tarifautonomie zu stärken, setzen wir bei branchenbezogenen Verfahren an:
Die Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
sollen für möglichst viele Branchen geöffnet werden; die
Tarifvertragsparteien sind gefordert, Lohnuntergrenzen
zu definieren.
Die Allgemeinverbindlicherklärung von Vereinbarungen über das Tarifvertragsgesetz soll erleichtert werden.
Um künftig zu verhindern, dass sich eine Tarifvertragspartei auf der Nachwirkung eines Tarifvertrages
ausruht, und um Haustarifverträge mit Niedriglöhnen
ablösen zu können, soll die Nachwirkung von Tarifverträgen im Tarifvertragsgesetz auf ein Jahr begrenzt werden.
Sollten die Tarifparteien keine Lösung beim Grundsatz der Lohngleichheit finden, wollen wir eine gesetzliche Normierung, wobei eine angemessene Einarbeitungszeit berücksichtigt werden muss.
Meine Damen und Herren von der Linken, die Auswirkungen eines Staatsdirigismus haben wir in der DDR
gesehen, haben die Bewohner Ostdeutschlands schmerzlich erfahren müssen. Sie haben als Nachfolgepartei der
SED den Staatsbankrott der DDR, den Niedergang der
ostdeutschen Wirtschaft zu verantworten. Springen Sie
wenigstens jetzt über Ihren Schatten und schmeißen Sie
Ihren Antrag in die Mottenkiste, wo er hingehört! Sorgen Sie mit uns dafür, dass es unseren Bürgerinnen und
Bürgern gut geht! Setzen Sie mit uns weiterhin auf die
soziale Marktwirtschaft gegen Staatsdirigismus!
„Alter Wein in neuen Schläuchen“ - so sollte der Titel des heutigen Antrages der Fraktion der Linken eigentlich lauten. Denn in dem Antrag findet sich keine
Forderung, die von den Linken nicht schon gestellt worden wäre, und zwar nicht einmal, sondern immer und
immer wieder. Diese Politik der Wiederholung ist aber
nicht Ausdruck von Beharrlichkeit, sondern von offensichtlicher Ignoranz - der tatsächlichen Gegebenheiten
sowie der rechtlichen Verhältnisse.
Erstens. Die Beschreibung der Verhältnisse durch
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, und die
Realität weichen stark voneinander ab. Hier liegt ein
klarer Fall von Bewusstseinsverzerrung vor.
Dies beginnt schon bei der Wahrnehmung der Tarifbindung in Deutschland durch die Linken. Ihr Antrag reduziert den Begriff allein auf die unmittelbare Tarifbindung, nämlich bei einer Mitgliedschaft des Arbeitgebers
im Arbeitgeberverband und des Arbeitnehmers in der
Gewerkschaft. Zwar ist diese unmittelbare Bindung an
Flächen- und Branchentarifverträge in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Dafür ist aber die Zahl der
Haus- bzw. Firmentarifverträge gestiegen. Hinzu kommen die Arbeitsverhältnisse, in denen der Tarifvertrag
zum Beispiel zur Anwendung kommt, weil ein Arbeitsvertrag auf den entsprechenden Vertrag Bezug nimmt.
Über diese sogenannte mittelbare Tarifbindung verlieren die Linken jedoch kein Wort. Denn es kann ja nicht
sein, was nicht sein darf. Meine Damen und Herren von
der Linken, dann müssten Sie nämlich zur Kenntnis nehmen, dass es um die Tarifbindung in Deutschland bei
weitem besser bestellt ist, als von Ihnen beschworen.
Danach waren auch 2010 für insgesamt 80 Prozent der
Arbeitsverhältnisse ({0}) Tarifverträge maßgeblich. Entgegen Ihren Unkenrufen, meine Damen und Herren von der Linken, sind
damit Tarifverträge nach wie vor das wichtigste Strukturelement für die Festsetzung von Entgelten und Arbeitsbedingungen. In den übrigen 20 Prozent finden sich
vor allem Bereiche, in denen zwar keine Tarifverträge
bestehen, aber dennoch regelmäßig hohe Löhne gezahlt
werden. Ich nenne beispielhaft die Beschäftigten in der
IT-Branche und Ingenieure. Arbeitgeber können sich
häufig gar nicht erlauben, ihren Arbeitnehmern ein unter Tarif liegendes Entgelt anzubieten. Insbesondere vor
dem Hintergrund des demografischen Wandels und des
steigenden Mangels an qualifizierten Arbeitskräften
wird dieser Aspekt immer wichtiger werden. Soweit sich
ein Arbeitgeber bzw. ein Arbeitnehmer dagegen entscheidet, seine Lohnfindung an den Vorgaben eines Tarifvertrags auszurichten, ist dies im Übrigen sein gutes
und durch die Verfassung abgesichertes Recht. Denn das
Grundgesetz schützt auch die negative Koalitionsfreiheit, ob es Ihnen, meine Damen und Herren von den Linken, nun passt oder nicht.
Und dann Ihre Behauptungen zum Niedriglohnsektor,
meine Damen und Herren von der Linken. Sie begründen Ihre Forderung nach einer staatlichen Lohnfestsetzung mit dem Anstieg der Zahl der sogenannten Aufstocker und der Ausweitung des Niedriglohnsektors. Meine
Damen und Herren von der Linken, die Beschäftigung
unterhalb der Niedriglohnschwelle ist aber gerade nicht
mit unauskömmlicher Arbeit gleichzusetzen. Wissen Sie
eigentlich, wovon Sie reden? Wissen Sie, wie hoch die
Niedriglohnschwelle überhaupt liegt? Von der Bundesagentur für Arbeit wird hier ein Wert von zurzeit
1 802 Euro pro Monat angenommen. Dies entspricht einem Stundenlohn von 10,95 Euro. Ein Niedriglohnjob
kann daher nicht mit einer Hilfsbedürftigkeit des Betroffenen gleichgesetzt werden. Im Übrigen sind die meisten
Aufstocker keine Vollzeitbeschäftigten, sondern Minijobber oder Teilzeitkräfte. In mehr als der Hälfte der
Fälle sind die Niedriglöhne Nebeneinkünfte: 84 Prozent
der Geringverdiener haben andere, zusätzliche Einkommensquellen und erzielen ein Gesamteinkommen oberhalb der Armutsgefährdungsschwelle. Deshalb würde
selbst ein hoher gesetzlicher Mindestlohn an der Transferabhängigkeit der meisten Aufstocker wenig ändern,
insbesondere wenn Kinder in der Familie sind.
Zweitens. Ihr verzerrter Blick auf die Realität ist aber
noch harmlos im Vergleich zu Ihren Rechtskenntnissen.
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre Forderungen sind wirklich ungetrübt von jedem juristischen
Wissen. Da fällt mir nur die Empfehlung ein, die jedem
Jurastudenten im ersten Semester gegeben wird: „Ein
Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.“
So fordern Sie die Aufnahme aller Branchen in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Dies ist rechtlich äußerst
problematisch. Denn die notwendige Bestimmtheit der
Verordnungsermächtigung dürfte damit nicht mehr gegeben sein. Dies war übrigens ein maßgeblicher Grund,
warum in der 15. Legislaturperiode von diesen Plänen
Abstand genommen wurde. Im Übrigen war im Jahre
2009 allen interessierten Branchen angeboten worden,
in den Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufgenommen zu werden. Diese Möglichkeit
wurde jedoch nicht genutzt. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ist auch aktuell eine Erweiterung
für einzelne Branchen grundsätzlich möglich.
Ihr nächster Husarenstreich, meine Damen und
Herren von der Linken, ist die Forderung nach einer automatischen Allgemeinverbindlicherklärung repräsentativer Entgelttarifverträge. Warum sollen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zukünftig in Verbänden und
Gewerkschaften organisieren, wenn auch ohne die damit
zusammenhängenden Kosten die Regelungen für diese
gelten? Diese Folgen sieht sogar der Antrag. Denn es
wird auf Skandinavien verwiesen, wo eine hohe Tarifbindung ohne hohen Organisationsgrad vorliegt. BeispielsZu Protokoll gegebene Reden
weise liegt aber auch in Österreich die Tarifbindung bei
99 Prozent, der Organisationsgrad aber nur bei 28 Prozent, oder in Frankreich bei 90 Prozent bzw. 8 Prozent.
Meine Damen und Herren von der Linken, ist der Tarifbindung dadurch geholfen, dass eine Minderheit für die
Mehrheit Bestimmungen trifft, die dann allgemein für
alle gelten? Im Übrigen kollidieren Ihre Vorstellungen,
meine Damen und Herren von der Linken, mit der verfassungsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit sowie der Handlungsfreiheit.
Bei einer nur relativen Repräsentativität fehlt den abschließenden Tarifvertragsparteien jegliche Legitimation, für den Rest der Branche die Arbeitsbedingungen
zu regeln. Die damit einhergehende Missbrauchsgefahr
ist praktisch mit Händen zu greifen. Ich nenne insoweit
nur das Stichwort „Postmindestlohn“.
Nur mit wirklich repräsentativen Tarifverträgen im
Sinne des 50-Prozent-Quorums des Tarifvertragsgesetzes kann sichergestellt werden, dass sich Tarifverträge
vor ihrer Erstreckung mehrheitlich durchgesetzt haben
und die wirklichen Bedingungen der Branche widerspiegeln. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass eine Minderheit die Mehrheit majorisieren kann. 50 Prozent sind die
Hälfte der betroffenen Arbeitsverhältnisse. Eine Reduktion dieser klaren Grenze einer absoluten Mehrheit
würde weitere Reduktionen je nach der politischen Konstellation nach sich ziehen.
Ihre Forderung nach einer automatischen Erstreckung aller Branchentarifverträge steht im krassen Widerspruch sowohl zur negativen als auch zur positiven
Koalitionsfreiheit. Die Bildung marktgerechter Löhne
wäre weitgehend unmöglich, da keine Rücksichtnahme
auf Außenseiter mehr notwendig wäre. Nicht umsonst
sehen das Tarifvertragsgesetz und das ArbeitnehmerEntsendegesetz einen Tarifausschuss sowie das Mindestarbeitsbedingungengesetz einen Fach- bzw. Hauptausschuss vor.
Auch Ihre Forderung nach einer Erstreckung ganzer
Lohngitter widerspricht der Tarifautonomie. Diese geht
über das zur Verhinderung sozialer Verwerfungen
Notwendige hinaus. Folge der Erstreckung wäre ein
Flickenteppich unterschiedlichster geltender Mindestlöhne, die insbesondere für kleine Unternehmen nicht
handhabbar wären. Zudem würde die Kontrolle durch
die jeweiligen Kontrollbehörden erschwert. Niemandem
ist geholfen, wenn ein Mindestlohn gilt, aber aufgrund
der Unübersichtlichkeit ob der Vielzahl der geltenden
Löhne nicht klar ist, welcher Lohn gilt. Zudem würde die
Ermächtigung, ganze Lohngitter auch über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erstrecken zu können, dem
Missbrauch zum Eingriff und zur Regulierung des Wettbewerbs Tür und Tor öffnen.
Meine Damen und Herren von der Linken, im Onlinelexikon für Redensarten wird übrigens der Ausruf „Das
ist doch alter Wein in neuen Schläuchen!“ wie folgt erklärt: „… den gleichen Inhalt auf andere Weise präsentieren oder anders benennen; Täuschungsmanöver“.
Genau so ist es. Und für Täuschungsmanöver sind wir
nicht zu haben. Deshalb werden wir Ihren Antrag auch
ablehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
jeder kennt ja das so genannte Déjà-vu-Erlebnis. Ich
habe dazu einmal im Lexikon nachgeschlagen. Unter
dem Stichwort „Déjà-vu“ kann man dort nachlesen,
dass es sich um eine qualitative Gedächtnisstörung mit
vielfältigen Ursachen handelt, mitunter ausgelöst durch
Ermüdung, Drogenkonsum oder auch traumatische
Schädigungen des Temporallappens. Science-FictionFans mögen auch an eine Störung der Matrix denken. So
oder so erscheint mit diesem Wissen jedes Déjà-vuErlebnis als Anlass zur Sorge um die eigene Gesundheit jedenfalls ist es ein bisschen beunruhigend.
