Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/19/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung. Ich habe Ihnen einige Mitteilungen zu machen. Vor Eintritt in die Tagesordnung müssen wir noch zwei Wahlen durchführen. Für die neue Amtszeit der Vergabekommission der Filmförderungsanstalt schlägt die SPD-Fraktion vor, die Kollegin Angelika Krüger-Leißner als ordentliches Mitglied zu berufen, und die CDU/CSU-Fraktion benennt in ihrem Vorschlag den Kollegen Marco Wanderwitz als stellvertretendes Mitglied. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt. Der Kollege Manuel Sarrazin hat auf seinen Sitz in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates verzichtet. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt deshalb vor, den Kollegen Jerzy Montag als Nachfolger zu berufen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist der Kollege Jerzy Montag als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 1 und 2 auf Drucksache 17/8323 ({0}) ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ({1}), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen nutzen - Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt einleiten - Drucksache 17/8346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 4 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2011/12 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 17/7710 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 27 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 17/8350 18142

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sigmar Gabriel, Ute Vogt, Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rückholung der Atommüllfässer aus der Asse II beschleunigen - Drucksache 17/8351 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Ergänzung zu TOP 28 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- fassungsgericht 2 BvE 9/11 - Drucksache 17/8361 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({2}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- fassungsgericht 2 BvF 3/11 - Drucksache 17/8362 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2670/11 - Drucksache 17/8363 ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Solidarität von LINKEN-Abgeordneten mit dem syrischen Präsidenten Assad Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 12 a und 27 d werden abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 17 wird nach dem Tagesordnungspunkt 11 und der Tagesordnungspunkt 12 b im Zusammenhang mit dem Tagesordnungspunkt 27 aufgerufen. Können Sie sich auch damit einverstanden erklären? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so beschlossen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der kommenden Woche und im ganzen Jahr 2012 wird aus gegebenem Anlass an einen großen preußischen Monarchen erinnert werden. Heute möchte ich vor Eintritt in unsere Tagesordnung einer großen Abgeordnetenpersönlichkeit gedenken, die wie kaum eine andere die deutsche Parlamentstradition verkörpert. Am 17. Januar 1812, also fast auf den Tag genau vor 200 Jahren, wurde Ludwig Windthorst im kleinen Ort Ostercappeln bei Osnabrück im Emsland geboren, dem er zeit seines Lebens verbunden blieb. Als führender Repräsentant der Zentrumspartei war er wichtigster innenpolitischer Gegenspieler Otto von Bismarcks und vielleicht - so lautet jedenfalls das fundierte Urteil Golo Manns, den ich zitieren darf - einer der „genialsten Parlamentarier, den Deutschland je besaß“. Nach einer vergeblichen Kandidatur für die Frankfurter Nationalversammlung, seiner Wahl in die Zweite Kammer der Ständeversammlung des damaligen Königreichs Hannover, dem er für zwei Jahre auch als Justizminister diente, wurde er 1867 in das Parlament des Norddeutschen Bundes und schließlich 1871 in den Reichstag gewählt, dem er bis zu seinem Tod 1891 20 Jahre ununterbrochen angehörte. Ludwig Windthorst war nicht nur einer der ersten Berufsparlamentarier, er ist auch unübertroffen der redefreudigste Abgeordnete aller Zeiten gewesen. Über zweitausendmal soll er das Wort in den Parlamenten, denen er angehört hat, ergriffen haben - fast immer kurz und prägnant und im Reichstag fast immer von seinem Platz aus. In dieser Beziehung hat er, was ich persönlich bedauere, nicht wirklich stilbildend gewirkt. Wenn Otto von Bismarck, der Reichskanzler, in seiner großen Zeit überhaupt einen parlamentarischen Widersacher und Opponenten hatte, den er ernst nahm und nehmen musste, war es Ludwig Windthorst. Sein härtester Gegner war zugleich sein größter Bewunderer. Heute hängen die Porträts der beiden Antipoden im Salon der Parlamentarischen Gesellschaft einträchtig nebeneinander, in der sich Ludwig Windthorst vermutlich deutlich wohler fühlen würde als Otto von Bismarck, der seine Missachtung des Parlaments nur selten verbergen konnte und wollte. ({4}) Ludwig Windthorst gehörte zu den Wegbereitern des demokratischen Rechtsstaats. Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion hat er es nie an persönlicher Unabhängigkeit und an eigener Urteilsbildung fehlen lassen. Mit einem unbändigen Elan und mit einer souveränen Sturheit verteidigte er die Wahrung von Menschenrechten und insbesondere die Rechte von Minderheiten. „Ich werde das Recht, welches ich für die Katholiken und für die katholische Kirche und deren Diener in Anspruch nehme, jederzeit vertreten, auch für die Protestanten und nicht minder für die Juden. Ich will eben das Recht für alle“, sagte er 1880. Im preußischen Kulturkampf vertrat er ganz selbstverständlich die Interessen der Kirche gegenüber dem Staat, und er hat genauso wenig gezögert, mit den Sozialdemokraten gegen das Sozialistengesetz zu stimmen. Ludwig Windthorst wurde vor 200 Jahren in ein Deutschland hineingeboren, das mit dem Land, in dem wir heute leben - von der Geografie einmal abgesehen -, nicht viele Ähnlichkeiten hatte. Dass daraus der freiheitliche demokratische Rechtsstaat wurde, dass daraus eine gefestigte parlamentarische Demokratie wurde, die wir heute längst als schiere Selbstverständlichkeit ansehen, das verdanken wir Persönlichkeiten vom Format eines Präsident Dr. Norbert Lammert Ludwig Windthorst. Ihnen gebührt unsere dankbare Erinnerung und unsere Hochachtung. ({5}) Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 a und b so- wie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf: 3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie zum Jahreswirtschaftsbericht 2012 Vertrauen stärken - Chancen eröffnen - mit Europa stetig wachsen b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2012 der Bundesregierung - Drucksache 17/8359 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ({7}), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen nutzen - Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt einleiten - Drucksache 17/8346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 4 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2011/12 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 17/7710 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dagegen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Philipp Rösler. ({10})

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Im Jahre 2010 hatten wir ein Wachstum von 3,7 Prozent, im Jahre 2011 ein Wachstum von 3,0 Prozent. Und das Beste an beiden Zahlen ist: Das Wachstum kommt auch bei den Menschen an: ({0}) Rekordbeschäftigungszahlen, die niedrigste Arbeitslosigkeit seit mehr als 20 Jahren, also seit der Wiedervereinigung, steigende Renten, sinkende Beiträge, mehr verfügbares Einkommen für die Menschen. Das erklärt, dass 76 Prozent der Deutschen optimistisch in das Jahr 2012 hineingehen. Das können sie auch tun; denn sie haben sich dieses Wachstum selber erarbeitet. Die Menschen haben sich den Wohlstand in Deutschland selber geschaffen. Und sicher ist: Für diese Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP war, ist und bleibt Wachstum das erklärte Ziel ihres Handelns. ({1}) Auch 2012 wird die deutsche Wirtschaft auf Wachstumskurs bleiben; allerdings wird sich das Tempo vorübergehend verlangsamen. Wir rechnen für dieses Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent. Die Gründe liegen vor allem im außenwirtschaftlichen Umfeld. Die Weltwirtschaft expandiert langsamer durch eine schwache Erholung in den USA und nachlassende Dynamik in den Schwellenländern. Auch die Staatsschuldenkrise in einigen Ländern des Euro-Raums belastet die deutsche Konjunktur. Wir erwarten aber nur eine vorübergehende Wachstumsdelle, ausdrücklich keine Rezession. Wir erwarten mehr als 220 000 zusätzliche Beschäftigte auch im Jahre 2012. Dieser Erfolg widerlegt all die selbsternannten Wirtschaftspropheten und Zukunftsforscher, die noch vor kurzem das Ende der Arbeit ausgerufen haben. Die deutsche Wirtschaft hat diese selbsternannten Propheten mit ihrem Beschäftigungsboom Lügen gestraft. ({2}) Ich sage Ihnen: Wer das Ende der Arbeit beschwört und herbeiredet, der kann doch niemals für mehr Arbeitsplätze sorgen. Das ist definitiv nicht unser Weg. Die Grünen sehen das offensichtlich anders. All das, was wir erleben, ist das Ergebnis guter Wirtschaftspolitik in den letzten beiden Jahren. Wörtlich heißt es in einem Papier von Herrn Trittin und Frau Künast - sie ist nicht anwesend -: ({3}) Wir halten den Abbau des Wachstumszwangs auch aus ökologischen Gründen für erforderlich. Mit Verlaub, das ist Unsinn. Wir jedenfalls gehen einen anderen Weg. Wir setzen auf Wirtschaft, Wachstum und Arbeit. ({4}) Damit setzen wir uns als Regierungskoalition sehr wohltuend von den Pessimisten, Fortschrittsverweigerern und Neinsagern in Deutschland ab. Wir sind das gelebte Gegenmodell zu roten, ({5}) grünen und linken Pessimisten in Deutschland. ({6}) Trotzdem verlieren wir nicht den Blick für die Risiken. Die weitere wirtschaftliche Entwicklung bei uns hängt wesentlich von der Entwicklung in Europa ab. Es ist jetzt 60 Jahre her, dass der Bundestag den Vertrag zur Gründung der Montanunion ratifiziert hat, übrigens gegen die Stimmen der SPD. Seitdem hat uns die europäische Integration Frieden und Wohlstand gebracht. Die Bundesregierung will und wird diese Erfolge bewahren und weiterführen. ({7}) Wir gestalten die notwendigen Schritte zu mehr Stabilität und Wachstum in Europa aktiv und mit wirtschaftspolitischer Vernunft. Die SPD hingegen will anscheinend ihre europakritische Haltung in der Vergangenheit kompensieren. Herr Gabriel - auch nicht da ({8}) möchte Europa jetzt zu einer Föderation umbauen. Bei Licht betrachtet sind die Vorschläge der Sozialdemokraten aber keine Vorschläge für eine Föderation, sondern für eine Förderunion. Anstatt die Ursache der Krise, die Staatsschulden, zu bekämpfen, wollen Sie mit Konjunkturpaketen und teuren staatlichen Wachstumsprogrammen die Probleme noch verschärfen. Mit Ihren Programmen wächst weder die Wirtschaft in Griechenland oder in Italien noch die Wirtschaft in Deutschland, sondern es wächst so immer nur der Staat. Wir lassen nicht zu, dass eine laxe Haushaltspolitik in Europa auch noch mit Euro-Bonds belohnt wird. ({9}) Eine solche Politik schadet dem deutschen Steuerzahler, schadet Deutschland und damit Europa insgesamt. Sie wollen, dass sich die Stärkeren an den Schwächeren orientieren; aber damit schaden Sie vorsätzlich den Starken und verhindern, dass es künftig überhaupt noch Starke gibt, die Schwachen helfen können. Man kann die Uhr danach stellen: Sobald im Ausschuss über Wirtschaft gesprochen wird, melden sich die Linken und wollen die gute Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland verhindern. ({10}) Sie reden unsere Außenhandelsbilanzüberschüsse schlecht. Die Grünen haben sich dem angeschlossen und kürzlich beschlossen, Außenhandelsbilanzüberschüsse zu verbieten, ja sogar zu bestrafen. Ich bleibe dabei: Außenhandelsbilanzüberschüsse sind kein Nachteil, sondern, ganz im Gegenteil, ein Zeichen unserer Wettbewerbsfähigkeit. Sie sind die Stärke unserer Volkswirtschaft. Strafen sind hier fehl am Platz. ({11}) Angesichts der Schuldenkrise in Europa haben wir die Wachstumserwartungen zurückgeschraubt; das stimmt. Umso mehr müssen wir jetzt über Wachstum reden, gerade wenn das Umfeld schwieriger wird. Jetzt gilt es, die Wachstumskräfte zu stärken. Bemerkenswert ist, dass in diesem Jahr ausschließlich die Binnenwirtschaft unser Wachstum trägt. Dahinter steht die Nachfrage vieler Menschen, die gerade in diesem Jahr bei Steuern und Abgaben entlastet werden. Das bedeutet für jeden im Durchschnitt 413 Euro mehr im Jahr. ({12}) - Ja. Die SPD behauptet, so Frau Nahles, dass die von der Koalition auf den Weg gebrachte Entlastung nichts bringt. ({13}) - Meine Damen und Herren von der SPD, das Problem ist nicht meine Aussprache. Das Problem liegt an Ihren Ohren, vielleicht auch dazwischen. ({14}) Vielleicht ist das für Sie kein großer Beitrag. Aber für die Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft ({15}) sind 413 Euro viel Geld. Wenn Sie jetzt sagen, dass diese Entlastung nichts bringt, dann beweist das in Wahrheit, wie weit sich die Sozialdemokraten in der heutigen Zeit von der Mitte unserer Gesellschaft entfernt haben. ({16}) Wir werden die deutsche Wirtschaft stärken. Es geht dabei um Fachkräftesicherung und Rohstoffversorgung. Es geht natürlich auch um Energie. Es geht um neue Märkte und neue Chancen. All das können wir durch Innovationen erringen. ({17}) Was die Fachkräfte betrifft, sind wir sehr erfolgreich. Wenn Sie sich die Arbeitslosenzahlen ansehen, werden Sie feststellen, dass nicht nur der bloße Rückgang der Arbeitslosigkeit ein Erfolg ist, sondern auch die strukturellen Veränderungen. Heute gibt es deutlich weniger Langzeitarbeitslose, die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit, die wir je hatten, und immer mehr ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt. All das sind Erfolgsmeldungen. Meine Damen und Herren, wer angesichts solcher Zahlen jetzt versucht, eigene Reformen zurückzudrehen - ich nenne nur die Rente mit 67 -, der hat das Problem auf dem Arbeitsmarkt in Wahrheit definitiv nicht verstanden. ({18}) Wir werden nicht nur daran arbeiten, das inländische Fachkräftepotenzial zu nutzen, sondern es geht auch um Zuwanderung. Wir waren gerade im letzten Jahr sehr erfolgreich. Erstmals gibt es ein gesteuertes System der qualifizierten Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt: gestaffelt nach Berufen, Qualifikationen und abgesenkten Gehaltsschwellen. Ausländische Fachkräfte sind ein wesentliches Thema, wenn es darum geht, auch in Deutschland das Wachstum zu verstetigen. CDU, CSU und FDP haben den Einstieg in die gesteuerte Zuwanderung geschafft. Wir werden die Wachstumsbremse Fachkräftemangel gemeinsam lösen. Wir, meine Damen und Herren, stehen gemeinsam für Fachkräftesicherung in Deutschland. ({19}) Die Unternehmen klagen nicht nur über fehlende Fachkräfte, sondern auch über steigende Rohstoff- und Energiepreise. Beides ist heute von zentraler Bedeutung, wenn wir das Wachstum in Deutschland verstetigen wollen. Oft sind die Kosten für Rohstoffe und Energie höher als die Personalkosten. ({20}) Das zeigt doch: Ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort ist nicht nur auf eine umweltfreundliche, sondern auch auf eine zuverlässige Rohstoff- und Energieversorgung angewiesen. Deswegen ist es richtig, dass diese Bundesregierung eine Rohstoffstrategie hat und wir gemeinsam und partnerschaftlich mit anderen Staaten über den Abbau von Rohstoffen diskutieren. Die Bundeskanzlerin hat gerade eine Rohstoffpartnerschaft mit der Mongolei unterzeichnet. Im Februar dieses Jahres steht eine Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan an. Wer eine Energiewende will, der braucht erneuerbare Energien, zum Beispiel Windräder. Wer Windräder will, der braucht aber auch Seltene Erden, und zwar 1,9 Tonnen pro Windrad einer Offshorewindkraftanlage. All das zeigt: Wirtschaftspolitik heißt immer auch Außenwirtschaftspolitik, Rohstoffpolitik und Rohstoffsicherung. Auch das ist ein Zeichen guter Wirtschafts- und Regierungspolitik. Wir brauchen uns nicht zu verstecken oder uns dafür zu entschuldigen, wenn wir dafür sorgen, dass die deutsche Wirtschaft jetzt, aber auch in Zukunft mit Rohstoffen versorgt wird; ({21}) denn andere Staaten machen dies längst. Wir müssen auch hier versuchen, den Wettbewerbsvorteil der deutschen Wirtschaft zu erhalten. ({22}) Das aktuell wichtigste Thema ist unbestritten die Energiepolitik. ({23}) Der Umbau der Energieversorgung ist eine große Chance, aber auch eine große Herausforderung. Wir werden sie meistern. Wir brauchen Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und natürlich Bezahlbarkeit von Energie. Wir werden diesen Dreiklang nur mit den Instrumenten der sozialen Marktwirtschaft in der richtigen Balance halten können. ({24}) Wir werden gemeinsam mit der Wirtschaft die Netze ausbauen und neue Kraftwerke bauen. Wir werden das Erneuerbare-Energien-Gesetz effizienter gestalten und die Energieeffizienz sowie die Forschung und Innovation gerade im Bereich der Energietechnologien fördern. ({25}) Ich erinnere daran: Als Sie damals den Atomausstieg beschlossen haben, haben Sie nichts gemacht. ({26}) Sie saßen ungefähr so da wie jetzt: ({27}) Sie haben die Hände in den Schoß gelegt. Wir hingegen haben gehandelt: Wir haben das NABEG, die Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz, die Anreizregulierungsverordnung und die KWK-Novelle auf den Weg gebracht, und wir werden einen Bundesnetzbedarfsplan dem Deutschen Bundestag vorlegen. ({28}) Wir werden die Offshoreanbindung verbessern. Und wir werden auch dafür sorgen, dass dieser Energieumbauprozess durch eine Monitoringkommission vernünftig begleitet wird. Von Ihnen lassen wir uns nicht vorwerfen, es sei nichts passiert. All diese Leistungen zeigen: Ihre Vorwürfe sind absurd. ({29}) An die Bremser hier im Hause: Sie blockieren im Bundesrat doch gerade das CCS-Gesetz, das der Deutsche Bundestag beschlossen hat. ({30}) Sie schaden damit den Kommunen und den kleinen und mittelständischen Energieversorgern und bremsen den Umbau der Energieversorgung. ({31}) Als Sie damals den Ausstieg beschlossen haben, haben Sie gefordert, man müsse die kleinen kommunalen Versorger unterstützen. Wenn es dann aber darum geht, sind Sie die Blockierer vor dem Herrn. ({32}) Gleiches gilt für die energetische Gebäudesanierung. Sie schaden damit der Energieeffizienz, aber auch dem mittelständischen Handwerk in Deutschland. Ich frage Sie: Wo ist denn Ihr Engagement für mehr Forschung, zum Beispiel in der Energiepolitik? Sobald Sie das Wort „Forschung“ hören, bekommen Sie doch Hautjucken. Es gibt doch kaum technologiefeindlichere Politiker als hier bei den Grünen. ({33}) Es muss Ihnen doch eine Warnung sein, dass große deutsche Unternehmen ganze Technologiesparten wie die Biotechnologie ins Ausland verlagern, weil sie Angst vor Ihrer Technologiefeindlichkeit haben. So werden Sie die Probleme in Deutschland nicht lösen können. ({34}) Wir werden diese Aufgaben meistern: ({35}) Ausbau der Netze - über 4 000 Kilometer neue Leitungen -, Investitionen in neue Kraftwerke mit einer Leistung von 17 Gigawatt allein bis zum Jahre 2020. Wir werden auch gemeinsam über Preise reden müssen. Es geht um die Bezahlbarkeit von Energie. ({36}) Wenn Sie öfter mal in die Zeitung schauen würden, dann würden Sie feststellen, dass das ein aktuelles Thema ist. Ich halte es ausdrücklich für richtig, dass wir erneuerbare Energien fördern. Es war schließlich eine schwarzgelbe Regierungskoalition, die die Förderung der erneuerbaren Energien mit dem Stromeinspeisungsgesetz damals auf den Weg gebracht hat. Das war richtig, und darauf können wir auch gemeinsam stolz sein, liebe Freundinnen und Freunde. ({37}) Es wird aber Zeit, gemeinsam auch über eine effiziente Förderung nachzudenken. Vielleicht werden Sie es nicht verstehen: Es gibt einen Unterschied zwischen effektiv und effizient. ({38}) - Schön, dass Sie sich so aufregen. Das richtet sich nämlich gerade an Sie. ({39}) Wir wollen gemeinsam den Ausbau der erneuerbaren Energien, aber nicht zu den Kosten bzw. Preisen, die Sie sich an dieser Stelle vorstellen; denn es geht auch wesentlich effizienter. ({40}) Es kann doch nicht sein, dass die Hälfte der EEGUmlage, mehr als 6 Milliarden Euro, für die Photovoltaik ausgegeben wird, mit der nur 3 Prozent der gesamten Energie produziert werden. Mit Wirtschaftlichkeit hat das nichts zu tun. Hier müssen wir ran. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und auch um die Preise für die Menschen in unserem Lande. ({41}) Wir brauchen auch den Zugang zu neuen Märkten. In der Außenwirtschaftspolitik werden wir nicht nur auf die klassischen Partnerländer USA und Japan und auf die neuen Partnerstaaten Brasilien, Russland, Indien oder China setzen, sondern auch auf weitere Staaten, die gerade wesentlich stärker werden als viele andere, weil sie ein enormes Wachstum vorzuweisen haben: Malaysia, Mexiko, Vietnam. Die Märkte all dieser Staaten werden von uns neu erschlossen werden. Das sind neue Märkte für die deutsche Wirtschaft. Wenn es darum geht, das Wachstum im Inland zu stärken, werden wir uns um neue Märkte bemühen müssen. Wir kämpfen dabei auch gegen den zunehmenden Protektionismus in der Welt. In vielen Schwellenländern steigt das Selbstbewusstsein, aber leider nehmen auch die nichttarifären Handelshemmnisse zu. ({42}) Gerade wir, Deutschland, als Exportnation müssen ein Interesse daran haben, dass das Grundprinzip von Außenwirtschaft erhalten bleibt. Offene Märkte, freier Handel und fairer Wettbewerb, das sind die Grundlagen einer guten Außen- und Wirtschaftspolitik. Das sind die Grundlagen unserer Politik in dieser Regierungskoalition. ({43}) Wir setzen weiter auf Innovationen. Allein im Energiebereich stellen wir in den nächsten vier Jahren 3,5 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung und Innovation zur Verfügung, zum Beispiel im Bereich der Speichertechnologie. In dieser Legislaturperiode investieren wir 12 Milliarden Euro in Bildung, Forschung und Innovationen und auch in viele andere Bereiche. Wir sind davon überzeugt, dass man in Deutschland nur mit Fortschrittsoptimismus weiterkommen kann und dass Wachstum nur mit Fortschrittsoptimismus überhaupt erst möglich wird. Sie werden nicht weiterkommen, wenn Sie glauben, dass man Probleme, die durch die Anwendung und Nutzung von Technologien entstehen, allein durch Verbote wird beseitigen können. Vielmehr wird es nur durch bessere technologische Lösungen und eben durch Innovationen gelingen, solche Probleme von vornherein zu vermeiden. Deutschland wird nicht umweltfreundlicher, indem man Plastiktüten und Autos verbietet, ({44}) sondern indem man Katalysatoren erfindet oder Innovationen im Bereich der Elektromobilität entwickelt. Deswegen setzen wir auf Forschung, Technologie und Innovationen, und wir grenzen uns damit von Ihnen ab. ({45}) Sie sind technikfeindlich und innovationsfeindlich. ({46}) Sie wollen in Wahrheit nicht den Ausbau der Energieversorgung; schließlich versuchen Sie in vielen Bereichen, ihn zu behindern und auszubremsen. Sie wollen nicht die Stabilisierung der Europäischen Union, weil Sie selber an Ihrer Vergangenheit noch zu knabbern haben. Ich sage Ihnen: Wir stehen gerade im Jahre 2012 vor nicht ganz einfachen Herausforderungen. ({47}) Genau deswegen haben wir uns vorgenommen, gemeinsam daran zu arbeiten, Europa zu stabilisieren, die Wachstumskräfte im Inland durch Fachkräftesicherung, Sicherung der Rohstoffversorgung, gute Energiepolitik, neue Märkte, neue Chancen, Innovationen, Forschung und Technologie freizusetzen. Die Menschen werden sich darauf verlassen können, dass wir alles dafür tun, dass Deutschland auch in Zukunft auf Wachstumskurs bleiben kann. Das, was Sie hier eben vorgeführt haben, zeigt doch in Wahrheit nur eines: Sie dürfen dieses Land gar nicht regieren. Sonst wird es niemals gelingen, Deutschland auf Wachstumskurs zu halten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({48})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ausblick auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland verlangt vor allen Dingen eines: einen realistischen Blick. Deshalb, Herr Bundeswirtschaftsminister, sagen wir als Opposition: Es ist nicht die Zeit für Alarmismus; denn Deutschland hat in den letzten Jahren durchaus Stärken an den Tag gelegt, die wir brauchen können und weiter brauchen. Es ist aber auch nicht die Zeit für Schönfärberei. Herr Rösler, eines muss ich Ihnen sagen: ({0}) Angesichts dessen, was Sie hier eben geboten haben, mache ich mir ernsthaft Sorgen über die Form von Realitätsverweigerung, die Sie hier an den Tag legen. ({1}) Hubertus Heil ({2}) Ich glaube, Herr Rösler, dass das vor dem Hintergrund Ihrer Funktion als FDP-Vorsitzender vielleicht nachvollziehbar ist. Wenn man bei 2 Prozent steht, dann muss man ein bisschen die Realität ausblenden; sonst kommt man gar nicht mehr durch den Tag. So schwierig ist das. Das ist aber Ihr Problem. Für Deutschland wird es ein Problem, wenn ein Bundesminister für Wirtschaft die Realität der wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land und in Europa ausblendet. ({3}) Wie oberflächlich Sie sich als Bundeswirtschaftsminister mit den tatsächlichen ökonomischen Fragen dieser Zeit auseinandersetzen, sieht man an der Art und Weise, wie Sie versucht haben, zum Beispiel gegenüber Bündnis 90/Die Grünen Pappkameraden aufzubauen. Ich habe Frau Merkels Gesicht gesehen: Es sah noch trauriger aus als sonst. ({4}) Herr Rösler, man kann mit dem, was Sie hier bieten, fast nur noch Mitleid haben. ({5}) Kommen wir zur Sache, zum Jahreswirtschaftsbericht. ({6}) - Ich muss ja irgendwann einmal darüber reden. Wenn der Wirtschaftsminister nicht über Wirtschaftspolitik redet, dann muss es wenigstens die Opposition tun, meine Damen und Herren. ({7}) Tatsache ist: Deutschland ist besser durch die vergangenen Jahre der Krise gekommen als andere Volkswirtschaften in Europa. Ich finde, wir sollten jetzt aufhören, zu versuchen, uns wechselseitig selbst auf die Schulter zu klopfen. Jeder hat eine unterschiedliche Wahrnehmung, wer einen Beitrag geleistet hat. Eine wesentliche Ursache ist, dass Deutschland im Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften nach wie vor ein breites und starkes industrielles Rückgrat hat. Von der Grundstoffindustrie bis zu den Hightechschmieden haben wir eine Wertschöpfungskette, die andere Länder - ob Großbritannien, Irland, Griechenland oder andere so nicht haben. Das hat dazu geführt, dass wir in den letzten Jahren als exportstarkes und wettbewerbsfähiges Land mit den besten Produkten, Verfahren und Gütern auf den Märkten der Welt und auch in Europa erfolgreich waren. Das ist keine Banalität, Herr Rösler. Denn ich kann mich erinnern, dass vor zehn Jahren auch Vertreter Ihrer Partei Industrie noch für etwas, sagen wir mal, Altmodisches erklärt haben, was ins Bergbaumuseum gehöre. ({8}) Sie haben uns damals geraten, dem irischen Beispiel zu folgen und allein auf Finanzdienstleistungen zu setzen. Wir wissen, wo das geendet hat. ({9}) Deshalb ist die Lehre aus dieser Krise, dass nicht nur der unverantwortliche Umgang mit öffentlichen Geldern, den es auch gab, die Länder ins Defizit gebracht hat, sondern vor allen Dingen auch eine ökonomische Fehlentwicklung, eine Entwicklung, die sich von realwirtschaftlichem Handeln und industrieller Produktion verabschiedet hat. Denn das haben die Defizitländer in Europa alle gemeinsam. Deshalb muss man in dieser Zeit zum Jahreswirtschaftsbericht leider feststellen, Herr Rösler, dass sich die Stärke der deutschen Wirtschaft dauerhaft auch zur verwundbaren Stelle entwickeln kann. Weil 60 Prozent der Exporte Deutschlands in die Europäische Union, 40 Prozent in die Euro-Zone und derzeit lediglich 6 Prozent nach China gehen, wissen wir: Wir können als Exportnation, wenn es dem Rest Europas schlecht geht, nicht dauerhaft wirtschaftlich erfolgreich sein, weil die Nachfrage nach deutschen Produkten, Verfahren und Dienstleistungen wegbricht. ({10}) Die Antwort darauf bleiben Sie schuldig. Neben Realitätssinn fehlt Ihnen die Tatkraft, das zu tun, was jetzt notwendig ist. Wir brauchen eine Doppelstrategie, um dieser Herausforderung zu begegnen. ({11}) Dazu gehört erstens, dass wir in Deutschland mithelfen, nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell die Binnennachfrage und die Kräfte im Inland zu stärken. Dazu gehören Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur, aber an der richtigen Stelle, Herr Rösler; es geht nicht darum, ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie vom Arbeitsmarkt für Frauen einzuführen. ({12}) Dazu gehört zweitens aber auch eine angemessene Lohnentwicklung. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt haben Sie etwas verschwiegen. Tatsache ist: Es ist gut, dass mehr Menschen in Beschäftigung sind als früher, auch im sozialversicherungspflichtigen Bereich. Wer möchte das bestreiten, und wer sollte das schlechtreden? Es ist aber schlecht, dass immer mehr Menschen in diesem Land zwar Vollzeit arbeiten, aber nicht mehr von der ArHubertus Heil ({13}) beit leben können, weil sie mit Armuts- und Hungerlöhnen abgespeist werden. ({14}) - Das ist kein Zerrbild. Wenn mittlerweile 25 Prozent der Arbeitnehmer, die arbeitslos werden, direkt in die Grundsicherung, in das Arbeitslosengeld II herunterrasseln und aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen, ({15}) dann hat das mit der Lohn- und Gehaltsentwicklung in diesem Land zu tun. Es hat damit zu tun, dass es einen Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit gibt und dass es im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland leider Gottes keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. ({16}) Wir brauchen - da sind die Tarifvertragsparteien zuvörderst gefragt - angemessene Lohnabschlüsse, um die Kaufkraft zu stärken. Wir brauchen private und öffentliche Investitionen in diesem Land. Und: Wir müssen mithelfen, dass sich Deutschland so entwickelt, dass es wettbewerbsfähig bleibt. Aber dafür brauchen wir Staaten und Märkte, die in der Lage sind, unsere Produkte, Verfahren und Dienstleistungen abzunehmen. Deshalb, Herr Rösler, finde ich Ihre Betrachtung der Krise in der Euro-Zone und den Defizitländern sehr oberflächlich. Wer weiterhin glaubt, dass die betroffenen Länder alleine mit kurzfristigen Hilfskrediten und gleichzeitig mit massiven Sparauflagen ökonomisch wieder auf die Beine kommen, der hat nicht begriffen, dass die wirtschaftliche Dynamik in diesen Ländern bestimmte Strukturen, beispielsweise eine bestimmte Infrastruktur, aber auch eine industrielle Struktur, braucht. Aber dazu haben Sie nichts gesagt. Wer einem Staat wie Griechenland mit einer Verschuldung von mindestens 180 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, nur kurzfristig Hilfskredite hinterherwirft und gleichzeitig die dortige Wirtschaft mit kurzfristigen Sparprogrammen und -auflagen abwürgt, der tut nichts dafür, dass dieses Land auf lange Sicht ökonomisch wieder auf eigenen Beinen steht. ({17}) - Herr Döring, ich habe vor kurzem in der Zeitung gelesen, dass Sie als Patrick Lindner bezeichnet wurden. Ich glaube aber, dass Sie Döring heißen. ({18}) - Herr Döring, stellen Sie eine Zwischenfrage, oder halten Sie die Klappe! ({19}) Ich sage Ihnen etwas zur Sache. Wir wollen das nicht durch eine höhere Staatsverschuldung finanzieren. Wir brauchen nicht nur einen Fiskalpakt mit Auflagen - der ist in Europa sicherlich notwendig -, sondern auch ein europäisches Wachstumsprogramm. Ich sage Ihnen auch, wie wir es finanzieren wollen: ({20}) durch das Aufkommen einer Finanztransaktionsteuer in der Euro-Zone, deren Einführung Sie blockieren wollen. ({21}) Herr Rösler, das bringt mich wirklich dazu, mir Sorgen zu machen. Man könnte sich mit Blick auf den Zustand dieser 2-Prozent-Partei FDP getrost zurücklehnen und Witze über die FDP machen. Das reicht aber nicht aus, weil Sie selbst mittlerweile durch Ihr Handeln in der Bundesregierung zu einem Standortrisiko geworden sind. ({22}) Wenn die Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene in Sachen Finanztransaktionsteuer entschlossen auftreten und im Kreis ihrer Kollegen Überzeugungsarbeit leisten will, dann können diejenigen, die die Einführung einer solchen Steuer skeptisch sehen oder dagegen sind, immer wieder mit Blick auf die FDP die Frage stellen: Wie will sich eine Kanzlerin in Europa durchsetzen, die sich in Deutschland noch nicht einmal gegenüber ihrem schwächelnden Koalitionspartner in Sachen Finanztransaktionsteuer durchsetzen kann? ({23}) Jetzt will ich etwas zu Ihrer Argumentation sagen, Herr Rösler. Sie müssen sich entscheiden. Sie haben gestern in der Bundespressekonferenz zum Thema Finanztransaktionsteuer zwei Antworten gegeben. Zuerst haben Sie gesagt, warum Sie eine solche Steuer grundsätzlich schlecht finden. Dann haben Sie gesagt: Wenn man sie einführt, dann nur in der Europäischen Union. ({24}) Ich sage Ihnen dazu Folgendes: Wenn man eine solche Steuer einführt, dann wäre es ganz toll, wenn man es weltweit machen würde. Das wäre das Beste. Ich wünsche mir, dass das zumindest in der gesamten Europäischen Union möglich wäre. Aber Sie wissen ganz genau, dass das mit einer britischen Regierung, die so sehr von der City of London abhängig ist, nie möglich ist. Deshalb sind Sie in dieser Frage nicht ganz ehrlich. Sie argumentieren in Sachen Finanztransaktionsteuer nach dem Hubertus Heil ({25}) Motto: Dafür, weil Ablehnung durch Briten gesichert. Das ist keine ehrliche Position. Dann sagen Sie doch, dass Sie diese Steuer nicht wollen. ({26}) Ich sage Ihnen, warum wir diese Steuer brauchen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist sie eine effektive Bremse gegen kurzfristige, volkswirtschaftlich schädliche Spekulationen beispielsweise im Bereich des Hochfrequenzhandels. Zum anderen brauchen wir sie schlicht und ergreifend, weil wir das Aufkommen dieser Steuer in Europa brauchen, weil wir die Staaten nicht in neue Schulden stürzen dürfen und weil wir den Steuerzahlern nicht die Kosten dessen aufhucken dürfen, was jetzt notwendig ist, nämlich ein wirtschaftliches Aufbauprogramm. Das wird sicherlich lange dauern. Aber ich erinnere daran, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ohne ein solches wirtschaftliches Aufbauprogramm - es hieß damals Marshallplan - nicht auf die Beine gekommen wären. Was Sie betreiben, ist Voodoo-Ökonomie. Zu glauben, dass man mit Sparauflagen und Hilfskrediten die betroffenen Länder ökonomisch wieder flottmachen könne, hat mit ökonomischem Sachverstand nichts zu tun. ({27}) Zum Thema Energiepolitik. Herr Rösler, war das nicht die Rede eines Bundeswirtschaftministers, der auch für Energiepolitik zuständig ist? ({28}) Das war die Rede eines hilflosen Hilfsreferenten: Man müsste mal, man sollte mal, man könnte mal. Die deutsche Wirtschaft schreibt Ihnen ins Stammbuch, dass die Art und Weise, wie Sie sich bei der Umsetzung der Energiewende mit Herrn Röttgen verhakeln, dass das Fehlen eines Masterplans - er ist notwendig, um die Netze auszubauen, die Erneuerbaren tatsächlich zu integrieren, Planungs- und Investitionssicherheit zu schaffen und Energieeffizienz voranzubringen -, dass dieser Zickzackkurs und diese Unsicherheit mittlerweile zum Problem werden können für die Verbraucher, was die Preisentwicklung betrifft, und für die energieintensiven Unternehmen in diesem Land. Sie sind durch diese Form von Energiepolitik ein Standortrisiko. Das müssen Sie sich zurechnen lassen. ({29}) Herr Rösler, zum Thema Fachkräftesicherung und Personalentwicklung. Abgesehen davon, dass Sie das zu einem wichtigen Thema erklärt haben, ist der einzige Beitrag, der im Bereich Personalentwicklung im Moment geleistet wird - ob das Fachkräftesicherung ist, weiß ich nicht -, das, was Ihr Kollege Niebel im Entwicklungsministerium an Personalpolitik macht. Er hat wahrscheinlich Entwicklungspolitik mit Personalentwicklung verwechselt. ({30}) Aber es gibt in der Sache keine Fachkräfteallianz und keine Strategie in Deutschland, die die Spaltung des Arbeitsmarktes überwindet. Wir erleben, dass demografiegetrieben die Arbeitsmarktsituation in diesem Jahr stabil bleibt. 150 000 Menschen weniger als im letzten Jahr stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Das ist nicht nur eine politische Leistung; das ist schlicht und ergreifend Demografie.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb ist die Fachkräftesicherung Thema Nummer eins. Kümmern Sie sich einmal darum, und bauen Sie hier keine Pappkameraden auf! Sie sind eine Nummer zu klein für das Amt, Herr Rösler; das kann ich Ihnen nicht ersparen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Zahlen von Herrn Heil verfolgt, dann muss man sagen: Es macht eigentlich überhaupt keinen Sinn, darauf zu antworten, und deswegen erspare ich Ihnen und mir das. ({0}) Herr Heil versucht, uns beizubringen, dass das Glas allenfalls halb leer ist. Es ist aber mehr als halb voll. Es gibt kein Land in Europa, dem es so gut geht wie Deutschland. ({1}) Darauf können wir stolz sein. Wir lassen uns das von niemandem aus der Opposition schlechtreden. Die Situation in Deutschland ist viel besser als in jedem anderen Land. Ich habe vor kurzem Gespräche mit Vertretern anderer Länder geführt. Das Einzige, was ich immer wieder gesagt bekommen habe, war: Eure Probleme möchten wir haben. - Genau so ist die Situation, und dies sollten wir auch erfreut zur Kenntnis nehmen. So gut wie Deutschland ist kein anderes Land aus dieser Krise herausgekommen. Es ist die Politik, es sind aber auch die Unternehmen sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Deutschland standortsicher gemacht haben, die dafür gesorgt haben, dass wir innovative Produkte haben und dass wir unsere Produkte weltweit vernünftig absetzen können. Die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland wurde in den letzten Jahren gewaltig gesteigert. Deswegen geht es uns so gut. ({2}) Wenn Sie sich die Zahlen aus Europa angucken, dann sehen Sie: Es gibt kaum ein Land, das sagen kann, seine Wirtschaft werde in diesem Jahr um mindestens 0,7 Prozent wachsen. Das ist nicht viel in Relation zu dem, was wir in den letzten Jahren hatten, nämlich 3,7 Prozent und 3,0 Prozent. Aber es ist Wachstum, und es ist konservativ gerechnet; denn ich bin davon überzeugt, dass der Export besser laufen wird, als wir dies im Jahreswirtschaftsbericht angenommen haben. Meiner Meinung nach wird der Export schon deswegen besser laufen, weil wir durch den schwachen bzw. schwächeren Euro natürlich auch gewisse Windfall Profits haben. Schwach ist der Euro wahrlich nicht. Ich erinnere daran, dass er in Relation zum US-Dollar einmal bei 85 Cent gestanden hat; jetzt steht er bei 1,27 bzw. 1,28 Euro. Das ist wahrlich nicht dramatisch und zeigt im Prinzip die nach wie vor vorhandene innere Stärke des Euro. Der Arbeitsmarkt profitiert davon am allermeisten. Wir werden in diesem Jahr laut Projektion voraussichtlich 41,3 Millionen Erwerbstätige haben. Wir haben über 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das führt dazu, dass unsere Sozialsysteme sicherer geworden sind. Es führt dazu, dass wir im nächsten Jahr den Rentenversicherungsbeitrag wahrscheinlich erneut senken können, ja sogar müssen, weil wir über die Reserve von 1,5 Monatsausgaben hinauswachsen werden. All dies sind Erfolgsstories. Aber ein Punkt ist mir am allerwichtigsten - dafür habe ich mich persönlich auch als Unternehmer immer eingesetzt -: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist so niedrig wie in keinem einzigen anderen Land Europas. Das sollten wir auch einmal zur Kenntnis nehmen. Das könnte sogar die Opposition erfreut zur Kenntnis nehmen. ({3}) Es gibt für mich kein größeres gesellschaftspolitisches Problem, als sich darum zu kümmern, dass junge Menschen eine Perspektive haben, eine Chance, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, damit sie eine Lebensperspektive entwickeln können. Genau dies haben wir erreicht. In meinem Wahlkreis gibt es keinen einzigen jungen Menschen mehr, der noch keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, aber 327 offene Stellen. ({4}) Bei diesem Punkt müssen wir darüber nachdenken: Wie bekommen wir es hin, die Jugendlichen, die noch nicht ausbildungsfähig sind, möglichst schnell in Ausbildung zu bringen? Das ist aber eine wesentliche Aufgabe der Länder. Darüber gibt es keine Diskussion. Das muss gelingen, und es muss schnell gelingen. Wir müssen außerdem darüber nachdenken, ob junge Menschen aus dem europäischen Umland, in dem die Jugendarbeitslosigkeit gewaltig hoch ist, zu uns kommen können. Auch das wird eine Aufgabe der Politik sein, genauso wie es sehr wichtig ist, dass wir den Facharbeitermangel angehen. Aber dort haben wir bereits im letzten Jahr - Herr Bundesminister, vielen Dank dafür - eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die sich sicherlich bewähren werden. ({5}) Die Situation ist also alles andere als schlecht, und wir lassen sie uns auch von der Opposition nicht schlechtreden. ({6}) Wichtig ist aber, dass wir wissen, warum es uns so gut geht. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, uns geht es deswegen so gut, weil wir eine funktionierende soziale Marktwirtschaft haben. Diese Marktwirtschaft ist der Grund, warum es bei uns besser läuft als in vielen anderen Ländern. Es ist unsere Aufgabe, hier im Hohen Hause darauf zu achten, dass wir weiter auf dem Weg der Marktwirtschaft gehen und diese nicht immer infrage stellen. Das tun viele. Der Marktwirtschaft wird häufig auch noch Raubtierkapitalismus vorgeworfen. Völliger Quatsch! Wer von Marktwirtschaft spricht, der meint damit bewusst auch Ordnung und Staat. Das gehört zusammen. Aber der Staat ist nicht der bessere Banker und schon gar nicht der bessere Unternehmer. Er hat die Regeln zu setzen, aber sich aus der Marktwirtschaft, aus dem Markt herauszuhalten. Dort haben wir in den letzten Jahren das eine oder andere durchaus falsch gemacht. Der Marktanteil privater Banken in Deutschland beträgt gerade einmal 26,9 Prozent, und dabei habe ich die Commerzbank dazugerechnet. ({7}) Aber wenn der Staat die Sperrminorität bei einer Bank hat, kann man nicht wirklich von privat sprechen. Wenn wir diese Bank nicht dazurechnen, sind wir bei 19 Prozent. Das ist mit 15 Prozent die Deutsche Bank, und der Rest sind das Bankhaus Metzler und einige andere kleine. Dann davon zu sprechen, dass all diese schuld seien, ist sehr fragwürdig. ({8}) Meiner Meinung nach wäre es besser - der Kollege Gysi hat das ja immer in seinen Redeschleifen -, wenn wir einmal darüber nachdenken würden, wie wir mehr Private in den Bankensektor hineinbekommen; denn sie haben weniger Probleme als die ganzen staatlich organisierten Banken, angefangen bei allen Landesbanken, vor allem denjenigen in sozialdemokratisch geführten Ländern. ({9}) Lassen Sie mich - Sie warten wahrscheinlich schon darauf - noch einige Worte zum Energiemarkt sagen. Auch dort ist es so, dass das Ganze mit Markt nicht mehr allzu viel zu tun hat. Wir haben nur noch 34 Prozent Markt; 66 Prozent sind staatlich organisiert. Das ist der gesamte Bereich der staatlichen Lasten; das sind 42 Prozent. Hinzu kommen die regulierten Netzentgelte mit einem Anteil von 24 Prozent. Also sind nur noch 34 Prozent des gesamten Strompreises privat oder marktwirtschaftlich organisiert. Das zeigt, dass wir da in eine Falle laufen, die immer problematischer wird. Denn je mehr erneuerbare Energien wir einsetzen - und wenn wir diesen Bereich so organisieren, dass dieser Markt komplett reguliert ist -, desto mehr wird aus der privatwirtschaftlichen Organisation herausgenommen. Ich warne davor; denn das kann zu Verteuerungen führen, die wir uns nicht leisten können. Die können wir uns deswegen nicht leisten, weil ich nicht möchte, dass Industrieunternehmen aus Deutschland abwandern müssen, weil sie nicht in der Lage sind, die Strompreise zu bezahlen bzw. ihre Produkte wettbewerbsfähig in Deutschland herzustellen. ({10}) Es kann nicht sein, dass wir die Fehler, die wir beim EEG gemacht haben, auch in Zukunft nicht beseitigen. Produce and forget - das ist die Methode, die das EEG vorgibt: Ich stelle den Strom her; ob den irgendeiner benötigt und wo der gebraucht wird, ist mir völlig egal. Ich sage Ihnen eines: Als Unternehmer hätte ich es sehr gerne gesehen, wenn ich die von mir hergestellten Produkte einfach auf den Hof hätte stellen und sagen können: Mich interessiert der Vertrieb nicht. Das ist eine Vorgehensart, die ich nicht als Unternehmertum bezeichnen möchte. ({11}) Der Vertrieb des Stroms muss von denjenigen, die ihn produzieren, mitorganisiert werden. Wir werden eine entsprechende Änderung im EEG vornehmen müssen; denn ansonsten wird es einen gewaltigen Zubau geben, den aber keiner gebrauchen kann. Keiner kann dann nämlich den produzierten Strom abnehmen, weil er gar nicht dahin transportiert werden kann, wo er gebraucht wird. An dieser Stelle muss es Veränderungen geben. ({12}) Wir müssen auch darüber nachdenken, ob die unwirtschaftlichste Methode, Strom zu produzieren, nämlich die Photovoltaik, so wie bisher weiter gefördert werden kann. Im letzten Jahr wurden 7 500 Megawatt zugebaut, allein im Monat Dezember über 3 000 Megawatt. ({13}) Dies wird so nicht weitergehen können. Das zeigt zugleich, dass die Kostensenkungen bei den Paneelen weit höher waren als die Absenkungen der Einspeisevergütung, die wir vorgenommen haben. Im letzten Jahr sind die Preise für Solarpaneele um rund 40 Prozent gesunken. Diese machen aber ungefähr 70 Prozent der Kosten einer Solaranlage aus. Also kann man davon ausgehen, dass es beim Aufbau von Solaranlagen eine Kostendegression in Höhe von ungefähr 30 Prozent gab. Zugleich haben wir aber zum 1. Januar 2012 nur eine mäßige Kostendegression von 15 Prozent bei der Einspeisevergütung vorgenommen. Das heißt, der Profit derjenigen, die eine Solaranlage auf ihr Dach montiert haben, hat sich deutlich erhöht. Das kann nicht sein. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben. Die Mieter, die Hartz-IV-Empfänger bezahlen das, was wohlhabende Bürger auf ihrem Dach installieren. Das muss sich ändern. Ich bin gegen diese Umverteilung von unten nach oben. ({14}) Es handelt sich auch um eine Umverteilung von Nord nach Süd. Es ist sozusagen ein Länderfinanzausgleich auf umgekehrtem Wege. Die Bayern sind die größten Profiteure, während die Länder im Norden und NRW am meisten dafür zahlen. Das kann so nicht weitergehen; das ist ungerecht, das sehe ich so nicht ein. Wir müssen das gemeinsam angehen. Wir werden das EEG in diesem Jahr umbauen müssen, sodass es marktwirtschaftlicher organisiert ist, dass Elemente hineinkommen, die dafür sorgen, dass die Strompreise durch die Erzeugung von erneuerbaren Energien nicht zu stark steigen und somit die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Unternehmen in Deutschland nicht zu sehr belastet werden. Deutschland ist ein Industrieland, ein Industriestandort; das muss so bleiben. Wir werden uns dafür einsetzen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten Vierteljahr ist die wirtschaftliche Entwicklung bereits um 0,25 Prozent zurückgegangen; sie ist quasi eingebrochen. Wir liegen also bereits im Minus. Spätestens angesichts dessen stellt sich doch die hochbrisante Frage, ob eine Rezession droht. In solch einer Situation erleben wir hier einen Wirtschaftsminister, der sich schlicht in Realitätsverweigerung übt. Ich halte es schon für skandalös, wie hier operiert wird. ({0}) Was sagt der Wirtschaftsminister? Er sagt: Wir haben eine leichte Wachstumsdelle. Das wird am Rande zur Kenntnis genommen; dabei ist es, wie gesagt, schon mehr als eine Wachstumsdelle. Dann wird anhand irgendwelcher wunderlicher Gründe, die nicht näher belegt werden, behauptet, dass es ab nächsten Sommer wieder aufwärtsgehen wird. Das sind schlicht haltlose Fantastereien, mit denen wir hier konfrontiert werden. ({1}) Wir haben im letzten Jahr und auch in den Jahren zuvor erlebt, dass von deutscher Seite den anderen Ländern in der EU ein massives Kürzungs- und Strangulierungsprogramm aufgeherrscht worden ist. In den anderen Ländern wird die deutsche Kanzlerin mittlerweile fast schon als selbsternannte, selbstgekrönte Kaiserin über Europa empfunden. 600 Milliarden Euro beträgt die Summe, die in den nächsten zwei bis drei Jahren in Europa auf deutschen Druck eingespart wird. Hier läuft momentan ein atemberaubendes Strangulierungsprogramm. Das ist das Gegenteil von Konjunkturunterstützung. Auch das und die damit verbundenen Risiken werden von dieser Regierung und von diesem Wirtschaftsminister überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Wir wissen doch, dass 60 Prozent der deutschen Exporte in die EU gehen. Es ist vollkommen klar, dass dieses Strangulierungsprogramm auch auf Deutschland zurückschlägt, sodass wir auch hier in Deutschland in höchster Gefahr sind. Das muss man anerkennen, das muss man sehen, und darauf muss man Antworten geben. ({2}) Die Grundantwort darauf heißt: Eine Rezession in Deutschland kann sehr wohl verhindert werden. Sie ist nicht gottgegeben. Die Verhinderung einer Rezession in Deutschland setzt aber voraus, dass wir unverzüglich auf eine deutliche Stärkung der Binnenwirtschaft in Deutschland umsteuern müssen. ({3}) Dazu gehören zum einen Zukunftsinvestitionsprogramme und Konjunkturprogramme. Wir müssen viel mehr Geld für dringend zu lösende Aufgaben ausgeben, für Infrastruktur, Bildung usw. Der zweite ganz wichtige Punkt ist aber: Wir brauchen richtig knackige Lohnerhöhungen, um es einmal so klar zu formulieren. Lohnerhöhungen sind die Parole der Stunde. ({4}) Es muss endlich Schluss sein mit dem, was wir seit zehn Jahren erleben, nämlich ein atemberaubendes Lohndumping. Die Reallöhne sind in den letzten zehn Jahren um 4,5 Prozent gesunken. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es in den letzten ein, zwei Jahren geringfügige Verbesserungen und Korrekturen gegeben hat. Dieses Lohndumping in Deutschland muss endlich beendet werden. ({5}) Es muss Schluss sein damit, dass auf der einen Seite die Gewinne in den Himmel fliegen und die Einkommen der Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen auf der anderen Seite noch um 20 Prozent gekürzt werden, sodass sie am Ende als Aufstocker Mittel aus der öffentlichen Tasche, Steuermittel beanspruchen müssen, um überhaupt überleben zu können. Die erste große Tarifrunde in diesem Jahr ist die im öffentlichen Dienst. Aus manchen Bemerkungen hört man schon heraus, dass selbst beim Wirtschaftsminister das ganz rudimentäre Verständnis besteht, dass ein weiteres Ansteigen des privaten Konsums wichtig sei. Dazu brauchen wir deutliche Lohnerhöhungen. Wenn im öffentlichen Dienst die erste Tarifrunde stattfindet, haben Sie sehr wohl Handlungsmöglichkeiten. Sie könnten als Arbeitgeber auch auf Ihrer Seite mit dafür sorgen, dass schon in der ersten Tarifrunde der deutliche Nachholbedarf im öffentlichen Dienst ausgeglichen wird und dass es zu einer massiven Lohnerhöhung kommt. ({6}) Über die Lohnentwicklung hinaus brauchen wir deutliche Verbesserungen in den Bereichen, die von den Gewerkschaften im Rahmen der Tarifpolitik schon gar nicht mehr reguliert werden können; schon 50 Prozent der Menschen in Deutschland arbeiten nicht mehr unter einem Tarifvertrag. Dazu gehört zuallererst die Einführung eines wirklichen Mindestlohns, der gesetzlich festgelegt wird. Dieser Mindestlohn muss 10 Euro betragen; denn nur diese Größenordnung bringt wirklich etwas. ({7}) Wirtschaftsminister Rösler feiert in seinem Ausblick fröhlich angeblich Hunderttausende neuer Jobs in diesem Jahr. Sollte das eintreten, würde nur das fortgesetzt, was wir die ganzen Jahre ohnehin schon erlebt haben: Weiterhin werden massiv Vollzeitjobs zugunsten der deutlichen Ausweitung von massenhaften miesen und prekären Beschäftigungsverhältnissen abgebaut, in denen Menschen befristet, in Leiharbeit oder in anderen Formen wie zum Beispiel Minijobs arbeiten müssen. Diese Androhung formulieren Sie faktisch gegenüber diesem Lande. Das ist ein Skandal und kein Positivpunkt. ({8}) Ich komme zum Schluss. Man muss ganz klar festhalten: Die Ausweitung prekärer Beschäftigung hilft uns nicht weiter. Was wir vielmehr brauchen und was in der momentanen Situation angezeigt ist, um dieses Land vor einem Hineinschlittern in die Rezession zu bewahren, sind eine deutliche Umsteuerung auf die Binnenwirtschaft und deutliche Lohnerhöhungen in der kommenden Tarifrunde. Alle, die für dieses Land etwas tun wollen, müssen da massive Unterstützung leisten. Danke schön. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Hermann Otto Solms ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mich nicht daran erinnern, während meiner langjährigen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag - ich bin seit gut 30 Jahren Mitglied - schon einmal in einer schwierigen Zeit und in einem schwierigen Umfeld einen so positiven Jahreswirtschaftsbericht gehört zu haben. Das möchte ich hier betonen. ({0}) Das ist schon herausragend. Zu diesem Ergebnis kommen Sie, wenn Sie sich das Umfeld in Europa und weltweit anschauen. Deswegen gilt unser Dank der Bundesregierung dafür, dass sie dazu beigetragen hat, dass dieser positive Bericht abgegeben werden konnte. Ein besonderer Dank gilt natürlich dem Wirtschaftsminister, der in erster Linie die Verantwortung dafür trägt. ({1}) Deutschland ist heute eine Insel der Stabilität, eine Insel der sozialen Sicherheit und zugleich eine Insel des Wachstums und des Fortschritts. Alle anderen Länder um uns herum wären froh und glücklich, wenn sie in unserer Lage wären. Aber einige, insbesondere die Politiker der Opposition, mäkeln daran herum. Warum sagen Sie nicht stolz: „Wir haben mit der Agenda 2010 auch unseren Anteil an diesem Erfolg“? ({2}) Stattdessen verleugnen Sie die Vaterschaft für diese Tat und versuchen jetzt, sie zu bekämpfen. Das ist doch kurios. Damit werden Sie keine Wahlen gewinnen. Das sage ich Ihnen voraus. ({3}) Die positive Entwicklung zeigt sich insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Damit verbunden ist auch eine positive Entwicklung der sozialen Situation; denn die Menschen können wieder aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt verdienen und sind nicht mehr auf staatliche Transfers angewiesen. Zu dem Kollegen Schlecht möchte ich sagen: Nomen est omen. Es war ziemlich schlecht, was Sie gesagt haben. Die Lohnsteigerungen - Sie haben beklagt, dass es sie nicht geben würde - sind jetzt faktisch da. Das haben wir erreicht. Ich will noch dazu sagen, dass dies ökonomisch gesehen eine hochinteressante Entwicklung ist; denn hier treten zwei Phänomene zugleich ein, die sich die Ökonomen seit langem gewünscht und gefordert haben: Erstens. Die Exportkonjunktur, die uns aus der Krise herausgeführt hat, geht jetzt in eine Binnenkonjunktur über. Wir sind nicht mehr so stark vom Export abhängig, wie wir es in der Zeit davor waren. Die Binnenkonjunktur ist angesprungen. Das liegt insbesondere an der Beschäftigungsentwicklung und dem damit verbundenen Effekt, weil die Menschen durch mehr Beschäftigung und durch Lohnerhöhungen mehr Kaufkraft haben und diese Kaufkraft auch einsetzen und nutzen. Das ist ein positives volkswirtschaftliches Ergebnis. Zweitens. Jetzt ist die These, die die FDP immer aufgestellt hat, praktisch bewiesen, dass nämlich Entlastung bei Steuern und Abgaben ({4}) und Haushaltskonsolidierung - das ist unsere Strategie Hand in Hand gehen und zusammengehören. Entlastungen schaffen die Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum. Wirtschaftliches Wachstum wiederum trägt dazu bei, dass sich die Kassen des Finanzministers wieder füllen und die Neuverschuldung zurückgeführt werden kann, und zwar weit mehr, als wir dies noch vor kurzem für realistisch gehalten hätten. ({5}) Es gibt natürlich auch einige Risiken. Ein Risiko, gegen das wir dieses Jahr angehen müssen, liegt in der Krise des Euro. Wir sind endlich auf einem guten Weg und wollen übereinstimmend über eine Stabilitätsunion zu einem Erfolg kommen. Das gilt jedenfalls für die Koalition und für die Regierung; die Opposition kämpft noch mit sich, ob sie nun für Euro-Bonds eintreten soll oder nicht. Eine Vergemeinschaftung der Haftung kann für uns nicht infrage kommen. ({6}) Der einzige Weg, die Krise zu bekämpfen, ist, die Ursache der Krise zu bekämpfen. Das ist die Verschuldung der Staaten, und diese muss zurückgeführt werden. Das setzen wir durch. ({7}) Das zweite Risiko liegt in der Entwicklung der Preise auf dem Energiemarkt. Die Energiepreise sind heute das, was früher die Brot- oder Milchpreise waren. Sie sind von fundamentaler Bedeutung. Der sehr schnelle Umstieg in der Energiepolitik birgt erhebliche Risiken. Es muss klar sein: Die Belastung der Volkswirtschaft durch die Energiepreise muss beherrschbar bleiben. Das heißt, die EEG-Umlage darf den Wert von 3,5 Cent pro Kilowattstunde nicht überschreiten. Deswegen muss die Subventionierung im EEG zurückgeführt werden. Ich will jetzt nicht über die Technik sprechen, aber es muss klar sein und wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass die Obergrenze für die EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent pro Kilowattstunde eingehalten wird und die Preise nicht weiter steigen. Das würde unsere Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Wettbewerb erheblich erschweren. ({8}) Das dritte Risiko liegt in der Steuerpolitik. Ich will die Grusel- und Schockvorschläge der Grünen, die vielfältige Steuererhöhungen beschlossen haben, hier nicht wiederholen. Die SPD ist etwas zurückhaltender, aber ebenfalls auf dem falschen Weg. Es zeigt sich doch jetzt, dass eine maßvolle Steuerbelastung positive Auswirkungen auf die Wirtschaft und die privaten Haushalte hat. Sie führt dazu, dass Investitionskapital in Deutschland bleibt und vom Ausland nach Deutschland gebracht wird. Das wiederum ist die Voraussetzung für Wachstum. Also: Lasst diesen Unsinn mit diesen vielen Steuererhöhungen, sondern schließt euch uns an. ({9}) Maßvolle Steuerpolitik ist die Voraussetzung für Wohlstand und Wachstum, und dabei muss es bleiben. ({10}) Es bleibt das Thema Finanztransaktionsteuer. Ich will jetzt gar kein Tabu aufstellen. Ich will nur sagen: Diejenigen, die das fordern, müssen erst einmal den Nachweis erbringen, dass die volkswirtschaftlichen Nachteile, die damit verbunden sind, geringer sind als die volkswirtschaftlichen Vorteile. ({11}) Die Finanztransaktionsteuer ist mittlerweile eine reine Wundertüte: Sie soll die Märkte beruhigen. Sie soll die Spekulationen eindämmen. Sie soll die Finanzindustrie bestrafen. Sie soll für mehr steuerliche Gerechtigkeit sorgen. Sie soll im Übrigen Geld in die Kasse spülen. Das ist natürlich alles schön und gut. Aber: Geht das? Kann sie das? Das ist doch die Frage. ({12}) Es gibt einen einzigen praktischen Versuch. Der ist in Schweden durchgeführt worden. Der ist total in die Hose gegangen. Die Schweden haben in den 80er-Jahren die Börsenumsatzsteuer eingeführt. 80 bis 90 Prozent der Umsätze sind sofort nach London abgewandert. Sie haben gehofft, 1,5 Milliarden Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen zu bekommen. Hereingekommen sind 50 Millionen Euro. Wer ist zum Schluss besteuert worden? Nur noch die kleinen Unternehmen, die allein an der schwedischen Börse notiert waren. Bei allen anderen Unternehmen, die auch international notiert waren, sind die Umsätze abgewandert. Das droht auch hier. Die Kommission hat erkannt, dass es so nicht funktionieren kann, weil es zu Abwanderungen führt. Deshalb soll das Wohnsitzprinzip gelten. Aber auch das Wohnsitzprinzip haben sie nicht durchgehalten; denn bis jetzt gibt es beispielsweise keine Vereinbarung in den jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen über einen entsprechenden Datenaustausch. Wie wollen Sie denn die Behörden in Singapur zwingen, die Namen derjenigen, die Transaktionen veranlasst haben, bekannt zu geben? Das ist doch gar nicht machbar. Auch die Behörden in London tun es nicht. ({13}) Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Bevor diese technischen Fragen nicht geklärt sind, können wir die Diskussion über die Finanztransaktionsteuer beenden. ({14}) Erst einmal müssen die Fachleute ran und sagen: Wir haben ein System, das funktioniert. Dann reden wir weiter darüber, ob das auch politisch sinnvoll ist. Aber dann muss man die Vor- und Nachteile abwägen. Es darf hier nicht dazu kommen, dass die kleinen Leute, die für ihre Altersvorsorge sparen, belastet werden ({15}) und dass die kleinen Unternehmen in Deutschland, die nur an der deutschen Börse notiert sind, diese Steuer bezahlen müssen und die großen Unternehmen zu anderen Börsenplätzen abwandern. Das kann keiner von uns wollen. ({16}) Wir brauchen in Deutschland einen funktionierenden Finanzplatz zur Finanzierung der realen Wirtschaft. Darüber müssen wir uns alle einig sein. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war schon gestern bei der Lektüre des Jahreswirtschaftsberichts enttäuscht; aber bei Ihrer Rede, Herr Rösler, hatte ich irgendwie das Gefühl, Sie nehmen es gar nicht ernst, worüber wir in Deutschland und in Europa gerade diskutieren. Ich halte es für eine Beschönigung, wenn Sie sagen: Na ja, wir gehen um 2,3 Prozent herunter; das ist dann eben eine „Delle“. - Jedoch wissen alle, die den Jahreswirtschaftsbericht gelesen haben, dass die Grundlage für die Annahme, dass es sich nur um eine „Delle“ handelt, darin besteht, dass wir im Jahr 2012 die Euro-Krise in den Griff bekommen und somit die europäische Krise gelöst werden kann. Diese Annahme liegt Ihren Zahlen zugrunde. Ich sage: Angesichts der Krisenpolitik dieser Regierung, die auch den Namen von Frau Merkel trägt, bin ich ebenso wie viele Experten im Zweifel, ob es wirklich gelingen wird, diese Krise im Jahr 2012 in den Griff zu bekommen. ({0}) Sie haben vieles falsch gemacht. Sie haben zuerst lange gezögert, und zwar zum großen Schaden für viele Länder in Europa. Dann haben Sie eine Politik gemacht, die sich ganz auf eine Sparpolitik der Staaten konzentriert, die aber keine Möglichkeiten und Spielräume mehr für Investitionen lässt. ({1}) Das ist völlig falsch. Wir müssen sparen und investieren. Wer nur spart und sich dann wundert, dass die anderen nicht investieren können, der ist ökonomisch zu kurz gesprungen. Das sind Sie in Ihrer Rede und in dem, was Sie in Ihrem Bericht verfasst haben. ({2}) Herr Rösler, ich will Ihnen am Rande sagen: Sie persönlich kommen in der Europapolitik sowieso nicht vor. ({3}) Die ganze EU-Debatte ist spurlos an Ihnen vorübergegangen, obwohl Sie als Wirtschaftsminister dafür elementar zuständig wären. Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen. Sie treten lediglich an einer Stelle auf, nämlich als Bremser bei der Finanztransaktionsteuer. Es ist doch geradezu lächerlich, dass Sie jetzt den kleinen Mann entdecken, wir aber bei der Finanztransaktionsteuer über Steuersätze von 0,1 Prozent auf Aktien und 0,01 Prozent auf Derivate reden. Dass Sie nun plötzlich das Herz des kleinen Mannes entdecken, ist doch irgendwie fadenscheinig. Ihnen geht es um die Großbanken. ({4}) Sie glauben, dass diese Ihnen über die 5-Prozent-Hürde helfen. Aber auch das wird sich als Illusion erweisen. Ein Punkt stört mich in ökonomischer Hinsicht: Früher war das Wirtschaftsministerium immer auch ein Ort der ökonomischen Theorie. In Ihrem Bericht jedoch sagen Sie: Die Ungleichgewichte in Europa und die Leistungsbilanzunterschiede sind ein Problem. - Für Sie besteht ein Problem nur dann, wenn ein Land Leistungsbilanzdefizite hat. Dass es aber auch einen Zusammenhang gibt zwischen Defiziten und Überschüssen und dass man dieses Problem durch gemeinsame Wirtschaftspolitik in Europa angehen muss, das kommt im gesamten Jahreswirtschaftsbericht nicht vor. ({5}) Davon haben Sie noch nichts gehört. Der Debatte wollen Sie sich offensichtlich nicht stellen. Dann kommen Sie mit dem Wachstum. Das will ich am Beispiel der Energie deutlich machen. Ich werfe Ihnen für meine Fraktion konkret vor, dass Sie bei der Energiewende so auf der Bremse stehen, wie man nur auf der Bremse stehen kann. ({6}) Sie haben die Energiewende zwar beschlossen, wenn auch wider Willen, aber jetzt tun Sie nichts. ({7}) Sie haben nichts im Zusammenhang mit der Energieeffizienz getan. Sie haben den EU-Vorschlag blockiert, der von jedem Energieversorger eine Steigerung der Energieeffizienz um 1,5 Prozent im Jahr verlangt. ({8}) Das nennen Sie Planwirtschaft - und beim EEG kommen Sie mit dem depperten Quotenmodell, das in England schon in Bausch und Bogen gescheitert ist. ({9}) Das ist doch keine Ordnungspolitik, das ist reine Interessenpolitik. Für Sie bedeutet die Energiewende lediglich, neue Kohlekraftwerke zu bauen. Wir haben doch Augen im Kopf. Der Strom wird teurer, weil Sie die Netzentgeltregelung für Großkunden eingeführt haben, um sie von den Kosten zu befreien. Das ist ordnungspolitisch übrigens sehr interessant: Wer sehr viel Strom braucht, zahlt kein Netzentgelt, und wer wenig braucht, der muss zahlen. Das ist eine ganz tolle Ordnungspolitik, mit der Sie hier aufwarten. ({10}) Und was machen Sie bei der EEG-Umlage? Die Kostenbefreiung wird von den bisher 600 Betrieben auf sehr wahrscheinlich 6 000 Betriebe ausgeweitet. Das ist der Grund für die Kostenbelastungen - weil Sie immer die Vorstellung haben, es sei gut, den Großen zu helfen, dafür aber nicht in die Infrastruktur investieren. Ich sage Ihnen, Herr Rösler: Wenn Sie eine Sonnenallergie haben, dann müssen Sie zum Arzt gehen; aber dann müssen Sie hier nicht mit allen Tricks versuchen, die Photovoltaikentwicklung in Deutschland zu sabotieren. Das ist nicht der richtige Weg. ({11}) Sie haben, seit der Atomausstiegsbeschluss gefallen ist, nichts Nennenswertes getan, was uns wirklich voranbringt. Es sind verlorene Jahre für eine vernünftige Energiepolitik. Übrigens bringt eine solche Politik Wachstum: Mit grünen Ideen können Sie schwarze Zahlen schreiben. Wir könnten in dem Sektor neue Arbeitsplätze schaffen, um uns unabhängiger von Energieimporten zu machen, die gefährlich, teuer und riskant sind. Wer da aber auf der Bremse steht, der kann einfach keine gute Politik machen. Von Wachstum brauchen Sie uns nichts zu erzählen. Wir freuen uns, wenn die Wirtschaft wächst; aber wir erlauben uns den Luxus, zu fragen, ob sie an den richtigen Stellen wächst. ({12}) Wir erlauben uns politisch den Luxus, zu fragen: Was passiert eigentlich, wenn die Wirtschaft einmal nicht mehr wächst? Geht der Staat dann baden, oder haben wir für eine solche Situation vorgesorgt? Diese Fragen erlauben wir uns. Ihre Jubelarie „Wachstum, Wachstum über alles“ ist einfach peinlich. Im Bericht steht jetzt sogar, dass Sie ein „breites Wachstum“ ermöglichen wollen. Es ist ein solcher Hirnriss, dass das Wachstum jetzt auch noch breit sein soll; da kann ich doch nur lachen. Wir müssen im Jahr 2012 schauen, dass die richtigen Bereiche wachsen; das ist die staatliche Aufgabe. Darum kümmern sich die Grünen, und Sie, Herr Rösler, haben sich verdrückt. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ernst Hinsken ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder steht der Jahreswirtschaftsbericht auf der Tagesordnung. Es ist gesetzlich festgeschrieben, dass er abgegeben wird. In keinem Jahr zuvor kann man trotz Wirtschaftskrise auf so viel Positives verweisen wie heute. Mit 3 Prozent Wachstum im Jahr 2011 ist Deutschland zur wichtigsten Wachstumslokomotive auf dem ganzen Kontinent geworden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute besser da, als wir vor der Wirtschafts- und Finanzkrise dastanden. Das sollte einmal gewürdigt werden. ({0}) Wir Deutsche sind wirtschaftlich spitze. Ich möchte nur einige Bereiche benennen: Ob Export, Tourismus, niedrige Arbeitslosigkeit oder erneuerbare Energien, überall sind wir vorne dran. Und dann kommen Sie, verehrter Herr Kuhn, hierher und versuchen, das Ganze schlechtzureden, als würden Sie von der Realität nichts verstehen. ({1}) Sie waren in den Ausschüssen sonst immer mit dabei und haben sich konstruktiv eingebracht; aber was Sie heute hier abgeliefert haben, war unter „ferner liefen“. Da möchte ich Ihnen jetzt, wo Sie hinausgehen wollen, ein Wort des Bedauerns mit auf den Weg geben. Ich habe auch nicht verstanden, dass sich gerade Kollege Heil bei dieser Debatte nicht dessen bewusst war, dass er vor dem Plenum des Deutschen Bundestages und nicht auf dem SPD-Parteitag spricht. Die Ausfälle, die Sie geliefert haben, spotten jeder Beschreibung. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn ich die wirtschaftliche Entwicklung, wie ich es vorhin getan habe, so positiv hervorhebe, so auch deshalb, weil sich die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland Gott sei Dank halbiert hat, weil wir in den letzten 20 Jahren bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit noch nie so gut dran waren wie zurzeit. Wir müssen uns gerade auch bei dieser Debatte fragen: Was sind denn die Gründe dafür, dass wir so dastehen? Wir haben fleißige und gut ausgebildete Menschen, kreative, leistungsstarke und exporterprobte Unternehmen sowie gezielte Innovationen und Investitionen in die Zukunft, vor allen Dingen richtige Regelungen am Arbeitsmarkt und einen entschiedenen Sparwillen. Hinzu kommen die richtigen Entscheidungen in der europäischen Verschuldungskrise. Verehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie hatten gerade auf diesem Gebiet immer eine glückliche Hand. Es soll uns alle freuen, dass wir hier in der Europäischen Gemeinschaft und im weltwirtschaftlichen Konzert nach vorne marschieren, dass andere versuchen, uns nachzuahmen, dass andere uns loben. Stattdessen kommt die Opposition und versucht, das alles niederzumachen bzw. schlechtzureden. ({3}) Es war vor allen Dingen der Dreiklang aus Abwrackprämie, Konjunkturprogramm I und II und auch die Kurzarbeiterregelung, der uns so erfolgreich machte. ({4}) Natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der Jahreswirtschaftsbericht aufzeigt, dass die Bundesregierung aufgrund der Unwägbarkeiten der europäischen Staatsschuldenkrise 2012 mit deutlich weniger Wirtschaftsdynamik rechnen kann als in den hervorragenden beiden letzten Jahren. Dieser Entwicklung wollen und müssen wir entgegenwirken. Es gibt aber trotz des schwierigen Umfelds keinerlei Anzeichen für Stagnation oder gar Rezession, sondern nur für eine Abschwächung der Konjunktur. Warum? Weil wir auf intakte Wachstumskräfte bauen können. Dazu heißt es im Jahreswirtschaftsbericht, dass die Binnenwirtschaft mehr und mehr zur tragenden Säule wird. Für vernünftige Rahmenbedingungen müssen allerdings wir, die Politik insgesamt gesehen, sorgen. ({5}) Unsere Mitbürger profitieren davon: durch mehr Arbeitsplätze, durch höhere Einkommen und durch bessere Zukunftschancen. Lassen Sie es mich auf einen Nenner bringen: Unser wirtschaftspolitischer Kurs ist erfolgreich und erweist sich als goldrichtig, und er wird daher fortgesetzt. ({6}) Arbeitnehmerfleiß, Unternehmergeist und vernünftige Rahmenbedingungen der Politik sind die Zauberworte für Erfolg; denn es läuft nicht alles von selbst. Schauen wir doch in die Nachbarstaaten. Hier stellen wir einen gegenteiligen Trend fest. In Frankreich wird die Arbeitslosenquote in diesem Jahr von 9,9 Prozent auf 10,6 Prozent steigen, in Italien von 8,3 Prozent auf 9 Prozent und in Spanien sogar von 21,9 Prozent auf 23 Prozent. Bei uns sinkt sie! Darauf sollten wir alle gemeinsam stolz sein und die Entwicklung nicht schlechtreden. ({7}) Dieses und vieles andere, wie die Beitragssatzsenkung der gesetzlichen Rentenversicherung, ist bürgernahe, erfolgsorientierte Politik. Ich würde gerne noch vieles zur Energiepolitik sagen, aber der zeitliche Rahmen lässt das nicht zu. Grundsätzliches haben mein Kollege Dr. Fuchs und Sie, verehrter Herr Wirtschaftsminister Dr. Rösler, bereits ausgeführt. Das kann ich inhaltlich voll teilen. Das ist der richtige Weg in eine vernünftige Zukunft; denn gerade die Energiepreise sind der Wettbewerbsfaktor Nummer eins in der Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen wirtschaftlich bestehen. Darum brauchen wir Energiepreise, die auch für den Einzelnen - sei es Großindustrie oder sei es der kleine Mann, der nur eine kleine Wohnung hat - bezahlbar bleiben. Darum sind wir bemüht. ({8}) Am Ende darf ich darauf hinweisen, dass der Mittelstand und das Handwerk unter der enormen Belastung durch die Bürokratie am meisten leiden. Die jetzt vorgelegten Eckpunkte für einen weiteren Bürokratieabbau sind ein ganz großer Wurf. ({9}) Jetzt wird das Ziel erreicht. Die Kosten, die der Wirtschaft durch Bürokratie entstehen, werden im Vergleich zum Jahr 2006 um sage und schreibe 25 Prozent reduziert. Bürokratie ist die Geißel der Wirtschaft. ({10}) Deshalb ist Bürokratieabbau ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif, es stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland und macht ihn zukunftsfähig. ({11}) Jahrelang wurde zum Beispiel die vorgesehene Reduzierung der Aufbewahrungsfristen von Rechnungen, Bescheiden und anderen Belegen auf fünf Jahre gefordert. Jetzt wurde das Ganze auf den Weg gebracht. Verehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das jüngst im Kabinett beraten. Verehrter Herr Bundesminister Dr. Rösler, Sie haben gesagt: Jetzt wird geliefert. Das zeigt sich jetzt. ({12}) Das möchte ich besonders unterstreichen, damit Sie sehen, dass Sie beim Wort genommen werden und den notwendigen Rückhalt finden. ({13}) Ihnen gebührt alle Anerkennung. Das gilt ebenso für den Finanzminister Dr. Schäuble, der die Verantwortung dafür trägt, dass das Ganze umgesetzt werden kann. Ich setze in gewisser Hinsicht auch darauf, dass Sie auf die Bundesländer einwirken, hier nicht zu blockieren, sondern den Weg der Entbürokratisierung mitzugehen. Denn das braucht die Wirtschaft dringend. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Hinsken, Sie hatten schon vor geraumer