Unter diesem Gesichtspunkt fürchte ich mich inzwischen immer ein wenig vor der Lektüre Ihrer Anträge;
denn irgendwann stellt sich dabei immer das Gefühl des
Schon-mal-gesehen-Habens ein. Kann man gar nichts
dran machen. Das hat natürlich damit zu tun, dass sich
bei Ihnen die Kreativität beim Auffinden politischer Probleme in einem umgekehrten Proportionalverhältnis mit
der Kreativität Ihrer Lösungsvorschläge befindet. Kurz:
Je mehr Probleme, desto weniger Lösungen. Denn egal,
welches echte oder vermeintliche Problem Sie benennen, außer Frage steht jeweils seine Linderung durch
Ihr arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Breitenantibiotikum: den allgemeinen, politisch gesetzten Mindestlohn
mit Gesetzeszwang. Insofern muss man auch geradezu
Verständnis dafür haben, dass in Ihrem Antrag, den Sie
mit „Tarifsystem stabilisieren“ betitelt haben, als Erstes
- was vorschlagen? Richtig: einen gesetzlichen Mindestlohn. Es ist überall dasselbe - von Garmisch bis
Flensburg und von Aachen bis Görlitz.
Bevor ich auf Ihre restlichen Forderungen eingehe,
möchte ich aber noch ein paar Bemerkungen machen.
Erstens schreiben Sie in Ihrem Antrag, der Niedriglohnsektor weite sich aus. Das stimmt nicht, sondern seit
etwa fünf Jahren ist sein Anteil in etwa gleich groß.
Zweitens behaupten Sie, Deutschland setze auf Dumpinglöhne. Auch das stimmt nicht, sondern die Lohnstückkosten sind in Deutschland in den vergangenen
Jahren relativ stabil geblieben, und zwar stabil auf einem hohen Niveau. Vergleicht man beispielsweise die
24 Industrieländer mit den höchsten Lohnstückkosten,
dann landet Deutschland hier auf dem vierten Platz.
Ehrlich gesagt finde ich es da reichlich abwegig, von
Dumpinglöhnen zu sprechen. Abgesehen davon bin ich
mir auch nicht ganz sicher, was Sie unter Dumping verstehen, bzw. glaube ich, dass Sie selbst auch nicht genau
erklären können, was Sie darunter verstehen.
Ansonsten haben Sie ja jetzt folgende Vorhaben: Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für alle Branchen, Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes dahin gehend, dass Allgemeinverbindlichkeitserklärungen
erleichtert werden, und dahin gehend, dass komplette
Entgelttabellen leichter für allgemeinverbindlich erklärt
werden können, und auch Tarifverträge mit regionaler
Reichweite sollen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Alles zur Stabilisierung des Tarifsystems wohlgemerkt. So
weit, so gut - oder schlecht -, und da könnte man jetzt
eigentlich in der Sache diskutieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Johannes Vogel ({0})
Man könnte das aber auch sein lassen, denn Ihr Antrag lässt es dabei ja nicht bewenden. In der Begründung lassen Sie nämlich die - ja, so muss man das wohl
sagen - Maske fallen. Ich zitiere: „Um die Allgemeinverbindlicherklärung unabhängig vom politischen Willen der jeweiligen Arbeitsministerin oder des jeweiligen
Arbeitsministers und auch unabhängig von der Position
der Spitzen- oder Fachverbände der Arbeitgeber zu erleichtern, wird das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales verpflichtet, Tarifverträge automatisch für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn gewisse Repräsentativitätsanforderungen erfüllt sind. Damit entfällt das
bisherige Vetorecht der Arbeitgeber, aber auch das des
Bundesarbeitsministeriums.“ Unter „gewissen Repräsentativitätsanforderungen“ verstehen Sie irgendetwas,
was weniger als die Hälfte ist. Denn zum 50-ProzentQuorum des Tarifvertragsgesetzes lassen Sie verlauten:
„Als weiteres Hindernis ist das zu hohe Quorum von
50 Prozent zu nennen, das derzeit für eine Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz vorgeschrieben ist und vom Bundesministerium für Arbeit und
Soziales auch auf das Arbeitnehmer-Entsendegesetz angewandt wird.“
Also nichts für ungut, aber nachdem ich am Anfang
gesagt habe, ein Déjà-vu-Erlebnis könnte einem schon
Angst machen, muss ich jetzt doch sagen, das es Ihr
Grundrechts- und Demokratieverständnis ist, das einen
schaudern lässt. Dazu muss man sich noch einmal den
Art. 9 des Grundgesetzes vergegenwärtigen, dessen
Wortlaut so schön ist, dass man ihn gar nicht oft genug
zitieren kann. In den ersten beiden Sätzen heißt es da:
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden,
ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern
suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen
sind rechtswidrig.“ Im Prinzip fußt das ganze deutsche
Tarifvertragssystem auf diesem Grundrecht. Und jetzt
kommen Sie und wollen daraus Folgendes machen: Alleine Arbeitnehmervertreter bestimmen über Allgemeinverbindlichkeiten, fertig aus. Sie treten also das Grundrecht der Tarifautonomie mit Füßen. Nichts anderes ist
es nämlich, wenn man eine Partei im Tarifausschuss
ausschalten will. Und demokratisch ist es schon mal gar
nicht, wenn die Minderheit über die Mehrheit entscheidet - auch das haben Sie vor. Eigentlich weiß man das
schon seit rund 2 500 Jahren. Sie leider nicht. Vielleicht
fällt Ihnen dazu aber im Ausschuss noch etwas ein. Ich
freue mich darauf.
Der Tarifvertrag besitzt eine lange Tradition in
Deutschland. Schon seit 139 Jahren ist er ein probates
Mittel, um Löhne festzulegen, Urlaub und Arbeitszeiten
zu regeln und spezifische Bedingungen am Arbeitsplatz
zum Schutz der Beschäftigten zu bestimmen. Die Aushandlungsprozesse, die den Tarifverträgen vorausgingen, fanden früher nicht selten auf der Straße statt.
Heute ist für gewöhnlich der Verhandlungstisch der
Schauplatz von Tarifauseinandersetzungen. Erst wenn
es dort nicht weitergeht, dann wird „auf der Straße“
verhandelt. Auch in diesem Jahr stehen wieder in vielen
Branchen Tarifverhandlungen an, unter anderem in der
Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst.
Tarifvertragsverhandlungen finden jedoch nie in einem luftleeren Raum statt, sondern sind ein Abbild der
aktuellen Beschäftigungssituation, der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und auch des rechtlichen Rahmens. Aber wie sehen diese denn heutzutage aus?
Der Arbeitsmarkt in Deutschland wurde dank RotGrün und der Agenda 2010 zunehmend dereguliert. Statt
der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung wuchs
der Niedriglohnbereich; durch Befristung, Leiharbeit
und Minijobs haben nicht nur die Beschäftigten weniger
in der Lohntüte, auch dem Staat gehen damit Steuereinnahmen und Geld für die Sozialversicherungssysteme
verloren. Die Absurdität des Ganzen kann man an der
Zunahme der Zahl der sogenannten Aufstocker ablesen,
wo der Staat das Lohndumping von Arbeitgebern sogar
noch bezuschusst. Zeitgleich wurde ein beispielloses
Sanktionssystem installiert, das den Druck, eine Arbeit
anzunehmen, und sei sie auch noch so schlecht bezahlt,
immens gesteigert hat. Den Beschäftigten verlangt der
Balanceakt zwischen prekärer Beschäftigung und Hartz IV
immer mehr ab und führt nicht selten in die Annahme
mehrerer Jobs, um sich über Wasser zu halten. Die stagnierende Kaufkraft der Beschäftigten ist nur ein Ausdruck dieser Situation.
Gegen diese Entwicklung haben es auch die Gewerkschaften schwer. Durch die schwindende Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter und der Ausweitung der prekären Beschäftigung erlitten sie erhebliche
Mitgliederverluste, die wiederum die Tarifauseinandersetzungen erschwerten. Die Folgen lassen sich nicht zuletzt an der schwindenden Tarifbindung und den niedrigen Tarifabschlüssen der letzten Jahre ablesen. Ein
Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.
Die tarifrechtliche und arbeitsrechtliche Gesetzgebung, die diese Schieflage unterstützt, hat die Politik zu
verantworten, angefangen beim Gesetz zur Neuregelung
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse bis hin
zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz.
Frei nach dem Motto: Was man verbockt hat, kann
man auch wieder geradebiegen, ist es höchste Zeit, die
Zeichen der Zeit anzuerkennen und notwendige Gesetzesänderungen auf den Weg zu bringen.
Dabei ist neben der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns vor allem die Stärkung des Tarifsystems und der Tarifbindung unerlässlich. Dies wird,
ausgehend von der aktuellen Rechtslage, durch die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erreicht. Mit der Ausweitung auf alle Branchen und die
Einbeziehung von kompletten Entgelttabellen schlagen
wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen sichert dies vielen Menschen ein Arbeitsverhältnis mit
Tarifbindung, und zum anderen ließe sich dadurch der
Organisierungsgrad sowohl bei den Gewerkschaften als
auch bei den Arbeitgebern erhöhen. Nur wenn Beschäftigte etwas von ihrer Gewerkschaft haben, werden sie
Zu Protokoll gegebene Reden
Mitglied. Und nur wenn unter diesen Bedingungen alle
Betroffenen an einem Tisch sitzen, finden Verhandlungen
auf Augenhöhe statt und man kann wieder von einem guten Tarifsystem in Deutschland sprechen - und von guten Tarifverträgen!
Wir freuen uns, dass sich nun auch die Fraktion Die
Linke für die Stabilisierung des Tarifvertragssystems
starkmacht und einen eigenen Antrag unserem Antrag
„Tarifvertragssystem stärken - allgemeinverbindliche
Tariflöhne und branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern“ zur Seite stellt. Das Thema ist wichtig, denn
das Tarifsystem befindet sich in einem schnell voranschreitenden Erosionsprozess. Dies zeigen die Zahlen
zur Tarifbindung, die 1980 noch über 80 Prozent betrug
und heute auf 62 Prozent abgesunken ist. Konkret bedeutet dies, dass nur noch 62 Prozent der Beschäftigten
von Tarifverträgen geschützt werden. Die weißen Flecken in der Tariflandschaft werden immer größer - zulasten der Beschäftigten.
Die Bundesregierung ignoriert aber dieses Problem.
In Debatten verweisen die Regierungsfraktionen immer
und immer wieder auf die Verantwortung der Tarifpartner. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Tarifpartner autonom für gute Löhne und faire Arbeitsbedingungen sorgen. Das ist der Idealfall. Fakt ist aber, dass die
Tarifpartnerschaft in manchen Branchen nicht mehr
funktioniert. Das geschieht auf Kosten der Beschäftigten
sowie der Allgemeinheit. Deshalb muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt und gestärkt werden.
Im gesamteuropäischen Vergleich befindet sich
Deutschland beim Tarifbindungsgrad lediglich im Mittelfeld. Zum Beispiel in Frankreich, Spanien und Finnland bestehen wesentlich effektivere Systeme, mit denen
Tarifverträge als allgemeinverbindlich erklärt werden
können, sodass sie für alle Beschäftigten einer Branche
gelten. In Frankreich entscheidet das Arbeitsministerium über die Ausdehnung eines Tarifvertrags, ohne an
Kriterien der Repräsentativität von Tarifverträgen gebunden zu sein. In Finnland gelten die Tarifverträge für
alle Beschäftigten, wenn etwa die Hälfte der Beschäftigten bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber arbeitet. In
Spanien werden alle Tarifverträge automatisch auf die
Beschäftigten einer Branche ausgedehnt, wenn sie von
einer als repräsentativ anerkannten Tarifpartei abgeschlossen wurden.
Die Bundesregierung sollte sich diese Systeme der
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zum
Vorbild machen. Der Trend zur Tarifflucht muss endlich
gestoppt werden, denn Tarifflucht hat auch Auswirkungen auf die Löhne. Der anwachsende Niedriglohnbereich hat einschneidende Konsequenzen für die Existenzsicherung der Beschäftigten und belastet in mehrfacher Hinsicht den Sozialstaat. Prekäre Löhne verursachen Einnahmeausfälle bei den Sozialversicherungen,
mindern die Steuereinnahmen und führen zu steigenden
Sozialausgaben. Niedrige Löhne belasten vor allem
aber die Menschen. Sie leben in finanzieller Unsicherheit unter unwürdigen Lebensbedingungen. Anerkennung und Wertschätzung sieht anders aus.
Weil das Thema mir so wichtig ist, freut es mich, dass
die Linken nun auch einen Antrag zu diesem Thema einbringen. Es sind interessante und ziemlich weitgehende
Forderungen, die sich an den gesetzlichen Bestimmungen in Spanien orientieren. Wir werden diese Vorschläge
sehr genau prüfen.
Auf den ersten Blick wird aber deutlich, dass die Forderungen sehr weitreichend sind und stark das bisherige
System verändern würden. Prinzipiell halten wir am bisherigen System fest, denn es passt zu den unterschiedlichen Realitäten in Deutschland. Es gibt gutfunktionierende Sozialpartnerschaften in vielen Branchen; für die
gilt das Tarifvertragsgesetz. Für Branchen, in denen nur
Mindestlöhne verhandelbar sind, greift das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. In Branchen, in denen die Sozialpartnerschaft überhaupt nicht funktioniert, können Mindestlöhne nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz
geschaffen werden. Und schlussendlich fordern wir einen gesetzlichen Mindestlohn, der flächendeckend für
alle Beschäftigten gilt. Dennoch sind Reformen notwendig, um die Tarifbindung durch Mindestlöhne und als
allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge zu erhöhen.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass die Verfahren im Tarifvertragsgesetz und im Arbeitnehmer-Entsendegesetz vereinfacht werden.
In der weiteren Diskussion im Ausschuss und bei der
Anhörung, werden wir uns intensiv auch mit den Forderungen der Linken auseinandersetzen. Schussendlich
haben wir ja das gleiche Ziel. Wir brauchen wieder eine
höhere Tarifbindung, denn wir wollen, dass möglichst
alle Menschen von ihrer Arbeit leben können.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 17/8148 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({0}), Tabea Rößner, Dr. Konstantin
von Notz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umfassende Initiative zur Digitalisierung des
Filmerbes starten
- Drucksache 17/8353 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Rechtsausschuss
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von
Johannes Selle, CDU/CSU, Dorothee Bär, CDU/CSU,
Angelika Krüger-Leißner, SPD, Dr. Claudia Winterstein,
FDP, Kathrin Senger-Schäfer, Die Linke, Claudia Roth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Vor uns liegt die wirklich ungeheuer komplexe Aufgabe, das qualitativ und quantitativ große deutsche Filmerbe zu sichern und der Öffentlichkeit Zugang zum Erbe
zu ermöglichen. Neu ist diese Aufgabe nicht, aber erledigt ist sie auch noch nicht.
Diese Aufgabe erfordert unsere erhöhte Aufmerksamkeit, denn wir sind in einem Stadium, wo durch fortschreitende Zeit irreparable Schäden entstehen können.
Gleichzeitig ist klar, dass diese Aufgabe aufgrund ihrer
Dimension - es handelt sich immerhin um mehrere Hunderttausend Werke - nicht mit einem Schlag bewältigt
werden kann. Das liegt zum einen an den zur Verfügung
zu stellenden Finanzmitteln, es liegt aber auch an den
zur Verfügung stehenden Kapazitäten.
Es ist politisch unstrittig, dass wir uns diesem Thema
zügig widmen müssen. Es dürfte weiter unstrittig sein,
dass dazu eine Finanzierung auf die Beine zu stellen ist,
zu der auch der Bundeshaushalt wird beitragen müssen.
Richtig losgelegt werden kann aber erst, wenn konzeptionelle Vorarbeiten abgeschlossen sind, bei denen
die Beiträge der Experten der Branche erforderlich
sind.
Die Themenfelder, um die es dabei geht, wurden bei
dem öffentlichen Fachgespräch des Ausschusses für
Kultur und Medien zum Thema Filmerbe - Archivierung und Digitalisierung am 9. November 2011 sehr
deutlich.
Da geht es zunächst einmal um die vollständige Bestandsaufnahme, in der auch der Erhaltungszustand erfasst werden sollte.
Für die Zukunft gehört die für dieses Jahr vorgesehene Änderung des Bundesarchivgesetzes mit der
Pflichtregistrierung aller produzierten Kinofilme dazu.
Aus dieser Pflichtregistrierung wird sich ergeben, in
welchem ergänzenden Umfang eine Pflichthinterlegung
aller Werke vorgesehen werden kann und welche finanziellen Auswirkungen für Produzenten oder auch die öffentliche Hand damit verbunden sind.
Auch durch die Fernsehanstalten werden Filme hergestellt, deren Sicherung auf Dauer in die Betrachtung
ebenso einzubeziehen ist wie die Zugänglichkeit für Interessenten.
Nach dem Stand der Technik ist davon auszugehen,
dass zukünftige Nutzungen digitalisierte Werke voraussetzen. Das stellt für neue Produktionen weniger ein
Problem dar als für historische Werke. Bei den historischen Werken stehen wir inzwischen in vielen Fällen vor
der Aufgabe, die Filme vor der Digitalisierung zu restaurieren. Dies kann, abhängig vom Zustand, sechsstellige Beträge pro Film erforderlich machen. Um dies zu
leisten, werden eine Priorisierung und sogar eine Kanonisierung unumgänglich sein.
Unzweifelhaft wird nicht jeder Film zum Erbe gerechnet werden können. Auf welche Weise hier vorgegangen
werden kann, gehört zu den Fragen, die als nächste gelöst werden müssen.
Wenn auch der Digitalisierung die Zukunft gehört, so
ist schon erstaunlich, was die öffentliche Anhörung zu
diesem Thema an Erkenntnissen gebracht hat.
Die Geschwindigkeit der digitalen Revolution ist ungebrochen. Damit verbunden ist eine Vielfalt von Formaten und Geräten. Die Standards wechseln und müssen
immer wieder neu gefunden werden. Demgegenüber
steht die qualitativ hochwertige und vergleichsweise
langanhaltende Sicherung auf herkömmlichem Filmmaterial.
Es ist durchaus nicht selbstredend und völlig eindeutig, wie der Weg der Digitalisierung kosteneffizient beschritten werden kann. Die Digitalisierung eines abendfüllenden Films beläuft sich im Moment auf einen
fünfstelligen Betrag.
In Deutschland unterstützen auch die Länder und
weitere Ministerien das große Thema, das gesamte kulturelle Erbe zu digitalisieren, wozu über den Film hinausgehend Bücher, Gemälde, Architektur und vieles
andere mehr zu zählen ist. Auch diese Erfahrung und
Forschungsergebnisse sind zu berücksichtigen. Hier
muss insbesondere durch Mitwirkung der Experten der
Branche eine einvernehmliche Lösung definiert und
dann allgemeinverbindlich gemacht werden.
Um vorhandene Werke digitalisieren zu können, muss
in Übereinstimmung mit dem Urheberrecht gehandelt
werden. Dort, wo die Filme physisch liegen, liegen nicht
immer die Rechte.
Der Prozess der Rechteklärung und gegebenenfalls
der Rechteeinholung ist sehr aufwendig und dadurch
auch kostenintensiv. Nicht in jedem Fall kann er erfolgreich zu Ende geführt werden. Da es aber in jedem Fall
von hohem allgemeinen Interesse ist, das Erbe zu
bewahren und auch zu nutzen, sind entsprechende gesetzliche Regelungen zu schaffen, die uns das Handeln
ermöglichen, aber auch berechtigte nachträglich auftretende Interessen berücksichtigen können.
Das Thema der Bewahrung des Erbes und der Nutzbarmachung kennen andere europäische Nationen auch.
Wir sind gut beraten, nach deren Erfahrungen zu fragen.
Diesen Prozess auch auf europäischer Ebene mitzugestalten, verdient ebenso unsere Anstrengungen. Denn
was zu Europa gehört, definiert sich wesentlich auch
über die gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Insbesondere ist hier an die Regelung zu denken, die wir im Umgang mit verwaisten Werken brauchen.
Ebenfalls mitbedacht werden sollte, wie unser Erbe
anderen europäischen Nutzern ebenso zugänglich gemacht werden kann - durch Untertitelung zum Beispiel wie deren Erbe unserer Bevölkerung.
Das kulturelle Erbe der Bewegtbilder zu sichern und
zu bewahren, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
gehört zu unserem Selbstverständnis und natürlich auch
zu unserem Selbstbewusstsein. Deshalb sehe ich der
weiteren Diskussion guten Mutes entgegen.
Zu Protokoll gegebene Reden
„Jugendpolitik führt in Deutschland ein Schattendasein“ - so lautet der Vorwurf der Opposition, ferner,
dass in der Arbeit der schwarz-gelben Regierungskoalition jugendpolitische Belange weit hinter eine Politik,
die auf frühkindliche Förderung zielt, zurückfielen.
Diesen Umstand gelte es zu durchbrechen. Ein Symbol für den Aufbruch in eine eigenständige Jugendpolitik sei die „Würdigung der jugendfreundlichsten Kommune Deutschlands“ in Form eines Wettbewerbs.
Dieser Vorwurf lässt sich freilich nicht halten. Richtig
ist zwar, dass in den vergangenen Jahren der Schutz, die
Förderung und die Bildung in den ersten Lebensjahren
besondere Aufmerksamkeit erfahren haben - und dies zu
Recht. Das BMFSFJ arbeitet jedoch derzeit unter Einbeziehung der Jugendverbände an einer Strategie für eine
eigenständige Jugendpolitik. Der vorliegende Antrag ist
damit als reiner Aktionismus zu bewerten.
Der gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche
Wandel der letzten Jahrzehnte eröffnet Jugendlichen
heute mehr Chancen als jemals zuvor. Gleichzeitig stellt
dieser Wandel Jugendliche aber auch vermehrt vor Entscheidungen und neue Herausforderungen.
Der demografische Wandel, die mit der Globalisierung steigenden Anforderungen an Wissen und Kompetenzen, die Beschleunigung und Verdichtung der Bildungsbiografie und die stärkere Heterogenisierung der
Jugendphase erfordern auch von der Jugendpolitik ein
Umdenken. Neben den schulischen Anforderungen wollen Jugendliche sich entsprechend ihren eigenen Interessen und Stärken weiterentwickeln und sich gesellschaftlich engagieren. Jugendliche benötigen Raum:
sowohl in der Gesellschaft, um angehört zu werden und
mitbestimmen zu können, als auch reale Räume in ihrer
unmittelbaren Umgebung als Treffpunkte.
Die Jugendpolitiker der Union berücksichtigen diese
Punkte; wir werden in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen, der sich insbesondere mit dem Bereich Reformierung des Kinder- und Jugendplans, dem Bereich der
Partizipation, dem Bereich Neue Medien und Medienkompetenz und dem Bereich der Freiwilligendienste befasst.
Den vorliegenden Antrag lehnen wir insofern heute
ab.
In drei Wochen beginnen wieder die Internationalen
Filmfestspiele in Berlin.
Dieter Kosslick, der Chef der Berlinale, war gestern
bei uns im Ausschuss und hat in seiner unnachahmlichen Art berichtet, was uns in diesem Jahr erwartet.
Wieder hat er unsere Begeisterung und Neugier in Bezug
auf das Festival geweckt. Ich freue mich, dass Dieter
Kosslick seinen Job auch noch in den nächsten fünf Jahren weitermacht, und ich wünsche ihm von dieser Stelle
aus viel Erfolg.
Mit im Programm der Berlinale ist wieder die Retrospektive. Hier hat Dieter Kosslick ab diesem Jahr eine
wunderbare Kooperation auf die Schiene gesetzt. Künftig wird die Berlinale zusammen mit der Deutschen Kinemathek bei ihren Retrospektiven eng mit dem Museum
of Modern Art kooperieren.