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- die Beendigung der Rede in Aussicht gestellt.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl. Deshalb nur ein Satz: ({0}) Ich meine, dass gerade die Erfolge für uns ein Ansporn sein sollten, auch 2012 den Bürokratiedschungel zu lichten, ({1}) das Notwendige an Maßnahmen zu ergreifen und der Wirtschaft zu sagen und zu zeigen: Wir sind für die Wirtschaft da. Wir sind bereit, das Notwendige zu machen, damit sie sich im weltweiten Konzert auch weiterhin zu behaupten vermag. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Garrelt Duin ist für die SPD-Fraktion der nächste Redner in dieser Debatte. ({0})

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind ja gelernter Mediziner, und auch aufgrund des Fachbereichs, in dem Sie unterwegs sind, müssten Sie doch wissen, dass es einen großen Unterschied zwischen Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit gibt und dass es einen großen Unterschied gibt, ob Sie Vorsorge treffen und präventiv tätig werden oder ob Sie immer nur dann handeln, wenn das Kind schon längst in den Brunnen gefallen ist. ({0}) Ihre Politik - und damit meine ich nicht nur Ihren Jahreswirtschaftsbericht, sondern auch Ihre 20-minütige Rede hier heute Morgen - macht allerdings deutlich, dass Sie nichts von Vorsorge verstehen. Ihre Politik ist kurzsichtig. Das haben Sie heute Morgen hier bewiesen. ({1}) Ich will das an dem großen Beispiel, über das wir uns alle doch so intensiv den Kopf zerbrechen, deutlich machen. Die Stärke der deutschen Wirtschaft - und dies gilt gerade für die letzten zwei Jahre - ist elementar abhängig von unseren Nachbarn, von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dadurch, dass sie Produkte aus Deutschland gekauft und Dienstleistungen aus Deutschland in Anspruch genommen haben, waren sie Triebfeder zur Erlangung unserer starken wirtschaftlichen Position. ({2}) Durch die Politik, die Sie gemeinsam mit der Bundeskanzlerin und mit vielen anderen in Europa diesen Ländern aufoktroyieren, sägen Sie doch an dem Ast, auf dem wir alle sitzen. Die Schwächen dieser Länder müssen doch beseitigt werden, aber das erreicht man nicht allein durch Sparprogramme. ({3}) Vielmehr müssen wir Investitionen auslösen, damit diese Länder wieder auf die Beine kommen, und das hilft dann auch der deutschen Wirtschaft. Dieser Zusammenhang müsste Ihnen doch einleuchten. ({4}) Ich bin fest davon überzeugt - und auch die SPDBundestagsfraktion ist dies -, dass wir sechs Punkte in den Blick nehmen müssen, um die positive Entwicklung, die wir in den letzten Jahren vollziehen konnten, zu verstetigen und um Sicherheit, Planbarkeit und eine deutlich positive Perspektive für dieses Land und die Teilnehmer auf diesem Markt zu kreieren. Das Erste ist, dass wir ein Investitionsklima brauchen. Herr Minister und auch Herr „Generalsekretär im Werden“, ein Investitionsklima ist notwendig, um die überfälligen Investitionen in die Infrastruktur - ob es die Verkehrsnetze, die Energienetze oder die Telekommunikationsnetze sind - auszulösen. Dann reicht es aber nicht, Herr Minister, sich hier hinzustellen und Ankündigungen zu machen. Das ist übrigens das Einzige, was Sie von Herrn Brüderle übernommen haben. Ansonsten unterscheidet Sie vieles, aber auch Herr Brüderle hat sich sehr oft hier hingestellt und nur Ankündigungen gemacht. Was wir jetzt tatsächlich brauchen, ist zum Beispiel ein Energiewirtschaftsgesetz mit einer vernünftigen Anreizregulierung, die die Investitionen in die Netze tatsächlich auslöst. Dies meine ich nicht nur bezogen auf die Übertragungsnetze, sondern auch bezogen auf die Verteilnetze. Wir brauchen intelligentere Netze, um die Energiewende hinzubekommen. Dafür brauchen wir jedoch Investitionen, und diese dürfen nicht nur angekündigt werden, sondern müssen jetzt getätigt werden, weil sie wirtschaftliches Wachstum auslösen können. Da ist bei Ihnen Fehlanzeige. ({5}) Für Investitionen in Deutschland - und das wissen wir nicht nur wegen dieses einen Infrastrukturprojektes in Baden-Württemberg - ist Akzeptanz eine ganz zentrale Voraussetzung. Die Akzeptanz für Infrastrukturprojekte kommt aber nicht von alleine. Vielmehr muss die Politik klare Linien aufzeigen und sagen, wofür wir diese Infrastrukturprojekte brauchen. Warum müssen Leitungen gebaut werden? Warum brauchen wir Investitionen auch in Kraftwerke und in viele andere Bereiche? Wenn Sie schon ein Wegmoderierer sind, wie Ihr General gesagt hat, dann sind doch gerade Sie gefordert, diesen Prozess in der Bevölkerung, in der Gesellschaft zu moderieren. Ich habe zu einer solchen Infrastrukturinitiative von Ihnen bisher nichts gehört, auch heute Morgen nicht. ({6}) Das Zweite, das wir brauchen, ist die Bekämpfung des Fachkräftemangels. Sie haben dies heute zu Recht als wichtiges Thema beschrieben. Aber Sie haben so getan, als hätten Sie das Problem im Griff. Im Handelsblatt stand letzte Woche folgende Überschrift: „Ingenieurmangel erreicht Rekordhoch“. Das Problem ist also bei weitem nicht im Griff. Noch etwas gehört zum Thema Fachkräfte; dazu habe ich heute von Ihnen in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht kein Wort gehört. Wir in Deutschland sind stolz auf die duale Berufsausbildung und auf die Perspektive, die wir jungen Menschen damit bieten. Für junge Männer, für junge Frauen in Deutschland ist die duale Berufsausbildung ein Pfund, an dem wir unbedingt festhalten müssen. Aber wir müssen über alle Parteigrenzen hinweg - wir hier im Deutschen Bundestag sind uns da hoffentlich alle einig; wir müssen das mit unseren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern diskutieren - für die gleiche Anerkennung des Abiturs und der beruflichen Ausbildung sorgen. Die Diskussionen über den Qualifikationsrahmen müssen eine Gleichbehandlung und keinen Unterschied zum Ziel haben; so stellen wir uns das vor. Das möchte ich deutlich sagen. ({7}) Der dritte Punkt: die gute Arbeit. Mein Kollege Heil hat schon darauf hingewiesen, dass fast 7 Millionen Menschen in Deutschland jeden Tag hart arbeiten, ohne dass sie davon leben können, weil Sie nach wie vor - die CDU ist zumindest gedanklich dabei, sich damit auseinanderzusetzen - die Einführung eines Mindestlohns in Deutschland verhindern; dieser ist längst überfällig. Sie verhindern auch - das führt zur Verunsicherung in der Bevölkerung -, dass wir den Missbrauch bei der Leiharbeit endlich in den Griff bekommen und dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird. Wir müssen es endlich schaffen, gleiche Bezahlung nicht nur im Hinblick auf Festangestellte und Leiharbeitnehmer, sondern vor allen Dingen auch im Hinblick auf Männer und Frauen in Deutschland durchzusetzen. ({8}) Dieser Punkt wird von Ihnen überhaupt nicht in Angriff genommen. Der vierte Punkt betrifft die Energie- und Rohstoffversorgung. Wo ist der von allen Beteiligten eingeforderte Masterplan zur Bewältigung der Energiewende? Sie verlieren sich mit dem Umweltminister in einem kleinlichen Streit über Energieeffizienzrichtlinien und andere Dinge. Es war Herr Töpfer, der, glaube ich, letzte Woche gesagt hat: Für die Energiewende ist nicht allein Minister Röttgen zuständig, sondern auch der Bundeswirtschaftsminister muss diese Energiewende im Sinne des Standortes Deutschland gestalten. Sie sprechen zu Recht über die Bezahlbarkeit. Sie sagen, dass Sie das EEG irgendwann abschaffen und eine Anschlussregelung finden wollen. Sie fabulieren über Quoten. Das Modell mit den Quoten ist in anderen Ländern - nicht nur in Europa, sondern weltweit - ausprobiert worden und mehrfach gescheitert. Das EEG und der Ansatz dahinter sind wesentlich erfolgreicher, jedenfalls wenn Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien wirklich vorantreiben wollen. Noch viel schlimmer ist - das haben Ihnen diese Woche die Verbraucherschützer noch einmal ins Stammbuch geschrieben -: Wenn Sie eine solche Quotenregelung einführen würden, dann würde sich der Preis immer an dem am teuersten produzierten Strom, beispielsweise offshore, orientieren. Sie machen das Problem mit dieser Lösung also größer und nicht kleiner, wie Sie es hier angekündigt haben. ({9}) Der fünfte Punkt, der notwendig ist, ist der Ausbau der technologischen Leistungsfähigkeit. Wir fordern - wir bieten Ihnen hier Zusammenarbeit an - eine Initiative zu Technikfreundlichkeit und Technikoffenheit in Deutschland. Das können wir über alle Grenzen hinweg machen. Sie können hier aber nicht das Abwandern eines Unternehmens aus Deutschland in die USA beklagen und dafür der Opposition die Verantwortung geben. Sie sind es, die in Deutschland regieren, während ein solches Unternehmen Deutschland verlässt. ({10}) Das Gleiche gilt für CCS; das haben Sie hier als Beispiel genannt. Herr Rösler, wer hat denn schon in der letzten Wahlperiode eine Einigung bei diesem Thema verhindert? ({11}) In Schleswig-Holstein, in Bayern und in Niedersachsen - Sie waren lange genug dabei - sind es schwarz-gelbe Landesregierungen, die sagen: Wir sind zwar für technologische Leistungsfähigkeit, aber dies wird es hier niemals mit uns geben. Daraus wird kein Schuh. Das ist Doppelzüngigkeit von Schwarz und Gelb in diesem Punkt. ({12}) Was wir bei Ihnen ebenfalls vermissen, ist ein klares Bekenntnis zum Forschungsstandort Deutschland. Sie kündigen seit Jahren an - Sie haben es auch in die Koalitionsvereinbarung geschrieben -, dass wir in Deutschland eine steuerliche Forschungsförderung bekommen. Aber Sie geben Geld für lächerliche Steuersenkungsprogramme und für ein gesellschaftspolitisch katastrophales Betreuungsgeld aus, anstatt das für den Standort Deutschland so wichtige Instrument der steuerlichen Forschungsförderung endlich Realität werden zu lassen. Lassen Sie Ihren Worten doch endlich einmal Taten folgen, meine Damen und Herren! ({13}) Lieber Herr Rösler, abschließend der sechste Punkt. Es ist wichtig, dass ein Bundeswirtschaftsminister auf der europäischen Ebene für die Interessen der hiesigen Wirtschaft und der hiesigen Industrie kämpft. Wo waren Sie, als es dort um die Handelsabkommen gegangen ist? Wo sind Sie, wenn es um den Emissionshandel und die Befreiung von zusätzlichen Kosten geht? All das sind Punkte, die auf der Tagesordnung stehen. Sie sind aber nicht wahrzunehmen, wenn es auf der europäischen Ebene um diese Themen geht, weil Sie keine Zeit haben. Sie müssen sich nämlich mit der FDP beschäftigen. Sie müssen irgendwie versuchen, klar Schiff zu machen. Sie müssen sich mit Herrn Schäffler oder anderen, zum Beispiel ganzen Kreisverbänden, die austreten, herumärgern. Dort werden Sie für Deutschland aber nicht gebraucht. Ob die FDP überlebt oder nicht, kann uns allen egal sein. Aber ob Deutschland in Europa in wirtschaftspolitischer Hinsicht mit starker Stimme spricht oder nicht, ist uns nicht egal. Dort wären Sie gefordert. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Martin Lindner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Wenn man diesen Jahreswirtschaftsbericht liest und sich vor allen Dingen die Zahlen vergegenwärtigt, kann man wirklich stolz sein, dieser Koalition anzugehören. ({0}) Dr. Martin Lindner ({1}) Wir sind stolz darauf, Ihnen heute diese Zahlen vorlegen zu können. ({2}) Dieses Land ist wirtschaftspolitisch in einem exzellenten Zustand. Das wird deutlich, wenn man die Situation in Deutschland mit der Situation im Ausland und mit dem europäischen Durchschnitt vergleicht. In keinem anderen Land der entwickelten Welt hat es solch hohe Zuwachsraten gegeben, wie wir sie in Deutschland erlebt haben. In keinem anderen Land gibt es so niedrige Arbeitslosenzahlen. Wir sind stolz darauf, dass wir dabei helfen, die Leute in Lohn und Brot zu bringen statt vor die Arbeitsagenturen, wo Sie sie gerne sehen würden, meine Damen und Herren. ({3}) Es war spannend, gerade dem Vertreter der Grünen zuzuhören, der wie immer seine Rede gehalten und sich dann aus dem Plenum verabschiedet hat. Der Kollege Kuhn hat gesagt: Ich erlaube mir einmal den Luxus, zu fragen, wo Deutschland wächst. Wir erlauben uns den Luxus, immer wieder zu kritisieren, dass Wachstum an genau dieser Stelle nicht erwünscht ist. - Sie sind eine Luxuspartei. Sie muss man sich erst einmal leisten können. So stabil und so robust, dass sich dieses Land diese Luxuspartei leisten kann, kann kein Wachstum sein. ({4}) Wir haben - auch darauf sind wir stolz - einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Europa zu einer Kultur der Stabilität zurückkehrt, die unter Ihrer Verantwortung verlassen wurde. Sie haben dafür gesorgt, dass die Stabilitätskriterien aufgeweicht wurden. Unter Ihrer Verantwortung wurde Griechenland in die EU aufgenommen. Jetzt versuchen Sie, Euro-Bonds und andere Formen der Vergemeinschaftung von Schulden als einzige Antwort und als Rezept darzustellen. Sie wollen den Deutschen wieder an die Kasse, wieder ans Portemonnaie. Sie verraten die Interessen der ganz normalen Bürger in diesem Lande. Auch dies werden wir deutlich machen. Auch dies wird diese Koalition bekämpfen. ({5}) Wer soll die Konjunkturprogramme, die Sie vorschlagen, eigentlich finanzieren, mein lieber Herr Heil? Wer bringt denn das Geld für die Investitionsprogramme in Griechenland auf? ({6}) - Nein, wir verlangen, dass die Griechen ihre Hausaufgaben erst einmal selber machen. Es ist genug Geld da. Das Land leistet es sich, seine Bürger mit 55 Jahren in Rente zu schicken. Dies muss erst einmal abgestellt werden, bevor wir mit deutschem und europäischem Steuergeld dort in die Wirtschaft eingreifen. ({7}) Das können wir erwarten. Wir sind nämlich auch Sachwalter der Interessen der Bezieher ganz normaler Einkommen in Deutschland. ({8}) Jetzt kommen wir zum Thema Einkommen. Sie sprechen wieder von Ihrem Mindestlohn. Liebe Leute, mit Ihrem Vorschlag eines Mindestlohns von 8,50 Euro, wie Sie ihn gestern im Wirtschaftsausschuss vorgestellt haben - eine Kommissionslösung -, erreichen Sie doch die wesentlichen Teile des verarbeitenden Gewerbes überhaupt nicht. Da wird doch deutlich mehr verdient. ({9}) Rechnen Sie sich das einmal aus! Wenn eine Familie mit zwei Kindern 8,50 Euro pro Stunde verdient, dann muss sie doch auch wieder zur Arbeitsagentur gehen. Das sind doch keine Lösungen - vor allen Dingen nicht für die Menschen, die in Ostdeutschland in kleinen Betrieben im Dienstleistungsgewerbe arbeiten und deshalb wieder zur Arbeitsagentur gehen müssen. ({10}) Lassen Sie uns gerne über branchen- und regionalbezogene Ansätze diskutieren, aber einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, festgestellt durch eine Lohnkommission, lehnen wir ab. Das sage ich Ihnen an dieser Stelle auch ganz klar. ({11}) Mein lieber Kollege Schlecht, Sie müssen mir einmal sagen, wie man es schafft, angesichts dieser Daten eine solche Rede zu halten. Was muss man eigentlich zum Frühstück eingenommen haben, um zu einer solchen Verzerrung der Wahrheit zu kommen? ({12}) Das müssen Sie mir einmal sagen. Vielleicht wirkt das ja auch umgekehrt. Spannend ist, dass Sie von diesem Pult hier dazu aufrufen, der öffentliche Dienst müsse tapfer voranschreiten. Sie haben von „richtig aus der Pulle“, „noch kräftiger“ und „noch stärker trinken“ gesprochen. ({13}) - „Sehr gut“; ja, das habe ich mir richtig gemerkt. ({14}) Herr Gewerkschaftssekretär, ich lese Ihnen einmal eine Pressemitteilung von Verdi vor. Verdi hat am 9. Februar 2010 zum Streik gegen eine Landesregierung in Deutschland aufgerufen - Zitat -: „1,2 % ab Oktober 2010 - zu wenig und zu spät“. - Man muss dazu natürlich sagen: 2010 standen wir mit 3,7 Prozent Wirtschafts18162 Dr. Martin Lindner ({15}) wachstum auf dem Gipfel des Wachstums. Welche Landesregierung war das, Herr Gewerkschaftssekretär? Rot-Rot in Berlin! Sie reden hier von einem kräftigen Schluck aus der Pulle, aber da, wo Sie regieren, bieten Sie 1,2 Prozent an. ({16}) Das ist lächerlich. Sparen Sie sich solche Büttenreden jetzt vor dem Karneval und verschonen Sie uns mit einer solchen von der Wirklichkeit entkoppelten Phrasendrescherei, wie Sie sie hier abgeliefert haben. ({17}) Damit sind wir natürlich auch beim Thema Fachkräfte. Wir haben die Gehaltsgrenze von 66 000 Euro auf 48 000 Euro abgesenkt. Ihre Antwort bei einem Mangel an Fachkräften in Deutschland ist, dass Sie das, was Sie einmal richtigerweise eingeführt haben, nämlich die Rente mit 67, nun wieder bekämpfen. Herr Duin, ich fand es auch ganz spannend, wie Sie hier gerade von einer Gleichstellung von Abitur und Fachkräfteabschluss gesprochen haben. Ich teile hier ausdrücklich Ihre Meinung. Aber ist es nicht Ihre Partei gewesen, die seit den 70er-Jahren gewerbliche Abschlüsse und das duale System miesgemacht und gesagt hat, das Einzige, was zähle, sei das Abitur, sodass Sie dort, wo Sie regiert haben, die Leistungsanforderungen abgesenkt haben, nach dem Motto: Jeder soll ein Abitur haben? ({18}) Sie haben doch das duale System miesgemacht und mit Zwangsabgaben für die Wirtschaft gedroht. ({19}) Sie sind doch der Feind der dualen Ausbildung. Das muss man auch sagen. ({20}) Herr Heil, an der Stelle auf Herrn Niebel anzuspielen, ist lächerlich. Ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen: Im Hause Niebel gibt es keinen Staatssekretär wie bei der roten Heidi, der ein Schild aufgestellt hat, auf dem stand: „In diesem Haus wird SPD gewählt“. Es gibt keine nepotistischere Partei als die SPD, keine Partei, die sich den Staat mehr zur Beute gemacht hat als Ihre Partei. Das lassen Sie sich an dieser Stelle auch einmal sagen. ({21}) In meinem letzten Punkt möchte ich kurz zum Thema Export etwas sagen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das muss jetzt aber schnell gehen, Herr Kollege.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist auch sehr spannend. Sie reden - auch hier immer wieder davon, die Leistungsbilanzunterschiede müssten ausgeglichen werden. Dann sagen Sie mir einmal, wie und wo. ({0}) Sagen Sie einmal, wo Sie den Export noch mehr besteuern wollen. Sagen Sie mir einmal ganz genau - und sagen Sie es vor allen Dingen den Menschen, die im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt sind -, wie Sie die dortigen Arbeitsplätze gefährden wollen. In der wehrtechnischen Industrie, in der sonstigen Industrie: Überall sind Sie mit dabei, wenn es darum geht, es dem deutschen Export schwer zu machen. Auch dies werden wir verhindern. Wir werden dafür sorgen, dass Deutschland weiter auf Wachstumskurs ist, ({1}) dass wir expandieren und dass wir auch einen leistungsfähigen Export haben. Dafür steht diese Koalition; dafür steht meine Fraktion. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält die Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion Die Linke. ({0})

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen! Kollegen! Herr Rösler, Herr Lindner, Ihre Prognose von Deutschland als Insel der Glückseligkeit in der Brandung der europäischen Wirtschaft ist wirklich Schönfärberei der krassesten Art. ({0}) Kommen wir zur Wirklichkeit, Herr Lindner. Sie erklären, die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte sollten um 3 Prozent steigen. Gleichzeitig haben Sie, Herr Rösler, gestern in der Pressekonferenz ausdrücklich gegen Lohnerhöhungen Stellung genommen und sich für Lohnzurückhaltung ausgesprochen. ({1}) Wie sollen da die Einkommen steigen? Sie sagten heute Morgen in Ihrer Rede, Wachstum sei bei allen Menschen angekommen. Die OECD stellt fest: In keiner anderen Industrienation trifft die Redensart „Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher“ mehr zu als in Deutschland. 1,2 Millionen Menschen werden mit Stundenlöhnen unter 5 Euro abgespeist. Das ist ein Armutssektor. Da ist bei ganz vielen Menschen in Deutschland nicht Wachstum, sondern Armut angekommen. Dafür tragen Sie die Verantwortung. ({2}) Das gilt nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Ihre Forderung heißt jetzt nicht mehr nur Kürzen der öffentlichen Mittel, sondern auch Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in den anderen europäischen Staaten. Neben Sparen bei den Armen in den öffentlichen Haushalten heißt das - ausdrücklich formulieren Sie es auch so -: Senkung der Lohnstückkosten und der Löhne europaweit. Das setzt eine neue Spirale des Kampfes um Niedriglöhne und eine Auseinandersetzung darüber, Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, in Gang. Dieser Weg führt nicht zum Aufschwung, sondern zum Gegenteil, Herr Rösler. Kommen wir zu Ihrer Erfolgsgeschichte am Arbeitsmarkt. Ja, es stimmt: Inzwischen haben über 41 Millionen Menschen Arbeit. Aber die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist von 2010 auf 2011 gesunken. Das Statistische Bundesamt stellt fest: 8,4 Millionen Menschen in Deutschland sind unterbeschäftigt. Dazu zählen 2,9 Millionen Erwerbslose; 1,2 Millionen Menschen in der stillen Reserve sowie 2,2 Millionen Menschen, die gern ihre Teilzeit aufstocken würden. Was Sie auch verschweigen, ist, dass dieser Aufschwung bei der Beschäftigung eben auch der Aufschwung der Leiharbeit, der befristeten Beschäftigung und der Minijobs mit niedrigeren Löhnen, schlechteren Arbeitsbedingungen und weniger Rechten am Arbeitsplatz ist. Dafür sollen dann die Menschen „Danke, Deutschland!“ sagen? Das ist wirklich eine Verhöhnung. ({3}) Deshalb auch von mir: Handeln Sie! Beenden Sie diese unwürdigen Arbeitsverhältnisse! Führen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn ein! Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Rechte und Bedingungen am Arbeitsplatz, das wäre eine Anerkennung der Leistung und der Würde der Menschen. Das wäre ein Beitrag zur Steigerung der Binnennachfrage. ({4}) Sie versagen bei der Bekämpfung der Armut. Sie versagen erst recht, wenn es darum geht, die Wirtschaft für die Anforderungen der Zukunft umzubauen. Wir warten auf eine moderne, ökologische Industriepolitik und Dienstleistungspolitik! Sie stellen sich hier hin und greifen die Opposition als Fortschrittsverweigerer an. Der Fortschrittsverweigerer sitzt auf der Regierungsbank: Das sind Sie, Herr Rösler! ({5}) Klimawandel, technologische Innovation und Knappheit von Rohstoffen führen zu tiefgreifenden Veränderungen. Für die Bewältigung der industriellen Erneuerung braucht es motivierte und kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Lohndumping und Prekarisierung gefährden auch hier die Erneuerungsfähigkeit. Es braucht eine aktive Industriepolitik, die Umwelttechnologien, Materialproduktivität, Energieeffizienz und Kreislaufwirtschaft fördert. Sie aber stellen nur die Verteilung der Rohstoffe in den Mittelpunkt Ihrer Politik und bewältigen damit diese Zukunftsaufgabe nicht. Die Antwort auf den Klimawandel erfordert nicht nur neue technologische Lösungen, sondern auch neue Dienstleistungen. Ob Mobilitätsdienstleistungen, Recyclingsammelstellen oder Energieberatung, ohne hochwertige Dienstleistungen ist ein sozial-ökologischer Wandel nicht denkbar. Hier vermissen wir jegliche Ansätze von Ihnen, um Beschäftigungschancen für hochwertige Industrie- und Dienstleistungsarbeitsplätze zu entwickeln. ({6}) Den Vogel schießen Sie aber in der Energiepolitik ab, nicht nur mit der Ablehnung der Energieeffizienzrichtlinie, sondern auch jetzt mit der Diskussion über eine Quotenregelung für erneuerbare Energien. Das führt nach allen Erfahrungen zu höheren Energiepreisen - dies ist unter anderem in Großbritannien vorexerziert worden statt zu einer Senkung. Sie bremsen den Beschäftigungsaufschwung in dem Bereich, in dem immerhin 360 000 Menschen arbeiten. Sie bremsen damit auch eine Entwicklung, die dezentral neue Beschäftigungschancen in diesem Bereich schafft. Sie setzen auf Quoten für die großen Vier und damit auf Kohle und weiterhin Atomenergie. Das führt nicht in die Zukunft. ({7}) Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die Strukturwandel aktiv gestaltet, statt nur die übliche Klientel zu bedienen, und nicht auf alte Zöpfe setzt, sondern sich den sozialen und ökologischen Anforderungen stellt. Ihrem vorliegenden Bericht zufolge bedeutet das eine Wirtschaftspolitik, für die die FDP keine Verantwortung mehr trägt. Danke. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0}) - Er hat dennoch eine begrenzte Redezeit, was ich sicherlich nicht eigens vortragen muss.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Mahnung. Ich komme darauf zurück. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser zuversichtlichen Debatte sind uns aus den Reihen der kompetenten Oppositionsredner zwei wesentliche Vorwürfe gemacht worden. Herr Kuhn, der uns zu unserer Freude wieder heimgesucht hat und unter uns weilt, sagte: Wir haben uns ganz auf die Sparpolitik konzentriert. Hubertus Heil sagte: Wir brauchen Investitionen in Bildung und Forschung. ({0}) Das ist eine tolle Position. Unsere Politik zeigt: Wir haben in der Tat mit Energie und Entschlossenheit die Haushalte konsolidiert. ({1}) Wolfgang Schäuble ist gerade nicht anwesend. Dass wir auch in einer Zeit, in der die Steuereinnahmen geflossen sind, mit Entschlossenheit vorgegangen sind, zeigt die sensationell niedrige Neuverschuldung. ({2}) Vor dem Hintergrund haben wir aber auch gleichzeitig Wachstum in den Bereichen erzielt, in denen es nötig ist. Herr Rösler schreibt in seinem Jahreswirtschaftsbericht, dass Deutschland Stabilitätsanker und Wachstumsmotor in Europa ist. Das ist kein Anspruch auf allgemeine Bewunderung, sondern ein Anspruch an uns selber. Wenn wir die Stabilität nicht herbeiführen und nicht entschlossen konsolidieren, dann werden wir mit diesen Argumenten niemanden in Europa gewinnen. Wenn Europa nicht gemeinsam in einer neuen Zusammenarbeit konsolidiert und Verlässlichkeit schafft, dann werden wir auf den Weltmärkten nicht stark sein. ({3}) Wir haben aber mit großer Entschlossenheit Wachstum angelegt und folgen damit den Vorschlägen von Hubertus Heil. ({4}) Sie wollen in Forschung und Bildung investieren, Herr Heil. Ältere Leute erinnern sich noch, dass Herr Schröder 1998 gesagt hat, er wolle die Ausgaben für Forschung im Bundeshaushalt in fünf Jahren verdoppeln. In sieben Jahren hat er 20 Prozent geschafft. In der Großen Koalition haben wir ein Plus von 6 Milliarden Euro in einer Wahlperiode erreicht. Wir danken für die herzliche Brüderlichkeit, die Sie im Sinne der Vernunft gezeigt haben. ({5}) Unsere jetzige Koalition hat 12 Milliarden Euro aus Bundesmitteln für Bildung und Forschung draufgelegt. Das heißt, dort, wo Wachstum gefördert werden kann, wo wir in die Zukunft aufbrechen und wo die Chancen Deutschlands liegen, Wachstum aufgrund von Intelligenz zu erzielen, dort investieren wir massiv. Das ist die Grundlage für den künftigen Wohlstand. ({6}) Es gibt hier eine differenzierte Landschaft. Eine Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht umfasst nicht nur die Begeisterung über die vergangenen erfolgreichen Taten, sondern auch die Frage, was man zukünftig angehen will. Im SPD-Antrag sieht man die Löwenpranke des Garrelt Duin zur steuerlichen Forschungsförderung. Herr Duin, in der Großen Koalition haben wir das leider nicht hinbekommen. Nun liegt ein Antrag Ihrer Fraktion dazu vor. Prima! Wir haben in der Kieler Erklärung, die wir vor wenigen Tagen verabschiedet haben, festgehalten: Soweit sich bei der Konsolidierung - konsolidieren müssen wir auf jeden Fall zuerst - irgendein Spielraum eröffnet, wollen wir es machen. - Dass ein Bohren dicker Bretter mit Geduld und Augenmaß notwendig ist, wissen wir beide. Wenn wir uns alle aber aufmachen und das harte Herz des Finanzministers gewinnen und wenn die Forschungsministerin und der Wirtschaftsminister mit ähnlicher Begeisterung mitmachen, dann werden wir es hinbekommen. ({7}) Ein weiterer Punkt ist: Wir reden auch über das, was noch zu tun ist. Wir sind in vielen Bereichen stark. Ich nenne als Beispiele nur die Projektförderung, die Energieforschung, die Hightech-Strategie. Wir sind in vielen Bereichen institutioneller Förderung stark und entschlossen: 5 Prozent Steigerung bei der Helmholtz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der FraunhoferGesellschaft, die Exzellenzinitiativen für die Hochschulen und der Hochschulpakt. Aber wir haben in einem Bereich durchaus noch Potenzial, weiter zu wachsen: Bei der Gründung von Unternehmen brauchen wir mehr Dynamik. Wir können sie haben; denn wir haben tüchtige Leute in diesem Land. Wir werden morgen über den Bericht der Expertenkommission der Bundesregierung für Forschung und Innovation diskutieren. Dabei geht es um die beiden Punkte, die wichtig sind: steuerliche Forschungsförderung und die Gründung von Unternehmen. Was wir bei der Förderung der Gründung von Unternehmen und im Bereich des Wagniskapitals zu tun haben, ist ausdiskutiert und durchdekliniert. Wir brauchen darüber nicht mehr lange nachzudenken. Von der Transparenz bei der Besteuerung von Wagniskapitalbonds über den Erhalt der Verlustvorträge bis hin zur Umsatzsteuerfreiheit für Management-Fees und bessere Bedingungen für Business Angels, das ganze Spektrum ist ausdiskutiert. Der Koalitionsvertrag enthält den Vorschlag einer Garantiefazilität für Investoren. Es ist eine große Aufgabe, aber auch eine große Chance, jetzt Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine Dynamik entfesseln, die mit der in den USA oder in Großbritannien - diese Länder investieren proportional doppelt bzw. viermal so viel in Wagniskapital wie wir - vergleichbar ist und die den jungen Leuten die Chance eröffnen, in Begleitung kompetenter Business Angels bzw. kompetenter Wagniskapitalinvestoren ihr eigenes Geschäft und ihre Zukunft aufzubauen. ({8}) Unsere Landschaft ist geprägt durch eine starke, große Industrie, einen lebendigen, forschenden Mittelstand - hunderttausend mittelständische Unternehmen sorgen für Innovationen - und eine exzellente Wissenschaft mit energischen, tüchtigen jungen Leuten - Frauen und Männer -, die ein Unternehmen gründen wollen. Für sie müssen wir die Voraussetzungen schaffen, um sich auf den Märkten zu bewegen. Wir dürfen nicht nur große Bundesprogramme wie EXIST, High-Tech Gründerfonds II - prima, dass Sie ihn wieder aufgelegt haben, Herr Rösler -, ERP-Startfonds usw. auflegen, sondern müssen auch die Privaten einbeziehen, die für eigenes Geld kämpfen; denn nur wenn jemand für sein eigenes Geld mit den besten Ideen, die er hat, kämpft, bekommen wir den Schwung hinein, der in einer freien Gesellschaft und auf offenen Weltmärkten erfolgversprechend ist. ({9}) Wir werden handwerklich noch nachlegen müssen. Wir werden die AIFM-Richtlinie umsetzen. Wenn wir das richtig machen, dann können wir großen Schwung entwickeln. Wenn wir das falsch machen, dann kommen wir in die gleiche Falle wie beim MoRaKG zum Wagniskapital - damit sind wir in der Großen Koalition auf die Schnauze gefallen - und beim Unternehmensteuerreformgesetz. Aber diese christlich-liberale Koalition und diese exzellente Regierung mit ihrer überlegenen intellektuellen Kompetenz ({10}) und ihrer Begeisterung für die Notwendigkeiten der Zukunft werden nicht in diese Falle tappen. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Sie Präsidentin sind. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Deswegen habe ich die Aufgabe, Ihnen zu sagen, dass Ihre Redezeit zu Ende ist.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich bin gerade richtig in Fahrt. - Ich darf den Satz noch sagen?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Den einen.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese Regierung mit ihrer Kompetenz, mit ihrer Dynamik, mit ihrer visionären Kraft, mit ihrer Entschlossenheit, ({0}) das ganze Parlament mitzureißen auf dem Weg in eine kraftvolle Zukunft, schafft das auch. Das haben wir beschlossen, und so machen wir es. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Riesenhuber, auch die Hände gen Himmel können an der Stelle nicht mehr helfen. Von „kraftvoll“, „visionär“, „Esprit“ und „Elan“ haben wir in Ihrer Rede gehört, aber ich muss Ihnen ehrlich sagen: Die intellektuelle Kompetenz, die Sie hier der Koalition und dem Minister zugesprochen haben, haben wir zumindest in den letzten anderthalb Stunden nicht gehört. ({0}) Was so dramatisch ist - den Eindruck haben wir -: Sie reden hier aus einem Tunnelblick heraus. Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Bericht über die Nation Deutschland, über die Frage, wie es der Wirtschaft hier geht - das ist richtig -, aber Sie können es nicht lösen von der Frage Europa; ich komme im Einzelnen darauf zu sprechen. Wenn Sie hier hoffen, dass sich in diesem Jahr die Euro-Krise löst, und wenn Sie hier ein Schönwetterszenario entwerfen, dann frage ich Sie: Wo ist denn Ihre Initiative, die Euro-Krise zu bekämpfen? Sie sagen selber - Herr Rösler, bitte hören Sie zu; danke schön -: Das Risiko liegt in der Weltwirtschaft. Das waren Ihre Worte gestern und jetzt hier. Aber in der Weltwirtschaft und in Europa droht eine massive Rezession, drohen soziale Verwerfungen. Die Menschen nehmen Europa als Bedrohung wahr. Ich sage Ihnen eines: Wenn Europa nicht mehr akzeptiert wird, wenn der Grundgedanke eines zusammenwachsenden Europas abgelehnt und als Bedrohung empfunden wird, dann ist das das größte Risiko, das wir haben. Darauf müssen Sie eingehen. ({1}) Mit anderen Worten heißt das - das ist das, was der Herr Kollege Kuhn mit „sparen und investieren“ gemeint hat, Herr Riesenhuber -: Nur Schuldenbremsen zu verschreiben, reicht nicht aus. Das ist eine kurzsichtige Politik. ({2}) Da dürfen wir von einem Wirtschaftsminister deutlich mehr verlangen. Dem Sparen muss ein Investieren an die Seite gestellt werden: Investitionen in ökologisch sinnvolle Maßnahmen. Aber vor allem bei einem haben wir und auch SPD und die Linke wirklich fassungslos dagesessen: Wenn Sie das Problem der wirtschaftlichen Ungleichgewichte und die Frage der Leistungsbilanzen, sowohl der Leistungsbilanzüberschüsse als auch der Leistungsbilanzdefizite, derartig negieren und nicht auf das Problem eingehen, dass wir unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit in Europa haben, dass wir, wenn wir so weitermachen, Europa insgesamt an die Wand fahren und es uns dann gar nichts nützt, wenn wir hier in Deutschland singulär stabil sind, haben Sie als Wirtschaftsminister an der Stelle komplett versagt. Sie müssen das Problem der Leistungsbilanzen in den Blick nehmen. ({3}) Finanztransaktionsteuer. Es geht nicht mehr um das Ob; es geht nur noch um das Wie. Bei dem Wie können Sie mitgestalten, anstatt immer nur zu sagen: Nein, nein, nein. Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther - wahrlich kein Grüner -, hat gestern in einem Interview gesagt: Es muss der Politik gelingen, neue Schocks an den Finanzmärkten mit aller Macht zu verhindern. Mit aller Macht, Herr Rösler! Das heißt, kraftvoll und engagiert und nicht mit dieser einlullenden Schönfärberei! Das müssen Sie tun. Das wäre der richtige Weg. ({4}) Nun soll der Jahreswirtschaftsbericht ja Perspektive geben, auch für die deutsche Wirtschaft hier. Was in diesem Jahreswirtschaftsbericht völlig fehlt, ist der ganze Bereich grüne Technologien, ökologische Modernisierung. Umwelt taucht immer auf im Zusammenhang mit: Die Energieversorgung muss aber bezahlbar sein. - Aber dass die Zukunft, der Kern der Ökonomie in der Beantwortung der ökologischen Frage liegt, das ignorieren Sie völlig. Es kommt noch schlimmer. Das merkt man, wenn man sich Ihre Rede auf dem Dreikönigstreffen anhört, wo Sie vermutlich als Letzter begriffen haben, dass der Begriff der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft kommt. ({5}) Ich habe mir diese Rede angehört. Da ging es immer um: Wachstum, Wachstum, Wachstum. ({6}) - Ich habe sie mir sogar angehört; ich habe es mir wirklich angetan - wie Sie ja auch. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Andreae, Herr Fuchs möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie stoppen die Zeit, und ich darf den Gedanken nachher noch zu Ende führen. Dann höre ich sie mir gern an.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Andreae, wenn ich richtig informiert bin, kommen Sie aus Baden-Württemberg. Ist es richtig, dass die Grünen dort zumindest in der Energiepolitik eine völlig neue Ausrichtung eingeleitet haben; denn Ihr Umweltminister Franz Untersteller - ich gehe davon aus, dass Sie ihn kennen - sagte Folgendes - ich zitiere -: Wenn wir uns dem Problem - er meint den Kraftwerkstandort Baden-Württemberg nicht widmen, werden wir nach 2015 in eine Situation kommen, doch Atomkraftwerke am Netz lassen zu müssen. Heißt das, dass die Grünen in ihrer Energiepolitik jetzt Atomkraftwerke doch als eine Notwendigkeit betrachten? ({0})

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Soll ich antworten oder das Plenum? - Wenn ich dürfte, würde ich gern antworten. Mein Sohn ist jetzt in der 6. Klasse und lernt dort gerade deutsche Grammatik. Es ist immer ganz wichtig, sich den Satzbau anzuschauen und zu überlegen, ob dort Bedingungen formuliert werden. Was Herr Untersteller sagt, ist: Wenn es uns nicht gelingt, jetzt die Energiewende forciert voranzutreiben und diesen Umbau wirklich hinzubekommen, dann stehen wir 2050 vor der Situation, dass wir nicht wissen - ({0}) - 2015, ja, aber Sie müssen es jetzt angehen. Das ist es, was er sagt. Er wirft Ihnen und auch dem Wirtschaftsminister vor, dass die Energiewende nicht kraftvoll angenommen wird. ({1}) Jetzt möchte ich meinen Gedanken fortführen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es gibt noch eine Zwischenfrage, Frau Andreae. Möchten Sie diese zulassen?

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber immer. ({0}) - Gerne, wenn die Frage besser ist. - Was sie sein wird.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, kann es sein, dass der Kollege Fuchs möglicherweise Teil des Problems ist, das angesprochen wurde, nämlich dass der Umweltminister von BadenWürttemberg andeutet, wenn es jetzt nicht gelingt, die Energiewende umzusetzen, neue Kraftwerkskapazitäten zu bauen, erneuerbare Energien zu integrieren und Speicher zu bauen, sodass sich 2015 Leute wie Herr Fuchs hinstellen und sagen: „Nun müssen wir aber die Restlaufzeit der Kernkraftwerke verlängern“? Kann es sein, dass das gemeint war?

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das würde ich unterstützen, zumal wir die Position von Herrn Fuchs kennen, der sich als einer der wenigen dazu äußert und die Energiewende eigentlich nicht unterstützt. ({0}) Ich nehme an, dass es in Ihren Fraktionen viele gibt, die das heimlich tun. Ich meine es wirklich ernst - nehmen wir einmal die Polemik und alles heraus -: Sie müssen es schaffen, diese Energiewende umzusetzen. Sie haben mit Minister Röttgen einen Minister, der ein hohes Interesse daran hat, die Energiewende auch mit uns gemeinsam zu schaffen. Sie haben mit Minister Rösler jemanden, der diese Energiewende blockiert, wo auch immer er kann - in der EU und in Deutschland. ({1}) Schaffen Sie es endlich, in Ihren Köpfen umzudenken und diese Energiewende umzusetzen! ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Weitere Zwischenfragen möchte Frau Andreae nicht zulassen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte nun, bevor Sie sich festbeißen, mit meinem Gedanken zum Dreikönigstreffen zum Ende kommen, weil mir das neben der Energiewende wirklich wichtig ist. Auf diesem Dreikönigstreffen hat der Minister Rösler einen Wachstumsfetischismus formuliert, wie wir ihn in den letzten 30 Jahren nicht mehr gehört haben. ({0}) Ich dachte, ehrlich gesagt: Wir waren weiter bei der Frage, darüber tatsächlich ernsthaft nachzudenken, wie es hier weitergehen soll. Ich nenne Ihnen zwei Nachrichten, die an einem Wochenende gemeldet wurden: Der siebenmilliardste Erdenbürger ist geboren worden. Gleichzeitig kam die Nachricht, dass wir im Jahr 2010 trotz aller Bemühungen die höchsten CO2-Emissionen überhaupt hatten. Wenn Sie diese beiden Nachrichten zusammen denken, erkennen Sie: Es führt kein Weg an einer ökologischen Wende vorbei, die ernst gemeint ist. ({1}) - Das, mein lieber Herr Lindner, ist überhaupt keine Luxusdiskussion, sondern es ist zwingende Notwendigkeit, diese Diskussion zu führen. Darüber denkt im Übrigen auch der Finanzminister nach. Ich weiß nicht, ob man kurz vor Weihnachten ganz besonders in sich geht und nachdenkt; aber Ihr Finanzminister, der auf dem Dreikönigstreffen auf eine Art abgekanzelt wurde, die Ihresgleichen sucht, sagt nicht nur: „Wir müssen über das Wirtschaftswachstum in den hoch entwickelten Industrienationen nachdenken“, nein, er geht sogar weiter.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Er sagt: Wir müssen es begrenzen. - Diese Diskussion sollten Sie einmal intern führen:

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Wie gehen Sie nachdenklich, klug und ernsthaft mit der Frage um, dass wir so nicht weitermachen können und eine ökologische Wende brauchen? Ich komme leider zum Schluss.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie hätten zum Schluss gekommen sein müssen. Sonst toppen Sie noch Herrn Riesenhuber.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herrn Riesenhuber? Immer, ganz klar. Ich darf jetzt also noch eine Zwischenfrage zulassen?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nein.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schade. Hätte ich gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Definitiv nicht.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hätte wirklich gerne Ihre Frage zugelassen. - Ich hoffe, Sie können über das eine oder andere nachdenken