Auf den Retrospektiven der Berlinale werden Filme
gezeigt, die Filmgeschichte gemacht haben, die das Filmemachen in aller Welt entscheidend mitgeprägt haben
und die für viele junge Filmemacher heute noch Vorbild
sind.
Bei der 60. Berlinale vor zwei Jahren hatten wir ja einen besonderen Höhepunkt mit der Präsentation des restaurierten Filmwerkes „Metropolis“ von Fritz Lang,
eine Ufa-Produktion aus dem Jahr 1927.
Was bei der Berlinale und anderen Filmfestivals geboten wird, sollte auch im übrigen kulturellen Angebot
eine Selbstverständlichkeit sein: das Nebeneinander von
topaktuellen Filmen und Filmklassikern.
Eine lebendige Filmkultur zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die Gelegenheit bietet, Einblick in
die Werke der Filmgeschichte zu geben. Die Qualität
vieler neuer Filme erschließt sich oftmals erst, wenn
man sie im Kontext des gesamten Filmschaffens sieht.
Viele dieser Filme setzen bis heute Maßstäbe in künstlerischer, technischer und visueller Hinsicht.
Deshalb muss unser Filmerbe präsent sein im kulturellen Leben und für alle zugänglich. Vergessen wir
nicht: Unser Filmerbe ist ein wesentlicher Bestandteil
unseres gesamten nationalen Kulturerbes. Filme vermitteln wie andere Meisterwerke auch eine Vorstellung von
der Geschichte, der Identität und der Kultur und sind
damit prägend für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft. Filme sind in ihren vielfältigsten Formen ein
kulturelles Erbe, das bewahrt, erhalten, archiviert, analysiert, aber auch genutzt und gezeigt werden muss.
Aber wie steht es denn um unser Filmerbe in Deutschland? Kurz gesagt: gar nicht gut. Die Probleme sind seit
Jahren bekannt - passiert ist bislang kaum etwas.
Wir erinnern uns noch alle: Bereits vor vier Jahren
haben wir mit einem gemeinsamen Antrag die Bundesregierung aufgefordert, zu handeln. Ende 2010 hat der
Kulturstaatsminister im Ausschuss eingestanden, dass
die Dinge liegengeblieben sind. Umso intensiver wollte
er sich kümmern - passiert ist seitdem kaum etwas.
Deshalb hat die SPD-Fraktion im Sommer des vergangenen Jahres der Bundesregierung einen Fragenkatalog vorgelegt, um den Stand offenzulegen und um weiter zu drängen, damit die Dinge endlich angepackt
werden.
Die Antworten der Bundesregierung auf unsere
Kleine Anfrage „Sicherung, Bewahrung und Nutzbarmachung des nationalen Filmerbes“ - Bundestagsdrucksache 17/6834 - offenbaren, dass die Bundesregierung wertvolle Zeit für das Filmerbe und seinen Erhalt
hat verstreichen lassen. Bei den Kernfragen bleiben die
Antworten zu vage oder lassen die nötige Entschlossenheit zur Lösung vermissen. Klar wird: Bereits jetzt ist
Deutschland im Vergleich zu den europäischen Nachbarstaaten deutlich zurückgefallen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deshalb hat der Ausschuss erneut eine Reihe von
ausgewiesenen Filmerbeexperten eingeladen und von
weiteren Fachleuten schriftliche Stellungnahmen angefordert, um die Notwendigkeiten und Lösungswege aufzuzeigen. An dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank an
die Experten für die vielen wertvollen Hinweise!
Wir von der SPD-Fraktion sind gerade damit befasst,
unsere Schlussfolgerungen aus dem letzten Expertengespräch in einen konkreten Forderungskatalog an die
Bundesregierung zu gießen.
Ich kann meinen Ärger an dieser Stelle nicht zurückhalten, dass die Grünen trotz anderer Absprachen mit
einem eigenen Antrag vorgeprescht sind. Dabei stimmen
wir in der Analyse und in den nötigen Schlussfolgerungen doch weitgehend überein. Alle parlamentarische Erfahrung zeigt, dass gemeinsames Handeln gegenüber
der Regierung mehr Erfolg verspricht. Ein gemeinsamer
Antrag hätte der Lösung der drängenden Probleme beim
Filmerbe mehr gedient.
Lassen Sie mich über die Schlussfolgerungen unserer
Fraktion sprechen, die dringend zum Handeln zwingen:
Erstens. Unser Filmerbe hat große Lücken. Das betrifft vor allem die vor 2004 produzierten Filme. Die
DEFA-Stiftung hat die in der ehemaligen DDR produzierten Filme weitgehend vollständig gesichert, die
Murnau-Stiftung die vor 1945 produzierten Filme - nicht
alle, aber in großem Umfang. Eine Lücke klafft bei den
zwischen 1945 und 2004 in der alten Bundesrepublik und
den nach 2004 ohne öffentliche Förderung entstandenen
Filmwerken. Nur durch eine Pflichthinterlegung kann
der vollständige Erhalt des Filmerbes für die Nachwelt
sichergestellt werden.
Die Hinterlegungspflicht muss endlich gesetzlich
festgeschrieben werden. Die Pflichtregistrierung wäre
der erste Schritt. Endlich, nach vielen Jahren, kündigt
die Bundesregierung an, einen entsprechenden Entwurf
vorzulegen. Bisher ist es bei der Ankündigung geblieben. Das reicht nicht. Wir fordern die zügige Vorlage einer Regelung für die Registrierungspflicht. Immerhin
hat die Bundesregierung 350 000 Euro für diesen Zweck
im laufenden Haushalt eingestellt, aber noch fehlt ein
Konzept, wofür die Mittel eingesetzt werden sollen.
Aber bei der Registrierung darf es nicht bleiben. Die
Hinterlegungspflicht mit den zentralen Fragen, was, wo
und wie in die Archive zu geben ist, muss von Anfang an
mitgedacht werden. Wir fordern, entsprechende Konzepte auf den Tisch zu legen.
Erst seit 2005 werden zumindest die öffentlich geförderten Filme zur Abgabe einer Kopie verpflichtet. Aber
das passiert nicht nach einheitlichen Standards, und es
hat negative Konsequenzen für die Bewahrung und vor
allem für das Zugänglichmachen der Filme. Wir brauchen klare, für alle verbindliche Qualitätsstandards und
-normen für die Hinterlegung. Das kann nur gelingen,
wenn alle Beteiligten ihre Erfahrungen einbringen und
sich auf die Notwendigkeiten verständigen. Dazu brauchen wir eine entsprechende Initiative der Bundesregierung, damit ein solcher Prozess angeschoben wird.
Zweitens. Unser Filmerbe ist bundesweit verstreut
über verschiedene öffentliche, halböffentliche und private Archive. Es fehlt eine zentrale Bestandserfassung,
eine nationale Filmografie. Ein Ausbau des Filmportals
- wie von der Bundesregierung beabsichtigt - ist zu kurz
gesprungen. Wir brauchen eine systematische Erfassung
darüber, in welchem Archiv welcher deutsche Film in
welchem Format hinterlegt ist.
Drittens. Ein Teil unseres Filmerbes droht zu verfallen, weil das Trägermaterial ermüdet. Alle Experten raten uns, hier in großem Umfang umzukopieren und zu restaurieren, um den Bestand zu retten. Wir brauchen
Kriterien, die für eine entsprechende Auswahl und Reihenfolge Orientierung geben. Auch das kann nur mit allen beteiligten Einrichtungen und einer entsprechenden
Initiative der Bundesregierung gelingen.
Viertens. Der größte Teil unseres Filmerbes schlummert ungenutzt in den Archiven, weil es massenhaft an
Vorführkopien fehlt. Was aber nützt uns ein Filmerbe,
das in den Archiven verstaubt? Das Filmerbe soll lebendig sein. Es soll nicht allein aufgehoben werden für die
Nachwelt. Nein, es gehört hinein in unsere Gegenwart.
Es muss zum festen Bestandteil einer Filmbildung in den
Schulen gehören. Das Medium Film gehört unverzichtbar zur kulturellen Bildung. Die Franzosen mit ihrer
weltweit geschätzten Filmkultur machen uns vor, wie
das gehen kann. Das Ansehen der Filmnation Frankreich beruht im Wesentlichen auf der Präsenz des
Filmerbes im öffentlichen Bewusstsein.
Die größte Herausforderung für das Filmerbe geht
einher mit der Digitalisierung. Ich will es gleich dazusagen: Auch enorme Chancen sind mit der Digitalisierung
verbunden. Die Herausforderungen:
Fünftens. In absehbarer Zeit wird es nur noch digital
produzierte Filme geben und damit nur noch digitale
Originale oder Kopien, die hinterlegt werden können.
Wir wissen aber, dass trotz aller Forschung verlässliche
Technologien noch nicht verfügbar sind, die eine dauerhafte und sichere Speicherung erlauben. Hier müssen
alle Beteiligten an einen Tisch gebracht werden, um die
Anstrengungen - auch auf internationaler Ebene - zu
verstärken. Und vor allem müssen abgestimmte Standards her, damit das Formatechaos ein Ende hat.
Sechstens. Die Kinodigitalisierung ist in aller Munde.
Und sie gelingt mit unserer Unterstützung auch an kleineren Standorten im Land. Ende dieses Jahres werden
die meisten unserer Kinos nur noch mit digitalen Projektoren vorführen. Aber von den wenigsten der alten Filme
gibt es digitale Kopien. Aus rein technischen Gründen
droht also unsere Gegenwart vom Filmerbe abgeschnitten zu werden.
Dem kann nur mit einer nationalen Digitalisierungsstrategie begegnet werden. Auch hier ist zu klären, nach
welcher Auswahl und in welcher Reihenfolge die alten
Filmschätze in digitale Formate überführt werden sollen. Dafür brauchen wir Kriterien. Und auch dafür müssen die Beteiligten an einen Tisch.
Siebtens. Das Internet wird immer mehr genutzt, um
Filme abzurufen. Das ist eine große Chance, auch die
Zu Protokoll gegebene Reden
alten Filme anzubieten und wieder stärker in das allgemeine Bewusstsein zu rücken. Aber auch das setzt voraus, dass die Filme digitalisiert werden. Die Niederlande haben uns vorgemacht, wie man diese immense
Aufgabe in einer konzertierten Initiative anpacken kann.
Die Bundesregierung hat es bisher unterlassen, diese
Erfahrungen systematisch auszuwerten und für unsere
Notwendigkeiten nutzbar zu machen. Dabei müssen
auch Initiativen der Filmwirtschaft gefördert werden,
die aus der Zugänglichmachung des Filmerbes ein Geschäftsmodell machen wollen wie die Initiative „Schätze
des deutschen Films“. Hier ist natürlich zu beachten,
dass sich die Auswahl eher an „Marktgängigkeit“
orientiert als an filmhistorischen und kuratorischen Gesichtspunkten. Dennoch halte ich diese Initiative für gut
und unterstützenswert.
Achtens. Schließlich sind auch eine Reihe von urheberrechtlichen Problemen zu lösen, auf die ich im Einzelnen jetzt nicht mehr eingehen kann. Festzuhalten ist
auch hier: Das muss endlich angepackt werden.
Die Probleme sind bekannt; die Experten haben nach
2008 zum zweiten Mal im Ausschuss die Notwendigkeiten benannt. Der Kulturstaatsminister muss endlich mit
entschlossenen Schritten und Initiativen handeln und die
Akteure beim Filmerbe in das Finden von Lösungen einbeziehen.
Die Forderungen der Grünen im vorliegenden Antrag
gehen in die richtige Richtung. Wir werden in Kürze unseren Antrag vorlegen. Und auch die anderen Fraktionen können angesichts des Handlungsdrucks nicht still
bleiben. Vielleicht gelingt es uns, unsere Initiativen im
Interesse der Sicherung, Bewahrung und Zugänglichmachung unseres Filmerbes zusammenführen.
Es war ein großes Ereignis bei der Berlinale vor fast
genau zwei Jahren, als der legendäre Stummfilm „Metropolis“ von Fritz Lang erstmals wieder in einer restaurierten Fassung gezeigt werden konnte. Viele haben
sicherlich noch das Bild vor Augen, wie Tausende bei
klirrender Kälte und Schnee vor der Leinwand am Brandenburger Tor standen und die Welturaufführung der restaurierten Fassung miterlebten. Solche Ereignisse sind
die freudigen Höhepunkte bei der Beschäftigung mit
dem deutschen Filmerbe.
Wir sind uns aber auch der Probleme beim Thema
„Sicherung des nationalen Filmerbes“ in Deutschland
bewusst. Es liegt zum Ersten ein technisches Problem
vor. Viel Material ist in einem Zustand, welches eine
weitere technische Verarbeitung notwendig macht. Zum
Zweiten haben wir es mit Problemen bei der Dokumentation und Erfassung der Filme zu tun. Fraglich ist zum
Beispiel, an welchem Ort in Deutschland - ob beim
Deutschen Filminstitut e. V., DIF, der Stiftung Deutsche
Kinemathek oder dem Bundesarchiv - Filmkopien eines
Werkes vorliegen und vor allem in welchem Zustand
diese dort archiviert sind. Wo liegt also das beste Ausgangsmaterial, um den Film zu sichern oder um gegebenenfalls weitergehend zu digitalisieren, um den Film
auch in Zukunft - hoffentlich für lange Zeit - zugänglich
zu machen?
Seit 2009 ist über das online zugängliche Filmportal
- www.filmportal.de - eine vollständige Filmografie
verfügbar, die vom Deutschen Filminstitut mit Unterstützung der Bundesregierung fortgeführt und gepflegt
wird. Dieser Überblick über das, was in den letzten
110 Jahren produziert wurde, ist die Basis, um überhaupt erst einmal die Bestände zu erfassen und weitere
Aussagen zum Filmerbe treffen zu können.
Seit dem Jahr 2004 besteht eine Hinterlegungspflicht
für mit öffentlichen Mitteln geförderte Kinofilme. Damit
werden nach Einschätzung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM, 80 bis
90 Prozent aller jährlich produzierten Kinofilme erfasst.
Eine Pflichtregistrierung für deutsche Kinofilme wird in
Kürze im Rahmen der Novellierung des Bundesarchivgesetzes vorgelegt. Die Bundesregierung hat dazu schon
im Jahr 2009 konkrete Punkte entwickelt, die geregelt
werden müssen. Diese reichen von einer Festlegung zum
Umfang der Pflichthinterlegung, über Maßgaben zum
Format und zur Qualität der abzuliefernden Kopie bis
zu Kontrollmechanismen für die Hinterlegungspflicht.
Sicherlich wäre eine generelle gesetzliche Pflichthinterlegung für alle Filme in Deutschland wünschenswert.
Eine gesetzliche Pflichthinterlegung zieht jedoch Anfangsinvestitionen in Höhe von 6,6 Millionen Euro im
ersten Jahr und Folgekosten ab dem zweiten Jahr von
3,6 Millionen Euro pro Jahr nach sich. Das sind enorme
Kosten, die wir derzeit nicht schultern können. Hinzu
kommt: Bisher ist der Gesamtumfang der jährlichen
Filmproduktion in Deutschland nicht bekannt. Eine belastbare Kostenkalkulation aber ist erst nach Erstellung
einer solchen Übersicht möglich. Darum haben wir als
ersten Schritt vor, die Regelung zur Pflichtregistrierung
von deutschen Kinofilmen als mögliche klärende Vorstufe einer generellen gesetzlichen Pflichthinterlegung
einzuführen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wiederholt in
dem vorgelegten Antrag insgesamt häufig Bekanntes
und fordert vieles, was schon in den Anträgen zur Deutschen Digitalen Bibliothek oder in dem fraktionsübergreifenden Antrag „Das deutsche Filmerbe sichern“
aus dem Jahr 2008 deutlich gemacht wurde. Die Welt
hat sich aber in der Zwischenzeit weitergedreht. Es besteht nicht mehr so ein Vakuum wie 2008.
So können wir der Aussage der Antragsteller nicht
zustimmen, dass ein großer Teil des 2008 eingebrachten
fraktionsübergreifenden Antrages nicht erfüllt sei. Gerade die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt den
Status quo und das Vorankommen der Bundesregierung.
Die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck an einer
Regelung im Bundesarchivgesetz, um die Pflichtregistrierung einzuführen, und sie steht in sehr engem Kontakt zur Branche. Hier erübrigt sich schon einmal die
Einrichtung eines runden Tisches, um das eine oder andere Problem zu diskutieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist auch überflüssig, mit der Stoppuhr neben der
Bundesregierung zu sitzen und bis Frühjahr 2012 ein
Konzept einzufordern, welches erläutert, wie die im
Haushalt 2012 eingestellten 350 000 Euro zum Einsatz
kommen. Es verhält sich hier ganz einfach: Es handelt
sich um die in der oben genannten Stellungnahme des
BKM aus dem Jahr 2009 aufgeführten Kosten des Bundesarchivs für die Bereitstellung der technischen Voraussetzungen sowie die zusätzlichen Personalstellen.
Dies wird auch in den Antworten auf die Kleinen Anfragen zum Thema deutlich.
Auch den Anmerkungen zu einer verbesserten Zugänglichmachung und Verwertbarkeit vorhandener
Bestandsdaten ist nicht zuzustimmen. Das vom Kinematheksverbund angestrebte „Bestandsverzeichnis deutscher Filme“ bildet hier eine ausgezeichnete Möglichkeit. Über die Fortentwicklung des Filmportals, DIF,
könnte diese Funktion hervorragend ausgeführt werden.
Hinsichtlich der angemahnten Regelung zu den verwaisten Werken verweisen wir auf den Antrag der Koalition „Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles
Erbe beginnen“ ({0}), in
dem wir die Bundesregierung auffordern, diesen Punkt
im dritten Korb zur Reform des Urheberrechts vorzusehen. Auch bei der Forderung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, eine Digitalisierungsinitiative zu starten,
verweisen wir auf diesen Antrag, in dem wir eine Intensivierung der Digitalisierung fordern.
Ein Problem ist aus meiner Sicht, dass die Einführung
einer generellen Pflichthinterlegung von der Filmbranche zwar begrüßt, eine finanzielle Beteiligung seitens
der Branche aber abgelehnt wird. Andere Länder, wie
die Niederlande mit dem Programm „Images for the Future“, gehen hier mit gutem Beispiel voran und zeigen,
dass Filmarchive und Filmwirtschaft zusammenarbeiten
können. Auch beim Expertengespräch am 9. November
2011 wurde deutlich, dass hier ein Paradigmenwechsel
notwendig ist. Dort gab es den Vorschlag, die Filmförderung so aufzubauen, dass Ermöglichen und Bewahren
eingeschlossen sind, und zwar unter Beteiligung der Privatwirtschaft. Das ist ein interessanter Ansatz, der sich
nun auch im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wiederfindet.
Wir freuen uns auf die gemeinsame Beratung zu diesem Antrag und das Expertengespräch zur DDB im Ausschuss nächste Woche.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist in seinem
Anliegen begrüßenswert. Die Digitalisierung des Filmerbes wird aus filmpolitischer Sicht eines der wesentlichen Zukunftsthemen sein, sowohl hinsichtlich der technischen Herausforderungen als auch in Bezug auf die
gesellschaftliche Respektierung unseres filmhistorischen Erbes. Dass die Grünen hier mit ihrem Antrag auf
eine sensible Stelle staatspolitischer Versäumnisse hinweisen, da die Bundesregierung seit Jahren das deutsche Filmerbe in seiner Gesamtheit stiefmütterlich bis
ignorant behandelt, sollte positiv vermerkt werden.
Die Fraktion Die Linke ist sehr dafür, dass eine umfassende Initiative zur Digitalisierung des Filmerbes gestartet wird. Ich muss hinzufügen: endlich. Denn es ist
höchste Zeit, damit zu beginnen, um wenigstens die
Hausaufgaben zu erledigen. Was hat die Bundesregierung bis jetzt, trotz gegenteiliger Schönwetterbeteuerungen, alles nicht gemacht? Erstens. Es gibt immer noch
keine Koordination aller mit dem Filmerbe befassten
Institutionen, um wenigstens einen Rahmen abzustecken, mit welchem Ziel und in welchem Umfang die Digitalisierung des Filmerbes vorgenommen werden soll.
Zweitens. Es gibt nach wie vor keinen verlässlichen
Überblick über die vorhandenen Bestandsdaten der
Filme. Drittens. Es gibt darüber hinaus auch keine gesetzliche Regelung zur Pflichtregistrierung aller deutschen Kinofilme, was ein besonderer Skandal ist, da eine
solche Registratur ja überhaupt erst die Voraussetzung
für die Bewahrung des Filmerbes darstellt. Von einer
Pflichtabgabe ausnahmslos aller Kinofilmproduktionen
an die Archive ist die Bundesrepublik Deutschland unverständlicherweise noch meilenweit entfernt.
Der Grünen-Antrag plädiert meines Erachtens völlig
zu Recht dafür, die Prüfung vorzunehmen, ob sich die Sicherung, Aufbewahrung und Zugänglichmachung des
Filmerbes in die Filmförderung eingliedern ließe. In der
Tat würde diese Überlegung dazu führen, dass ein Teil
der staatlichen Filmsubventionen dauerhaft in die
Pflege des nationalen Filmerbes fließen könnte. Außerdem wären die Filmarchive nicht länger zur Passivität
verdammt. Sie dürften vielmehr von selbst Initiativen für
eine praktische Vorbereitung der Digitalisierung ergreifen. Die staatlichen Einrichtungen selbst müssten ein
gesteigertes Interesse daran haben, die Sicherung des
Filmerbes zu berücksichtigen, weil dafür ja öffentliche
Finanzmittel verausgabt werden.
Das Schöne daran ist: Es war die Idee der Fraktion
Die Linke, Regelungen zur Bewahrung des Filmerbes in
das Filmförderungsgesetz, FFG, aufzunehmen. Ich darf
in diesem Zusammenhang an unseren Antrag aus der
letzten Wahlperiode „Finanzierung zur Bewahrung des
deutschen Filmerbes sicherstellen“ ({0}) erinnern. Wir schlugen schon 2008 vor,
paritätisch jeweils 6 Millionen Euro jährlich aus dem
Bundeshaushalt und als Abgabe der Film- und filmtreibenden Werbewirtschaft bereitzustellen. Außerdem wollten wir eine zweckgebundene Abgabe in Höhe von
5 Cent auf jede Kinokarte erheben. Beide Maßnahmen
halten wir weiterhin für unverzichtbar, um dem Finanzbedarf zur Sicherung und Aufbereitung zu konservierender Filmbestände und zur Digitalisierung einigermaßen
gerecht zu werden. Namhafte Experten aus Filmarchiven und von Verwertungsfirmen für historische Filme
sind der gleichen Auffassung.
Wenn es nun, wie es bei Bündnis 90/Die Grünen an
prominenter Stelle heißt, auch um die zügige Umsetzung
der aufgestellten Forderungen aus dem alten Antrag von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
„Das deutsche Filmerbe sichern“ ({1}) gehen soll, dann kann ich nur sagen, dass
damit höchstens offene Türen eingerannt werden. Wir
hatten ja unseren Antrag gerade deshalb eingebracht,
Zu Protokoll gegebene Reden
weil alle anderen Fraktionen eine seriöse Finanzierung
des Filmerbes scheuten. Immerhin muss die Frage erlaubt sein, warum diese ganz große Koalition seit mehr
als drei Jahren nicht in der Lage ist, unsere vernünftigen
Vorschläge überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die im
Bundeshaushalt 2012 zusätzlich eingestellten 350 000
Euro für „Maßnahmen zum Erhalt des Filmerbes“ können hingegen wohl kaum als auch nur annähernd befriedigende Grundlage dafür dienen, die Bewahrung des
deutschen Filmerbes wirkungsvoll zu beginnen, geschweige denn voranzutreiben. Wo da noch Spielraum
für Digitalisierungsprojekte welcher Art auch immer
sein soll, ist mir ein Rätsel. Und offenkundig scheint es
so zu sein, dass den filmpolitisch Verantwortlichen auf
den Regierungsbänken die Pflege des kulturellen Gedächtnisses in Gestalt einer mehr als einhundertjährigen Filmgeschichte dann doch nicht so wichtig ist. Ansonsten wäre nämlich die Sicherung und Digitalisierung
des Filmerbes schon längst eine gesamtstaatliche Aufgabe mit allen Konsequenzen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zielt durchaus in die richtige Richtung. Diese Richtung ist aber nur
mit realistischen Finanzierungskonzepten und nachhaltiger institutioneller Zusammenarbeit zu verfolgen.