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- und sind dazu intellektuell in der Lage. Dann freue ich mich über die weiteren Diskussionen. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine lieben Damen! Meine Herren! Der Wirtschaftsbericht am Ende dieser Weltfinanz- und -wirtschaftskrise zeigt auf der einen Seite, dass es der Großen Koalition gut gelungen ist, sie zu meistern: mit einem bewussten Investieren gegen die Krise, dem Schaffen bleibender Werte und dem Finanzieren von Arbeit statt Arbeitslosigkeit. Er zeigt auf der anderen Seite aber auch, dass es der christlich-liberalen Koalition gelungen ist, nicht nur zu reagieren, sondern auch gut zu regieren. Das hat sie getan, indem sie gesagt hat: Bildung ist der Schlüssel zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die wir heute haben. - Die christlich-liberale Koalition hat gemeinsam das Projekt einer Bildungsrepublik ausgerufen. Seit 1949 hat keine Bundesregierung mehr in Bildung und Forschung investiert - 13 Milliarden Euro in diesem Haushaltsjahr - als die jetzige christlich-liberale Bundesregierung. ({0}) All das hat bewirkt, dass anders als 2005, als RotGrün noch regierte, nicht jeden Tag 2 400 Arbeitsplätze abgebaut werden, sondern dass wir im letzten Jahr immerhin 1 583 Arbeitsplätze jeden Tag netto, nach Abzug der Arbeitsplatzverluste, geschaffen haben. ({1}) Auch in diesem Jahr wird der Stellenzuwachs täglich bei über 600 Arbeitsplätzen liegen. Dadurch sorgen wir dafür, dass Menschen und Familien wieder eine Zukunft haben, ein frei verfügbares Einkommen erhalten und so ihr Leben vernünftig gestalten können. Von der christlich-liberalen Koalition wurde also geradezu eine Arbeitsmarktoffensive aufgelegt. Dies hat auch eine finanzielle Dimension: 100 000 in Beschäftigung gebrachte Arbeitslose bedeuten 1,8 Milliarden Euro weniger Leistungsausgaben und mehr Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge für die öffentlichen Haushalte. Es ist gut, dass dank unserer Politik auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen in den letzten zwei Jahren um 40 Prozent abgesenkt werden konnte. ({2}) Wir erleben am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft einen Paradigmenwechsel: Arbeit ist wieder etwas wert. Arbeit wird wieder nachgefragt. Arbeit ist nicht nur Kostenfaktor, sondern auch Innovationsfaktor und Aktivposten im Unternehmen. Das ist die neue Denke, die die christlich-liberale Koalition hervorgerufen hat. ({3}) Das zeigt sich auch an der Zahl der Patentanmeldungen. Wir sind das Land in Europa, das die meisten Patentanmeldungen hat. Jedes Jahr werden über 60 000 Patente angemeldet. Über 80 Prozent dieser Patente werden von den Beschäftigten in den Unternehmen entwickelt und in den Unternehmen zur Umsetzung gebracht. Dieses Potenzial in den Unternehmen müssen wir zusammen mit den Unternehmern und Beschäftigten weiterentwickeln. Dazu brauchen wir Bildung, Forschung und Innovation. ({4}) Der Jahreswirtschaftsbericht mahnt aber auch, dass wir alle Potenziale ausschöpfen müssen. Es ist gut, dass die Bundesregierung die Kraft hat, endlich ein Anerkennungsgesetz für die 300 000 Menschen in unserem Land, die ausländische Berufsabschlüsse haben, auf den Weg zu bringen. Es wird nun überprüft, wie diese Berufsabschlüsse und die dabei erworbenen Kompetenzen anerkannt werden können und mit welchen Weiterbildungsmaßnahmen ein vollwertiger Berufsabschluss, wenn er nicht ohnehin schon vorhanden ist, erreicht werden kann. Hier gilt es, das Potenzial der Fachkräfte vor der Bürotür zu entwickeln und auch diesen Menschen im Land eine bessere Chance als in der Vergangenheit zu geben. Wir wissen: Jeder Euro, der in Bildung investiert wird, spart perspektivisch 3 bis 4 Euro an Sozialkosten ein. Wer sparen will, der muss in Bildung investieren. Das ist die Botschaft auch dieser Bundesregierung. Von daher erklärt sich der hohe Haushalt für Bildung und Forschung. ({5}) Das Flaggschiff dieser Bildungslandschaft - das ist vollkommen richtig - ist die duale Berufsausbildung. Gestern fand im Ausschuss für Bildung und Forschung dazu eine Anhörung statt. Es ist ganz klar Position über alle Fraktionsgrenzen hinweg, dass Berufsausbildung und Abitur gleichwertig sind. Es kann nicht sein, dass von europäischer Seite beispielsweise gefordert wird, dass das Abitur Voraussetzung für eine Pflegeausbildung ist und dass somit eine Abwertung der dualen Ausbildung stattfindet. ({6}) Wir werden dafür sorgen, dass der Bachelor dem Meister und die duale Ausbildung dem Abitur gleichgestellt werden. Wir wissen, dass Lernen in der Praxis für die Praxis eine starke Integrationskraft hat. Das zeigen die guten Zahlen sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch auf dem Ausbildungsmarkt. Wir wissen, dass die Wirtschaft über 30 Milliarden Euro in die duale Ausbildung investiert, für Ausbildungsvergütungen, für Ausbildungswerkstätten und für Ausbilder, die ja finanziert werden müssen. Wir, die christlich-liberale Koalition, haben gemeinsam zwei große Ziele, die wir miteinander auch erreichen werden. Das eine Ziel ist: Arbeit für alle; Vollbeschäftigung ist wieder möglich. Zum anderen wollen wir 2014 auf Bundesebene einen Haushalt verabschieden, der ohne Nettoneuverschuldung auskommt. Das wäre erstmals seit 1969 wieder der Fall. Nach meiner Überzeugung werden wir für dieses Ziel eine Finanztransaktionsteuer brauchen. Herr Solms, ich teile Ihre Auffassung, dass wir diese Steuer weder in ihrer positiven noch in ihrer negativen Auswirkung überhöhen dürfen. Wir müssen sie objektiv und sachlich prüfen. Erst dann können wir richtig entscheiden. Diese Steuer sollte Bestandteil einer solchen gemeinsamen Politik sein. Alles wird gut! ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Rita Pawelski hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unserem Land geht es gut. ({0}) Die deutsche Wirtschaft wächst. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt. Und - das ist besonders erfreulich -: Auch die Einkommen legen wieder zu. Deutschland - damit trifft der Jahreswirtschaftsbericht den Nagel auf den Kopf - ist der Stabilitätsanker und Wachstumsmotor Europas. Das ist wahrlich kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis harter und intensiver Arbeit, der Arbeit der tatkräftigen Unternehmer und ihrer fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch - das muss man deutlich sagen - der Arbeit der christlich-liberalen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. ({1}) Die aktuelle gute und robuste Lage ist für uns aber kein Ruhekissen, sondern ein Ansporn, um das Wachstum zu verstetigen. Eine wesentliche Herausforderung, vielleicht sogar die wesentlichste Herausforderung der Zukunft ist der demografische Wandel. Schon heute - das ist klar - heißt es: Während die Wirtschaft wächst, schrumpft die deutsche Bevölkerung. Zwar hat es im letzten Jahr einen erfreulichen Ausreißer nach oben gegeben. Dies hat aber nichts mit der Kinderzahl, sondern mit der Zuwanderung zu tun. Grundsätzlich muss man sagen: Wir haben zu wenig Kinder. Diese leider nicht so erfreuliche Tatsache wird die Zukunft unseres Landes bestimmen. Darum muss es uns gelingen, auch mit weniger Kindern ein möglichst großes Wachstum in Deutschland zu schaffen. Das ist nicht einfach, wie jeder weiß. Ich bin deshalb der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass sie das Thema Demografie ernst nimmt und im Frühjahr eine Demografiestrategie vorlegen wird. Der demografische Wandel hat nicht nur Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, sondern auch auf das Angebot der Arbeitskräfte. Das Statistische Bundesamt hat errechnet, dass das Arbeitskräftepotenzial bis 2030 um 7,6 Millionen abnehmen könnte: 7,6 Millionen weniger Arbeitskräfte, 7,6 Millionen weniger Konsumenten, 7,6 Millionen weniger Einzahler in unsere Sozialsysteme. Diese Zahl ist doch wirklich alarmierend; denn fehlende Fachkräfte können schnell - das wissen wir - zur Wachstumsbremse werden. Darum hat die Bundesregierung im letzten Sommer das Konzept „Fachkräftesicherung“ auf den Weg gebracht. Ein wesentliches Ziel dieses Konzepts ist es, das in Deutschland vorhandene Arbeitskräftepotenzial noch besser zu nutzen. Wir wollen die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen erhöhen. Bei der Beschäftigung älterer Menschen sind wir auf einem wirklich guten Weg. Seit 2000 hat sich die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen auf 41 Prozent verdoppelt. Im europäischen Vergleich können wir uns mit dieser Quote schon sehen lassen. Trotzdem reicht das noch nicht. Wir alle müssen umdenken. Vor allem aber sind die Wirtschaft und die Gewerkschaften gefordert, altersgerechte Arbeitsbedingungen zu schaffen. Wir können es uns einfach nicht erlauben, auf die Älteren zu verzichten. Sie sind leistungsfähig, motiviert und verfügen über vielfältige Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen. ({2}) Kommen wir zum nächsten Thema, zur Fachkräftereserve Frauen. Die Erwerbsquote bei den 20- bis 64-jährigen Frauen liegt bei rund 70 Prozent und damit 10 Prozent unter der der Männer. Dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen vor allem die Frauen mit Kindern. 2009 lag die Quote der erwerbstätigen Mütter, deren jüngstes Kind unter drei Jahre alt war, bei nur 30 Prozent. Bei den Vätern lag sie bei 81 Prozent. Von diesen 30 Prozent der Mütter waren wiederum nur 31 Prozent in Vollzeitbeschäftigung; bei den Vätern waren es 93 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 1,2 Millionen Mütter mit Kindern, die nicht berufstätig sind, dem Arbeitsmarkt zusätzlich zur Verfügung stehen könnten. Sie brauchen jedoch familienfreundliche Arbeitsplätze und gute Betreuungsangebote, was heißt: Wir brauchen keine jobgerechten Familien, sondern familiengerechte Jobs. ({3}) Bei den Betreuungsangeboten sind wir auf gutem Weg. Bis 2013 wird es einen Rechtsanspruch für die Betreuung der unter Dreijährigen geben. Für die Drei- bis Sechsjährigen gibt es bereits seit vielen Jahren einen Rechtsanspruch, aber in der Regel nur für vier Stunden und in manchen Ländern für sechs Stunden. Bei Berücksichtigung der Zeiten für An- und Abfahrten reicht das für die Aufnahme einer Beschäftigung nicht aus. Die christlich-liberale Koalition kennt nicht nur die Probleme, wir arbeiten auch sehr intensiv daran, sie zu lösen. Wir verbessern die Rahmenbedingungen so, dass mehr Frauen, vor allem mehr Mütter, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Eine Ungerechtigkeit müssen wir allerdings noch beseitigen, und zwar den Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern. Frauen verdienen durchschnittlich 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Das geht nicht. Ich weiß, dass jetzt die Kritiker sagen, diese Zahl sei undifferenziert und man müsse schließlich die Qualifikation, die Berufserfahrung, die Größe des Unternehmens sowie den beruflichen Status berücksichtigen. Ja, das will ich nicht abstreiten. Aber selbst wenn man all diese Komponenten herausrechnet, verdienen Frauen immer noch 13 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen; das ist das Ergebnis einer Studie des Institutes der deutschen Wirtschaft. 13 Prozent weniger, obwohl Frauen in der Regel besser qualifiziert und ausgebildet sind als ihre männlichen Kollegen. ({4}) Das geht nicht, und das werden wir auch nicht hinnehmen. ({5}) Der demografische Wandel wird die wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich beeinflussen. Es liegt an uns allen, an unserer Gesellschaft, die Rahmenbedingungen in der Politik, in der Wirtschaft, bei den Gewerkschaften - im Grunde überall so zu gestalten, dass die Auswirkungen möglichst gering sind. Ich verspreche Ihnen: Diese Regierung ist dabei, dieses Problem zu lösen. Wir bleiben dran. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8359, 17/8346 und 17/7710 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. - Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Soziale Bürgerrechte garantieren - Rechtsposition der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen stärken - Drucksache 17/7032 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Hierzu ist verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade in den letzten Jahren gab es vielfältige Beobachtungen und Erfahrungen, dass im Bereich der sozialen Rechte die Bürgerinnen und Bürger die gesetzlich vorgesehenen Leistungen nicht oder erst vor Gericht realisieren konnten. Einige Beispiele. Eine Krankenkasse enthält einem unfallbedingt Einbeinigen die notwendige Ersatzprothese vor, die der Versicherte für seine Berufsausübung als Fernmeldetechniker benötigt. Die Krankenkasse verweist auf eine noch vorhandene Badeprothese und stützt sich bei der Begründung auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes, das dieser nach Aktenlage, ohne mit dem Betroffenen gesprochen zu haben, gefällt hat. Der Rechtsstreit endet erst nach 15 Monaten vor dem Landessozialgericht zugunsten des Betroffenen. Ein zweites Beispiel. Beinahe regelhaft verweisen einige überörtliche Sozialhilfeträger, darunter die bayerischen Bezirke, leistungsberechtigte Menschen mit Behinderungen an private und gemeinnützige Stiftungen, wenn es um Hilfen geht. Den Betroffenen wird erklärt, sie könnten sich, sofern ihre Anträge und Bewerbungen bei den privaten Stiftungen keinen Erfolg hätten, dann ja noch einmal an die Träger der Sozialhilfe wenden. Oder ein drittes Beispiel. In Berliner Jobcentern - nicht nur dort, aber dort besonders häufig - reagieren die Mitarbeiter oftmals einfach nicht. Vor wenigen Tagen gab die Präsidentin des Berliner Sozialgerichts bekannt, dass jeden Tag Dutzende von Klagen wegen Untätigkeit der Behörden das Gericht erreichen. Das Gericht selbst schiebt sagenhafte 40 000 unerledigte Fälle seit einem Jahr vor sich her. Das alles sind leider keine bedauerlichen Einzelfälle. Wenn Sie mit Beratungsstellen von Kirchen, Sozialverbänden, unabhängigen Vereinen sprechen, stellen Sie fest, dass die Sozialleistungsträger sich auf einer gefährlichen Drift zur Rechtlosigkeit befinden. Die Zunahme der zumeist erfolgreichen Klagen vor den Sozialgerichten, die längst nicht nur das Zweite Buch Sozialgesetzbuch oder Hartz IV betreffen, lässt mit Recht die Vermutung zu, dass die kalkulierte systematische Verweigerung von LeistunMarkus Kurth gen zumindest bei einzelnen Sozialbehörden zur Geschäftspolitik gehört. Natürlich kann man nicht nur Schwarz-Weiß-Malerei betreiben, und es gibt auch gute Beispiele, wo die Rechtsverwirklichung gelingt. Doch die drastischen negativen Beobachtungen sind in ihrer Häufung alarmierend. Ein Richter vom Bundessozialgericht sprach im Mai 2011 in der schriftlichen Urteilsbegründung vom „Krieg einer gegen den anderen innerhalb des Staatswesens“ mit Blick auf den Zustand unserer Systeme der sozialen Sicherung. Das ist zwar drastisch, trifft aber den Nagel auf den Kopf. ({0}) Wir, Bündnis 90/Die Grünen, wollen mit unserem heute eingebrachten Antrag „Soziale Bürgerrechte garantieren“ die Verfahrensrechte, die Mitwirkungsrechte, die Durchsetzungsrechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen stärken. Wir wollen dies um der Betroffenen willen tun, aber auch um der Effektivität, Effizienz und um der Legitimationsbasis der Systeme der sozialen Sicherung willen. ({1}) Denn welchen Sinn macht es gesamtstaatlich, wenn Jobcenter überforderte psychisch kranke Menschen sanktionieren und sie sehenden Auges in die Wohnungslosigkeit schicken? Welcher wirtschaftlichen Logik folgt denn die Ablehnung eines berufsbedingt notwendigen Hilfsmittels durch die Krankenkasse, wenn durch die Verzögerung Arbeitslosigkeit entsteht? Und was denken sich eigentlich Jugendämter, die Angebote der Jugendsozialarbeit abbauen, auf angeblich vorrangige Leistungen der Jobcenter verweisen, wenn sie genau wissen, dass die Zielsetzungen der Jugendhilfe - Entwicklungsförderung - mit den Zielsetzungen der Jobcenter - Leistungsreduzierung - überhaupt nicht übereinstimmen? Für die betroffenen jungen Menschen hat die Leistungsverweigerung der Jugendhilfe unter Umständen wegen der drastischen Konsequenzen bei Sanktionen fatale, ja existenzbedrohende Konsequenzen, und die Zunahme der Obdachlosigkeit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist ebenfalls ein alarmierendes frühes Zeichen. ({2}) In jedem dieser skizzierten Fälle übersteigen die langfristigen gesamtgesellschaftlichen Folgekosten den vermeintlichen Einsparnutzen bei einem einzelnen Sozialleistungsträger bei weitem. Auch die weiteren Folgen in den Behörden - Paternalismus, Abwehrhaltung gegenüber Ansprüchen - sind dramatisch. Die Folgen für die Bürgerinnen und Bürger sind nicht zu unterschätzen. Diese werden in die Rolle von Bittstellerinnen und Bittstellern gedrängt. Sie machen die Erfahrung der Entmündigung, des Ausgeliefertseins. Besonders übel ist es in den Bereichen, wo es eine besondere Schwächung der Rechtsstellung gibt, insbesondere beim Sozialgesetzbuch II oder bei Hartz IV, wo zum Beispiel ein Widerspruch, anders als in anderen Sozialsystemen, keine aufschiebende Wirkung hat und sich der Betroffene überhaupt nicht wehren kann, sondern gleich zum Gericht laufen muss. Das Ergebnis ist völlig kontraproduktiv. Die Betroffenen werden nicht - was wir als Grüne aber wollen - gestärkt; ihre Leistungsfähigkeit wird nicht verbessert. Vielmehr werden Folgekosten verursacht und Bürger entmündigt. Problemlösungen werden verschleppt. Die Selbstbestimmung wird geschwächt, ebenso wie die Selbsthilfefähigkeiten der Betroffenen. Insgesamt kann man sagen: Der Weg, auf dem wir uns befinden, führt, wenn wir ihn so weitergehen, letztlich zu einem Zustand, in dem unser System der sozialen Sicherung freiheitsfeindlich wird. Freiheit braucht Voraussetzungen, Infrastrukturen und Befähigungen, damit man sie wirklich wahrnehmen kann, wenn man auf Unterstützung angewiesen ist. Das sage ich in Richtung der selbsternannten Partei der Freiheit. ({3}) Der Zustand, den ich hier skizziere, ist auch fortschrittsfeindlich. Das sage ich in Richtung der Union all denjenigen, die sich gerne als Propheten des Fortschritts verstehen. Neue Leistungsformen wie das trägerübergreifende Persönliche Budget, bei dem unterschiedliche Leistungsträger zusammenarbeiten, werden dadurch letzten Endes verhindert. Schließlich ist dieser Zustand auch innovationsfeindlich. Das Ganze ist nicht nachhaltig, weil Prävention bzw. vorbeugende Sozialpolitik dadurch nicht ermöglicht wird. Wir als Bündnis 90/Die Grünen schlagen für den gesamten Bereich der sozialen Leistungen eine Stärkung von Verfahrensrechten und materiellen Rechten vor. Wir wollen zum Beispiel unabhängige Beratungsstellen schaffen, vergleichbar mit der Unabhängigen Patientenberatung. Wir setzen uns für Wunsch- und Wahlrechte ein; denn eines ist klar: Durch die Mitwirkung der Betroffenen lassen sich bei Weiterbildungsmaßnahmen, bei Arbeitsmarktmaßnahmen, aber auch bei Kuren und Therapien wesentlich bessere Ergebnisse erzielen, wenn man auf die Wünsche und Fähigkeiten der Betroffenen eingeht. Das ist eine Binsenweisheit. ({4}) Wir wollen, dass weiterhin Menschen mit geringem Einkommen die Möglichkeit haben, sich juristischen Beistand zu leisten und Prozesskostenhilfe zu erhalten, wenn dies notwendig ist. Ein niedrigschwelliger und gebührenfreier Zugang zu den Sozialgerichten ist hierbei unverzichtbar. ({5}) Es kann wirklich nicht sein, dass, wie in der Vergangenheit, Vorstöße aus Ländern wie Bayern kommen, wo man auf die Misere mit der Einführung von Gebühren für Sozialgerichte reagiert hat. Damit werden für diejenigen die Zugangshürden zum Rechtsstaat erhöht, die so18172 wieso schon große Vorbehalte und Hemmnisse haben, vor Gericht zu ziehen. ({6}) Wir wollen die Rechte für anerkannte Verbände durch ein Verbandsklagerecht stärken. Diese Verbände sollen - ähnlich wie heute bereits im Umwelt- oder Verbraucherschutz - selbstständig eine Klage erheben können. Besondere Aufmerksamkeit haben wir noch einmal dem SGB II gewidmet. Dort gibt es bekanntermaßen die größten Probleme, alleine von der schieren Zahl der Betroffenen her. Die jüngsten Änderungen nicht nur seitens der schwarz-gelben Koalition, sondern - das kann ich Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten - auch von der Großen Koalition haben zu einer Verschlechterung der Rechtsstellung der Hartz-IV-Beziehenden geführt. Wir wollen, dass auch in diesem Bereich Wünsche ernst genommen werden. Wir wollen die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen wieder einführen. Grüne Sozialpolitik hat das Ziel, allen Menschen eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen. ({7}) Wir wollen die Menschen mit ihren Potenzialen und mit ihren Fähigkeiten ernst nehmen. Eine solcherart verstandene Sozialpolitik hat neben dem Selbstzweck einer humanen und inklusiven Gesellschaft auch den Vorteil, politisch stabilisierend und sogar volkswirtschaftlich stimulierend zu wirken. Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, Abwehrrechte gegen übermächtige Kollektive, Gestaltungsrechte, Stärkung der eigenen Selbsthilfepotenziale - das ist unsere soziale Idee. Sie verbindet materielle Garantien und Infrastrukturen zur Befähigung von Menschen mit Wunsch- und Wahlrechten und schafft so erst die Voraussetzungen, dass Menschen, die Unterstützung brauchen, diese Freiheit wahrnehmen können. Freiheit braucht Voraussetzungen, und Freiheit braucht auch soziale Bürgerrechte. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Sitzungswoche finden zwei größere sozialpolitische Debatten statt, morgen eine zum Thema Mindestlohn. Da gibt es, jedenfalls aus Sicht der CDU, den einen oder anderen Anlass, auch Positives zu der Vorlage der Grünen zu sagen. Heute müssen wir allerdings eine kritische Betrachtung dessen anstellen, was Sie dem Hohen Hause vorgelegt haben. ({0}) Es dokumentiert eher eine gewisse Themennot der Grünen, ({1}) dass Sie jetzt versuchen, in diesem Bereich das Haar in der Suppe zu finden. Der Antrag fängt ganz gut an, und zwar mit dem Satz: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Rechtsstaat. Das stimmt; das steht schon seit vielen Jahrzehnten im Grundgesetz. Man muss das hier im Deutschen Bundestag nicht noch einmal beschließen. Man muss es nur in die Wirklichkeit umsetzen. Wir sind auch bei Ihnen, wenn Sie sagen: Der soziale Rechtsstaat muss gesichert werden; Partizipation bzw. Teilhabe in selbstbestimmter Weise muss gesichert werden. Wir sind uns sicherlich auch darüber einig, dass kein Regularium der Welt, auch nicht die fast 3 000 Paragrafen des Sozialgesetzbuches, in der Lage sein wird, hier eine wasserdichte Regelung zu schaffen, die in jedem Einzelfall hundertprozentige Gerechtigkeit sichern kann; das ist vollkommen klar. Jedoch muss derjenige, der von einer - ich zitiere aus Ihrem Antrag - „nicht durchgängig auf Partizipation ausgerichteten Sozialgesetzgebung“, einer „restriktiven Rechtsumsetzung“ und einer „mangelnden Kooperation der Sozialleistungsträger“ spricht, Beweise dafür anführen. Beweise, lieber Herr Kollege Kurth, sind übrigens nicht Überzeichnungen wie jene in Ihrem Antrag. So schreiben Sie, es komme „immer wieder vor, dass Arbeitsuchende bei Fragen an das Jobcenter eine kostenpflichtige Telefonhotline anrufen müssen, ({2}) dass älteren Menschen bei der Suche nach und Antragstellung von assistierenden Diensten nicht adäquat geholfen wird und dass Patienten durch eine zögerliche Bearbeitung des Antrages auf eine Anschlussbehandlung die gesundheitliche Verschlechterung droht“. Niemand in diesem Hause wird bestreiten, dass so etwas vorkommt. ({3}) Wogegen wir uns wehren, ist, dass Sie aus diesen Einzelfällen eine Verallgemeinerung herleiten. Das ist nicht seriös. Wir weisen es zurück, dass Sie hier allen Sozialbehörden, die übrigens, wie Sie in Art. 20 des Grundgesetzes nachlesen können, an Recht und Gesetz gebunden sind, also der Bundesagentur, den Jobcentern und den Sozialversicherungsträgern - in Rentenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung -, pauDr. Johann Wadephul schal vorwerfen, es gebe eine - ich zitiere, was Sie gerade gesagt haben - „systematische Verweigerung“. ({4}) Das ist eine Verunglimpfung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, all derjenigen, die ehrenamtlich in den Gremien arbeiten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das stimmt nicht; Sie zeichnen hier ein Zerrbild. Das ist falsch. ({5}) Wenn Sie über soziale Rechte reden, sollten Sie wissen, dass das Sozialgesetzbuch schon sehr viel vorsieht: § 13 SGB I - Sie sollten vielleicht einmal einen Blick hineinwerfen - verpflichtet die Leistungsträger im Rahmen ihrer Zuständigkeit zur Aufklärung, zur Belehrung über Pflichten und Rechte nach dem Gesetzbuch. § 14 sieht sogar einen Anspruch des einzelnen Leistungsempfängers oder Versicherten auf Beratung vor. Das wird auch umgesetzt. ({6}) Meldet sich beispielsweise eine Witwe wegen der Hinterbliebenenrente und beantragt sie für sich, vergisst aber - um ein einfaches Beispiel zu nennen -, sie auch für die Kinder zu beantragen, so muss der Rentenversicherungsträger darüber aufklären, dass auch Waisen entsprechende Ansprüche haben. Wird dies verabsäumt, Herr Kurth, und stellt sich dies erst mehrere Jahre später heraus, dann ist da nichts verfristet, präkludiert oder ausgeschlossen. Vielmehr hat das Bundessozialgericht einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch normiert. Bei einem derartigen Pflichtenverstoß muss der Betrag im Nachhinein erstattet werden. Weil Sie auf Europa Bezug nehmen, frage ich Sie: Wo in der Welt, wo in Europa gibt es eine derart soziale Rechtsprechung, eine derartige Gesetzgebung, wie wir sie haben? Wir sollten stolz auf das sein, was wir haben, und es umsetzen, anstatt zu beklagen, dass es in Einzelfällen Probleme gibt. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, es ergibt sich praktischerweise, dass Ihnen Herr Kurth gerne eine Zwischenfrage stellen würde.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Wadephul, zunächst einmal möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meiner Rede ausdrücklich davon gesprochen habe, dass man nicht pauschale Schwarz-Weiß-Malerei betreiben soll und die Drift zur Rechtslosigkeit zwar nur bei einzelnen Sozialbehörden und einzelnen Trägern der Sozialversicherung zu beobachten ist, aber eben immer öfter. Sie haben hier die Beratungspflicht angesprochen. Ich frage Sie: Wie häufig besuchen Sie eigentlich Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden und Arbeitslosenzentren? Ist Ihnen dort nie berichtet worden, dass genau diese Beratung und Aufklärung in aller Regel - in diesem Fall tatsächlich systematisch und nicht nur in Einzelfällen; die Motive mögen unterschiedlich sein: Überlastung oder Unkenntnis der Mitarbeiter - nicht stattfindet?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Kurth, im Rahmen meiner Abgeordnetentätigkeit besuche ich solche Stellen regelmäßig. Darüber hinaus bin ich als Rechtsanwalt niedergelassen und mache viel Sozialrecht. Deswegen habe ich viele Mandanten, die diese Probleme haben. Auch wenn ich an mancher Stelle Anlass zur Klage habe, und zwar im doppelten Sinne - für die Mandanten, und auch ich habe einiges zu bemängeln -, stelle ich fest: Eine systematische Verweigerung gibt es nicht. ({0}) Ich finde es unerhört, dass Sie die Sache hier umkehren. Natürlich gibt es immer schwarze Schafe und überlastete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Natürlich gibt es auch überforderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; denn wir geben ihnen eine Gesetzgebung an die Hand, mit der Sie kaum arbeiten können. Daran sind Sie als Grüne nicht ganz unschuldig. So wie das Hartz-IV-Regelwerk den Deutschen Bundestag verlassen hat, war es zum Teil nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die damit arbeiten müssen, eine Zumutung. Das muss man ehrlicherweise sagen. ({1}) Sie haben das Problem im Nachhinein verallgemeinert. ({2}) - Doch, Sie kehren es um, Herr Kurth, und das finde ich ärgerlich an Ihrem Vorwurf. Sie sagen: Im Zweifel handelt die Behörde oder der Sozialversicherungsträger nicht im Sinne des Leistungsempfängers bzw. des Versicherten. Das stimmt nicht. Das ist nicht meine Erfahrung, und das ist auch nicht die soziale Wirklichkeit in Deutschland. ({3}) Ich will Sie darauf hinweisen, dass wir uns nicht nur hier im Parlament und in den Petitionsausschüssen mit diesem Thema beschäftigen. In meinem Heimatland Schleswig-Holstein gibt es Bürgerbeauftragte, die die Bürgerinnen und Bürger mit großem Erfolg beraten und unterstützen. Ich will Sie auch darauf hinweisen, dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, an deutschen Arbeitsund Sozialgerichten - auch an unzuständigen Gerichten selber eine Klage zu erheben. Dort liegen Formulare aus, die er nur auszufüllen braucht. Wenn er damit nicht klarkommt, gibt es ausgebildete Rechtspfleger, die sich stundenlang Zeit nehmen, um mit den einzelnen Betroffenen die Klage anzufertigen. Die werden sich nicht darauf berufen, dass sie nicht zuständig sind; das dürfen sie gar nicht. Sie helfen dabei, dass man Erfolg hat. Herr Kurth, Sie haben auf Europa Bezug genommen. Ich wiederhole es: Wo in Europa gibt es so etwas? Welcher europäische Mitgliedstaat - ich bin wirklich Proeuropäer und möchte andere Mitgliedstaaten nicht pauschal verdächtigen, ein schlechtes soziales Niveau zu haben - hat ein derart dichtes soziales Netz, wie wir es haben? Diesen Beweis bleiben Sie schuldig. Deswegen sage ich: Es ist die bare Not, die Sie dazu gebracht hat, diesen Antrag zu stellen. Sie überzeichnen die Situation insgesamt ganz deutlich. ({4}) Als Anwalt könnte ich ein bisschen traurig darüber sein, dass Sie das anwaltliche Gebührenrecht nicht erwähnen. Es geht an dieser Stelle nicht um Reichtümer. Aber die Kollegen, die auf dem Gebiet des Sozialrechts tätig sind, arbeiten für Betragsrahmengebühren - fragen Sie einmal Frau Kramme -, für die man einen Sozialrechtsfall wirtschaftlich gesehen überhaupt nicht bearbeiten kann. Sie sollten die Justizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die einen entsprechenden Entwurf unterbreitet hat, unterstützen, damit diese Gebühren etwas angehoben werden. ({5}) Der Vorschlag, die SGB-II-Verfahren gebührenpflichtig zu machen, ist mir vollkommen unverständlich. ({6}) - Doch, das haben Sie gemacht, selbstverständlich. Lesen Sie einmal Ihren eigenen Antrag! ({7}) Sie wollen unter Ziffer 9 Pauschalgebühren einführen. ({8}) - Für die Jobcenter. Meinen Sie denn im Ernst, ein Jobcenter werde einen Widerspruchsbescheid zulasten eines Leistungsempfängers nicht aussprechen, nur weil das Jobcenter fürchtet, Gerichtsgebühren zahlen zu müssen? Oder umgekehrt: Wollen Sie, dass Jobcenter gegen die eigene Rechtsauffassung und gegen die eigene Tatsachenfeststellung einen Widerspruchsbescheid erlassen, nur weil das Jobcenter andernfalls Gerichtsgebühren zahlen müsste? Das halte ich für kompletten Irrsinn. Das zeigt, dass Sie hier insgesamt auf dem Holzweg sind, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Grünen-Fraktion. ({9}) Ich finde es auch traurig, dass Sie über die Kostensituation, also das, was in Deutschland dafür aufgewandt wird, nicht einen Satz verlieren. ({10}) Wir wenden im Bundeshaushalt etwa 160 Milliarden Euro für soziale Leistungen auf. Das ist nur der steuerfinanzierte Teil, von dem ein erheblicher Teil in die Rentenfinanzierung fließt. Hinzu kommt das Beitragsaufkommen, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Arbeitgeber erwirtschaften müssen. Wenn Sie das addieren, sehen Sie, dass wir hier in Deutschland dank unserer wirtschaftlichen Stärke - diese ist gerade diskutiert worden - in der Lage sind, uns ein soziales System zu leisten, das seinesgleichen sucht und sich nicht verstecken muss. Das, was Sie verteilen wollen, müssen wir erst einmal erwirtschaften. Bei dieser Reihenfolge muss es bleiben. Deswegen ist es auch richtig, dass wir diese Debatte direkt nach der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht, den der erfolgreiche Bundeswirtschaftsminister hier vorgelegt hat, führen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die richtige Grundlage für einen sozialen Rechtsstaat, von dem Sie sprechen, ist ein wirtschaftlich erfolgreiches Deutschland, und wir sind mit dieser Regierungskoalition sehr erfolgreich. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Anette Kramme hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Existenz sozialer Bürgerrechte ist sicherlich eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zeit. Wenn wir über soziale Bürgerrechte sprechen, dann geht es darum, dass Menschen nicht Bittsteller, sondern Träger von Rechten und Ansprüchen sind. ({0}) Es geht darum, dass Würde erhalten bleibt und Erniedrigungen ausbleiben. Es ist aber sicherlich so: Wo gearbeitet wird, fallen Späne. Manchmal vermittelt eine Behörde auch den Eindruck der Königlich-Bayerischen Amtsgerichtsbarkeit. Manchmal ist es allerdings auch so, dass die Welt der Wünsche mit der Welt des Machbaren kollidiert. Mancher Beamte würde bestimmt gerne Leistungen gewähren, wenn ein Härtefall vorliegt oder wenn ihm ein Bürger bzw. eine Bürgerin sympathisch erscheint. Es gibt jedoch die Vorgabe rechtskonformen Verhaltens, und die Politik setzt die rechtlichen Maßstäbe. Herr Kurth, an dieser Stelle finde ich Ihre Kritik überspitzt. Natürlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland auch schwarze Schafe, aber diese sind nicht der Regelfall. Sie vernachlässigen die vielen Hunderttausend Fälle, die in der Bundesrepublik Deutschland Jahr für Jahr völlig reibungslos ablaufen. ({1}) Unstreitig ist allerdings, dass es innerhalb der Bundesrepublik Deutschland Verbesserungsbedarf gibt. Hier geht es, denke ich, insbesondere um sechs Punkte. Erstens brauchen wir in mehr Fällen eine übergreifende Beratung, weil das Sozialrecht verheerend kompliziert ist. Ich finde, die Pflegestützpunkte, die wir mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eingeführt haben, sind ein gutes Beispiel dafür. ({2}) Es geht zweitens darum, dass Bearbeitungszeiten von Behörden und Gerichten kurz bleiben. Dies ist aber in vielen Fällen eine Kostenabwägung, und in vielen Fällen stehen wir in einem Dissens mit den Ländern. Es geht drittens darum, dass wir jeweils eine genaue Abwägung vorzunehmen haben, ob wir einem Bürger bzw. einer Bürgerin einen Rechtsanspruch oder einen Anspruch gewähren, der nur im Ermessen der Behörde steht. Hier ist es leider beispielsweise im SGB II oder im SGB III zu verheerenden Entwicklungen gekommen, bei denen es nur darum ging, Kostenreduzierungen vorzunehmen. So werden natürlich die Weiterbildungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern in letzter Konsequenz beschnitten. Es geht viertens darum, mehr Partizipation in den Sozialgesetzbüchern zu verankern. Ich bin allerdings der Meinung - darin sind wir uns einig -, dass diesbezüglich gute Entwicklungen stattgefunden haben. Ich verweise beispielhaft auf das SGB IX. ({3}) Fünftens geht es darum, die Schnittstellen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten aufzulösen, damit nicht jede Behörde Leistungen ablehnen kann und der Bürger letztlich zwischen allen Stühlen sitzt. Die Zusammenlegung der Agenturen für Arbeit und der Sozialhilfebehörden ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Letztens geht es darum, einen kostenfreien und einfachen Zugang zur Gerichtsbarkeit zu haben. Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen und diese näher thematisieren. Sie rennen bei uns offene Türen ein, wenn es um den Erhalt der Sozialgerichtsbarkeit geht. Seit Jahren beobachten wir leider immer wieder Anstrengungen mit dem Ziel einer Zusammenlegung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit. Wer sich in der Materie auskennt, weiß um den Umfang des Sozialrechts und die Kompliziertheit dieser Rechtsmaterie. Allein die Rechtsprechung zum SGB II hat sich ins Unendliche entwickelt. Leider ist auch die Politik daran schuld; denn wir haben immer wieder rechtliche Änderungen vorgenommen. Die Einarbeitungszeiten sind dadurch lang. Nach meiner Auffassung würde eine Zusammenlegung schlichtweg zu einem Qualitätsverlust führen. Es nutzt auch nichts, wenn spezialisierte Sozialrechtsanwälte Richtern gegenüberstehen, die in die Materie nicht eingearbeitet sind. Die langen Bearbeitungszeiten dürften eher zunehmen als abnehmen. Lassen Sie mich auf ein konkretes Beispiel zur Schnittstellenproblematik eingehen. Ich finde, wir sollten die Sozialgesetze unter diesem Gesichtspunkt systematisch durchkämmen. Ihr Antrag ist ein guter Aufschlag; aber den hehren Ansprüchen, die Sie formulieren, wird er nicht gerecht, weil Sie die Schnittstellenproblematik ein wenig vernachlässigen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen; es handelt sich um einen unglaublichen Fall, von dem ich vor wenigen Tagen gehört habe. Bei einer 85-jährigen Frau lag ein Beckenbruch vor; sie war nicht krankenversichert. Die Tochter wandte sich an die GKV, und die GKV brauchte eine Woche, um den Sachverhalt zu bearbeiten. Dann hat sie die Kostenübernahme mit dem Hinweis, möglicherweise komme die PKV in Betracht, abgelehnt. Die Tochter wandte sich an die PKV. Auch die PKV bearbeitete die Anfrage zunächst einmal nicht. Dann teilte sie mit, die gesetzliche Krankenversicherung sei zuständig. Später stellte sich heraus, dass die PKV doch zuständig ist. Das Sozialamt der zuständigen Stadt lehnte gar die Entgegennahme des Antrages ab. Man kann sich vorstellen, welche Sorgen dies bei der Tochter auslöste. Es ging um einen dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt und eine anschließende Reha-Maßnahme, die zunächst einmal verschoben werden musste. Dabei ließe sich dieses Thema ganz einfach regeln. Das war damals in der Großen Koalition nicht möglich. Es müsste ausreichen, einen der Träger anzugehen. Die Kassen müssten das dann untereinander regeln bzw. im Einvernehmen mit den Sozialämtern. ({4}) Lassen Sie mich abschließend auf ein Thema eingehen, das Herr Wadephul angesprochen hat. Ich finde, er hat damit recht. Es geht um die Vergütung der Anwälte im Bereich des Sozialrechts. In vielen Fällen wird Beratungshilfe in Anspruch genommen. Der Vergütungsanspruch für solch eine Beratung beträgt 30 Euro bzw. für die gesamte außergerichtliche Tätigkeit 70 Euro. Das Problem ist, dass oft Menschen betroffen sind, die sich nicht selber helfen können, die mit Wäschekörben voller Unterlagen zum Anwalt kommen, der diese Unterlagen erst einmal sortieren muss. Dadurch sind diese Angelegenheiten extrem arbeitsaufwendig. Leider gibt es viele Anwälte, die dem Sozialstaatsauftrag nicht Rechnung tragen und einfach sagen, sie könnten erst in sechs Wochen einen Termin anbieten oder sie seien in der Materie fachlich nicht kompetent, obwohl sie das Problem sehr wohl lösen könnten. Ich denke, wir brauchen entweder ein anderes Vergütungssystem oder zumindest für den Bereich des Sozialrechts öffentliche Rechtsberatung; dies gibt es bereits in einigen Bundesländern. ({5}) Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Ich finde, Sie haben einen interessanten Aufschlag gemacht; aber den hohen Ansprüchen wird dieser Antrag nicht gerecht. Wir müssen die Materie in den nächsten Jahren gemeinsam angehen und jedes einzelne Sozialgesetzbuch durchschauen, um herauszufinden, wo es Schnittstellenproblematik gibt, wo wir verbesserte Beratung anbieten können etc. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Pascal Kober hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, aus Anlass Ihres Antrags möchte ich auf zwei grundsätzliche Aspekte des Sozialstaates hinweisen. Ich bin schon bei der Überschrift Ihres Antrags stutzig geworden. Da sprechen Sie einerseits von sozialen Bürgerrechten und andererseits von Nutzerinnen und Nutzern sozialer Leistungen. Man kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, einen Computer, eine Eisenbahn oder eine Zahnbürste nutzen. Ich glaube, wir alle spüren: Wenn es um den Begriff „nutzen“ geht, dann geht es auch um Wahlfreiheit. Aber wenn man von sozialen Rechten oder gar von sozialen Bürgerrechten spricht, dann sollte man nicht von Nutzerinnen und Nutzern sprechen. Wir gehen in unserem Sozialstaat davon aus, dass diejenigen, die Leistungen des Sozialstaates beziehen, dies tun, weil sie gerade keine andere Wahl haben. ({0}) Deshalb sollten Sie über die Formulierung der Überschrift Ihres Antrags noch einmal nachdenken. Sie sollten auch über einen zweiten Aspekt des Sozialstaates nachdenken - darauf hat mein Kollege Herr Dr. Wadephul schon hingewiesen -: Wer erwirtschaftet eigentlich die Leistungen, die der Sozialstaat zu Recht verteilt? Der Sozialstaat besteht nicht nur aus Leistungsberechtigten einerseits und institutionellen Sozialleistungserbringern andererseits, ({1}) sondern auch aus der Masse von Menschen, die mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit das Geld, das wir in Form sozialer Leistungen verteilen können, erwirtschaftet. ({2}) Diese Seite des Sozialstaates findet in Ihrem Antrag mit keiner Silbe Erwähnung. ({3}) Das ist insofern bedauerlich, lieber Herr Kurth, als der Umstand, den Sie in Ihrem Antrag zum Teil zu Recht problematisieren, seine Ursache darin hat, dass die Sozialleistungsträger gehalten sind, die dem Sozialstaat nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel nach den Grundsätzen der Sparsamkeit und Effizienz einzusetzen. ({4}) Darauf müssen sich die Menschen verlassen können: diejenigen, die mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit die Leistungen des Sozialstaates erwirtschaften, aber vor allem diejenigen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Eines ist klar: Wir können jeden Euro nur einmal ausgeben. Wenn wir zum Beispiel Geld für eine Leistung wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeben, steht entsprechend weniger Geld für andere Leistungsberechtigte, beispielsweise für schwerstmehrfachbehinderte Menschen, zur Verfügung. Deshalb ist es auch im Interesse der Schwächsten, dass die jeweils weniger Schwachen das ihnen Mögliche zur Überwindung ihrer Situation beitragen und dass der Sozialstaat seine finanziellen Ressourcen sorgfältig abwägend einsetzt. Dass es hierbei in zahlreichen Einzelfällen zu für die Betroffenen ärgerlichen und teils problematischen Situationen kommen kann, will ich gar nicht leugnen. Aber zunächst einmal muss man die Ursache dieser Probleme identifizieren. Es geht um den sorgsamen Umgang mit den Leistungen des Sozialstaates. Deshalb stellt sich die Frage, wie wir angemessen auf diese Situation reagieren sollten. Für meine Fraktion stellen sich die Prioritäten, ganz allgemein gesprochen, wie folgt dar: Erstens. Wir müssen so viele Menschen wie möglich dabei unterstützen, sich aus der Abhängigkeit vom Sozialstaat zu befreien. Zweitens. Wir müssen die Leistungsberechtigten zu so viel Eigenverantwortung wie nur möglich ermächtigen; dies kann man vielfach zum Beispiel durch die Pauschalierung von Leistungen erreichen. Drittens. Wir müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialleistungsträger noch besser als bisher durch eine gute Ausbildung und motivierende berufliche Perspektiven bei ihrer Arbeit unterstützen. Dieser Dreiklang ist der richPascal Kober tige Weg. Ihr Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, ist zu einseitig. Nun möchte ich mich noch mit einzelnen konkreten Forderungen, die Sie in Ihrem Antrag gestellt haben, auseinandersetzen. Da Sie eine ganze Reihe von Forderungen formuliert haben, beschränke ich mich auf zwei. So fordern Sie zum Beispiel, die geltenden Sanktionsregelungen zu flexibilisieren und ein Sanktionsmoratorium zu erlassen, bis die Rechte der Arbeitsuchenden gestärkt worden sind. Zudem soll es keine verschärften Sanktionsmechanismen im Hinblick auf Menschen unter 25 Jahren geben. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, natürlich gibt es empirische Belege dafür, dass Sanktionen positive Wirkungen entfalten. ({6}) Aber es geht eigentlich um etwas anderes: Ohne Sanktionen gäbe es keine Unterscheidung mehr zwischen denjenigen, die sich bemühen - unabhängig davon, ob die Bemühungen erfolgreich sind -, und denjenigen, die keinerlei Anstrengung unternehmen. Wir müssen uns immer auch die Frage stellen, welche Akzeptanz Sozialleistungen wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende bei den Erwerbstätigen noch hätten, wenn es keinerlei Notwendigkeit zur Eigeninitiative gäbe. ({7}) Insofern wirken Sanktionsmechanismen nicht nur innerhalb des Systems stabilisierend, sondern sie tragen auch zur Glaubwürdigkeit und zur Akzeptanz des Systems nach außen bei. Deshalb sind sie unverzichtbar. ({8}) Des Weiteren fordern Sie in Ihrem Antrag die Schaffung der Möglichkeit zur Einrichtung von Ombudsstellen bei allen Trägern des SGB II. Es gibt ja heute schon diese Möglichkeit. Jedes Jobcenter kann eine Ombudsstelle einrichten. Wir müssen uns aber auch fragen, was eigentlich die Aufgabe der Ombudsstellen ist. Schon heute zeigt sich in der Praxis, dass sie sich nur bei speziellen Fallkonstellationen eignen, nämlich dann, wenn es um einen Beurteilungsspielraum geht. In diesen Fällen kann die Rolle einer Ombudsperson als Vermittler in der Tat sehr sinnvoll sein. In allen anderen Fällen ist das aber nicht der Fall. Obwohl es durchaus Optimierungsbedarf bei der Umsetzung des SGB II gibt, können wir aber auch festhalten, dass im Jahr 2011 die Anzahl der Klagen erstmals seit Einführung des Arbeitslosengeldes II zurückgegangen ist. Die schwarz-gelbe Bundesregierung lässt es aber nicht dabei beruhen. So wird die teils zu lange Bearbeitungsdauer von Widersprüchen angegangen. Hierzu erarbeitet die Bundesagentur für Arbeit gerade ein Konzept zum Abbau der Rückstände in der Widerspruchsbearbeitung. Mit einem Handbuch „Interne Kontrollsysteme“ soll zudem eine höhere Qualität in den Jobcentern erreicht werden. Es freut mich, dass Frank-Jürgen Weise immer wieder betont, wie wichtig auch die Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit ist. Das ist, glaube ich, der richtige Weg, auf dem wir weiter fortschreiten sollten. Dies tut diese Bundesregierung mit Unterstützung der beiden sie tragenden Fraktionen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Matthias Birkwald hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Linke steht für Menschenwürde und für soziale Sicherheit. ({0}) Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Betroffene, Menschen mit Behinderung, Kranke und Pflegebedürftige ein Leben in Würde führen können. Ein würdevolles Leben kann der Mensch jedoch nur in Freiheit führen. Die Freiheit, die wir meinen, ist jedoch nicht die Freiheit der Märkte und der Marktradikalen; denn wir wollen nicht, dass die einen im Champagner baden und die anderen gezwungen sind, ihr Essen aus den Mülltonnen zu holen. ({1}) In einer menschlichen Gesellschaft, die es mit sozialen Rechten ernst meint, darf das Recht des Stärkeren nicht gelten. Wir Linken meinen eine Freiheit, die vor staatlicher Willkür schützt, dabei aber nicht stehen bleibt; denn die Freiheit der Armen, sich als Bittstellerinnen und Bittsteller an den Staat oder an die Mitbürgerinnen und Mitbürger zu wenden, wenn das Geld nicht zum Leben reicht, ist eine würdelose Freiheit. Das ist einer der zentralen Gründe, warum wir Linken niemals unseren Frieden mit Hartz IV machen werden. ({2}) Würde braucht Freiheit, aber ohne soziale Rechte bleiben Freiheit und Würde für einen großen Teil der Menschen nur eine Möglichkeit, die sie sich nicht leisten können. Deswegen ist die Linke die Partei der Freiheit, der Würde und der Solidarität. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie haben Ihren Antrag mit „Soziale Bürgerrechte garantieren“ überschrieben. Diese wichtige Forderung teilt die Linke ausdrücklich. Mit den vielen Einzelforderungen Ihres Antrages haben Sie unter dem Strich ein Ziel: Die Bürgerinnen und Bürger dürfen vom Staat und von der Verwaltung nicht als Bittstellerinnen und Bittsteller behandelt werden. Das sehen wir Linken ganz genauso. ({4}) Es geht um soziale Rechte und nicht um Almosen. Das muss selbstverständlich für alle gelten, die hier leben, also zum Beispiel auch für Flüchtlinge, für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und für alle Menschen ohne deutschen Pass. Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sagen Sie in Ihrem Antrag leider kein Wort, und das ist schwach. ({5}) Sie reden über soziale Rechte, beschränken sich aber allein auf das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zur Sozialverwaltung. Die sozialen Bürgerrechte umfassen aber auch die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie müssen deshalb sowohl in den Amtsstuben der Sozialverwaltung als auch an den Werkbänken in den Fabriken und an den Schreibtischen in den Büros gelten. Wenn Sie in Ihrem Antrag also von sozialen Rechten sprechen, dann dürfen Sie von einem gesetzlichen Mindestlohn, von gleichem Lohn für gleiche Arbeit und von gesunden, sicheren und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen nicht schweigen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke teilt viele Einzelforderungen des vorliegenden Antrags. Auch wir sehen zum Beispiel, dass es nicht reicht, nur von einem Recht auf Beratung zu sprechen. Die Linke fordert schon lange, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, Menschen mit Behinderung und Hartz-IV-Beziehende professionell, unabhängig und vor allem wohnortnah und kostenlos ({7}) beraten werden. Eine gute und vor allem auch eine gut und barrierefrei erreichbare Beratung ist dafür unverzichtbar. ({8}) Soziale Rechte und Ansprüche muss jede und jeder ohne Spezialausbildung oder ein langjähriges Studium verstehen und wahrnehmen können. Genau deshalb müssen die Gewerkschaften, der Erwerbslosenverband Deutschland oder Sozialverbände, wie zum Beispiel die Volkssolidarität, ein eigenständiges Verbandsklagerecht erhalten. ({9}) Damit würden die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen auch unabhängig von konkreten Einzelfällen deutlich gestärkt werden. Das ist notwendig. Das ist machbar. Das ist längst überfällig. ({10}) Wenn wir des Morgens zum Bäcker gehen, finden wir in der Regel eine reichhaltige Auswahl an Brötchen vor. Die Bäckerin würde aus wohlverstandenem Eigeninteresse nicht im Traum auf die Idee kommen, ihr Angebot einzuschränken oder uns zum Kauf eines bestimmten Brötchens zu nötigen; denn wir würden uns entweder vehement beschweren oder sofort den Laden verlassen und beim nächsten Mal nicht wiederkommen. Wir würden also protestieren, uns beschweren und im besten Falle damit die Qualität der Bäckerei verbessern. Falls das nichts hülfe, könnten wir künftig unsere Brötchen schlicht woanders kaufen. Ich lege hier jetzt einigen Wert darauf, festzuhalten, dass die Sozialverwaltungen keine Bäckereien und Sozialleistungen keine Brötchen sind. Aber wie hieß es doch so schön im Zuge der Einführung der Hartz-Reformen? Die Arbeitsagenturen sollten die Menschen als Kundinnen und Kunden behandeln, so wie beim Bäcker. Das ist doch nun wirklich hanebüchener Unsinn. ({11}) Haben Sie schon einmal einen Bäcker erlebt, der Ihnen mit Strafen droht, wenn Sie ihm nicht das Brötchen abnehmen, das er für Sie vorgesehen hat? Ich frage Sie: Können denn Langzeiterwerbslose wie beim Bäcker einfach das Geschäft wechseln und ihre Grundsicherung woanders holen, wenn sie sich im Jobcenter schlecht beraten, mies vermittelt oder zu Unrecht bestraft fühlen? Nein, das können sie eben nicht. ({12}) Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass die Leistungsberechtigten in den Jobcentern darauf pochen können, mitzuentscheiden, welche Weiterbildung, welcher Schulbesuch oder welche sonstige Maßnahme für sie die Richtige ist. ({13}) Im Unterschied zu den Grünen sagen wir Linken: Die Arbeitslosen müssen beispielsweise auch frei wählen dürfen, welcher Fallmanager oder welche Fallmanagerin für sie zuständig ist; denn auch Hartz-IV-Betroffene haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Das darf nicht an der Tür des Jobcenters enden. ({14}) Hartz-IV-Betroffene haben nicht die Möglichkeit, das Jobcenter zu wechseln wie ihre Bäckerei. Sie können sich nur beschweren, Widerspruch einlegen oder klagen. Das heißt: Erstens. Widersprüche der Hartz-IV-Leistungsberechtigten müssen eine aufschiebende Wirkung bekommen. Zweitens. Ihnen darf der Klageweg auch in Zukunft nicht durch Kosten versperrt werden. ({15}) Die Sozialgerichtsprozesse müssen für die Betroffenen grundsätzlich kostenfrei bleiben. ({16}) Dieses grundlegende soziale Recht darf nicht geopfert werden, weil es, Herr Kollege Kober, nach wie vor eine anhaltende Klageflut bei Hartz IV gibt. Es gibt jetzt gerade mal einen leichten Rückgang. 2011 ist das Jahr mit der zweithöchsten Zahl an Prozessen gewesen. Für die Klageflut ist nämlich nicht die Kostenfreiheit verantwortlich, sondern das handwerklich schlecht gemachte Hartz-IV-Gesetz, oder, wie es Martin Kühl, Richter und Pressesprecher des Landesarbeitsgerichts Essen, vornehmer ausdrückte, die „sehr komplexe Rechtslage“. Kein Wunder, dass wegen des viel zu komplizierten Gesetzes fast die Hälfte aller Verfahren zugunsten der klagenden Hartz-IV-Betroffenen entschieden wird, so zum Beispiel auch am Kölner Sozialgericht. Mich wundert es auch nicht, dass die Berliner Präsidentin des größten Sozialgerichts in Deutschland, Frau Sabine Schudoma, fordert, dass nicht die Betroffenen, sondern die Jobcenter wieder mit einer Pauschgebühr an den Gerichtskosten beteiligt werden müssten; denn dann hätten die Jobcenter einen Grund, stärker auf die Betroffenen zuzugehen. Damit könnten Klagen vermieden werden, ohne die Rechte der Betroffenen einzuschränken. Kurz und gut: Ein sehr guter Vorschlag! ({17}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich halte fest: In den Punkten Kostenfreiheit für die Betroffenen und Pauschgebühren für die Jobcenter sind wir uns völlig einig. Aber im Unterschied zu Ihnen war die Linke nicht daran beteiligt, Hartz IV zu erfinden und die Erwerbslosen damit nun schon seit Jahren zu drangsalieren. ({18}) Wir wollen kein Hartz-IV-Gesetz, mit dem den Betroffenen an jeder Ecke Kürzungen drohen. Die Linke will Hartz IV abschaffen und durch eine sanktionsfreie soziale Mindestsicherung ersetzen, die die sozialen Rechte der Menschen achtet. ({19}) Wir wollen uns nicht darauf beschränken, Hartz IV hier und da zu verbessern. Dennoch gilt: Die besonders harten Strafmaßnahmen, die in Hartz IV gegen unter 25-Jährige verhängt werden können, müssen sofort abgeschafft werden. ({20}) Denn es ist unwürdig, dass jungen Erwachsenen der Regelsatz und sogar die Leistungen für Wohn- und Heizkosten vollständig gekürzt werden können. Es ist unwürdig, dass junge Menschen bis 25, die auf Hartz IV angewiesen sind, den Staat um Erlaubnis fragen müssen, wenn sie zu Hause ausziehen wollen. Diese brachiale Freiheitseinschränkung muss dringend abgeschafft werden. ({21}) Auch für die Erwachsenen in Hartz IV bringen die Sanktionen und die Schnüffelpraxis der unsäglichen Hausbesuche mit ihrer ausdrücklichen Missbrauchsunterstellung keinen Arbeitsplatz mit guter Arbeit. Sie bringen weniger statt mehr Würde, und sie bringen weniger statt mehr Freiheit. Darum müssen alle Sanktionen und Strafmaßnahmen sofort ausgesetzt werden. ({22}) Im Unterschied zu den Grünen wollen wir Linken aber, dass die Sanktionen umgehend und vollständig abgeschafft werden und der Hartz-IV-Regelsatz auf 500 Euro erhöht wird. Denn es bleibt dabei: Sozial ist, was Würde schafft. Herzlichen Dank. ({23})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den zehnseitigen Antrag liest, Herr Kurth, und vor allen Dingen wenn man Herrn Birkwald zuhört, dann muss man erstens den Eindruck bekommen, dass diejenigen, die in Deutschland wohnen, arm dran sind. Zweitens muss man den Eindruck bekommen, dass der Rechtsschutz für bedürftige Menschen in Deutschland nicht großzügig ausgeprägt ist. Ich habe mir gestern die Mühe gemacht und die Zeit genommen, in Ruhe mit einem Sozialrichter am Bundessozialgericht zu sprechen, der mir bestätigt hat, was auch Herr Wadephul gesagt hat, nämlich dass in kaum einem anderen Lande der Rechtsschutz für bedürftige Menschen so großzügig ausgeprägt ist wie in Deutschland. ({0}) Das ist erst einmal eine gute Nachricht für Deutschland, für den Sozialstaat und für den Rechtsschutz. ({1}) - Damit findet man sich nicht ab, Herr Kurth. Sie haben völlig recht, aber Sie müssen eines beachten: Dass jemand das Instrument Widerspruch und Klage in Anspruch nimmt, ist zunächst einmal ein Zeichen dafür, dass unser Rechtsstaat funktioniert. ({2}) Das ist zunächst der entscheidende Punkt. Sie haben natürlich recht, auch mit Ihrem Antrag: Die Zahl der Widersprüche und Klagen ist zu hoch. Trotzdem sollte man nicht alles schlechtreden, Herr Birkwald. Wir haben gestern vom Arbeitsministerium die aktuellen Zahlen zu den Widersprüchen bekommen. Sie gehen zum ersten Mal seit Inkrafttreten der Hartz-IVGesetzgebung im Jahr 2005 zurück, und zwar meiner Meinung nach signifikant. Ich will nicht von einer großen Trendwende reden, aber wir sollten das zur Kenntnis nehmen. Ich habe die aktuellen Zahlen bekommen; sie beziehen sich auf das dritte Quartal 2011. Im Vergleich zum dritten Quartal 2010 ist die Zahl der Widersprüche von 200 000 auf 170 000 zurückgegangen. Das ist signifikant. ({3}) - Ja, Herr Birkwald, das ist so. Sie sind doch von Haus aus Volkswirtschaftler. ({4}) - Ja, das ist völlig richtig, Herr Kurth: im SGB II. Wir sollten aber beide Interesse daran haben, dass diese Zahl weiter zurückgeht. Wir sollten über Konzepte sprechen. Sie sprechen ein paar Konzepte an. Zum Beispiel wollen Sie mit Ombudsstellen erreichen, dass es erst gar nicht zum Rechtsstreit kommt. Über solche Instrumente sollten wir im Ausschuss reden. Aber ich bitte, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir seit Jahren versuchen - das begann in der Großen Koalition, und jetzt machen wir es erst recht; die entsprechenden gesetzlichen Regelungen sind in Kraft getreten -, bei den Widersprüchen, die vor allen Dingen bei den Eingliederungsvereinbarungen und den Kosten der Unterkunft auftreten, gegenzusteuern. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Wir haben im letzten Jahr den Kommunen bei den Kosten der Unterkunft die Möglichkeit eröffnet, Pauschalen festzulegen. Zuerst gab es einen großen Aufschrei. Trotzdem erhoffen wir uns - die Kommunen müssen dies auch in Anspruch nehmen - weniger Rechtsstreitigkeiten und weniger Klagen, weil es nun Rechtssicherheit gibt. Die Opposition sagt nun: Die Hartz-IV-Empfänger leiden darunter. - Das ist nicht so. Erstens werden die Pauschalen vom jeweiligen Landessozialgericht überprüft. Zweitens kann ein SGB-II-Empfänger, wenn ihm die Kommune zum Beispiel 350 Euro zugesteht und er eine Wohnung für 250 Euro anmietet, die Differenz von 100 Euro behalten. Die oft monierte Härtefallregelung gilt weiterhin, auch bei Pauschalen. In einem bekannten, renommierten Urteil wurde festgestellt, dass es sich bei einer Familie mit vier Kindern, die wohnortnah zur Schule gehen, und die in der Nachbarstraße einen Angehörigen hat, der gepflegt werden muss, offenkundig um einen Härtefall handelt. Das gilt auch in Zukunft. Wir erhoffen uns, dass die Klagewelle aufgrund unserer Regelung zurückgeht. ({5}) Zu den Eingliederungsvereinbarungen. Ich muss zugeben, dass ich in der gestrigen Ausschusssitzung überrascht war, dass die Zahl so positiv ist. Ich kann die Zahl gleich nennen, weil sie öffentlich ist. Seit Juni 2010 wird nach einem Vier-Phasen-Modell gearbeitet. Danach können die Vermittler vor Ort die Eingliederungsvereinbarung individueller ausgestalten. Dadurch kommt es seltener zu Rechtsstreitigkeiten. Nach einer internen Überprüfung der Bundesagentur für Arbeit sind 88 Prozent der Eingliederungsvereinbarungen individueller, Herr Kurth. Dadurch erhoffen wir uns weniger Klagen. Wie Sie sehen, setzt sich das gesamte System aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Es gibt immer etwas zu optimieren. Es gibt immer Schieflagen. Es ist richtig, dass wir versuchen müssen, die Schieflagen zu beseitigen und den Rechtsschutz sicherzustellen. Aber genauso wichtig ist es - lieber Pascal Kober, das hast du eben zu Recht angesprochen -, die Eigeninitiative des Einzelnen zu stärken. Auch darauf heben Sie im Antrag Ihrer Fraktion ab, Herr Kurth. Aber ich würde mich freuen, Frau Pothmer, wenn Sie dann, wenn es konkret wird, nicht wegliefen, sondern uns unterstützten. Sie sollten nicht nur auf die hehren Ziele hinweisen. ({6}) Ich nenne Ihnen als Beispiel den Bundesfreiwilligendienst. Wir haben den Freibetrag von 60 auf 175 Euro erhöht, weil wir der Meinung sind, dass 60 Euro für Langzeitarbeitslose, die bereit sind, 30 Stunden in der Woche geschätzte und sinnstiftende Tätigkeiten für die Gesellschaft zum Beispiel im Umweltschutz zu übernehmen, zu wenig sind. Sie haben damals gesagt: Hartz-IV-Empfänger sind keine Lückenbüßer für die wegfallenden Zivildienststellen. - Nun haben wir das umgesetzt, und es gibt - soweit ich das mitbekomme - keine Kritik, weder von den karitativen Trägern und Verbänden wie der Caritas noch von den Betroffenen selbst. Viele melden sich per E-Mail und schreiben: „Das ist eine gute Regelung.“ Gerade ältere Arbeitslose bekommen damit eine Chance auf Teilhabe in dieser Gesellschaft. Das sind sicherlich kleine Bausteine. Aber die Arbeits- und Sozialpolitik erlaubt es nicht, einen großen Schlag zu tun, sodass dann alles funktioniert. Es handelt sich nun einmal um ein lernendes System. Wir werden weiterhin mit den genannten Bausteinen arbeiten. Ich denke, wir machen das höchst erfolgreich. Herzlichen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Silvia Schmidt hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Kurth, der Antrag Ihrer Fraktion enthält durchaus richtige Feststellungen. Aber wir müssen eines bedenken: Wir haben das beste Sozialsystem weltweit. Wir werden um dieses Sozialsystem beneidet. Das ist einfach so. ({0}) Natürlich haben wir auch die große Verantwortung, dieses historisch gewachsene Sozialsystem weiterzuentwickeln. Die Entwicklung von Sozialrecht ist ein Prozess, der mit den gesellschaftlichen Verhältnissen einhergeht. Es darf nicht der Eindruck entstehen, wie in diesem Antrag, dass dieses hohe Gut der sozialen Rechte, das auch erkämpft worden ist, nicht genug geschätzt wird. Glauben Sie mir: Ich weiß, wovon ich rede. Die ehemalige DDR hatte auch sogenannte soziale Rechte. Da waren Klagen absolut unerwünscht. Es war nicht so, dass man da etwas bekommen hat. Meine Fraktion weiß, dass das zergliederte Sozialsystem ein großes Problem darstellt, nicht nur für Menschen mit Behinderung. Wir alle haben hier gemeinsam 2001 mit dem Sozialgesetzbuch IX ein deutliches Zeichen gesetzt, um dieser Zergliederung zu begegnen. Man kann auch nicht pauschal die Leistungsträger verurteilen und sagen, sie sähen das alles nur unter Kostenaspekten. Sie haben natürlich auch die Pflicht, verantwortlich mit den Steuer- und Beitragsmitteln umzugehen. Das ist so. ({1}) In den letzten Jahren sind die Haushalte deutlich geschrumpft, gerade in den Kommunen. Da gibt es Probleme. Wir haben die Kostenexplosion in der Eingliederungshilfe. Hier wollen wir als SPD neue Wege gehen. Wir haben sie Ihnen vorgestellt. Wir haben in unserem Positionspapier zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, ein Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufzunehmen. Wir haben vorgeschlagen, zu prüfen, ob man die Leistung der Eingliederungshilfe als Leistungsbestandteil in das SGB IX aufnimmt. Wir haben den Gedanken „Leistungen aus einer Hand“ in unserem Positionspapier noch einmal deutlich festgeschrieben. Wir wollen natürlich auch ein Teilhabegeld. Wir können deutlich sehen, dass viele Schnittstellenprobleme auftreten, gerade im Bereich der Behindertenpolitik. Ich möchte ein Thema nur anreißen, und das ist die Frühförderung. Seit zehn Jahren existiert sie, und wir haben noch keine endgültige Lösung. Ich hoffe, dass das Rundschreiben von BMAS und BMG jetzt auch Früchte trägt und die Eltern endlich zu ihrer Komplexleistung, so wie im SGB IX festgeschrieben, kommen. Die Eltern warten darauf. Wir müssen die Verschiebebahnhöfe und die Kleinstaaterei der Träger beenden; wir müssen sie einfach aufheben. ({2}) Wir wollen klare Kompetenzen im SGB IX schaffen, die Rechte der Betroffenen stärken und in der Praxis konsequent umsetzen. Auch das haben wir in unserem Positionspapier deutlich gemacht. Das ist der richtige Weg; hier sind wir uns alle einig. Natürlich gibt es den Beratungsanspruch gegenüber den Leistungsträgern; das ist schon erwähnt worden. Aber es gibt Tausende von Beratungsstellen. Jede verfügt über ein bestimmtes Teilwissen. Die Menschen werden auch weiterhin von Pontius zu Pilatus geschickt. Wir wollten das mit unserem Konzept der Servicestellen ändern. Auch Ulla Schmidt hat das mit den Pflegestützpunkten deutlich gemacht. Die Akzeptanz der Beratungsstellen ist mitunter sehr gering. Sie werden in den Ländern auch sehr unterschiedlich bewertet. Die Menschen, besonders ältere Bürger und Bürgerinnen sowie Menschen mit Behinderung, brauchen eine trägerunabhängige und wohnortnahe Beratungsstelle. Sie brauchen, wie wir immer wieder einfordern, Beratung aus einer Hand. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD stimmt Ihnen zu: Beratung und Zugang zu Sozialleistungen müssen barrierefrei sein. Hier geht es nicht nur um den barrierefreien Zugang zu Behörden oder zu den Leistungsträgern, sondern auch um eine einfache und deutliche Verständigung. Es sind nicht nur die Gebärdensprache und der Bescheid in Brailleschrift gefragt. Es gibt 7,5 Millionen funktionale Analphabeten, die Sozialleistungen nicht erreichen können, weil sie es nicht verstehen und nicht begreifen. Das sind nicht wenige. Frau Schavan hat in diesem Zusammenhang schon mit einem Förderprogramm im Umfang von 20 Millionen Euro reagiert. Wir vergessen auch nicht, dass es im Sinne der UNBehindertenrechtskonvention verpflichtend ist, dass Menschen mit Lernbehinderung ihre Informationen in schriftlicher oder mündlicher Form in einfacher Sprache von der Behörde erhalten. Wir alle kennen den Ausdruck Behördendeutsch. Manchmal haben auch wir in unserer Bürgersprechstunde Probleme, einen Bescheid zu lesen; das wissen wir alle. Seitdem es den Rechtsanspruch auf das trägerübergreifende Persönliche Budget, seit 2008, gibt, ist besonders deutlich geworden: Wir haben das festgeschrieben, aber es läuft schleppend. Wir könnten hier Beispiele aufzählen. Wir wissen durchaus, dass dieses Budget blockiert wird. ({3}) Menschen müssen vor Gericht ziehen - und das täglich. Sie kämpfen. Die Bürger und Bürgerinnen werden immer noch so behandelt, als wären sie Bittsteller. Die meisten Budgets gibt es im Sozialhilfebereich. Hierzu muss man feststellen, dass die Kooperation der Träger untereinander nicht funktioniert und man hierfür einfach Gesetzesänderungen braucht. Silvia Schmidt ({4}) Das SGB IX sollte gerade hier neue Grundsätze definieren und trägerübergreifende Leistungen aus einer Hand überhaupt ermöglichen. Das ist nicht erreicht worden. Es gibt in diesem Land offenbar noch immer Sozialleistungsträger, die die gesetzlichen Vorgaben und vor allem den Willen dieses Hohen Hauses ignorieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gebe Ihnen recht: Ein einheitliches Planverfahren in allen Sozialgesetzbüchern ist sinnvoll. Das SGB IX bietet hierfür Orientierung. Der ehemalige Staatssekretär und Behindertenbeauftragte aus Rheinland-Pfalz, Richard Auernheimer, hat es einmal so zusammengefasst: Die Hilfeplanung ist out, das Denken muss sich an Teilhabe orientieren. … Das Von-oben-Herab … der alten Verwaltungspraxis hat seine Wurzeln in der öffentlichen Fürsorge. … Die … Sachbearbeiter brauchen Qualifizierung, um an die neue Praxis herangeführt zu werden. Der Hilfeempfänger soll nach SGB IX Teilhabeberechtigter sein. Der Paradigmenwechsel vollzieht sich in der Alltagsform. Der Teilhabeberechtigte muss in diesem Verfahren mit seinen Interessen beachtet werden. … Die Feststellung des Bedarfs an Unterstützung zur Teilhabe kann nicht eine Stelle allein treffen. Es müssen alle beteiligt werden, … Die Kostenträger haben Gewohnheiten entwickelt. Noch immer ist es für den Sachbearbeiter beruhigend, jemanden gut untergebracht zu wissen. Das neue Denken, gefordert in der Teilhabekonferenz, muss erst erlernt werden. Die Entscheidung darf im Teilhabeverfahren nicht übergestülpt werden. Es ist eine gemeinsame Suche nach der richtigen Entscheidung. Das heißt, dieses Planverfahren sollte für alle Sozialgesetzbücher gelten. Ich hoffe, wir werden im Ausschuss intensiv darüber diskutieren. Es ist der richtige Vorschlag. Wir haben ihn in unseren Positionspapieren und in anderen Anträgen bereits deutlich gemacht. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Heinz Golombeck hat nun das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Golombeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004042, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Politik ist vom Respekt vor den Bürgerrechten geprägt. Ziel ist es, diese Rechte so zu gestalten, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potenziale und Möglichkeiten in unserem sozialen Rechtsstaat nutzen können und für den Einzelnen neue Chancen eröffnet werden. Eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung stehen dabei im Mittelpunkt. Teilhabe zu ermöglichen, ist das Ziel unserer Sozialpolitik. ({0}) Wir sind auf einem guten Weg, all die Bürgerinnen und Bürger, die soziale Leistungen in Anspruch nehmen, in ihren Teilhabe- und Leistungsrechten zu stärken. Hervorheben möchte ich die Leistungsrechte für Menschen mit Behinderung. Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben ist eine umfassende Barrierefreiheit. Das Sozialgesetzbuch I sieht bereits in § 17 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 vor, dass der Zugang zu Sozialleistungen möglichst einfach zu gestalten ist und die Verwaltungs- und Dienstgebäude frei von Zugangs- und Kommunikationsbarrieren sein sollen. Art. 9 der UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen den Zugang zu Information und Kommunikation zu gewährleisten. Mit § 4 Behindertengleichstellungsgesetz wurde für den Bund ein umfassendes Verständnis von Barrierefreiheit entwickelt. Handlungsbedarf besteht sicherlich hinsichtlich einer Forderung aus dem hier vorliegenden Antrag, die sogenannte leichte Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten ausdrücklich als Anforderung an Barrierefreiheit zu definieren. ({1}) Um die sogenannte leichte Sprache ausdrücklich als Anforderung an Barrierefreiheit zu definieren, fehlt es jedoch noch an einer hinreichenden Festigung der Erkenntnis zu „leichter Sprache“. Daher wird eine konkrete Regelung in den Sozialgesetzbüchern zum jetzigen Zeitpunkt noch abgelehnt. Damit aber aus diesen Kommunikationsschwierigkeiten nicht ein Fehlverhalten resultiert, wurde Ende letzten Jahres eine neue Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung in Kraft gesetzt. Diese Verordnung hat die Regelung einer „leichten Sprache“ aufgenommen. Deren Umsetzung wird nach drei Jahren evaluiert. Damit unterstützen wir die Feststellung der UN-Behindertenrechtskonvention, dass die Herstellung von Barrierefreiheit ein dynamischer Prozess ist, der schrittweise und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu vollziehen ist. ({2}) Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt von allen Vertragsstaaten und auf allen Ebenen, die in ihr verankerten Rechte planmäßig in der Politik zu verfolgen. Viele Inhalte der Konvention haben wir, wie gerade aufgezeigt, schon durch Einzelgesetze geregelt. Die FDP hat sich jedoch seit jeher dafür eingesetzt, eine ausufernde Gesetzeslage, besonders in der Behindertenpolitik, zu lichten. Ziel der Leistungsgesetze für behinderte Menschen muss deshalb sein, bisher bestehende Regelungen weiter zusammenzufassen, zu vereinfachen und somit noch transparenter und zugänglicher zu machen. ({3}) Die Inanspruchnahme von sozialen Leistungen soll dabei auf die Bedürfnisse der anspruchsberechtigten Personen ausgerichtet sein. Einbeziehung statt Ausgrenzung ist sozialpolitisch dringend geboten. Eine zentrale Staatsaufgabe ist die Sicherung von Chancen- und Leistungsgerechtigkeit für alle Menschen. Allen Bürgern muss ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Handeln ermöglicht werden. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der eigentümlichste Moment in dieser Debatte war, als vor wenigen Minuten der Kollege Birkwald das Hohelied, die Hohe Messe von Freiheit und Würde zelebriert hat, ({0}) ganz so, als hätten es die Linken erfunden. ({1}) Man muss in solchen Momenten immer wieder sagen, meine Damen und Herren: Über der Partei der Linken liegt der lange Schatten des real existierenden Sozialismus, in dem Freiheit und Würde der Menschen mit Füßen getreten worden sind. ({2}) Ich wäre an Ihrer Stelle angesichts der vielen Opfer ein wenig demütiger, wenn ich über Freiheit und Würde spräche. ({3}) Wir reden über den Antrag der Grünen „Soziale Bürgerrechte garantieren - Rechtsposition der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen stärken“. Es handelt sich um einen sehr ausführlichen Antrag. ({4}) Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass es hier sehr differenzierte Positionen gibt. Ich denke da zum Beispiel an den Beitrag des Kollegen Wadephul oder den Beitrag der Kollegin Kramme. Ich will, weil wir die Diskussion natürlich auch im Ausschuss fortführen, an dieser Stelle nur eine erste Bewertung abgeben. Ich habe schon den Eindruck, dass wie bei vielen Anträgen der Grünen Licht und Schatten eng beieinanderliegen. Viele Stichpunkte der Grünen, etwa die in Ziffer 5 genannten, kann ich im Grundsatz unterstützen. Hier geht es um eine Stärkung der Selbstverwaltung der Sozialleistungsträger. Die Praxis der Friedenswahlen etwa so weit wie möglich zurückzudrängen, ist, so denke ich, ein gemeinsames Ziel. Das ist im Übrigen auch eine Forderung, die vom Bundesbeauftragten für die Sozialwahlen, Gerald Weiß, ganz klar unterstützt wird. Aber es kommt eben auf das Detail an. Deshalb lassen Sie uns den Schlussbericht des Bundeswahlbeauftragten zu den Sozialwahlen abwarten. Dieser Bericht wird eine Reihe von Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Sozialwahlrechts und der Selbstverwaltung beinhalten. Lassen Sie uns auf Grundlage dieses Berichtes über die Weiterentwicklung des Sozialwahlrechts debattieren. Ich bin auch nahe bei Ihnen, wenn es darum geht, Mittel zu finden, die Flut der Sozialgerichtsverfahren einzudämmen. Hier könnte die Idee eines Ombudsmannes bzw. einer Ombudsfrau durchaus hilfreich sein. Viele Verfahren könnten vermieden werden, wenn die Bescheide vernünftig erklärt würden. Hier steht unsere Fraktion schon seit einiger Zeit in engem Dialog mit dem Ministerium, um Modelle einer solchen vorgerichtlichen Streitklärung zu prüfen. Es muss übrigens nicht immer Geld kosten. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass in Hessen beispielsweise die Sozialbezirksvorsteher in eine solche Funktion mit eingebunden werden könnten. An anderer Stelle kann ich Ihnen nicht folgen. Das betrifft zum Beispiel die Fiktion der Klagerücknahme, die Sie ansprechen. Wenn jemand trotz Aufforderung des Gerichts eine Klage länger als drei Monate nicht betreibt, gilt sie als zurückgenommen. Sie stellen dieses Vorgehen infrage. Aber diese Regelung im sozialgerichtlichen Verfahren ist keine Orchidee in der Prozesslandschaft, sondern eine sachgerechte Antwort auf die Vielzahl der Prozesse. Wer seine Rechte ernsthaft verfolgt, schafft es innerhalb von drei Monaten, selbst oder durch einen Bevollmächtigten eine Prozesshandlung vorzunehmen. Auch das hat etwas mit unserem Verständnis vom Menschen zu tun. Im Übrigen lässt der Antrag der Grünen auch einen Blick auf das den Grünen zugrunde liegende Menschenbild oder zumindest auf ihre Unsicherheit mit dem Menschenbild zu. Ich will das anhand von drei Bereichen erläutern; vielleicht lohnt sich eine Diskussion darüber schon deshalb, wenn sie zur Klärung Ihrer eigenen Position beiträgt. Da ist zum einen das seltsame Oszillieren zwischen dem Leitbild eines selbstständigen und eines betreuten Menschen. Sehr häufig betonen Sie in Ihrem Antrag Partizipationsrechte; auch wollen Sie die Eigeninitiative der Menschen fördern. Das kommt unserem Menschenbild sehr nahe: Der Mensch ist mündig, vernunftbegabt und frei, über seine Bindungen selbst zu entscheiden. Er gestaltet sein Leben selbst. Gleichzeitig wollen Sie die Freiheit und Selbstverantwortung gewissermaßen risikofrei stellen. Die Belehrung über Rechtsfolgen beispielsweise soll grundsätzlich schriftlich erfolgen, auch wenn die Rechtsfolgen bekannt sind. Sie wollen die Präklusionsklausel einer Evaluation unterziehen, und auch hier spürt man die Absicht: Sie wollen damit die Tür für eine weitere staatliche Sicherungsleine für den betreuten Menschen öffnen. Dahinter steht: Wenn der Mensch nicht selbst das für sich Beste tut, muss es der Staat tun. Die Grünen trauen Menschen, die auf soziale Leistungen angewiesen sind, nicht zu, sich selbst aus dieser Situation zu befreien. Jeder Schritt muss vorgegeben werden. Das ist nicht das Verständnis der Union vom Menschen und vom gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ich will nicht unterstellen, Sie wollten die Menschen zwangsbeglücken. Doch ein wenig fällt diese Diskrepanz zwischen dem Leitbild des selbstständigen und dem des betreuten Menschen in Ihrem Antrag schon auf. ({5}) Wäre ich zynischer Marxist, würde ich sagen: Kein Wunder, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Schließlich lebt ein Großteil der Grünen auf die eine oder andere Weise von Staatsknete und kennt die Risiken eines selbstverantwortlichen Lebens etwa in freien Berufen nur aus Erzählungen anderer. ({6}) Es ist schon kuschelig unter der warmen Decke staatlicher Zuwendungen. ({7}) Dies, meine Damen und Herren, würde ich in der Tat nur dann sagen, wenn ich ein zynischer Marxist wäre. Ernster scheint mir bei Ihnen das ungeklärte Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten. Schon in anderen Debatten ist dies deutlich geworden; einiges wiederholt sich hier. Es betrifft vor allem die Regelungen des SGB II. Sie wollen die geltenden Sanktionsregelungen flexibilisieren, den Grundbedarf nicht mehr sanktionieren und ein Sanktionsmoratorium erlassen. Ich meine hingegen: Gerade in diesem Bereich gibt es nicht nur Rechte, sondern auch Mitwirkungspflichten. Wer gegen diese Pflichten verstößt, muss mit Sanktionen rechnen. Das sind wir schon alleine denjenigen schuldig, die die ganzen Leistungen finanzieren. Aber auch rechtstechnisch kann meines Erachtens ein Versäumnis, seine Pflichten zu erfüllen, durchaus als Verzicht auf Leistungen interpretiert werden. Herr Kurth, ich erkenne an, dass Sie nicht die umstandslose Abschaffung aller Sanktionen fordern, wie es eine andere Fraktion in diesem Haus tun. Mir scheint aber doch, dass gerade dann, wenn man von dem mündigen und selbstbestimmten Menschen ausgeht, das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten bei Ihnen noch der Feinjustierung bedarf. Mein letzter Punkt ist der von Ihnen hergestellte Zusammenhang zwischen Leistungsrechten und der Legitimation des sozialen Rechtsstaats. Ein wenig davon war in den vergangenen Monaten auch in der Debatte über die Neuberechnung des Arbeitslosengeldes II zu spüren. Wir hatten damals bestimmte anteilige Bestandteile aus den Grundbedürfnissen herausgerechnet, etwa Geld für Zigaretten und Alkohol, für einen Lieferservice für Essen oder für das Kabelfernsehen. ({8}) Sie haben das damals vehement kritisiert, ganz so, als sei der umstandslose Hedonismus Ihre Leitvorstellung für die erneute Integration in den Arbeitsmarkt. Wir hingegen meinen: Es ist Aufgabe des Staates, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Nach unserem Verständnis ist es die Aufgabe eines jeden Einzelnen, der dazu fähig und in der Lage ist, sein Leben so zu gestalten, dass er Zufriedenheit und Glück finden kann. ({9}) Die Legitimation unseres Gemeinwesens hängt sehr viel mehr davon ab, dass wir den Menschen diese Freiheit ermöglichen. Der Kern unserer politischen Ordnung und ihrer Legitimität ist die Tatsache, dass sie eine Freiheitsordnung ist, und nicht, dass sie möglichst viele und hohe Wohltaten verteilt. ({10}) Gerade dann, wenn wir dies tun, nehmen wir den Menschen als Subjekt ernst. Sie beklagen, dass der Staat den Menschen bisweilen zum bloßen Objekt mache. Das mag an der einen oder anderen Stelle, die Sie im Antrag aufgeführt haben und die auch in der Debatte zur Sprache kam, durchaus so sein. Aber noch viel mehr macht Ihr politischer Ansatz den Menschen zum Objekt, nämlich zum Experimentierfeld fürsorglicher staatlicher Belagerung, zum Projekt sozialstaatlicher Planung, zum betreuten Menschen eben. ({11}) Sie haben einen paternalistischen Zugang zur Sozialpolitik. Wir hingegen nehmen den Menschen als Subjekt und als selbstverantwortlichen und freien Menschen ernst und sehen sozialstaatliche Hilfe im Wesentlichen als Hilfe zur Selbsthilfe. Sie sehen den Staat als Selbstbedienungsladen für soziale Ansprüche. Wir sehen den Staat als Gemeinschaftsaufgabe, die alle finanzieren. ({12}) Sie interpretieren die Gesellschaft vom Rande her, also von den unterschiedlichen Interessengruppen her, wie es eine Klientelpartei nun einmal tut. Wir interpretieren die Gesellschaft aus der Mitte heraus und zur Mitte hin, wie dies Volksparteien - bei dem Plural zögere ich etwas gewöhnlich tun. Ihr Antrag gab Anlass, über diese Unterschiede einmal im Hohen Haus nachzudenken. Zumindest dafür darf ich mich bei Ihnen herzlich bedanken. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Gabriele Lösekrug-Möller für die SPDFraktion. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben eine ziemlich lange Debatte zu einem sehr ausführlichen Antrag der Grünen. Ich finde es richtig, dass wir in dieser Zeit über dieses wichtige Thema reden. Selbstverständlich wird auch in der Sozialdemokratie intensiv über dieses Themenfeld diskutiert. Wir sprechen über die zwölf Bücher, die das Sozialgesetzbuch insgesamt beinhaltet. Es gibt wirklich Grund, das eine oder andere in diesen Büchern auf den Prüfstand zu stellen. Das müssen wir kontinuierlich tun; denn wir wissen: Keines dieser zwölf Bücher ist in Stein gemeißelt. Am Anfang des SGB I werden die Aufgaben des Sozialgesetzbuchs beschrieben. In § 1 Abs. 1 heißt es, die Aufgabe sei, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen. Es stellt sich jetzt nicht mehr die Frage, ob wir uns das leisten können; denn wir haben diesen Anspruch, angefangen beim SGB I bis hin zum SGB XII, zu erfüllen. ({0}) Wenn ich den Antrag der Grünen genauer betrachte, dann muss ich sagen, dass sich die Ergebnisse Ihrer Fachkonferenz, die im Mai letzten Jahres stattgefunden hat, in Ihrem Antrag, über den wir jetzt im Plenum debattieren, niedergeschlagen haben. Das ist ein normaler Vorgang; das finde ich völlig in Ordnung. Es gibt aber einen Punkt in diesem Antrag, den ich beklage. Herr Kurth, da spreche ich Sie jetzt an, weil Sie in diese Debatte eingeführt haben. Sie malen ein meines Erachtens viel zu düsteres Bild. ({1}) Da sind Ihnen ein paar leuchtende Farben abhanden gekommen. Vielleicht standen sie Ihnen auch nicht zur Verfügung. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem umfangreichen Antrag noch einen Satz aufgenommen hätten, in dem gewürdigt wird, wie viele Vorgänge und wie viele Verfahren korrekt abgelaufen sind, wie viele Bescheide korrekt ergangen sind und wie groß die Anzahl der Beratungs- und Informationsgespräche war, die auf Augenhöhe stattgefunden haben. Auch das gehört zu unserem sozialen Rechtsstaat heute dazu. ({2}) Gleichwohl haben wir in diesem Haus öfter Anlass, zu streiten, weil etwas nicht so funktioniert, wie wir das aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven gerne hätten. Auch das haben wir heute erlebt. Wir haben Reden gehört, die eher den Gutmenschen in den Mittelpunkt gestellt haben. Andere Redner haben gesagt, dass all das, was man in einem sozialen Rechtsstaat organisieren will, der wichtigen Frage unterliegt, ob wir uns das leisten können. Ich möchte allen in diesem Haus sagen: Wir können stolz auf den sozialen Rechtsstaat sein, den wir weiter entwickeln wollen. Hier sind wir an Ihrer Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Wenn wir das unter dem Vorbehalt der Kassenlage machen, müssen wir uns fragen, ob wir dem eben zitierten Anspruch des § 1 Abs. 1 SGB I gerecht werden. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir Politik entwickeln müssen. Da stelle ich Folgendes fest: Wenn es Vorschläge gibt, unser Recht zu ändern, dann müssen wir uns fragen, ob die Probleme, mit denen viele Bürgerinnen und Bürger konfrontiert werden, wirklich aus der Rechtslage oder ob sie nicht viel häufiger aus der Umsetzung des Rechts resultieren. ({3}) Meines Erachtens ist das Zweite viel öfter der Fall. Meine Kollegin Silvia Schmidt hat das sehr deutlich gesagt. Auch Frau Kramme hat das in den Mittelpunkt ihrer Rede gestellt. Ich denke, was die unzureichende Umsetzung angeht, gibt es eine Menge zu tun. Meines Erachtens können wir hinsichtlich der Umsetzung vieler Vorschriften der Bücher des SGB besser werden als wir sind. Dazu brauchen wir die umsetzenden Behörden an unserer Seite. Wir brauchen selbstverständlich auch Behörden, die die Haltung einnehmen: Wir haben denjenigen gegenüber, die zu uns kommen und ihr gutes Recht in Anspruch nehmen wollen, eine Dienstleistung zu erbringen. - Manchmal, glaube ich, ist der Alltag in vielen Behörden ein anderer. Er wäre so nicht zu beschreiben. Deshalb sage ich: Bevor wir allen Forderungen, die Sie aufstellen, entsprechen, sollten wir zunächst einmal prüfen, wo wir Umsetzungsprobleme haben und wo Handlungsbedarf besteht, der rechtfertigt, dass wir unsere Gesetze ändern. Dies ist zum Teil angesprochen worden, auch von Frau Kramme. Im Blick auf das große Thema Inklusion haben wir eine Menge rechtlichen Änderungsbedarf, wenn wir ernst nehmen, wozu wir uns, das gesamte Haus, verpflichtet haben. Meines Erachtens haben wir in diesem Sinne sehr viel - ich benutze mit Absicht das Wort - zu liefern, weil Menschen erwarten, dass wir den vollmundigen Bekundungen jetzt auch Taten folgen lassen. Da meine Redezeit bald zu Ende ist, will ich einen Punkt ansprechen, der hier mehrfach genannt wurde. Es geht um die Frage: Wie gehen wir mit Bitten und Beschwerden um? Wir haben die Bestellung eines Ombudsmanns oder einer Ombudsfrau erörtert. Das ist sicher ein möglicher Weg. Wir haben schon heute Petitionen, in denen sich zahlreiche Bürger - Zigtausende kann man sagen - mit Beschwerden über die Umsetzung der SGB-Normen an den Bundestag wenden. Ich nenne eine Beschwerde, die deutlich macht, wo meines Erachtens ein großes Problem liegt. Uns hat eine Frau geschrieben, dass sie nicht versteht, warum Kinder aus Bedarfsgemeinschaften gegen Sanktionsandrohung zu Gruppengesprächen eingeladen werden, wenn sie kurz vor dem 15. Lebensjahr sind, weil sie sich beraten lassen müssen, wie es mit Bildung und Ausbildung weitergehen soll. Sie fragt: Warum steckt diese Pflicht dahinter? Die Kinder können nichts dafür, dass ich von meiner Hände Arbeit weder selbst leben noch meine Kinder finanzieren kann. - Das ist in der Tat diskriminierend. Es ist ein Beispiel für eine kleine Regelung, die vielleicht gut gemeint ist, aber schlecht umgesetzt wird. Wir haben eine Fülle solcher berechtigter Kritikpunkte. Wir haben jede Menge zu tun. Wir können den Antrag der Grünen zum Anlass nehmen, hier besser zu werden. Es wäre wunderbar, wenn bei der Debatte und dem Ringen um gute Lösungen nicht jene unter die Räder kommen, die hohe Erwartungen an uns als Gesetzgeber haben. Sie nehmen nämlich unseren sozialen Rechtsstaat ernst. Sie wollen, dass die Rechte, die sie haben, respektiert werden, und zwar sowohl vom Gesetzgeber als auch von den Behörden, die ihren Zuwendungsbescheid erteilen. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sebastian Blumenthal kommt jetzt zu Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kurth, Sie hatten vorhin versucht, sich mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als Vorkämpfer der individuellen Freiheit in Szene zu setzen. ({0}) Das nenne ich politische Kühnheit. Ihre programmatischen Leitlinien folgen gewöhnlich dem Dreiklang Restriktion, Regulierung und Verbote. ({1}) Das hat mit Freiheit wirklich wenig zu tun, dafür umso mehr mit Fremdbestimmung und Bevormundung. Ich wollte aber eigentlich etwas Lobendes zu Ihrem Antrag sagen, auch wenn dieser dazu offenkundig nicht viel Anlass bietet. Auf Seite 3 unter Punkt 5 Ihres Antrags haben Sie allerdings das Thema Sozialwahlen angesprochen und dort Reformbedarf angemeldet. Das ist ein Punkt, der uns inhaltlich verbindet und den ich einmal konstruktiv aus Sicht der FDP-Fraktion darstellen möchte. Ich selbst bin Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung und habe mich an den letzten Sozialwahlen beteiligt. Dabei habe ich mich, genau wie viele andere Versicherte, darüber geärgert, dass das ganze Verfahren mehr als 40 Millionen Euro gekostet hat, wie man in der Bilanz zur Kenntnis nehmen musste. Dabei konnte eine Wahlbeteiligung von gerade einmal 30 Prozent verzeichnet werden. Gründe hierfür gibt es sicher viele. Zum einen ist für viele nur schwer nachvollziehbar, was die gewählten Gremienmitglieder eigentlich zu entscheiden haben. Zum anderen ist es genauso schwer, die verschiedenen Positionen der Kandidaten inhaltlich zu prüfen, um sich selbst eine Meinung für die Wahlentscheidung bilden zu können. Erschwerend kommt ferner hinzu, dass die allermeisten Wahlen sogenannte Friedenswahlen sind; das heißt, die Vorschlagslisten sind nicht nur schon vorab ausgehandelt, sondern die Kandidaten sind im Grunde damit bereits gewählt. Mit einer wirklichen Wahl hat das nicht viel zu tun. Von insgesamt 10 000 Mandaten in den Gremien werden letztlich nicht einmal 200 Mandate über die Stimmenabgabe vergeben. Insofern gibt es bei den Sozialwahlen zu wenig Transparenz; auch das Kriterium einer echten Auswahlmöglichkeit ist nicht komplett erfüllt. Mein Kollege Johannes Vogel hat dazu im Rahmen der letzten Sozialwahlen ein sehr gutes Statement abgegeben, das ich gerne wiederhole: Wir brauchen einen echten Wettbewerb zwischen mehreren Kandidaten; und es muss klar sein, wie die Vereinigungen ihre Kandidaten auswählen. - Wohl wahr! Den Kollegen Vogel kann man gar nicht oft genug zitieren. In diesem Fall mache ich es ganz besonders gerne. ({2}) Angesichts dieser Situation sehen wir, dass auf jeden Fall noch Reformbedarf besteht. Diesen Punkt - einer der wenigen positiven - haben Sie in Ihrem Antrag erfreulicherweise herausgestellt. Der Kollege von der Union hatte vorhin bereits dargestellt, dass es hierzu Reformvorschläge geben wird. Den Antrag kann man in diesem Punkt zur Grundlage nehmen, hier gestalterisch mitzuwirken. Wir werden seitens der FDP-Fraktion eigene Vorschläge und Beiträge einbringen. Insofern freue ich mich auf die weiteren Beratungen im parlamentarischen Verfahren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde von den Grünen, ({0}) mit Ihrem Antrag „Soziale Bürgerrechte garantieren Rechtsposition der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen stärken“ und Ihrer damit verbundenen Forderung nach einer Stärkung der Verfahrens-, Leistungsund Partizipationsrechte der Nutzer sozialer Leistungen glänzen Sie einmal mehr mit einem weder zielführenden noch notwendigen Antrag. Lieber Kollege Kurth, es wurde bereits einiges ausgeführt. Hätten Sie sich in Ihrem Antrag auf die Ziffer II.16 beschränkt, dann hätten wir dem Antrag noch einiges Positive abgewinnen können. Alles andere indiziert aber offensichtlich, dass Sie mit Ihrem Antrag so tun, als ob Sie jetzt soziale Beteiligungsrechte einführen wollen, die es noch nicht gibt. Von Frau Kollegin Lösekrug-Möller wurde bereits § 1 des SGB I zitiert. Die Juristen unter uns wissen, dass das SGB I quasi die Klammer sämtlicher Sozialgesetze darstellt. Die Vorschriften im SGB I gelten für alle Sozialgesetze. Im SGB I ist unter anderem der Beratungsanspruch in § 14 geregelt, und in § 15 ist der Auskunftsanspruch normiert. Ich darf mit Erlaubnis der geschätzten Frau Präsidentin zitieren: ({1}) Die nach Landesrecht zuständigen Stellen, die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung sind verpflichtet, über alle sozialen Angelegenheiten nach diesem Gesetzbuch Auskünfte zu erteilen. ({2}) Die Auskunftspflicht erstreckt sich auf die Benennung der für die Sozialleistungen zuständigen Leistungsträger sowie auf alle Sach- und Rechtsfragen, die für die Auskunftsuchenden von Bedeutung sein können und zu deren Beantwortung die Auskunftsstelle imstande ist. ({3}) Die Auskunftsstellen sind verpflichtet, untereinander - auch da tun Sie so, als ob ein Kleinkrieg zwischen den jeweiligen Sozialleistungsträgern herrschte und mit den anderen Leistungsträgern mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, eine möglichst umfassende Auskunftserteilung durch eine Stelle sicherzustellen. Sie müssten einfach einmal ins Gesetz schauen. Ein Blick ins Gesetz erleichtert das Verständnis des bestehenden Rechts. ({4}) In § 17 ist die Ausführung der Sozialleistungen normiert. Hier ist unter anderem bestimmt: ({5}) Die Leistungsträger sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß … 3. der Zugang zu den Sozialleistungen möglichst einfach gestaltet wird, insbesondere durch Verwendung allgemein verständlicher Antragsvordrucke und - wir diskutieren über Formulare; die Frage der „leichten Sprache“ wurde bereits von den Vorrednern thematisiert 4. ihre Verwaltungs- und Dienstgebäude frei von Zugangs- und Kommunikationsbarrieren sind und Sozialleistungen in barrierefreien Räumen und Anlagen ausgeführt werden. All dies steht bereits im Gesetz, Herr Kurth; dazu brauchen wir Ihren Antrag nicht. ({6}) - Es nützt aber nichts, eben schnell ein neues Gesetz zu machen. Dann lassen Sie uns an den Stellen auf Ände- rungen hinwirken, an denen nichts geregelt ist. Ich teile da die Auffassung der meisten Vorredner. Sie haben bei den bisherigen Wortbeiträgen feststellen können, dass der Antrag mit großer Wahrscheinlichkeit keine Aus- sicht auf Erfolg hat, weil sich fast alle Redner - mit Aus- nahme der Kollegen von der Linken - skeptisch zu Ihrem Antrag äußern. Sie tun so, als ob es hier um ein Massenphänomen ginge. Ja, es gibt Missstände; die Vorredner haben darauf hingewiesen. Auf Einzelfälle müssen wir eingehen. Aber es ist schon sehr weit hergeholt, hier pauschal zu sagen, die Sozialstaatlichkeit in Deutschland sei noch nicht um- gesetzt. Ihrer Ansicht nach sollen die Effektivität, die Ef- fizienz sowie die Legitimationsbasis des sozialen Rechtsstaats gesteigert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie verkennen jedoch schlichtweg, dass, wie ich bereits ausgeführt habe, die meisten der von Ihnen geforderten Maßnahmen weder zielführend noch notwendig sind. Unsere sozialen Sicherungssysteme gehören - auch darauf wurde von den Vorrednern bereits hingewiesen - zu den leistungsfähigsten der ganzen Welt und bieten den Menschen einen verlässlichen Schutz, wenn sie in Not geraten. Nennen Sie mir ein Land der Welt, das sich nicht bemühen würde, ein vergleichbares soziales Siche- rungssystem, wie es in Deutschland besteht, zu installie- ren, wenn es finanziell machbar wäre! Das Recht des Sozialgesetzbuchs trägt durch Sozialleistungen zur Ver- wirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicher- heit bei und gestaltet sie zudem durch soziale und erzie- herische Hilfen mit. Vorhin wurde hier, ebenso im Antrag, die Befürch- tung einer Abschaffung der Sozialgerichte geäußert. Das war bereits in der letzten Legislaturperiode ein Thema. Aufgrund der Spezifität der Sozialgerichtsbarkeit macht es Sinn - darauf wurde bereits hingewiesen -, sie nicht unter die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu subsumieren, sondern sie als eigenständigen Gerichtszweig zu erhal- ten. Ich gehe davon aus, dass es auch in Zukunft dabei bleiben wird. Ich kenne zumindest zum aktuellen Zeit- punkt keine diesbezügliche Diskussion. Es besteht keine Notwendigkeit, die Leute, auch die Beschäftigten und Mitarbeiter im Sozialgerichtsbereich, zu verunsichern; denn eine solche Diskussion wird nicht geführt. Im Übrigen hat bereits heute nach dem Sozialgesetz- buch jeder einen umfassenden Anspruch auf Beratung; dieser wird durch weitere Formulierungen zu den Bera- tungsangeboten in den jeweiligen Sozialgesetzbüchern konkretisiert. Ich habe bereits auf § 16 SGB I hingewie- sen. Darüber hinaus möchte ich kurz den Pflegebera- tungsanspruch nach § 7 a SGB IX ansprechen - die Pfle- gestützpunkte wurden von Vorrednern angesprochen; bei uns in Würzburg wurde der Pflegestützpunkt im Dezem- ber 2011 offiziell in Betrieb genommen -, ebenso die Sicherung der Beratung behinderter Menschen nach § 61 SGB IX - die gemeinsamen Servicestellen wurden hier bereits thematisiert -, die Beratung und Unterstützung nach § 11 SGB XII und § 22 SGB IX und die Beratung nach §§ 29 bis 34 SGB III. Sie sehen, meine Damen und Herren, dass folglich mitnichten von einem Mangel an Beratungsansprüchen gegenüber den Leistungsträgern gesprochen werden kann. Des Weiteren gewährt Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz den Bürgerinnen und Bürgern das Grundrecht auf effek- tiven Rechtsschutz durch die unabhängigen Gerichte und damit die Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber der öffentlichen Verwaltung. Die soziale Sicherung und der Rechtsschutz durch die Sozialge- richtsbarkeit gehen Hand in Hand. Die Sozialgerichts- barkeit stellt sicher, dass jeder seine sozialrechtlichen Ansprüche notfalls gerichtlich überprüfen und durchset- zen lassen kann. Für Versicherte, Leistungsempfänger und Behinderte ist das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit kostenfrei und bleibt es auch. Jedoch sehen sich gerade die Träger der Sozialleistun- gen nach SGB II, SGB III und SGB XII einer Flut von Klagen und Widersprüchen ausgesetzt. Kollege Linnemann hat bereits darauf hingewiesen, dass die Zahl der Widersprüche im letzten Jahr etwas gesunken ist. Im vorhin erwähnten Teilabschnitt Ihres Antrages haben Sie die Ombudsstellen angesprochen. Hierzu darf ich ver- sichern: Aufgrund der Komplexität der Materie des SGB II, übrigens auch des Bildungs- und Teilhabepake- tes, macht es sicherlich Sinn, mögliche Kommunika- tionsirritationen zwischen dem Betroffenen und dem Fallmanager im Jobcenter in einem Vorklärungsverfah- ren auszuräumen. Es gibt in § 380 StPO ein vergleichbares Instrument, das sogenannte Sühneversuchsverfahren. Es muss bei kleineren Delikten vorgeschaltet werden, wenn beide Kontrahenten den Wohnort in derselben Gemeinde ha- ben. Bereits hier kann man eine Vielzahl der ansonsten erforderlichen Strafanzeigen im Vorfeld abhandeln. Wir können also überlegen, ob es Sinn macht, in den Jobcen- tern eine Vorklärungsstelle einzurichten - man könnte einen Ombudsmann heranziehen oder nach dem soge- nannten Pirmasenser Modell verfahren -, um a) die Be- scheide zu erklären - oft genug gibt es Verständnispro- bleme, die man auf schriftlichem Wege nicht einfach so ausräumen kann - und um b) mögliche Kommunikationsschwierigkeiten, die gelegentlich zwischen den Betroffenen und den Fallmanagern bestehen, in einem kleinen Gremium auszuräumen. So kann geklärt werden, ob möglicherweise ein Fehler passiert ist. Ich teile Ihre Auffassung, dass es nicht sein kann, dass ein Großteil der Sozialgerichtsbarkeit durch SGB-II-Klagen, die zum großen Teil sogar zum Erfolg führen, belagert wird. Als Gesprächspartner haben Sie mich da ganz auf Ihrer Seite. Alles andere, Herr Kurth, können wir leider nicht mittragen. Der Antrag ist in Teilen gut gemeint, aber insgesamt viel zu pessimistisch; ich teile die Auffassung von Frau Kollegin Lösekrug-Möller. Sie haben die bunten Farben in Ihrem Antrag vergessen. Deutschland ist keine Republik, in der schwarz in schwarz Sozialpolitik betrieben wird. Das ist gut so, und das bleibt bei dieser Koalition auch so. Herzlichen Dank. ({7}) - Rot-rote Farbe brauchen wir nicht. (Matthias W. Birkwald ({8}): Fahren

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kom- men Sie mal in den Osten!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Paul Lehrieder. - Er war der letzte Redner in unserer Debatte. Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7032 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- verstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist dies so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis c, e bis k und 12 b sowie den Zusatzpunkt 5 a und b auf: 27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln, des Gesetzes über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen sowie des Luftverkehrsgesetzes - Drucksache 17/8234 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes - Drucksache 17/8235

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Finanzausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung - Drucksache 17/8236 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tourismus als Chance für die Einhaltung der Menschenrechte nutzen - Drucksache 17/8347 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung reduzieren - Drucksache 17/8348 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) Ausschuss für Gesundheit g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Sahra Wagenknecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Duisburger Hafen AG in öffentlichem Eigentum erhalten - Drucksache 17/8349 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Volker Beck ({5}), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Transparenz im Rohstoffsektor - EU-Vorschläge umfassend umsetzen - Drucksache 17/8354 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({6}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Roth ({7}), Tabea Rößner, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sofortprogramm zur Ausweitung des barrierefreien Filmangebots auflegen - Drucksache 17/8355 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({8}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss j) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({10}) Chancen und Herausforderungen neuer Energiepflanzen - Drucksache 17/3891 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union k) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({12}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({13}) Innovationsreport Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Hinblick auf die EU-Beihilfepolitik am Beispiel der Nanoelektronik - Drucksache 17/4982 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsident Eduard Oswald 12 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Deutschen Qualifikationsrahmen zum Erfolg führen - Gleichwertigkeit von Abitur und Berufsabschlüssen sicherstellen - Drucksache 17/8352 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({15}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 5 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 17/8350 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({16}) Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sigmar Gabriel, Ute Vogt, Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rückholung der Atommüllfässer aus der Asse II beschleunigen - Drucksache 17/8351 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a und b sowie die den Zusatzpunkt 6 a bis c auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprachen vorgesehen sind. Tagesordnungspunkt 28 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Mai 2011 zur Änderung des Abkommens vom 3. Mai 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/7917 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({17}) - Drucksache 17/8204 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({18}) Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8204, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7917 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Tagesordnungspunkt 28 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19}) zu dem Grünbuch Überarbeitung der Richtlinie über Berufsqualifikationen KOM({20}) 367 endg.; Ratsdok. 12111/11 - Drucksachen 17/6985 Nr. A.31, 17/8181 Berichterstattung: Abgeordnete Nadine Schön ({21}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8181, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Keine. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zusatzpunkt 6 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({22}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 9/11 - Drucksache 17/8361 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, zum Streitverfahren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Frank Schorkopf als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zusatzpunkt 6 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({23}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvF 3/11 - Drucksache 17/8362 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Streitverfahren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Bernd Vizepräsident Eduard Oswald Grzeszick als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zusatzpunkt 6 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({24}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2670/11 - Drucksache 17/8363 Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Streitverfahren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Frank Schorkopf als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/ Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Solidarität von LINKEN-Abgeordneten mit dem syrischen Präsidenten Assad Erster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Andreas Schockenhoff. Bitte schön, Kollege Dr. Andreas Schockenhoff. ({25})

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beobachten weiter mit großer Sorge die Entwicklungen in Syrien. Präsident Assad führt einen brutalen Unterdrückungskrieg gegen das syrische Volk. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind bisher mindestens 5 000 Menschen von den Schergen Assads getötet worden. Zehntausende wurden in Gefängnisse geworfen und gefoltert. Die CDU/CSU steht an der Seite des unterdrückten syrischen Volkes. Das Assad-Regime ist in der arabischen Welt bereits isoliert. Die Mitgliedschaft in der Arabischen Liga wurde suspendiert, Sanktionen wurden verhängt. Nun muss endlich die Weltgemeinschaft handeln. Im UN-Sicherheitsrat setzt sich Deutschland seit Beginn des Aufstands in Syrien mit Nachdruck dafür ein, das Töten des Assad-Regimes zu stoppen. Leider ist man bislang am Veto Chinas und Russlands gescheitert. Wir appellieren an Moskau und Peking, endlich eine entsprechende Resolution zu unterstützen. ({0}) Ich sage aber auch in aller Klarheit: Es ist in diesem Zusammenhang nicht hinnehmbar, dass Russland weiter Waffen an das syrische Regime liefert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das syrische Volk zeigt uns nun seit fast einem Jahr mit übermenschlichem Mut, dass es keine Unterdrückung mehr will. Die Linke aber steht nicht auf der Seite der Freiheit für das syrische Volk. ({1}) Stattdessen beten Sie ({2}) nur die Propaganda Assads nach, die von einer Verschwörung ausländischer Kräfte redet. ({3}) Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass das syrische Volk sehr wohl seine politische und gesellschaftliche Ordnung selbst bestimmen will, und die hat nichts mehr mit dem Diktator Assad, sondern mit Freiheit und Demokratie zu tun. Ihre Solidarität mit dem Mörder-Regime ({4}) ist Ihnen offensichtlich wichtiger, und das ist menschenverachtend. ({5}) Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass es keineswegs der Westen ist, der ein militärisches Eingreifen fordert; der NATO-Generalsekretär hat dies bereits vor Monaten ausgeschlossen. Vielmehr sind es führende Stimmen aus der syrischen Opposition, die dies fordern, ebenso wie zuletzt hochrangige Vertreter der Arabischen Liga. Sie nehmen auch nicht zur Kenntnis, dass die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte in ihrem Bericht von Ende November eindeutig Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien festgestellt hat. Sonst schwadroniert die Linke gerne darüber, dass mit militärischen Interventionen angeblich Rohstoffinteressen gesichert werden sollen. ({6}) Die Sanktionspolitik sowohl gegen Syrien als auch gegen den Iran will doch die Ölausfuhren unterbinden, um die Regime zum Einlenken zu bewegen. ({7}) Dies geschieht, auch wenn es für einige Länder in der EU schmerzhaft ist. Einen besseren Beweis dafür, dass es uns um die Freiheit der Menschen geht, gibt es nicht. Die Tatsachen blenden Sie aber lieber aus, weil sie nicht in Ihre abstrusen Verschwörungstheorien passen. Es ist noch schlimmer: Erneut beweist die Linke, dass sie nichts aus unserer Geschichte gelernt hat. Sie machen sich wieder einmal gemein mit Diktatoren, die den Weltfrieden gefährden. ({8}) Über die brutale Unterdrückung der darunter leidenden Völker sehen Sie hinweg. Ja, ich kann Ihnen das nicht ersparen: Sie billigen einen Schießbefehl auf Zivilisten ({9}) wie Sie es aus Ihrer eigenen Geschichte gut kennen -, den laut Berichten von Human Rights Watch syrische Sicherheitskräfte auf explizite Anweisung des Regimes erhalten haben. Das ist die Wahrheit. ({10}) Sie leugnen, dass der Iran mit seinem Atomprogramm Nuklearwaffen produzieren will. Herr van Aken - ich darf nicht darüber reden, was Sie im Auswärtigen Ausschuss gesagt haben; aber Sie haben das auch außerhalb dieses Ausschusses immer wieder gesagt -, Sie leugnen die Berichte der IAEO über das Nuklearprogramm des Iran. Sie leugnen, dass der Iran der Auslöschung Israels das Wort redet. Herr Gehrcke, Sie haben das wiederholt getan. Dies ist vor dem Hintergrund der antisemitischen Geisteshaltung mancher in Ihrer Fraktion für uns nicht weiter verwunderlich. Es ist - das bleibt leider festzuhalten - erschreckend, dass die Linke nichts, aber rein gar nichts aus unserer Geschichte gelernt hat. Vielen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Günter Gloser. Bitte schön, Kollege Günter Gloser. ({0})

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist Syrien ein wichtiges Thema; deshalb steht es in diesem Parlament morgen auf der Tagesordnung. ({0}) Ich habe nicht geglaubt, dass wir eine Aktuelle Stunde zu einem solchen Thema brauchen. Ich muss sagen: Welch ein Zynismus, welch eine Geschichtsklitterung! Als ich durch Presseberichte von dem Aufruf erfuhr, über den wir hier heute diskutieren, war ich erschüttert, und ich bin es immer noch. Was besagt dieser Text, der von sechs Mitgliedern der Bundestagsfraktion der Linken unterzeichnet worden ist? Der Aufstand der Menschen in Libyen gegen die blutige Gewalt des jahrzehntelang herrschenden Tyrannen Muammar alGaddafi wird darin als bloßer Angriffskrieg der USA und der NATO dargestellt. Ist es an Ihnen vorbeigegangen, dass es für den Einsatz in Libyen ein UN-Mandat unter Billigung von China und Russland gab, außerdem die Zustimmung der Arabischen Liga, um die menschenverachtenden Angriffe des libyschen Regimes auf die eigene Bevölkerung zu stoppen? Die Embargomaßnahmen gegen Syrien und den Iran werden in einen Topf geworfen und nach demselben Schema als bloße Angriffsvorbereitung durch die USA, die NATO und Israel gewertet. Sarkastisch merke ich an: natürlich auch durch Israel. Kann es denn in den Augen solcher Autoren eine Weltverschwörung ohne Israel geben? Natürlich nicht. ({1}) Noch schlimmer wiegt: In den letzten Wochen und Monaten gab es in Syrien mehr als 5 000 Tote, noch mehr Verletzte und Zehntausende Verhaftete. Was ist die Reaktion der sechs Abgeordneten der Linken darauf? Sie unterschreiben diesen makabren Aufruf und verschweigen im Fall Syrien - wie im Fall Libyen - den Volksaufstand, der vor den Augen der Welt der blutigen Gewalt des syrischen Staates trotzt. Wer hat denn einen Angriff gestartet? Die NATO, die USA, die EU? Es war Präsident Assad, der einen Angriff auf seine eigene Bevölkerung begonnen hat. ({2}) Haben Sie jemals gelesen, was die Sicherheitskräfte Kindern und Jugendlichen in der Stadt Daraa im Süden des Landes angetan haben? Ist Ihnen bewusst, dass die Rebellion der Syrerinnen und Syrer trotz aller Gewalt schon zehn Monate andauert? Das sind die Tatsachen, die Sie ignorieren. Nichts, aber auch gar nichts ist zu sehen von den durch Sie ins Spiel gebrachten kriegslüsternen Imperialisten. Wo sind denn Ihre Verschwörer? Noch ein Wort zum Iran. Es steht für mich außer Frage, dass wir alle friedlichen Mittel einsetzen müssen, um den Iran daran zu hindern, eine Atombombe zu bauen. Darin sind sich übrigens Deutschland, die EU und die USA mit Russland und China völlig einig. Nur Abgeordnete der Linken scheinen Despoten wie Herrn Ahmadinedschad und Herrn Assad eher zu unterstützen ({3}) als Menschen, die sich gegen diese Despoten erheben. Ich merke an: Ich habe linke Politik eigentlich immer etwas anders verstanden. ({4}) Ich weiß - ich sage das ganz offen -, dass es in Ihrer Fraktion auch viele andere Stimmen gibt; ich will jetzt nicht einzelne nennen. Ich finde - das haben auch Sie zu Beginn der arabischen Rebellion angesprochen -, dass es zu Recht um die Würde der Menschen geht. ({5}) Das sage ich ganz bewusst und auch selbstkritisch. Ich frage mich, was Sie in diesem Bereich gemacht haben. Wo ist eigentlich die Fraktionsführung, wo ist eigentlich die Parteiführung, die einem solchen Unsinn widerspricht, meine sehr verehrten Damen und Herren? ({6}) Es bleibt dabei: Das ist ein Zeugnis des blanken Zynismus gegenüber den Opfern, gegenüber einem großen Teil der syrischen Bevölkerung ({7}) und gegenüber der Weltgemeinschaft, die sich unter großen Schwierigkeiten bemüht, im Hinblick auf zwei sehr komplexe, aber auch sehr drängende Krisenherde eine Lösung zu finden, eine Lösung, die die Gewalt beendet, ohne neue Gewalt zu provozieren, die den Menschen zu Hilfe kommt, ohne neues Leid zu erzeugen, und die auch eine Einigung mit Mächten wie Russland und China sucht, um Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, nicht zu wiederholen. Dieser Politik bleiben wir Sozialdemokraten verpflichtet. Wir werden uns auch weiterhin laut und deutlich von denen abgrenzen, die den Menschen in Not durch irrwitzige Verschwörungstheorien Hohn sprechen und den Blick auf die notwendigen Lösungen im Rahmen der internationalen Organisationen und des internationalen Rechts versperren. Vielen Dank. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Birgit Homburger. Bitte schön, Kollegin Birgit Homburger. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Syrien gibt Anlass zur Besorgnis. Seit Syrien am 19. Dezember des letzten Jahres das Protokoll der Beobachtermission der Arabischen Liga unterschrieben hat, geht die Gewalt weiter. Die Militäroperationen gehen weiter, und Verhaftungen und Hausdurchsuchungen finden unvermindert statt. Seit dem Eintreffen der Beobachtermission der Arabischen Liga sind über 400 Zivilisten getötet worden. Trotz der Beobachtermission finden weiterhin militärische Operationen und landesweite Verhaftungen statt. Trotz dieser Repressionen trauen sich die Menschen auf die Straße und demonstrieren. Allein in der Zeit vom 5. bis 7. Januar 2012 hat es landesweit 339 Demonstrationen gegeben, und seither hat dies unvermindert angehalten. Die Menschen in Syrien sind offenbar fest entschlossen, Menschenrechte und Demokratie einzufordern und sich nicht weiter vom Regime unterdrücken zu lassen. Dabei haben sie unsere Unterstützung. ({0}) Seit dem letzten September gibt es den Syrischen Nationalrat, der eine politische Plattform für die Inlandsund die Auslandsopposition bietet. Bundesaußenminister Westerwelle hat im November letzten Jahres in Brüssel dessen Vorsitzenden empfangen und damit ein klares Signal des Beistands an die syrische Opposition gesendet. Ich bin dankbar für diese klare Haltung des Bundesaußenministers, der Bundesregierung und der Europäischen Union. Ich finde, die Haltung der Linken ist beschämend. ({1}) Ende November 2011 hat die Arabische Liga erstmals Sanktionen gegen eines ihrer Mitgliedsländer verhängt. Am 1. Dezember 2011 wurden vom EU-Außenministerrat weitere Sanktionen verhängt und bestehende damit verschärft. Am 19. Dezember 2011 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution verabschiedet, die die fortgesetzten schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen in Syrien verurteilt. Wir wünschen uns, dass es eine glasklare Stellungnahme der Vereinten Nationen gibt. Diese gibt es bisher nicht. Aber ich finde, dass die Weltgemeinschaft die Lage in Syrien so eindeutig wie selten beurteilt. So wurde die entsprechende UN-Resolution mit 133 Stimmen bei nur 11 Gegenstimmen und weiteren Enthaltungen - leider haben sich auch China und Russland enthalten - angenommen. Vor diesem Hintergrund tauchte der Aufruf, den Sie von den Linken unterzeichnet haben, auf. Die Solidarisierung mit einem Regime, ({2}) das ohne Einsicht mit Brutalität gegen das eigene Volk vorgeht, ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen in Syrien, die für Menschenrechte und gegen Unterdrückung auf die Straße gehen. ({3}) Sie werfen in Ihrem Aufruf den USA und der NATO vor, Krieg gegen Libyen geführt zu haben, um das Land zu kolonialisieren und seinen Reichtum auszuplündern. Aus dem gleichen Grunde werde jetzt, so der Aufruf, von der westlichen Welt inklusive Deutschland ein Krieg gegen Syrien und den Iran vorbereitet. Das ist an Realitätsverweigerung nicht mehr zu überbieten. Selten haben so viele Länder der Welt gemeinsam die Lage in einem Land so eindeutig kritisiert und gleichzeitig mit Klarheit und Augenmaß reagiert. ({4}) Es geht eben nicht um militärische Intervention, sondern um die Unterstützung eines demokratischen Transformationsprozesses. ({5}) Wir stehen an der Seite des syrischen Volkes. Diejenigen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um Menschenrechte einzufordern, haben unsere Solidarität und Unterstützung. ({6}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich will Ihnen sagen: Sie können Ihr Programm getrost bereinigen und alle Stellen streichen, an denen Sie je über Menschenrechte gesprochen haben. Wer sich so dreist an die Seite eines solchen Regimes stellt, hat jegliche Berechtigung, sich über Menschenrechte zu äußern, verloren. ({7}) Und kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument, es sei kein Beschluss. Vier Ihrer führenden Kollegen, die für Sie die internationale Politik verantworten, haben daran mitgewirkt. Alle sind nach wie vor in ihren Ämtern. Das heißt, die Linke unterstützt diesen Aufruf komplett. Ich muss Ihnen sagen: Die Verschwörungstheorien, die Sie hier verbreiten, sind nicht nachvollziehbar. Es sind syrische Panzer, die im ganzen Land rollen. Sie von den Linken agieren deshalb nicht nur politisch blind, ideologisch und ignorant, sondern Sie machen sich mit Ihrem Verhalten auch zu Mittätern. ({8}) Wer den von Ihnen unterzeichneten Aufruf liest, der sieht, dass das eine ideologisch begründete Verdrehung der Realitäten ist. Sie ignorieren den Tod von mehr als 5 000 Zivilisten in einem Jahr. Sie behaupten in Ihrem Aufruf, dass es dem syrischen Volk unter diesem Regime möglich ist, die politische und gesellschaftliche Ordnung des Landes allein und souverän zu gestalten. Aber wer verhindert denn die politische Partizipation des syrischen Volkes? Es sind genau diejenigen, mit denen Sie sich solidarisieren. Bei einem Regime, das schon heute ankündigt, den Bericht der Beobachtermission der Arabischen Liga, der übrigens heute vorgelegt und abgegeben werden soll, nicht anzuerkennen, ist eine klare Haltung der internationalen Gemeinschaft notwendig. Wir werden gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft und vor allem in enger Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga weiter an der Seite des syrischen Volkes stehen. Wir fordern Russland und China auf, ihre Haltung zu überdenken und den Weg für eine gemeinsame Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen freizumachen. Wir wollen, dass das Blutvergießen ein Ende hat, und wir fordern den syrischen Präsidenten Assad dazu auf, Reformen zuzulassen und sein Land nicht in einen Bürgerkrieg zu manövrieren. Vielen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Ulrich Maurer. Bitte schön, Kollege Ulrich Maurer. ({0})

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe gelernt, dass es im Parlament erlaubt ist, zu lügen. Das haben Sie ausgiebig getan. ({0}) Was ich hier gehört habe, waren viele Lügen und viele Verleumdungen. ({1}) - Ich werde Ihnen das jetzt belegen. - Wenn jemand seit Jahren an der Seite des syrischen Widerstands gegen Assad steht, dann sind es die Linken in Deutschland. Sie nicht! ({2}) Sie haben eine lange Tradition der Kollaboration mit dem Regime Assad. ({3}) Es war nicht gut, dass in diesem Aufruf, den sechs von uns unterzeichnet haben, die Brutalität des Regimes nicht angesprochen wurde. Ich zitiere hier aus einer Erklärung der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW: Keiner der Unterzeichner des Aufrufs verteidigt die brutale Gewalt des syrischen Präsidenten gegen sein eigenes Volk. Ziel des Aufrufs ist allein, vor der drohenden Kriegsgefahr für die Bürger in Syrien und im Iran durch eine Eskalation der Konflikte aufgrund der Embargopolitik und permanenter Kriegsdrohungen zu warnen. ({4}) - Ja, Sie lesen auch viel ab; aber ich lese wenigstens wahrheitsgemäß ab. ({5}) Diese internationale Ärzteorganisation hat den Vorwurf also zurückgewiesen. Ich sage es noch einmal: Es war nicht gut, dass in dem Aufruf, den sechs von uns unterschrieben haben, nichts von der Brutalität des Regimes stand. Aber jetzt kommen wir zur Wahrheit und zum Kern des Problems. Ich zitiere Frau Kollegin Steinbach aus Ihren Reihen, die in der Rheinischen Post sagte: Wenn am Ende überall der islamische Fundamentalismus obsiege, werde man „vielleicht sagen müssen, dass für Christen die Regime von Mubarak & Co. das kleinere Übel waren …“ ({6}) Fangen Sie mit den Klärungsprozessen in diesem Punkt also einmal bei sich an. Fangen Sie damit an! ({7}) Ich zitiere aus Parlamentsdokumenten, dass Sie auf Anfrage der Fraktion Die Linke eingeräumt haben, dass noch 2011 166 Menschen aus Deutschland nach Syrien abgeschoben werden sollten, ({8}) darunter Deserteure, die sich gegen Assad gewandt haben. Wir verteidigen diese Menschen, und Sie sagen, ab nach Ungarn zu den Parteifreunden! Von ihnen weiß man ja, dass sie diese Deserteure direkt an die syrischen Folterer weitergeben. Das ist Ihre Praxis in Deutschland. ({9}) Deswegen ist das, was Sie hier betreiben, verlogen und heuchlerisch. ({10}) Bei einem Treffen des syrischen Widerstands vor wenigen Wochen waren mein Kollege Gehrcke und ein Beobachter der SPD anwesend. Von Ihnen wurde niemand gesehen. An der Erklärung des syrischen Widerstands hat unser außenpolitischer Sprecher als Autor maßgeblich mitgearbeitet. Und weiter zu Ihren Traditionen. Noch 2009 ist Ihr damaliger Wirtschaftsminister Guttenberg auf der Tagung „Gastland Syrien“ in Berlin zum Zweck der Exportförderung herumstolziert. Dabei ging es um Geschäfte. In einer Panorama-Sendung aus dem Jahre 2011, die ich Ihnen empfehle, ist ein hochrangiger Entwicklungsexperte der GIZ mit den Worten zu hören: Natürlich habe ich mich nie mit der syrischen Opposition getroffen; das wäre für meine Mission schädlich gewesen. Im Deutschen Bundestag gab es einen Antrag der Linken mit dem Titel „Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren“, in dem Syrien ausdrücklich genannt wird. Dieser Antrag wurde mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Das ist das, was hier in diesem Parlament real passiert. ({11}) Um es auf den äußersten Punkt zu bringen: Sie haben es sogar geschafft - ich zitiere aus dem entsprechenden Protokoll -, im Jahre 2011 einen Antrag der Linken mit folgendem Titel abzulehnen: „Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Syrien endgültig stoppen“. Dieser Antrag wurde in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 29. Juni 2011 beraten. In der Abstimmung im Bundestag ist dieser Antrag mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - auf deren Verlangen die heutige Debatte stattfindet gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden. Sie schaffen es, im Juni 2011 einen Antrag der Linken gegen Waffenlieferungen an Assad abzulehnen. Dann stellen Sie sich hierhin, blasen sich auf und verbreiten Lügen und Verleumdungen gegen unsere Partei. ({12}) Ich zitiere aus einer Anfrage meiner Kollegin Inge Höger: Ist die Bundesregierung angesichts der andauernden Gewalt in Syrien und des fatalen Signals an syrische Deserteure und Verweigerer, das durch die drohende Abschiebung von syrischen Deserteuren aus der bayrischen Abschiebehaft nach Ungarn und von dort nach Syrien gegeben wird, bereit, die bisherige Praxis der Rückführung in angeblich sichere Drittstaaten aufzugeben und zukünftig allen Menschen, die sich dem Militärdienst in Syrien und damit der gewaltsamen Unterdrückung von Aufständischen verweigern, in Deutschland Asyl zu bieten? Wissen Sie, wie die Antwort der Bundesregierung war? Sie ist dazu nicht bereit. Das, was Sie hier offenbart haben, sind Abgründe von Verleumdung und vor allem von Heuchelei. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck. Bitte schön, Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Menschenrechtssituation in Syrien und im Iran ist dramatisch. In den letzten Tagen seit Beginn der Beobachtermission der Arabischen Liga in Syrien wurden allein 400 Menschen vom syrischen Regime umge18196 Volker Beck ({0}) bracht. Es gab 5 400 Tote seit Beginn der Demokratiebewegung. Die Opposition spricht sogar von über 6 000 Toten. 10 000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste willkürlich festgenommen. Tausende sind aus Syrien in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien geflüchtet. Letzten Freitag gab es Demonstrationen von fast 2 Millionen Menschen auf den syrischen Straßen. Es gäbe in diesem Zusammenhang viel, was es sich im Hohen Hause zu diskutieren lohnt. Ich finde den Titel und den Gegenstand der heutigen Debatte unangemessen angesichts der Probleme, die wir in diesem Zusammenhang haben, angesichts der Situation der Menschen in Syrien und der außenpolitischen Fragen, die sich uns stellen. Wie können wir auf ein Ende der Gewalt durch das Assad-Regime drängen? ({1}) Um Reformen geht es dort längst nicht mehr, Frau Homburger. Es geht um ein Ende des brutalen Terrorregimes. Wie erreichen wir, dass China und Russland den Weg zu einer eindeutigen Sicherheitsratsresolution freimachen? Und, Frau Steinbach: Wie sieht die Politik der Opposition gegenüber Kurden, Aleviten und Christen aus, wenn es zu einer Beteiligung oder Übernahme der Herrschaft in Syrien durch die Opposition kommen sollte? Das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Dazu gehört auch, wie wir darauf konkret Einfluss nehmen können. Deshalb finde ich es unwürdig für das Hohe Haus, dass wir heute dieses politische Klein-Klein veranstalten, obwohl wir morgen, von unserer Fraktion beantragt, eine Debatte zu einem Antrag von Kerstin Müller führen werden, in dem es um genau diese Fragen geht. ({2}) Diese Fragen hätte man zuerst diskutieren können. Dann hätte man sich nebenbei mit dem albernen Aufruf von sechs Kolleginnen und Kollegen aus der Linksfraktion beschäftigen können; denn das ist nicht das eigentliche Problem, das wir zu lösen haben. ({3}) Wenn Sie von Solidarität mit dem Assad-Regime sprechen, dann will ich einen Punkt ansprechen, der die Kumpanei der Bundesregierung mit dem Assad-Regime betrifft. Im Jahre 2009 hat Deutschland nach jahrelangen Verhandlungen mit Syrien ein Abkommen zur Rückübernahme von Flüchtlingen abgeschlossen. Dieses Abkommen ist nicht ausgesetzt. Es gibt noch nicht einmal einen Runderlass, der einen Abschiebestopp nach Syrien verhängt. Es gibt lediglich ein Schreiben, dass es gegenwärtig nicht „ratsam“ sei, abzuschieben. Dennoch gibt es noch Abschiebefälle. Noch im November, als der Aufstand schon im Gange war, wurden Flüchtlinge von deutschen Ausländerämtern zur syrischen Botschaft geschickt. Letzte Woche hat die taz darüber berichtet, dass Flüchtlinge über Ungarn nach Syrien abgeschoben werden sollen. Wenn es ehrlich gemeint ist, dass wir gegen das syrische Regime vorgehen und auf der Seite der Opposition und der Menschenrechte stehen, dann kündigen Sie das Abkommen! Verhängen Sie unverzüglich einen Abschiebestopp für syrische Flüchtlinge aus der Bundesrepublik Deutschland! ({4}) Ich will aber das Thema der Debatte nicht verfehlen, auch wenn es mir nicht gefällt. Nun zu Ihnen und diesem komischen Aufruf. Ich meine, es geht nicht an, dass Herr Gysi und Sie, Herr Maurer, ihn als Fehler bezeichnen - die Kollegin Enkelmann hat sich ähnlich geäußert -, dass aber gleichzeitig die Unterzeichnerin und Sprecherin für internationale Politik sagt, das sei zu hundert Prozent Programm der Linken. Was ist denn dann hundert Prozent Programm der Linken? Der Vorwurf der Solidarität ist Quatsch. Das haben die Kolleginnen und Kollegen auch zurückgewiesen. Was in dem Text steht, ist schlimm genug. Darin heißt es: Das iranische und syrische Volk haben das Recht, über die Gestaltung ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung allein und souverän zu entscheiden. Der Satz ist richtig. Aber in diesem Zusammenhang klingt das so, als ob das aktuelle Regime im Iran und in Syrien Ausdruck dieses freien und souveränen Willens wäre. ({5}) Als nächster Satz folgt: Die Erhaltung des Friedens verlangt es, dass das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten konsequent eingehalten wird. Sagen Sie mal, wo leben Sie denn? Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht, dass ich auf einen Knopf gedrückt habe und mich auf einer Zeitreise in die 80erJahre zur Zeit der alten Sowjetdoktrin der Politik der Nichteinmischung befinde. ({6}) Aber das haben wir im Rahmen des OSZE-Prozesses überwunden. Wenn man sich für die Einhaltung der Erklärung der Menschenrechte, die völkerrechtlich verbindlich ist und auch von den betreffenden Staaten unterzeichnet wurde, einsetzt, dann handelt es sich nicht um eine Einmischung in innere Angelegenheiten. Die Staaten haben vielmehr die Pflicht, die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Volker Beck ({7}) Bürger zu achten und zu wahren. Offensichtlich ist die völkerrechtliche Diskussion über die Responsibility to Protect an Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, spurlos vorbeigegangen. Wenn ein Staat massenhaft Menschenrechtsverletzungen begeht und beispielsweise ethnische Säuberungen durchführt oder die Bevölkerung nicht entsprechend davor schützt, dann geht gemäß der Resolution, die die Vollversammlung der Vereinten Nationen 2005 einstimmig angenommen hat, die Pflicht zum Schutz der Bevölkerung - das ist eigentlich die Pflicht eines jeden Staates - an die Völkergemeinschaft über. Sie hat dann zu versuchen, mit angemessenen Mitteln die Rechte der Menschen durchzusetzen und zu schützen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich darf Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dazu findet sich in Ihrem komischen Aufruf kein Wort. Sie schweigen auch zu einer ganzen Reihe anderer Punkte. Sie erwähnen nicht, dass es sich bei diesem Konflikt in der Region auch um einen Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Gläubigen, zwischen dem Iran und Saudi-Arabien über die Vormachtstellung am Golf handelt. In Ihrem Aufruf ist nur von israelischen und US-amerikanische Interessen an der Vorbereitung eines Krieges die Rede. Das ist antiamerikanisch und antiisraelisch und politisch reichlich unterkomplex. Herr Dehm, Sie als Kundschafter des Friedens stehen für diese Unterkomplexität in außenpolitischen Zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass der ehemalige Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik, der im Jahre 1989 seinen Dienst in der Volksrepublik China versah und im Jahre 2008 zu den Schüssen auf dem Platz des Himmlischen Friedens gesagt hat: „Es blieb dann nur diese Möglichkeit, es mit bewaffneten Kräften zu beenden“, einer der Mitunterzeichner Ihres Aufrufs ist. ({0}) In diese Gesellschaft begibt man sich, wenn man solche unterkomplexen Aufrufe schreibt bzw. unterschreibt. Ich kann Ihnen nur sagen: Stellen Sie sich der internen Auseinandersetzung! Ansonsten sind Sie für niemanden politisch anschlussfähig, weil Sie in einem anderen Orbit leben. ({1}) Sie können nicht die Menschenrechte verteidigen, wenn Sie solche Positionen in Ihrer Partei dulden und es zulassen, dass einige Ihrer Leute in Anspruch nehmen, dies sei hundert Prozent Programm der Linken. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist unser Kollege Jürgen Klimke für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Jürgen Klimke. ({0})

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Soll man sich wundern, oder soll man über diesen bizarren Aufruf der Linken gegen die vermeintliche Kriegstreiberei der USA und der NATO gegen den Iran und Syrien erschrocken sein, also gegen jene beiden Staaten, denen sich die Linken offenbar besonders verbunden fühlen? ({0}) Die Linke meint den Grund für die angeblich aggressive Politik der USA entdeckt zu haben. Er besteht neben den dort vorhandenen Rohstoffen darin, dass diese Staaten „eine eigenständige Politik verfolgen und sich ihrem Diktat“ - gemeint ist das Diktat der USA - „nicht unterordnen“. Eigenständige Politik betreibt man nach Auffassung der Linken offensichtlich dann, wenn man Oppositionelle niederknüppelt, die Menschenrechte mit Füßen tritt, ({1}) Christen verfolgt oder heimlich Atombomben baut. Man kann sich darüber wundern, aber man kann auch darüber erschrocken sein, auch darüber, dass Bundestagsabgeordnete der Linken diesen Aufruf mitunterzeichnet haben. Ein solcher Vorgang ist nicht neu. Ich darf an den Brief der Linken anlässlich des 85. Geburtstags Fidel Castros erinnern, in dem die Errungenschaften des sozialistischen Kuba mit seiner beispielgebenden Wirkung für so viele Völker der Welt gerühmt wurden. Ich erinnere an die Probleme, die die Linke mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen hat. Wenn die Parteiführung Resolutionen gegen den Antisemitismus beschließt, müssen Abgeordnete den Raum verlassen, damit Einstimmigkeit erzielt wird. ({2}) Das Existenzrecht Israels wird von den Politikern der Linken nicht anerkannt. ({3}) Das zeigt zum Beispiel die Teilnahme von führenden Linken an der sogenannten Gaza-Flottille oder das Sitzenbleiben der Linken-Abgeordneten am HolocaustGedenktag bei der Begrüßung des israelischen Präsidenten Shimon Peres. Diese Liste ließe sich noch sehr lange weiterführen bis hin zum Plakat an der Tür der Abgeordneten Ploetz, das unsere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan als Schweine verhöhnt, oder der Abgeordneten Hänsel, die den Mördern und Entführern von der kolumbianischen FARC Unterstützung angedeihen lässt. ({4}) Meine Damen und Herren, soll man sich wundern, soll man darüber erschrocken sein? Ich wundere mich nicht mehr; ich erschrecke mich eigentlich sehr darüber. Leider bleibt es aus meiner Sicht bis auf Weiteres so, dass sich im Deutschen Bundestag drei Bereiche wiederfinden: die Regierungsfraktionen, die demokratische Opposition, bestehend aus SPD und Grünen, und eine Fraktion, bei der man Zweifel haben muss, ob sie wirklich auf dem Boden unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. ({5}) Deswegen halten es viele auch für richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Partei Die Linke weiterhin vom Verfassungsschutz beobachtet wird. ({6}) Dabei ist es aus meiner Sicht immerhin ein kleiner Trost, dass es auch vonseiten einiger Politiker der Linken andere Meinungen gibt: andere Meinungen zu Israel, andere Meinungen zu Kuba und andere Meinungen zu den USA. Auch der Aufruf zu Syrien und zum Iran ist innerhalb Ihrer Partei nicht unwidersprochen hingenommen worden. Das macht ein bisschen Hoffnung. Man kann eigentlich nur diese Kräfte unterstützen, allerdings nur ein wenig, wenn man bedenkt, dass die innerparteilichen Kritiker des Aufrufs von den Hardlinern als Nestbeschmutzer bezeichnet wurden. Die Aktion macht eines klar: Die Linke weiß nicht, wohin sie will. Die Linke weiß nicht, was sie will. Will sie eine parlamentarische Opposition sein? ({7}) Will sie eine koalitionsfähige Alternative im linken Parteienspektrum werden? Ist sie eine ideologische Fundamentalopposition, die im Grunde die Abschaffung der demokratischen Grundordnung zum Ziel hat? Die Austragung dieses Konflikts wird aus meiner Sicht darüber entscheiden, ob die Linke in diesem Hause in Deutschland noch Zukunft hat. Im Übrigen: Im Konflikt befindet sich offensichtlich auch die Kollegin Sevim Dağdelen, nach deren Meinung der Aufruf zu Syrien und zum Iran zu hundert Prozent das Parteiprogramm der Linken widerspiegelt. ({8}) Das schließt nicht aus, dass man sich in antiamerikanischer Mission auch einmal direkt zum Erzfeind begibt und der Außenministerin persönlich Vorhaltungen macht, wie auf diesem Bild hier dokumentiert ist. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen hier Sevim Dağdelen in ihrer heikelsten antiimperialistischen Mission - wie immer sehr kämpferisch und sehr entschlossen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Johannes Pflug. Bitte schön, Kollege Johannes Pflug.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ende letzten Jahres hatte sich der Deutsche Bundestag aus aktuellem Anlass wiederholt mit den Besonderheiten linker Außenpolitik befasst. Einmal ging es um den Antrag der Linken, jedes militärische Engagement in Afghanistan sofort zu beenden. ({0}) So weit, so gut. Einige Wochen zuvor hatte es eine Aktuelle Stunde zum Thema Antisemitismus gegeben, allerdings nicht von Ihnen beantragt. Bereits bei der Debatte Ihres Afghanistan-Antrags hatte ich darauf hingewiesen, dass dieser Antrag und der geforderte Abzug Musterbeispiele sind für den Widerspruch zwischen dem proklamierten Internationalismus und der Verpflichtung zum Schutz der Menschen einerseits sowie der Nichteinmischung oder dem - ich sage das einmal so - Schaufenster-Antimilitarismus andererseits. Heute gibt es erneut Grund, uns mit dem Verständnis der Linkspartei von internationaler Verantwortung zu befassen. So ist es bemerkenswert, dass es für die Kollegin Dağdelen oder den Kollegen Dehm offenbar ein Akt der Solidarität und der Völkerfreundschaft ist, sich an einem Aufruf zu beteiligen, der die Unterdrückung der Iraner und Syrer durch ihre diktatorischen Regime mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn verurteilt. Stattdessen wird auch noch die Propaganda der Diktatoren übernommen, die ja Aufruhr stets als Ergebnis ausländischer Agenten und Sabotage brandmarkt. Christian Bommarius, Journalist unter anderem für die Frankfurter Rundschau, schrieb dazu erst kürzlich sehr treffend, für die Linke sei es stets „offenbar der Westen, der die in glücklicher Harmonie mit ihren Unterdrückern lebenden Völker in den Aufstand hetzt“. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Diejenigen Mitglieder der Linken-Bundestagsfraktion, die den Internetaufruf unterzeichnet haben, haben zunächst noch vollmundig erklärt, dieser decke sich zu 100 Prozent mit dem Programm der Partei. Mittlerweile haben sie den Aufruf aber schon wieder relativiert wegen der starken öffentlichen Kritik und Empörung, und ich füge hinzu: Gott sei Dank auch aus den Reihen der eigenen Partei, zum Beispiel des Kollegen Bartsch und der Kollegin Enkelmann. Die Unterzeichner erklärten daraufhin wieder einmal, sie seien bewusst falsch interpretiert und missverstanden worden. Hierzu kann ich mit Blick auf die Vergangenheit nur sagen: Es muss auch an Ihnen liegen, dass Sie sich so häufig missverstanden oder falsch interpretiert fühlen. Ob es um die erklärte Solidarität einiger Parteimitglieder mit der Hamas ging, um das Gezerre um eine gemeinsame Erklärung gegen Antisemitismus hier im Hause oder um undifferenzierten Aktionismus gegen Israel, stets waren die Aussagen eigentlich eindeutig. ({1}) Teile der Linkspartei vertreten offen einen radikalen Anti-Israel-Kurs. Dies geht sogar so weit, dass sich Mitglieder Ihrer Fraktion weigern, sich bei einer Veranstaltung am Holocaust-Gedenktag für den israelischen Präsidenten Peres zu erheben. ({2}) Darüber hinaus scheinen Teile der Linkspartei einen gewissen Hang zu Exoten und Diktatoren zu besitzen. ({3}) Egal ob Fidel Castro oder Hugo Chávez - und neuerdings auch Assad und die Mullahs im Iran -, egal wie verbrecherisch das Regime: Solange es einen dumpfen Antiamerikanismus bedient, gibt es auch Freunde in Ihrer Partei. ({4}) Dies nimmt dann so groteske Züge an wie in der jüngsten Vergangenheit, als sich die Kollegin Dağdelen und andere zu den letzten Verbündeten Assads und seines Terrors gemacht haben, offensichtlich weil das Bedürfnis nach Antiamerikanismus und Anti-Israel-Politik bedient wurde. Möglicherweise ist es genau das, was Ihr demnächst neuer Spitzenkandidat Lafontaine mit den Eigentorschützen in der eigenen Partei meinte. In solchen Fällen sagt man: Der Trainer sollte sie nicht wieder aufstellen. Aber die Frage ist: Wer ist bei Ihnen eigentlich der Trainer? Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, muss ich Ihnen mitteilen, dass mir der Wunsch nach persönlichen Erklärungen vorliegt. Dies ist nach unserer Geschäftsordnung auch bei Aktuellen Stunden möglich. Ein Mitglied des Bundestages kann sich nach unserer Geschäftsordnung zu Wort melden. Der Präsident darf solche Wortmeldungen nicht zurückweisen, er kann aber nach Maßgabe der Geschäftsordnung den Zeitpunkt der Worterteilung nach seinem Ermessen bestimmen. Da sie unmittelbar angesprochen wurde, gebe ich zunächst Frau Kollegin Heike Hänsel das Wort und bitte Sie, den entsprechenden Zeitrahmen einzuhalten. - Bitte schön, Frau Kollegin Heike Hänsel.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Präsident. - Ich möchte eine persönliche Erklärung abgeben. Der Kollege Jürgen Klimke hat mich konkret angesprochen, mich namentlich genannt und gesagt, dass ich der kolumbianischen Guerillaorganisation FARC Unterstützung angedeihen lassen würde. Ich möchte diesen Vorwurf zurückweisen und darauf aufmerksam machen, dass es eine breite Initiative von Abgeordneten gibt, die sich für eine politische Lösung des seit Jahrzehnten bestehenden bewaffneten Konflikts in Kolumbien einsetzen. Aus allen Fraktionen gibt es Unterschriften unter Appelle an den kolumbianischen Präsidenten für eine politische Lösung und einen Friedensprozess in Kolumbien. Es herrscht in diesem Land eine sehr ernste Situation, nachdem dort viele Menschen ihr Leben verloren haben. Es ist eine schlichte Verleumdung, daraus eine Unterstützung für die Guerillaorganisation zu machen. Ich möchte darauf hinweisen, Herr Klimke, dass die Bundesregierung jahrzehntelang Präsidenten in Kolumbien unterstützt hat, die militärisch vorgegangen sind, die mit Paramilitärs verstrickt waren, wie zum Beispiel Präsident Uribe. All diese haben für ihre brutale Politik in Lateinamerika massive Unterstützung bekommen. Dass in diesem Hause von Teilen der Bundesregierung und vonseiten der FDP, insbesondere durch die Friedrich-Naumann-Stiftung, Putsche in Honduras mit unterstützt wurden, zeugt davon, dass Sie eine brutale Politik unterstützen. Die Linke hat bisher in keiner Weise - das muss ich auch dazu sagen - Waffenlieferungen in irgendein Land unterstützt. Sie senden in alle Welt Waffen. Deutschland ist drittgrößter Waffenexporteur auf der Welt. Sie tragen zu Leid und Tod bei. Deshalb ist diese Debatte hier absurd. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Als Nächstem gebe ich zu einer persönlichen Erklärung, nachdem auch er direkt angesprochen wurde, dem Herrn Kollegen Dr. Diether Dehm das Wort. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Beck, Sie haben meinen angeblichen Hang zu unterkomplexen Aufrufen angesprochen. Sie haben zwar auch viel zur Differenzierung der Diskussion beigetragen, aber da ging der Gaul wieder mit Ihnen durch. Ich will Ihnen nur noch einmal ganz deutlich das sagen, was ich auch im Interview mit der taz gesagt habe: Keiner der Unterzeichner von uns hat irgendeinen Hauch von Sympathie mit den Staatsterroristen Assad und Ahmadinedschad. ({0}) Wir wissen nämlich, dass Linke, dass Kommunisten, dass Sozialisten von diesen Schlächtern verfolgt und gefoltert werden. ({1}) Linke sind es, unsere Freunde, die im Iran und in Syrien hingerichtet werden. Das will ich Ihnen zunächst sagen. Das haben wir auch schon mehrfach gesagt. Sie wissen das auch; Sie haben das auch in dem Teil Ihrer Ausführungen gesagt, in dem Sie Differenzierungen vorgenommen haben. Darüber hinaus will ich sagen: Wir haben in dem Aufruf davor gewarnt, dass Kriegsvorbereitungen getroffen werden. Diese Kriegsvorbereitungen laufen - das ist unsere feste Überzeugung - gegen den Iran; sie laufen, möglicherweise gedämpfter, gegen Syrien. Im Hinblick auf den Iran wird es ein Atomkrieg werden. ({2}) Hier besteht, Herr Kollege Beck - das will ich Ihnen ganz deutlich sagen -, die Differenz zwischen uns. Wir sind jetzt an jenem Punkt, wo damals gegen Außenminister Westerwelle eine unauffällig scheinende Flugverbotszone von der SPD und, wie ich glaube, auch von den Grünen entschieden gefordert wurde. Wie vor dem Jugoslawien-Krieg wurde hier ja von Rot-Grün immer gefordert, an der Durchsetzung einer unauffälligen Flugverbotszone gegen Libyen mitzuwirken. Doch dies hat zu einem Krieg mit über 40 000 Toten geführt, zu einem Bombardement der Städte dort. Dabei ist auch der modernste Sozialstaat Nordafrikas zerbombt worden. ({3}) - Genau das ist Libyen gewesen - das ist unbestreitbar -, der modernste, entwickeltste Sozialstaat Nordafrikas, wo Ölprofite in sozialstaatliche Investitionen geleitet wurden. ({4}) Angesichts dessen und der Tatsache, dass das Wirtschaftsembargo gegen den Irak, das Tausende von Kindern das Leben gekostet hat, zugleich ein unauffälliger Einstieg in das Bombardement Iraks war, ({5}) werden wir jetzt umso hellhöriger. Ich muss Ihnen ehrlich gestehen: Wenn ich die Wahl habe, keine Warnung vor einem Atomkrieg gegen den Iran zu unterschreiben oder eine möglicherweise unvollkommene, kann es auch in Zukunft noch passieren, dass ich mich dafür entscheide, eine möglicherweise, wie Sie sagen, unterkomplexe Erklärung zu unterschreiben. Denn die Warnung vor Krieg ist für Linke das oberste Gebot. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir fahren fort in der Reihenfolge der Wortmeldungen zur Aktuellen Stunde. Für die Fraktion der FDP hat als Nächster das Wort Kollege Patrick Kurth. ({0}) Bitte schön, Kollege Patrick Kurth. ({1})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Wochen wieder: Die Linke glänzt durch gesellschaftspolitische oder in diesem Falle außenpolitische Peinlichkeiten. Außenpolitische Fragen, die schon bisher von Ihnen sehr peinlich behandelt wurden, betreffen Afghanistan, Kuba und den Nahen Osten. Worüber haben wir hier alles geredet? Über die Gaza-Flottille, über antisemitische Auswüchse, über Castro-Verehrung. Sie hatten damals in der Aktuellen Stunde zum deutsch-polnischen Verhältnis vor allem das Verhältnis zwischen der DDR und Polen unter der SED gelobt. Dabei haben Sie aber völlig unterschlagen, dass es die SED war, die erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Streitkräfte für den Einmarsch in Polen mobilisierte. Sie haben mit einer Staatspartei sympathisiert - sie ist ja auch Ihre Vorgängerpartei -, was für uns insgesamt in der außenpolitischen Darstellung nicht gut war. Sie können sich im Inland benehmen, wie Sie wollen. Da werden Sie auf jeden Fall auf unseren Widerstand stoßen. Das ist in erster Linie Ihr Problem. Wenn Sie sich aber außenpolitisch so benehmen, wie Sie das tun, dann wird es ein Problem für alle Deutschen. Das geht nicht. Sie haben auch im Ausland eine Verantwortung. ({0}) Seit fast einem Jahr - die dpa schrieb es gestern geht das Regime in Syrien mit Gewalt gegen die Opposition vor. 5 500 Menschen starben. 5 500 Menschen! Dann kommt diese Solidarisierung, ein vorläufiger Höhepunkt der außenpolitischen Geisterfahrten. Ich muss Ihnen sagen: Gerade wir Deutsche haben in der jüngeren Geschichte eine ganz wunderbare Erfahrung gemacht und ein ganz großes Glück gehabt. Patrick Kurth ({1}) ({2}) Wir hatten in diesem Land eine friedliche Revolution. In diesem Land wurde niemand erschossen. Das war ein ganz großes Glück für unser Land. Dass dieses Glück keine Selbstverständlichkeit ist, das zeigt Syrien. Deshalb verbietet es sich, mit diesen Staatsterroristen in irgendeiner Weise zu sympathisieren. ({3}) Meine Damen und Herren, unsere Erfahrungen, unsere Geschichte, unser Glück, aber eben auch die Gewalt dieser Diktatoren, der Kampf gegen Demonstranten müssen uns als Abgeordnete in diesem Hause Verantwortung, Auftrag und Mahnung zugleich sein. Gerade wir Deutsche haben deshalb eine gewisse Vorbildstellung. Wir haben eine immense Verantwortung. Für das Außenbild tragen wir alle, die wir Mitglieder dieses Hauses sind, Verantwortung. Herr Maurer, Sie haben hier wunderbar gesprochen. ({4}) Im Sinne der leninistischen Propagandarede war das hervorragend. ({5}) Ich nehme den Spieß und drehe ihn um. Aber was denn nun? Butter bei die Fische! Dafür oder dagegen? Hopp oder top? Sie haben keine Antwort geliefert. Sind Sie nun dafür, oder sind Sie dagegen? ({6}) Distanzieren Sie sich von diesem Pamphlet, oder sind Sie doch dafür? Gibt es irgendwelche Konsequenzen? Ist Ihre menschenrechtspolitische Sprecherin, die dieses Machwerk unterzeichnet hat, noch im Amt, oder ist sie nicht mehr im Amt? Was sind denn Ihre Konsequenzen? Sie verunklaren Ihr Bild. Sie bleiben völlig unklar, in der Hoffnung darauf, dass die einen ganz links in irgendeiner Weise befriedigt werden und die anderen, die ein bisschen mehr in der Mitte sind, relativ friedfertig bleiben. Ich kann Ihnen nur sagen: Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({7}) Nehmen Sie einmal Ihr Pamphlet, und ersetzen Sie den Begriff „Syrien“ oder auch „Iran“ durch „DDR“. Tauschen Sie das einmal aus. Da wird Ihnen übel. Es kann einem auch übel werden, wenn man sich die Unterzeichnerliste anguckt. Ich weiß es nicht: Haben Sie das einmal gemacht? Wissen Sie, mit wem Sie in einem Boot sitzen? Haben Sie sich das einmal angeschaut? Wer unterzeichnet im Zusammenhang mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages, mit Volksvertretern, diesen Aufruf? Es wimmelt nur so von Verschwörungsideologen, Esoterikern und - das ist besonders interessant Rechtspopulisten. Ich habe mir die Namen aufgeschrieben, habe mich aber dazu entschieden, sie nicht zu nennen. Wir wollen niemanden auf dieser Liste adeln. ({8}) Die einen versteigen sich zu Verschwörungstheorien bezüglich Iran. Sie verharmlosen die Hetzreden des iranischen Staatspräsidenten. Es gibt auf dieser Liste Leute - die befinden sich in Ihrer Gesellschaft -, die erklären, dass das Erdbeben in Japan künstlich erzeugt worden sei, um Japan zu schaden. ({9}) Dann gibt es andere, die sagen, dass die Terroranschläge vom 11. September von den USA selbst inszeniert wurden. Das sagen Ihre Mitunterzeichner. Die Judenverfolgung wird verharmlost. Das ist Ihre Gesellschaft! Einer sagt, Aids gebe es nicht, es sei eine Erfindung der - Achtung! - Pharmaindustrie. Dann kommt sogar ein Bündnis - das ist ganz interessant im Hinblick auf die Linke; ich wusste gar nicht, in welcher Gesellschaft Sie sich befinden -, welches erklärt, das deutsche Reich gebe es noch, die Bundesrepublik gebe es nicht, sie sei nicht rechtmäßig. In diese Liste reihen Sie sich ein. Uns fällt es wirklich schwer, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich um Abgeordnete handelt, die sich in diese Gesellschaft begeben. Wenigstens die Führung der Linken - sie hat sich ja schon öfter verbogen - muss sich von diesem Aufruf distanzieren. Geschieht das nicht, hat sich diese Partei außenpolitisch erneut diskreditiert. Herzlichen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner ist unser Kollege Christoph Strässer für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Kollege Christoph Strässer.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zwei Punkte aus dieser Aktuellen Stunde aufgreifen. Wenn ich die Quintessenz aus allen Redebeiträgen zusammenfasse, dann komme ich zu zwei Erkenntnissen. Erste Erkenntnis. Wir müssen uns alle gemeinsam Gedanken darüber machen, wie die Geschichte der Beziehungen Deutschlands, Europas und der Vereinigten Staaten zu bestimmten Diktaturen in der Welt ist. Darüber müssen wir reden. ({0}) Wir müssen auch aus Fehlern lernen. Der Umstand, dass ein Land in einer Region für Stabilität sorgt, rechtfertigt niemals, dass in dieser Region Menschenrechte verletzt werden. Ohne die Gewährung von Menschenrechten aber ist in diesen Regionen keine Stabilität möglich. Diese Erkenntnis sollten wir aus dieser Debatte mitnehmen. ({1}) - Ja. Zweite Erkenntnis. Wenn das, was über den arabischen Frühling und über Syrien gesagt worden ist, ernst gemeint ist, dann erwarte ich Initiativen von Ihrer Partei, die im Moment versucht, sich wieder als Bürgerrechtspartei zu profilieren. Wir sollten in den nächsten Wochen im Deutschen Bundestag Klarheit darüber schaffen und entsprechende politische Willenserklärungen abgeben, dass Abschiebungen nach Syrien auch über den Umweg Ungarn ab sofort nicht mehr möglich sein dürfen. ({2}) Die Aktuelle Stunde zwingt uns natürlich dazu, zu dem Aufruf, der von einigen unterschrieben worden ist, Stellung zu nehmen. Man konnte die ganze Zeit - ich habe direkt daneben gesessen - Zurufe wie „Heuchler“ und „Lügner“ hören. Ich möchte jetzt etwas zitieren und hoffe, dass es dabei solche Zurufe nicht gibt. Unter der Überschrift „Gegen linke Solidarität mit den Schlächtern von Syrien und Iran!“ heißt es: Die Souveränität Syriens und Irans liegt nicht bei den Regimen von Assad und den Ayatollahs, sondern bei den Menschen. Sie sind es, die ihre Rechte einfordern. Entgegen der Einschätzung des Appells sind es nicht die NATO, die USA oder Israel, die einen Bürgerkrieg in Syrien anfachen, sondern das syrische und iranische Regime, die auf diese Weise mit aller Brutalität versuchen, einen Keil zwischen die Aufständischen zu treiben. Beide Regime gehen dabei mit unglaublicher Brutalität gegen die eigene Zivilbevölkerung vor, z. B. mit gezielten Tötungen durch Scharfschützen, die sogenannte „Abschussquoten“ zu erfüllen haben. Ende des Zitates; der Aufruf geht aber noch weiter. Veröffentlicht worden ist dies von dem Bundesarbeitskreis Shalom der Linksjugend Solid, die sich aufs Schärfste von dem Syrien-Appell abgrenzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, rufen Sie bitte nicht „Heuchler“ und auch nicht „Lügner“, sondern solidarisieren Sie sich mit Ihrer Jugendorganisation und distanzieren Sie sich von dem Syrien-Aufruf, der unerträglich ist. ({3}) Ich möchte auch aus einem anderen Blickwinkel - der Kollege Beck hat schon darauf hingewiesen - zu diesem Aufruf Stellung nehmen und insbesondere auf die Feststellung eingehen, dass das konsequente Einhalten des Nichteinmischungsgebots das Gebot der Stunde sein soll. Ich will mich gar nicht darauf kaprizieren, zu fragen, was das mit der Responsibility to Protect und mit dem Verhältnis Menschenrecht zu Völkerrecht zu tun hat. Ich will aber auf einen Zwischenruf reagieren und sagen: Ich bitte Sie, die Responsibility to Protect im Interesse der Menschenrechte ernsthaft zu verfolgen. Es ist nämlich nicht so, dass der Sanktionskatalog der RtoP mit einer militärischen Intervention beginnt. ({4}) Nehmen Sie bitte einfach zur Kenntnis, dass der erste Schritt die Prävention ist und dass wir an dieser Stelle gefordert sind, zu helfen und zu unterstützen, damit es gerade nicht zu einer militärischen Intervention kommt, die wir alle verhindern wollen. Diese Botschaft muss von dieser Auseinandersetzung ausgehen. ({5}) Ich will noch eine weitere Bemerkung machen und darlegen, was mir ebenfalls gegen den Strich geht. Ich habe in meiner politischen Vergangenheit viele Aufrufe und Appelle unterschrieben. Ich war mir immer im Klaren darüber, wie Aufrufe interpretiert werden können. Ich würde mir wünschen, dass auch Sie sich dies bewusst machen. Denn Sie sind doch nicht so naiv, zu glauben, dass es in der Öffentlichkeit keine Rolle spielt, dass das, was Sie nicht wollen, im Aufruf nicht enthalten ist. Aber ich will eines zum Prinzip der Nichteinmischung und zum Prinzip der linken Solidarität sagen - das meine ich wirklich ernst -: Sie verkaufen und verraten Ihre eigene Geschichte. Das will ich ganz deutlich sagen. Wir haben gemeinsam auf der Straße gestanden und gefordert, dass unsere Regierungen boykottieren, Embargos ausüben gegen Südafrika, waren gemeinsam gegen das faschistische Regime in Chile, gegen andere für uns unerträgliche politische Systeme. ({6}) Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: „Nichteinmischung ist des Teufels“, dann verraten Sie Ihre eigenen linken solidarischen Ideale. Damit sollten Sie einfach aufhören. Das ist unsinnig. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Thomas Feist. Bitte schön, Kollege Dr. Thomas Feist. ({0})

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das zeitgeschichtliche Forum in meiner Heimatstadt Leipzig wirbt mit dem Motto: „Geschichte kann zu Einsichten führen und verursacht Bewusstsein“. Weder Einsicht noch Bewusstsein ist genau das, was den Geist dieses Aufrufes im Internet kennDr. Thomas Feist zeichnet, den sechs Abgeordnete der Linkspartei unterschrieben haben. Ich muss ganz ehrlich sagen, Herr Kollege Maurer, Ihre Rhetorik des Kalten Krieges, mit der Sie versucht haben, eine Pro-Assad-Unterzeichnung ins Gegenteil zu verkehren, ist entweder verquaste Dialektik oder schlicht und einfach verlogen. ({0}) Historisch betrachtet ist das Mittel, dass man Initiatoren von Volksbewegungen, Freiheitsbewegungen der Verschwörung bezichtigt, immer ein gutes Mittel gewesen, um diese Bewegung zu diskreditieren. Das sieht man natürlich nicht nur an den Ländern des ehemaligen Ostblocks, sondern das sieht man ganz genau und deutlich auch an unserer eigenen deutschen Geschichte. Insofern, lieber Herr Kollege Beck, hätte ich mir gewünscht, dass Sie in Ihrer Ansprache darauf eingegangen wären, dass Sie heute immer noch nur „Die Grünen“ wären, wenn die Lügen, die die SED und ihre Parteiführung damals über Bündnisleute verbreitet haben, zugetroffen hätten. Wenn das durchgegangen wäre, wären Sie heute immer noch „Die Grünen“. Ich denke, Sie sind sehr froh, dass Sie heute „Bündnis 90/Die Grünen“ sind. ({1}) - Das ist doch wunderbar. ({2}) - Das muss der Präsident machen. Zurück zu dem Aufruf. Manchmal fühlt man sich um Jahrzehnte zurückversetzt, wenn man liest, dass die Feinde diejenigen sind, die dies schon immer waren. Das sind die imperialistischen Aggressoren, hier namentlich USA und Israel. ({3}) In dieser Aufzählung fehlen eigentlich nur noch die Bonner Ultras. Dann würde man erkennen, was dieser Aufruf eigentlich ist: Er ist eine Blaupause aus der Abteilung Agitation und Propaganda beim ZK der SED. ({4}) Als Leipziger, der von Anfang an auch an den Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen in Leipzig teilgenommen hat, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, wie schlimm und verheerend es ist, wenn ständig unterstellt wird, man sei ein Agent eines feindlichen Staates. Es ist unerträglich, dass man mit Sabotage in Verbindung gebracht wird. Man kann sich gegen diesen Vorwurf nicht wehren. Ich bin sehr froh, dass wir es gerade durch die westlichen Massenmedien geschafft haben, einen Rückhalt zu bekommen, um diesen abstrusen Verschwörungstheorien ein für allemal einen Riegel vorzuschieben. ({5}) Ich habe heute in einen Artikel der jungen Welt vom September 1989 geschaut. Das war die Zeit der großen Ausreisewelle. Viele Menschen haben versucht, das repressive System der DDR zu verlassen. In dieser Zeitung gab es einen Leserbrief, der suggerieren wollte, dass diejenigen, die im Westen waren, mit K.-o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt wurden. Das war die normale Propaganda, die erzählt worden ist. Die Einmischung von Außen war letztendlich für alles Übel verantwortlich. Ich muss Ihnen eines sagen - das sage ich vor allen Dingen auch zur Führung der Linken -: Wenn man ein tyrannisches System unterstützt, das nicht nur für über 5 000 Tote verantwortlich ist, sondern auch für Folter und Repression, und sich als Parteiführung nicht gegen ein paar Spinner wehrt, die das unterzeichnen, dann ist das nicht nur fahrlässig, sondern zynisch und ein Skandal. ({6}) Ich fand es sehr interessant, dass auch diesmal wieder die üblichen Verdächtigen diesen Aufruf unterschrieben haben; denn ich habe mich entsonnen, dass es genau diejenigen waren, die damals als Friedensaktivisten über das Mittelmeer gesegelt sind, ({7}) und zwar unter dem fröhlichen Abspielen von Liedern, in denen zu Massakrierungen an Juden aufgerufen worden ist. ({8}) Das muss man sich wieder ins Bewusstsein rufen. Es handelt sich um genau dieselben Edelkommunisten - ich kann es nicht anders sagen -, die mir damals auf ihrer Transitreise von Westdeutschland nach Westberlin mit ihrem Westgeld in der Tasche erzählt haben, wie toll der Kommunismus ist. Das hat mit Realität oder mit Realitätssinn nichts zu tun. ({9}) Abschließend will ich noch auf Folgendes hinweisen: Sie haben ja im Zusammenhang mit Syrien und Iran Nichteinmischung und den eigenen Weg der Staaten propagiert. Mir hat in dieser Auflistung eigentlich nur noch ein Staat gefehlt, der am konsequentesten seinen eigenen Weg geht - und das ist Nordkorea. ({10}) Ich bitte Sie, mit der Kim-Il-Sungisierung der Linkspartei aufzuhören. Nehmen Sie sich einmal den Kommentar der heutigen SZ zu Herzen. Darin steht, dass die Linken in ihrem Fraktionssaal ein Schild anbringen sollten: „Parteien haften für ihre Spinner“. Vielen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Wolfgang Götzer. Bitte schön, Kollege Dr. Wolfgang Götzer. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die jüngsten Solidaritätsbekundungen von Abgeordneten der Linken mit den menschenverachtenden Regimen in Syrien und im Iran zeigen einmal mehr, wes Geistes Kind sie sind. ({0}) Unverhohlene Sympathien mit Diktaturen und das altbekannte Feindbild, nämlich Amerika und die NATO, prägen ihr Weltbild. Die sechs Abgeordneten der Linken, die den strittigen Internetaufruf unterzeichnet haben, haben damit nicht nur ihre ganze Fraktion ins außenpolitische Abseits gestellt, sondern sie haben all die Menschen, die in ihren Ländern für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte kämpfen, verhöhnt. ({1}) Dass zu den Unterzeichnern des am 3. Januar dieses Jahres veröffentlichten Textes auch die Sprecherin der Linken für internationale Beziehungen gehört, zeigt, wie tief dieses Denken in der Partei verhaftet ist, die sich heute Die Linke nennt, die aber die alte SED ist. ({2}) In dem Punkt, Herr Kollege Kurth, muss ich Sie korrigieren: Hier sitzt nicht die Nachfolgepartei der SED, sondern das ist ein und dieselbe Partei geblieben, die sich nur mehrmals umbenannt hat. Das sollte wieder einmal angesprochen werden. ({3}) Frau Dağdelen und die anderen fünf Abgeordneten der Linken - Eva Bulling-Schröter, Dieter Dehm, Heike Hänsel, Annette Groth und Ulla Jelpke ({4}) haben eine Erklärung unterzeichnet, die den USA und der NATO vorwirft, „offen den Krieg gegen die strategisch wichtigen bzw. rohstoffreichen Länder Syrien und Iran“ vorzubereiten. Die USA und die EU würden durch Embargos die Wirtschaft des Iran und Syriens bewusst in eine tiefe Krise stürzen, innere soziale Konflikte zuspitzen und einen Bürgerkrieg entfachen wollen, um einen Vorwand für die längst geplante militärische Intervention zu schaffen. Doch damit nicht genug: Die sechs LinkenAbgeordneten fordern des Weiteren die Bundesregierung auf, „die Embargomaßnahmen gegen den Iran und Syrien bedingungslos und sofort“ aufzuheben. Das geschieht vor dem Hintergrund der jüngsten Drohungen Irans, die Straße von Hormus für den internationalen Seeverkehr zu schließen. ({5}) Man stelle sich das bloß einmal vor - oder lieber nicht -: Der Iran droht mit der Verletzung der Freiheit der Seewege, was laut Einschätzung nicht nur der USA einer Kriegserklärung gleich käme, und Deutschland belohnt diese Androhung eines völkerrechtswidrigen Akts auch noch mit der Aufhebung von Sanktionen. Ein ähnliches Szenario gibt es in Syrien: Wie vor einigen Tagen die jüngste Ansprache von Assad in der Universität von Damaskus gezeigt hat, schreckt er vor keiner noch so ungeheuerlichen Lüge und Verdrehung zurück. In dieser Rede streitet er jegliche Verantwortung für die bürgerkriegsähnlichen Zustände in seinem Land ab, die laut UN-Angaben mittlerweile circa 5 000 Menschen das Leben gekostet haben, und bezeichnet die Aufständischen als Terroristen, die ihn durch ihre vom Ausland geförderten Terrorakte davon abhalten würden, das Land zu reformieren. Das ist an Ungeheuerlichkeit wirklich nicht zu überbieten. Auch in der arabischen Welt ist das Assad-Regime mittlerweile isoliert. Nur die Linke sympathisiert nach wie vor offen mit diesem Unrechtsregime. ({6}) Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit Unrechtsregimen haben diejenigen in der Linkspartei, die eine SED-Vergangenheit haben, ja ganz offensichtlich keine Probleme. ({7}) Schließlich war Syrien - daran möchte ich erinnern einmal ein sozialistisches Bruderland der DDR. Schon vergessen? ({8}) Die Solidaritätsbekundungen der Linken sind, wie Kollege Gröhe zu Recht gesagt hat, ein Schlag ins GeDr. Wolfgang Götzer sicht aller, die im arabischen Frühling ihr Leben für Freiheit und Demokratie riskieren. ({9}) Zynischer und menschenverachtender - die beiden Begriffe kommen in dem Aufruf vor; ich verwende sie jetzt ganz bewusst, und zwar gegen die Unterzeichner - geht es wahrlich nicht mehr. Wie lange will die Linkspartei eigentlich noch Schießbefehle verteidigen? ({10}) Sie haben aus Ihrer SED-Vergangenheit nichts gelernt. ({11}) - Frau Kollegin, Sie haben völlig recht: Das macht es noch schlimmer. Wenn jetzt einige Unterzeichner zurückrudern und behaupten, sie hätten mit diesem Aufruf nicht die menschenverachtenden Regime, sondern die notleidenden Bevölkerungen Syriens und Irans unterstützen wollen, möchte ich dazu ganz klar sagen: Das nimmt Ihnen keiner ab. ({12}) Wir verlangen deshalb, auch im Hinblick auf die Tausenden Opfer syrischer Gewaltherrschaft, eine klare Distanzierung der linken Führungsspitze von diesem Aufruf. An die Adresse der sechs Unterzeichner sage ich: Sie sollten sich schämen. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet. Wenn wir wieder die notwendige Ruhe im Hause haben, rufe ich den nächsten Tagesordnungspunkt auf. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Gero Storjohann, Dirk Fischer ({1}), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Verkehrssicherheit in Deutschland weiter verbessern - zu dem Antrag der Abgeordneten Kirsten Lühmann, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sicher durch den Straßenverkehr - Für eine ambitionierte Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Masterplan Straßenverkehrssicherheit Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011-2020 vorlegen - Drucksachen 17/5530, 17/5772, 17/7466, 17/8341 Berichterstattung: Abgeordnete Gero Storjohann Oliver Luksic Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Gero Storjohann. Bitte schön, Kollege Gero Storjohann. ({2})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wie im alltäglichen Leben: Wenn die Tagesordnung bzw. das Programm wechselt, dann kommt meistens ein Werbeblock. Damit möchte ich gerne anfangen. Am 16. Januar 2012, vor drei Tagen, ist eine neue Internetseite freigeschaltet worden: www.riskiernichts.de. Unter dem Leitspruch „Sei clever! Riskier nichts!“ haben das Bundesverkehrsministerium und die Deutsche Verkehrswacht die Aktion Landstraße gestartet. ({0}) Sie ist Teil des neuen Verkehrssicherheitsprogramms der Bundesregierung. Diese Kampagne richtet sich an Fahranfängerinnen und Fahranfänger im Straßenverkehr bis zum Alter von 24 Jahren. Thematisiert werden insbesondere die Risiken von Landstraßenfahrten. ({1}) Denn sechs von zehn Personen, die im Straßenverkehr zu Tode kommen, sterben bei Unfällen auf Landstraßen. Um die jugendlichen Fahrer zu erreichen, werden Szenarien thematisiert, mit denen sich die junge Zielgruppe besonders gut identifizieren kann. Am Beispiel der Heimfahrt von einem Diskothekenbesuch wird so unter anderem auf die Gefahren von Alkohol am Steuer und einer überhöhten Geschwindigkeit bei nächtlichen Überlandfahrten hingewiesen. Gleichzeitig nutzt diese Aktion verstärkt das Internet, etwa Facebook und YouTube, um so die Zielgruppe zu erreichen. Diese Kampagne ist modern, sie ist notwendig. Ich finde es gut, dass wir hier neue Wege beschreiten; denn diese Wege sind zeitgemäß, und wir müssen Aufmerksamkeit erreichen, um Fortschritte in der Verkehrssicherheitsarbeit zu erzielen. Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionfraktionen, die Verkehrssicherheit in Deutschland weiter zu verbessern, beschließen wir heute ein ambitioniertes Programm, um die Verkehrssicherheitsarbeit stetig zu optimieren und auch an neue Entwicklungen anzupassen. Wir sprechen uns aus für die Akzeptanz von Straßenverkehrsregelungen. Diese Akzeptanz muss erhöht werden. Wir sprechen uns aus für das freiwillige Tragen von Fahrradhelmen, und wir sprechen uns aus für die freiwillige Gesundheitsüberprüfung für ältere Verkehrsteilnehmer. Arnold Vaatz guckt ungläubig. Wir sind uns noch nicht einig, ab welchem Alter man zu den älteren Verkehrsteilnehmern zählt. ({2}) Wir bekennen uns zum Aus- und Neubau von Verkehrsinfrastruktur. Auch Ortsumgehungen sind ein Beitrag für die Verkehrssicherheit. Das ist für die CDU/CSU ein besonders wichtiger Punkt. Die Verkehrssicherheit in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig besser geworden. Von 2000 bis 2010 ist die Zahl der jährlichen Verkehrstoten um über die Hälfte auf 3 657 gesunken. Im Vergleich zum Nachwendejahr 1991 ist das ein Rückgang um 68 Prozent. Wir müssen aber auch feststellen, dass diese Zahlen erstmals seit 2011 wieder leicht angestiegen sind. Es zeigt sich: Wir haben ein hohes Niveau bei der Verkehrssicherheitsarbeit, aber das ist nicht selbstverständlich, und auch eine Verbesserung ist nicht leicht zu erzielen. Deutschland verzeichnet im EU-weiten Vergleich gemessen an seiner Bevölkerungszahl den viertbesten Wert an Verkehrstoten. 1991 lagen wir noch auf Rang 13. Wir stoßen natürlich an Grenzen, wenn wir neue Konzepte umsetzen wollen; denn der Fortschritt lässt sich nur noch Schritt für Schritt erzielen. Deshalb wollen wir die bisherige bewährte Arbeit fortsetzen, aber auch ergänzen. Vielleicht können wir von unseren Nachbarländern lernen. Ich möchte hierzu zwei Beispiele geben. In Österreich wird sehr erfolgreich ein Mehrphasenmodell bei der Fahrausbildung erprobt und angewandt. Dort ist es so, dass die Fahranfänger nach einigen Monaten selbstständigen Fahrens weitere Lerneinheiten absolvieren müssen. Bei sogenannten Feedbackfahrten unter Anleitung eines Fahrlehrers können Fehler, die sich in den ersten Monaten selbstverständlich einschleichen, registriert, besprochen und abgestellt werden. ({3}) Außerdem ist die Teilnahme an einem Fahrsicherheitstraining und einem verkehrspsychologischen Gruppengespräch verpflichtend. Ich selbst habe an einem solchen Gruppengespräch teilgenommen, und ich muss feststellen: Es hat mich beeindruckt, wie nachvollziehbar der Lernprozess bei Jugendlichen ist. Im Ergebnis verzeichnet Österreich seit Einführung der Mehrphasenausbildung 30 Prozent weniger Unfälle in dieser speziell betroffenen Altersklasse. Deshalb haben wir die Prüfung von Verbesserungen bei der Fahranfängervorbereitung und -ausbildung und die Prüfung einer Begleitphase nach abgelegter Fahrausbildung und Fahrprüfung als einen wichtigen Punkt in unseren Koalitionsantrag aufgenommen. Weiterhin sieht unser Antrag die Prüfung der Einführung sogenannter Alcolocks bei durch Alkoholkonsum auffällig gewordenen Verkehrsteilnehmern vor. Alcolocks werden derzeit in Österreich, in den Niederlanden und auch in den USA sehr erfolgreich eingesetzt. ({4}) Ich stelle fest: Auch in finnischen und französischen Schulbussen erfolgt der Einsatz bereits. Was sind Alcolocks? Das sind handygroße Geräte, die Sie vor Fahrtantritt bedienen müssen. Wenn ein erhöhter Alkoholwert festgestellt wird, lässt sich das Fahrzeug nicht starten. Wir meinen, dass die Alcolocks dafür Sorge tragen können, dass Alkoholiker im Straßenverkehr keine Gefährdung mehr darstellen. Das halten wir für eine wichtige Maßnahme. ({5}) Das sind nur einige Beispiele für wichtige Impulse der zukünftigen Verkehrssicherheitsarbeit, die diese Koalition setzen will. Wir fordern die Bundesregierung auf, das ambitionierte Ziel von 40 Prozent weniger jährlichen Verkehrstoten bis 2020 anzugehen. Gleichzeitig soll der Fokus nicht nur auf die Verkehrstoten gerichtet werden, wir müssen auch die Zahl der Schwer- und Schwerstverletzten reduzieren. Wir brauchen dafür einheitliche Bewertungsmaßstäbe innerhalb Europas, damit wir vergleichbare Zahlen miteinander vergleichen können. Wir müssen einen Fokus auf die besonders gefährdeten Personen richten; das sind Kinder unter 15 Jahren, Fahranfänger zwischen 17 und 24 Jahren und Personen über 75 Jahren. Meine Damen und Herren, die Unfallforscher der Versicherer kommen zu dem Ergebnis, dass die Verkehrssicherheit in Deutschland anders beurteilt wird, als es die Statistik aussagt. Man sagt, dass das Verkehrsklima rauer geworden ist. Das zeigt uns sehr deutlich: In der Verkehrssicherheitsarbeit ist weiterhin viel zu tun, und mit unserem Antrag - so glauben wir - machen wir einen wichtigen Schritt nach vorne. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Gero Storjohann. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Verehrte Gäste! Seit 20 Jahren sinkt die Zahl der Todesopfer bei Verkehrsunfällen, obwohl die Zahl der Verkehrsteilnehmer in dieser Zeit deutlich gestiegen ist. 2011 - mein Vorredner hat es erwähnt - ist sie zum ersten Mal wieder gestiegen. Natürlich stellen wir uns als Verkehrspolitiker die Frage, was wir verkehrt gemacht haben. Ich denke, wir haben nichts verkehrt gemacht. Das sagen uns auch die Experten. Diese Zahl muss uns aber eine Mahnung sein - eine Mahnung, dass die Verkehrssicherheitsarbeit niemals zu Ende sein wird. Dem trägt auch der vorliegende Antrag der SPD Rechnung. Wir fordern eine ambitionierte, moderne Verkehrssicherheitsarbeit für Deutschland. Dieses Thema ist augenscheinlich auch von anderen Fraktionen aufgegriffen worden. Schließlich liegen uns auch Anträge der Grünen und der Koalitionsfraktionen vor. Etwas verwundert bin ich allerdings darüber, dass das Konzept, über das wir heute diskutieren, vom Verkehrsminister schon vorgelegt wurde. Herr Ferlemann, dass Minister Ramsauer die 40 Empfehlungen des von ihm dazu beauftragten Beirats zum großen Teil ignoriert, wundert mich nur mäßig. Dass aber auch die Beratungen dieses Parlaments so wenig Aufmerksamkeit in Ihrem Hause finden, dass Sie das Konzept einfach früher vorlegen, finde ich doch bedenkenswert, zumal noch nicht einmal alle Ideen Ihrer eigenen Fraktion in dieses Verkehrssicherheitskonzept eingeflossen sind. Die SPD fordert in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, konkrete Ziele für die Verkehrssicherheitsarbeit zu definieren und neue Wege auszuprobieren, um die gute Arbeit der vergangenen Jahre fortzuführen. Ich erinnere an das Thema Fahranfänger. Der Kollege Storjohann hat es ausgeführt: Diese sind eine besonders gefährdete Gruppe mit einer traurigen Steigerungsrate an Verkehrsunfalltoten. Wir schlagen vor, Maßnahmen zu entwickeln, um eine Lernzeitverlängerung zu erreichen. Das heißt, auch nach dem Erwerb der Fahrerlaubnis müssen Fahranfängern Maßnahmen angeboten werden. Der Koalitionsantrag - wir haben es gehört - erkennt dieses Thema zumindest an. Allerdings ist im Regierungsprogramm Fehlanzeige. Das wichtige Thema „Mehrphasenmodell in der Fahrausbildung“ kommt in diesem Programm schlicht nicht vor. Also, Herr Ferlemann, sollte nur einer der heute diskutierten Anträge angenommen werden, heißt das für Sie: Nachsitzen! Hausaufgaben machen! ({0}) Wenn das Verkehrssicherheitsprogramm also aufgrund der Vorschläge unserer Fachleute sowieso überarbeitet werden muss, dann können wir es auch gleich auf stabile Füße stellen. Denn was bisher vorliegt, ist eine nette Sammlung lang bekannter Maßnahmen, die übersichtlich und sorgfältig zusammengestellt sind. Weit und breit finden wir aber keine neuen Impulse. Vorausschauende und nachhaltige Verkehrssicherheitsarbeit, meine Herren und Damen, sieht wahrlich anders aus. Was gesellschaftliche Diskurse zum Beispiel über das Thema Höchstgeschwindigkeit - wir alle wissen, dass überhöhte Geschwindigkeit eine der Hauptursachen für tödliche Verkehrsunfälle ist - angeht, so finde ich darüber nichts. Was ist mit selbsterklärenden Verkehrsräumen oder neuen Verkehrskonzepten für die gemeinsame, gleichberechtigte Nutzung von Verkehrsflächen in Innenstädten? Fehlanzeige. Selbst die von Ihnen dargestellten Maßnahmen sind unwirksam, wenn sie erstens nicht die Akzeptanz der Bevölkerung finden und wenn die Polizei zweitens ihre Einhaltung nicht überwacht. Bei der Akzeptanz geht es um Aufklärung. Die Verkehrswachten zum Beispiel leisten hier eine hervorragende Arbeit; mein Kollege Hacker wird noch näher darauf eingehen. Ich möchte an dieser Stelle ein persönliches Dankeschön an alle hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter richten, die sich hier engagieren. ({1}) Für die Überwachung ist die Polizei zuständig. In dem Antrag der SPD fordern wir, die Kontrolldichte zu erhöhen. In der Diskussion im Verkehrsausschuss habe ich von den Kollegen der Koalitionsfraktionen gehört: Dafür sind wir als Bundesbehörden doch gar nicht zuständig. Richtig, Polizeiarbeit ist Ländersache. Das wollen wir auch nicht ändern. Aber selbst in Ihrem eigenen Verkehrssicherheitsprogramm stellen Sie fest, dass zahlreiche der von Ihnen genannten Maßnahmen keinen Erfolg haben werden, wenn die Einhaltung nicht überwacht, also die Kontrolldichte nicht erhöht wird. Welche Folgerungen, Herr Ferlemann, zieht Ihr Minister aus dem, was ich eben gesagt habe? Augenscheinlich keine. Das ist sicherlich die einfachste Lösung, aber ich habe erhebliche Zweifel daran, ob es die sachgerechteste ist. Letzte Woche war ich an der Hochschule der Polizei in Münster und habe vor angehenden Führungskräften das Thema Verkehrssicherheit angesprochen und dargelegt, welche Wünsche wir als Parlament an die Polizei bei der Verkehrssicherheitsarbeit haben. In der anschließenden Diskussion haben mir die Teilnehmenden dargelegt, welche Rolle sie sich hierbei wünschen. Als Fachleute, die Verkehrsunfälle aufnehmen, Ursachen ermitteln und frühzeitig Trends darlegen können, möchten sie gerne in eine Arbeit, die sie direkt betrifft und deren Erfolg von ihrer eigenen Leistung abhängt, eingebunden werden. Sie haben recht damit. Unsere Fraktion hält es für unabdingbar, dass sich alle Akteure verstärkt austauschen und zusammenarbeiten, um das bestmögliche Ergebnis, die Vision Zero, zu erreichen. Wir sind der Meinung, dass man dieses Thema weiter ausbauen sollte. Man könnte zum Beispiel eine Koordinierungsstelle als Bindeglied zwischen der entsprechenden Unterarbeitsgruppe der Innenministerkonferenz und unserem Verkehrsministerium einrichten. Das Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung ist überarbeitungsbedürftig; das hat Kollege Storjohann dargelegt. Stimmen Sie also auch dem Antrag der SPD zu. Dann können wir mit den Vorschlägen, die auch von den Experten in der Anhörung als notwendig erachtet wurden, gemeinsam ein Verkehrssicherheitsprogramm gestalten, das besser geeignet ist, sich den neuen Herausforderungen moderner Mobilität zu stellen - zum Wohle der Menschen in unserem Lande. Herzlichen Dank. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Oliver Luksic. Bitte schön, Herr Kollege. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass unsere umfangreichen Beratungen zur Verkehrssicherheit heute zu einem, denke ich, guten Ende kommen. Wir wissen - das wurde zu Recht betont - um die großen Erfolge der Vergangenheit, die wir alle gemeinsam erzielt haben. Dennoch ist richtig: 2011 gab es zum ersten Mal wieder einen kleinen Anstieg der Zahl der im Straßenverkehr Getöteten. Das sollte uns in der Tat mahnen, uns nicht auf erreichten Erfolgen auszuruhen. Das, was Kollegin Lühmann eben gesagt hat, kann ich voll und ganz unterstreichen: Wir haben in Deutschland zahlreiche Verbände sowie ehrenamtliche Helfer, die sich beispielsweise als Schülerlotsen engagieren und bei Kampagnen der Verkehrswacht mitarbeiten. Sie alle machen Deutschland jeden Tag ein Stück weit sicherer. Dafür ist, glaube ich, der Dank aller Fraktionen im Deutschen Bundestag besonders wichtig und richtig. ({0}) Das Thema Verkehrssicherheit geht alle an. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir uns in der Anhörung so intensiv damit befasst haben. Ich glaube, trotz aller Diskussionen, die geführt werden müssen, haben wir bei diesen Themen sehr viel Gemeinsames entdeckt. Es war eine konstruktive Anhörung. Es ist gut und richtig, dass wir dieses große Fachwissen nutzen. Ich glaube, Einigkeit besteht - das wurde eben angesprochen - beim Thema „Verbesserung der Fahrausbildung“. Dies muss bald angegangen werden. Die sogenannte zweite Stufe, also die Betreuung nach der ersten Ausbildung, liegt uns als FDP sehr am Herzen. Ich hätte mir dazu ein klareres Bekenntnis im Verkehrssicherheitsprogramm gewünscht. Sie wissen, dass die BASt, die Bundesanstalt für Straßenwesen, aktuell Empfehlungen zur Verbesserung der Fahrausbildung ausarbeitet. Ich bin sehr hoffnungsfroh, dass dieser Gedanke dort aufgenommen wird und wir dieses Thema weiter verfolgen können. Es bietet nämlich großes Potenzial für die Verkehrssicherheit. Deswegen steht die FDP klar zu dem Modell, das wir auch aus Österreich kennen. ({1}) Was die technische Seite betrifft, ist es, glaube ich, wichtig, dass wir uns auf die neuen Herausforderungen der Verkehrssicherheit einstellen. Pedelecs gewinnen an Bedeutung. Dies ist ein wichtiges Thema, weil schon heute technische Schwierigkeiten bestehen und es zu Rahmenbrüchen kommt, wodurch die Unfallzahlen steigen. Wir müssen meiner Meinung nach auch über die Schaffung neuer Fahrzeugklassen nachdenken. Wir werden mit Sicherheit, weil dies gerade im Bundesrat ein Thema ist, auch über die Helmpflicht strittig diskutieren. Wir als FDP und die Koalition setzen auf freiwillige Maßnahmen und Kampagnen wie „Ich trage Helm“ und „Fahrradhelm macht Schule“. Würde man eine Helmpflicht einführen, bestünde nämlich die große Gefahr, dass das Radfahren unattraktiver und geschwächt würde. Das ist unserer Meinung nach genau der falsche Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen. Bei aller Übereinstimmung beim Thema Verkehrssicherheit gibt es natürlich auch Unterschiede zwischen den Fraktionen, auch bei den Ansätzen. Unsere Leitlinie ist nicht Vermeidung von Verkehr, sondern lebenslange Mobilität; diese soll natürlich sicher sein. Eine gute Verkehrserziehung soll so früh wie möglich anfangen, auch im motorisierten Bereich. Deswegen begrüßen wir es ausdrücklich, dass im Hinblick auf AM 15, den Mopedführerschein mit 15, in drei Bundesländern Feldversuche durchgeführt werden, nämlich in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Unser Ziel ist eine bessere Ausbildung der jungen Fahrer, vor allem im Vergleich zur aktuell schlechten Mofaausbildung. Wir meinen, man sollte diese Feldversuche nicht von vornherein ablehnen, sondern die Ergebnisse der Prüfung abwarten. Wir finden es gut, dass drei Bundesländer bei diesem Thema, zu dem es auch einen Beschluss des Deutschen Bundestages gibt, vorangehen. ({2}) Den geschützten Erfahrungsaufbau müssen wir natürlich weiterdenken. Die Koalition hat sich schon sehr lange und sehr frühzeitig mit dem Thema BF 17 beschäftigt. Es ist ein Erfolgsprojekt. Allerdings nehmen noch zu wenige Angehörige der entsprechenden Altersgruppe daran teil, nur knapp 50 Prozent. Diesen Anteil müssen wir steigern und zusammen mit allen Verbänden und Fahrschulen höhere Teilnahmezahlen erwirken. Wir müssen auch über das nachdenken, was wir in der Anhörung erfahren haben. Das Thema „Begleitetes Fahren mit 16“ sollte schon als Idee angedacht werden, natürlich verbunden mit Geschwindigkeitsbeschränkungen oder dem verpflichtenden Einbau von Fahrerassistenzsystemen. Die FDP jedenfalls steht dem Gedanken des begleiteten Fahrens mit 16 sehr offen gegenüber. ({3}) Von Fahrerassistenzsystemen erwarten wir und erhoffen wir uns besonders viel für die wichtige Gruppe der älteren Fahrer. Da die demografische Entwicklung so ist, wie sie ist, und da wir uns die Unfallzahlen genau anschauen müssen, ist es wichtig, im Hinblick auf Fahrerassistenzsysteme mehr zu tun. Das bringt unserer Meinung nach mehr als Drohungen wie der Führerscheinentzug oder eine Pflichtprüfung alle zehn Jahre, wie es die Grünen in ihrem Antrag fordern. Die Koalitionsfraktionen sind der Meinung, dass wir kein Beschäftigungsprogramm für bestimmte Berufsgruppen brauchen. Wir wollen die Mobilität erhalten, gerade die der älteren Fahrer, die wir nicht ausgrenzen wollen. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, den wir festhalten müssen. ({4}) Strittig sind immer wieder die Promillegrenzen; das waren sie auch in den Ausschüssen. Ich glaube, ein Thema, das wir wirklich angehen müssen - hier wird wahrscheinlich Konsens bestehen -, ist die Promillegrenze für Radfahrer. Mit 1,6 Promille kann man kein Fahrzeug mehr steuern, auch kein Fahrrad. Darüber wird gerade auch in der einen oder anderen Universitätsstadt heftig diskutiert. ({5}) Eine allgemeine 0,0-Promille-Grenze im Straßenverkehr lehnen wir als unverhältnismäßig ab. Das Problem sind unserer Meinung nach die Fahrer, die 1 Promille Alkohol und mehr im Blut haben. In der Anhörung hieß es zu Recht, dass es eher um fahrende Trinker als um trinkende Fahrer geht. Dieses Thema müssen wir angehen, statt diejenigen, die zum Essen ein Bier trinken, zu gängeln. Das ist unserer Meinung nach falsch. Falsch ist auch die Forderung nach Tempolimits. Es gibt schon heute genug Möglichkeiten, auch innerorts, wie es die Oppositionsfraktionen anregen, überall Tempo 30 einzuführen, wenn dies im Hinblick auf die Verkehrssicherheit notwendig ist. Wir meinen, dass eine umfangreiche Verbotskultur, wie wir sie Ihren Anträgen entnehmen, in die falsche Richtung führen würde. Klar ist - das ist ein weiteres wichtiges Thema, bei dem, glaube ich, Konsens besteht -: Wir sollten den Fokus mehr auf die Landstraßen richten und die Idee von der selbsterklärenden und Fehler verzeihenden Landstraße verfolgen. Wir können auch hier über Sicherheitsaudits vor möglichen Aus- und Umbaumaßnahmen nachdenken, um Unfallschwerpunkte zu entschärfen. Klar ist: Wir müssen gemeinsam an diesem Thema arbeiten. Zehn Tote pro Tag sind noch immer zu viel. Unser Ziel muss eine lebenslange und sichere Mobilität sein. Dafür stehen die Koalitionsfraktionen. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Oliver Luksic. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unser Kollege Herbert Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verkehrsunfälle gehören zu den grausamsten Todesursachen, die wir kennen. Angehörige und Freunde bleiben gezeichnet für ihr ganzes Leben zurück. Das passiert tausendfach in unserem Land: 2010 waren es 3 657 Verkehrstote, 2011 werden es vermutlich 3 900 gewesen sein. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn die Zahlen wieder steigen. Unser oberstes Ziel muss sein: Runter mit der Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr, und zwar deutlich! In der Europäischen Union ist man sich hier einig. Die Zahl der Unfalltoten auf den Straßen soll in den nächsten zehn Jahren im Vergleich zu 2010 halbiert werden. Das heißt, 2020 sollen es in Deutschland nicht mehr als 1 800 Todesopfer auf der Straße sein. Die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion halten das für unrealistisch und verabschieden sich von diesem gemeinsamen europäischen Ziel. Damit widersprechen Sie selbst dem Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung. Dort ist zu lesen: Jedes Opfer von Verkehrsunfällen ist eines zu viel. Das bedeutet doch wohl: Es soll keine Toten mehr im Straßenverkehr geben. Das sagt die Bundesregierung. In den Beratungen haben wir Fraktionen der Opposition versucht, Sie davon zu überzeugen, mutiger zu sein, als Sie es dann waren. Die Linke hat Sie aufgefordert, die 40 Einzelmaßnahmen, die Sie aufgeschrieben haben, zusammenzufassen, damit ein wirkliches Programm erkennbar wird, das zu mehr Verkehrssicherheit führen soll. Sie haben das abgetan mit dem Hinweis, die Bundesrepublik stehe im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten doch gut da, weil wir in Bezug auf die Verkehrssicherheit an vierter Stelle stehen. Damit werden wir dem Problem doch nicht gerecht! Die Linke fordert eine neue Verkehrspolitik, das heißt, weniger Straßenverkehr und mehr Geld für Verkehrssicherheit. Das ist doch besser als der bedarfsgerechte Ausbau des Bundesverkehrsstraßennetzes, den die Regierungsfraktionen fordern. Die Menschen müssen und wollen auch mobil sein. Um ihren Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz zu erreichen, sind sie häufig auf das Auto angewiesen. Oft haben sie gar keine andere Wahl als das Auto, um zum richtigen Zeitpunkt an dem Ort zu sein, an dem sie sein müssen. Der öffentliche Personenverkehr muss in der Konsequenz also ausgebaut werden, und zwar so, wie ihn die Menschen brauchen. Das wäre ein wichtiger Beitrag zu mehr Verkehrssicherheit auf den Straßen, aber das kommt in keinem der Anträge vor. „Runter vom Gas!“: Das ist nicht nur eine Aufforderung auf den Plakaten der Deutschen Verkehrswacht, sondern das heißt auch für uns als Gesetzgeber: runter mit den Tempolimits auf den Autobahnen, auf Landstraßen und auch innerorts. Tempolimits bringen allen Verkehrsteilnehmern mehr Ruhe, mehr Übersicht und mehr Sicherheit. Das schützt vor allem die schwächeren Verkehrsteilnehmer. Bis das alle akzeptiert haben, braucht es Zeit; das ist klar. Sie schreiben auch selber: Ohne Re18210 gelakzeptanz der Bürgerinnen und Bürger geht das nicht. D’accord; das ist richtig. Ohne Geld für Verkehrssicherheitsprogramme geht es aber eben auch nicht. Deshalb haben die Linken und auch die Fachverbände in der Anhörung gefordert, den Etat im Bundeshaushalt für diesen Bereich von 10 auf 14 Millionen Euro maßvoll, wie wir denken, zu erhöhen. Sie waren dagegen. Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag einen Masterplan. Viele Forderungen stehen darin. Wir sind zwar nicht mit allen Punkten einverstanden, aber die Richtung stimmt. Vision Zero als oberstes Ziel, Tempolimits und die Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2020 sind die Kernforderungen, die auch wir unterstützen. Im Antrag der SPD-Fraktion stehen auch viele wichtige Forderungen, die wir unterstützen können, aber an der entscheidenden Stelle bleiben Sie doch wieder einmal zaghaft, und Sie bleiben auch hinter der Forderung Ihrer Partei zurück. 2007 beschlossen Sie auf Ihrem Parteitag, doch Tempo 130 auf den Autobahnen zu fordern. Sie argumentierten mit der Sicherheit und der Umwelt. In Ihrem heutigen Antrag tasten Sie sich jetzt langsam wieder an das Vernünftige und Notwendige heran und fordern ein Tempolimit zunächst für Kleinlaster. Auch bei der Frage von Tempolimits in geschlossenen Ortschaften wollen Sie nur prüfen, ob Tempo 30 sinnvoll ist. Ich denke, es wird Zeit zum Handeln. Das Verkehrssicherheitskonzept für die Straßen, das uns hier von CDU/CSU und FDP vorgelegt wird, bleibt hinter dem zurück, was möglich und was notwendig ist. Wir alle wollen doch erreichen, dass niemand mehr im Straßenverkehr zu Schaden kommt. Wir alle wollen doch mehr Sicherheit und Lebensqualität und akzeptieren nicht, dass 30 Milliarden Euro volkswirtschaftlicher Schaden nur durch Verkehrsunfälle entsteht. Bei so viel Übereinstimmung sollte es eigentlich möglich sein, zu mehr Gemeinsamkeit zu kommen. Die Regierungsfraktionen sind dagegen; das verstehe, wer will. Die Linke will eine solidarische und ökologische Verkehrspolitik. Das bedeutet an manchen Stellen Grenzen für die Starken und aktiven Schutz für die Schwachen. Nur so können wir aber ein faires Miteinander erreichen und die Zahl der Verkehrstoten konsequent verringern. Vielen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Behrens. - Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Stephan Kühn. Bitte schön, Kollege Stephan Kühn.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung ist die große Chance verpasst worden, ein ambitioniertes Gesamtkonzept für das Thema Verkehrssicherheit vorzulegen. Die Vision Zero, das heißt, die Zahl der Verkehrstoten auf nahe null zu reduzieren, wie es die Europäische Union, der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und der eigene Wissenschaftliche Beirat beim Verkehrsministerium fordern, ist nicht erklärtes politisches Ziel der Bundesregierung. Trotz jahrelanger Appellpolitik und Kampagnen mit tollen Websites stagniert die Zahl der Unfälle im Straßenverkehr. Die Zahl der Unfalltoten 2011 ist im Vergleich zu 2010 wieder angestiegen, und zwar um 7 Prozent. Es ist also kein Trend absehbar, der erkennen lässt, dass das Ziel der Bundesregierung, die Zahl der tödlich Verunglückten im Straßenverkehr bis 2020 um 40 Prozent zu senken, tatsächlich erreicht werden kann. Unangepasste Geschwindigkeit und das Fahren unter Alkoholeinfluss sind Ursache Nummer eins und Nummer zwei von Verkehrsunfällen. Maßnahmen gegen diese beiden Unfallursachen sind hinlänglich bekannt. Die Wissenschaft hat sich dazu klar geäußert. Aber trotzdem passiert nichts. Aus meiner Sicht besteht die gesellschaftliche Verpflichtung, diese vorgeschlagenen Maßnahmen umzusetzen, wenn dadurch zahlreiche Menschenleben gerettet und die schweren Unfallfolgen vermieden werden können. ({0}) Dazu zählen die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen, die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, Herr Kollege Luksic, innerhalb von Ortschaften - das hat auch das Europäische Parlament so beschlossen - sowie ein striktes Alkoholverbot für Autofahrer. Symbolpolitik ersetzt keine Ordnungspolitik. ({1}) Anstatt Klaviermusik-CDs wie „Adagio im Auto“ zu produzieren, sollte sich der Verkehrsminister an die Umsetzung dieser Maßnahmen machen. ({2}) Die Versuche zum Thema Alkoholverbot für Fahranfänger wurden doch erfolgreich durchgeführt und haben sich bewährt. Warum gilt dieses Verbot dann nicht für alle? Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat fordert das seit Jahren. Die Zahl der getöteten Fußgänger ist im Vergleich zum Jahr 2010 um dramatische 25 Prozent gestiegen. Ich will kurz beschreiben, welchen Unterscheid Tempo 30 gegenüber Tempo 50 macht. Auf trockener Fahrbahn ist der Bremsweg bei Tempo 30 12 Meter lang, bei Tempo 50 ist er 26 Meter lang. ({3}) Nach 12 Metern ist man immer noch 45 km/h schnell. Bei dieser Geschwindigkeit ist die Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen sehr hoch. Darum besteht hier dringender Handlungsbedarf. Von Minister Ramsauer hören wir im Wesentlichen Appelle zur Verhaltensänderung an die ungeschützten Verkehrsteilnehmer, wie beispielsweise der Hinweis an Radfahrer, Helme zu tragen, oder an Schulkinder, Warnwesten überzuziehen. Es geht offenbar nicht darum, den Verkehr für die ungeschützten Verkehrsteilnehmer sicherer zu machen und den Verkehr entsprechend anzupassen. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Bundesregierung den Schwerpunkt eher auf die Vermeidung von Unfallfolgen anstatt auf die Vermeidung von Verkehrsunfällen legt. Gerade beim Radverkehr zeigt sich deutlich, dass die Fahrradinfrastruktur nicht auf dem Stand der Technik ist. Die Konsequenz der Bundesregierung: Die Ausgaben für den Bau von Radwegeanlagen entlang von Bundesstraßen wurden von 100 Millionen Euro im Jahr 2010 auf 60 Millionen Euro im Jahr 2012, also um 40 Prozent, gekürzt. Bekleidungsvorschriften, meine Damen und Herren von der Koalition, für Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer verhindern keine Unfälle, Sicherheitstechnik in Fahrzeugen allerdings schon. Dazu zählen beispielsweise Abbiege- und Bremsassistenten für Lkw, Türöffnerwarnung und dergleichen mehr. Diese Systeme sind aber alle nicht verpflichtend. Entsprechend gering ist die Marktdurchdringung, gerade auch bei den Pkw. Unfälle und deren Folgen verursachen jährlich volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von über 30 Milliarden Euro. Mehr Verkehrssicherheit erspart nicht nur Leid, sondern sie spart auch Geld. Dafür ist es notwendig, klug in die Verkehrsinfrastruktur und auch in die Aufklärungsarbeit zu investieren. Für mich ist daher unverständlich, warum der Haushaltsansatz für die Verkehrserziehungsmaßnahmen seit Jahren stagniert. Es ist eine indirekte Kürzung, wenn der Haushaltsansatz nicht aufwächst. Im Übrigen wird überall von lebenslangem Lernen gesprochen, nur in der Mobilitätserziehung nicht. Es gibt eine Konzentration auf den vorschulischen Bereich und die Grundschule. Dann bricht es massiv ab. Auch hier würde ich mir eine Initiative der Bundesregierung wünschen, die ich aber nicht erkennen kann. ({4}) Kommen wir zur Verkehrsinfrastruktur. Es gibt keine Einführung systematischer Sicherheitsaudits, obwohl die uns viel Geld sparen würden. Es ist nämlich teurer, die Infrastruktur erst nach Unfällen umzubauen. Wir haben auch kein durchgängiges Prinzip bei Straßenplanung und Bau, das „selbsterklärende Straße“ heißt. Wir versuchen damit, den Straßenraum so zu gestalten, dass dem Verkehrsteilnehmer de facto das richtige Verhalten vorgegeben wird. Sichere Verkehrsanlagen wären durch sichere Geschwindigkeit möglich. Auch das spart Geld. Es ist ein Unterschied, ob eine Autobahn für Tempo 120 oder eine Verkehrsanlage ohne Geschwindigkeitsbegrenzung geplant wird. Man kann Platz sparen, und man kann auch im Bereich der Sicherungstechnik der Straße etwas sparen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, die Farbe Rot hat die ähnliche Bedeutung wie bei der Ampel. ({0}) Daran darf ich Sie erinnern.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich nehme das zur Kenntnis und komme abschließend auf ein Thema zu sprechen, das mir sehr wichtig ist. Vor wenigen Tagen wurde eine Petition im Deutschen Bundestag eingereicht, die regelmäßige verpflichtende Gesundheits- und Fahrtauglichkeitstest ab dem Alter von 65 Jahren fordert. Hintergrund der Petition ist, dass im letzten September zwei Mitglieder eines Sportvereins auf der A 14 durch einen 82-jährigen Geisterfahrer tödlich verletzt wurden. Ab dem Jahr 2013 ist der Führerschein nicht mehr unbegrenzt gültig, sondern nur noch 15 Jahre. Dies bietet die Chance, verpflichtende Gesundheitschecks daran zu koppeln.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie haben die Ampel wirklich überfahren. ({0})