Ohne zielstrebiges staatliches Engagement verpuffen
solche Anträge im Vakuum der Folgenlosigkeit.
Vor kurzem war Hans W. Geissendörfer, der als Regisseur, Autor und Produzent ja deutsche Film- und
Fernsehgeschichte geschrieben hat, bei uns im Kulturund Medienausschuss. In einem Expertengespräch
sprach er mit dem Herzblut des Filmenthusiasten über
unser Filmerbe, in das die Kreativität unzähliger Menschen geflossen ist - über Tausende von Filmen, die
heute nur noch schwer oder gar nicht mehr zugänglich
sind. Was für ein Schatz schlummert da? Welcher kulturelle Reichtum wartet auf seine Entdeckung - oder Wiederentdeckung?!
Wir wissen, dass Archive und Verleiher auf dem Gebiet des Filmerbes eine gute Arbeit leisten - oft mit geringen Mitteln und ökonomischen Problemen. Auch
Filmfestivals engagieren sich. Wir erinnern uns an „Metropolis“ auf der Berlinale vor zwei Jahren. In wenigen
Wochen wird die diesjährige Berlinale zusammen mit
der Deutschen Kinemathek eine Retrospektive mit Filmen des deutsch-russischen Studios „Meschrabpom“
zeigen. Das Studio bestand in den 20er- und 30er-Jahren
und produzierte eine, wie ich höre, sehr gute Unterhaltungskunst. Ich bin sehr gespannt auf die Entdeckungen
bei dieser Retrospektive, die dann im Anschluss auch im
New Yorker MoMA zu sehen sein wird.
Was können wir tun, um den Reichtum des Filmerbes
besser zu erschließen? Wie können wir die Arbeit, die
schon geleistet wird, besser unterstützen?
Unseres Erachtens ist es an der Zeit, hier die Möglichkeiten der Digitalisierung viel breiter zu nutzen. In
einem anderen Bereich, dem der Kinodigitalisierung,
geschieht ja schon sehr viel. Die Kulturpolitik im Bundestag hat hier ja sehr einmütig gehandelt, um unsere
Kinos bei diesem technischen Übergang zu unterstützen.
Was die Digitalisierung des Filmerbes angeht, sind
andere europäische Länder uns inzwischen ein gutes
Stück voraus, zum Beispiel die Niederlande, die 2007 ein
ehrgeiziges Programm zur weitgehenden Digitalisierung des nationalen Filmerbes aufgelegt haben, bei dem
es auch um die Onlinezugänglichkeit geht. Das britische
Filminstitut ist ebenfalls sehr aktiv und stellt viele bereits digitalisierte Filme an verschiedenen Orten des
Landes zur Ansicht bereit. Hunderte von digitalisierten
Filmen werden auf einem eigenen Youtube-Kanal vorgestellt.
Ich weiß, dass auf dem Weg zu einer Digitalisierung
des Filmerbes viele Fragen zu klären sind, technische
Fragen, Fragen der Priorisierung und natürlich auch
urheberrechtliche Fragen, zum Beispiel beim Problem
der verwaisten Werke. In unserem Antrag haben wir darauf hingewiesen. Aber diese Probleme sollten uns nicht
den Mut nehmen. Andere Länder sind vorangegangen
und haben gezeigt, was unter zum Teil ganz ähnlichen
Bedingungen möglich ist.
Lassen Sie uns also an einem Strang ziehen und eine
umfassende Initiative zur Digitalisierung des Filmerbes
starten. Lassen Sie uns - die Fraktionen des Bundestages und der Kulturstaatsminister - gemeinsam einen
Runden Tisch einberufen, bei dem wir den Dialog suchen mit den hier relevanten Vertretern aus Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, aus Verbänden und Archiven. Das
war, wie ich höre, in den Niederlanden ein wichtiger
Schlüssel zum Erfolg, und das wäre auch hier bei uns ein
erster wichtiger Schritt.
Wenn wir uns gemeinsam bewusst machen, was für
ein kultureller Reichtum beim Filmerbe tatsächlich
schlummert - ein Reichtum, der für Millionen von Bürgerinnen und Bürgern erschlossen werden kann -, sollte
es nicht schwerfallen, einen solchen Schritt zu tun und
dann auch weiterzugehen. Ich bin mir sicher: Die Digitalisierung unseres Filmerbes wird eines der großen kulturpolitischen Themen der nächsten Jahre. Ich würde
mich sehr freuen, wenn wir als Bundestag uns mit diesem ersten Aufschlag hier und heute auf den Weg machen und die Dinge mit gestalten!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8353 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die jugendfreundlichste Kommune Deutschlands
- Drucksache 17/7846 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von
Dorothee Bär, CDU/CSU, Dr. Peter Tauber, CDU/CSU,
Sönke Rix, SPD, Florian Bernschneider, FDP, Yvonne
Ploetz, Die Linke, Ulrich Schneider, Bündnis 90/Die
Grünen.
„Jugendpolitik führt in Deutschland ein Schattendasein“ - so lautet der Vorwurf der Opposition, ferner,
dass in der Arbeit der schwarz-gelben Regierungskoalition jugendpolitische Belange weit hinter eine Politik,
die auf frühkindliche Förderung zielt, zurückfielen.
Diesen Umstand gelte es zu durchbrechen. Ein Symbol für den Aufbruch in eine eigenständige Jugendpolitik sei die „Würdigung der jugendfreundlichsten Kommune Deutschlands“ in Form eines Wettbewerbs.
Dieser Vorwurf lässt sich freilich nicht halten. Richtig
ist zwar, dass in den vergangenen Jahren der Schutz, die
Förderung und die Bildung in den ersten Lebensjahren
besondere Aufmerksamkeit erfahren haben - und dies zu
Recht. Das BMFSFJ arbeitet jedoch derzeit unter Einbeziehung der Jugendverbände an einer Strategie für eine
eigenständige Jugendpolitik. Der vorliegende Antrag ist
damit als reiner Aktionismus zu bewerten.
Der gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche
Wandel der letzten Jahrzehnte eröffnet Jugendlichen
heute mehr Chancen als jemals zuvor. Gleichzeitig stellt
dieser Wandel Jugendliche aber auch vermehrt vor Entscheidungen und neue Herausforderungen.
Der demografische Wandel, die mit der Globalisierung steigenden Anforderungen an Wissen und Kompetenzen, die Beschleunigung und Verdichtung der Bildungsbiografie und die stärkere Heterogenisierung der
Jugendphase erfordern auch von der Jugendpolitik ein
Umdenken. Neben den schulischen Anforderungen wollen Jugendliche sich entsprechend ihren eigenen Interessen und Stärken weiterentwickeln und sich gesellschaftlich engagieren. Jugendliche benötigen Raum:
sowohl in der Gesellschaft, um angehört zu werden und
mitbestimmen zu können, als auch reale Räume in ihrer
unmittelbaren Umgebung als Treffpunkte.
Die Jugendpolitiker der Union berücksichtigen diese
Punkte; wir werden in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen, der sich insbesondere mit dem Bereich Reformierung des Kinder- und Jugendplans, dem Bereich der
Partizipation, dem Bereich Neue Medien und Medienkompetenz und dem Bereich der Freiwilligendienste befasst.
Den vorliegenden Antrag lehnen wir insofern heute
ab.
Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Antrag vom
22. November 2011 die Einrichtung eines Preises für die
jugendfreundlichste Kommune Deutschlands gefordert.
In ihrem Antrag kritisiert die Linke, dass die Jugendpolitik seit vielen Jahren ein Schattendasein führe und
die christlich-liberale Regierungskoalition die Belange
der 14- bis 25-Jährigen stärker in den Fokus rücken
solle. Als bahnbrechende Innovation fordert sie die Auslobung eines Preises „Ort der Zukunft“ inklusive eines
Preisgelds für die jugendfreundlichste Kommune
Deutschlands.
Um es gleich vorab ganz deutlich zu sagen: Ich halte
es für sehr löblich, wenn die Linke sich des Themas der
Jugendpolitik annimmt. Ich halte es jedoch für mehr als
verwunderlich, dass sich die Fraktion Die Linke mit einem Antrag zur Etablierung eines Preises profilieren
möchte, der genau so in einem öffentlichen Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend formuliert ist. In dem Papier des
BMFSFJ vom Mai 2011 „Eine Allianz für Jugend. Entwicklung und Perspektiven einer Eigenständigen Jugendpolitik“ ist auf Seite 9 f. nachzulesen:
Zur Stärkung der Jugendpolitik auf kommunaler
Ebene bieten sich konkrete Anknüpfungspunkte: …
Beispiel: Einführung einer Kinder- und Jugendberichterstattung auf kommunaler Ebene. Regelmäßige Berichterstattungen machen nicht nur Bedarfe, Maßnahmen und Aktivitäten sichtbar, sie
tragen auch zur Entwicklung von Indikatoren bei,
die für Planungsprozesse hilfreich sind. … Als Anreiz könnte ein Preis für die jugendfreundlichste
Gemeinde Deutschlands ausgeschrieben werden,
der mit einem Preisgeld für lokale Maßnahmen verbunden wird ‚Ort der Zukunft‘ ...
Die Linke verfährt hier nach dem Motto: Lieber
schnell abschreiben, als eigene gute Ideen zu entwickeln. Wir brauchen weder die Fraktion Die Linke,
die uns an die Wichtigkeit des Themas einer eigenständigen Jugendpolitik erinnert, noch einen Antrag, der genau das fordert, was bereits Regierungspolitik ist. Die
Regierung handelt, wo die Linke noch debattieren will.
Dazu haben wir keine Zeit, und daher lehnen wir Ihren
abgeschriebenen Antrag als irrelevant ab.
Es ist richtig, dass die Jugendpolitik als eigenständiger Bereich aufgestellt sein muss und die Jugendlichen
unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Bisher
hat die Bundesregierung große Erfolge im Bereich der
Stärkung frühkindlicher Angebote aufzuweisen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es eine große Nachfrage
nach staatlich geförderten Konzepten im Bereich der Infrastruktur für Kinder unter drei Jahren gibt. Diese Entwicklung lässt sich auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse zurückführen, die auch die Lebenswelten der
Jugendlichen in hohem Maße verändert haben.
Für den Bereich der Jugendpolitik haben die Fraktionen der CDU/CSU und FDP trotz der Verpflichtungen,
die sich aus der Schuldenbremse ergeben, den Kinderund Jugendplan des Bundes auf hohem Niveau verstetigen können. Mit den Mitteln aus dem Kinder- und Jugendplan wird eine große Anzahl wichtiger Projekte für
Jugendliche bundesweit gefördert. Außerdem haben wir
die Mittel für die Jugendfreiwilligendienste vervielfacht
sowie die Etablierung des Bundesfreiwilligendienstes
beschlossen. Der Bundesfreiwilligendienst ist höchst erfolgreich bundesweit angelaufen und stellt einen Meilenstein gerade für das bürgerschaftliche Engagement
junger Menschen dar, um das uns nicht zuletzt andere
Nationen beneiden. Alle diese Einrichtungen bieten
großartige Möglichkeiten für die persönliche und
berufliche Entwicklung von Jugendlichen und leisten
mittelfristig einen wertvollen Beitrag zu unserem Gemeinwesen. Darauf gilt es weiter aufzubauen.
Die Lebensphase der 14- bis 25-Jährigen ist durch
eine zunehmende Komplexität gekennzeichnet, die mit
dem rasanten gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Wandel der letzten Jahre einhergeht. Eine
eigenständige Jugendpolitik ist daher auch ein dezidiertes Ziel der christlich-liberalen Regierungskoalition.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend hat mit seinem Konzept „Allianz für Jugend“ hierfür den Weg gewiesen.