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das passiert nicht, und das ist ärgerlich. Hier besteht Handlungsbedarf.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bei aller Liebe: Sie kommen jetzt zum Schlusssatz.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz: Ich wünsche mir - das ist auch in der Debatte deutlich geworden; es wird in den Anträgen deutlich; es wird in der Petition deutlich, und es wird mit der Zahl der Unfälle deutlich, die sich nicht so entwickelt, wie wir uns das wünschen -, dass das Verkehrssicherheitskonzept der Bundesregierung überarbeitet wird. Herzlichen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Volkmar Vogel. Bitte schön, Kollege Volkmar Vogel. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner aus der Koalition, Oliver Luksic und Gero Storjohann, haben bereits trefflich zu den Erfolgen der Verkehrssicherheitsarbeit berichtet. Eigentlich kann Volkmar Vogel ({0}) man es nicht oft genug sagen. Denn es geht um vermiedenes menschliches Leid. Es geht um Gesundheit und um Sachwerte, die erhalten bleiben. Trotzdem will ich mich in meinen Ausführungen kurzfassen und nur auf einige aus meiner Sicht wichtige Faktoren hinweisen. Zusammengefasst sind es drei Faktoren, die maßgeblich zum Erfolg beitragen, aber natürlich auch zum Misserfolg führen können, nämlich der Mensch, unsere Infrastruktur und die Technik. Es ist der Mensch, der vorsichtig fährt, Gefahrensituationen trainiert hat, gut informiert ist, aber auch durch Radarblitz oder Bußgeld belehrt wird. Auch das gehört dazu. Es sind aber auch die Menschen, die ehrenamtlich für die Verkehrssicherheit arbeiten und die bei der Verkehrswacht und beim Verkehrssicherheitsrat, in den Automobilclubs, beim THW, der Feuerwehr oder in den Hilfsorganisationen Verkehrsteilnehmer schulen, mit ihnen üben, ihnen helfen und ihnen das Leben retten. Ihnen gilt unser Dank. Mit den Investitionen in die Straßeninfrastruktur sorgen wir immer auch ein Stück weit für mehr Verkehrssicherheit, sei es, wenn es um die Kreuzungsgestaltung, die einen Fehler verzeiht, um die Entschärfung gefährlicher Kurven oder um Ortsumgehungen geht. Ortsumgehungen sind in erster Linie für die Menschen gedacht. Für mich steht das Schutzgut Mensch noch immer an erster Stelle, gefolgt von Flora, Fauna und Habitat. ({1}) Neben den Straßen ist es die Technik der Fahrzeuge, die das Fahren sicherer gemacht hat. Knautschzone, Sicherheitsgurt, ABS und ESP tragen maßgeblich dazu bei. Man könnte sagen: alles auf gutem Weg, alles im grünen Bereich. Trotzdem will sich die christlich-liberale Koalition mit dem Erreichten nicht zufriedengeben. Wir haben frühzeitig unsere Konzepte in einem Antrag formuliert. Die anderen Fraktionen sind dem gefolgt. Der Mensch steht für uns weiterhin im Mittelpunkt. Deswegen ist es für uns wichtig, bewährte Programme zu Information und Ausbildung fortzusetzen. Die Mittelausstattung für die Verkehrswacht und den Verkehrssicherheitsrat ist gewährleistet, natürlich immer mit Blick auf die gesamte Haushaltslage. Ordnungsrecht hilft nicht immer. Eine Verschärfung von Vorschriften allein, Einschränkungen oder gar Verbote für zum Beispiel jüngere oder ältere Fahrer sind keine Lösung. Immer neue Maßregeln führen sehr schnell dazu, dass die Akzeptanz bei den Bürgern sinkt und wir am Ende das Gegenteil erreichen. Ständige Verbote helfen nicht wirklich. Außerdem handelt der weit größte Teil verantwortungsvoll. Die Menschen haben ein Recht auf weitreichende, selbstbestimmte Mobilität. Unser Ziel ist nicht, noch mehr Vorschriften zu erlassen. ({2}) Das gilt auch im Hinblick auf die jungen Fahranfänger. Sie rechtzeitig auf Gefahren hinzuweisen und ihnen zu helfen, ist besser, als mit Verboten schützen zu wollen. Das begleitete Fahren mit 17 ist ein gelungenes Beispiel dafür. Wir sollten die Modellversuche, die das Mopedfahren mit 15 ermöglichen, konstruktiv begleiten. Trotzdem können Fehler passieren, jedem von uns, manchmal mit schlimmen Folgen. Deswegen sollten wir mehr als bisher die technischen Möglichkeiten, die es heutzutage gibt, nutzen. Sekundenschlaf im Lkw kann verheerende Folgen haben. Wenn es passieren soll, passiert es, egal wie lange die letzte Pause zurückliegt. Deshalb gehört meiner Meinung nach aktiven Fahrsicherheitssystemen die Zukunft. Neben den passiven werden es immer mehr Notbremssysteme und Seitenabstandswarner sein, die in Verbindung mit ABS und ESP das Schlimmste verhindern. Alle Systeme, die Energie herausnehmen, also die bei Gefahr verlangsamen oder bremsen, sind sinnvoll. Deswegen wird die christlichliberale Koalition den Einbau solcher Geräte weiterhin unterstützen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass das hohe deutsche Niveau bei Technik und Sicherheit EUweit erreicht wird. Dass Sie mich nicht falsch verstehen: Auch die Technik ist kein Allheilmittel. Nicht alles, was im Fahrzeug machbar ist, ist sinnvoll. Es gilt noch immer: Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Diese Kraft überfordert irgendwann jede technische Einrichtung, sodass es am Ende immer der Mensch ist, der mit Verantwortungsbewusstsein andere und sich selber schützt. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Volkmar Vogel. - Nächster Redner für die Sozialdemokraten ist unser Kollege Hans-Joachim Hacker. Bitte schön, Kollege Hacker. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in kaum einem anderen Bereich herrscht so viel Konsens über die Ziele, die wir erreichen wollen, wie bei den Themen Verkehrssicherheit und Prävention. Mit dem schon angesprochenen nationalen Verkehrssicherheitsprogramm 2011 und dem dritten europäischen Verkehrssicherheitsprogramm, das bis 2020 reicht, erfolgen Weichenstellungen für die Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland und in Europa. Aber die sozialdemokratische Fraktion meint, dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht ausreichen; darüber haben wir schon diskutiert. Ich will im Einzelnen darauf eingehen. Maßnahmen sind dringend notwendig, weil sonst das angestrebte Ziel, bis 2020 in Deutschland die Zahl der Verkehrstoten um 40 Prozent zu reduzieren, nicht erreicht werden kann. Das Statistische Bundesamt hat für das Jahr 2011 erstmalig wieder eine Steigerung der Zahl der Verkehrstoten, nämlich auf wahrscheinlich 3 900, errechnet. Das ist eine Steigerung um 7 Prozent gegenüber dem Vorjahr 2010. Es geht mir nicht allein um die Zahl der Verkehrstoten; es geht um das Leid, das für die Familien dahintersteht. Wir sollten in Zukunft auch den Fokus noch stärker auf die Betroffenen von Unfällen lenken, die ihr Leben lang ein Schicksal als Schwerstverletzte haben. Wir brauchen Bewertungskriterien. Herr Storjohann, Sie haben, glaube ich, angesprochen, dass wir zu einer Vergleichbarkeit kommen müssen. Das alles ist Technik. Wir müssen die Zahl der Verkehrstoten, die Zahl der Unfälle an sich reduzieren. ({0}) Die Untersuchungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesverkehrsminister, aber auch die Empfehlungen, die von der Deutschen Verkehrswacht und vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat aufgrund von Erfahrungen gegeben worden sind, stellen besondere Risikogruppen und Gefahrenbereiche in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die schwächeren Verkehrsteilnehmer - das sind Kinder, ältere Menschen, aber auch Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren, die keine Erfahrung haben müssen weiterhin im Fokus bleiben, ebenso Kraftradführer. Die Zahl der getöteten Motorradfahrer wird voraussichtlich um 13 Prozent steigen. Um diese Gruppen müssen wir uns in der Präventionsarbeit noch stärker kümmern. Die meisten Verkehrsunfälle - das ist eine Tatsache ereignen sich auf Landstraßen. Wir haben dort ungefähr 60 Prozent der Verkehrstoten zu beklagen. Ich will damit jedoch nicht sagen, dass wir im Deutschen Bundestag oder im Bereich der Verkehrssicherheitsarbeit jetzt eine Diskussion über Alleen in Deutschland führen sollten; denn nicht die Alleen sind Ursache von Verkehrsunfällen, sondern Ursache ist die unangepasste Verhaltensweise im Verkehr, nämlich von risikobereiten oder - sagen wir es einmal richtig - verantwortungslosen Verkehrsteilnehmern. Das müssen wir, denke ich, in der Diskussion über Präventionsmaßnahmen, über Präventionsarbeit in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen sagen, worum es geht. Es geht um Alkoholgenuss, es geht um unangepasste Geschwindigkeit, und es geht um riskante Überholmanöver. Das sind die Ursachen von Verkehrsunfällen; Ursache ist nicht die Allee und auch nicht der Straßenbaum. Die Unfälle wären weitestgehend vermeidbar, wenn wir alle - ich sage ganz bewusst: wir alle - uns an die Grundregeln der Straßenverkehrsordnung halten würden, wie sie in § 1 definiert sind: Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme; Gefahrenminimierung. ({1}) Das ist der zentrale Appell, der auch aus dieser Diskussion hinausgehen muss und der von den Ehrenamtlern in Gesprächen mit Verkehrsteilnehmern immer wieder in den Vordergrund gestellt wird. Hier ist heute schon über Geld gesprochen worden; ich will das auch noch einmal tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben wider besseres Wissen gegen eine moderate Erhöhung der Verkehrssicherheitsmittel gestimmt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat Anträge im Verkehrsausschuss und im Haushaltsausschuss gestellt. Wir haben damit auch Forderungen der Deutschen Verkehrswacht und des Deutschen Verkehrssicherheitsrats aufgegriffen. Wir haben nicht übermäßig hohe Forderungen gestellt. Das hätten wir machen können. Die Ehrenamtler brauchen einen Inflationsausgleich. Seit 20 Jahren sind die Mittel nicht angepasst worden. Ich will noch drei zentrale Punkte nennen, die in dem Programm der Bundesregierung nicht enthalten sind. Sie haben die Arbeit des eigenen Beirats nicht genügend berücksichtigt. - Herr Ferlemann, Small Talk mit der Kollegin oder Debatte? - Sie haben einen Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium berufen. Der Bundesminister für Verkehr, Herr Dr. Ramsauer, hat einen Wissenschaftlichen Beirat, und der hat Vorschläge unterbreitet. Ich nenne sie nur einmal ganz kurz in Stichpunkten. Die Vorschläge beinhalten ein generelles Verbot des Fahrens unter Alkohol. Warum schaffen wir es nicht, endlich eine Regelung für eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 Kilometer pro Stunde auf deutschen Autobahnen zu treffen? Ich nenne auch das Thema Pedelecs. Sie stellen mittlerweile eine Gefahrenquelle dar, die wir in den Blick nehmen müssen. Keine Aussage zu diesen wichtigen Themen in Ihrem Programm!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hacker, ich weiß nicht, wie viele Punkte das Programm umfasst, ({0}) aber es steht fest, dass Ihre Redezeit zu Ende ist.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich habe Ihren dringenden Hinweis schon gesehen. Ich bin auch schon beim letzten Satz.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte, ihn jetzt auch zu befolgen.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich, ich schließe mich immer den Wünschen der Präsidentin an. Ich fordere Sie auf, Herr Ferlemann: Handeln Sie! Appelle reichen nicht. Die Diskussion um eine PkwMaut reicht nicht. Wir brauchen hier mehr konkrete Maßnahmen. Die Vorschläge sind im SPD-Antrag enthalten. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Den Letzten beißen bekanntlich die Hunde. ({0}) Fast alle guten Vorschläge sind von der einen oder anderen Seite schon unterbreitet worden. Ich möchte aber schon noch eines sagen, da ich öfter hörte, die Unionsfraktion wagt es, in ihrem Antrag über das aktuelle Verkehrssicherheitsprogramm ihres eigenen Ministers hinauszugehen: Es ist wohl der Sinn des Parlamentarismus, dass wir nicht nur unserer Regierung blind hinterherhoppeln, ({1}) sondern dass wir auch eigenständig Vorschläge machen und in der Lage sind, diese schriftlich zu formulieren und einen Antrag vorzulegen. ({2}) Da wir unseren geschätzten Minister gut kennen, wissen wir, dass er selbstverständlich alle diese Vorschläge wohlwollend in sein Programm aufnehmen wird. Es ist bereits häufiger die Statistik genannt worden. Einerseits ist bis einschließlich 2010 die Zahl der Verkehrstoten deutlich zurückgegangen, andererseits hat wohl 2011, begünstigt durch das sehr milde Klima im Frühjahr und damit durch eine früh beginnende Motorradsaison, die Zahl der Verkehrstoten zugenommen. Das ist dramatisch, und wir sollten uns nicht wegducken; das ist völlig klar. Ich schließe mich aber all jenen Vorrednern an, die sagten - ich würde es in einem Satz zusammenfassen -: Technik und Theorie ersetzen nicht die Eigenverantwortung im Verkehr. Herr Kollege Hacker, Sie haben mir dabei wirklich aus der Seele gesprochen, und auch mein Kollege Vogel sprach es an. Wenn wir uns alle im Verkehr nicht verantwortlich verhalten - dabei genügen wirklich einige wenige Prinzipien, an die man sich zu halten hat -, dann helfen alle guten Appelle, wünschenswerten Maßnahmen sowie technischen Einrichtungen in Pkw und Lkw relativ wenig. Die Fahrer müssen damit klarkommen, was ihnen die Technik vorgibt. Dies muss für uns alle das Leitbild sein, wenn wir über Verkehrssicherheit sprechen. Es gab in den letzten Jahren gute Kampagnen, die richtig waren. Sie alle kennen die Plakate „Runter vom Gas!“ mit markanten Fotos, die uns, denke ich, alle schon an den unterschiedlichsten Stellen dieser Republik erschüttert haben. Wir alle haben uns über den Erfolg des begleiteten Fahrens ab 17 gefreut. Aus einem Modellversuch ist nun eine dauerhafte Einrichtung geworden. Dies haben wir sowohl unseren beiden Regierungsfraktionen als auch dem Verkehrsministerium zu verdanken. Wie gesagt, das begleitete Fahren ist ein sehr wichtiger Punkt in dieser Legislaturperiode. Es hatte schon vorher große Erfolge aufzuweisen, und in der Zukunft ist sicherlich mit noch größeren Erfolgen zu rechnen. Unser Antrag ist bereits angesprochen worden. Er geht in einigen Punkten über das hinaus, was der Minister vorgeschlagen hat. Wichtig ist natürlich auch die Sicherheit auf Autobahnen - zur Sicherheit auf Landstraßen hat mein Kollege Storjohann bereits Ausführungen gemacht -: Zur Sicherheit auf Autobahnen gehört natürlich - da sind wir dabei -, dass wir adäquate Möglichkeiten bieten, damit LkwFahrer sich ausruhen und parken können. An bestimmten Tagen - ich erlebe das selbst im Grenzgebiet zu Österreich, wenn in Österreich Feiertag ist - müssen die Lkw bei uns auf dem Seitenstreifen parken, weil sie nirgends sonst halten können - ein unhaltbarer Zustand sowohl für die Fahrer, aber auch für die übrigen Verkehrsteilnehmer, die regelmäßig Gefahr laufen, einen dort rechtswidrig parkenden Lkw zu übersehen. Wir alle haben noch die dramatischen Unfälle vor Augen, bei denen ein Pkw in einen parkenden Lkw rast. Hier ist seit 2008 viel getan worden. Wir haben uns die Zielvorgabe gesetzt, die Lkw-Parkplätze an unseren deutschen Autobahnen deutlich auszubauen. Das ist wirklich ein wichtiger Punkt, der nicht wenig Geld kostet, aber sicherlich unumgänglich sein wird. 11 000 solcher Parkplätze wollen wir bis Ende 2012 erreichen. Auch das hat etwas mit Verkehrssicherheit zu tun. Wir haben darüber, ob eine Helmpflicht eingeführt werden soll oder nicht, ausführlich diskutiert. Meine Partei ist nicht unbedingt verdächtig, eine reine Verbotspartei zu sein. Entsprechend hat es auch durchaus Aufruhr gegeben, und es wurde gefragt: Wie kann der Minister eine Helmpflicht vorschreiben? Dazu möchte ich Ihnen sagen: Meine Mitarbeiterin in meinem Berliner Büro radelt mit großer Begeisterung in Berlin. Sie sagt: Ich bin zwar auch gegen Verbote, aber zumindest hier in Berlin müsste man eine Helmpflicht einführen. Hier leben Radfahrer wirklich gefährlich, manchmal durch eigenes Verhalten, manchmal durch das Verhalten der Autofahrer. Auch in diesem Bereich darf es also keine Tabus geben. Auch ich wäre froh, wenn wir es schaffen würden, die Quote derjenigen, die einen Helm tragen - diese beträgt zurzeit 9 Prozent -, auf freiwilliger Basis zu erhöhen. Wenn das nicht klappt, werden wir uns zumindest darüber unterhalten müssen, was wir für radfahrende Kinder und Jugendliche tun können. Das sind unsere schwächsten Verkehrsteilnehmer. Diese müssen wir in besonderer Weise schützen. Das, was ich zum Eingang sagte, wiederhole ich zum Ende: Technik ersetzt nicht die Eigenverantwortung im Straßenverkehr. Das gilt für uns alle. Da können wir uns sicherlich alle noch bessern. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Petra Pau Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/8341. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5530 mit dem Titel „Die Verkehrssicherheit in Deutschland weiter verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5772 mit dem Titel „Sicher durch den Straßenverkehr - Für eine ambitionierte Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7466 mit dem Titel „Masterplan Straßenverkehrssicherheit - Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011-2020 vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPDFraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Tack, Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren - Drucksache 17/8182 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD-Fraktion. ({2})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer heute eine Versicherung oder einen Fonds abschließen möchte, der wird hierzu kostenlos vom Versicherungsvermittler oder Bankberater beraten. Zahlungen erfolgen erst bei Abschluss und gehen häufig über die gesamte Laufzeit als Provisionen. Ich möchte dazu exemplarisch einen Sachverhalt schildern: Frau Meyer wird von ihrem Bankberater eine Stunde lang beraten. Schließlich schlägt er ihr den Kauf von Investmentfondsanteilen im Wert von 20 000 Euro vor. Der Bankberater erhält dafür von der Bank eine Abschlussprovision in Höhe von ungefähr 1 000 Euro. Hinzu kommen jährliche Bestandsprovisionen von bis zu 400 Euro. Alles dies zahlt Frau Meyer. Wenn sie ganz genau hinschaut, findet sie im Produktinformationsblatt die Formulierung: 5 Prozent Abschlussprovision, 2 Prozent Bestandsprovision. Frau Meyer hat also für die Beratung mit Abschluss bei der Bank roundabout 1 000 Euro gezahlt. Auf diese Art und Weise, durch Provision, erfolgt in Deutschland die Bezahlung des Finanzvertriebs. Die Alternative dazu ist naheliegend und Gegenstand unseres heutigen Antrags: die Bezahlung des Beraters durch ein Honorar als zeitliche Vergütung seiner Tätigkeit, also die sogenannte Honorarberatung. Wir gehen davon aus, dass Frau Meyer in unserem Beispiel ein Honorar bezahlt hat, das für eine einstündige Beratung etwa 150 bis 250 Euro beträgt. Somit ergibt sich ein Unterschied im Vergleich zur Provisionsberatung in der Bank von zu Beginn 800 Euro. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns über alle Fraktionen hinweg einig, dass wir zur Provisionsberatung eine Alternative anbieten wollen. Wir wollen die unabhängige Honorarberatung etablieren, und wir wollen, dass den Verbraucherinnen und Verbrauchern bei der Beratung Wahlfreiheit ermöglicht wird. Wir wollen kein Verbot der Provisionsberatung. Die SPD will in Deutschland die Honorarberatung schnell voranbringen. Die Signale des MiFID-Entwurfs der EU-Kommission kennen wir: Auch hier wird eine provisionsunabhängige Beratung gefordert. Das heißt, wir werden in Deutschland die Honorarberatung auch über die Ratifizierung der entsprechenden europäischen Richtlinie erhalten. Da wir auf diesen Prozess nicht zu warten brauchen und die Inhalte des MiFID-Entwurfes bereits kennen, wollen wir mit unserem Antrag jetzt die Honorarberatung in Deutschland etablieren. ({0}) Honorarberater kann nach unseren Vorstellungen nur derjenige sein, der bei oder im Zusammenhang mit der Beratung kein Geld von Dritten erhält. Dazu gehören auch die Bestandsprovisionen. Ferner wollen wir ein klares Berufsbild. Wir unterscheiden uns an dieser Stelle sehr bewusst vom Vorschlag der Provisionsdurchleitung, der vom BMELV gekommen ist. Wenn wir die Beratungsleistung anerkennen, dann ist das aus unserer Sicht nur konsequent. Denn diese wird entlohnt, und dafür be18216 darf es keiner Provision, auch nicht einer, die an den Kunden fließt. Wir brauchen daher als Grundvoraussetzung der Honorarberatung Nettotarife für die Produkte. Wir möchten, dass die Anbieter auch dazu verpflichtet werden. Damit die Honorarberatung funktioniert und die Palette der Angebote groß ist, brauchen wir eine stärkere Ausweitung der Nettotarife. Das müssen wir regeln. Ein weiterer Grundpfeiler zur Herstellung des nötigen Vertrauens in die Honorarberatung wird auch sein, dass die Honorarberaterinnen und Honorarberater in allen Bereichen des Finanzmarktes inhaltlich beraten können und entsprechend qualifiziert sind. Ob ein Versicherungsoder ein Kapitalanlageprodukt besser geeignet ist, ist ebenso zu bewerten wie die realistische Möglichkeit einer Darlehensaufnahme. Deshalb fordern wir für den Honorarberater die Kenntnisse in allen Teilbereichen. Expertenwissen ist gut und richtig, aber man muss auch andere Produkte mit abwägen, wenn man den Verbraucher oder die Verbraucherin adäquat beraten will. Besonders wichtig zur Regelung der Honorarberatung ist der Schutz vor schwarzen Schafen durch klare Wohlverhaltensregeln und eine geeignete Fachaufsicht. Die Beaufsichtigung der Honorarberater in fachlicher Hinsicht kann aus unserer Sicht ausschließlich durch die BaFin erfolgen. ({1}) Die Zersplitterung der Aufsicht zwischen den Gewerbeämtern auf der einen Seite und der BaFin auf der anderen Seite, wie wir sie in den letzten Monaten erlebt haben, ist aus unserer Sicht - das haben wir häufig genug gesagt - die falsche Konsequenz aus der Finanzmarktkrise. Deshalb fordern wir ganz klar eine Zentralisierung der Aufsicht bei der BaFin. Aus unserer Sicht sind die Einheitlichkeit des Finanzvertriebes, eine einheitliche Aufsicht und einheitliche Pflichten wichtig. Das soll unabhängig von der Frage sein, wer die Aufsicht durchführt und um welches Produkt es sich handelt. Daneben gilt - auch das habe ich schon gesagt; da befinden wir uns in Übereinstimmung mit dem MiFID-Entwurf -: Wir wollen eine vollständige Befreiung von Provisionszahlungen für die Honorarberatung. Das ist konsequent. ({2}) Ich komme zum Schluss. Dass die Regierungskoalition heute der Verbraucherministerin die Zuständigkeit für dieses Thema wegnehmen will, ist hoffentlich dem Willen geschuldet, dass man es tatsächlich rasch regeln will. Denn wir wissen: Die Verbraucherministerin kommt in der Regel über den Status einer Ankündigung nicht hinaus. ({3}) Wir halten die Anbindung an den Verbraucherschutz für wichtig, weil dieses Thema Teil des Anlegerschutzes ist. Ich möchte Sie daher dringend bitten, der Verbraucherministerin lieber eine deutliche Ansage zu machen, hier ein Gesetz vorzulegen, als ihr heute das Vertrauen zu entziehen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die Unionsfraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Tack, wir müssen niemandem etwas wegnehmen. Wir haben nur gute Minister. Darin liegt der Unterschied zwischen dieser Koalition und anderen Koalitionen. ({0}) Wir beschäftigen uns natürlich mit dem Thema Honorarberatung. Sie haben es gerade schon erläutert: Wenn Sie in Deutschland ein Finanzprodukt kaufen, wenn Sie beraten werden oder eine Vermittlungsdienstleistung in Anspruch nehmen, dann wird der Dienstleister dadurch bezahlt, dass er eine Provision bekommt. Das hat sich seit Jahrzehnten so entwickelt. Die Marktanteile sind entsprechend. Jetzt mag man auf die Idee kommen: Wenn jemand für Produktvermittlung oder -beratung eine Provision bekommt, dann hat er vielleicht ein Interesse daran, Produkte, die stärker provisioniert sind, mehr zu verkaufen als die Produkte, die für den Kunden vielleicht das Beste sind. Schlaue Menschen haben dies erkannt und sind auf die Idee gekommen, eine Beratung zu organisieren, die eben nicht von der Provisionierung eines Produktes abhängt, sondern deren Vergütung an den Zeitaufwand des Beraters gekoppelt ist. Man kauft sich sozusagen Beratungszeit. Das nennt man Honorarberatung. Die Honorarberatung ist bereits am Markt, übrigens schon lange. Steuerberater machen Vermögensplanungen. Banken und Freiberufler führen entsprechende Beratungen durch. Das heißt, es ist nichts Neues. Aber anscheinend hat sich dieses Produkt noch nicht richtig durchgesetzt. Das mag mehrere Gründe haben. Ein Grund dafür ist, dass schlichtweg die Rahmenbedingungen für das Berufsbild und für das Handeln des Honorarberaters fehlen. Genau das hat die von Ihnen eben angesprochene Verbraucherministerin, Frau Aigner, aufgegriffen und hat im Sommer des letzten Jahres ein Eckpunktepapier vorgelegt. Da viele Punkte, die auch Sie in Ihrem Antrag adressiert haben, in diesem Eckpunktepapier bereits behandelt worden sind, möchte ich mir die Zeit nehmen, kurz darauf einzugehen. Die erste Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen, ist: Wie sieht denn eigentlich das Berufsbild aus? Wollen wir einen Finanzberater, der allumfassend berät? Wollen wir eine Aufteilung machen, sodass wir Anlageberater, Versicherungsberater, die es im Übrigen schon gibt, und Darlehensberater haben? Diese Fragen müssen wir klären. Denn wir wollen ein Qualitätsprodukt haben, und dementsprechend müssen wir uns Gedanken machen. Die zweite Frage, die ebenfalls mit der Qualität der Produkte zu tun hat, betrifft die Qualifikation. Wir müssen eine möglichst gute Qualifikation für diese Berater organisieren. Im Übrigen müssen wir - auch das ist im Eckpunktepapier von Frau Aigner enthalten ({1}) durch eine laufende Fortbildung sicherstellen, dass diese Qualifikation erhalten bleibt. Ich denke, das ist gut und richtig. Die nächste Frage, die zu beachten ist, ist, wie diese Beratung stattfinden soll. Wir finden im Wertpapierhandelsgesetz Wohlverhaltenspflichten. Das heißt, es wird festgelegt, wie eine Beratung ablaufen soll und was dokumentiert werden soll. Auch das wollen wir haben. Frau Aigner hat diesen Punkt ebenfalls angesprochen. Ein weiterer Punkt ist die Vergütung. Wollen wir eine Gebührenordnung wie bei Rechtsanwälten und Steuerberatern, oder soll die Vergütung frei vereinbart werden können? Wie hoch sind die Stundenhonorare? Auch das muss geklärt werden, und auch das ist adressiert. Wir müssen die Schnittmenge zwischen Vermittlung und Beratung organisieren. Wenn jemand zu einem Berater geht und dieser das Produkt der Bank X empfiehlt, dann wird der Kunde nicht unbedingt zur Bank X gehen und sagen, dass ihm sein Berater dieses Produkt empfohlen hat und er nun dieses Produkt bei der Bank kauft. Der Kunde wird vielmehr erwarten, dass der Berater einen Kauf vermittelt. Auch das muss organisiert werden. Wir brauchen die Unabhängigkeit der Berater. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Was machen wir, wenn ein Berater für ein Bankhaus arbeitet? Ist er dann unabhängig oder nicht? Gibt es da Chinese Walls oder ähnliche Dinge? Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, wie die Aufsicht über diese Berater organisiert wird. Machen wir es analog zu den Versicherungsberatern und -vermittlern in der Gewerbeordnung? Oder machen wir es über die BaFin wie bei den Bankberatern? Wir müssen uns mit einem ganz wichtigen Thema beschäftigen. Versicherungsprodukte gibt es in der Regel nur mit Provision. Wollen wir Nettoprodukte anbieten? Wollen wir die Provision durchleiten? Hier kommen wir vielleicht zu etwas anderen Schlüssen als Sie. Ein weiteres wichtiges Thema ist: Wir brauchen eine Überleitung für diejenigen, die heute als provisionsgetriebene Berater tätig sind und dies dann auf Honorarbasis machen wollen. Das Letzte ist - auch das hat Frau Aigner adressiert -: Wir brauchen eine steuerliche Gleichbehandlung der Provisionsberatung und der Honorarberatung. Wenn Sie in dem einen oder anderen Punkt zu anderen Schlussfolgerungen und Ergebnissen gekommen sind - es findet sich vieles von dem, was Frau Aigner vor einem halben Jahr gesagt hat, in Ihrem Papier wieder. Jetzt könnte ich die Frage stellen: Wofür brauchen wir den SPD-Antrag? ({2}) Die Frage haben Sie eben schon beantwortet. Sie sagen: Das geht alles nicht schnell genug. Wir wollen das am liebsten sofort haben. - Es ist das Privileg der Opposition, zu sagen: Es ist alles ganz einfach. Wir wollen alles ganz schnell. ({3}) Die Regierung arbeitet nicht schnell genug. - Es ist aber die Aufgabe der Regierung, vor den Mühen der Ebene zu warnen und entsprechende Detailregelungen auf den Weg zu bringen. Genau das möchte ich jetzt tun. Ich habe als letzten Punkt des Eckpunktepapieres genannt, dass wir eine steuerliche Gleichstellung haben wollen. Wenn Sie heute eine Krankenversicherung abschließen, können Sie die Provision teilweise im Rahmen Ihrer Vorsorgeaufwendungen steuerlich geltend machen. Bei einer Honorarberatung würde zu fragen sein: Kann man das Beratungshonorar für eine ganze Stunde geltend machen? Oder muss man eine Aufteilung vornehmen, wie lange man vielleicht für eine Krankenversicherung, für eine Haftpflichtversicherung oder für einen Aktienfonds beraten wurde? Das alles wird steuerlich unterschiedlich behandelt. Dadurch ergibt sich eine sehr große Komplexität. Darauf möchte ich nur hinweisen. Wenn wir über Steuern sprechen, müssen wir uns auch die Frage stellen: Wie sieht es mit dem Steuersubstrat aus? Verlieren wir Steuern? Gewinnen wir Steuern? Ein kleiner Hinweis: Auf welcher Grundlage wird die Versicherungsteuer berechnet? Nur auf den Nettobetrag oder auf den Nettobetrag und die Provision? Auch das muss geklärt werden; denn wir wollen kein Steuersubstrat verlieren. Das ist ein weiterer komplexer Sachverhalt. Das könnte man vielleicht noch gut lösen. Wir haben aber noch eine andere Frage zu beantworten. Frau Kollegin, auch Sie haben darauf hingewiesen, dass auf europäischer Ebene bei der Überarbeitung der MiFID über unabhängige Beratung nachgedacht wird. Darüber hat man sich Gedanken gemacht. Das wird im Übrigen noch in Ratsarbeitsgruppen besprochen. Das heißt, dass die Ergebnisse noch nicht feststehen. Diesen Eindruck haben Sie aber erweckt. Es geht nicht nur um die Überarbeitung der MiFID, sondern auch um die Hypothekardarlehensrichtlinie, die bei der Darlehensberatung eine Rolle spielen wird und bei der wir noch nicht sehr weit gekommen sind. Wir haben auch die Absicht, im Bereich der Versicherungsvermittler Änderungen vorzunehmen. Auch das muss beachtet werden. Jetzt könnten Sie sagen: Liebe Koalitionsfraktionen, Ihr seid doch an vielen anderen Stellen vorangegangen. Ihr habt zum Beispiel bei den Leerverkäufen nicht auf Europa gewartet. Bei der Bankenrestrukturierung habt ihr nicht auf Europa gewartet. Auch an vielen anderen Stellen wart ihr Avantgarde. Da sind euch andere gefolgt. - Das ist richtig; nur, in diesem Bereich haben wir eine etwas andere Situation. Wenn wir jetzt das Berufsbild eines Honorarberaters entwerfen, Menschen sich darauf einstellen, Menschen sich weiterbilden und wir, nachdem die Regelung vielleicht ein halbes Jahr in Kraft ist - je nachdem, wie schnell die Überarbeitung von MiFID vonstatten geht -, sagen müssen: „Ätsch! Das war alles nicht richtig; du musst dich ein weiteres Mal umstellen“, dann haben wir eine Menge Vertrauen verspielt. Deswegen müssen wir genau beachten, wie wir diesen Spagat schaffen: Auf der einen Seite ist das der Wille, etwas schnell auf den Weg zu bringen, auf der anderen Seite die Absicht, bei der ganzen Sache im europäischen Geleitzug, also im europäischen Kontext, zu verbleiben. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben. Es gefällt mir nicht, dass Sie in Ihrem Antrag dargestellt haben: Es ist doch alles ganz einfach; alles liegt auf dem Tisch. - Sie haben die Komplexität ausgeblendet, und Sie haben vor allen Dingen die europäische Dimension ausgeblendet. Ein kleiner Exkurs zu Europa. Unabhängig davon, wie schnell wir mit unserem Gesetz vorankommen - wir sollten tunlichst daran arbeiten, eine Position zu formulieren, aus der hervorgeht, wie wir uns europäische Regelungen vorstellen. Hier haben wir meines Erachtens noch Nachholbedarf, den es zu beheben gilt. Mir gefällt an Ihrem Antrag nicht nur nicht, dass Sie sagen: Das ist alles ganz einfach. Warum macht ihr das nicht? Das müsste ja alles viel schneller gehen. - So ist es ja in der Tat auch nicht. Ebenso gefällt mir nicht, dass Sie ein Schwarz-Weiß-Bild zeichnen: auf der einen Seite die böse Provisionsberatung, die provisionsgetriebene Vermittlung, und auf der anderen Seite die gute Honorarberatung. ({4}) Provisionsberatung ist nicht zwangsläufig böse oder schlecht. ({5}) Sie ist in vielen Bereichen sehr erfolgreich und wird in vielen Fällen, gerade bei kleineren Investitionssummen und bei Kunden, die nicht über die Mittel verfügen, höhere Beratungshonorare zu zahlen, der Sache sehr gerecht. Wir haben sehr stark daran gearbeitet, dass die provisionsgetriebene Beratung und Vermittlung besser wird, im Bereich der Banken und auch im Bereich der freien Vermittler. Sie haben es angesprochen. Diese Bundesregierung hat mit den Koalitionsfraktionen schon sehr viel auf den Weg gebracht. Ebenso wenig gefällt mir - da bin ich immer noch sehr stark Marktwirtschaftler -, wenn Sie sagen: Nachdem wir alles entsprechend organisiert haben, müssen wir Aufklärungskampagnen durchführen usw. - das sind die Punkte 11 und 12 in Ihrem Papier -, um dieses Produkt so richtig zu pushen. ({6}) Als Marktwirtschaftler bin ich der Meinung: Wenn wir vernünftige Rahmenbedingungen gesetzt haben, dann muss sich das Produkt selbst am Markt durchsetzen. Das heißt: Es ist nicht Aufgabe des Staates, zu bestimmen, dass das eine Produkt besser sei als das andere. - Dementsprechend kann ich Ihre Vorschläge so nicht teilen. Der letzte Punkt, der mir überhaupt nicht gefällt, ist, dass Sie auch noch die unsägliche Idee eines Marktwächters in diesem Antrag untergebracht haben. Darüber haben wir schon vor Weihnachten diskutiert; ich erspare mir jetzt weitere Ausführungen zu diesem Thema. ({7}) Zusammenfassend kann man Folgendes sagen: Die Stoßrichtung Ihres Antrags ist richtig; das deckt sich auch mit dem Papier von Frau Aigner. Wir sind sehr daran interessiert, in Deutschland eine vernünftige Honorarberatung auf den Weg zu bringen, weil wir meinen, dass das eine gute Alternative zur Provisionsberatung ist. Dafür müssen wir ein Regelwerk und einen Rahmen schaffen. Dabei muss es aber bleiben; denn das Produkt muss sich, wie gesagt, selber durchsetzen. Dabei müssen wir im europäischen Kontext bleiben. Wir müssen also prüfen, ob wir auf die europäischen Entwicklungen zuwarten müssen oder ob wir diesen Prozess eher schaffen. Letzter Punkt. Wenn wir diese Rahmenbedingungen gut gesetzt haben, dann liegt es am Markt und an den Verbraucherinnen und Verbrauchern, die Entscheidung zu treffen, welches Produkt - Honorarberatung oder provisionsgetriebene Beratung - für sie besser ist. Ich vertraue den Menschen in diesem Land, dass sie die richtige Entscheidung treffen. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt genügend Beispiele für schlechte Finanzberatung. Da werden alten Menschen Lebensversicherungen mit 30-jähriger Laufzeit angedreht, garniert mit dem Hinweis, das sei dann noch gut für die Erben. Oder denken wir an die Lehman-Zertifikate: Ohne die hohen Provisionen für die Finanzberater wären diese Zertifikate kaum in die Hände von so vielen Kleinanlegerinnen und Kleinanlegern gelangt. Doch so haben zahlreiche Menschen ihre Ersparnisse verloren. Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. Jährlich verlieren Verbraucherinnen und Verbraucher 20 bis 30 Milliarden Euro allein durch Falschberatung; das sind die Zahlen der Bundesregierung. Deswegen bin ich der Ansicht: Solange Finanzprodukte gegen Provision verkauft werden, so lange kann die Beratung nicht unabhängig sein. Denn nach dieser Logik ist es ganz selbstverständCaren Lay lich, dass das verkauft wird, was Provision bringt. Je höher der Verkaufswert, desto besser ist es natürlich für den Verkäufer. Meist handelt es sich dabei genau um die Finanzprodukte, die besonders riskant sind oder die eine besonders hohe Laufzeit haben. Das geht zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Deswegen sagen wir als Linke: Die provisionsgetriebene Beratung muss perspektivisch überwunden werden. ({0}) Es handelt sich nicht um Einzelfälle. In sehr vielen Finanzinstituten gibt es Vertriebsvorgaben für die Finanzberater. Darunter leiden auch die Beschäftigten. Inzwischen beschäftigen sich auch die Gewerkschaften mit diesem Problem. Im Laufe der Zeit ist über dieses Thema schon mehrfach diskutiert worden; das zeigt, wie dringlich es ist. Herr Kollege, ich darf daran erinnern, dass es die Ministerin Aigner war, die bereits im Jahr 2009 angekündigt hat, dass die Honorarberatung gestärkt werden müsse und im Jahr 2010 ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt werde. Nach meinem Kalender schreiben wir jetzt das Jahr 2012; aber es liegt noch immer kein Gesetzentwurf oder ein Antrag der Koalition oder der Bundesregierung vor. ({1}) Das kostet die Verbraucherinnen und Verbraucher zig Milliarden Euro. Das muss endlich ein Ende haben. Die Bundesregierung muss in dieser Frage endlich handeln. Die Linke hat bereits am Anfang dieser Legislaturperiode einen umfassenden Antrag vorgelegt, in dem sehr viele Themen angerissen wurden, die helfen sollen, den Nachholbedarf beim Thema finanzieller Verbraucherschutz zu decken. In dem Zusammenhang haben wir die Bundesregierung bereits damals aufgefordert, die unabhängige Finanzberatung zu stärken und die Provisionsberatung perspektivisch zu überwinden. Passiert ist seitdem außer Eckpunktepapieren nichts. Meine Damen und Herren, in Deutschland ist eine unabhängige Beratung leider häufig das Privileg für Vermögende; denn Honorarberatung wird oft erst bei hohen Mindestanlagesummen angeboten, und das Angebot der Verbraucherzentralen reicht bei weitem nicht aus. Es würde nach wie vor etwa 30 Jahre dauern, bis jeder Haushalt eine unabhängige Finanzberatung von einer Verbraucherzentrale erhalten hätte. Ich finde, das darf im vierten Jahr nach dem Zusammenbruch der LehmanBank wirklich nicht wahr sein. ({2}) Das Grundproblem der provisionsgetriebenen Beratung ist, dass die bisherige Praxis geradezu einen Anreiz schafft, Verbraucherinnen und Verbrauchern teure Produkte aufzuschwatzen, egal ob sie sie brauchen oder nicht, ob sie angemessen sind oder nicht. Das muss sich endlich ändern; die Politik muss hier handeln. ({3}) Deswegen fordern wir, die Linke, eine Stärkung der Honorarberatung und ein gesetzlich klar geregeltes Berufsbild für Honorarberaterinnen und Honorarberater. Wir sagen ganz klar: Eine unabhängige Finanzberatung darf keine Frage des Geldbeutels sein. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf - Ministerin Aigner ist heute leider nicht anwesend -, die Verbraucherzentralen zu stärken und sie finanziell so auszustatten, dass sie Beratungsleistungen im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes breiter anbieten können, als es bisher der Fall war. ({4}) Im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes gibt es noch immer jede Menge zu tun. Die Bundesregierung hat es bisher verpasst, hier die notwendigen Schritte zu ergreifen. Noch immer kommt Finanzschrott ungehindert auf den Markt, noch immer ist die Finanzaufsicht ein einziger Flickenteppich. Wir brauchen endlich einen Finanz-TÜV, damit Finanzprodukte geprüft werden, bevor sie überhaupt auf den Markt kommen. Wir brauchen eine einheitliche Finanzaufsicht, die einen umfassenden Auftrag im Bereich des Verbraucherschutzes erhält. Die Bundesregierung steht nach wie vor in der Pflicht, diese dringende Frage endlich anzugehen. ({5}) Meine Damen und Herren, viele andere Länder zeigen, dass es besser geht. Wir von der Linken sagen: Die provisionsgetriebene Finanzberatung muss ein Auslaufmodell sein, auch in Deutschland. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun der Kollege Professor Dr. Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Lay, Sie überraschen mich immer wieder: ({0}) Auf der einen Seite führen Sie hier aus, dass Sie die Verbraucherzentralen ausbauen wollen, sodass sie im Rahmen einer Art Sozialpolitik Beratungen anbieten können. Auf der anderen Seite sollen die Verbraucherzentralen - das haben Sie das letzte Mal gesagt - zu Marktwächtern ausgebaut werden. Da frage ich mich: Sollen sich die Verbraucherzentralen dann selbst kontrollieren? Ich glaube, da laufen einige Sachen ins Leere. Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, dass die Honorarberatung für viele der Königsweg ist, um Falschberatungen zu vermeiden; denn Provisionszahlungen und Vertriebsdruck werden als Ursachen mangelhafter Anlageberatungen durch Banken ausgemacht. Der Honorarberater soll, anders als der Verkäu18220 fer, eine unabhängige Beratung zum Wohle des Verbrauchers garantieren. Die Europäische Kommission hat inzwischen einen Vorschlag zur Neufassung der EU-Finanzmarktrichtlinie MiFID ins Spiel gebracht, die Einschränkungen solcher Provisionszahlungen bei Anlageberatungen vorsieht, und den Weg der Etablierung von Honorarberatungen eingeschlagen. Auch wir von der christlich-liberalen Koalition sehen in der Honorarberatung eine sinnvolle Ergänzung zur bisherigen Provisionsberatung. In diesem Zusammenhang möchte ich deutlich sagen: Leider hat noch nicht jede Bank verstanden, was sie ihren Kunden in der Vergangenheit angetan hat. Denn solange Banken unverhohlen von AA-Kunden sprechen - das steht für „alt und ahnungslos“ - oder 80-jährigen Rentnern Altersvorsorgekonten oder langfristige Schiffszertifikate aufschwätzen, so lange wird es weiterhin Handlungsbedarf geben, für mehr Transparenz und Anlegerschutz zu sorgen. Die Stiftung Warentest hat hier mehrfach den Finger in die Wunde gelegt und deutliche Mängel bei der Beratung durch die Banken festgestellt. Für uns von der christlich-liberalen Koalition steht fest: Wir wollen den Anleger besser schützen. Deshalb haben wir bereits wichtige Schritte unternommen. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, haben wir zum einen Beratungsprotokolle und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht und zum anderen die Regelungen zu Sanktionen bei Falschberatungen verschärft, ({1}) und das nicht nur für Banken, sondern auch für den Bereich der freien Vermittler und des Grauen Kapitalmarkts. Wir haben das Verbot ungedeckter Leerverkäufe umgesetzt und damit hochspekulative Anlageformen vom Markt genommen. Ministerin Aigner hat bereits lange vor Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, ein Eckpunktepapier zur Honorarberatung vorgelegt. ({2}) Der Verbraucher soll die Möglichkeit haben, zwischen verschiedenen Beratungsformen die Beratung zu wählen, die für seine Zwecke am besten geeignet ist. Sie sollen entscheiden können, ob sie lieber einen kostenfreien Verkäufer aufsuchen wollen oder einen unabhängigen Honorarberater. Eines ist klar: Auch bei McDonald’s wird Ihnen der Verkäufer nicht empfehlen, wegen der Pommes zu Burger King zu gehen, nur weil sie ihm dort besser schmecken. - So läuft das auch beim Verkäufer in einer Bank. Es wundert mich allerdings, dass die SPD so tut, als hätte sie den Königsweg Honorarberatung bereits seit längerer Zeit gepachtet; denn in Ihrer Regierungszeit haben Sie in diesem Bereich außer markigen Sprüchen nichts unternommen. ({3}) Ich wünschte mir, dass auch Herr Schäuble mehr Elan in dieser Sache walten lassen würde. ({4}) Wir werden nicht lockerlassen und weiter an einer Regelung zur Honorarberatung arbeiten; denn nach meiner Überzeugung brauchen wir eine gesetzliche Regelung, da wir sonst über kurz oder lang unregulierten Wildwuchs haben werden. Wohin dies führt, das hat uns die Finanzkrise deutlich gezeigt. Honorarberatung braucht also einen gesetzlichen Rahmen. Dieser Rahmen wurde von Ministerin Aigner bereits dargelegt. Er deckt sich in vielen Bereichen mit Ihrem Antrag. Dazu gehören die Definition des Berufsbildes, die Festlegung der Qualifikationserfordernisse und auch die Anforderungen an einen Sachkundenachweis. Für uns gehört dazu auch - wie bei freien Vermittlern - die Verpflichtung zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung, damit im Schadensfall eine Absicherung für den Kunden existiert. ({5}) Es muss klargestellt werden, dass ein Honorarberater nicht noch zusätzlich Provision erhält. ({6}) Bei der Vergütung muss für die Verbraucher unbedingte Transparenz bestehen. Der Verbraucher muss vor der Beratung wissen, was er tut. Frau Tack, ich bin schon etwas irritiert, wenn Sie sagen, die Durchleitung der Provision werde von Ihnen nicht akzeptiert; denn es kann sehr wohl sein, dass für einen Kunden ein Provisionsprodukt das bessere Produkt ist. Als Kunde will ich, dass mir das der Honorarberater auch anbieten darf. Er darf daran nur nichts verdienen. ({7}) Apodiktisch vorzugehen, ist der falsche Weg. ({8}) Man kann einigen Punkten in Ihrem Antrag zustimmen; aber bei Ihrer Forderung nach einem zusätzlichen Marktwächter für Honorarberatung hört es dann auf. Neben einer effizienten staatlichen Aufsicht benötigen wir keine weiteren Institutionen, keinen Marktwächter als halbstaatlichen Hilfssheriff. Wir finden es viel wichtiger, die bestehenden Aufsichtssysteme zu stärken und effizienter zu gestalten, als neue Nebenschauplätze zu schaffen, die am Ende nur gefühlten Schutz ohne tatsächliche Effizienz bringen. Aus meiner Sicht sollte die Honorarberaterbranche darüber nachdenken, ob sie nicht selbst eine Anlaufstelle für Verbraucherbeschwerden schafft, eine Ombudsstelle, vergleichbar mit der der Bank- und Versicherungswirtschaft, die wir heute schon haben; denn sie hat sich meines Erachtens bewährt. Wir brauchen übrigens auch keine staatlichen Aufklärungskampagnen zum Wohle der Honorarberater. Das sollen diese schon selbst organisieren. Der Staat sollte sich davor hüten, mit einer eindeutigen Werbekampagne eine Beratungsform zu bevorteilen und die Honorarberatung zu hofieren, ({9}) und zwar auch, weil es nicht angebracht ist, die Honorarberatung durch die rosarote Brille zu sehen und als Allheilmittel zur Lösung der Problematik der Falschberatung ins Feld zu führen. ({10}) Das suggeriert mir Ihr Antrag - sie schreiben von einer „echten Alternative“ - an vielen Stellen zu sehr. Die Bezahlung - das sollte man der Fairness halber sagen - ist keine Gewähr für eine gute Beratung. Ich kann auch viel bezahlen und schlecht beraten werden. Das muss man so offen sagen. ({11}) Manchmal wollen die Kunden - man hört vielleicht, dass ich aus Baden-Württemberg komme - eine Erstberatung oder eine Einschätzung und nichts dafür bezahlen. Danach entscheiden sie, ob sie ihr Geld anlegen wollen oder nicht. Ich möchte den Menschen die Möglichkeit, sich zu entscheiden, offenlassen. Ich sehe die Honorarberatung als Ergänzung und nicht als Alternative; denn ich bin davon überzeugt, dass wir auf diesem Markt sowohl das eine als auch das andere brauchen. ({12}) Beim Honorarberater - das sollte man hinzufügen - wird bereits die unverbindliche Einschätzung, egal ob sie gut oder schlecht ist, kostenpflichtig sein. Alles in allem kann die Honorarberatung den Wettbewerb zwischen den Beratern und den Beratungsformen beleben und dadurch für die Anleger sehr wohl von Vorteil sein. Zum effizienten Verbraucherschutz braucht es aber einen sinnvollen Rechtsrahmen ebenso wie die Einsicht, dass auch ein Honorarberater kein Allwissender ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Nicole Maisch das Wort.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist unstrittig - das ist aus den Debattenbeiträgen hervorgegangen -, dass Verbraucherinnen und Verbraucher eine Alternative zur provisionsgetriebenen Beratung brauchen. Aber Markttransparenz und Wettbewerb um mehr Qualität in der Finanzberatung wird es nur geben, wenn die Honorarberatung als Alternative rechtlich geregelt ist. Wenn es weiter Wildwuchs bleibt, dann wird das keine echte Alternative sein. ({0}) Deshalb brauchen wir eine klare rechtliche Definition des Berufsbildes, die Mischmodelle, welche das Kassieren sowohl von Provisionen als auch von Honoraren beinhalten, ausschließt und ambitionierte Anforderungen an Ausbildung und Weiterbildung stellt. Es war sehr interessant, in der Debatte zu sehen, wie sich sowohl SPD als auch CDU/CSU und FDP bemüht haben, die Unterschiede zwischen ihren beiden Konzepten herauszustellen. Die SPD konstruiert die Provisionsdurchleitung zum großen Konflikt mit der CDU/CSU, und FDP und CDU/CSU freuen sich darüber, dass sie im Antrag die Aufklärungskampagne gefunden haben; denn so können sie gegen das SPD-Konzept in Gänze sein. ({1}) Fakt ist: Sie sind sich in weiten Teilen einig, und auch wir teilen Ihre Auffassung zur Berufshaftpflichtversicherung und zur Definition eines Berufsbildes „Honorarberater“. ({2}) Der SPD-Antrag und die Eckpunkte von Frau Aigner stellen eine gute Grundlage dar. Es ist deutlich geworden, dass sie in weiten Teilen deckungsgleich sind. Wir schlagen Ihnen allerdings vor, noch weiter zu gehen; denn die Regulierung der Honorarberatung ist natürlich nur der eine Teil. Wenn man fairen Wettbewerb will, dann darf man nicht nur eine Seite regulieren, sondern dann muss man auch für diejenigen Regulierungen vorsehen, die Provisionen annehmen. Dazu gehört natürlich das Thema Nettotarife. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen die Kosten vergleichen können. Deshalb muss es auch Kostentransparenz bei den Produkten geben, für deren Vermittlung weiterhin Provisionen gezahlt werden. Wir schlagen standardisierte Kostenkennzahlen vor. „Reduction in Yield“ oder „Reduction in Payment“ sind Modelle, die wir uns vorstellen können. Darüber hinaus schlagen wir vor, die Kosten in Euro und Cent und nicht nur in Prozenten auszuweisen, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher noch einfacher vergleichen können. Frau Aigner, Ihre Ministerin, weiß, wie notwendig die Honorarberatung ist. Das hat sie in vielen Interviews - ich möchte jetzt nicht alle zitieren - ausgeführt. Sie hat bereits 2008 angefangen, dies anzukündigen. Sie hat 2009 mit zehn Thesen zur Finanzberatung nachgelegt; es wurde also wieder angekündigt. Auch 2010 wurden in vielen Medien fairer Wettbewerb und Rechtssicherheit für die Honorarberater gefordert. Aber weder beim Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts noch beim Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz haben all diese Ankündigungen Niederschlag gefunden, und das finde ich ziemlich schwach. Man muss sich im Kabinett auch einmal durchsetzen und darf nicht nur im Vorblatt eines Gesetzentwurfes hinterlegen, dass man irgendwann einmal zeitnah die Honorarberatung regeln will. Wenn Sie zeitnah in diesem Tempo weitermachen, dann ist die Legislatur18222 periode vorbei, bevor wir hier einen Gesetzentwurf gesehen haben. ({3}) Da helfen auch die zehn Eckpunkte nichts, mit denen Sie uns nach den zehn Thesen beglückt haben. Wir sind der Meinung: Es reicht jetzt mit den zehn Thesen und den zehn Eckpunkten und den zehn Interviews. Jetzt ist ein Gesetzentwurf angebracht. Schließlich könnte die Situation nicht günstiger sein. Sie haben quasi die gesamte Opposition hinter sich, und es hört sich auch in der Koalition so an, als wären Sie sich einigermaßen einig. Die konzeptionelle Vorarbeit ist geleistet. Es gibt den SPD-Antrag. Es gibt die Eckpunkte. Es gibt die Thesenpapiere und die zehn Eckpunkte zum Anlegerschutz. Es gibt grüne Positionspapiere, welche Ihnen selbstverständlich auch zur Verfügung stehen. Breite gesellschaftliche Gruppen wie Gewerkschaften und Verbraucherschutzverbände würden Sie in diesem Vorhaben unterstützen. Alles, was Sie machen müssen, ist, einen Gesetzentwurf zu schreiben. ({4}) Vielleicht noch ein Einschub: Die MiFID wird ja seit vielen Jahren immer wieder gerne angeführt, wenn man beim Anlegerschutz nichts tun will. Von Zeit zu Zeit gibt es auch eine neue MiFID. Wenn wir sagen, dass wir warten, bis die Umsetzung der MiFID abgeschlossen ist und sich die Mitgliedstaaten der EU einig sind, dann können wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Ich finde, dass die MiFID als Entschuldigung fürs Nichtstun langsam ausgedient hat. Frau Aigner hat auf der BMELV-Homepage im Bereich „Finanzen und Versicherungen“ geschrieben: Es darf nicht sein, dass wegen einer falschen Beratung die sicher geglaubte Altersversorgung plötzlich nichts mehr wert ist. Es darf nicht sein, aber es ist so. Die Anleger verlieren jedes Jahr Milliarden durch falsche Beratung, und zwar auch deswegen, weil Sie die Umsetzung der Lösungsansätze, die auf dem Tisch liegen, verschlafen. Deshalb fordern wir Sie anlässlich der Grünen Woche - das ist für die Mitglieder des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eine sehr wichtige Woche - dazu auf, mehr Slow Food zu konsumieren und weniger Slow Government zu praktizieren. ({5}) Das fänden wir schön, und das würde auch den Anlegern guttun. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil für die Unionsfraktion. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die CDU/CSU, wollen die Honorarberatung. Wir wollen die Honorarberatung als gleichberechtigte Alternative zur Provisionsberatung etablieren. Warum? Verbraucherinnen und Verbraucher sind auf gute Beratung angewiesen. Man muss heute Experte sein, um im Dschungel der Geldanlagemöglichkeiten das beste Papier für die eigenen Bedürfnisse zu finden. Aber die wenigsten Kunden sind Experten. Sie müssen sich auf den Rat von Beratern verlassen. Wenn nun aber dieser Berater nur die Finanzprodukte empfiehlt, bei deren Vermittlung er selbst am meisten verdient, werden die Kunden geschädigt und wird das Vertrauen in den Finanzmarkt zerstört. Deshalb ist klar: Vertriebs- und Anreizsysteme müssen sich der kundengerechten Beratung unterordnen. Es ist auch klar: Eine Provision oder Vergütung an sich ist nichts Verwerfliches, doch sie darf nicht das Hauptmotiv für eine bestimmte Empfehlung sein. ({0}) Integere, effiziente, transparente und auf das Verbraucherinteresse ausgerichtete Märkte sind die entscheidende Voraussetzung für eine gesunde Volkswirtschaft. Ja, es gibt schon heute vereinzelt Honorarberater; jedoch nicht einmal 1 Prozent aller Geldanlagegeschäfte werden von ihnen vermittelt. In der Versicherungsbranche gibt es gerade einmal 200 Honorarberater, denen 250 000 Versicherungsvermittler gegenüberstehen. Das liegt daran, dass der Kunde ungern zweimal für die gleiche Sache zahlt. Erst informiert er sich kostenpflichtig beim Honorarberater, dann muss er das ausgewählte Produkt bei einem Vermittler kaufen und dort die fällige Provision zahlen. Der Verbraucher zahlt dann also doppelt. Dies ist aus Sicht des Kunden also wirtschaftlich meist wenig interessant. Das Verbraucherschutzministerium hat bereits Mitte 2009 im Thesenpapier zur Qualität der Finanzberatung eine gesetzliche Regelung hinsichtlich der Honorarberatung gefordert. Wörtlich heißt es dort: Zur besseren Unterscheidbarkeit und Verlässlichkeit soll ein Berufsbild des Honorarberaters … geschaffen und rechtlich verankert werden. Auch das vom Kabinett im April 2011 beschlossene Gesetz zur Regelung des Grauen Kapitalmarktes hält im Vorblatt fest, die Honorarberatung zeitnah zu etablieren. Frau Aigner hat schon im letzten Sommer in ihrem Eckpunktepapier die Forderung zur Honorarberatung konkretisiert. Jetzt springt die SPD auf den fahrenden Zug auf. Klasse! Herzlich willkommen, wir nehmen Sie gerne mit. ({1}) Unser Ziel ist definiert; aber welcher Weg zum Ziel führt, ist zwischen uns strittig. Der Teufel steckt wie immer im Detail. Wir wollen ein neues Berufsbild etablieren. Für Versicherungen existiert bereits der Versicherungsberater. Für Geldanlagen soll das Berufsbild des Anlageberaters neu geschaffen werden. Für Darlehen sollen neben den Darlehensvermittler der Darlehensberater gestellt werden. Drei ganz unterschiedliche Themen werden von drei unterschiedlichen Fachleuten bearbeitet. Der SPD reicht ein Fachmann. Einer allein soll über die entsprechenden Kenntnisse verfügen und in allen drei Bereichen beraten. Der Versicherungsmakler ist dann gleichzeitig auch Fachmann für das Derivategeschäft. Klasse! Ihr Modell eines finanzpolitischen Universalgelehrten ist schlicht utopisch und in der Praxis zum Scheitern verurteilt. ({2}) Kommen wir zu einem weiteren strittigen Punkt. Uns ist wichtig, dass der Honorarberater in seinen Entscheidungen von den Produktanbietern unabhängig ist. Ein Honorarberater darf in keinem Fall Provisionen oder sonstige wirtschaftliche Vorteile von Produktanbietern für sich behalten. In unserem Eckpunktepapier werden ausdrücklich zwei mögliche Wege aufgezeigt, dies umzusetzen: Erstens. Man kann dies mithilfe von Nettoprodukten tun. Das sind Produkte, aus denen die Provision herausgerechnet ist, also Finanzprodukte ohne Provision. Dies ist ein kostenintensiver und vom Aufwand her hochschwelliger Ansatz. ({3}) Zweitens. Die Provision wird an den Kunden weitergegeben. Dies ist ein niederschwelliger Ansatz, der weitgehend kostenneutral und ohne Bürokratieaufwand umgesetzt werden kann. Die SPD legt sich auf den ersten, den teuren Weg der Nettoprodukte fest. ({4}) Das Durchreichen der Provision lehnen Sie ab. ({5}) Die Konsequenz ist, dass ein Teil der gehandelten Finanzprodukte in Deutschland nicht mehr angeboten werden kann. ({6}) Der Kunde geht leer aus. Das lehnen wir ab. Der Markt muss weltoffen und handelbar bleiben. Wir wollen eine Provisionsdurchleitung ermöglichen. Da, wo es keine Nettoprodukte gibt, soll die Provision dem Kunden gutgeschrieben werden. Das hilft der Honorarberatung in der Übergangszeit, sich im Markt zu etablieren. Honorarberater sollen auch auf eine breite Produktpalette zurückgreifen können. Das wünscht der Kunde, und das stärkt auch den Wettbewerb zwischen den verschiedenen Produkten. Die SPD entscheidet sich in ihrem Antrag aber für ein Modell, das der Einführung der Honorarberatung schadet ({7}) und ihren Erfolg konterkariert. ({8}) Ein weiterer Punkt: die Vergütung der Honorarberater. Wir wollen, dass der Kunde vor Abschluss des Beratungsvertrages über die Höhe der anfallenden Kosten unterrichtet wird - Ende, nicht mehr und nicht weniger. Die Höhe des Honorars ist Sache zwischen dem Kunden und seinem Berater. Die SPD will die Vergütung verstaatlichen. ({9}) Sie will ihre Höhe vom Staat vorschreiben lassen. Warum? Aus reiner Regelungswut und aus reiner Lust auf staatliche Bevormundung. ({10}) Wir wollen einen funktionierenden Markt für die Honorarberatung. ({11}) Wir wollen einen möglichst niedrigschwelligen und minimalen gesetzlichen Eingriff. Wir wollen, dass die Finanzbranche transparenter wird, zum Nutzen der vielen Kunden, der Verbraucherinnen und Verbraucher. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um in dieser Debatte einen versöhnlichen Schlusspunkt zu setzen, will ich sagen: Es gibt eine breite Übereinstimmung, dass wir die provisionsgetriebene Beratung in Deutschland zurückdrängen und eine Honorarberatung ermöglichen müssen. ({0}) - Ja, wir brauchen eine klare und starke Alternative. Zumindest ich habe bisher gedacht, dass hier Konsens besteht. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede, wenn es um die Frage geht, welchen Weg wir einschlagen. Ich will Ihnen sehr deutlich sagen, welchen Weg wir einschlagen. Wir sagen erstens: Wir haben keine Zeit zu verlieren. - Deshalb verstehe ich nicht, dass die Koalition ihre Verbraucherschutzministerin hängenlässt, dass sie sie nur Eckpunkte vorschlagen lässt und dass nicht sie hier im Plenum einen Vorschlag macht, sondern dass wir die Ersten sind, die hierzu einen Vorschlag machen. ({1}) Dies ist die erste wichtige Feststellung, die die Herangehensweise an dieses Thema betrifft. Wir als Opposition sagen zumindest: Wir sind nicht nur bereit, sondern natürlich auch fähig, Maßnahmen umzusetzen. Das schaffen Sie als Regierung nicht. Zweitens. Wenn wir die Regularien verändern, dann dürfen wir nicht als Tiger starten und als Bettvorleger landen. Bei Ihrem Modell würde das geschehen. Sie werden nämlich Vorschläge vorlegen, die nicht zur Stärkung der Honorarberatung und zur Zurückdrängung der provisionsgetriebenen Beratung führen. Das ist ein wesentlicher Punkt. Ich will deutlich machen: Wer sich für die Honorarberatung ausspricht und gleichzeitig sagt: „Aber das provisionsgetriebene Modell wollen wir so beibehalten“, der redet falsch Zeugnis. ({2}) - Ja, natürlich. - Es ist doch völlig klar: Eines geht nur. Faktisch bzw. im Ergebnis funktioniert das nicht. Es kommt darauf an, im Zusammenhang mit den Beratungsprodukten auch zu berücksichtigen, dass in der Vergangenheit viele Fehlberatungen erfolgt sind und Fehlanreize gesetzt wurden. Natürlich - das ist in dieser Debatte gesagt worden - gibt es keinen allwissenden Honorarberater. Es gibt aber auch keinen allwissenden Berater bzw. Vermittler auf Provisionsbasis. Allerdings gibt es Vermittler auf Provisionsbasis, die die Absicht haben, mit dem einen Produkt eine höhere Provision zu verdienen als mit dem anderen Produkt. Das ist ein Fehlanreiz. So können wir nicht dafür sorgen, dass die Menschen eine ordentliche Versicherung bekommen, ihr Geld ordentlich anlegen können usw. Darum muss die Honorarberatung gestärkt werden, meine Damen und Herren. Das ist der Kern. ({3}) Ich will auch gleich an dieser Stelle etwas zum Punkt Provisionsdurchleitung sagen. Auch das ist eine Marktverzerrung. ({4}) - Hören Sie mir bitte wenigstens zu. - Wir wollen, dass das gekaufte Produkt wirklich das ist, was gewollt ist, und dass keine Verlockungen bestehen, weil der eine Anbieter eine höhere Provision vorsieht als der andere, weil er sozusagen die Berater locken will. Dann gibt es nämlich unterschiedliche Ausstattungen und plötzlich unterschiedlich viel Geld, das weitergeleitet werden kann. ({5}) Das führt dann nach Ihrem Durchleitungsvorschlag dazu, dass man, wenn man Produkt A kauft, vielleicht 1 500 Euro in die Hand gedrückt bekommt, während man bei Produkt B nur 500 Euro in die Hand gedrückt bekommt. Ich möchte diese fehlerhafte Verführung der Menschen nicht, sondern ich möchte Transparenz und einen klaren Markt auf gleicher Ebene und von gleicher Art. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schweickert?