Die Zielsetzungen umfassen im Einzelnen:
Zukunftsperspektiven und Zuversicht stärken; Gesellschaftliche Anerkennung für junge Menschen vergrößern; Förderung, Unterstützung und Hilfe aller Akteure
optimal verzahnen; Startchancen ins Jugendalter gerecht gestalten, sozial bedingter ({0})Benachteiligung entgegenwirken; Entwicklung der individuellen
Potenziale aller Jugendlichen fördern; Übergänge in
der Jugendphase aktiv gestalten und Perspektiven eröffnen; Teilhabe und Beteiligung junger Menschen ermöglichen; Erfahrungs- und Gestaltungsräume und -zeiten
für junge Menschen schaffen.
Wir wollen, dass jeder einzelne Jugendliche in seinen
Fähigkeiten optimal gefördert wird. Damit tragen wir
auch der „EU-Jugendstrategie 2010-2018“ Rechnung,
die die Mitgliedstaaten dazu auffordert, Jugendpolitik
als Ressort- und Querschnittspolitik fortzuschreiben und
eine Chancengleichheit unter den Heranwachsenden
herzustellen.
Das Bundesministerium hat hierzu einen Dialogprozess gestartet, der die politische Debatte für die spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse von Jugendlichen sensibilisieren soll. Den Kern bilden zunächst
thematische Fachforen, in denen aktuelle Fragestellungen aus der Lebenswelt der Jugendlichen - zunächst:
Anerkennung von Engagement und Validierung nicht
formaler Bildung - umfassend diskutiert werden. Anfang
2012 ist die Einrichtung eine Zentrums „Allianz für Jugend“ geplant. Bis zum Ende der Legislaturperiode folgen weitere Fachforen, die zur Verbesserung jugendpolitischer Strukturen vor Ort - Jugendhilfeplanung,
Jugendhilfeausschüsse, lokale Allianzen, lokale Kinderund Jugendberichterstattung und die Auslobung des besagten Preises für die jugendfreundlichste Gemeinde angelegt sind. Über die laufende Legislaturperiode
hinaus sollen der Kinder- und Jugendplan des Bundes zu
einem Steuerungsinstrument der eigenständigen Jugendpolitik weiterentwickelt und eine ressortübergreifende Allianz für Jugend gebildet werden.
Neben Vertretern der Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, der Kinder- und Jugendhilfe sowie des formalen
Bildungssystems werden die Jugendlichen explizit eingebunden und können ihre Themen direkt einbringen.
Nur so kann eine eigenständige Jugendpolitik, die die
Lebenswelten der Jugendlichen und ihre realen Bedürfnisse erfasst, auf solide Füße gestellt werden und damit
eine nachhaltige Wirkung entfalten. Das Bundesministerium hat daher den politischen Dialogprozess mittelfristig angelegt, sodass er über die aktuelle Legislaturperiode hinausgehen wird.
Die Kritik der Fraktion Die Linke am Konzept
„Allianz für Jugend“ der Bundesregierung ist daher geradezu unseriös. Die Linke bemängelt, dass das Konzept
auf eine lange Frist hin orientiert sei und eine rasche
Aufwertung der Jugendpolitik nicht zu erwarten sei. Die
Jugendlichen in unserem Land verdienen es, dass wir sie
ernst nehmen und uns vor allem Zeit für ihre Sichtweisen
und Probleme nehmen. Im Gegensatz zur landläufigen
Meinung ist die Zufriedenheit der Jugendlichen mit der
Demokratie den Ergebnissen der Shell-Studie 2010 zufolge auf über 60 Prozent gestiegen. Die positive Grundeinstellung der Jugendlichen gegenüber demokratischen
Strukturen können wir weiter fördern, wenn wir die Jugendlichen in das Politikgeschehen einbinden.
Die christlich-liberale Koalition hat längst erkannt,
dass Jugendpolitik nicht länger als Problem- und Krisenpolitik behandelt werden darf. Eine eigenständige
Jugendpolitik muss die Chancen und Herausforderungen, denen sich die Jugendlichen heute gegenübersehen,
erkennen und ganz konkrete Handlungsempfehlungen
entwickeln. Aus meiner Sicht muss eine eigenständige
Jugendpolitik auch die Auswirkungen der neuen Medien, insbesondere des Internets, und die damit einhergehende Veränderung der Kommunikationskultur der
Jugendlichen in den Blick nehmen. Darüber hinaus
halte ich die Stärkung der Medienkompetenz - nicht nur
für die Jugendlichen, sondern auch für die Lehrerinnen
und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern für
zentral. Die Medienkompetenz soll nach Auffassung der
Fraktionen CDU, CSU und FDP daher Eingang in den
Schulunterricht finden.
Unser Engagement in der Jugendpolitik steht außer
Zweifel - wir reden nicht, wir handeln. So wird der
Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP, der die Stärkung der Jugendpolitik vorsieht, schon längst mit Leben
gefüllt.
Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke kommen in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass die
Jugendpolitik von der schwarz-gelben Bundesregierung
sträflich vernachlässigt wird. Dieser Analyse schließen
wir - die SPD-Bundestagsfraktion - uns an. Zurzeit wird
häufig ein Jugendbild transportiert, das sehr einseitig
negative Extreme des Heranwachsens herausstellt und
überzeichnet. Das hat negative Folgen auch für die Jugendpolitik, die viel zu häufig defizitorientiert und repressiv ist. Dabei müsste sie aktivierend und emanzipatorisch sein. Aber: In Deutschland fehlt es schlicht an
einer schlüssigen, wirkungsvollen und bedarfsgerechten
Politik für junge Menschen.
Dabei ist es heute wichtiger denn je, junge Menschen
zwischen 14 und 25 im Blick zu haben, ihnen gute Rahmenbedingungen zu bieten, ihnen ein sicheres und geZu Protokoll gegebene Reden
rechtes Aufwachsen zu ermöglichen - denn der Druck
auf diese Gruppe wächst stetig: gestiegene Bildungserfordernisse, Globalisierung von Wirtschaft und Arbeitsmärkten, eine höhere Lebenserwartung und eine damit
einhergehende alternde Gesellschaft. Das sind nur drei
der vielfältigen Anforderungen und Herausforderungen,
vor denen die junge Generation heute steht.
Ob diese Herausforderungen als Belastung oder als
Chance wahrgenommen werden, hängt in erster Linie
von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, in
denen junge Menschen aufwachsen. Aufgrund der zunehmenden materiellen Unsicherheit ist für ein gutes
Aufwachsen aller jungen Menschen mehr denn je öffentliche Verantwortung gefragt. Dafür benötigen wir den
Respekt und die Anerkennung gegenüber Jugendlichen
in der Gesellschaft. Und wir benötigen eine stimmige
Jugendpolitik, die passgenaue Angebote für unterschiedliche Lebenslagen macht. Dazu ist es notwendig,
Jugendpolitik als Zukunftspolitik und als eigenes Politikfeld zu begreifen.
Für mich steht fest: Gute Jugendpolitik muss allen
jungen Menschen Perspektiven bieten. Sie muss Zeit und
Raum für Entwicklung lassen und Rückhalt geben. Gute
Jugendpolitik ist geschlechtergerecht, wird auch mit und
von Jugendlichen gestaltet, fördert vielfältige Lebensläufe und stellt gute Infrastruktur zur Verfügung.
Zu einer guten, umfassenden Jugendpolitik gehören
für uns Sozialdemokraten unter anderem folgende
Punkte:
Wir wollen die Rechte von jungen Menschen stärken.
Dazu gehört auch die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention.
Wir wollen gerechte Chancen auf Bildung verwirklichen. Dazu gehört, dass elternhausbedingte Unterschiede ausgeglichen werden und niemand verloren gegeben wird.
Wir wollen eine gute Ausbildung garantieren. Dazu
gehört auch eine Berufsausbildungsgarantie.
Wir wollen einen gerechten Zugang zu modernen
Hochschulen eröffnen. Dazu gehört, Hochschulen für
alle Studierwilligen offen zu halten.
Wir wollen Freiräume ermöglichen. Dazu gehört,
dass wir die Mobilität der Jugendlichen sicherstellen
und Vereine und Verbände, die in der Jugendarbeit tätig
sind, ausreichend unterstützen.
Die Bearbeitung weiterer Felder sind für mein Dafürhalten für eine umfassende Jugendpolitik vonnöten, beispielsweise kritischer Konsum, eine saubere und sichere
Umwelt, die Chancen des Internets, Gesundheit und internationale Politik.
Die Kommune spielt bei der Gestaltung von Jugendpolitik eine entscheidende Rolle: Hier wachsen die Jugendlichen auf, hier werden Entscheidungen getroffen,
die Jugendliche sofort und unmittelbar spüren und die
sie - sofern es ausreichend Partizipationsmöglichkeiten
gibt - beeinflussen können.
Insofern ist die Auszeichnung einer in diesem Feld
vorbildlichen Kommune als „Ort der Zukunft“ ein sinnvoller Baustein einer umfassenden Jugendpolitik. Aber
es kann eben nur ein Baustein sein. Denn Jugendpolitik
ist mehr als ein jugendpolitisches Bekenntnis an einem
Tag im Jahr.
Normalerweise heißt es ja: In der Kürze liegt die
Würze. Ganz entgegen ihren Gewohnheiten hat die
Fraktion Die Linke mit dem vorliegenden Antrag dieses
Sprichwort offenbar beherzigt. Ich erkenne ausdrücklich
an, dass sie mit der Forderung nach einem Preis für die
jugendfreundlichste Kommune Deutschlands eine interessante Diskussion hätte anstoßen können. Ich sage
„hätte“, weil die Linke in ihrem Antrag jeglichen eigenen Gestaltungswillen vermissen lässt.
Der gesamte Antrag beschränkt sich im Grunde darauf, von der Bundesregierung ein Konzept bis zum kommenden „Tag der Jugend“ am 12. August diesen Jahres
zu fordern, das anschließend diskutiert werden soll.
Aber ist es nicht eigentlich Aufgabe des Parlaments, des
Gesetzgebers, Konzepte zu entwickeln und zu diskutieren?
Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken beschränken sich leider wieder einmal darauf, etwas plakativ zu fordern, ohne konkrete eigene Vorschläge zu unterbreiten. Vielleicht haben sie auch gar keine. In diesem
Fall käme der Antrag einem Offenbarungseid gleich.
Weniger Gestaltungswillen war selten.
Meine Fraktion hingegen hat bereits in einem eigenen jugendpolitischen Positionspapier aus dem letzten
Jahr die Forderung erhoben, Kommunen zu prämieren,
die sich auf dem Feld der jugendpolitischen Partizipation besonders hervorgetan haben. Jugendfreundlichkeit
lässt sich aus unserer Sicht nicht allein an der Anzahl
der Jugendklubs oder der Jugendarbeitslosigkeit ablesen. Vielmehr kommt es darauf an, dass eine vernünftige
Gesamtstrategie vorliegt, dass alle relevanten Akteure,
von der Schule über die Verwaltung bis hin zur Polizei
und zum Jugendamt, zusammenarbeiten, wenn es um
wichtige jugendpolitische Belange geht. Denn wem nutzt
ein im Rathaus in der Besenkammer verstecktes Jugendbüro, in das sich ohnehin kein Jugendlicher jemals verirren wird? Deshalb muss sichergestellt werden, dass
bei jugendrelevanten Fragen alle jungen Menschen erreicht werden und diese so die Möglichkeit bekommen,
sich einzubringen, unabhängig von ihrem Bildungsstand, ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status. Hierfür gibt
es bereits eine Fülle an Instrumenten. Fast alle Städte
und Gemeinden haben einen Jugendbeauftragten oder
ein Jugendbüro. Neben Bürgersprechstunden gibt es
auch häufig Jugendeinwohnerversammlungen, Kinderund Jugendforen, Runde Tische oder Jugendparlamente,
über die junge Menschen die Möglichkeit erhalten, eigene Standpunkte in die Ortspolitik einzubringen. Aber
am Ende geht es nicht ohne eine vernünftige Gesamtstrategie. Diese sollte vor allem ausschlaggebend sein,
wenn ein Jugendpartizipations- oder „Jugendfreundlichkeitspreis“ vergeben werden soll. Auf all diese FraZu Protokoll gegebene Reden
gen, die ich hier nur kurz skizziert habe, geht der vorliegende Antrag leider nicht ein.