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, eine Zwischenfrage lasse ich gerne zu.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, vielen Dank für die Ermöglichung einer Zwischenfrage. Herr Kollege Sieling, können Sie, wenn man vom Kunden her denkt, ausschließen, dass es für einen Kunden sehr wohl vorteilhaft sein kann, wenn ein Honorarberater zu ihm sagt: Das eine Produkt, das ich dir anbiete und für das es nun einmal eine Provision gibt, ist für dich, bei deinen Lebensumständen, das beste Produkt? Können Sie so etwas ausschließen? Wenn nicht, dann bin ich der Meinung, dass man vom Kunden her denken und das Ganze sehr wohl ermöglichen muss. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich sehr für die Zwischenfrage und kann natürlich sagen, dass das nicht ausgeschlossen ist, aber ich sage Ihnen ganz deutlich, dass das für uns das zentrale Argument für Nettotarife und für Transparenz ist, ({0}) weil dadurch jeder Berater unabhängig von dem Provisionssatz das Gleiche vorlegt. Der Unterschied zwischen dem Berater und dem Vermittler auf Provisionsbasis ist, dass der Vermittler auf Provisionsbasis den schlichten Antrieb hat, dass er mit dem einen Produkt vielleicht mehr verdient als mit dem anderen. Beim Berater ist das alles gleich. Hier gibt es einen Markt, auf dem die Akteure die gleiche Anbieterstruktur aufweisen. Darum ist das fairer für die AnlegeDr. Carsten Sieling rinnen und Anleger, für die Bürgerinnen und Bürger, und darum sind wir für die Stärkung der Honorarberatung. Vielen Dank für die Frage. Das ist einer der zentralen Punkte. ({1}) Zum Schluss will ich hier noch einmal sehr darauf hinweisen: Wenn Sie die Fachdebatte um unseren Antrag in den letzten Tagen verfolgt haben, dann wissen Sie, dass alle einschlägigen Akteure, die auf diesem Gebiet kompetent sind, angefangen beim Verbraucherzentrale Bundesverband bis hin zu verschiedenen Verbänden und Organisationen, aufgrund dieser Argumente deutlich gesagt haben: Unter anderem wegen dieses Punkts ist der SPD-Antrag dem Konzept von Ministerin Aigner überlegen. Diese Überlegenheit sollte sich auch in Gesetzen wiederfinden. ({2}) Ich will diese Überlegenheit auch noch einmal an der Aufsicht deutlich machen. Die Verbraucherschutzministerin hatte ursprünglich ja die einheitliche Aufsicht. Sie ist insbesondere durch das Vorgehen der FDP, die sich beim Vermögensanlagengesetz durchgesetzt hat, aus den Puschen geschlagen bzw. geschossen worden, sodass es in Deutschland eine gesplittete Aufsicht gibt. Ich sage: Es kann nicht ordentlich sein, dass 7 000 unterschiedliche Gewerbeämter 80 000 Vermittler kontrollieren. Das ist ein löchriger Käse. Das muss man an dieser Stelle auch verändern. Man braucht eine einheitliche Aufsicht, übrigens auch für die Honorarberaterinnen und Honorarberater. ({3}) Weil das auch ein wichtiger Bestandteil unseres Antrages ist, will ich zuallerletzt noch einmal sagen: Wir sprechen uns sehr dafür aus, dass es neben dieser ordentlichen Aufsicht auch einen Marktwächter aus der Gesellschaft heraus gibt. ({4}) Darum sind wir sehr dafür, dass die Verbraucherzentralen diese Marktwächterfunktion erhalten. Wir wollen nicht warten, bis die MiFID umgesetzt wird und Sie endlich irgendwelche Gesetzentwürfe vorlegen. Das kann man den Menschen in Deutschland nicht mehr zumuten. Wir müssen jetzt wissen, was Sie wollen - übrigens auch in der europäischen Debatte. Darum: Folgen Sie unserem Antrag, und legen Sie endlich einmal ein paar eigene Vorschläge vor, die Sie auch wirklich in dieses Haus einbringen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8182 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes ({0}) - Drucksache 17/8343 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter.

Steffen Kampeter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001062

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was haben wir eigentlich im Blick, wenn wir heute über Finanzmarktstabilisierung diskutieren und dazu einen Gesetzentwurf einbringen? Für die Bundesregierung und die sie tragende Koalition geht es beispielsweise um die Sparerinnen und Sparer, die ihre Sparguthaben unkompliziert und sicher in einem funktionsfähigen Finanzmarkt verwalten wollen. Es geht aber auch um die Beschäftigten in Deutschland, die ihre privaten Geschäfte vom Lohnerhalt bis hin zu Konsumausgaben mit Banken und Sparkassen tätigen wollen, die sie als vertrauensvolle und verlässliche Partnerinnen und Partner einschätzen. Es geht um die Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland. Deutschland wäre nicht Exportweltmeister und hätte keinen starken Binnenkonsum, wenn es nicht auf einen funktionsfähigen und leistungsfähigen Finanzmarkt blicken könnte. Es geht aber auch um die Interessen der Anlegerinnen und Anleger, die für ihre Altersvorsorge über das gesetzliche Maß hinaus etwas tun wollen. All diesen dient die Finanzmarktstabilität. Sie steht im Fokus dieses Gesetzentwurfs, dessen Inhalt Ihnen die Koalitionsfraktionen gemeinsam mit der Bundesregierung heute vortragen. Finanzmarktstabilität ist ein gemeinwohlorientiertes Anliegen, für das es sich einzutreten lohnt. Deswegen muss klar gesagt werden: Wir haben nicht nur diesen Gesetzentwurf erarbeitet. Wir haben auch eine Reihe von anderen Schlussfolgerungen aus der Finanzkrise gezogen. Ich nenne beispielsweise die Bankenabgabe, die zu einer solidarischeren Verteilung der Lasten führen soll, oder die Initiativen, die dem Anleger- und Verbraucherschutz im Finanzmarkt dienen sollen, in dem wir in den vergangenen zwei Jahren Erhebliches vorangebracht haben. Ich erinnere mich noch gut daran, als das erste Finanzmarktstabilisierungsgesetz hier im Oktober im Jahr 2008 beraten worden ist. ({0}) Das war eine Aktion, bei der der deutsche Parlamentarismus innerhalb einer Woche seine Leistungsfähigkeit und Handlungsfähigkeit belegt hat, weil uns die Krise eiskalt erwischt hat und wir handeln mussten und Verantwortung übernommen haben. Das ist allerdings kein Idealfall von Gesetzgebung. Deswegen beobachten wir als Regierung, aber auch als Koalition seit Herbst intensiv die Entwicklung auf den Finanzmärkten. Rasch wurde uns klar, dass ein zweites Finanzmarktstabilisierungsgesetz nach dem Auslaufen der bisherigen Maßnahmen durchaus im Bereich des Möglichen war. Der Befund ist klar und deutlich: Eine hohe Staatsverschuldung, anders als in der Bankenkrise, ist die Ursache von Verwerfungen auf den Finanzmärkten. Ein Vertrauensverlust in die Solvenz und Liquidität einzelner Staaten, nicht immer begründet, aber teilweise von den Märkten so empfunden, führt zu Verwerfungen im Finanzmarkt. Wir haben einen erheblichen Abschreibungsbedarf in den Bilanzen und damit verringert sich auch der Risikopuffer im Finanzmarktsystem. Es besteht ein Misstrauen zwischen den einzelnen Akteuren des Finanzmarktes, das sich daran ablesen lässt, dass das Geld nicht anderen Banken geliehen oder anderswo investiert wird, sondern zu schlechten Konditionen über Nacht bei der Europäischen Zentralbank geparkt wird. Es wäre verantwortungslos, die Entwicklung abzuwarten, bis das Kind in den Brunnen fällt. Mit dem Mitte Dezember vom Bundeskabinett beschlossenen und jetzt von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf handeln wir diesmal präventiv. Wir wollen Verantwortung zeigen, bevor es zu krisenhaften Veränderungen kommt, die wir nicht erwarten, die aber im Bereich des Möglichen sind. Wir reden sie nicht herbei, aber es ist, glaube ich, richtig, besser vorbereitet zu sein. Den ersten Schritt - das will ich in aller Klarheit sagen - haben wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und der europäischen Bankenaufsicht gemacht. Die europäische Bankenaufsicht hat festgelegt, dass mehr Eigenkapital im europäischen Bankensektor einen Beitrag zur Systemstabilität leisten kann, insbesondere bei den sogenannten systemrelevanten Banken, also den großen Finanzakteuren. Der zweite Schritt war, dass sich auf Grundlage der Analyse der europäischen Bankenaufsicht die Staatsund Regierungschefs entschieden haben, eine nationale Rekapitalisierung der Banken anzuordnen. Da, wo es möglich ist, soll sie vorrangig durch den Markt erfolgen. Aber da, wo es notwendig ist, haben wir Auffangpositionen zu schaffen, nicht weil wir wollen, dass der Staat als Erster hilft, sondern weil wir glauben, dass dieses präventive Verhalten die Institute auffordert, das Notwendige zu tun, statt beim Staat anzuklopfen. Der dritte Schritt, den wir heute gesetzgeberisch beginnen, ist die nationale Umsetzungsstrategie dieser europäischen Festlegung. Das ist das Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz, für das wir uns schon jetzt mehr Zeit genommen haben als für die gesamten Gesetzgebungsberatungen des Vorläufers. Was ist der Inhalt? Erstens. Wir ermächtigen die Bundesregierung mit erheblichen Kapitalmengen und Garantiemöglichkeiten, für den Fall der Fälle aktiv Finanzmarktstabilisierung zu betreiben. Wir ermöglichen zweitens mit diesem Gesetz, Wertpapiere in Zweckgesellschaften geordnet abzuwickeln. Dieses Instrument hat uns schon in der ersten Finanzmarktkrise gute Dienste geleistet und trägt im Interesse der Sparer, Anleger, Unternehmen und Beschäftigten erheblich zur Vertrauensbildung auf den Finanzmärkten bei. Diese Möglichkeit steigert das Vertrauen in die Solvenz der Kreditinstitute und ist damit ein kluger Beitrag. Drittens. Wir stellen alle diese Aktivitäten unter die Kontrolle des bewährten Ausschusses. ({1}) Die parlamentarische Begleitung ist Bestandteil unserer Finanzmarktstabilisierungspolitik. Der in der Begeisterung noch ausbaufähige Kollege Schick ist neuerdings Mitglied dieses Gremiums und wird zweifelsohne wie alle Mitglieder dieses Gremiums die Arbeit genauso konstruktiv wie sein Vorgänger Bonde für seine Fraktion begleiten. Das Parlament ist in der Pflicht, wenn es um Finanzmarktstabilisierung geht. Wir sind aber auch in der Pflicht, die Dinge mit der gebotenen Vertraulichkeit und Geschwindigkeit von Parlamentsseite zu begleiten, die möglicherweise notwendig sind. Viertens. Wir finden mit dem Gesetz eine Form, die das Anliegen der Schuldenbremse auch auf die Instrumente der Finanzmarktstabilisierung anwendet. Wir verParl. Staatssekretär Steffen Kampeter schärfen die Schuldenbremse mit den Vorschriften dieses Bereichs, weil wir sagen: Auch hier gilt das, was notwendig und richtig ist. ({2}) Schließlich schärfen wir die Aufsicht über die Kreditinstitute. Bisher hat die Aufsicht erst bei Bestandsgefährdung eine Eingriffsmöglichkeit. Wir wollen jetzt eine Risikoeinschätzung zugrunde legen, weil wir gemerkt haben, dass in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern die Aufsicht bisher zu spät eingegriffen hat, um Finanzmarktstabilität zu garantieren. Das kann im Einzelfall mehr Eigenkapital bedeuten. Das kann auch Rekapitalisierung durch den Soffin bedeuten. Wenn sich Institute weigern, eigenverantwortlich ihren Beitrag zur Finanzmarktstabilität zu leisten, kann das auch die Einsetzung eines Sonderbeauftragten bedeuten. Ich will allerdings auch in aller Klarheit sagen: Die Verhältnismäßigkeit und die Berücksichtigung des Wettbewerbsgedankens sind neben der Erreichung von Finanzmarktstabilität ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung. Es muss sich keiner vor diesem Instrument fürchten. Maß und Mitte bleiben auch in dem neuen Gesetz wichtig.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatssekretär, Sie können mein Signal weiter ignorieren, kein Problem. Das hat dann aber Konsequenzen für weitere Redner.