Außerdem haben Sie, meine Damen und Herren von
der Linken, mit diesem Antrag eindrucksvoll bewiesen,
dass Sie die letzten zwei Jahre in Sachen Jugendpolitik
offensichtlich geschlafen haben. Allein die Feststellung,
dass die Jugendpolitik in der Arbeit der schwarz-gelben
Koalition ein Schattendasein führe, ist blanker Hohn angesichts der vielen Beschlüsse, mit denen wir die Jugendpolitik in unserem Land vorangebracht haben.
Mit der Sommerferienjobregelung und dem Deutschlandstipendium hat diese Koalition ein klares Signal dafür gesetzt, dass Leistungsbereitschaft junger Menschen
anerkannt und belohnt wird. Mit dem Führerschein ab
17 und der Stärkung des Jugendwohnens im Rahmen der
Arbeitsmarktreform haben wir von Bundesseite dafür
gesorgt, die häufig an junge Menschen gerichtete Forderung nach Mobilität und Flexibilität mit der nötigen Betreuung und Sicherheit zu verbinden. Und mit der Fortsetzung der Programme „Schulverweigerung - die
2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ haben wir den
herrschenden Sparzwängen getrotzt und dafür gesorgt,
dass zwei äußerst erfolgreiche Programme fortgesetzt
werden. Schließlich wollen wir Deutschland zu einer
Bildungsrepublik machen, in der jeder seine Chance erhält, zur Not auch eine zweite und dritte. Vor allem aber
stehen wir für eine andere Politik, die nicht nach immer
neuen Verboten ruft, sondern darauf abzielt, junge Menschen in ihren Ressourcen und Fähigkeiten zu stärken.
Diesen Weg wollen und werden wir konsequent weitergehen.
Was bleibt also von diesem Antrag? Zum einen der
gute Vorsatz; das Jahr ist bekanntlich noch jung. Zum
anderen der Beweis, dass die Beachtung von Sprichwörtern noch lange nicht ausreicht, um eine ordentliche, in
sich schlüssige parlamentarische Initiative vorzulegen.
Oder um es frei nach Brecht zu sagen: „Den Vorhang zu
und alle Fragen offen.“
Der seltene Fall tritt heute ein - wir debattieren im
Deutschen Bundestag über Jugendpolitik. Dazu möchte
ich zunächst ein Zitat anführen:
„Wir stehen für eine eigenständige Jugendpolitik,
eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit,
die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potentiale
fördert und ausbaut. Wir wollen Jugendliche beim Übergang von Ausbildung in den Beruf besser unterstützen.
Wir betonen die zentrale Bedeutung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Es gilt die neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kultur und Schule zu
nutzen und qualitativ und quantitativ auszubauen.“
Frau Schröder, kommt Ihnen das bekannt vor? Und
Ihnen, Herr Kauder und Herr Brüderle? Ich kann Sie
beruhigen, es steht nicht im Wahlprogramm der Linken.
Es steht auch nicht im Kommunistischen Manifest, sondern diese Sätze stehen tatsächlich im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP.
Leider haben Sie erst kürzlich verdeutlicht, was Sie
unter der „zentralen Bedeutung der kulturellen Kinderund Jugendbildung für die Persönlichkeitsentwicklung“
in der Praxis verstehen: Als verfrühtes Weihnachtsgeschenk haben Sie die Mittel für das überaus erfolgreiche
Programm „Jugend stärken“ um 30 Prozent gekürzt.
Kompensiert haben Sie das nicht, und das, obwohl fast
ein Viertel aller Jugendlichen von Armut bedroht sind.
Diese Zahlen des Statistischen Bundesamtes kennen Sie
sicherlich.
Wissen Sie eigentlich, was diese Kürzungen für die
Projekte bedeuten? Wissen Sie, was das für die Jugendlichen heißt? Zahlreiche Projektleiterinnen und Projektleiter haben mich angesprochen. Sie kümmern sich tagtäglich vor Ort um benachteiligte Jugendliche und
setzen sich engagiert für sie ein. Ihnen wird schlicht das
Geld fehlen, und sie stehen vor dem Aus. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass Sie diese dramatischen Hilferufe
nicht erreichen!
Man sieht: Ihre Zeilen im Koalitionsvertrag sind
anscheinend nichts anderes als Lippenbekenntnisse.
Jugendpolitik fristet bei Ihnen bestenfalls ein Schattendasein. Das sieht man sowohl an der desolaten Bildungspolitik als auch an Ihrer verfehlten Sozialpolitik.
Das Deutschlandstipendium ist gescheitert. Beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf unterstützen Sie
die Jugendlichen in keiner Weise Sie schauen tatenlos
zu, wenn Jugendliche nach der Ausbildung teilweise in
unternehmenseigene Zeitarbeitsunternehmen verschoben werden, sie selbst in der Metallindustrie bestenfalls
befristete Arbeitsverträge erhalten, Unternehmen aber
gleichzeitig über einen Fachkräftemangel klagen. Die
Generation Praktikum und die guten und wichtigen Recherchen des Deutschen Gewerkschaftsbundes hierzu
ignorieren Sie völlig. Sie schauen weiter zu, wie junge
gutausgebildete Menschen von Unternehmen über Monate als billige Arbeitskräfte in Praktika benutzt werden.
Der alljährliche Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin ist
nichts weiter als eine Veranstaltung zur Selbstbeweihräucherung, und in der Jugendpolitik werden die Mittel
gekürzt. Würden Sie der Jugendpolitik tatsächlich eine
zentrale Rolle zuerkennen, würden Sie eine effektivere
Politik betreiben.
Hier kommt unser vorliegender Antrag ins Spiel: Wir
möchten Sie heute beim Wort nehmen. Nun haben Sie die
Möglichkeit, zu beweisen, dass Sie Ihren eigenen Zeilen
mehr Bedeutung zumessen, als Ihre bisherige Performance erkennen lässt. Wir fordern heute nichts anderes,
als dass Sie Ihren eigenen, sehr guten, Vorschlag in die
Tat umsetzen. So schreibt das Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Eckpunktepapier „Eine Allianz für Jugend“ auf Seite 10: „Als
Anreiz“ - auch für eine intensivere Jugendpolitik auf
kommunaler Ebene - „könnte ein Preis für die jugendfreundlichste Gemeinde ausgeschrieben werden, der mit
einem Preisgeld für lokale Maßnahmen verbunden
wird.“ Wir unterlegen in unserem Antrag diese Kür mit
möglichen Indikatoren. Die Quantität und Qualität lokaler jugendpolitischer Maßnahmen, die politischen Partizipationsmöglichkeiten Jugendlicher, die Höhe der Jugendarbeitslosigkeit und -armut und die Möglichkeiten
Zu Protokoll gegebene Reden
Jugendlicher zur Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen, an Kultur und Sport, könnten solche sein. Außerdem verbinden wir mit dem Antrag die Forderung,
dass Sie zeitnah, nämlich bis zum nächsten Internationalen Tag der Jugend, am 12. August 2012, ein Konzept
vorlegen. Damit würde Jugendpolitik auf die Tagesordnung sowohl der Kommunen als auch der Bundesregierung gehievt. Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Konstruieren Sie sich keine fadenscheinigen Begründungen,
warum Sie unseren Antrag ablehnen, sondern wagen Sie
ein Signal für einen jugendpolitischen Aufbruch!
Ich möchte gar nicht von Ihnen verlangen, dass Sie
Ihre Politik auf Jugendliche fokussieren. Aber es darf
doch nicht zu viel verlangt sein, dass Jugendliche endlich in Ihr Blickfeld kommen, und zwar dann, wenn es
nicht ums Sparen geht, sondern um Politik, die im positiven Sinne gestaltet! Ich zitiere noch einmal: „Wir stehen für eine eigenständige Jugendpolitik, eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit, die junge
Menschen teilhaben lässt und ihre Potentiale fördert
und ausbaut.“ Dabei möchte ich Sie daran erinnern,
dass nicht Ihre Worte zählen. Und nun, das sollte Ihnen,
Frau Schröder, ja eingängig sein, zitiere ich die Bibel:
„Hütet euch vor den falschen Propheten! Sie sehen zwar
aus wie Schafe, die zur Herde gehören, in Wirklichkeit
sind sie Wölfe, die auf Raub aus sind. An ihren Taten
sind sie zu erkennen.“ ({0}) Dabei noch der Hinweis, Frau Schröder: Der
Berg kommt für gewöhnlich nicht zum Propheten, Sie
müssten sich schon zu ihm bequemen. In der Jugendpolitik liegt noch ein großer Berg an Arbeit vor Ihnen!
Die Einschätzung meiner Kolleginnen und Kollegen
aus der Fraktion Die Linke teile ich dahin gehend, dass
Kommunen, die jugendfreundliche Politik machen und
jungen Menschen Möglichkeiten zur Mitgestaltung geben, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Der
Idee der Vergabe des Titels der „Jugendfreundlichsten
Kommune“ stehe ich grundsätzlich sehr positiv gegenüber; allerdings scheint mir der von der Linken vorgelegte Antrag doch sowohl inhaltlich als auch strukturell
noch nicht zu Ende gedacht worden zu sein.
Jugendgerechte Stadtplanung ist ein Thema, das gerade auf kommunaler Ebene von großer Bedeutung sein
muss, da junge Menschen hier die Möglichkeit bekommen sollten, selber auf ihre Umwelt Einfluss zu nehmen.
Dazu bedarf es einer nachhaltigen und langfristig angelegten Strategie in diesem Bereich, um Kommunen Anreize zu liefern, mehr in Jugendprojekte zu investieren.
Eine jugendgerechte Infrastruktur zu schaffen, bedeutet, dass jungen Menschen im Stadtbild Freiräume
zugestanden werden müssen, die sie selber gestalten
können und in denen sie sich frei von politischen Interessen oder vor allem kommerzieller Verzweckung entfalten
können. Öffentlicher Raum - insbesondere ein Angebot
nichtpädagogisierter Räume - muss für Jugendliche zugänglich bleiben, gerade wenn sie noch keine großen
finanziellen Spielräume haben. Um dies umzusetzen,
braucht es echte Mitgestaltungsmöglichkeiten und politische Teilhaberechte für Jugendliche.
Dabei Kommunen zu ehren, die sich besonders durch
jugendfreundliche Politik und Maßnahmen hervorgetan
haben, scheint mir eine gute Idee zu sein. Diese sollten
sich vor allem durch eine aktive Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, durch gute Ausstattung und Angebote der Jugendhilfe und durch eine qualitativ hochwertige Schulinfrastruktur auszeichnen. Zudem sollten die
Schaffung eines umfangreichen Ausbildungsangebots
und die Bereitstellung von Mobilitätsangeboten für
junge Menschen im Fokus liegen.
Auf europäischer Ebene gibt es bereits das Konzept
der „European Youth Capital“. Diese Ehrung wird unter
Einbindung des European Youth Forum, des Dachverbandes europäischer Jugendorganisationen und -ringe,
vergeben. Sie kommt Städten zugute, die ein besonderes
Augenmerk auf die Belange junger Menschen legen, und
zieht zahlreiche öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen nach sich. Derzeit trägt Braga, eine Stadt in Portugal, den Titel der europäischen Jugendhauptstadt.
Allerdings wirken solche Projekte nur, wenn sie eben
weitere Maßnahmen beinhalten und nicht bloße Symbolpolitik sind. Das in diesem Antrag vorgelegte Konzept
enthält noch keine Aussagen zu deren Ausgestaltung, die
für mich von höchster Relevanz wären, zum Beispiel die
Frage, wer diesen Titel vergeben würde. Ohne eine
starke Partizipation von Jugendlichen und Jugendorganisationen sollte dieser Prozess nicht ablaufen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7846 an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. Januar 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.