Steffen Kampeter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001062

Dass es schon vor dem Inkrafttreten wirkt, zeigt sich daran, dass schon die ersten Institute gesagt haben: Wir schaffen mehr Kapital vom Markt. Ein Gesetz, das schon vor der ersten Lesung im Deutschen Bundestag Wirkung entfaltet, muss ein gutes Gesetz werden. Wir werden in der Anhörung am Montag und dann in den weiteren parlamentarischen Beratungen schauen, ob es noch besser werden kann. Ich werbe für die Bundesregierung um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Bettina Hagedorn für die SPD-Fraktion. ({0})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Herr Kollege Kampeter hat schon auf das sogenannte Soffin-I-Gesetz hingewiesen. Das haben wir, die Große Koalition, in atemberaubender Geschwindigkeit innerhalb einer Woche - das ist nicht beneidens- und nachahmenswert - im Oktober 2008 verabschiedet. Dieses Gesetz hat - ich glaube, darüber sind wir uns einig - gute Dienste geleistet, zur Beruhigung der Märkte beigetragen und vor allen Dingen der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gedient. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen - ich will mich dem für die SPD anschließen -: Ja, Finanzmarktstabilität ist ein öffentliches Gut. - Das haben wir schon damals so gesehen, und das sehen wir heute noch genauso. Dieses Gesetz ist allerdings am 31. Dezember 2010 ausgelaufen, und das - dieser Hinweis sei mir gestattet gegen die warnenden Worte der Sozialdemokraten, die in diversen Reden und Anfragen an die Regierung schon im Herbst 2010 darauf hingewiesen hatten, dass dieses Instrument durchaus über Dezember 2010 hinaus noch gute Dienste leisten kann; denn die Krise war damals erkennbar noch nicht überwunden. Was Sie für die Regierung dargelegt haben, nämlich dass Sie in weiser Voraussicht schon seit Wochen präventiv handeln, muss man ein wenig einschränken. Ich habe zwar Verständnis für Ihr Eigenlob. Aber zur ganzen Wahrheit gehört, dass das bereits auf Gipfeln und auf dem G-20-Treffen im Herbst 2011 beschlossen wurde. ({0}) Ich will darauf hinweisen, dass wir uns in der Großen Koalition 2008 grundsätzlich einig waren. Aber schon damals gab es einen Punkt, über den wir uns nicht ganz einig waren - das ist auch so geblieben -, nämlich darüber, wer eigentlich die Kosten der Rettungsaktion tragen soll. Wir stellen heute mit Befriedigung fest, dass sich offensichtlich wenigstens bei den Kollegen der CDU/CSU, der Kanzlerin und dem Finanzminister die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass eine Finanztransaktionsteuer eine wesentliche Rolle spielen kann. Die Ankündigung, eine solche Steuer einzuführen, hören wir gerne. Aber Ankündigungen gab es schon diverse. Jetzt müssen Sie es nur noch gegen die FDP durchsetzen. Dann sind wir auch an dieser Stelle auf dem richtigen Weg. ({1}) Zu Ihrem Gesetz, dessen Entwurf nun vorliegt, kann man sagen: besser spät als gar nicht. Der Stresstest hat ergeben, dass die Banken in Europa 115 Milliarden Euro frisches Geld brauchen werden. 13 bis 14 Milliarden Euro davon benötigen einige Institute in Deutschland. Vor diesem Hintergrund brauchen wir dieses Gesetz. Allerdings hat sich die Welt in den letzten dreieinhalb Jahren weitergedreht. Wir mussten im Herbst 2008 ins kalte Wasser springen. Wir hatten damals nur eine Woche Zeit. Dafür war sehr viel Mut erforderlich. Wir haben trotz der Kürze der Zeit offensichtlich manches richtig gemacht. Allerdings muss man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich seitdem einige Dinge geändert haben. So wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert. Dank herausragender Verfassungsgerichtsurteile diskutieren wir heute über die Beteiligung des Parlaments - aus gutem Grund auf einem ganz anderen Niveau als damals. ({2}) Vor diesem Hintergrund sind wir als Abgeordnete gerade in der Anhörung mit 13 Sachverständigen im federführenden Haushaltsausschuss am kommenden Montag in der Verantwortung, diese beiden Aspekte besonders zu beleuchten und zu überprüfen, ob das Gesetz den Ansprüchen genügt. An dieser Stelle will ich konkret werden und darauf abstellen, dass der Soffin bisher ein reines Informationsgremium ist. Anders als das Neunergremium, über das in den letzten Wochen vielfach geredet wurde, ist er nicht mit Entscheidungsbefugnis ausgestattet. Das Finanzministerium will künftig auch befugt sein - so sieht es der jetzt vorliegende Entwurf zum Soffin II vor -, alle Anordnungen zu treffen, die die zweckmäßige Wahrnehmung der Aufgaben der Anstalt sicherstellen und überprüfen. Das mag ein wichtiger Schritt sein. Eine Stärkung des Aufsichtsinstrumentariums ist konsequenterweise angelegt. Auch die Stärkung der Rechts- und Fachaufsicht des Ministeriums ist angelegt. Ohne Zweifel muss der federführende Haushaltausschuss bei seiner Beratung dieser gewünschten Stärkung der Exekutive zwingend eine Stärkung der Kontrolle und Mitsprache durch den Bundestag an die Seite stellen. ({3}) Gerade für die Grundsatzentscheidungen, die bisher nicht der Leitungsausschuss des Soffin trifft, sondern der Lenkungsausschuss, der aus den Ministerien gebildet wird, muss mehr parlamentarische Mitwirkung sichergestellt werden; denn diese Entscheidungen sind in aller Regel nicht eilig. Beispielsweise ist die Frage, welche Kapitalbeteiligung der Bund im Falle einer Kapitalzuführung an eine Bank übernimmt, eine grundsätzliche und wichtige Weichenstellung. Ich unterstelle daher, dass wir uns hier über diese grundsätzliche Ausrichtung fraktionsübergreifend einig sind. Ich will ergänzend einige offene Fragen aus der Sicht der SPD ansprechen. Dabei ist vor allen Dingen zu nennen, dass wir uns stets für direkte Beteiligung ausgesprochen haben, zum Beispiel in Form von Stammaktien, und sie übrigen Instrumenten vorziehen nach dem Motto: Wer rettet und zahlt, muss an Kurssteigerungen mitverdienen können und mitreden dürfen. Die Bundesregierung ist zwar nicht der bessere Banker, aber über den Aufsichtsrat sehr wohl in der Lage, die grundsätzliche Geschäftsausrichtung eines Instituts konstruktiv und im öffentlichen Interesse zu begleiten; denn im öffentlichen Interesse ist, dass Steuergelder im Interesse aller eingesetzt werden. Auf die Frage „Wie viel Zwang und wie viel Freiwilligkeit brauchen wir?“ wird nachher mein Kollege Carsten Sieling eingehen; denn ich muss jetzt zum Schluss kommen. Ich will noch sagen, dass bei uns allen inzwischen die Telefone heißlaufen, und zwar deshalb, weil es natürlich Banken gibt, die wegen der Debatte zum Zwang sehr wohl ihre Sorgen haben. Ich hoffe, dass wir es schaffen, die Beratung im Parlament miteinander ohne Anwürfe von Lobbyisten zu führen, und dass wir in erster Linie nicht deren Interessen berücksichtigen, sondern die der Bürgerinnen und Bürger, die von uns vertreten werden. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das heute vorliegende Gesetzgebungsvorhaben ist ein Baustein in der europaweiten Bekämpfung der Auswirkungen der derzeitigen Staatsschuldenkrise. Es ist im Oktober vom Gipfel der Staats- und Regierungschef vereinbart worden, dass es notwendig ist - neben den Maßnahmen, die wir in den europäischen Verträgen treffen müssen, den Diskussionen um den Europäischen Stabilisierungsmechanismus -, dass wir Vertrauen im Bankensektor schaffen, und das europaweit. Genau dazu soll dieses Gesetz seinen Betrag aus deutscher Sicht leisten. Wir sehen, dass die Banken in Europa zurzeit ein gewisses Misstrauen gegeneinander haben. Wir erkennen das daran, wie viel Geld sie zum Beispiel bei der Notenbank anlegen, statt es sich gegenseitig zu leihen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass mehr dafür getan werden muss, um Vertrauen in die Stabilität des Bankensektors zu schaffen. Auch das soll europaweit angegangen werden, indem wir dafür sorgen, dass bis zum 30. Juni alle systemrelevanten, alle für die Stabilität wichtigen Banken in Europa eine Kernkapitalquote von 9 Prozent bekommen, also stärkere Kapitalpuffer haben und damit besser für Unsicherheiten, für Probleme auf den Märkten, für Turbulenzen gewappnet sind und so etwas besser durchstehen können. Das Ganze wird europaweit einheitlich von der Europäischen Bankenaufsicht gemacht, die die Kriterien aufgestellt hat. Es ist für die europäischen systemrelevanten Banken einheitlich errechnet worden, wie stark sie für das Krisenszenario aufgestellt sind oder wie viel Kapital sie dafür noch brauchen. Nun schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass in Deutschland sichergestellt ist, dass jede Bank dieses Ziel bis zum 30. Juni erreicht. Die Bundesregierung und die Koalition bekennen sich dazu, dass wir als Deutsche das erfüllen, was in Europa im Oktober vereinbart worden ist. Eines ist allerdings ganz wichtig, wenn man sich die Geschichte dieses Soffin-II-Gesetzes, dieses neuerlichen Finanzmarktstabilisierungsgesetzes, anschaut. Der Soffin II hat einen etwas anderen Charakter als der Soffin I, der vor drei Jahren verabschiedet worden ist. Hier geht es im Grunde darum, dass wir einen Kapitalpuffer für bestimmte Problemsituationen vorbeugend präventiv anlegen. Vor drei Jahren war die Situation so, dass der Finanzsektor derartig lädiert war, dass der Soffin eher ein Reparaturbetrieb gewesen ist und der Schaden schon so gut wie eingetreten war. Dann musste sehr schnell gehandelt und interveniert werden, um noch größeren Schaden zu verhindern. Wir gehen heute bei Soffin II davon aus, dass wir sehr stark vorbeugend tätig werden, während es bisher ein etwas anderes Konzept war, nämlich dass man besonders stark von der Krise betroffene Banken stabilisiert hat, um schlimmeren Schaden zu vermeiden. Das erklärt, Frau Kollegin Hagedorn, den Unterschied zwischen dem damaligen und dem heutigen Gesetzgebungsvorhaben, und es erklärt auch, dass man das, was wir heute tun, insgesamt etwas anders einordnen muss. Es ist nicht die schiere Wiederholung dessen, was vor drei Jahren passiert ist, sondern es ist ein sehr stark präventiv wirkendes Instrument. ({0}) - Nein, aber Sie sagten, Sie hätten kritisiert, dass man das alte Finanzmarktstabilisierungsgesetz hat auslaufen lassen. Dafür haben wir auch ein neues Instrument geschaffen, für die Fälle, in denen wirklich kein tragfähiges Geschäftsmodell vorhanden ist. Für die Fälle, in denen eine Bank derartig krank ist, dass es nicht sinnvoll ist, dort Steuergelder hineinzugeben, haben wir das Restrukturierungsgesetz - es ist eine Art geordnetes Insolvenzrecht für Banken -, das genau dazu da ist, die wirklich problematischen Fälle geordnet in den Griff zu bekommen und vom Markt zu bekommen. Soffin II ist etwas ganz anderes als die Situation des Restrukturierungsgesetzes. Es ist Vorbeugung und verhindert gewissermaßen, dass der ganze Finanzsektor krank wird. Es ist nicht dafür da, dass wir Banken ohne Geschäftsmodell mit Steuergeldern unterstützen, und das ist schon etwas anderes als das Konzept, das vor drei Jahren in der Not und unter großem Zeitdruck beschlossen worden ist. ({1}) Wir geben bei unserem Ansatz der unternehmerischen Eigenverantwortung Vorrang. Es geht darum, dass wir sehen: Je stärker der Staat an Privatunternehmen beteiligt ist, umso weniger kann er seiner Rolle als neutraler Wächter fairer Regeln, als Aufseher genauso wie als Gesetzgeber, der sich um faire und angemessene Regeln bemüht, nachkommen. Je stärker der Staat wirtschaftliche Eigeninteressen verfolgt, umso stärker ist seine Rolle als ordnender Faktor gefährdet, der faire Regeln, fairen Wettbewerb, auch einen nachhaltigen Wettbewerb um das beste Geschäftsmodell, um stabile Geschäftsmodelle unterstützen kann. Deshalb ist unser Ansatz gerade nicht, zu sagen: Ziel ist, dass wir möglichst viel staatliches Geld in möglichst viele Banken hineinpumpen und dadurch möglichst viel Einfluss auf möglichst viele Banken bekommen. Wir sehen auch aus den Erfahrungen der Vergangenheit, dass die Banken, die staatlich beeinflusst gesteuert sind, nicht die besseren Geschäftsmodelle hatten, sondern diese die größeren Verlustbringer für die Steuerzahler waren, weil Anpassungsprozesse, Veränderungen, Reformen und Sanierungen eher verschleppt und verzögert worden sind, Stichwort „Landesbanken“. Diesen Fehler sollten wir mit Geld des Steuerzahlers keinesfalls wiederholen, sondern sagen: Vorrang hat, dass die Banken selbst ihre Probleme mit den Instrumenten, die sie für richtig halten, in den Griff bekommen. Das verlangen wir, die Zielvorgabe legen wir fest, aber wir drängen Geld nicht dort auf, wo die Probleme mit anderen Mitteln lösbar sind. Dies tun wir nicht, weil wir nicht wollen, dass der Staat den deutschen Finanzsektor umfassend steuert und unternehmerisch tätig ist. ({2}) Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass die sechs Banken in Deutschland, von denen wir wissen, dass sie noch etwas zu tun haben bis zum 30. Juni 2012, allesamt erklärt haben, dass sie sich anstrengen werden, das Ganze ohne Steuergelder hinzubekommen. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit im Anspruch eines privaten Unternehmers, dass er sagt: Wir schaffen unsere Probleme selbst aus der Welt. Wir strengen uns selber an und bitten nicht die Allgemeinheit. - Das sollte man anerkennen. Ich denke, dass das gut ist, und es sollte für Privatunternehmen selbstverständlich sein, dass sie sich erst einmal selber anstrengen. Wenn dies gelingt, dann trifft das auf unsere Zustimmung und unser großes Wohlwollen. ({3}) Aber wir müssen - das ist der Sinn des heutigen Gesetzes - darauf vorbereitet sein, dass es Marktsituationen geben kann, auch unberechenbare Situationen im Zuge der Schuldenkrise, in denen es vielleicht nicht hundertprozentig und jedem gelingt, es selber zu schaffen. Genau dafür stellen wir die Instrumente zur Verfügung, die nun, für ein Jahr befristet, wieder eingesetzt werden sollen. Das ist eine Vorsorgemaßnahme. Wir wollen nicht, dass sie eingesetzt werden, aber wir wissen, dass sie möglicherweise gebraucht werden, wenn es die Privatwirtschaft nicht in jedem Einzelfall schafft, alle ihre Aufgaben bis zum 30. Juni 2012 unter einem durchaus hohen Zeitdruck zu erfüllen. Wir werden dafür sorgen, dass das, was nötig ist, auch im Bereich der staatlichen Finanzmarktstabilisierung so abläuft, dass der Wettbewerb möglichst wenig beeinträchtigt wird und nicht die Banken, die eigentlich ein funktionierendes Geschäftsmodell haben und kein staatliches Geld brauchen und es auch nie gebraucht haben, Nachteile dadurch haben, dass sie kein staatliches Geld bekommen haben. Der faire und geordnete Wettbewerb um das beste, das tragfähigste Geschäftsmodell darf durch solche Interventionen nicht beeinträchtigt werden. Wir werden durch die Gesetzgebung und die Anwendung der Gesetze dafür sorgen, dass das gewährleistet ist. Natürlich gilt auch hier: Wir schonen die Steuerzahlerinteressen. Wer im Zuge dieses Gesetzes Geld vom Staat bekommt, falls dies überhaupt notwendig werden sollte, der muss dafür Gegenleistungen erbringen, in der Regel zum Beispiel Garantien verzinsen, Eigenkapital verzinsen. Es wird nichts geschenkt. Der Staat wird darauf achten, dass die Banken, bei denen sein Eingreifen erforderlich wird, ordentliche Geschäftsmodelle haben und keine unverantwortlichen Geschäftsmodelle, sofern es diese überhaupt noch gibt, weitergeführt werden. Das ist Teil dieses Gesetzes, und das ist auch das, was wir den Steuerzahlern schuldig sind. Eine letzte Bemerkung, Frau Kollegin Hagedorn, zum Thema Parlamentsbeteiligung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Achten Sie bitte auf das Signal. Das müsste Ihr letzter Satz sein.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das war ja der Versuch, meinen letzten Satz einzuleiten, Frau Präsidentin. - Wir werden in jedem Fall auch über das Thema, wie man die parlamentarische Begleitung dieses Prozesses effektiver gestalten und noch verbessern kann, in den nächsten Tagen sprechen. Ich denke, da ergeben sich für alle tragfähige Lösungen. Das ist jedenfalls das Angebot. Damit möchte ich meine Rede auch beenden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Toncar, wenn Sie Ihren Traum von der privaten Verantwortung weiterträumen, müssten Sie beim Aufwachen zu dem Schluss kommen, dass Sie dieses Gesetz, das gerade von der Koalition eingebracht wurde, nicht wirklich brauchen. ({0}) Wir müssen darüber reden, worum es hier geht. Vor über drei Jahren wurden gigantische staatliche Hilfen für in Not geratene deutsche Banken beschlossen: 500 Milliarden Euro an Garantien und Kapitalanteilen - das alles in einer Woche. Aus heutiger Sicht hat sich all das angeblich bewährt. Aber die Wahrheit ist doch, dass durch die höheren Anforderungen, die die europäische Bankenaufsicht an die Banken stellt, ein höherer Anteil von Kernkapital notwendig ist. ({1}) Hierzu ist der Öffentlichkeit zu erklären, dass es überhaupt keine Bank gibt, die so viel Geld in ihrem Bestand hat, wie sie verleiht. Indem das Kernkapital gestärkt wird, soll nun für mehr Sicherheit gesorgt werden. Das ist eine vernünftige Angelegenheit. Aber was fällt Schwarz-Gelb dazu ein? Dafür sollen nicht die Banken selber sorgen, sondern das soll mit Staatshilfe geschehen. ({2}) Das muss man sich in der Tat einmal auf der Zunge zergehen lassen. Von CDU und FDP werden hier gigantische Staatshilfen als Vorschlag eingebracht. Noch in der Großen Koalition hat Steffen Kampeter, damals Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, gegen dieses Teufelszeug gewettert, als die SPD entsprechende Vorschläge gemacht hat. Das muss Ihnen einfach einmal gesagt werden, Herr Kampeter. Sie können der Linken nicht permanent Verstaatlichungswahn vorwerfen und dann selbst munter mit Steuergeld Banken verstaatlichen wollen, wobei es sich hier in Wirklichkeit ja um eine Verstaatlichung von Schulden handelt. Das passt nicht zusammen. ({3}) Ich will die Bilanz dieser staatlichen Bankenrettung etwas näher beleuchten. Es geht inzwischen immerhin um Milliardenverluste in zweistelliger Höhe für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. ({4}) Ich komme aus einem Bundesland, dessen Gesamtetat für ein Jahr gerade einmal 10 Milliarden Euro beträgt. Im Wesentlichen wurden Schulden verstaatlicht. Die beiden größten Schrottbanken, die in Düsseldorf und in München, sind in Staatshand. Da will ich auch Herrn Kollegen Toncar widersprechen: Das Elend der Hypo Real Estate steht dem der WestLB nun wirklich in keiner Weise nach. ({5}) Die IKB Deutsche Industriebank - sie war der Auslöser für staatliche Hilfen - wurde inzwischen an eine Heuschrecke verschenkt, hat aber einen totalen Luxusschirm. Auf meinen damaligen Einwand, diesen Schritt zu machen, wurde mir entgegnet: Seien Sie doch einmal ruhig! Wenn diese Bank einem großen Investor gehört, sind wir die Sorgen los. - Wir sind sie aber nicht los. Wir haben das Überleben der Commerzbank gerettet. Sie hat dafür keine Gebühr bezahlt. ({6}) Als die Zeit gekommen war, wo sie hätte Gebühren bezahlen müssen, hat sie den Staat ausgetrickst und sich der Verantwortung entzogen. ({7}) Wir haben die Sparkassen mehr belastet, als es gut und richtig war. Jetzt wollen Sie damit wieder von vorne anfangen und das auf neuer Grundlage tun. Dazu sagen wir Ihnen: Nicht mit uns! ({8}) Damit die Bemühungen, die in diesem Bereich geleistet werden, nicht diskreditiert werden, will ich hier eines klarstellen: Die Akteure aus den Landesbanken in der Rettungsbehörde, die den schönen Namen Finanzmarktstabilisierungsanstalt trägt, verdienen durchaus den Respekt, auch den der Linken. Ich sage das ausdrücklich für die Chefs Johannes Rehm und Christopher Pleister und ihre Mitarbeiter. Sie können nichts für die schlechten Gesetze. Jetzt kommt aber der Skandal. Von Bettina Hagedorn ist schon auf die große Verantwortung des Lenkungsausschusses, des politischen Steuerungsgremiums, einer interministeriellen Arbeitsgruppe, hingewiesen worden. Nun können wir nachfragen, wie dieser Ausschuss gearRoland Claus beitet hat. Die Bundesregierung hat die Akteure bei der Finanzmarktstabilisierung im Regen stehen lassen. Der Lenkungsausschuss hat nämlich von September bis Dezember des vergangenen Jahres überhaupt nicht getagt, nicht ein einziges Mal. Wie will man so lenken und Aufsicht führen? Das ist ein glatter Skandal. ({9}) Zudem haben Sie nicht die Chance genutzt, Ihre Beschwörungen von 2008, man müsse jetzt regulieren, in Wirklichkeit umzusetzen. Stattdessen schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf selbst, man müsse jetzt das Vertrauen der Märkte und der Bürger wiedererlangen. Die Sprache ist verräterisch. In dieser Reihenfolge will man überzeugen: erst die Märkte und dann vielleicht auch die Bürger. Solange der Staat Diener der Banken bleibt, wird der demokratische Zusammenhalt der Gesellschaft nicht gewahrt, sondern zerstört. ({10}) Allmählich geht es um einen bankeneigenen Staat und nicht mehr um staatseigene Banken. Es ginge auch alles anders. Die Krise von 2008 und 2009 hat uns gezeigt, dass kollektives Handeln unabdingbar ist, dass der Staat gestaltend und regelnd eingreifen muss. Diese Worte stammen nicht etwa von Lötzsch oder Gysi, sondern von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Nötig und möglich wäre es, schrittweise dieses Kasino zu schließen und die Finanztransaktionsteuer einzuführen. Nun ist das schon ein großer Schritt, von dem wir jetzt gehört haben. Wir werden sehen, ob das Wirklichkeit wird. Wir könnten uns dazu durchringen, ein Verbot von Spekulationen mit Nahrungsgütern und Rohstoffen auf den Weg zu bringen. Wir brauchen endlich das Verbot von Schattenbanken, Hedgefonds und Leerverkäufen. Statt der Knebelung und der unendlichen Sparprogramme brauchten wir Konjunkturprogramme und eine Bank für öffentliche Anleihen. Wir müssten endlich höchste Einkommen solidarisch besteuern. Wir dürfen Volkswirtschaften nicht kaputtsparen, sondern wir müssen Wachstum auf den Weg bringen. ({11}) All diese Probleme werden auch mit diesem Gesetzentwurf nicht gelöst. Deshalb wird er unsere Zustimmung nicht finden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Claus, achten Sie bitte auf die Zeit.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir müssen endlich unser Wertesystem in den Blick nehmen. Schluss mit dem Sieg des Ellenbogens! Dafür: Einer trage des anderen Last! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal einen Blick zurück auf die erste Bankenrettung werfen, weil sie teilweise schon in Vergessenheit geraten ist. Zur Commerzbank: Die EUKommission musste dem deutschen Bundesfinanzminister in den Arm fallen, damit er nicht zu gute Konditionen festlegt, die den Steuerzahler geschädigt und die Bankaktionäre gutgestellt hätten. Das ist ein Teil der Bilanz der Bankenrettung in Deutschland. ({0}) Wir dürfen nicht meinen, es wäre danach besser weitergegangen. Es gab ein Gutachten, das vor längerer Zeit in Auftrag gegeben und im Januar 2011, also vor etwa einem Jahr, veröffentlicht worden ist. An der Spitze der Gutachter stand Professor Zimmer. Darin wurde der Vorschlag gemacht, dass man systematisch an den Ausstieg herangehen und auf eine vollständige Abwicklung der Hypo Real Estate setzen soll. Das Gutachten ist in der Schublade verschwunden. Die Bundesregierung setzt nun weiter auf wenig wahrscheinliche Privatisierungserlöse, was den Steuerzahler möglicherweise noch teuer zu stehen kommt. Ein Drittes möchte ich im Rückblick kritisch sagen. Eine Aufarbeitung der Frage, warum eigentlich die verschiedenen Banken Hilfe vom Steuerzahler gebraucht haben, hat in Deutschland anders als in anderen Staaten nicht stattgefunden. Das geht nicht; denn immer dann, wenn der Steuerzahler zahlen muss, muss begründet werden, warum es so weit gekommen ist. Wir müssen aus diesen Fehlern lernen. Das ist nicht der Wille der Bundesregierung gewesen. Da gilt es nachzusteuern. ({1}) Konkret zu dem Gesetzentwurf: Ich bin Kollegen Toncar dankbar dafür, dass er angesprochen hat, dass wir uns noch einmal darüber unterhalten, welche Rolle unser Gremium spielt, welche Kontrollmöglichkeiten wir haben und welche Kontrollmöglichkeiten vor allem auch der Bundestag hat. Für uns Grüne ist es nicht in Ordnung, dass ohne die Zustimmung des Parlaments gehandelt werden kann. Wir wollen auch, dass das Parlament bei der Benennung der Personen, die an der Spitze des Fonds stehen, mitreden kann; denn das sind ganz wichtige Personalentscheidungen. Wir brauchen natürlich auch dann, wenn es um Personalentscheidungen im Zusammenhang mit der Besetzung von Aufsichtsräten geht, die Möglichkeit zur Rückkopplung mit dem Souverän. Sonst ist keine entsprechende Vertretung möglich. Ich möchte aber auch auf den Punkt Gehaltsdeckelung zu sprechen kommen. Es gab an dieser Stelle immer wieder Probleme. Es ist von der Bundesregierung jetzt angekündigt worden, dass in diesem Bereich etwas passieren soll. Es bleibt aber bei einer völlig weichen Regelung für die Banken, die Garantieleistungen erhalten. Mit einem weiteren Punkt sind wir Grüne - Herr Kampeter hat es vorhin angesprochen - nicht zufrieden: Dass das Gremium geheim tagt, darf nicht zum Vorwand dafür dienen, dass Informationen, die die Öffentlichkeit erreichen müssen, nicht rechtzeitig auf dem vorgesehenen Weg bekannt gemacht werden. ({2}) Die Information über die Fehlbuchung bei der Hypo Real Estate war keine Information für ein geheimes Gremium. Dafür ist der Haushaltausschuss zuständig, und die Öffentlichkeit muss dementsprechend informiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns ganz klare Vorgaben gemacht. Ein Sondergremium darf nicht zur Folge haben, dass die Abgeordneten dieses Hauses weniger Informationen erhalten, als sie sonst bekommen würden. An dieser Stelle besteht Korrekturbedarf. ({3}) Weil das Volumen der Gelder, die mittels dieses Gesetzes ausgereicht werden, wahrscheinlich - so die Hoffnung - eher begrenzt sein wird, will ich den Blick über den vorliegenden Gesetzentwurf hinaus auf folgenden Punkt lenken: Die Bankenrettung, die jetzt in Europa wirklich stattfindet, hat eine ganz andere Dimension. Die zweite große Bankenrettung in Europa findet im Augenblick über die Europäische Zentralbank statt. ({4}) Diese stellt seit dem 8. Dezember den Banken, befristet auf drei Jahre, Geld in dem gigantischen Volumen von 489 Milliarden Euro zu Billigstkonditionen, nämlich zu einem Zinssatz von 1 Prozent, zur Verfügung. Viele Banken, insbesondere in Italien, aber auch in anderen Ländern, die Probleme haben, können nur deswegen diese Refinanzierung nutzen, weil sie von ihren Staaten Garantien bekommen und dann Bankanleihen einreichen können. Damit können sie die Renditedifferenz zwischen Staatsanleihen und dem, was sie an die EZB zahlen, nutzen. Das ist die eigentliche Bankenrettung, die gerade in unbekannter Milliardenhöhe stattfindet. Doch bei dieser Bankenrettung gibt es keine Kontrolle, mit der festgestellt werden kann, ob Boni ausgeschüttet werden. Dort gibt es keine Deckelung der Gehälter. Dort gibt es keine Transparenz. Die privaten Bankaktionäre werden nicht an den Kosten der Rettung beteiligt. Diese zweite Bankenrettung ist der eigentliche Skandal. Denn sie führt zu einer völlig schiefen Verteilung der Lasten. Damit müssen wir uns beschäftigen. Die Verantwortung dafür trägt diese Bundesregierung, die die besseren Varianten für eine Stabilisierung des Finanzmarktes in Europa bisher konsequent abgelehnt hat. Wir brauchen dringend und zügig Alternativen. Das ist noch wichtiger als die Verbesserung dieses Gesetzes. Dieser Aufgabe müssen wir uns ganz dringend widmen. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort. ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Schick, Sie haben von einer schiefen Diskussion gesprochen. Ich habe den Eindruck, dass Sie eine etwas schiefe Sichtweise der Dinge haben, sonst hätten Sie nicht zu diesen Schlussfolgerungen kommen können. ({0}) Mit der Wiederinkraftsetzung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes greifen wir auf ein bewährtes Instrument zurück; das ist bereits ausgeführt worden. Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Es ist uns damit gelungen, in der größten Krise den Bankensektor in Deutschland zu stabilisieren. Wir werden dieses Gesetz aufgrund der Erfahrungen, die wir gemacht haben, etwas modifizieren. Aber im Kern werden wir es in zweiter und dritter Lesung - da bin ich mir sicher - im Deutschen Bundestag beschließen. Dieses Gesetz hat sich bewährt; es hat in der Krise gute Dienste geleistet. Viele, die die Möglichkeiten dieses Gesetzes in Anspruch genommen haben, werden heute sagen können: Es war gut, dass es dieses Instrument gegeben hat. Es war auch gut, dass man auf diese Möglichkeiten mutig und rechtzeitig zurückgegriffen hat. Wir bleiben dabei, dass sowohl der Garantierahmen als auch das Volumen für die Kapitalisierung in der bekannten Größenordnung vorgehalten werden. Es geht vor allen Dingen darum - der Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen -, dass wir einer krisenhaften Entwicklung vorausschauend und vorbeugend entgegentreten wollen. Ich bin überzeugt, dass dies auch gelingen wird. Es geht darum - auch das wird im Rahmen des Gesetzgebungspaketes der Fall sein -, dass wir entsprechende bankenaufsichtliche Vorkehrungen treffen. Ich will darauf hinweisen, dass es wichtig ist, nicht alle Institute über einen Leisten zu schlagen. Wir haben höchst unterschiedliche Banken und Kreditinstitute mit höchst unterschiedlicher Ausrichtung. Auch darauf muss Rücksicht genommen werden. Wir dürfen auch nicht den Versuch unternehmen oder zulassen, dass das deutsche Bankensystem, bestehend aus privaten Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken, nivelliert wird. Der Kollege Claus hat den Einwand gebracht, dass hier zuerst die Frage gestellt wird, wie Banken untereinander wieder mehr Vertrauen bekommen können. Er hat kritisiert, dass das Bürgervertrauen nicht im Vordergrund steht. Ich will andersherum argumentieren: Es ist bekannt - und in den letzten Tagen sind dazu Zahlen veröffentlicht worden -, dass 400 Milliarden bis 500 Milliarden Euro über Nacht bei der EZB geparkt werden. Das ist mehr als in der tiefsten Krise 2008. Das ist ein Ausdruck dafür, dass zu wenig Vertrauen im Bankensektor vorhanden ist. ({1}) Wir müssen alles tun, damit die Banken wieder einander vertrauen. Nur dann, wenn die Banken wieder dauerhaft einander vertrauen, können auch die Bürger uneingeschränkt Vertrauen zu ihren Instituten haben. Deswegen ist das eine von dem anderen nicht zu trennen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir bei allen Maßnahmen, die ergriffen werden - ich habe das bereits vorhin angesprochen -, nichts nivellieren, und wir dürfen nicht zulassen, dass die Axt an das bewährte deutsche DreiSäulen-System gelegt wird. Ich gebe es offen zu: Meine Sympathie für die europäische Bankenaufsicht und meine Euphorie halten sich in Grenzen. Manches Problem hätten wir nicht, wenn sich die EBA stärker der Gesamtverantwortung gestellt hätte. Auch wenn man sich auf die Unabhängigkeit berufen kann, auch wenn man sich möglicherweise auf den Gipfelbeschluss vom Oktober berufen kann - keine Institution in Europa ist frei von Verantwortung für das Ganze. Man hat aus guten Gründen im Rahmen von Basel III - hier rufe ich ausdrücklich die deutschen Verhandlungsführer in Erinnerung - Übergangsfristen festgelegt, wonach die erhöhten Kapitalanforderungen schrittweise in Kraft treten, damit die Anforderungen auch erfüllt werden können. Wenn man diese aber verkürzt, dann muss es zu Problemen kommen. Auch deswegen müssen wir tätig werden. Wir sollten diesen Herrschaften immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie Verantwortung für das Ganze haben und Basel III nicht auf den Kopf stellen können. Zum Abschluss noch ein Wort, weil das in der Diskussion, die wir bisher geführt haben, schon eine Rolle gespielt hat. Wir werden auch die notwendigen Vorkehrungen treffen, damit die Schuldenbremse in Deutschland, die wir im Grundgesetz verankert haben, entsprechend beachtet und eingehalten werden kann. Auch das werden wir - darin sind wir uns einig - in der parlamentarischen Beratung noch weiter verfolgen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich hier in der Tat um eine Neuauflage des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes I. An der Stelle will ich auch sagen: Es ist nicht wahr, dass das Bankenrestrukturierungsgesetz, welches verabschiedet worden ist, diesen Weg erspart, weshalb es im Übrigen auch falsch war, das erste Gesetz damals auslaufen zu lassen. Hier liegt ein Gesetz vor, das Garantien in dem gigantischen Volumen von 400 Milliarden Euro und Kreditermächtigungen von 80 Milliarden Euro umfasst. Dessen muss man sich bewusst sein. Wenn sich die Redner der Koalition und auch der Staatssekretär dafür loben, dass sie nun präventiv handeln und den Gesetzentwurf früh einbringen, so muss ich sagen, dass ich das ganz und gar nicht so sehe. Wir befinden uns wieder in einer solchen Situation, diesmal aber nicht, wie 2008, durch eine Bankenkrise verursacht, die kurzfristig eingetreten ist und auf die schnell reagiert werden muss. Vielmehr werden wir vor die vollendete Tatsache gestellt, dass wir heute die erste Lesung haben, am Montag die Anhörung im Haushaltsausschuss ist und dann sehr schnell die zweite und dritte Lesung stattfinden werden. Meine Damen und Herren von der Koalition und von der Bundesregierung, das war überflüssig. Spätestens nach dem Gipfel im Oktober letzten Jahres hätten Sie reagieren können. Dann hätten wir genügend Zeit gehabt, um sorgfältig zu beraten. Das ist nötig bei einem solchen Gesetz. ({0}) Ich will einige Punkte nennen, über die wir noch im Einzelnen diskutieren werden. Zunächst müssen wir diesmal sehr sorgfältig prüfen, ob es nicht doch klüger ist, im Ergebnis auch eine Zwangsrekapitalisierung vorzusehen. Dieses Instrument war 2008 nicht eingebaut worden; und ich frage mich, warum es diesmal fehlt. Diese Frage stelle ich mir aus zwei Gründen: erstens, weil der Ursprungsentwurf, der Referentenentwurf aus dem Ministerium, eine solche Lösung vorgesehen hat. Zweitens sehen wir, dass sogar Fachleute wie Herr Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft dieses Thema nunmehr ansprechen und dafür werben. Ich verstehe nicht, warum im Gesetzentwurf noch nicht einmal begründet wird, wie Sie zu Ihrer jetzigen Auffassung kommen. In der ganzen Begründung findet sich kein einziges Argument; es scheint lediglich der Kompromiss durch, dass man der BaFin ein bisschen mehr an Möglichkeiten zugestanden hat. An dieser Stelle müssen Sie deutliche Erklärungen abgeben. Wir haben eine Präferenz und haben immer deutlich gemacht, dass wir nicht weiter auf Freiwilligkeit setzen können. Das steht in engem Zusammenhang damit, dass die Entscheidung darüber, ob wir bei den Rettungen zu Beteiligungen kommen oder nur über stille Einlagen agieren, eine große Bedeutung haben wird. Das gilt schon deshalb, weil damit erstens die Frage des Eingriffs in die Geschäftspolitik dieser in Schwierigkeit geratenen Institute verbunden ist. Hier muss es ein Managementversagen gegeben haben, sonst könnte sich das eine nicht in einer schwierigeren Lage befinden als das andere. Zweitens ist das Ganze schuldenbremsenrelevant; das ist bereits angesprochen worden. Es ist schuldenbremsenrelevant, weil wir im Falle des Aktienerwerbs Aktiva haben, es aber im Falle der stillen Einlagen zu einer Erhöhung der Kreditaufnahme kommen kann, die ein Überschreiten der Schuldenregel darstellen kann. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie müssen uns erklären, wie Sie das plausibel machen wollen. Sie brau18234 chen dann jedenfalls die Zustimmung des Deutschen Bundestages; das schreibt das Grundgesetz vor. Die entsprechenden Gerichtsbeschlüsse sind hier eindeutig. Wir als SPD werden darauf beharren, dass dieses Prozedere eingehalten wird. ({1}) Ich erwarte auch eine Erklärung - denn das ist nur gesetzt und nicht erklärt, das will ich nur anmerken - der Tatsache, dass dieses Gesetz streng befristet ist. Sie legen uns ein 480-Milliarden-Gesetz mit einer Zehnmonatslaufzeit vor. Dieses Zehnmonatsgesetz soll bereits am 31. Dezember 2012 auslaufen. Natürlich geht es um den 30. Juni, also die Frage der Anforderungen der Rekapitalisierung. Man muss uns aber einmal erklären, warum man denn jetzt schon weiß, dass das Gesetz danach nicht mehr benötigt wird. Diese Setzung bedarf der Erklärung. Mein letzter Punkt - Herr Kollege Toncar, ich nehme Sie gern beim Wort: Wir müssen die parlamentarischen Rechte, die Durchgriffsmöglichkeiten erweitern und verbessern. Ich hoffe, dass das jetzt nicht nur eine Ankündigung war, dass wir darüber reden, sondern dass sich am Ende wirklich etwas verändert. Das jedenfalls wollen wir als Sozialdemokraten. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Präsidium würdigt ausdrücklich, dass das der erste Redner in dieser Debatte war, der sich an die Redezeit gehalten hat. ({0}) Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die Unionsfraktion. ({1})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht liegt das Einhalten der Redezeit auch daran, dass substanziell nichts mehr zum Thema beizutragen war; denn wenn ich die Einlassungen der Opposition höre, dann finde ich, dass das Gesetz so schlecht nicht sein kann. Die Kritik, die geübt wurde, ist auch ein wenig bemüht. Es wundert mich aber auch nicht, dass die Einlassungen entsprechend ausfallen, weil die Leute, die jetzt in der Opposition sitzen, teilweise sehr stark am Finanzmarktstabilisierungspaket I mitgewirkt haben. Das ist mein erster Punkt. Zweiter Punkt. Als Erwiderung zum Kollegen Claus möchte ich sagen: Wir können es Ihnen wahrscheinlich nur recht machen, wenn wir den Bolschewismus wieder einführen. ({0}) Nichtsdestotrotz: Sie haben bemängelt, dass Banken gerettet werden. Das ist nicht richtig - Herr Kollege Kampeter hat sich dazu eingelassen -: Wir retten nicht Banken, sondern wir helfen, dass die Systemstabilität erhalten bleibt. ({1}) Diese Systemstabilität hat ein Gesicht: Es ist nicht der Investor aus Asien oder Amerika, sondern der Sparer, der sein Geld zur Bank bringt, der Arbeitnehmer, der seine Lebensversicherungsbeiträge einzahlt, der mittelständische Unternehmer, der einen Kredit haben will, die kleine Volksbank, Sparkasse oder auch Privatbank vor Ort sowie, nicht zuletzt, der Steuerzahler. Deswegen ist es richtig, dass wir das System stabilisieren. ({2}) Sie haben angesprochen, dass wir mit dem Zweiten Finanzmarktstabilierungsgesetz gegenüber dem Ersten Finanzmarktstabilisierungsgesetz nur wenig ändern. Jetzt muss ich doch noch auf den Kollegen Sieling eingehen, der sich das Gesetz, glaube ich, nicht ganz durchgelesen hat, zumindest nicht Art. 2. Herr Sieling, Sie haben über die Zwangskapitalisierung räsoniert. Natürlich sieht das Gesetz keine Zwangskapitalisierung vor, so wie Sie sie sich wünschen; aber wir haben der BaFin mit der Änderung des § 10 Abs. 1 b KWG ein scharfes Schwert in die Hand gegeben: Eigenmittelanforderungen können ohne Vorgaben durch Verordnungen durchaus massiv erhöht werden. Wenn Sie sich die Stellungnahmen, die vorliegen, durchgelesen haben, dann erkennen Sie: Das wird in der Branche sehr stark kritisiert. Insofern müssen wir darauf achten, dass die BaFin mit diesem Instrument sehr vorsichtig und behutsam umgeht; denn es greift sehr stark in die unternehmerischen Freiheiten ein. Das Ganze ist verfassungsrechtlich sehr kritisch. So viel zum Thema Zwangskapitalisierung: Sie ist nicht der richtige Weg; wir machen das etwas eleganter. Insofern ist auch das Problem gelöst. Ich komme zum nächsten Punkt, der kritisiert worden ist. Man fragt: Warum habt ihr denn das Ganze zum 31. Dezember 2010 auslaufen lassen? Ja, warum? Darauf gibt es eine Antwort: weil die Finanzmarktstabilisierung nach unserem Verständnis - da spreche ich auch für die Liberalen - nicht der Regelfall sein kann; sie kann nur eine Ausnahme sein. Im Regelfall gilt immer noch das Restrukturierungsgesetz, ein Gesetz, das - ich werde nicht müde, es zu betonen - Maßstäbe in Europa und weltweit gesetzt hat, ({3}) ein Gesetz, das wirklich Avantgarde war. Auf dieses Gesetz können wir zurückgreifen. Wir sind aber momentan in einer Situation, die nicht normal ist. Jetzt könnte man fragen: Warum führt ihr das jetzt wieder ein, obwohl die Commerzbank heute Morgen erklärt hat, sie kriege das so hin? Wir sind in einer Situation, in der die Staatsverschuldungskrise wieder einmal in eine sehr entscheidende Phase gerät, und das nicht nur wegen Griechenland, sondern insbesondere deswegen, weil auch Länder wie Italien, Frankreich und Spanien, übrigens auch wir - da haben wir weniger Schwierigkeiten -, erheblichen Refinanzierungsbedarf haben. Das heißt, wir werden in den nächsten Monaten durchaus sehr viel Spaß haben. Da ist es vielleicht ein bisschen besser, etwas zu reaktivieren, was in Regelzeiten nicht notwendig ist. Wir arbeiten mit Hosenträger und Gürtel; ({4}) das Restrukturierungsgesetz ist der Hosenträger, das Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist der Gürtel, den wir in dieser Zeit umschnallen. Ich denke, das ist richtig und gut. Ich möchte noch einen Punkt beleuchten - vielleicht spielen hier ein bisschen die Dinge hinein, die Herr Schick angesprochen hat -: parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle. Es ist so: Wenn wir dieses Gesetz verabschiedet haben, wenn die Garantien ausgelegt, die Beteiligungen eingegangen und die Abwicklungsanstalten gegründet sind, dann ist unsere Aufgabe eigentlich zu Ende. Dann ist es vermeintlich wie in einem Hollywood-Spielfilm: Der Staatssekretär reitet in die untergehende Sonne, und alles ist gut. Das ist aber leider nicht der Fall; denn wir müssen uns auch im Gremium gemäß § 10a FMStFG mit den Mühen der Ebene beschäftigen. Mit den „Mühen der Ebene“ meine ich: All das ist noch nicht vorbei, wenn die Dinge, die ich gerade genannt habe, passiert sind; leider geht es weiter. Wir wissen: Wir haben noch Garantien aus dem Finanzmarktstabilisierungspaket I in zweistelliger Milliardenhöhe ausliegen; wir müssen sie zurückholen. Das ist eine Menge Arbeit. Wir sind Beteiligungen eingegangen. Ja, der Staat ist im Sinne von Herrn Claus - er wünscht sich das - Banker geworden; wir haben faktisch eine Hauptversammlungsmehrheit bei der Commerzbank und sind Eigentümer der Hypo Real Estate. Das kann nicht der Regelfall sein. Herr Schick, Sie haben Professor Zimmer angesprochen. Natürlich müssen wir uns eine Exitstrategie überlegen; denn es entspricht nicht unserem Selbstverständnis, dass wir als Staat den Bankenhandel vorantreiben; das sollte weiter privatwirtschaftlich erledigt werden. ({5}) Wir haben aber noch eine Baustelle, über die wir uns bisher viel zu wenig unterhalten haben: die Abwicklungsanstalten der Hypo Real Estate in München und der WestLB in Düsseldorf. Diese Abwicklungsanstalten haben eine Bilanzsumme von momentan weit über 300 Milliarden Euro. Das ist mehr, als der Bundeshaushalt umfasst. Dort sitzen Männer und Frauen, die sich bemühen, dieses Portfolio sehr sorgfältig abzuarbeiten - manchmal gelingt das nicht, siehe: Buchungsfehler - und dafür zu sorgen, dass dem Steuerzahler dabei keine Verluste entstehen. Ich denke, wir sollten diesen Prozess noch enger begleiten, als das in der Vergangenheit der Fall war. Wenn ich sehe, dass man im Haushaltsausschuss auf der einen Seite aus gutem Grund teilweise wie die Kesselflicker über einstellige Millionenbeträge streitet, aber auf der anderen Seite Entscheidungen trifft, die uns dreistellige Millionen- und sogar Milliardenbeträge kosten, dann finde ich, Herr Schick, dass wir uns mehr einbringen müssen. Dieses Gesetz ist entsprechend angelegt. Es enthält einen Passus, der vorsieht, dass die Abwicklungsanstalten an die kurze Leine genommen werden. Das ist gut und richtig. Hören wir uns an, was am Montag in der Anhörung von den Experten aus der Wissenschaft und aus der Branche vorgetragen wird. Lassen Sie uns konstruktiv darüber diskutieren, wie wir die Beteiligungsrechte vernünftig ausgestalten können. Wir werden eine Menge für die Finanzmarktstabilisierung tun, und wir werden hoffentlich vernünftig durch die nächsten sechs Monate kommen. Ich glaube, wir schaffen das. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/8343 an die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die UN-Kinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern anwenden - Die Bundesländer in die Pflicht nehmen - zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kinderrechte umfassend stärken und ins Grundgesetz aufnehmen - zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Volker Beck ({1}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kinderrechte stärken - Drucksachen 17/7643, 17/7644, 17/7187, 17/8382 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Tauber Marlene Rupprecht ({2}) Diana Golze Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dorothee Bär. ({3})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema, das heute auf der Tagesordnung steht, ist nicht neu; vielmehr streiten wir seit vielen Jahren sehr kontrovers über die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung. Natürlich gibt es ganz unterschiedliche Denkschulen. Die einen sagen: Es kann mehr für Kinder getan werden, wenn Kinderrechte auch in der Verfassung verankert sind. Dann gibt es die anderen, die sagen: Das ist nicht notwendig. Ich glaube, wir brauchen uns nicht gegenseitig zu unterstellen, dass die einen, die für die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung sind, potenziell mehr für Kinder tun wollen als diejenigen, die sagen, Kinderrechte sollen nicht ins Grundgesetz aufgenommen werden. ({0}) - Es ist sehr kleingeistig und kleinkariert, wenn Sie das so sehen. - Ich bin der Meinung, dass es keinen Unterschied zwischen Mensch und Mensch gibt. Auch Kinder sind selbstverständlich Menschen und haben Menschenrechte. Ich bin aber dankbar, dass Sie mit einigen komischen Forderungen die Möglichkeit eröffnen, diese Debatte zu führen; denn es ist mir ein Anliegen, darauf hinzuweisen, was wir als die christlich-liberale Koalition bisher für Kinder getan haben. In den vergangenen zwei Jahren hat sich nämlich eine ganze Menge getan. Wir haben beispielsweise die finanzielle Unterstützung massiv erhöht. Wir haben die Anzahl der Betreuungsplätze ausgebaut und das Nationale Zentrum Frühe Hilfen etabliert. Wir haben gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode - vielleicht ist bei einigen das Gedächtnis nicht mehr ganz so auf dem neuesten Stand; deshalb ist es gut, das in Erinnerung zu rufen - das Kindergeld erhöht; ich bin mir sicher, dass viele in den Reihen der Opposition das nicht mehr wissen. Wir haben das Kindergeld für jedes Kind monatlich um 20 Euro erhöht. Wir haben auch den Kinderfreibetrag erhöht, und zwar nicht zu knapp, nämlich von 6 024 Euro auf 7 008 Euro. Wir haben ein Bildungspaket ins Leben gerufen. Wir helfen Familien, die in eine Notlage geraten sind. Es gibt seit dem 1. Januar 2011 eine ganze Reihe neuer Leistungen, die wir auf den Weg gebracht haben. Wir haben die Erstattung der Kosten für Kita und Schulausflüge, den Zuschuss für ein gemeinschaftliches Mittagessen in Kindertageseinrichtungen und in Schulen und die Übernahme der Kosten für die Lernförderung eingeführt. Wir haben zudem in Schwerpunktkitas zur Sprach- und Integrationsförderung - es sind 4 000 in ganz Deutschland investiert, damit Kinder in sozialen Brennpunkten mehr Chancen haben. Wir haben auch Projekte auf den Weg gebracht, die kein Geld kosten und so den Steuerzahler nicht belasten. Wir haben im Wahlkampf versprochen, in den Koalitionsvertrag aufgenommen und tatsächlich umgesetzt - und zwar in kürzester Zeit -, dass das Bundes-Immissionsschutzgesetz geändert wird, sodass Kinderlärm künftig nicht mehr beklagbar ist, sprich: Kinderlärm darf nicht mehr wie vorher - was natürlich extrem pervers war als schädliche Umwelteinwirkung behandelt werden. Insofern muss ich sagen, dass wir wahnsinnig viele Erfolge verzeichnen können. Diese wirken sich zum einen fiskalisch aus. Zum anderen dienen sie dem Wohle der Kinder und vor allem den Kinderrechten in Deutschland. ({1}) Ein ganz großer Durchbruch gelang uns in den letzten Wochen. Es ist noch ganz frisch, dass wir es nach vielen Jahren endlich geschafft haben, das Bundeskinderschutzgesetz auf den Weg zu bringen. Ich gebe zu, dass es, meines Erachtens unnötigerweise, einige Tage des Zitterns gab. Das lag - das sage ich ausdrücklich - an anderen. Ich meine nicht Sie, Frau Rupprecht. Ich weiß, dass Sie uns sehr geholfen haben. Am 1. Januar 2012 konnte das Bundeskinderschutzgesetz in Kraft treten. Wir haben mit diesem Gesetz den Fokus auf der einen Seite auf das Thema Prävention und auf der anderen Seite auf das Thema Intervention gerichtet. So stärken wir alle Akteure, die sich mit dem Wohlergehen der Kinder beschäftigen. Wir stärken die Eltern. Wir stärken Kinderärzte. Wir stärken Hebammen. Wir stärken allerdings auch die Jugendämter und die Familiengerichte. Uns ist also etwas Großartiges gelungen, was jahrelang aus verschiedenen Gründen - das haben wir hier schon oft aufgearbeitet - zu scheitern drohte bzw. teilweise auch gescheitert ist. Deswegen bin ich sehr froh darüber, dass das Bundeskinderschutzgesetz am 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist. ({2}) Wir haben auch Ergebnisse der Runden Tische „Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren“ und „Sexueller Kindesmissbrauch“ aufgegriffen. Deswegen finde ich es schade, dass die Aspekte Kinderschutz und Kinderrechte immer nur im Zusammenhang mit der Verankerung der Kinderrechte in das Grundgesetz diskutiert werden; denn das ist natürlich nicht ausreichend. Ich möchte auf eine Stellungnahme der Deutschen Kinderhilfe zu sprechen kommen. Darin heißt es: Kinder erlangen einen Minderheitenstatus, wenn sie mit dem Umwelt- und dem Tierschutz gleichgesetzt werden; somit gelten sie als gesellschaftliche Randgruppe. ({3}) Das wollen wir natürlich nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass das, was wir, CDU/CSU und FDP, in den letzten Jahren geleistet haben, dass unsere konkreten Taten wesentlich effizienter und zielführender sind und dass Symbolik an der Stelle nicht weiterbringt. Ich bin froh über das, was in den letzten zwei Jahren gut gelunDorothee Bär gen ist. Wir werden die nächsten beiden Jahre für die Kinder auf diesem Weg weitergehen. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Marlene Rupprecht hat für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Uns liegen heute einige Anträge vor, über die wir debattieren. Uns lagen vor Weihnachten Anträge vor, über die wir in der Zeit um den 20. November, den Internationalen Tag der Kinderrechte, debattiert haben. Heute liegen uns drei Anträge vor, zwei von der Fraktion Die Linke und einer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Alle drei Anträge beschäftigen sich ebenso wie die drei Anträge, die wir vor Weihnachten behandelten - es waren SPD-Anträge, die mittlerweile verabschiedet sind -, mit Kinderrechten. Es geht in allen Anträgen darum, dass die Menschenrechte im Sinne der Kinder angepasst werden. Natürlich sind Kinder Menschen. Hoffentlich bezweifelt dies kein Mensch mehr in der heutigen Zeit. Schließlich ist es noch gar nicht so lange her - so war es bis ins 19. Jahrhundert -, dass Kinder so lange als Sachen angesehen wurden, bis sie erwachsen waren. Eigentlich galten sie nicht als eigenständige Wesen. Seit dem 20. und vor allem seit dem 21. Jahrhundert sehen wir Kinder als eigenständige Wesen mit eigenen Bedürfnissen und eigenen Ansprüchen an, was ihre Rechte, ihre Unterstützung, ihre Förderung und ihren Schutz angeht. Es geht darum, die Menschenrechte so zu gestalten, dass sie auch im Hinblick auf die Kinder angewendet werden können. Um nichts anderes geht es. Die Menschenrechte sind bei uns in dem Werk niedergelegt, das die Werte einer Gesellschaft festlegt. Ich meine die Verfassung, also das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Als das geschaffen wurde, hat man Kinder noch relativ stark als Objekte gesehen und nicht als eigenständige Subjekte, die Rechte haben. Nun kämpfen wir dafür, dass die Menschenrechte, die Grundrechte so formuliert werden, dass sie auch für Kinder gelten. Unterstützt werden wir seit 1989 durch die UN-Kinderrechtskonvention. Sie ist schön zu lesen. Ich habe sie immer dabei, und, ich glaube, meine Kollegen aus der Kinderkommission haben sie jetzt auch immer dabei. Man muss sie wie ein Brevier immer bei sich tragen. Verfassungsrechtler sagen - ich bin keine Verfassungsrechtlerin -, dass die Artikel der Kinderrechtskonvention aufgrund ihrer Formulierung direkt im Inland gelten, dass man sie gar nicht in nationale einfache Gesetzgebung umformulieren muss. In Art. 3 dieser Konvention heißt es: Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen - dort steht nicht „Bundestag“ oder „Landtag“, sondern „Gesetzgebungsorganen“ getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Was heißt das? Es heißt, das Wohl des Kindes ist prinzipiell erst einmal zu berücksichtigen. Wenn man sich nicht an diesen Vorrang hält, muss man dies begründen. Das besagt dieser Art. 3. Wenn wir diesen umsetzen und anwenden würden und wenn er bekannt wäre, vor allem bei denen, die Recht sprechen, dann hätten wir gar kein Problem; denn es wäre dann noch schneller klar, ob etwas Recht oder nicht Recht ist. Leider wird die UNKinderrechtskonvention bei der Ausbildung von Juristen nicht unbedingt gelehrt. Das finde ich sehr schade. Internationales Recht sollte man zumindest einmal gehört haben. Uns liegen jetzt Anträge vor, die eindeutig zwei Zielsetzungen haben. Erstens sollen die Kinderrechte gestärkt werden. Das heißt, die Kinderrechte sollen in der Verfassung verankert werden, und zwar mit kindgerechten Anforderungen. Zweitens sollen wir hier in Deutschland überprüfen, ob das, was wir für Kinder tun wollen, auch tatsächlich erreicht wird. Man nennt dies ein Monitoringverfahren. Jede Regierung zeigt auf, was sie alles Gutes gemacht hat. Natürlich vergeht die Zeit nicht, ohne dass man etwas getan hat; es wäre irrsinnig, dies zu behaupten. Wir halten vorher fest, was wir erreichen wollen, und später, was wir erreicht haben. Mit anderen Worten: Am Ende stellen wir dar, was wir alles gemacht haben. Wir brauchen einen Aktionsplan. Wir hatten einen, und wir wollen, dass er fortgeschrieben wird. In dieser Hinsicht kann ich die vorliegenden Anträge unterstützen; Entsprechendes steht auch im SPD-Antrag zu diesem Thema. ({0}) Des Weiteren wollen wir, dass unabhängige Anlaufstellen für Kinder geschaffen werden. Dies war Thema in den Diskussionen über Missbrauchsfälle. Den Kindern fehlte jemand, dem sie Vertrauen entgegenbringen konnten, an den sie sich wenden konnten. Wir brauchen unabhängige Ombudsstellen oder Anlaufstellen für Kinder, die ihnen helfen, und zwar auf allen Ebenen. Auch diese Forderung ist in der UN-Konvention für die Rechte der Kinder enthalten. Ja, Sie haben auf die Rücknahme der Vorbehalte hingewiesen. Dafür bin ich sehr dankbar. Dieses Parlament hat über ein Jahrzehnt dafür gekämpft. Ich bin froh, dass diese Rücknahme jetzt gelungen ist. Nun muss die einfache Gesetzgebung, zum Beispiel die Sozialgesetzgebung, die Asylgesetzgebung - ich denke an das Asylbewerberleistungsgesetz - und das Aufenthaltsrecht, angepasst werden. Es kann nicht mehr sein, dass Kinder - die UN definiert Kinder als Menschen von 0 bis 18 Jahren, nicht bis 16 Jahren - in Abschiebehaft ge18238 Marlene Rupprecht ({1}) nommen werden oder in ein Flughafenverfahren kommen. Sie dürfen auch nicht in Sammelunterkünften untergebracht werden. Es hat mit unserem eigenen Selbstverständnis zu tun, dass wir Humanität gewähren. Ich denke, ein Staat, eine Gemeinschaft, die von sich annehmen, dass sie hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte in der ersten Liga spielen, können es sich nicht länger leisten, dass sie bestimmte Rechte für Kinder, und zwar für alle, für inund ausländische Kinder, die sich hier in Deutschland befinden, nicht gelten lassen. ({2}) Es ist dringend notwendig, dass diese Situation geändert wird. Auch das Argument: „Es gibt ein Abkommen zwischen den Bundesländern und dem Bund, das sogenannte Lindauer Abkommen, das nur einstimmig geändert werden kann“, trägt nicht. Ich lese unheimlich gern Gesetzestexte, wenn ich sie verstehe. Das Grundgesetz versteht man gut. Auch die Kommentare versteht man gut. Ich habe mich in den letzten Wochen quer durch alle möglichen Kommentare gelesen. Ich habe auch Aufsätze zu diesem Thema gelesen. Die Verfassungsrechtler sagen: Alle haben zugestimmt - bei einem solchen Verfahren wird vorher ja immer die Zustimmung überprüft -, aber hinterher fragte man sich: Wie kam es eigentlich dazu, dass wir dem zugestimmt haben? Auch als es um die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen ging, wurde gesagt: Wir stimmen zu. Aber jetzt heißt es: Nein, für uns gilt das nicht. Das habt ihr allein gemacht. - Das kann nicht sein. Vielleicht wäre es wirklich gut, wir würden ein paar ordentliche Urteile bekommen. Das Bundesverfassungsgericht ist in dieser Hinsicht am fortschrittlichsten. Kinder sollten allerdings auch häufiger vor Verwaltungsgerichten recht bekommen. Ich will zwar keine Schelte betreiben, würde aber sagen: Hier wäre ein bisschen Nachhilfe gut und notwendig; das gilt auch für manch andere Gerichte. Deshalb ist die Forderung, die UN-Kinderrechte bekannter zu machen, eine wunderbare Forderung, die ich gern unterstütze. Jedes Kind und jeder Erwachsene muss wissen: Es gibt Menschenrechte in Form von Kinderrechten. Sie sind in Deutschland bekannt und werden hier gelebt. Danke schön. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Miriam Gruß hat das Wort für die Fraktion der FDP. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über dieses Thema haben wir in den letzten Monaten schon häufiger gesprochen. Anlässlich der vorliegenden Anträge will ich noch ein paar Dinge klarstellen. Erstens: zur UN-Kinderrechtskonvention; hierzu ist schon viel gesagt worden. Zu dem Vorwurf, wir hätten diese Konvention bislang mangelhaft umgesetzt, muss ich ganz ehrlich sagen - das möchte ich betonen -: Wir haben die Vorbehalte dagegen zurückgenommen. Keine Bundesregierung seit 1992 hat das geschafft, auch nicht Rot-Grün. Für uns hat das sehr wohl auch eine symbolische Wirkung; denn dadurch wird deutlich, dass das Kindeswohl für uns, die christlich-liberale Koalition, im Mittelpunkt steht. Dies ist allerdings nur die symbolische Wirkung. Bereits vorher sind nämlich die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention erfüllt worden. So hat beispielsweise der in Art. 22 verankerte Schutz von Flüchtlingskindern schon immer gegolten. Es gibt keine Veranlassung, auf Bundesebene Änderungen im innerstaatlichen Recht vorzunehmen. Allerdings kann die Rücknahme selbstverständlich zu Veränderungen in der Anwendungspraxis führen. Für die Ausgestaltung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren sind aber die Bundesländer zuständig. Wir in Bayern haben da einiges gemacht. Beispielsweise können Familien nach Beendigung des Asylverfahrens jetzt sehr viel schneller in eine eigene Wohnung ziehen. Das heißt konkret: Das Bundesland Bayern hat seine Hausaufgaben gemacht. Alle anderen Bundesländer sind aufgefordert, ihre Anwendungspraxis und ihre Gesetze entsprechend zu verändern. ({0}) Der Bund kann auf einer anderen Ebene aktiv werden; auch dies ist schon angesprochen worden. Es geht um die Forderung, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Sie kennen meine Meinung. Ich habe sie nicht geändert, sondern stehe nach wie vor zu der Position, die wir damals in der Kinderkommission entwickelt haben. Ich bin für die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Allerdings gibt es in unserer Koalition derzeit keine Mehrheit für diese Forderung. Trotzdem bin ich überzeugt, dass von einer solchen Verankerung eine gute Signalwirkung ausgehen würde. Bis jetzt werden Kinder eher als Objekte angesehen. Ich will, dass die Subjektstellung des Kindes deutlicher betont wird. Ich glaube, dass die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ein wichtiger Schritt wäre. Aber - ich unterstreiche das noch einmal - das ist nicht Konsens, weder in der FDP noch in der Koalition, sondern meine persönliche Meinung, die ich hier zum Ausdruck bringen möchte. ({1}) - Danke schön, Frau Dörner. Wir haben einiges zur Stärkung der Kinderrechte getan; auch das ist schon erwähnt worden. Ich möchte betonen: Für uns als FDP-Fraktion ist ein weiterer sehr wichtiger Punkt, der noch nicht so recht beachtet wird, das Individualbeschwerdeverfahren. Bislang war es nicht möglich, dass sich Kinder direkt an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden. Es ist gut, dass das Zusatzprotokoll für das Beschwerdeverfahren sehr wahrscheinlich in den nächsten Monaten unterzeichnet wird. Auch dadurch stärken wir die Rechte der Kinder, und zwar ganz konkret. ({2}) Wir brauchen uns auch auf internationaler Ebene nicht zu verstecken, sondern wir können zu Recht sagen: In Deutschland stehen die Kinderrechte im Fokus. ({3}) Zweitens. Kinderlärm. Das ist mein Lieblingsthema. Als ich 1998 zum ersten Mal für den Landtag kandidiert habe, habe ich vor den Kindergärten Plakate mit dem Aufdruck „Kinderlärm ist Zukunftsmusik“ plakatiert. Dass es uns im letzten Jahr tatsächlich gelungen ist, das Bundes-Immissionsschutzgesetz zu verändern und damit zu erreichen, dass Kinderlärm nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden kann, ist mein ganz persönliches parlamentarisches Highlight. Ich glaube, das ist auch ein ganz wichtiges Signal in Deutschland: Bei uns dürfen die Kinder lärmen und schreien. Sie haben das Recht, so zu sein, wie sie wollen, und dürfen in ihrem Handeln und Tun - lachen, schreien und was auch immer Kinder machen - nicht beschnitten werden. Drittens. Last, but not least das schon angesprochene Bundeskinderschutzgesetz. Das ist ein wichtiges Gesetz für die Rechte von Kindern auf Unversehrtheit. Uns war es damals ganz wichtig, die Prävention mit aufzunehmen. Auch dadurch stärken wir die Rechte von Kindern. Über die Familienhebammen wurde hier im Plenum ausführlich gesprochen und diskutiert. Auch hier ist es uns gelungen, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen. Ich kann insgesamt sagen, dass sich die Bilanz sehen lassen kann. Wir haben die Rechte der Kinder in den letzten zwei Jahren gestärkt, und deswegen brauchen wir uns in Bezug auf die Kinderrechte wirklich nicht zu verstecken. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erst wenige Tage her, dass die Sternsinger in Deutschland unterwegs waren. ({0}) Sie haben an viele Türen geklopft, Spenden gesammelt und gute Wünsche überbracht. In diesem Jahr stand die ganze Aktion unter dem Motto: „Klopft an Türen, pocht auf Rechte!“ Viele von Ihnen haben sich sicherlich auch über diesen Besuch gefreut und die jungen Menschen mit einem Händedruck verabschiedet. Und dann? Ja, was dann? Was passiert hinsichtlich dieses „Pocht auf Rechte!“? Wo wird hier der politische Wille deutlich? Diese jungen Menschen haben auf Probleme aufmerksam gemacht, die in Deutschland nach wie vor existieren. Ich möchte mich heute aufgrund der knappen Redezeit auf drei beschränken: Erstes Problem. Das Kindeswohl hat in der Praxis nach wie vor keinen Vorrang, auch wenn hier so oft davon gesprochen wird. Ich nenne drei ganz kurze Beispiele dafür: Erstes Beispiel. Auch mit dem neuen Bundeskinderschutzgesetz werden wir weiterhin nur einen eingeschränkten Rechtsanspruch für Kinder und Jugendliche auf Beratung haben. Obwohl Frau Bergmann und der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ gefordert haben, es müsse einen uneingeschränkten Rechtsanspruch auf Beratung für alle Kinder und Jugendliche geben, ist dieser Anspruch nicht ins Gesetz aufgenommen worden. Zweites Beispiel. Kinder werden trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 wie kleine Erwachsene und, ganz speziell, wie kleine Erwerbslose behandelt. Sie dürfen nicht nach den Regelungen dieses Gesetzes beurteilt werden, aber in diesem Haus gab es keine Mehrheit für eine Änderung. Drittes Beispiel. Angebote für Kinder und Jugendliche gelten vielerorts als sogenannte freiwillige Aufgabe und fallen deshalb immer ziemlich zu Beginn, wenn die Kommunen einsparen müssen, dem Rotstift zum Opfer. Das sind für mich ganz eindeutige Beispiele dafür, dass das Kindeswohl in der Praxis eben keinen Vorrang hat. Ich sage es deshalb an dieser Stelle zum wiederholten Male: Wer es mit dem Kindeswohl ernst meint, der muss Kinder ernst nehmen. ({1}) Zweites Problem. Die UN-Kinderrechtskonvention hat keinen wirklichen Verfassungsrang. Wir fordern deshalb ja nicht ohne Grund die Aufnahme der Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung ins Grundgesetz. Es geht eben um mehr als nur um eine symbolische Maßnahme. Ich zitiere deshalb an dieser Stelle sehr gerne den Minister der Justiz des Landes Brandenburg, Herrn Dr. Schöneburg, der gesagt hat: Die Verfassung bindet den Gesetzgeber. Das macht den Rechtsstaat aus. Der Gesetzgeber ist an den Normenbestand der Verfassung gebunden. Insofern ist es wichtig, dass Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden, damit sich der Gesetzgeber, wenn er Einfachgesetze erlässt, daran gebunden fühlt. Es geht eben um mehr als nur um Symbolik. Es geht darum, den Gesetzgeber bei allem, was in diesem Hause beschlossen wird, zu binden. ({2}) Ich frage Sie von den Regierungsfraktionen: Wie wird nun die Bundesregierung, wie werden Sie mit der Entschließung des Bundesrates umgehen? Die Bundesländer haben sich mehrheitlich für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ausgesprochen. Sie können sich also nicht mehr wie bei der Rücknahme der Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention darauf zurückziehen, dass die Bundesländer dies angeblich nicht wollen. Die Bundesländer wollen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Wie gehen Sie damit um? Welche Reaktion kommt von Ihnen? Ich habe bisher keine zur Kenntnis genommen. Drittes Problem. Selbst die bereits existierenden Rechte von Kindern und Jugendlichen werden nicht bei allen Kindern und Jugendlichen angewandt. 16- und 17jährige Flüchtlinge werden bereits an der Grenze aufgegriffen und sofort wieder abgeschoben. Die Jugendämter werden in diesen Vorgang überhaupt nicht einbezogen. Es gibt keine Dienstanweisung an die Bundespolizei, dass hier die Jugendämter einzubeziehen sind. Es wird nicht einmal eine Statistik darüber geführt, wie viele 16und 17-Jährige aufgegriffen und wieder abgeschoben werden, und zwar in einem Land, in dem über alles Mögliche Statistiken geführt werden. Aber bei so einem wichtigen Thema gibt es keine Zahlen. Deshalb sagen wir: Auch nach der Rücknahme des letzten Vorbehalts gegen die UN-Kinderrechtskonvention sind gesetzliche Änderungen zum Schutz der betroffenen Kinder notwendig. Zum Schluss. Man hat es sich auch nicht leicht gemacht, als es darum ging, die Gleichberechtigung von Mann und Frau in das Grundgesetz aufzunehmen. Damals gab es den Spruch: Frauen sind auch Menschen, und Menschenrechte stehen im Grundgesetz. Bitte machen Sie nicht länger den gleichen Fehler bei den Kindern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Katja Dörner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir reden hier im Deutschen Bundestag jetzt zum dritten Mal in einer relativ kurzen Zeitspanne über die Kinderrechte. Darüber bin ich sehr froh, und ich finde das sehr gut. Ich möchte ausdrücklich sagen: Ich möchte hier über die Rechte sprechen, die Kinder haben, über die Kinderrechte, und nicht über das, was die Regierung angeblich so Tolles für die Kinder getan hat. Das ist nämlich ein großer Unterschied. Ich bin irritiert über die Haltung einiger Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen im Vorfeld dieser Debatte, die sich regelrecht genervt darüber gezeigt haben, dass wir zum dritten Mal über die Kinderrechte sprechen. Ich finde das völlig unangemessen. Aber das passt natürlich zu einer Ministerin, die immer wieder lapidar verkündet: Die UN-Kinderrechtskonvention ist in der Bundesrepublik voll und ganz umgesetzt. Es besteht kein Handlungsbedarf. Ende der Durchsage. Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles ist prima, so konnten wir eben auch Frau Bär verstehen. Das darf eben nicht das Ende der Diskussion sein, weil es nicht der Wahrheit entspricht. ({0}) Ich bin sehr froh, dass gerade die Forderung, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, neuen Schwung durch die Entschließung des Bundesrates zu diesem wichtigen Thema bekommen hat. Steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Gerade was die Frage Kinderrechte in die Verfassung angeht, können wir bemerken: Der Tropfen ist nicht nur stetig, sondern er wird auch immer größer. Das ist sehr gut so. Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention ist heute schon mehrfach angesprochen worden; ich muss das nicht wiederholen. Aber ich bin mir mit meiner Fraktion völlig sicher, dass der Vorrangstellung der Kinderrechte dadurch am besten Ausdruck verliehen werden kann, dass man die Kinderrechte ins Grundgesetz aufnimmt. Die Zeit dafür ist ohne Frage reif. ({1}) Wie sieht es denn faktisch mit den Kinderrechten in Deutschland aus? Trotz der von uns allen ausdrücklich begrüßten Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist es immer noch möglich, dass minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in ihren Asylverfahren wie Erwachsene behandelt werden. Das heißt, sie können in Sammelunterkünften untergebracht werden. Sie können in Abschiebehaft genommen werden. Sie können im Flughafenverfahren einfach und schnell abgefertigt werden. Sie haben kein Recht auf eine umfassende Gesundheitsversorgung. Sie haben auch kein Recht auf Leistungen der Kinderund Jugendhilfe. Ich finde es beschämend, dass das die Sachlage in unserem Land ist. Ich wünsche mir gerade von Kolleginnen und Kollegen, die in ihrem Parteinamen ein großes C führen, dass sie diesen Tatbestand nicht einfach nur mit einem Schulterzucken abtun. ({2}) Minderjährige Flüchtlinge werden weiterhin an der deutschen Grenze abgewiesen und zurückgeschoben. Allein zwischen 2008 und 2010 gab es 16 Zurückweisungen und 60 Zurückschiebungen. Auch das ist ein klarer Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention. Das muss ein Ende haben. Die Bundeswehr kann weiterhin Minderjährige rekrutieren und an der Waffe ausbilden. Ein vernünftiges Monitoringverfahren zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland fehlt immer noch. Unser schöner Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland wurde sang- und klanglos beerdigt, weil es angeblich überhaupt keinen Handlungsbedarf mehr gibt. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben in unseren Anträgen deutlich gemacht, welche gesetzlichen Änderungen notwendig sind, um die Kinderrechte in Deutschland zu stärken und zu verbessern und zu ermöglichen, dass die Rechte gerade von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen endlich gewahrt werden. Es ist zudem eine große Herausforderung, die Kinderrechte noch bekannter zu machen. Das muss schon in den Kitas und Schulen geschehen, bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. Denn nur wer seine Rechte kennt, hat eine Chance, sich diese zu erstreiten. ({3}) Das Individualbeschwerdeverfahren ist schon angesprochen worden. Es ist ohne Frage eine sehr gute Sache. Ich gehe davon aus, dass die Bundesrepublik das entsprechende Zusatzprotokoll schnell ratifizieren wird. Ich hoffe, dass sich die heute aufgeworfenen Fragen auch aufseiten der Regierungsfraktionen noch einmal neu stellen und dann anders beantwortet werden. Die Zeit ist jedenfalls reif dafür. Fassen Sie sich endlich ein Herz! Machen Sie sich mit uns auf den Weg! Machen Sie mit uns einen gemeinsamen Gesetzentwurf! Die Kinderrechte gehören ins Grundgesetz. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eckhard Pols hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kinder und Jugendliche! Um eure Rechte geht es heute, und hierüber wollen wir heute noch einmal debattieren. Kindergerechtigkeit und Kinderfreundlichkeit fangen zu Hause an. Diesen Satz aus meiner letzten Rede möchte ich aufgreifen und weiter ausführen. Die theoretische Diskussion über eure Kinderrechte haben wir in den vergangenen Wochen und Monaten hier schon ausführlich geführt und die Argumente für bzw. gegen eine Aufnahme von euren Kinderrechten ins Grundgesetz hinlänglich und in sachlicher Breite ausgetauscht. Für mich fangen Kinderrechte dort an, wo eure Lebensbereiche berührt sind, zum Beispiel in der Schule, in Kindergärten, in Sportvereinen oder in euren Jugendeinrichtungen. Entscheidend für eine Stärkung der Kinderrechte ist die Umsetzung vor Ort durch Länder und Kommunen, also in den Städten und Gemeinden. Länder und Kommunen sind aufgefordert, Aktivitäten zur Entwicklung eines kinderfreundlichen Umfelds auf den Weg zu bringen, bestenfalls unter Einbeziehung von euch Kindern und Jugendlichen. Lasst uns einen Blick auf die aktuelle Schulpolitik werfen und schauen, inwieweit eure Kinderrechte im Schulunterricht behandelt werden. In den niedersächsischen Lehrplänen ist das Thema Kinderrechte bzw. Menschenrechte bereits für das Fach Sachunterricht unter dem Stichwort Politik vorgesehen. Zu den Kerninhalten wird dazu ausgeführt - ich zitiere -: Zum Bildungsauftrag der Grundschule gehört es, individuelle Bedürfnisse und gesellschaftliche Anforderungen aufeinander zu beziehen. Die Auseinandersetzung mit Fragen nach Rechten und Pflichten im Zusammenleben von Menschen, sei es in der Familie, in der Klassen- und Schulgemeinschaft oder in der politischen Gesellschaft, bahnt ein Verständnis der demokratischen Grundprinzipien an. So weit das Zitat. Erklärtes Lernziel ist, dass ihr Schülerinnen und Schüler am Ende des vierten Schuljahrganges eure Kinderrechte kennt. Dazu gehören auch Möglichkeiten der Partizipation, also der Beteiligung. Der Kerninhalt Politik sieht beispielsweise für die Realschule vor, dass ihr Schüler am Ende des achten Schuljahres Wissen über Kinderrechte sowie demokratische Abläufe in Politik und Gesellschaft haben sollt. Fachbegriffe wie Grundrechte, Menschenrechte, Demokratie, gesellschaftliche Normen sollt ihr kennen, und ihr sollt sie auch erklären können. Menschen- und Kinderrechte sind im Land Niedersachsen auch indirekt in den Unterrichtsinhalten anderer Fächer wiederzufinden, zum Beispiel in den Fächern Gesellschaftslehre, Deutsch, Werte und Normen oder Religion. Um schon in der Grundschule auf eure Kinderrechte als wichtigem Bestandteil der universalen Menschenrechte eingehen zu können, hat der niedersächsische Kultusminister eine besondere Aktion gestartet. Gemeinsam mit dem niedersächsischen Innenministerium und der Klosterkammer Hannover will der niedersächsische Kultusminister die in Baden-Württemberg erstellte Grundrechtefibel Voll in Ordnung - unsere Grundrechte übernehmen, natürlich ergänzt und an die niedersächsischen Belange angepasst. Die Grundrechtefibel soll für euch Kinder ab acht Jahren im Unterricht der vierten Klasse an Grundschulen eingesetzt werden. Die Forderung nach der Behandlung des Themas Kinderrechte im Schulunterricht in den Fächern Politik, Gemeinschaftslehre und Sachkunde ist damit in meinem Bundesland Niedersachsen erfüllt. Ich möchte euch gern noch ein aktuelles Praxisprojekt zur Beteiligung von euch Kindern und Jugendlichen aus meiner Heimatstadt vorstellen. Frau Golze, es gibt also noch Gemeinden, die sich damit beschäftigen und solche Projekte nicht dem Rotstift zum Opfer fallen lassen, wie Sie behaupten. Beteiligung von euch Kindern und Jugendlichen wird häufig leider nicht als Recht angesehen, sondern als Gunst gewährt. Bislang wird die Beteiligung von jungen Menschen viel zu oft in das Belieben von uns Erwachsenen gestellt. Aus diesem Grund freut es mich besonders, dass die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses der Hansestadt Lüneburg im September 2011 einstimmig ein Grobkonzept zur Beteiligung von euch Kindern und Jugendlichen beschlossen haben. Das Projekt soll zunächst für zwei Jahre an drei Modellstandorten in drei Stadtteilen getestet werden. Konkret könnt ihr, die interessierten Jugendlichen, eure Ideen und Wünsche zum Beispiel zur Freizeitgestaltung in den Stadtteilzentren vorstellen und die Kosten dafür selbst ermitteln. Am Ende stimmt ihr demokratisch darüber ab, welche Projektideen tatsächlich umgesetzt werden. Die Hansestadt Lüneburg stellt eigens dafür finanzielle Mittel zur Verfügung, über deren Verwendung ihr jungen Leute selber entscheiden könnt. Das ist ein erfolgreiches Beispiel für gewollte und unterstützte Beteiligung von euch Kindern und Jugendlichen. Diese Beteiligungskultur wünsche ich mir auch in anderen Städten und Gemeinden. Die theoretischen Grundlagen und Kenntnisse über Kinderrechte sind zwar wichtig. Aber noch wichtiger und besser ist die praktische Umsetzung vor Ort. Ich bedanke mich für eure Aufmerksamkeit, liebe Kinder und Jugendliche, und auch für Ihre, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/8382. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7643 mit dem Titel „Die UNKinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern anwenden - Die Bundesländer in die Pflicht nehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben abgelehnt. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7644 mit dem Titel „Kinderrechte umfassend stärken und ins Grundgesetz aufnehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit dem gleichen Stimmenergebnis wie zuvor. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7187 mit dem Titel „Kinderrechte stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und -pflanzen - Drucksache 17/8344 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Hier ist ebenfalls verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, dass es uns gelungen ist, im vergangenen Jahr einen gemeinsamen Antrag zum Thema Biopatente auf den Weg zu bringen. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich für die ausgesprochen konstruktive Zusammenarbeit. Ich danke Herrn Miersch dafür, der eigene Vorschläge gemacht hat, genauso meinem Kollegen Max Lehmer. Ulrike Höfken ist inzwischen Ministerin geworden; Herr Ebner ist hier an ihre Stelle getreten. Frau Tackmann hat sich ebenfalls an der Diskussion beteiligt. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön! - Ich finde, ihr könntet den Kolleginnen und Kollegen, die über ein Jahr daran gearbeitet haben, ein bisschen Beifall spenden. ({0}) Alle diejenigen, die sich daran beteiligt haben - es waren auch die Juristen dabei -, haben enorm gute Arbeit geleistet. Die Fraktionen im Deutschen Bundestag lehnen gemeinsam die Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen ab. Die Begründung dafür - das will ich auch sagen - ist sehr einfach: Wir haben mit unserem Sortenschutzrecht in Deutschland ein sehr gutes Instrument, um im Bereich der Pflanzenzüchtung den Urheberrechtsschutz für die Pflanzenzüchter zu gewährleisten. Ich will aber zugestehen, dass für den Bereich der Tierzucht - das ist uns gemeinsam deutlich geworden - ein ähnliches Instrument fehlt; wir sollten dies gemeinsam mit den Züchtern noch entwickeln. Als Wissenschaftsstandort hat Deutschland ein großes Interesse am Urheberrechtsschutz. Wer in geistige Leistungen wie Erfindungen investiert, muss daraus auch einen Gewinn haben. Was für Autoren eine Selbstverständlichkeit ist, gilt auch für jeden Erfinder, ob im Maschinenbau oder in der Pflanzenzucht. Die geistigen Leistungen müssen geschützt werden. Die Ablehnung der Patentierung im Bereich der konventionellen Pflanzenzüchtung als Instrument des Urheberrechtschutzes muss aber auch zur Konsequenz haben, dass der Sortenschutz gestärkt und weiterentwickelt wird. Innovationen in der Pflanzenzüchtung brauchen den Sortenschutz. Dazu gehört für die FDP auch - das will ich deutlich sagen -, dass die Pflanzenzüchter dabei unterstützt werden, die gesetzlich festgelegten Nachbaugebühren zu realisieren. Das Nachbaurecht der Landwirte ist gekoppelt an die Zahlung der Nachbaugebühren. ({1}) Das hat einen ganz praktischen Grund. Wir können nicht damit zufrieden sein, dass der Züchtungsfortschritt bei den Hybridsorten, bei Raps und Mais, bei denen Nachbau nicht sinnvoll ist, deutlich höher ist als beim Weizen. Wir sind inzwischen Nettoimporteur von Weizen. Innovationen sind Voraussetzung für Wachstum, für Chancen für die nachwachsenden Generationen, für eine nachhaltige Ausrichtung der Wirtschaft. Deutschland ist ein Land von Erfindergeist und Innovation. Die Bewahrung dieser Tradition ist nach Thomas Morus nicht das Halten der Asche, also die Orientierung an Innovationen der Vergangenheit, sondern das Weitergeben der Flamme. Dazu gehören für mich die biotechnologische Pflanzenzüchtung und die Nanotechnologie, zwei Beispiele für das, was auch in Deutschland möglich sein muss. ({2}) Es gibt sehr unterschiedliche Rechtsinstrumente für den Schutz geistigen Eigentums. Dazu gehören auch Patente. Ihre Stigmatisierung lehnen wir ab. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es Patente auf Organismen. Gentechnisch veränderte Mikroorganismen produzieren Vitamine, Aminosäuren sowie Wirkstoffe für Medikamente. Sie sind patentrechtlich geschützt. Dies ist in einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschaft wichtig; denn so werden Energie und Wasser gespart. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es im wahren Sinne des Wortes keine gentechnikfreien Regionen in Deutschland. Dazu gehören auch Hefen; denn Hefen sind Alleskönner, nicht nur bei Brötchen, sondern auch beim Bier heute Abend oder auf der Grünen Woche. Wir wollen keine allgemeine Änderung der Biopatentrichtlinie, sondern eine Klarstellung, die sicherstellt, dass keine Patente auf konventionell gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere oder Nutzpflanzen erteilt werden. Diesem Anliegen ist die Große Beschwerdekammer bereits in ihrem Urteil zum Brokkolipatentantrag gefolgt. Aber es ist so, dass es in der Vergangenheit sehr wohl die Patentierung von konventionell gezüchteten Pflanzen und Tieren gab, und dies lehnen wir dezidiert ab. Patente für gentechnisch veränderte Tiere wie die Krebsmaus und Modellorganismen zur medizinischen Forschung jedoch werden auch in Zukunft möglich und nötig sein. Die transgene Ziege, die in ihrer Milch humanes Antithrombin produziert, ist ein weiteres Beispiel. Für ihre Jahresproduktion würde mit herkömmlichen Methoden das Blut von 50 000 Spendern gebraucht. Hier sind Patente unverzichtbar. ({3}) Im Bereich der Pflanzenzüchtung ist die Patentierung von Konstrukten - das sind DNS-Sequenzen, die ein bestimmtes Zielgen enthalten und die in verschiedene landwirtschaftliche Nutzpflanzen eingebaut werden können von Bedeutung. Die Patentierung von Genen ist schon heute verboten. Wir müssen mit Nachdruck dafür sorgen, dass Gene nicht patentiert werden; denn es sind Entdeckungen und keine Erfindungen. Die BASF ist in der Entwicklung solcher Konstrukte und ihrer Verwendung in der Pflanzenzüchtung engagiert. Die jetzt berichtete Verlagerung von Forschungskapazität in die USA ist für Deutschland ein Verlust. Der Kommentar von Hartmut Wewetzer im gestrigen Tagesspiegel spricht dies sehr deutlich an - ich zitiere -: Was in Deutschland um die grüne Gentechnik veranstaltet wurde, grenzt an absurdes Theater. ({4}) Nur eine grüne Landesministerin ist glücklich darüber. Als ob Hochschulabsolventen ihre Zukunft im Unkrautzupfen auf dem Biohof sehen! Unverständlich, dass die SPD die Arbeitnehmerinteressen dort völlig aus den Augen verloren hat. Ich bedaure dies sehr. ({5}) Wir wollen ein staatliches Biopatentmonitoring, um verfolgen zu können und einen Überblick zu erhalten, welche Entwicklungen auf europäischer Ebene erfolgen. Wir wollen im Auge behalten, was dort passiert. Freiheit für Wissenschaft und Forschung, ethische Verantwortung und züchterischer Fortschritt müssen die Basis für das Biopatentrecht sein. Wir als Liberale freuen uns, dass der gemeinsame Antrag die notwendige Balance hält zwischen den Ansprüchen der Zivilgesellschaft und den Erfordernissen von Wissenschaft und Züchtung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Happach-Kasan, ich wollte eigentlich nicht darauf eingehen, aber da Sie uns nun schon einen mitgeben, muss ich es zurückgeben. ({0}) Es geht uns nicht um die „Vernichtung“ von Arbeitsplätzen, sondern es geht bei der Bewertung der Grünen Gentechnik vor allem auch um die Interessen der Landwirte und der Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land. ({1}) Da muss jeder eine Abwägung vornehmen. Ich möchte mich an dieser Stelle auch nicht weiter zu Ihren Ausführungen zur Nachbauproblematik äußern oder zu der Frage, inwieweit ein Patent auf eine Krebsmaus gerechtfertigt ist oder nicht, sondern ich möchte heute ganz bewusst die Gemeinsamkeit, die wir heute zum Ausdruck bringen, in den Mittelpunkt meiner Rede stellen. Es ist, denke ich, bei dieser schwierigen Materie ein sehr wichtiges Signal, das wir heute aussenden. ({2}) Auch ich möchte mich ausdrücklich bei dem Kollegen Max Lehmer und bei Ihnen, Frau Happach-Kasan, bei Harald Ebner und Uli Höfken, die inzwischen der Landesregierung Rheinland-Pfalz angehört, sowie bei Kirsten Tackmann bedanken und damit den Gedanken verbinden, ob wir es, nachdem wir diesen Antrag überwiesen haben - hoffentlich werden wir ganz schnell wieder hier im Plenum darüber beraten -, nicht schaffen, einen Antrag aller Fraktionen vorzulegen. Ich finde, alle Fraktionen sollten diesen Antrag mitunterzeichnen können. ({3}) Dafür will ich mich in den nächsten Wochen starkmachen. ({4}) Das, was wir heute machen, ist ein wichtiges Signal. Vor anderthalb Jahren, als wir und die Grünen einen Antrag gegen die Biopatentierung eingebracht haben, haben wir in den Reden noch darum gerungen, ob es sinnvoll ist, dass sich der Gesetzgeber äußert, oder ob man nicht erst die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, teilweise aber auch die Patenterteilung des Europäischen Patentamtes in Sachen Brokkoli abwarten sollte. Die Spruchpraxis der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes hat deutlich gemacht, dass wir als Gesetzgeber ein deutliches Signal setzen müssen. Wir sind es, die die Grundlagen erarbeiten und die damit auch die Grundlagen dafür schaffen können, wie sich Patentämter zu bestimmten Patenten bzw. Patentanträgen verhalten. Deswegen ist es wichtig, dass wir nicht schweigen, sondern ein deutliches Signal über alle Fraktionsgrenzen hinweg setzen. ({5}) Worum geht es? Es geht um die Frage: Was ist eigentlich patentierbar? Begonnen hat das Ganze - Frau Happach-Kasan, darin sind wir vielleicht noch unterschiedlicher Auffassung - mit einem Patentantrag, beispielsweise der Firma Monsanto, als es um das sogenannte Schnitzelpatent ging. Es ging um die Frage: Kann man einen Patentanspruch bis hin zum Produkt rechtfertigen? Schweine, die mit gentechnisch verändertem Sojafutter gefüttert werden, sollen von diesem Patent umfasst werden, nicht nur die Schweinerassen, sondern auch alle nachfolgenden Generationen und Produkte. ({6}) Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich halte das für eine Perversion des Patentrechtes, für einen Missbrauch, und dagegen müssen wir uns eindeutig wenden. ({7}) Dann ging es weiter. Es blieb nicht nur bei der Frage der gentechnischen Veränderung; es ging auch noch in den Bereich der konventionellen Züchtung. Hier gab es entsprechende Versuche. Ich nenne das sogenannte Brokkolipatent; Sie haben es schon angesprochen. Hier gab es zwar zum Glück die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer, dass das konventionelle Züchtungsverfahren so nicht patentierbar ist. Aber alle Fragen, die die Erzeugnisse anbelangen, sind weiter offen. Wir mussten mittlerweile mitansehen, dass entsprechende Patente für Melone und Sonnenblume erteilt wurden, bei denen sich die Ansprüche auf die Produkte bis hin zum Öl erstrecken. Vor diesem Hintergrund gibt dieser Antrag auch ein Signal, insbesondere an die Bundesregierung. Ich habe Sie, Herr Stadler, im November gefragt, wie sich die Bundesregierung gegenüber der Erteilung des sogenannten Melonenpatents verhalten will, einer konventionellen Pflanzensorte. Da haben Sie mir geantwortet, Sie beobachteten es und gingen davon aus, dass die Konkurrenten, also die anderen Unternehmen oder auch NGOs, Einspruch einlegten. Die Einspruchsfrist läuft im Februar ab. Vor dem Hintergrund dieses Antrags sollten wir überlegen, ob nicht vielleicht auch die Bundesregierung ein deutliches Signal setzt, indem sie Einspruch gegen dieses Patent erhebt. Ich glaube, das wäre im internationalen Bereich ein ganz wichtiges Signal. ({8}) Schwierig wird das Ganze dadurch, dass es bei der Biopatentierung um komplizierte Rechtsmaterien geht. Es geht nicht nur um das nationale Patentrecht, sondern es geht bei der Biopatentrichtlinie um europäisches Recht und beim Europäischen Patentübereinkommen sogar noch um eine Stufe darüber hinaus. Insofern ist es gut, dass wir uns im vorliegenden Antrag auf bestimmte Schwerpunkte konzentrieren und vor allen Dingen das nationale Patentrecht in den Fokus nehmen. Ich bin mir sicher, dass, wenn die Bundesrepublik Deutschland ein solches Signal setzt, das Auswirkungen auch auf das Europäische Parlament hat, also auch Abgeordnete aus anderen europäischen Ländern für diese Frage sensibilisiert werden. Insoweit ist dieser Antrag auch ein ganz wichtiges Signal für die internationale Rechtssetzung. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden auch zukünftig mit Sicherheit um diese Problematik ringen. Ein Sachverständiger hat einmal gesagt: Alle Regelungen, die der Gesetzgeber erlässt, stellen für diejenigen, denen es um Profit geht, nichts anderes als Slalomstangen dar. Bei den Fragen Ernährung, Energie und Wasser geht es um elementare Bereiche, von denen weltweit das Leben abhängt. Immer wird es Leute geben, die versuchen, sich Rechte an diesen Ressourcen und damit Macht zu sichern. Deswegen sind wir als Gesetzgeber aufgerufen, die Grenzen so deutlich wie möglich zu formulieren. Es wird auch zukünftig versucht werden, so der Sachverständige, diese Slalomstangen zu umfahren. Deswegen ist es wichtig, dass wir in dem Antrag auch ein Monitoring vorgesehen haben. Damit können wir als Gesetzgeber regelmäßig die Patenterteilungspraxis überwachen. Ich glaube, dass wir mit diesem Antrag einen ganz wichtigen ersten Schritt vollziehen. Ich wünsche mir aber auch, dass wir in die Beratungen einige weitere Inhalte, die in den Anträgen von SPD und Grünen enthalten sind, zumindest mitaufnehmen. Ein Punkt ist zum Beispiel die Stellung des Europäischen Patentamtes. Jeder denkt, dieses Patentamt sei eine Behörde. Mitnichten! Es finanziert sich maßgeblich aus den Gebühren für erteilte Patente. Dass die Prüfung damit nicht immer ganz so objektiv ist, wie sie sein könnte, ist doch wohl immanent. Insofern braucht das Patentamt eine andere Finanzierungsgrundlage. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, am Samstag werden zahlreiche Menschen hier in Berlin wieder deutlich machen, dass Ernährung nicht zum Nulltarif zu haben ist, dass wir aufpassen müssen, wie wir im Bereich der Pflanzenzucht und der Tierzucht vorgehen, wie wir Lebensmittel in Deutschland und in Europa erzeugen. Wenn immer mehr Menschen für diese Fragen sensibilisiert werden, dann hat das auch Auswirkungen auf die politischen Rahmenbedingungen. Mit dem Antrag, den wir heute beraten, zeigen wir, glaube ich, auch all denjenigen, die diese Fragen in Demonstrationen etc. aufwerfen, dass es uns in diesem Parlament tatsächlich darum geht, in diesem Bereich unserer Verantwortung als Gesetzgeber gerecht zu werden. Insofern freue ich mich, dass wir miteinander dieses Signal setzen können. Ich freue mich auf die Beratungen und hoffe auf eine möglichst schnelle Beschlussfassung. Diese ist nötiger denn je. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Stephan Harbarth hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits in den vergangenen Jahren haben wir häufiger Anträge zum Thema Patentierbarkeit von Tieren und Pflanzen diskutiert und uns mit der Frage befasst, wo die Grenzen der Patentierbarkeit in diesem Bereich verlaufen. Bereits damals lagen Regierungskoalition und Oppositionsfraktionen nach meiner Überzeugung in der Sache nicht weit auseinander. Umso mehr freuen wir uns heute, dass es gelungen ist, einen ganz breiten, überfraktionellen Antrag vorzulegen, der sich mit den Grenzen der Patentierbarkeit von landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen befasst. Dafür, dass dies möglich wurde, möchte ich herzlichen Dank sagen. Nach Monaten wirklich intensiver Debatte möchte ich allen beteiligten Berichterstatterinnen und Berichterstattern des Rechtsausschusses und des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Dank sagen. ({0}) Über das Thema der Patentierung von biotechnologischen Erfindungen in der Landwirtschaft gibt es in diesem Haus einen sehr erfreulichen und sehr weitgehenden Konsens. Wir alle wissen: Biotechnologische Erfindungen unterliegen grundsätzlich dem Patentschutz, es gelten aber besondere Patentierungsverbote. In Deutschland wird dies inhaltlich durch die Biopatentrichtlinie und durch das Patentgesetz bestimmt. Nach der Biopatentrichtlinie und dem Europäischen Patentübereinkommen sind Pflanzensorten und Tierrassen aus gutem Grund nicht patentierbar. Für eine wichtige Klarheit hat im vorletzten Jahr die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts gesorgt. Sie hat in der Entscheidung zum Brokkoli- und Tomatenpatent mehr Rechtsklarheit im Hinblick auf die Abgrenzung der „im Wesentlichen biologischen Verfahren“ geschaffen. Im zugrunde liegenden Streit wurde verlangt, ein konventionelles Zucht18246 verfahren und unabhängig davon auch die Erzeugnisse, die aus diesem Verfahren gewonnen wurden, zu patentieren. In der Entscheidung hat die Große Beschwerdekammer festgelegt, dass auch solche Verfahren im Wesentlichen biologisch und damit nicht patentierbar sind, die auf Kreuzung und Selektion beruhen. Sie sind auch dann nicht patentierbar, wenn bei ihnen technische Verfahrensschritte zur Durchführung bzw. Unterstützung von Verfahren der Kreuzung von Genomen von Pflanzen und der nachfolgenden Selektion der darauffolgenden Auswahl von Pflanzen genutzt werden. Technische Hilfsmittel wie genetische Marker können zwar nach den einschlägigen Rechtsgrundlagen durchaus patentfähige Erfindungen darstellen, ihre Verwendung in einem im Wesentlichen biologischen Verfahren macht dieses Züchtungsverfahren selbst aber nicht patentierbar. Das war eine gute Entscheidung, die wir sehr nachdrücklich begrüßen. ({1}) Allerdings wurde mit der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer nicht klargestellt, ob auch reine Erzeugnisansprüche auf Pflanzen mit spezifischen Eigenschaften trotz der Entscheidung zulässig sind. Hinsichtlich der sogenannten Product-by-Process-Patentansprüche gibt es bislang keine Rechtsklarheit, wie wir sie uns wünschen. Keine Klarheit besteht, wenn es um Erzeugnisse geht, die mit einem Erzeugnis identisch sind, das auf einem Herstellungsverfahren beruht, das selbst patentgeschützt ist. Das ist im Bereich der Tierund Pflanzenzucht deshalb besonders problematisch, weil diese Product-by-Process-Patentansprüche durchaus geeignet sein können, die Nichtpatentierbarkeit herkömmlicher Züchtungsverfahren zu unterlaufen und auszuhöhlen. Für uns, die Union, ist klar: Die Vielfalt genetischer Ressourcen an landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen muss erhalten werden. Für uns, die Union, ist aber auch klar: Wir bekennen uns zur Bedeutung des Patentrechts für den Schutz des geistigen Eigentums und für die Forschungsfreiheit. Innovationen und Erfindungen sind für unseren Wirtschaftsstandort von herausragender Bedeutung und müssen auch künftig möglich sein. Wir werden deshalb auch in Zukunft berechtigte Interessen von Forschung und Wissenschaft nicht einfach grundlos vom Tisch wischen. Wir werden sie deshalb nicht grundlos vom Tisch wischen, weil wir nicht möchten, dass die Früchte herausragender deutscher Forschungsleistungen primär in anderen Ländern geerntet werden. Legt man diese Maßstäbe an, dann sind wir überzeugt: Wir brauchen in Deutschland ein leistungsfähiges Patentrecht, aber kein schrankenloses Patentrecht. Wir brauchen ein Patentrecht, das auch ethischen Verpflichtungen Rechnung trägt. Deshalb darf es auf konventionell gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere und auf Nutzpflanzen kein Patent geben. Mit dem Antrag sprechen wir uns deshalb klar dafür aus, sicherzustellen, die Schutzwirkung von Product-byProcess-Patenten auf die Verwendung des im Patent angegebenen Verfahrens zu beschränken. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen und jetzt zu prüfen, ob auch ohne Rechtsänderungen auf europäischer Ebene Anpassungen im nationalen Patentrecht - das entspricht der Intention des Antrags - möglich sind. Wir Christdemokraten sind der tiefen Überzeugung, dass die natürlichen Lebensgrundlagen für alle da sind und dass die Erkenntnisse über die Schöpfung für alle zugänglich sein müssen. Alle müssen die Möglichkeit zur Teilhabe haben. Es darf nicht zu einer kommerziellen Reservierung dieser Bereiche für einige wenige kommen. ({2}) Es ist schon angeklungen, dass wir einen Impuls mit Schwerpunkt Europa setzen wollen. Die Frage, ob nur einige wenige über diese Ressourcen verfügen können oder ob sie für die Menschheit in Gänze offen stehen, geht über Europa hinaus. In einer Welt, die durch Bevölkerungswachstum und durch eine immer größere Nachfrage und einen immer weiter steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln geprägt ist, ist dies eine der ganz großen Zukunftsfragen. Unsere Position ist klar. Deshalb wünsche ich unserem Antrag, den wir heute gemeinsam verabschieden, die von uns allen erhoffte Durchschlagskraft auf europäischer Ebene und darüber hinaus. Vielen herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der vorliegende Antrag ist ein Gemeinschaftswerk. Seit dem Sommer 2010 hat eine Arbeitsgruppe aller fünf Fraktionen an diesem Antrag gearbeitet. Denn es sollte ein gemeinsames Signal sein, dass wir bei den Biopatenten Probleme sehen und dass wir in diesem Bereich Grenzen setzen müssen. Deswegen waren auch wir Linke zu großen und auch schwierigen Kompromissen bereit. Anlässlich der Grünen Woche 2011 haben wir eine gemeinsame Presseerklärung herausgegeben. Im April 2011 lag ein gemeinsamer Antragsentwurf vor. So weit, so gut. Dann passierte monatelang erst einmal nichts. Aber im Dezember 2011 ist die Linke dann plötzlich kommentarlos aus der Gruppe entfernt worden. Diese Fortsetzung des Kalten Krieges - so muss ich das sagen ist der höchsten Volksvertretung unseres Landes nicht würdig. ({0}) Das grenzt nicht nur meine Fraktion, sondern auch - das ist eigentlich das Schlimme - unsere Wählerinnen und Wähler aus. Das ist das größere Problem. Aus meiner Sicht ist das ein vordemokratisches Verhalten. ({1}) Ich muss ganz ehrlich sagen: Dieses Vorgehen entbindet uns von den Kompromissen, die wir eingegangen sind. Deshalb werden wir einen Antrag vorlegen, in dem linke Positionen enthalten sind. ({2}) Zum Antrag selbst. Eigentlich sind Biopatente verboten. Die Realität sieht aber anders aus. Dazu ist schon einiges gesagt worden. In der Dokumentation „Das Saatgutkartell auf dem Vormarsch“ sind dieser Vorgang und auch der ziemlich schamlose Griff der Agrarkonzerne nach Biopatenten ziemlich deutlich beschrieben. Über 250 Biopatentanträge für Gentechpflanzen und 100 für konventionell gezüchtete Pflanzen lagen allein 2010 beim Europäischen Patentamt vor. Die Antragsteller wollen sich damit die alleinigen Rechte am späteren Produkt sichern. Problematisch ist dabei sowohl die Zahl der Anmeldungen als auch ihre Reichweite. Auch dazu ist schon einiges gesagt worden. Es beginnt beim Futtermittel, geht über das eigentliche Tier oder die Pflanze bis hin zu den Produkten, also Fleisch, Milch oder Mehl. Ein gutes Beispiel ist das Schweinezuchtpatent EP 1651 777. Es betrifft ein Verfahren zur Zuchtauswahl von Schweinen mit bestimmten natürlichen Eigenschaften. Kritisch dabei ist, dass das Patent sich nicht nur auf das Tier und das Zuchtverfahren selbst bezieht, sondern auch auf die aus diesem Verfahren stammenden Ferkel. Der Einspruch eines breiten Bündnisses von BUND bis zum Deutschen Bauernverband hatte zwar Erfolg, und das Patent wurde widerrufen. Aber - auch das ist schon gesagt worden - es blieben einige Fragen hinsichtlich der Patentierbarkeit von Zuchtverfahren und von Produkten offen. Ein Patent vom Acker bis zum Teller in der Hand eines Agrarkonzerns ist eine Horrorvision. Die einen mögen sagen, das sei unrealistisch. Andere hingegen sagen, das sei konsequent bis zum Ende gedacht. Deswegen besteht hier Handlungsbedarf. ({3}) Deshalb lehnt die Linke Patente auf Leben grundsätzlich ab. Gene und Gensequenzen oder ihre Funktionen können entdeckt oder genutzt werden, aber sie dürfen nicht privatisiert werden. ({4}) Privates Eigentum auf Leben ist ein geradezu absurder Gedanke, erst recht, wenn es um Pflanzen oder Tiere geht, die zur Nahrungsmittelproduktion genutzt werden. Es ist auch eine problematische Entwicklung, wenn zum Beispiel wichtige neue Erkenntnisse nicht zuerst in den wissenschaftlichen Publikationen und Zeitschriften veröffentlicht werden, sondern erst einmal das Patent gesichert wird. Damit wird der für den wissenschaftlichen Fortschritt notwendige Informationsfluss in der wissenschaftlichen Welt unterbrochen; es dauert sehr lange, bis es zu einem Wissensaustausch kommt. Ich finde, das ist nicht akzeptabel. ({5}) Die Linke fordert deswegen die Bundesregierung auf, ein weltweites, konsequentes und auch weitreichendes Verbot der Patentierung von Leben durchzusetzen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um klassische Züchtungsverfahren oder gentechnische Verfahren handelt. Zur Agro-Gentechnik lässt der Antrag einiges offen. Auch an anderen Stellen hat der Antragsentwurf nach unserer Ausgrenzung leider einiges an Substanz verloren. So wird die umstrittene Finanzierung des Europäischen Patentamtes nicht einmal mehr erwähnt. Kollege Miersch hat darauf hingewiesen. Auch unser wichtiger Vorschlag zur Prozesskostenhilfe ist aufgrund schwarzgelben Drucks leider herausgefallen. Also werden sich zukünftig wieder Menschen nur deswegen nicht gegen Patente wehren können, weil sie die Prozesskosten nicht bezahlen können. Auch das ist nicht akzeptabel. ({6}) Zum Abschluss: Ich denke, dieses wichtige Thema ist nicht geeignet für parteipolitische Sandkastenspiele. Ich hoffe, dass die Unionsfraktionen und vielleicht auch die anderen Fraktionen zumindest den Anstand haben, darauf hinzuweisen, dass es nicht an sachlichen Gründen liegt, dass die Linke nicht als einreichende Fraktion auf dem Antrag steht, sondern dass es sachfremde Erwägungen sind.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. - Ich möchte noch einmal betonen: Die Linke ist wie alle anderen in diesem Saal der Meinung, dass man bei Biopatenten eingreifen muss, dass man restriktivere Lösungen finden muss.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich denke, das sollte auch dokumentiert werden, indem wir einen gemeinsamen Antrag einbringen. Ich bedauere, dass dieser nicht zustande gekommen ist. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Harald Ebner.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf dem Speiseplan der Bundestagskantine stehen diese Woche Gerichte wie Gemüsecremesuppe mit Sonnenblumenkernen oder vegetarische Pizza mit Brokkoli. Sowohl auf Sonnenblumen als auch auf Brokkoli gibt es mittlerweile Biopatente. Wenn wir heute in Sachen Biopatente nicht handeln, kann es bald schon zu spät sein, und vielleicht muss die Bundestagskantine eines Tages für solche Zutaten Lizenzgebühren entrichten. ({0}) Wir handeln aber, und es ist gut, dass dieser Antrag jetzt doch noch den Weg ins Parlament gefunden hat, auch wenn der Weg manchmal etwas steinig war. Ich möchte deshalb ganz gern den Dank, der schon von vielen Kollegen ausgesprochen wurde und den ich bekräftigen kann, um den Dank an den Kollegen Montag erweitern, der sich hier auch eingebracht hat. ({1}) Die Frage der Patentierung von Leben hat allerdings eine viel größere Tragweite als nur den Lizenzaufschlag an der Kantinenkasse. Wir haben in Europa ein bewährtes Sortenschutzrecht - Frau Dr. Happach-Kasan hat darauf hingewiesen -, das Landwirten und Züchtern die Nutzung neuer Sorten nach gewissen Regeln auf einfache Weise erlaubt. Das ist eine Art Open-Source-System in der Landwirtschaft. Ganz anders ist es bei Biopatenten. Auf die patentgeschützte Eigenschaft hat der Patentinhaber den alleinigen Nutzungsanspruch. Er kann theoretisch sogar die Verwendung seiner Eigenschaften untersagen. Es besteht Gott sei Dank breite Einigkeit in der Gesellschaft und auch hier im Hause - wie ich es allgemein höre -, dass wir Patente auf Leben nicht wollen. ({2}) Die 1998 beschlossene Biopatentrichtlinie der EU sollte genau dies eigentlich verhindern. Leider führen Lücken in eben dieser Richtlinie immer wieder dazu, dass trotzdem vom Europäischen Patentamt solche Patente erteilt wurden und werden. Kollege Miersch hat es am Beispiel des „Schnitzelpatentes“ ganz eindrücklich ausgeführt. Ich erinnere daran, dass meine Vorgängerin im Argarausschuss, Uli Höfken - heute Agrarministerin in Rheinland-Pfalz - zusammen mit dem Kollegen Miersch bereits im Sommer 2010 die Initiative für den jetzt vorliegenden interfraktionellen Antrag gestartet hat. Hoffentlich gilt jetzt: Was lange währt, wird endlich gut. Gestern habe ich eine Pressemitteilung gelesen, die ich nicht ganz verstanden habe. Herr Lehmer, mir wäre es neu, dass der Kollege Miersch oder die Kollegin Höfken jetzt in der CDU wären; insoweit habe ich die Pressemitteilung im Hinblick darauf, von wem der Antrag jetzt ausging, nicht verstanden. ({3}) Im vorliegenden Antrag wird endlich das Problem der Gesetzes- und Auslegungslücken bezüglich der Patentierung von traditionell gezüchteten Pflanzen und Tieren aufgegriffen. Das ist ein längst überfälliger Schritt. Besonders wichtig und dringend ist diese gemeinsame Initiative im Hinblick auf die jetzt anstehende Schaffung eines EU-weit einheitlichen Patentrechts. Dieses neue Patentsystem ist für die Biopatente von besonderer Tragweite. Deshalb freut es mich besonders, dass gerade bezogen auf das wichtige Handlungsfeld der Verankerung des Landwirte- und Züchterprivilegs ein breiter Konsens besteht, und zwar nicht nur quer durch die Gesellschaft und die Verbände, sondern auch hier im Hause. ({4}) Gut ist auch der gemeinsame Wille zum staatlichen Biopatent-Monitoring, das dringend notwendig ist und das bislang ausschließlich von Ehrenamtlichen mit einem Riesenaufwand geleistet wurde. An dieser Stelle möchte ich den Ehrenamtlichen ganz herzlich danken und meine Anerkennung ausdrücken. Es gibt aber auch Schatten. Wir hätten uns ein schnelleres Handeln gewünscht; aber besser spät als nie. Inhaltlich hätten wir natürlich gern die Erweiterung dieses Antrags auf die Gensequenzen und GVO gesehen. Hier besteht aus unserer Sicht derselbe Handlungsbedarf, weil die Folgen dieselben sind. Außerdem bräuchten wir beim EU-Patent auch eine Auskreuzungsregelung. Ich komme zum Schluss. Wir sind dennoch bereit, im Interesse eines gemeinsamen Signals aus diesem Hause diese Punkte zunächst hintenanzustellen und diesen gemeinsamen Antrag mitzutragen. Denn Biopatente sind viel häufiger Innovationsverhinderer als Innovationsförderer. Sie sind auch ethisch fragwürdig und führen zu soziökonomischen Verwerfungen. Der Weg, den wir heute beginnen gemeinsam zu gehen, ist daher richtig.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hoffe sehr, dass daraus konkrete Schritte und Ergebnisse für Gesetzgebung und Regierungshandeln hier und in Brüssel hervorgehen. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Max Lehmer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten - Gäste! ({0}) Vor nun mittlerweile fast eineinhalb Jahren, im Juli 2010, habe ich an dieser Stelle den Vorschlag unterbreitet - ich schließe nicht aus, dass es auch andere Vorschläge dieser Art gegeben hat, aber von diesem Zeitpunkt an ging unsere gemeinsame Aktivität los, Herr Miersch; das können Sie nachlesen -, einen fraktionsübergreifenden Antrag zum Thema Biopatente zu erarbeiten. Gerade weil die Verhandlungen mitunter etwas zäh verliefen, möchte ich mich zunächst recht herzlich bei allen Beteiligten für die gute fachkompetente und mit Geduld ausgestattete Zusammenarbeit bedanken. Mein Dank gilt insbesondere den Rechtspolitikern der Union, die unsere Idee aufgegriffen und einen Antrag auf den Weg gebracht haben. ({1}) Umso mehr erfüllt es mich mit außerordentlich großer Freude, dass wir heute den vorliegenden Antragstext rechtzeitig zur Eröffnung der Grünen Woche 2012 erörtern können. Für die wissenschaftliche Forschung ist das Patentrecht ein hohes Gut - das wurde bereits mehrfach erwähnt - und für den Wirtschaftsstandort Deutschland unerlässlich. Es gewährleistet, dass Innovationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Im Bereich der Biotechnologie, einem sehr komplexen Bereich, müssen wir dabei stets zwei Ziele im Auge behalten - das ist, glaube ich, der Kern der Bemühungen -: Neben dem bereits erwähnten Schutz des geistigen Eigentums durch das Patentrecht spielt die allgemeine Verfügbarkeit genetischer Ressourcen eine ganz zentrale Rolle. ({2}) Wir brauchen in diesem Zusammenhang eine klare Trennung zwischen Entdeckung und Erfindung. Natürliche Ressourcen können entdeckt werden, sind aber nicht Gegenstand oder Inhalt einer Erfindung. Genetische Ressourcen sind für die biologische Vielfalt wesentlich und dürfen nicht nur durch Einzelne nutzbar gemacht werden. Vor diesem Hintergrund wird die aktuelle Entwicklung bei Biopatenten seitens der Landwirte mit berechtigter Sorge betrachtet; denn einige Wirtschaftsbeteiligte versuchen, rechtliche Grauzonen zu ihren Gunsten auszunutzen. Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat hier in ihrer Rechtsprechung inzwischen eine grundlegende Entscheidung in unserem Sinne gefällt: Verfahren sind auch dann im Wesentlichen biologisch und somit nicht patentierbar, wenn bei ihnen technische Verfahrensschritte zur Durchführung von Verfahren der Kreuzung von Pflanzen und nachfolgender Selektion der geeigneten Pflanzen genutzt werden. - Das ist einer der Kernsätze. Nicht abschließend geklärt ist jedoch, ob die durch diese Verfahren erzeugten Tiere oder Pflanzen patentiert werden können. Weitere rechtliche Spielräume ergeben sich aus der Nutzung sogenannter Product-by-ProcessPatentansprüche; auch das ist ein wichtiger Punkt. Insofern sehen wir politischen Handlungsbedarf und haben im vorliegenden Antragstext unsere Forderungen hierzu klar formuliert: Es soll keine Patente auf konventionelle Züchtungsverfahren, auf mit diesen Verfahren gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen sowie auf deren Nachkommen und auf damit hergestellte Produkte geben. Das soll für alle Arten von Patenten und sämtliche relevanten Rechtsvorschriften Gültigkeit besitzen, ergo für nationale Patente, für Patente, die nach dem Europäischen Patentübereinkommen erteilt werden, und auch für die neuen europäischen Patente. Genau an dieser Stelle, an der Grenze zwischen konventionellen und technischen Züchtungsverfahren, wird aus unserer Sicht eine ethische Grenze überschritten, die der Patentierung entgegensteht. Begleitend zu diesen Rechtsänderungen, fordern wir ein staatliches Biopatent-Monitoring; es wurde von einzelnen Kollegen schon darauf hingewiesen. Durch einen regelmäßigen Bericht über die Auswirkungen des Patentrechts bei Biopatenten und einen Dialog mit allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen können wir die Entwicklung sorgfältig beobachten und bei Bedarf entsprechend nachsteuern. Außerdem ist es uns ein wichtiges Anliegen, dass die im Patentgesetz vorgesehenen Privilegien für Landwirte - sie sind schon mehrfach angesprochen worden -, Züchter und Forschung auch im neuen europäischen Patentrecht enthalten sein sollen. Abschließend möchte ich auf die wichtige Rolle des Sortenschutzes, einer sehr guten deutschen Einrichtung, zu sprechen kommen. Der Sortenschutz dient dem Schutz des geistigen Eigentums und hat sich dabei sehr gut bewährt. Da es im Bereich der Tierzucht kein entsprechendes Recht gibt, muss es unser Ansinnen sein, dass wir hier gemeinsam mit den Tierzüchtern eine Lösung finden. Denn es geht auch in diesem Fall um das Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz geistigen Eigentums und dem freien Zugang zu genetischen Ressourcen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich außerordentlich, dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten. Es ist ein richtiger und politisch sehr wichtiger Schritt, so denke ich, zur Abklärung der genannten gegensätzlichen Ziele in einem für die Nutzungschancen der Biotechnologie sehr bedeutsamen Bereich. Allerdings ist damit sicher für die Zukunft noch nicht alles im Detail geklärt. Deshalb erfordert das Thema auch in Zukunft unser aller Aufmerksamkeit. Vielen herzlichen Dank und einen schönen Abend. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8344 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs ({0}) - Drucksache 17/8131 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Burkhard Lischka für die SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 5. Januar 2012, Berlin: Drei Jugendliche sind in Friedrichshain rassistisch angegriffen worden. Die 15- und 16-Jährigen waren in der Nacht zum Donnerstag am S-Bahnhof Frankfurter Allee unterwegs, als sie zunächst von drei Männern mit Steinen beworfen wurden. Anschließend beleidigten die Angreifer im Alter von 34 und 36 Jahren ihre Opfer mit antisemitischen Parolen und schlugen einem Jugendlichen ins Gesicht. Ein Tag später, 6. Januar 2012, Berlin: An der Kreuzung des U-Bahnhofs Eberswalder Straße fügten drei Neonazis einem jungen Mann marokkanischer Herkunft massive Verletzungen zu. Nachdem er bereits auf dem Boden lag, traten sie mehrfach auf ihn ein. Das Opfer wurde mit einem Nasenbeinbruch und einer schweren Halswirbelverletzung ins Krankenhaus eingeliefert. 11. Januar 2012, Berlin: Gegen 2.30 Uhr schlug eine Neonazifrau einem Punk eine Bierflasche auf den Kopf. Das Opfer erlitt eine Platzwunde und wurde im Krankenhaus behandelt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das sind nur drei Beispiele für braune Gewalttaten in den letzten Tagen allein hier in Berlin. Aber wir wissen: Diese braune Gewalt gibt es überall in ganz Deutschland: in unseren Dörfern, in unseren Städten, auf unseren Straßen und Plätzen, in Straßenbahnen, in Bussen, in Jugendklubs, in Fußballstadien, also mitten in unserer Gesellschaft, am helllichten Tag und in der Nacht, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Das sind Taten, mit denen wir uns nicht abfinden wollen und nicht abfinden können, Taten, die eine Schande für unser Land sind. ({0}) Braune Gewalt gehört in Deutschland zum Alltag. 16 375 rechtsextremistisch motivierte Straftaten gab es allein im Jahr 2010. Das sind 45 rechtsextremistisch motivierte Straftaten jeden Tag. Darunter sind 762 Gewalttaten zu verzeichnen, das heißt, jeden Tag werden in Deutschland in mindestens zwei oder drei Fällen Mitbürgerinnen und Mitbürger auf offener Straße verfolgt, angegriffen, attackiert, geschlagen, getreten und misshandelt, und zwar nur deshalb, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Nationalität oder eine andere Gesinnung haben, vielleicht auch weil sie obdachlos oder behindert sind. Wir dürfen dem gegenüber nicht abstumpfen. Die Taten richten sich gegen uns alle. Wir alle müssen dieser menschenverachtenden Gewalt gemeinsam die Stirn bieten. ({1}) Die Mordserie der Zwickauer Terrorzelle war und ist kein Zufall, sondern sie ist der unfassbare Teil einer viel größeren Blutspur, die sich seit vielen Jahren quer über unser Land gelegt hat, mit täglichen Angriffen, mit Körperverletzungen, Bedrohungen, Pöbeleien, und zwar überall in Deutschland. Diese braunen Gewalttaten sind inzwischen ein Krebsgeschwür in unserer Gesellschaft, weil sie die gegenseitige Achtung und Anerkennung der Menschen untereinander und damit eine fundamentale Voraussetzung unseres gesellschaftlichen Friedens und des Rechts infrage stellen. Wir Deutsche mit unserer Geschichte haben allen Grund, uns dem zu widersetzen. ({2}) Deutschland erwartet von seinen Zuwanderern, dass sie sich zur grundgesetzlichen Ordnung bekennen. Das ist auch okay so. Aber zu dieser Ordnung gehört eben auch, dass jeder - aber auch wirklich jeder - in diesem Land einen Anspruch darauf hat, dass ihn der Staat mit allen verfügbaren Mitteln vor Terror, Gewalt und Misshandlungen schützt. Dazu gehört auch, diese Taten als das zu benennen und abzuurteilen, was sie tatsächlich sind, nämlich ein abscheulicher Anschlag auf die Menschenwürde und auf unsere Rechtsordnung. ({3}) Das unterscheidet übrigens diese braunen Gewalttaten von einem ganz normalen Körperverletzungsdelikt; denn das Opfer wird von den Nazis nicht als Individuum, als Einzelperson angegriffen, mit dem der Täter irgendeinen Streit oder Konflikt hat. Nein, der Terror der Nazis hat eine über die eigentliche Verletzung hinausgehende Bedeutung. Man wird nicht durch individuelle Beziehungen und Konflikte zum Opfer, sondern weil man so ist, wie man ist - als Ausländer, Farbiger, Punk, Obdachloser oder Behinderter. Dem Opfer wird schlicht und einfach abgesprochen, ein Mensch wie jeder andere zu sein. Das bedeutet aber auch, dass das Opfer nichts machen kann. Es kann sich nicht ändern. Es hat eine bestimmte Hautfarbe. Die kann man nicht abstreifen. Das heißt, das Opfer kann sich dieser permanenten Bedrohung nicht entziehen, und an andere Menschen, die über die gleichen Merkmale wie das Opfer verfügen, senden die braunen Schläger ein unmissverständliches Signal aus: Lasst euch hier bloß nicht mehr blicken. Sonst geht es euch genauso. Ihr seid die Nächsten, die dran sind. Das soll Angst und Schrecken säen. Das ist die menschenverachtende Ideologie der Nazis seit jeher. Das ist aber auch ein besonderes Unrecht, das gerade diese Taten von allen anderen unterscheidet, und deshalb bedarf es auch einer besonderen Bestrafung, meine Damen und Herren. Es ist doch überhaupt nicht akzeptabel, dass diese braunen Gewalttaten nach wie vor viel zu häufig als normale Wirtshausschlägereien oder normale Körperverletzungsdelikte abgetan werden. Das ist doch ein Hohn den Opfern gegenüber. Auch deshalb fordert die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz seit vielen Jahren von Deutschland, dass diese braunen Gewalttaten genauso wie in anderen europäischen Ländern besonders bestraft werden, indem zum Beispiel rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe des Täters bei dessen Verurteilung berücksichtigt werden. Genau das greifen wir in unserem Antrag hier auf. ({4}) Ich weiß natürlich, welche Einwände wir gleich zu hören bekommen werden. ({5}) Der erste Einwand wird sein, das sei Gesinnungsstrafrecht. Nein, meine Damen und Herren, das ist es eben nicht. Hier soll nicht eine bestimmte Gesinnung bestraft werden; diese kann jeder haben. Aber diese unglückselige Verquickung von Gesinnung auf der einen Seite und gewaltsamer Durchsetzung dieser Gesinnung auf der anderen Seite muss bestraft werden, und wir haben in Deutschland nach den Erfahrungen mit der Nazidiktatur auch allen Grund hierfür. ({6}) Der zweite Einwand, den wir gleich zu hören bekommen werden, ist, dass das deutsche Strafrecht die Motive und Beweggründe des Täters ja schon heute berücksichtigen würde. ({7}) - Herr van Essen, das stimmt, aber eben nur theoretisch. Machen Sie sich doch einmal praktisch die Mühe und geben Sie die Begriffe „Rechtsextremismus“ und „Körperverletzung“ in eine juristische Datenbank ein. Sie werden nur erbärmlich wenige Treffer angezeigt bekommen, die belegen, dass Gerichte in ihren Urteilen genau diesen Zusammenhang herstellen. Das ist nicht akzeptabel, meine Damen und Herren. Insofern ist man als Gesetzgeber gefordert, diesen Zusammenhang ausdrücklich gesetzlich klarzustellen. Darum geht es hier in unserem Antrag, und deshalb haben wir Sozialdemokraten diesen Antrag hier heute gestellt. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Ansgar Heveling hat jetzt für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifellos machen uns gerade die Straftaten besonders betroffen, bei denen Hass die Triebfeder ihrer Begehung ist. Was sind das für Menschen, die anderen Menschen Gewalt antun, nur weil sie eine andere Hautfarbe, Religion, Herkunft oder Weltanschauung haben oder weil sie behindert sind? Natürlich denken wir dabei unmittelbar an die aktuellen Fälle rechtsextremistischer Täter, die über den Zeitraum eines Jahrzehnts Geschäftsleute griechischer und türkischer Abstammung ermordet haben. Wir denken aber auch an die Übergriffe brutalster Art in U- und S-Bahnen sowie auf öffentlichen Plätzen, die in jüngster Zeit insbesondere von jüngeren Tätern begangen worden sind. Sicherlich haben wir noch die schrecklichen Bilder, von Überwachungskameras aufgezeichnet, vor Augen: Wehrlose Menschen werden verprügelt und zu Boden getreten, und auch dann noch, wenn sie schon am Boden liegen, wird zielgerichtet weiter auf ihren Kopf eingetreten. Allerdings sind uns auch die vielen anderen Vorfälle präsent: Hetzjagden auf Ausländer, Brände, die in Asylbewerberheimen gelegt werden, Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft auf brutalste und menschenverachtende Weise gequält und misshandelt, ja getötet werden. Es handelt sich dabei um schlimmste Übergriffe - auf Ausländer; aber es gibt auch die umgekehrten Fälle. Auch diese dürfen wir nicht aus dem Blick lassen. Es gibt auch Übergriffe von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich gegen Deutsche richten, weil sich ihr Lebensfrust und ihre Wut als Hass gegen die Deutschen entladen. All diese Taten werden von uns gleichermaßen verurteilt. Sie sind auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie durch einen besonderen Unrechtsgehalt gekennzeichnet sind. Es geht bei diesen Straftaten nicht um eine individuelle persönliche Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer. Das Opfer ist nicht deshalb Opfer, weil es ein bestimmtes Individuum ist, sondern weil es Teil einer Gruppe ist, die vom Täter als „anders“ abgestempelt wird. Diesem besonderen Unrechtsgehalt solcher Hasstaten möchte die SPD-Fraktion nun durch den vorgelegten Gesetzentwurf Rechnung tragen. Der Entwurf hat dabei zum Ziel, eine Ergänzung in § 46 Abs. 2 des Strafgesetzbuches aufzunehmen und damit die Berücksichti18252 gung des besonderen Unrechtsgehaltes bei der Strafzumessung ausdrücklich zu verankern. Der SPD-Vorschlag sieht vor, strafschärfende Regelbeispiele in die Strafzumessungsregeln zur Motivation oder Zielsetzung des Täters aufzunehmen. Besonders menschenverachtende, rassistische oder fremdenfeindliche Motive für die Tat sollen bei der Strafzumessung strafschärfend zu berücksichtigen sein. Indessen sind mit diesem Vorschlag im Wesentlichen drei Fragen verbunden. Erstens. Bedarf es überhaupt solcher Regelbeispiele bei der Strafzumessung? Zweitens. Greift die von der SPD vorgeschlagene Ergänzung auch für Täter, die nach dem Jugendstrafrecht zu verurteilen sind? Drittens. Ist die Regelung, wie sie der SPDGesetzentwurf vorsieht, überhaupt ausreichend? Lassen Sie mich mit der ersten Frage beginnen. Ohne Zweifel liegt angesichts der eingangs geschilderten aktuellen Fälle der Ruf nach strafschärfenden Merkmalen nahe. Doch es bleibt die Frage: Haben wir im geltenden Sanktionsrecht überhaupt eine Lücke, die es zu schließen gilt, um den Schutz von Personen, die Opfer von Hasskriminalität werden, zu erhöhen? Strafe ist, so die ständige Rechtsprechung, eine missbilligende hoheitliche Reaktion, die an ein sozialethisches Unwerturteil anknüpft, ohne dass dabei die Strafzwecke gesetzlich ausdrücklich definiert worden sind. ({0}) Generell ist Strafe zunächst einmal Generalprävention. Das heißt, durch die Strafandrohung soll die normative Rechtsordnung bestätigt und die Rechtstreue der Bevölkerung gestärkt werden. Zugleich sollen durch die verhängte Strafe der Täter selbst, aber auch andere abgeschreckt werden, diese Straftat zu begehen. Grundlage der Strafzumessung ist dabei in erster Linie die Schwere der konkreten Tat und der Grad der Schuld des Täters. Schuld wird also als etwas Individuelles angesehen. Es geht um das individuelle Maß des Vorwurfs für die jeweilige Tat. Andererseits hat die Strafe auch die Aufgabe, die geltende Rechtsordnung zu bestätigen und künftigen Verletzungen vorzubeugen. Rechtsgüter sollen geschützt werden, und das Vertrauen der Bevölkerung in den Schutz der Rechtsordnung und damit die Rechtstreue der Bürger sollen gestärkt werden. Der Strafrahmen, also das gesetzliche Höchst- und Mindestmaß, wird durch den konkreten Gesetzesverstoß mit all seinen Tatmodalitäten und Tatumständen, die den Strafrahmen erhöhen oder mildern können, festgestellt. In diesem festgestellten Strafrahmen sind sämtliche Umstände, die zugunsten, aber eben auch zuungunsten des Täters sprechen, abzuwägen und zu berücksichtigen. Das geltende Recht gebietet und gestattet es daher schon jetzt, derartige von Hass geprägte Motivationslagen und Zielsetzungen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Dazu gehören - sofern dies nicht bereits Tatbestandsmerkmal ist - die Beweggründe und Tatziele, beispielsweise Taten, die auf eine verfestigte rechtsfeindliche oder gleichgültige Haltung zurückgehen. Als weiterer Strafschärfungsgrund ist die Gesinnung, die aus der Tat spricht, zu bewerten, wie etwa eine rohe, böswillige, gewissenlose, grausame oder rücksichtslose Gesinnung. Also werden bereits jetzt die im Gesetzentwurf der SPD als Regelbeispiel ausgestalteten Strafzumessungsgründe bei der Strafzumessung tatsächlich berücksichtigt, ohne dass sie ausdrücklich festgeschrieben sind. Das geschieht auch in der Praxis so. ({1}) Wenn die juristische Literatur dazu sehr dünn erscheint, dann ist dies meines Erachtens ein Umstand, der dafür spricht, dass dies in der Praxis so gehandhabt wird, ({2}) weil diese Dinge überhaupt nicht mehr in der Diskussion stehen. ({3}) Es ist unstreitig so, dass dies bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist. Das heißt vor allem eines: Eine zu schließende Lücke gibt es nicht. Das, was durch den Gesetzentwurf geregelt werden soll, ist bereits geltendes Recht. Insofern rutscht die Regelung in einen Bereich, in dem man ihr im Wesentlichen Symbolcharakter zusprechen kann. ({4}) Symbolische Gesetze mögen gelegentlich ihre Berechtigung haben, insbesondere dann, wenn dadurch Werte und Einstellungen bekräftigt werden. Gleichwohl sollte man mit symbolischen Gesetzen aber sehr vorsichtig und zurückhaltend umgehen. Sonst sieht man irgendwann vor lauter Symbolen das Wesentliche nicht mehr. ({5}) Daher sollten wir im weiteren Verfahren genau prüfen und beraten, ob es wirklich Sinn macht, etwas, das bereits geltendes Recht ist - und das vollkommen unbestritten -, nochmals ausdrücklich zu erwähnen. ({6}) Zur zweiten Frage: Wie gehen wir in diesem Zusammenhang mit jugendlichen Tätern um? Viele Hasstaten werden von jüngeren Tätern begangen. Oftmals sind die U-Bahn- oder S-Bahn-Schläger diejenigen, die Taten aus rechts- oder linksextremistischer Gesinnung verüben, und diejenigen, die aus Frust und Hass gegen Ausländer oder als Ausländer gegen Deutsche gewalttätig werden, Jugendliche oder Heranwachsende. Sie sind dann nach dem Jugendstrafrecht zu beurteilen. § 18 Abs. 1 Satz 3 des Jugendgerichtsgesetzes regelt aber ausdrücklich, dass der Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts für das Jugendstrafrecht gerade nicht gilt. In Abs. 2 des § 18 JGG wird im Hinblick auf die Strafzumessung bestimmt: Die Jugendstrafe ist so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. Natürlich sind im Hinblick auf die erzieherische Einwirkung im Jugendstrafrecht schon jetzt die Gesinnung, die Ziele und die Motivation des jugendlichen bzw. heranwachsenden Täters zu berücksichtigen. Es ist einzubeziehen, ob das Handeln des Täters grausam, gewissenlos, roh oder anders brutal war. Hier gilt im Grunde genommen das Gleiche wie schon heute mit Blick auf § 46 des Strafgesetzbuches. Eine unmittelbare Anwendung von § 46 des Strafgesetzbuches ist im Jugendstrafrecht aber nicht möglich. Wenn wir zu der Überzeugung gelangen sollten, dass die unter die Hasskriminalität fallenden Ziele eines Täters bei der Strafzumessung in § 46 des Strafgesetzbuches ausdrücklich erwähnt werden sollen, dann müsste aus meiner Sicht auch die Brücke zum Jugendstrafrecht geschlagen werden. Ansonsten erzeugen wir nämlich eine so sicherlich nicht gewollte Asymmetrie, möglicherweise sogar mit negativen Auswirkungen auf die Berücksichtigung dieser Ziele im Jugendstrafrecht. Hier ist für die weitere Beratung meiner Ansicht nach besondere Aufmerksamkeit geboten. Denn gerade im Hinblick auf den Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts ist es notwendig, den besonderen Unrechtsgehalt der Hasskriminalität zu berücksichtigen. Schließlich stellt sich drittens die Frage, ob es ausreicht, die Regelbeispiele nur bei der Strafzumessung in § 46 Abs. 2 des Strafgesetzbuches ins Sanktionensystem aufzunehmen. Meines Erachtens müsste die Aufnahme der Regelbeispiele für Hasskriminalität dann nicht nur bei der Strafbemessung in § 46 Abs. 2, sondern konsequenterweise auch in den Vorschriften der §§ 47 und 56 des Strafgesetzbuches vorgenommen werden. Das sind übrigens Überlegungen, die der Bundesrat in der letzten Wahlperiode in seinem Gesetzentwurf zu diesem Thema aufgegriffen hat. Im vorliegenden Gesetzentwurf der SPD sind sie aber nicht mehr enthalten. In diesem Zusammenhang ist auch zu erörtern, ob der Gesetzentwurf nicht insgesamt zu kurz greift, weil man mit ihm in erster Linie die extremistisch motivierte Gewaltkriminalität schärfer bestrafen will. Hier stellt sich die Frage, ob nicht auch über den normalen Unrechtsgehalt der Gewaltkriminalität hinausgehende brutale Übergriffe aus purer Lust an Quälerei und Gewalt, aus undifferenziertem Hass, der sich nicht konkretisieren lässt, oder gegen Menschen, die nicht ihres Andersseins wegen, sondern nur wegen ihrer zufälligen Anwesenheit Opfer werden, erfasst werden müssen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Der Gesetzentwurf der SPD wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Wir wollen uns dem Anliegen nicht grundsätzlich verschließen, aber wir müssen sorgsam abwägen und überlegen: Ist die symbolische Erwähnung bereits unbestritten geltenden Rechts den Preis systematischer Unsicherheit wert? ({8}) Mein Eindruck ist: So lobenswert das Grundanliegen auch ist, hier sollten wir doch sehr vorsichtig sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Raju Sharma hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass das Thema „Rechtsradikale Gewalttaten“ im Parlament weiterhin eine Rolle spielt. Dazu trägt auch dieser Gesetzentwurf bei. In der Sache ist der Gesetzentwurf der SPD aber leider auch nicht viel mehr als ein Schaufenstergesetzentwurf. Schon jetzt - das ist auch schon gesagt worden bietet das Strafgesetzbuch die Möglichkeit, die Ziele des Täters bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. ({0}) Daran würde sich auch mit einem solchen Gesetz nichts ändern. Im Gesetzentwurf der SPD ist die Rede von rassistischen, fremdenfeindlichen Motiven. Was ist aber mit Straftaten gegen Homosexuelle und gegen Obdachlose, was ist mit antisemitischen Straftaten? Sie sind hier nicht erfasst. Insofern greift der Gesetzentwurf zu kurz. Aus der Sicht der Linken würde der Gesetzentwurf aber auch dann nicht besser, wenn Sie die Aufzählung der menschenverachtenden Beweggründe verlängern würden; denn egal, ob ich einem deutschen Rentner oder einem Polizisten mit Migrationshintergrund den Schädel einschlage: Solche Gewalttaten wären immer menschenverachtend. Hier ergibt eine Differenzierung keinen Sinn. ({1}) Der Gesetzentwurf berührt das eigentliche Problem nicht. CDU, CSU, FDP und, wo sie mitregiert, leider auch die SPD unterlassen es nicht nur, das Richtige zu tun, sie tun oft auch noch das Falsche. Sie tragen dazu bei, dass rechte Gewalt ignoriert, verharmlost und verniedlicht wird. Ich habe zwei Wahlkreisbüros in Schleswig-Holstein, eines davon im schönen Eutin. Dieses Büro war in den vergangenen Jahren insgesamt neun Mal das Ziel rechts18254 radikaler Anschläge. Der politische Hintergrund liegt auf der Hand. Einer der ersten Anschläge fand statt, als dort unmittelbar danach der Runde Tisch gegen Faschismus tagen sollte. Für die Polizei war der politische Hintergrund aber erst in dem Moment ein Thema, als das BKA auf Veranlassung des Bundestagspräsidenten intervenierte. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an Herrn Lammert. Bei den Büros meiner Kollegen aus der Landtagsfraktion der Linken in Schleswig-Holstein, Ellen Streitbörger und Heinz-Werner Jezewski, stehen Bundestag und BKA nicht auf der Matte, wohl aber die Nazis mit ihren Attacken. Diese Anschläge werden von der Polizei wie jede andere Sachbeschädigung behandelt. Hier schauen die Behörden weg. Das Gegenteil wäre richtig. Wie lösen wir nun das Problem? Was den Antifaschismus angeht, gab es über lange Zeit einen breiten gesellschaftlichen Konsens, der auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Schwur von Buchenwald zurückging - ich zitiere -: Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. ({2}) Alle sollten sich hinter diesem Schwur versammeln. Was passiert aber in Wirklichkeit? In Sachsen werden - geduldet durch die SPD - diejenigen kriminalisiert und verfolgt, die sich in Dresden und anderswo den Nazis in den Weg stellen. Um nur einige zu nennen: Willi van Ooyen, Bodo Ramelow, Lothar König. In einem merkwürdigen Werbevideo versteigt sich der sächsische Innenminister Markus Ulbig mit Blick auf rechte Gewalttaten zu der Aussage - ich zitiere wieder -: „Antifaschismus ist nicht die richtige Antwort …“. ({3}) Nicht? Was denn dann? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn Sie etwas Sinnvolles gegen rechte Gewalt und zur Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements tun wollen, dann distanzieren Sie sich von dieser ungeheuerlichen Aussage Ihres Koalitionspartners. ({4}) Oder noch besser: Fordern Sie ihn auf, die Opfer des Faschismus für diesen Satz um Entschuldigung zu bitten. Auch die Bundesregierung könnte etwas tun. Nehmen Sie endlich diese beschämende Extremismusklausel zurück. ({5}) Hören Sie auf, die Menschen einzuschüchtern, auf deren bürgerschaftliches Engagement wir dringend angewiesen sind. Noch einmal zum Gesetzentwurf: Er ist gut gemeint, aber letztlich doch nicht gut gemacht. Solange der Verdacht besteht, dass V-Leute das Rückgrat der NPD bilden, und solange Gewalttaten der Nazis ignoriert oder verharmlost werden, muss ein Gesetz, das strengere Strafen vorsieht, ins Leere laufen, und es öffnet zugleich dem Missbrauch Tür und Tor. Die Linke lehnt das ab. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen für die FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lischka, die Ansicht, die Sie zum Tatbestand vorgetragen haben, wird von mir voll geteilt. Auch die Konsequenzen, die Sie fordern, sehe ich genauso wie Sie. Ich glaube, die bisherige Debatte hat gezeigt, dass wir insgesamt das Gefühl haben, dass es in Deutschland keine Situation geben darf, in der rechtsradikale Straftäter ihre Straftaten ohne Konsequenzen begehen können. Ich bin sehr überrascht, Herr Kollege Sharma, dass Sie den Eindruck erwecken, als ob die Polizei in irgendeinem Bundesland, egal wer dort Innenminister ist, die Strafverfolgung nicht in ordnungsgemäßer Weise durchführen würde. Ich selbst bin wahrscheinlich der Einzige hier, der praktisch sein gesamtes Arbeitsleben in der Justiz in entsprechenden Abteilungen tätig gewesen ist, auch in einer Staatsschutzabteilung. Von daher weiß ich, dass die Unterlagen zu diesen Straftaten immer in den entsprechenden Spezialabteilungen der Staatsanwaltschaften landen. Daher kennen diese ihre Leute. Das führt beispielsweise bei der Strafzumessung zu den entsprechenden und, wie ich finde, notwendigen Konsequenzen. Dazu bedarf es keiner Änderung des § 46 des Strafgesetzbuches, sondern das ist etwas, was immer Gegenstand der Rechtsprechung in unserem Land gewesen ist. Zu Recht berücksichtigt die Justiz, welche Beweggründe den Täter zu seiner Tat veranlasst haben. ({0}) Ich bin deshalb Ihnen, Herr Sharma, dankbar, dass Sie deutlich gemacht haben, welche Gefahren drohen, wenn wir einige wenige Dinge besonders hervorheben. Andere Taten, die übrigens auch von Rechtsradikalen bzw. von Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung begangen werden - Sie haben Beispiele angeführt -, sind in gleicher Weise verachtenswert und erfordern eine entsprechende strafrechtliche Konsequenz. Ich empfehle uns dringend, den Weg, den die SPD vorschlägt, nicht zu gehen. Der Kollege Heveling war da milder. Ich sage ganz klar und eindeutig: Wir sollten diesen Weg nicht gehen. Ich glaube, dass wir damit niemandem helfen, sondern ganz im Gegenteil sogar eher Schaden hervorrufen. Sie haben dafür Beispiele genannt, Herr Kollege Sharma. Ich denke, das spricht uns nicht frei, andere Gedanken, andere Überlegungen anzustellen, wie wir mit diesem Problem besser fertig werden. Meine Beobachtung aus der Tätigkeit beispielsweise in der Staatsschutzabteilung ist, dass die Verfahren zum Teil viel zu lange dauern. Viel besser als irgendeine Änderung am § 46 StGB ist nach meiner Auffassung eine klare, schnelle und eindeutige Antwort der Justiz auf ein Fehlverhalten. ({1}) Damit wird dem Täter deutlich, dass wir nicht bereit sind, so etwas zu akzeptieren. Je länger die Verfahren dauern, desto mehr hat der Täter Gelegenheit, sich Gründe zu überlegen, warum die Tat eigentlich gar nicht so schlimm war. Je länger die Taten zurückliegen, desto größer ist die Bereitschaft, vielleicht zu einem milderen Urteil zu kommen als unmittelbar nach der Tat, wenn zum Beispiel die Auswirkungen auf das Opfer für alle, die eine angemessene Strafe festzusetzen haben, deutlich sichtbar sind. Mein Plädoyer ist daher, nicht die Hände in den Schoß zu legen, aber diesen Weg, Änderung des § 46 StGB, nicht zu gehen. Die Begründung dafür haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf selbst gegeben. Sie haben auf die Frage, was als Konsequenz aus dieser Änderung zu erwarten ist, richtigerweise selbst geantwortet: Das kann man nicht abschätzen, weil die Justiz unabhängig ist. - Genauso ist es. Das heißt also, Sie wissen selbst, dass es keine wirkliche Änderung gibt. Deshalb meine Empfehlung: Das, was Sie vorschlagen, sollten wir nicht weiter verfolgen. Aber wir sollten uns gemeinsam Gedanken machen, dass wir unsere Hausaufgaben - das haben die Taten der NeonaziGruppe gezeigt -, die wir ohne Zweifel haben, schnellstmöglich erledigen. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jerzy Montag spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns alle hat Anfang November das Entsetzen gepackt, als uns bewusst wurde, dass es wirklich möglich und dass es Realität war, dass rechtsterroristische Täter in Deutschland länger als ein Jahrzehnt morden und rauben konnten. Ich sage Ihnen: Dieses Entsetzen hält jedenfalls bei mir - ich glaube, bei uns allen - weiterhin an. Vorletzte Woche war die Witwe eines der ermordeten Opfer aus München zu einem Gespräch bei mir im Wahlkreisbüro. Was mir diese Frau über die Behandlung durch die örtliche Polizei erzählt hat, war für mich ein Signal. Wir stehen heute und auch in der Zukunft in der Schuld der Hinterbliebenen und auch der Familienangehörigen. ({0}) Deswegen sind wir alle gefordert - das ist auch von vielen an dieser Stelle gesagt worden -, alles auf den Prüfstand zu stellen, um zu sehen, wo es Mängel und Lücken gibt und wo wir die Praxis und auch das Recht verbessern können. Deswegen sage ich in Richtung der Kolleginnen und Kollegen der SPD: Im Grundsatz ist es richtig, dass wir uns darüber Gedanken machen, ob wir im Strafgesetzbuch etwas ändern müssen. Aber - auch darüber wurde an anderer Stelle im gleichen Zusammenhang schon gesprochen - wir müssen uns bei der Abwehr des Rechtsterrorismus und der rechtsradikalen Gewalt, die es in Deutschland seit vielen Jahren gibt, vor Doppelstandards hüten. Wir als verantwortliche Politiker in einem Rechtsstaat müssen nicht irgendetwas, sondern das Richtige tun. ({1}) Da habe ich Bedenken, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, weil mich Ihr Vorschlag nicht überzeugt. Wenn überhaupt, dann setzt er am Ende einer Kette an. Sie sprechen in Ihrem Gesetzentwurf von 762 Fällen pro Jahr. Tatsächlich sind es viele Zehntausende. Die Kriminologen sprechen von über 100 000 inklusive der Dunkelziffer. Warum kommen diese Fälle bei der Justiz nicht an? Es gibt eine riesige Dunkelziffer. Das hängt damit zusammen, dass sich viele Opfer scheuen, Anzeige zu erstatten. ({2}) - Ja, das ist die zweite Stufe. Da müssen wir ansetzen: bei der Polizei. 2001 hat die Innenministerkonferenz der Polizei den Auftrag erteilt, dass in allen Fällen die politische Motivation festzustellen ist. Das betrifft alle Umstände der Tat, die politische Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft und sexuelle Orientierung. Alle diese Motive der Täter sind von der Polizei dingfest zu machen und als politisch motivierte Kriminalität festzuhalten - und dann werden, wie Sie schreiben, 762 Fälle in ganz Deutschland ausgewiesen. Da müssen wir ansetzen: bei der Schulung der Polizei und bei den Ermittlungen. Das ist wichtig. ({3}) - Ja, aber das sind nicht Ihre Vorschläge. ({4}) Die nächste Stufe liegt bei der Staatsanwaltschaft. Das ist sicherlich kein großes Problem, aber es ist eines. Ich bin der Meinung, dass bei hassmotivierten und vorurteilsbehafteten Straftaten immer ein öffentliches Inte18256 resse zu bejahen ist. Aber so etwas gibt es nicht in den RiStBV. Es gibt keine Anleitung für die Staatsanwaltschaften, das öffentliche Interesse ausnahmslos zu bejahen. Da müssen wir hinkommen. ({5}) Stattdessen gehen Sie an das Ende der Kette und wollen dem Richter etwas ins Gesetz schreiben, das schon im Gesetz steht. Sie selber haben in Ihrem Gesetzentwurf geschrieben, dass das, was Sie vorschlagen, eigentlich nicht nötig ist. Aber Sie wollen, dass es noch einmal schriftlich festgehalten wird. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Montag, Sie müssten schon zum Ende gekommen sein.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Wir müssen jetzt erst in der rechtspolitischen Debatte über Ihren Vorschlag diskutieren. Das werden wir im Rechtsausschuss tun. Lasst uns nach den richtigen Argumenten greifen und die richtigen Handlungen wählen, statt hier so etwas zu diskutieren. Auch ich muss Ihnen sagen: Ihr Gesetzentwurf ist leider Gottes ein Schaufensterantrag. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/8131 an die Ausschüsse vorge- schlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Haben Sie dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Erwin Rüddel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Altersbilder positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen - Drucksache 17/8345 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland - Altersbilder in der Gesellschaft und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 17/3815 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann Kues.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herbstgold ist der Titel eines wunderbaren Dokumentarfilms, den das Bundesfamilienministerium vor einiger Zeit unterstützt hat. Es geht darin um fünf alte Menschen, die sich für die Senioren-Leichtathletikweltmeisterschaften qualifizieren wollen. Der älteste Teilnehmer geht im Alter von 100 Jahren nach einer HüftOP am Rollator an den Start, und zwar als Diskuswerfer. Lebensfreude, Optimismus, Humor und Abenteuerlust, das alles strahlen die betagten Sportler aus. In einer Gesellschaft, in der jeder alt werden will, aber niemand alt sein will, ist es leider nicht selbstverständlich, im Alter das Herbstgold zu sehen. Zumeist denken wir als Erstes an Falten, Krankheit und Gebrechen, wenn vom Altsein die Rede ist. Der Sechste Altenbericht, über den wir heute diskutieren, räumt mit solchen Klischees auf. Er zeigt, dass die vorherrschenden Altersbilder in unserer Gesellschaft der Vielfalt der Lebensphase „Alter“ nicht gerecht werden und dass wir dem Potenzial älterer Menschen, dem Herbstgold, noch viel zu wenig Beachtung schenken. Die Sachverständigenkommission hat mit diesem Bericht wichtige Grundlagenarbeit für die Gesellschaftspolitik in Zeiten des demografischen Wandels geleistet. Ich bedanke mich bei allen Mitgliedern der Kommission, insbesondere bei ihrem Vorsitzenden, Herrn Professor Kruse. ({0}) Eine alternde Gesellschaft braucht facettenreiche Bilder vom Alter, Bilder, die zeigen, dass die steigende Zahl älterer Menschen in unserer Gesellschaft nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine große Chance ist. Wir brauchen ihre Erfahrung und ihre Tatkraft in den Familien, in der Arbeitswelt und im Ehrenamt. Das unterstreicht der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen. Diese Überlegungen fließen auch in die Demografiestrategie der Bundesregierung ein, die im Moment unter Federführung des Innenministeriums erarbeitet wird. Die Lebensphase „Alter“ spielt dabei in doppelter Hinsicht eine zentrale Rolle: zum einen als Lebensphase, in der Menschen auf Hilfe und Fürsorge angewiesen sind, zum anderen als Lebensphase, in der Menschen viel zu geben haben und sich engagieren wollen. Das stellt letztlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor neue Herausforderungen. Die Älteren sind dabei nicht das Problem, sondern die Lösung. Was für unsere Gesellschaft vielfach noch Zukunftsmusik ist, ist ja in der Familie längst gelebter Alltag. Alt und Jung sind füreinander da. Auf Oma und Opa ist in den meisten Fällen Verlass, sie nehmen sich gerne Zeit. Aus dem Deutschen Alterssurvey wissen wir: Für drei von vier Personen ist es wichtig oder sogar sehr wichtig, Großmutter oder Großvater zu sein. Ältere wollen die Enkelkinder auf ihrem Weg ins Leben begleiten. Sie unterstützen damit ihre eigenen, häufig berufstätigen Kinder. Wenn die Enkelin Windpocken hat oder das künftige Kinderzimmer des Enkels renoviert werden muss, dann funktioniert der Zusammenhalt in der Familie, und zwar egal ob man Tür an Tür wohnt oder Hunderte Kilometer voneinander entfernt lebt. Umgekehrt können die meisten alten Menschen auf ihre Angehörigen zählen, wenn sie pflegebedürftig werden. Genau das ist der familiäre Zusammenhalt zwischen den Generationen, den wir uns für unsere Gesellschaft generell nur wünschen können. ({1}) Menschen, die sich aufeinander verlassen können und die füreinander Verantwortung übernehmen. Mit der Familienpflegezeit, die seit dem 1. Januar 2012 die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege erleichtert, stützen wir Familie als Verantwortungsgemeinschaft. Entgegen allen Vermutungen und Vorhersagen ist es so, dass diese gesetzliche Regelung von vielen Betrieben angenommen wird. Insofern haben wir hier tatsächlich eine Lösung für einen erheblichen Teil der Bevölkerung hinbekommen. Wir tragen damit nicht nur der stetig steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen Rechnung, sondern mit diesem Konzept stärken wir auch den Zusammenhalt zwischen den Generationen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir der Vielfalt der Lebensphase Alter, so wie wir sie in den Familien längst erleben, auch in unserer Gesellschaft Raum geben müssen. Dazu soll das Europäische Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen dienen, das am 6. Februar mit einer offiziellen Auftaktveranstaltung beginnt. Wenn wir es schaffen, Strukturen hinzubekommen, die die Fähigkeiten und Stärken der älteren Menschen zur Geltung bringen, dann ist das ein Gewinn für die ganze Gesellschaft. Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Wir haben den neuen Bundesfreiwilligendienst in Deutschland sehr bewusst auch für Seniorinnen und Senioren geöffnet. Es ist eine absolute Erfolgsgeschichte, um das ganz deutlich zu sagen. ({2}) Dazu gab es anfangs eine sehr kritische Diskussion. Das begann damit, dass vermutet wurde, man würde überhaupt keine Freiwilligen bekommen. Die Menschen haben solche Einschätzungen Lügen gestraft. Wir haben Freiwillige. Die Zahl der Verträge steigt von Woche zu Woche. Wir haben jetzt eher das Problem, dass wir uns fragen müssen: Wie viel soll der Staat Jahr für Jahr fördern? Wie geht er damit um? Rund 28 000 Verträge sind seit Juli geschlossen worden, darunter auch viele mit älteren Menschen. Dabei sind einige über 75 Jahre. Die älteste Teilnehmerin, die ich kenne, ist 83 und kommt zufällig aus meinem Wahlkreis. ({3}) Sie hat gesagt: Ich helfe bei der Tafel mit; wenn ich den ganzen Tag zu Hause sitze, bekomme ich nur einen steifen Rücken. - Das sind positive Beispiele; daran sollten wir weiter arbeiten. Auch der große Erfolg der Mehrgenerationenhäuser zeigt letztlich, welche Dynamik passende Engagementangebote für die ältere Generation entfalten können. Wir haben deswegen das Folgeprogramm „Mehrgenerationenhäuser II“ aufgelegt, das zum Jahresanfang gestartet ist. Auch das sind attraktive Angebote für Menschen, die Zeit haben, um Verantwortung zu übernehmen. Es sind gerade die jungen Alten, die nicht daran denken, sich im Ruhestand zur Ruhe zu setzen. Wir hoffen, dass diese Strukturen sich weiterentwickeln, auch über die Angebote und die Anreize des Bundes hinaus. Im Übrigen gilt auch heute noch, was der königlich preußische Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland schon vor 200 Jahren gesagt hat: Alter ist nichts für Feiglinge. - Gerade deshalb braucht eine Gesellschaft des langen Lebens Altersbilder, die deutlich machen: Alter ist etwas für Leute, die ihren Schatz an Erfahrungen, Wissen und Fähigkeiten mit anderen teilen wollen. Ich bin jedenfalls fest davon überzeugt: Kaum etwas hält so jung wie das Gefühl, gebraucht zu werden. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Crone von der SPDFraktion. ({0})

Petra Crone (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Meine Herren und Damen! Tina Turner rockt mit 72 Jahren auf den Brettern dieser Welt. Helmut Schmidt hält mit fast 93 Jahren eine ganz große historische europäische Rede. ({0}) Einige Ältere sollen ja auch hier im Bundestag sitzen. Viele ältere Menschen engagieren sich im kulturellen, sozialen und sportlichen Bereich. Andere wiederum sind schon mit 60 oder Mitte 60 gebrechlich, ziehen sich ins Private zurück und sind einsam. Alte Menschen sind eben nicht alle gleich. Sie haben unterschiedliche Lebensgeschichten, unterschiedliche Lebensmuster und sind in unterschiedlichen Lebenslagen. Allein schon aus diesem Grund ist es wichtig, keine Stereotypen über das Alter zu verbreiten. ({1}) Schon Kleinkinder entwickeln bestimmte Haltungen zu älteren Menschen. Daran ist natürlich der Fernsehkonsum mit schuld. Die Werbung strotzt nur so von Klischees. Häufig wird der smarte, weltgewandte ältere Herr für die Werbung für teure Uhren oder noch teurere Autos herangezogen. Frauen im höheren Alter werden bevorzugt in die Hausfrauenrolle gedrängt und gern für die Werbung für magenaufräumende Mittelchen gewählt. ({2}) Unbewusst werden solche Bilder in die Gesellschaft getragen. Die Wissenschaftler, die am Sechsten Altenbericht zur Lage der älteren Generation gearbeitet haben, beschreiben uns eine sehr große Vielfalt, die es nun wirklich nicht verdient, über einen Kamm geschoren zu werden, ({3}) eine Vielfalt, wie es sie auch in allen anderen Bevölkerungsgruppen gibt - mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Leben, Alltag, Familie und Freizeitgestaltung. Leider wird viel zu oft davon gesprochen, was Ältere nicht mehr können und welche Macken sie haben. Diese Diskriminierung muss endlich aufhören. Stattdessen müssen wir viel stärker die Potenziale und Stärken hervorheben. Der Sechste Altenbericht sollte uns sensibilisieren, auf die Bilder, die wir und die gesamte Gesellschaft vom Alter haben, achtzugeben. Das ist geschehen; denn wir diskutieren gerade darüber - in Fachkreisen. Mir persönlich fehlt dabei aber die Handlungsempfehlung an uns Politiker, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen wir für größeres Verständnis zwischen den Generationen sorgen können. Es gibt viele Punkte, die besonders von schlechten Altersbildern besetzt sind und an denen wir ansetzen müssen. Ich denke dabei an den Umgang vieler Banken und Versicherungen mit Älteren, und ich denke an die gesundheitliche Versorgung oder an die Rentendiskussion. Noch gelingt es uns nicht, ein differenziertes Bild vom Alter zu schaffen. Die Ansätze, die im Fünften wie auch im Sechsten Altenbericht genannt werden - Prävention stärken, lebensbegleitendes Lernen fördern und ehrenamtliches Engagement angemessen wertschätzen -, sind wichtig, so wichtig, dass wir für alle Bereiche flexible Angebote für die älteren Menschen in unserem Land bereithalten müssen. Hierbei hat die Bundesregierung noch Defizite, Herr Staatssekretär. Sie kürzt und streicht und verlagert permanent von staatlicher Fürsorge auf - auch aufgezwungene - Freiwilligkeit. ({4}) Das ist das Gegenteil von Flexibilität und Passgenauigkeit. Wir erwarten wirklich nicht, dass Ältere an die Hand genommen werden - das brauchen und wollen sie auch gar nicht -, aber eine Stütze und Begleitung und Anregung bei all der Vielfalt der Angebote sollte durchaus staatlicher Auftrag sein. Bereits in der Aussprache zu unserem Antrag „Potenziale des Alters und des Alterns stärken“ aus dem Jahr 2010 habe ich Frau Ministerin Schröder aufgefordert, die Anregungen aus der Wissenschaft aus dem Sechsten Altenbericht in konkrete politische Programmatik umzusetzen. Leider ist bis heute überhaupt nichts geschehen, und darum finde ich es absolut gut, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, dass Sie der SPD-Bundestagsfraktion den Rücken stärken und heute mit Ihrem Antrag auch einen Versuch in diese Richtung starten. Sie haben sogar den Titel fast wörtlich übernommen, der sich allerdings mehr auf den Fünften als auf den heute zu debattierenden Sechsten Altenbericht bezieht. Sie wollen unter anderem die Kommunen für eine gute Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement in die Pflicht nehmen. Das ist nicht falsch. Leider sind die wenigsten finanziell dazu in der Lage, eine Infrastruktur zu schaffen, die den lokalen Gegebenheiten entspricht. Meine nächste kritische Anmerkung. Der von Ihnen beschriebene Eintritt in die Rente ist nicht wirklich flexibel. Zu wenige Menschen sind in der Lage, überhaupt bis zur Regelaltersgrenze zu arbeiten, und darüber müssen wir noch sprechen. ({5}) Ihre Lösung ist aber, den Unternehmen die Investition in Weiterbildung für Menschen ab 40 als Hausaufgabe zu verpassen und jeden individuell für seine Gesundheit in die Verantwortung zu nehmen. Wo bleiben die Anreize? Ja, ja, Wachstum soll sichergestellt werden. Wie entlarvend! Die Politik solle sich darum bemühen, die Potenziale und Ressourcen der zweiten Lebenshälfte zu aktivieren - so Ihr Antrag. Vielen Dank für dieses anschauliche Beispiel der Nutzung demografischer Veränderungen für Ihre Wirtschaftspolitik. Nicht in erster Linie um Menschen und ihr positives Bild voneinander geht es Ihnen, sondern um den volkswirtschaftlichen Ertrag, der daraus gezogen werden kann. Eindeutig die Handschrift der FDP! Weiter fordern Sie die Bundesregierung auf, Barrierefreiheit zu schaffen und gleichzeitig Assistenz- und Hausnotrufsysteme zu fördern. Skeptisch sind Sie aber gegenüber dem Programm „Altersgerecht umbauen“. Das ist doch viel wichtiger. Was nutzt mir denn der beste Hausnotruf, wenn ich aufgrund nicht zu überwindender Treppen nur noch selten Tageslicht zu sehen bekomme? Das ist keine weitsichtige Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie sprechen von Prävention. Gut, das tun wir auch, das tut die SPD-Bundestagsfraktion übrigens schon seit Jahren. Sie fordern außerdem ganz richtig, den Pflegebedürftigkeitsbegriff zu modernisieren und die Pflegeausbildungen zu reformieren. Diese Reform ist seit Monaten überfällig. Das Jahr der Pflege ist verstrichen, und nun muss sich die Bundesregierung gefallen lassen, von ihren eigenen Koalitionsfraktionen zum Handeln ermahnt zu werden. Die Modernisierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs soll angeblich schon gar nicht mehr in dieser Legislaturperiode kommen. Hier stimmt in der Zusammenarbeit wirklich überhaupt nichts mehr. Ich bin skeptisch, ob Sie mit Ihren Appellen und Prüfaufträgen die Ministerin aus ihrem Winterschlaf holen können. Wünschenswert wäre es. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt von der FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der internationalen Seniorenkonferenz des Familienministeriums hat kürzlich die amerikanische Psychologin Becca Levy über eine Studie berichtet, in der sie Männer und Frauen befragte, welche Altersbilder sie mit Älteren verbinden. Häufig genannt wurden langsames Gehen, Senilsein, Demenz, körperliche Beeinträchtigungen. Dann untersuchte die Professorin der Yale-Universität den Effekt negativer Altersbilder. Ich zitiere Frau Levy: Wenn wir Menschen mit negativen Stereotypen konfrontiert haben, konnten wir sehen, dass sich ältere Teilnehmer daran anpassten: Gedächtnisleistungen nahmen ab, sie neigten dazu, langsamer zu gehen, und reagierten schneller mit Herzbeschwerden auf Stress. Wenn wir die Leute aber positiven Bildern aussetzten, konnten wir auch die umgekehrte Wirkung beobachten … Am beeindruckendsten ist, dass ein positives Bild vom Altern mit durchschnittlich sieben Jahren mehr Lebenszeit verbunden ist. Mit dem Sechsten Altenbericht haben die Verfasser wichtige Weichen für einen Wandel bei uns in Deutschland gestellt. Ich möchte Herrn Professor Kruse und der Kommission für ihre zum Teil langjährige Arbeit und ihre wichtigen Ergebnisse danken. ({0}) Ihre Erkenntnisse haben wir in unserem Antrag aufgegriffen. Die Altersbilder von heute sind anders als die von gestern. Nie zuvor gab es so aktive Ältere, die weiterhin aktiv sein wollen, obwohl sie ein Alter erreicht haben, in dem sie in den wohlverdienten Ruhestand gehen können. In den Fällen, in denen starre Altersgrenzen Aktivsein blockieren, wird die Koalition Altersgrenzen überprüfen. Ich bin sicher, dass wir auf viele verzichten können. Die EU-Kommission hat 2012 zum Europäischen Jahr des aktiven Alterns erklärt. Dies ist zu begrüßen. Die Koalition hat die Relevanz des Alters früh erkannt und bereits im Koalitionsvertrag eine Demografiestrategie festgeschrieben. Den Wandel in den Köpfen kann die Politik allein allerdings nicht herbeiführen. Dies ist eine Aufgabe, an der alle gemeinsam arbeiten müssen. Ich nenne nur das Stichwort „Generationendialog“. Wir müssen miteinander im Gespräch bleiben, Junge wie Alte. Altersbilder haben auch Einfluss darauf, was jüngere Menschen für ihr eigenes Alter erwarten und was ältere Menschen sich zutrauen und erreichen wollen. Auch Städte, Länder und Bund müssen eng zusammenarbeiten, um gemeinsam eine Infrastruktur für eine altersgerechte Gesellschaft zu schaffen. In einer Gesellschaft des langen Lebens stecken enorme Kräfte. Raum für neue Altersbilder bietet bürgerschaftliches Engagement. Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst, der hier schon angesprochen wurde und der auch für Ältere offensteht, hat die Koalition schon einen wichtigen Beitrag geleistet. ({1}) Wir brauchen aber auch ein neues Bild vom alten Menschen in den Medien. Das Bild von der Großmutter im Bilderbuch von früher passt nicht mehr. Auch in der Werbung hat sich herumgesprochen, dass sich das Interesse Älterer nicht auf Haftpulver für dritte Zähne beschränkt. Es hat sich auch herumgesprochen, dass Ältere eine mächtige Käuferschicht darstellen. Medien haben eine gewaltige Kraft, die Einstellung der Gesellschaft zu beeinflussen. Die Prämierung guter Beispiele, die die Vielfalt der Lebensformen widerspiegeln, ist eine von vielen Möglichkeiten, ein neues Bild zu forcieren. Wir brauchen auch einen Wandel im Gesundheitswesen. In einer Zeit des langen Lebens müssen wir erkennen, dass nicht alle Krankheiten eine Alterserscheinung sind. Ziel unseres Antrages ist es, verstärkt die Potenziale der zweiten Lebenshälfte zu aktivieren - und zwar auch für den Bereich Bildung und Qualifizierung. Lebenslanges Lernen ist selbstverständlich geworden. Ich appelliere an die Unternehmen, in den Erhalt der Arbeitsfähigkeit ihrer älteren Beschäftigten zu investieren. ({2}) Das Recht auf Weiterbildung darf nicht mit 40 Jahren aufhören. Zur Generationengerechtigkeit gehört, dass die Lebenszeit nicht mehr starr in drei Phasen, Jugend und Ausbildung, Erwachsenenalter und Erwerbstätigkeit und schließlich Ruhestand, gegliedert wird. Mit der steigenden Zahl der Älteren wird wahrscheinlich auch die Zahl der Menschen mit gesundheitlicher Einschränkung deutlich steigen. Wir alle wissen, dass der Begriff Pflegebedürftigkeit neu definiert werden muss. Ich bin froh darüber, dass unser Gesundheitsminister Bahr diese wichtige Herausforderung jetzt konkret annimmt. ({3}) Ein weiterer Punkt unseres Antrags ist die Barrierefreiheit. Wir müssen uns fragen, wie eine Gesellschaft gestaltet sein muss, damit alle Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt leben können. Barrierefreiheit ist kein Luxus, sondern muss selbstverständlich sein - und zwar in allen Lebensbereichen und nicht nur in den eigenen vier Wänden. Ich bin dafür, dass das bewährte KfWProgramm „Wohnen im Alter“ fortgesetzt wird und moderne Technologien wie zum Beispiel das Hausnotrufsystem und andere Assistenzsysteme stärker vorangetrieben werden. Barrierefreiheit muss für den Besuch des Rathauses genauso selbstverständlich sein wie in der Städteplanung, im Straßenverkehr wie im Internet, in der Forschung und in der Ausbildung, in der differenzierte Altersbilder zu vermitteln sind, die Krankheit und Alter entkoppeln. Ich bin sicher: Wir sind auf einem guten Weg zu einer Gesellschaft mit neuen Altersbildern. Ganz herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Heidrun Dittrich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Sechsten Altenbericht geht es um Altersbilder. Mit Altersbildern werden Vorstellungen vom Alter konstruiert. Warum ist das eigentlich nötig? Weil die Menschen nun länger arbeiten müssen und erst ab 67 in Rente gehen können, und das muss schöngeredet werden. Der rüstige 75-jährige, vitale, über ausreichend Geld verfügende Rentner soll zum Vorbild werden. Er ist der Prototyp des aktiven Alterns. Alle, die von diesem Bild abweichen, werden nun mit einem negativen Altersbild belegt. Wer, bitte schön, möchte nicht positiv dargestellt werden? Damit wird aber die Erfahrung der Beschäftigten ausgeklammert. Zum 1. Januar dieses Jahres trat die Rente ab 67 in Kraft. Jetzt geht das Gespenst der Altersarmut wieder um. Es wird nicht gesagt, dass jedes Jahr der Verlängerung des Renteneintritts auch eine Rentenkürzung bedeutet. Frauen, Migranten und Menschen mit Behinderung sind in diesem Altenbericht von vornherein ausgeklammert. Das sind aber gerade diejenigen, die im Erwerbsleben benachteiligt werden und nur eine Grundsicherung aufbauen können. Für sie besteht längst der Zwang, nach Erreichen des Rentenalters ihre Rente durch Zuverdienst aufzubessern, nach dem Motto: Alte Frau pflegt noch älteren Mann. Diesen Zwang zur Erwerbstätigkeit über das Rentenalter hinaus möchte die Bundesregierung mit diesem Altenbericht für alle als positiv verkaufen. Gesellschaftliche Teilhabe soll nur durch Arbeit möglich sein. Genau damit, mit dieser Verarmung im Alter, diskriminiert die Bundesregierung die ältere Generation. Dagegen setzt die Linke das Konzept der solidarischen Mindestrente: Kein Mensch darf im Alter weniger als 900 Euro Rente beziehen. ({0}) Bereits im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und FDP festgeschrieben, dass sie die Altersgrenze überprüfen wollen. Auch die SPD und die Grünen versuchen, mit dem Freiwilligendienst aller Generationen bis 70 Jahre über die bisherige Altersgrenze hinauszugehen. In tarifvertraglichen Schutzvorschriften werden den älteren Menschen Leistungsminderungen unterstellt. Das ist negativ, wie wir gerade gehört haben. Diese Leistungsminderung ist jedoch Realität. Ist die Vorstellung von einer Erzieherin im Kindergarten realistisch, die mit 67 Jahren im Sandkasten noch viel Geduld aufbringt? Nach einer Studie von Verdi glauben 70 Prozent der Erzieherinnen nicht, dass sie gesund ins Rentenalter kommen. Arbeit macht auch krank: durch Hetze, zu wenig Personal und Lärm. Es ist eine Forderung der Beschäftigten selbst, gesund durchs Erwerbsleben zu kommen. Den Gewerkschaften und den Beschäftigten im Altenbericht ein negatives Altersbild zu unterstellen, damit sie keine Schutzvorschriften einfordern, geht an der Realität vorbei. Viele erreichen doch ihr Rentenalter gar nicht erst. Fast ein Drittel der Männer des Geburtsjahrgangs 1945, genauer: 29 Prozent, und 19 Prozent der Frauen dieses Jahrgangs sind schon gestorben. Im Altenbericht wird der Vorschlag gemacht, das Rentenalter nicht mehr festzulegen - also auch nicht auf 69 Jahre oder 70 Jahre; lesen Sie es nach! -, sondern es an die individuelle Leistungsfähigkeit zu knüpfen. Das bedeutet, die Berechtigung zum Renteneintritt wird vom Arzt festgestellt. Sie muss aber vom Gesetzgeber geregelt werden und darf nicht in das Ermessen eines einzelnen Arztes gestellt werden. Malochen bis zum Umfallen lehnt die Linke ab. ({1}) Der demografische Wandel hin zu einer älter werdenden Gesellschaft muss keinen Sozialabbau oder Rentenklau erzwingen. Das Älterwerden ist ein historischer Fortschritt. Außerdem hat in den letzten 50 Jahren durch technische Neuerungen ein Produktivitätsfortschritt stattgefunden. Es wird mehr produziert in kürzerer Zeit und mit weniger Menschen. Also wäre auch mehr zu verteilen. Arbeitszeitverkürzung hilft bei Arbeitslosigkeit, und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Vollzeit sichert die Einnahmen der Rentenkasse. Das alles verschweigt der Sechste Altenbericht. Stattdessen haben die Sachverständigen der Bundesregierung Argumente geliefert, um mit lebenslänglichem Arbeiten ein positives Altersbild zu verknüpfen. Schließlich sollen die Ansprüche auf Rente aufgegeben werden. Für Hänschen soll es normal sein, wenn Opa Hans noch mit 80 Jahren arbeitet. Es soll ein Schatz gehoben werden, indem die Potenziale des Alters genutzt werden. Aber es geht nicht um ein individuelles und selbstbestimmtes Ruhestandsalter, sondern um das Arbeiten über 67 Jahre hinaus. Das lehnt die Linke ab und bleibt bei der Forderung: Weg mit der Rente erst ab 67! Es ist positiv, mit 60 in Rente gehen zu können. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In einem Bericht der Welt zur aktuellen Studie der Gesellschaft für Konsumforschung wird Deutschland als Seniorenrepublik bezeichnet, weil ein Viertel der Haushalte der Generation 60 plus angehören. In einem Leserkommentar war dort zu finden: Die Studie macht Angst. Die Alten sind auf dem Vormarsch, und die Jüngeren haben immer schlechtere Perspektiven. Das ist Sprengstoff pur für eine Gesellschaft. Dies zeigt eindrucksvoll, was viele Menschen in diesem Lande vom Alter und von den Alten denken. Wir reden immer noch vom Pflegefall. Wir reden von der Last der älteren Langzeitarbeitslosen in den Statistiken der Arbeitsagentur. Wir reden einseitig von den Kosten durch die älter werdende Gesellschaft. Wir reden von Hilfebedürftigkeit. Auch dank der sehr guten Altenberichte der Altenberichtskommission wissen wir seit Jahren, dass es einer aktiven Altenpolitik bedarf, um den gerade geschilderten, schlichtweg diskriminierenden und auch vorurteilsbehafteten Bildern vom Alter entgegenwirken zu können. Eine solche Politik muss quer durch alle Ministerien gehen. Vor allem aber ist das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefragt. Doch die Leitung dieses Hauses ist schlichtweg ein Desaster. ({0}) Die altenpolitische Bilanz von Frau Ministerin Schröder ist extrem schwach. Die Seniorenthematik verkommt zu einem lästigen Anhängsel ihres Ministeriums. Ein paar Veranstaltungen zu diesem Thema machen noch keine Altenpolitik. Das Motto im Ministerium lautet: Wer nichts macht, macht nichts falsch. Damit mogelt sich die Ministerin durch ihr Amt. ({1}) In einer Gesellschaft, in der die Menschen erfreulicherweise immer älter werden, brauchen wir eine abgestimmte Politik, eine Politik, die die gesamte Spannweite des Alterns abdeckt: vom aktiven Alter bis zum Unterstützungsbedarf des Alters. ({2}) Wir brauchen eine demografiesensible Generationenpolitik, an der alle mitwirken und bei der wir inklusiv denken, über alle Altersgrenzen hinweg. Es wäre die Aufgabe von Frau Schröder, sich für eine solche Politik einzusetzen. Doch ihr Handeln, wenn man es denn so nennen will, erschöpft sich in lustlosen Appellen und freiwilligen Selbstverpflichtungen. Das entspricht dem Problemlösungsverständnis der leider heute nicht anwesenden Ministerin. ({3}) Gestaltungsfreudige Politik für Menschen sieht unserer Meinung nach ganz anders aus. Es gibt großen Handlungsbedarf im Bereich der Altenpolitik und der Altersbilder. Bei vielen Dingen gibt es doch kein Erkenntnisproblem. Wir kennen doch altersdiskriminierende Regelungen, etwa im Ehrenamt. Wir müssen solche Regelungen abschaffen und nicht zum zigsten Male überprüfen, wie es der Antrag der Union und der FDP fordert. ({4}) Es gilt, die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen: beim Wohnen, in der Arbeitswelt, in der Zivilgesellschaft. Leben über alle Generationen hinweg zu gestalten, das ist doch unsere Aufgabe. Nicht die Alten sind das Problem, sondern wie über sie geredet wird und welche politische Ignoranz ihnen auch im zuständigen Ministerium entgegengebracht wird. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Generation, unsere Gesellschaft wird immer älter. ({0}) Aber - und das sagt uns der Sechste Altenbericht - wir hatten nie eine Generation, die im Alter so fit, so gesund und auch so vermögend ist - trotz aller Altersarmut, die nicht verschwiegen werden darf -, wie die jetzt lebende Altersgeneration. Diese Altersgeneration, verglichen mit der Generation vor 50, 60 Jahren, hat eine ganz neue Lebensphase dazugewonnen, eine Lebensphase, in der sie tatsächlich in der Lage ist, mitzuwirken. Dies hat die Bundesregierung zweifellos erkannt und handelt auch danach. Ich weise die entsprechenden Vorwürfe als zu global und völlig undifferenziert zurück. ({1}) Dies hat nicht nur die Bundesregierung erkannt, sondern auch die Europäische Union, die das Jahr 2012 zum Jahr des aktiven Alterns und der Solidarität zwischen den Generationen ausgerufen hat. Das will heißen, dass es darauf ankommt, dass wir den Alten - ihnen sei der Ruhestand gegönnt, und ihnen seien auch ihre Aktivität und ihre Vitalität gegönnt -, die bereit sind, ihre Lebenserfahrung mit einzubringen, die Möglichkeit geben, in der Gesellschaft und der Wirtschaft teilzuhaben, sodass sie nicht nur - das sage ich ganz bewusst - auf den Ruhestand angewiesen sind. Denn viele der älteren Menschen wollen ja noch mitarbeiten. Wir müssen ihnen diese Mitarbeit auch ermöglichen. ({2}) Wir kennen die Leistungsfähigkeit älterer Menschen, deren Lebensbogen weit hinausreicht. Wir kennen Staatsmänner, wir kennen führende Männer aus der Wirtschaft, aus der Literatur und aus der Kunst. ({3}) - Frauen und Männer. Ich bedanke mich für den Hinweis. Ich meine, dass wir das noch zu wenig beachten. Wir sehen das immer noch als Ausnahme an, wo doch in Wirklichkeit viele ältere Menschen in der Lage sind, mitzuarbeiten und eine solche Leistung bis ins hohe Alter hinein zu erbringen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Geis, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert von den Linken?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Geis, Sie haben das Europäische Jahr für aktives Altern angesprochen. Sagen Sie mir doch bitte: Wo bleibt neben dem Appell, den Sie gerade sehr vehement vorgetragen haben, das Programm der Regierung, um Menschen im hohen Alter die Möglichkeit zu verschaffen, teilzuhaben und ihre Erfahrungen einzubringen, zum Beispiel im Ehrenamt? Es kann nicht sein, dass sie das Geld sozusagen noch selber mitbringen müssen. Das, was sie leisten, sollen sie wenigstens nicht auch noch bezahlen müssen. Wenn ich eine zweite Frage gleich anschließen darf: Wo bleibt die Initiative der Bundesregierung, auf europäischer Ebene - wir reden ja vom Europäischen Jahr 2012 - die allgemeinverbindliche Antidiskriminierungsrichtlinie zu unterstützen, die endlich auch die Diskriminierung im Alter unter Strafe stellt?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich jetzt nicht verstanden. Wenn Sie das bitte wiederholen könnten?

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Auf europäischer Ebene wird immer noch darüber diskutiert, dass wir eine umfassende Antidiskriminierungsrichtlinie brauchen. Die Bundesregierung ist momentan noch dagegen. Wo bleibt die Initiative vonseiten Ihrer Regierung, sich für diese umfassende Antidiskriminierungsrichtlinie einzusetzen und sie dann in Deutschland umzusetzen? Das wäre eine richtige Hilfe für alte Menschen. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zur ersten Frage: Wir haben ja diese großartige Initiative der Mitgestaltung - sie ist vorhin schon vom Parlamentarischen Staatssekretär erwähnt worden - im Rahmen der Initiative „Freiwilligendienste aller Generationen“. Wir stellen fest, dass nicht nur junge Leute, sondern auch Menschen mittleren Alters sowie ältere Menschen - also Menschen über 65 - bereit sind, hier ihren Beitrag zu leisten. Was wir fürs Ehrenamt getan haben, das ist nun wirklich nicht wenig. Das finden Sie in anderen Ländern längst nicht in dem Maße, wie wir es hier in Deutschland haben. Zur Frage der Antidiskriminierung: Wenn man im Strafrecht eine neue Norm schaffen will, dann muss man einen konkreten Straftatbestand benennen und ihn zum Ausdruck bringen können. Ich glaube nicht, dass wir über die bereits vorhandenen Tatbestände hinaus noch einen weiteren Straftatbestand normieren können. ({0}) - Haben Sie eine Frage? ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Geis beantwortet doch gerade eine Frage. - Bitte beenden Sie Ihre Antwort, Herr Kollege Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage habe ich schon beantwortet.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Gut, dann hat der Kollege Beck eine Frage. Möchten Sie die Frage zulassen?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich wollte an die Frage des Kollegen Seifert anknüpfen. Es geht übrigens nicht zwingend um eine strafrechtliche Antidiskriminierungsrichtlinie. Bei der Europäischen Kommission gibt es seit längerem einen Entwurf, der von Deutschland bislang blockiert wird, in dem es um die Diskriminierung aufgrund des Alters geht. Dieser Entwurf sieht vor, dass im Zivilrecht der Diskriminierungsschutz aufgrund des Alters ausgeweitet wird auf das Antidiskriminierungsniveau, das wir bei anderen Kriterien in den Richtlinien bereits haben, was zum Beispiel Rasse, ethnische Herkunft und Geschlecht anbelangt. Es soll einen einheitlichen Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht geben, beispielsweise beim Abschluss von Kaufverträgen, Versicherungen und dergleichen. Teilen Sie unsere Auffassung, dass es gut wäre, wenn die Bundesregierung ihre blockierende Position hierzu überdenkt? Dann würde die Richtlinie auch zustande kommen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man muss bei Antidiskriminierungsformulierungen im BGB sehr vorsichtig sein, weil man hier zu einer wirklichen Interessenabwägung kommen muss. Ich glaube, dass bei dem Antidiskriminierungsgesetz, das wir haben, unter Umständen nicht alle Interessen gut abgewogen werden können. Da gibt es ganz tückische gegenteilige Beispiele. Um aber Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, die älteren Menschen mit einem rechtlichen Antidiskriminierungsschutz zu versehen. Das ist nicht notwendig, weil es ältere Menschen gibt, die bereit sind, einzugreifen und die Zukunft mitzugestalten. Ich sehe da keine Notwendigkeit für eine Antidiskriminierungsregelung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich fortfahren. Welches sind nun die Altersbilder? Worauf kommt es dabei an? Welche Vorstellungen haben wir? Ich glaube, eine Gesellschaft braucht die stille Kraft des Ordnens, des Festhaltens und des Fortführens. Das ist Sache der älteren Generation. Die jüngeren Menschen sind darauf aus, im Bewusstsein ihrer Stärke ihren Beitrag zu leisten, und sie meinen oft genug, das Leben liege ihnen zu Füßen. Das ist auch ein richtiges Verständnis. Wir brauchen die Tatkraft und die Innovationskraft der jungen Menschen, insbesondere eine Gesellschaft wie die unsere, die gezeichnet ist von Wirtschaft und Industrie. In der Öffentlichkeit nennt man unsere Gesellschaft ja auch Wirtschafts- und Industriegesellschaft. Da brauchen wir die Innovationskraft und die Kreativität junger Leute. Wir brauchen aber auch das Verständnis der Älteren für den Fortschritt der Gesellschaft. Wir brauchen die Älteren, die um die Grenzen wissen, die sie selber schon erlebt haben, die um die Misshelligkeiten und das Leiden wissen, das auf die Menschen zukommt. Wir brauchen die Menschen, die bereit sind, trotz alledem mit großer Tatkraft, mit einem starken Realitätssinn und mit einem Mut, der nicht den Charakter der Kühnheit hat, mit dem Mut der Entschlossenheit zusammen mit den jungen Menschen ans Werk zu gehen, um die Zukunft zu gestalten. ({0}) Wir dürfen aber nicht übersehen, dass wir natürlich auch Alte haben, die vor dem Altwerden kapitulieren, die sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen, die menschenscheu und oft sehr eigensinnig werden, die an Besitz festhalten, auch wenn er noch so gering ist, und sich abkapseln. Diesen Menschen müssen wir entgegenkommen. Da braucht es eine gute Nachbarschaft, da braucht es gute Institutionen wie Kirchen, da braucht es kommunale Gebietskörperschaften, die sich da viel mehr einfallen lassen müssen, als es derzeit der Fall ist. Es braucht aber insbesondere die Familien. Es ist gut, wenn es möglich ist, dass die Familien ihre Eltern zu sich in die Wohnung nehmen. Aber wir haben viel zu kleine Wohnungen. Die Enge solcher Wohnungen kann dann bedrückend werden. Deswegen müssen wir überlegen, ob wir die Eigenheimzulage, die wir 2005 aufgegeben haben, wieder einführen. Ich meine, es ist notwendig, dass wir uns darauf besinnen, dass die Familien einen ordentlichen Wohnraum brauchen. Das muss der Staat ermöglichen; er kann es ermöglichen, beispielsweise durch die Einführung einer Eigenheimzulage. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zur letzten Phase, der Phase, in der die Menschen krank werden, in der sie rundherum auf Unterstützung und Pflege angewiesen sind. Hier kommt es entscheidend darauf an, dass in der Gesellschaft so etwas wie Güte entsteht - nicht zu verwechseln mit Gutmütigkeit -, vor allen Dingen im Umfeld dieser Menschen, die ganz und gar auf fremde Hilfe angewiesen sind, eine Güte, die Kräfte mobilisieren kann, die von den Betroffenen selbst ausstrahlen kann, aber auch von den Kräften, die die Betroffenen umgeben, die sich um sie sorgen und ihnen helfen, die schwierige Situation zu meistern. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Herausforderungen gerecht zu werden, dann versäumen wir eine wichtige Möglichkeit, die unter Umständen für unsere Kultur mit entscheidend ist. ({1}) Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8345 und 17/3815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Stefan Schwartze, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ erhalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hände weg von der Initiative „Jugend stärken“ - Drucksachen 17/6103, 17/6393, 17/8329 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Tauber Florian Bernschneider Ulrich Schneider Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Peter Tauber von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({1})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat steht jetzt eine Debatte über Jugendförderprogramme auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages; die Opposition fordert deren Erhalt. Nun könnte man sagen: Eigentlich ist die Debatte an dieser Stelle schon beendet; denn die Programme, die im letzten Jahr ausgelaufen sind, werden von der christlich-liberalen Koalition fortgeschrieben und mit 80 Millionen Euro finanziert. ({0}) Ich will nicht so vermessen sein, zu sagen, dass das zum Ritual gehört: Die Opposition muss schimpfen und fordern, dass etwas, was gut ist, fortgesetzt wird. Die Regierung setzt das dann fort. Die Opposition meckert noch ein bisschen, weil es nicht ganz so ist, wie sie es sich wünscht. Am Ende sind aber doch alle zufrieden, weil das, was sich bewährt hat, fortgesetzt wird. - Wenn es so ist, könnten wir uns eigentlich die Debatte sparen. Ich erlaube mir daher, den Blick etwas weiter schweifen zu lassen und über das Thema zu sprechen, worunter das, was Sie beantragen, zu subsumieren ist, nämlich eine eigenständige Kinder- und Jugendpolitik; denn hinsichtlich dessen, was wir darunter verstehen und was Sie darunter verstehen, gibt es bestimmt einige Unterschiede. Über Kinderrechte haben wir heute schon diskutiert: über die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention, über das Beschwerderechtsverfahren, das von Deutschland mit auf den Weg gebracht wurde, auch über die Änderung des Aufenthaltsgesetzes, um die Integration gerade junger Menschen zu erleichtern, und über die Frage, wie mit Flüchtlingskindern umgegangen wird. Sie sagen, hier gebe es noch Regelungsbedarf. Ich weiß, dass Flüchtlingsorganisationen das Handeln einzelner Landesregierungen explizit loben; auch die hessische Landesregierung wird für ihren Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen gelobt. Im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendpolitik sprechen wir aber auch über die jungen Menschen in Deutschland. Wir sagen ganz selbstbewusst: Die Bilanz der christlich-liberalen Koalition der letzten zwei Jahre kann sich durchaus sehen lassen. Das beginnt mit der Erhöhung des Kindergeldes und setzt sich fort mit der Erhöhung des Unterhaltsvorschusses, der Erhöhung des BAföG und dem Programm „Frühe Chancen“, im Zuge dessen wir 4 000 Kitas dabei unterstützen, spezielle Sprach- und Integrationsförderung zu betreiben. Des Weiteren ist der KJP zu nennen. Wir sorgen trotz des Spardiktats der Schuldenbremse dafür, dass die Organisationen in unserem Land weiterhin intensive und gute Kinder- und Jugendarbeit machen können. Ich nenne auch das Gesetz zu Kinderlärm - für uns ist das kein Lärm, sondern Zukunftsmusik - und das Kinderschutzgesetz, das, nachdem Sie endlich Ihre Bedenken über Bord geworfen haben, im Bundesrat beschlossen worden ist. Nicht zuletzt ist auch der Ausbau der Jugendfreiwilligendienste zu erwähnen. Sie hatten immer schöne Dinge im Programm stehen; wir haben allein beim FSJ die Förderung auf über 90 Millionen Euro vervierfacht. Das sind Säulen für eine eigenständige Kinder- und Jugendpolitik in diesem Land. ({1}) Nun könnten wir wunderbar darüber streiten, ob die richtigen Schwerpunkte gesetzt sind, ob man nicht andere Akzente hätte setzen müssen. Ich glaube, es gibt einen anderen Unterschied. Wenn Sie über Kinder- und Jugendpolitik reden, dann reden Sie darüber, dass Kinder und Jugendliche in unserem Land zu wenig Chancen haben, dass es ihnen eigentlich schlecht geht und dass wir dringend etwas tun müssen, weil es unverantwortlich ist, in unserem Land Kinder in die Welt zu setzen und sie selbstständig groß werden zu lassen; das suggerieren Sie immer wieder. Man braucht nur einmal links und rechts der Grenzen innerhalb Europas zu schauen, um zu wissen, dass das natürlich nicht so ist. Es gibt wahrscheinDr. Peter Tauber lich wenige Länder auf diesem Globus, in denen Kinder so gute Startchancen haben wie in Deutschland. ({2}) Die Programme, die Sie heute auf die Tagesordnung gesetzt haben, sind der zentrale und spannende Punkt, wenn es um Kinder und Jugendliche geht, die unterstützt werden müssen. Wir reden also über diejenigen, die die Chancen, die ihnen unsere Gesellschaft bietet - sie sind riesengroß -, nicht alleine wahrnehmen können, weil ihnen die Anreize fehlen, weil sie nicht entsprechend begleitet werden, weil den Eltern vielleicht nicht nur die materielle Grundlage fehlt, um den Kindern etwas mit auf den Weg zu geben, sondern auch die notwendige Herzenswärme. Um diese Kinder müssen wir uns in der Tat kümmern, und dafür sind die Programme da. Ich glaube nur, dass es ein völlig falsches Signal ist, wenn wir in diesem Haus immer wieder sagen, dass in diesem Bereich alles schlecht sei; denn es gibt unheimlich viele Kinder und Jugendliche in unserem Land, die es nicht leicht haben, aber die Chancen, die ihnen unsere Gesellschaft bietet, ergreifen. Das ist manchmal mit Anstrengungen und Hemmnissen verbunden; das will keiner leugnen. Aber zu behaupten, dass sich diese Anstrengungen nicht lohnen, dass gerade junge Menschen von vornherein chancenlos sind, wenn sie sich in diesem Land etwas aufbauen wollen, ist das völlig falsche Signal. Das darf nicht das Ergebnis dieser Diskussion sein. Ich streite mich auch künftig gerne mit Ihnen im Ausschuss darüber, welche Programme besonders gut sind und welche nicht, welche wir fördern sollten und welche vielleicht nicht effizient waren. Aber ich möchte ungern, dass wir den jungen Menschen das Signal geben, dass sie in diesem Land keine Chancen haben. Sie haben sie und müssen sie nur nutzen, und zwar selbst. Denen, die das nicht können, helfen wir gerne. Aber wir dürfen nicht der Versuchung unterliegen, alle an die Hand zu nehmen. Das ist nicht Aufgabe der Politik; das können wir auch nicht. Wir sollten lieber gemeinsam darüber nachdenken, wie wir unsere guten Programme - und ich nenne jetzt explizit den Bundesfreiwilligendienst - stärken und auf den Weg bringen. ({3}) Ich erinnere Sie daran: Beim Bundesfreiwilligendienst haben Sie alle geschimpft und gejammert. Sie haben gesagt: Das wird nichts. Da kommt nichts bei rum. Das funktioniert nicht. Dafür gibt es keine Freiwilligen. ({4}) Die Wirklichkeit ist eine andere. Wir werden uns der Frage stellen müssen, wie wir mit den Freiwilligen umgehen, für die wir momentan keine finanzierten Plätze haben. Herr Rix, da lade ich Sie explizit ein: Machen Sie einmal einen konkreten Vorschlag, wie wir es schaffen, statt 35 000 vielleicht 50 000 Freiwillige im Bundesfreiwilligendienst zu fördern. Dann leisten Sie wirklich einen Beitrag für eine eigenständige Kinder- und Jugendpolitik. ({5}) Junge Menschen übernehmen so Verantwortung für unser Land, und das ist nicht nur für sie selbst gut, sondern für uns alle. Wenn wir die Diskussion eher in diese Richtung lenken, dann ist dies meiner Meinung nach zielführender als eine Diskussion über Programme, die schon längst auf den Weg gebracht worden sind. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Stefan Schwartze von der SPD-Fraktion. ({0})

Stefan Schwartze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes bräuchte ich an diesem Pult eine große Schippe, um diesen Riesenberg rosaroter Theaterschminke hier wieder abzutragen. ({0}) Ich glaube, wir müssen jetzt einmal auf den Kern zu sprechen kommen, nämlich auf die Programme der Initiative „Jugend stärken“, die das Ziel haben, die Kompetenzen und Fähigkeiten von benachteiligten Jugendlichen zu stärken. ({1}) Es geht in diesen Programmen also nicht um die große Masse, sondern gezielt um die Benachteiligten. Eine gute Angebotsstruktur für diese Jugendlichen eröffnet vielen den Weg hin zu einem selbstbestimmten Leben und raus aus den staatlichen Leistungen. Im europäischen Vergleich sind die Schulabbrecherquote und die Jugendarbeitslosigkeit bei uns zum Glück relativ gering. Die Zahl der Ausbildungsplätze hat sich bundesweit deutlich verbessert. Dennoch haben wir unsere Ziele bei weitem nicht erreicht. Das Ziel der Großen Koalition, die Schulabbrecherquote bis 2010 zu halbieren, ist nicht erreicht worden. Ein ganz großes Problem ist die anhaltend hohe Zahl junger Menschen ohne Berufsabschluss. In diesem Land haben rund 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren keinen Berufsabschluss. Nur zum Vergleich: Das entspricht fünfmal der Anzahl der Einwohner in meinem Wahlkreis Kreis Herford/Bad Oeynhausen. ({2}) - Ja, genau. Der Wahlkreis ist wichtig; darum erwähne ich ihn auch. Danke für den Hinweis, Herr Bernschneider. - Diese jungen Menschen haben schlech18266 teste Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden immer von Arbeitslosigkeit bedroht sein, wenn sie überhaupt einen Job finden, und sie sind es, die im Niedriglohnsektor feststecken oder nicht aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herauskommen werden. Die SPD hatte in den Haushaltsberatungen einen Antrag eingebracht, der allein 200 Millionen Euro dafür vorsah, diesen Jugendlichen eine zweite Chance auf eine Ausbildung zu geben. Leider hat Schwarz-Gelb ihn abgelehnt. Aber nicht nur das. Diese Menschen kommen in den Planungen der Bundesregierung schlicht nicht vor. Die Initiative „Jugend stärken“ des Ministeriums von Frau Schröder, die auch heute leider nicht anwesend ist, umfasst insgesamt fünf Modellprogramme. ({3}) Ende 2010 gab das Ministerium das Aus für das Programm „Stärken vor Ort“ bekannt. Für zwei weitere Programme, „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“, verkündete es, dass diese im Jahr 2011 neu ausgeschrieben werden sollten, obwohl die Förderphase ursprünglich bis 2013 geplant war. Im Februar 2011 rückte das Ministerium dann mit der kompletten Wahrheit raus, dass nämlich die Mittel des Europäischen Sozialfonds für diese Programme um die Hälfte gekürzt werden sollten. Zusätzlich - inzwischen ist es geschehen - ist für das Programm „Kompetenzagenturen“ die 20-prozentige Kofinanzierung über SGB-IIund SGB-III-Mittel entfallen. Aufgrund dieser Kürzungen kam es zu vehementen Protesten der Träger, die befürchteten, die Hälfte ihrer Angebote streichen zu müssen. Als Reaktion darauf kam die zuständige Ministerin den Trägern entgegen und erhöhte im Mai 2011 den Mittelansatz von 50 Millionen auf 80 Millionen Euro. Diese Erhöhung erkennen wir ausdrücklich an. Wir sind froh, dass dieser Erfolg erzielt wurde. Nichtsdestotrotz müssen wir feststellen, dass der Mittelansatz um 28 Prozent pro Jahr gekürzt wurde. Diese Kürzung ist nicht zu verstehen. Wir als SPD wollen, dass die Förderung in damaliger Höhe fortgesetzt wird. ({4}) Logisch zu begründen sind diese Kürzungen vom Ministerium nicht; denn beide Programme werden für ihre guten Ergebnisse und ihre hohe Effektivität ausdrücklich gelobt. Besondere Bedeutung für diese jungen Menschen aber hat die Streichung der Kofinanzierung über SGB-IIund SGB-III-Mittel zum 1. Januar dieses Jahres. Auch hier wäre es durchaus logisch, die Kofinanzierung weiterlaufen zu lassen. Die jungen Menschen sind oft seit langem arbeitslos und beziehen staatliche Leistungen. Die Zuständigkeit auf längere Sicht allein auf die Kommunen und die Länder zu verlagern, ist der falsche Weg. Hier wird wieder einmal ein Verschiebebahnhof hin zu den Kommunen eröffnet. Im Blick haben muss man auch die Kürzungen, die bei den Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vorgenommen wurden. In diesen Bereichen zu kürzen bedeutet im Klartext, dass die Bundesregierung bereit ist, Menschen ohne Schulabschluss und ohne Arbeit zurückzulassen. Das machen wir nicht mit. ({5}) Wir fordern neben dem Recht auf das Nachholen eines Schulabschlusses das Recht auf einen Ausbildungsplatz. ({6}) In Zeiten eines drohenden Fachkräftemangels müssen die Programme, die jungen Menschen einen Schulabschluss oder einen Ausbildungsplatz ermöglichen, ausgebaut werden; denn über diese Programme geben wir den Menschen die Möglichkeit, aus der Arbeitslosigkeit und aus der Perspektivlosigkeit herauszukommen. Ich glaube, das sind ganz wichtige Maßnahmen. ({7}) Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt die Kürzungen der Mittel für die Programme ab. Wir fordern, die ESF-Mittel in alter Höhe einzustellen. Außerdem fordern wir, die 20-prozentige Kofinanzierung aus Bundesmitteln über das SGB II und das SGB III bei dem Programm „Kompetenzagenturen“ wieder zu ermöglichen. Geben Sie den jungen Leuten dadurch eine Chance. Die SPD-Bundestagsfraktion hat für ihren Antrag die volle Rückendeckung der Länder. Vielleicht gibt Ihnen das zu denken. Der Bundesrat hat im November 2011 die Bundesregierung aufgefordert, die Kofinanzierung zu ermöglichen. ({8}) Dieser Appell wurde einstimmig von allen Ländern, auch von den unionsgeführten Ländern, getragen. ({9}) - Sie wollen jungen Leuten eine Chance geben. Sie wollen, dass junge Leute einen Beruf erlernen und eine Perspektive für die Zukunft haben. ({10}) Ich appelliere noch einmal an Sie: Denken Sie an die Zukunft der jungen Menschen. Setzen Sie die Programme fort. ({11}) Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Bernschneider von der FDP-Fraktion. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So aufgeheizt wir diese Debatte in den letzten Tagen und Wochen über die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ auch geführt haben, so wichtig finde ich es, festzuhalten, dass in dieser Frage eigentlich fraktionsübergreifende Einigkeit besteht. Wir alle sind uns einig, dass im Rahmen dieser Programme in den letzten Jahren eine hervorragende Arbeit geleistet wurde. Wir alle sind uns auch einig, dass wir es uns nicht leisten können, junge Menschen auf ihrem Weg in Ausbildung zu verlieren; das gilt wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich. Wir alle wissen, dass eine solche fraktionsübergreifende Einigkeit keineswegs selbstverständlich ist und dass wir sie in vielen anderen Politikfeldern nicht vorfinden. Deswegen bin ich der Meinung, dies sollten eigentlich gute Voraussetzungen sein, um diese Diskussion im Sinne der Sache zu führen. ({0}) Ich habe in dieser Diskussion aber auch gelernt, dass es nicht nur wichtig ist, die gleiche politische Zielsetzung zu haben, sondern dass es auch wichtig ist, sich darüber zu verständigen, welche Startbedingungen man vorfindet. Eigentlich sollte man meinen, dass auch dies nicht allzu schwierig sein dürfte. Denn wenn es darum geht, den Status quo zu definieren, dann zählt, wie ich glaube, weniger das Parteibuch als vielmehr Objektivität. Ich glaube, dass es sich lohnt, die Fakten zu wiederholen. Im Jahr 2008 haben Union und SPD beschlossen, die Förderung der Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ mit einer Förderphase bis August 2011 zu versehen. Damit stand de facto auch fest, vor welcher Herausforderung wir standen: Wir mussten Nachfolgeprogramme etablieren. Weil es an diesen Fakten nicht viel zu deuteln gibt, wundert mich, ehrlich gesagt, der schrille Ton vonseiten der SPD. Herr Schwartze, Sie haben gerade wieder gesagt - das ist auch in Ihren zu Protokoll gegebenen Reden nachzulesen -, dass die Förderphase eigentlich bis 2013 dauern sollte. Entweder, Herr Kollege Schwartze, haben Sie die Systematik, nach der die ESFMittel verteilt werden, noch nicht richtig verstanden, was ich nicht glaube, oder die SPD versucht, die Fakten möglichst so zu drehen, wie sie ihr am besten passen. Natürlich dauert die Förderphase im Hinblick auf die ESF-Mittel bis 2013. Aber das heißt noch lange nicht, dass alle nationalen Programme, die mit ESF-Mitteln gefördert werden, bis 2013 laufen. Sie selbst haben dafür den besten Beweis geliefert: Sie haben beschlossen, dass diese Programme im August 2011 auslaufen. Vor diesem Hintergrund ist es falsch - ich finde, es ist auch nicht fair -, dieser Koalition vorzuwerfen, wir würden bei diesen Programmen kürzen. Das stimmt de facto nicht. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist der christlich-liberalen Koalition gelungen - das hat der Kollege Tauber zu Recht gesagt -, dafür zu sorgen, dass diese Programme mit einem Volumen von 80 Millionen Euro weiter gefördert werden. 50 Millionen Euro davon kommen aus dem Etat des Bundesfamilienministeriums bzw. waren ESFMittel, auf die das Bundesfamilienministerium Zugriff hatte. Weitere 30 Millionen Euro konnten die Familienund Jugendpolitiker der Koalition in harten Diskussionen aus Mittelrückflüssen des ESF gewinnen. Ich glaube, Sie alle wissen: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass uns diese Mittelrückflüsse zur Verfügung stehen. Auch das BMAS hätte sicherlich gute Ideen gehabt, was mit diesen 30 Millionen Euro getan werden kann. Ich glaube, dies ist ein Ergebnis, auf das wir Koalitionspolitiker stolz sein können. Ich denke, für dieses Ergebnis könnten Sie uns auch einmal loben. Aber ich weiß natürlich, dass es vornehmliche Aufgabe der Opposition ist, die Regierungskoalition zu kritisieren und sie nicht zu loben. Dafür habe ich Verständnis. Ich habe aber kein Verständnis dafür, Herr Kollege Schwartze, dass Sie jetzt so tun, als sei die Aufstockung der Mittel ein Ergebnis Ihrer Pressemitteilung. Wir haben schon zu einem Zeitpunkt mit Gesprächen mit dem Ministerium begonnen, als Sie noch gar nicht darüber nachgedacht haben, Ihre Kürzungsmärchen per Pressemitteilung an die Nation zu verschicken. ({2}) An dieser Stelle sei gesagt: Sie haben zwar viele Pressemitteilungen zu diesem Thema geschrieben. Aber Sie haben bis heute nicht einen konkreten Vorschlag gemacht, woher Sie die 30 Millionen Euro bzw. die ESFMittel zur Fortführung dieser Programme hätten nehmen wollen. Meine Damen und Herren, was die Forderungen betrifft, werden Sie nur von der Linken übertroffen. Auch auf den Antrag der Linken will ich kurz eingehen. Sie fordern in Punkt 3, die Mittel in Höhe von 35 Millionen Euro pro Jahr aus dem KJP zu nehmen. Ich möchte Sie daran erinnern: Der KJP hat ein Volumen von 147 Millionen Euro. Dieser Betrag entspricht also knapp einem Viertel des Volumens des KJP. Ich finde, dass Sie uns heute einmal sagen sollten, an welchen Stellen im KJP Sie diese 35 Millionen Euro pro Jahr einsparen wollen oder warum Sie 35 Millionen Euro mehr Schulden machen wollen. Egal wie Sie antworten: Das kann keine Antwort im Sinne junger Generationen sein. Ich komme zum Schluss. Der französische Moralist Joubert hat einmal gesagt: Nicht Sieg sollte der Sinn der Diskussion sein, sondern Gewinn. Diesen Satz sollten Sie sich in dieser Debatte zu Herzen nehmen. Da dieses Thema sehr wichtig ist, muss es uns um die Sache gehen. Es darf nicht um Effekthascherei gehen. Ich glaube aber, genau dies ist das Ziel der SPD. ({3}) Da wir heute unter anderem über das Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ diskutieren, möchte ich betonen: Auch die Opposition hat eine zweite Chance verdient, diese Programme weiterhin konstruktiv zu begleiten. ({4}) Ich glaube, dann kommen wir gemeinsam auf einen guten Weg. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Yvonne Ploetz von der Fraktion Die Linke. ({0})

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hin und wieder passiert es, dass Jugendliche auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben stolpern. Dann brauchen sie jemanden, der sie aufhebt, ihnen den Staub abklopft und sagt: Mach weiter, ich begleite dich auf deinem Weg. Genau das leistet ja die Initiative „Jugend stärken“ Tag für Tag. Sie hilft an den schwierigen Übergängen von der Schule in die Ausbildung und von der Ausbildung in den Beruf bzw. dann, wenn Jugendliche den Unterricht nicht mehr besuchen und zurück in den Schulalltag gebracht werden sollen. Derzeit werden 40 000 junge Menschen auf diese Art und Weise begleitet. Aufgrund der Erfolge ist es nicht nur für mich vollkommen unverständlich, warum hier der Rotstift angesetzt werden soll. Schon im vergangenen Jahr - das haben wir heute bereits gehört - wurde vonseiten der EU und des Bundes nur noch ein Teil der bisherigen Fördergelder bereitgestellt. Dagegen haben sich die Sozialverbände, die SPD, die Linken und die Grünen mit Händen und Füßen gewehrt. Gemeinsam mit der Regierungskoalition haben wir erreicht, dass die Förderung bis 2013 weitgehend erhalten bleibt. ({0}) Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, mich macht das aber noch nicht wirklich glücklich. Ich glaube, darauf können Sie sich nicht ausruhen. Das sollten wir gemeinsam nicht tun. Die Initiative bekommt derzeit nur noch zwei Drittel der bisherigen Fördergelder, das heißt in der Praxis, dass 23 von 200 Standorten der Kompetenzagenturen bereits geschlossen wurden. Das ESF-Bundesprogramm „Stärken vor Ort“ wurde komplett gestrichen, und mein Kenntnisstand bisher ist, dass 2013 die gesamte Initiative auslaufen wird. Herr Bernschneider, Sie können mich sehr gerne vom Gegenteil überzeugen. Bei all den Debatten frage ich mich: Haben Sie sich jemals ein solches Projekt vor Ort angesehen? Wissen Sie, was dort geleistet wird? ({1}) Ich war zum Beispiel im Saarland unterwegs, meiner Heimat, und habe dort von zwei ganz besonderen Beispielen erfahren: In einem Jugendtreff habe ich dort Anna angetroffen. Anna ist heute 18 Jahre alt und wollte noch vor einem Jahr ihre Schule ohne Schulabschluss verlassen. Heute, nach der Unterstützung durch die Initiative „Jugend stärken“, will sie sich mit einem kleinen Restaurant eine eigene Existenz aufbauen. Wenn das mal kein Erfolg ist! ({2}) Dort wird auch Emrah unterstützt. Er ist 14 Jahre alt und hat seine Freizeit bisher alleine zu Hause verbracht. Er hat an einem Projekt im Rahmen des Programms „Stärken vor Ort“ teilgenommen, durch das ein altes Grab auf dem städtischen Friedhof restauriert wurde. Er hat dort am Grabstein mitgearbeitet. Seitdem weiß er, dass ihm diese Arbeit wahnsinnig viel Spaß macht. Ganz nebenbei hat er Freunde gefunden. Das ist noch so ein Erfolg. Man kann hier also wirklich ganz wunderbare Geschichten nacherzählen. Ja, die Initiative „Jugend stärken“ muss ganz dringend ausfinanziert werden. Ich will aber auch daran erinnern, dass es insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und all die engagierten Menschen vor Ort sind, die hier ganz wunderbare Arbeit leisten. Denen möchte ich heute von ganzem Herzen danken. ({3}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, möchten von genau diesen Frauen und Männern verlangen, dass sie ihren Schützlingen sagen, dass sie demnächst keine Unterstützung mehr bekommen werden. Das kann nicht Ihr Ernst sein! ({4}) Ich frage mich auch, wie das alles zu Ihrem Koalitionsvertrag passt. Ich darf Sie zitieren: Wir stehen für eine eigenständige Jugendpolitik, eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potenziale fördert und ausbaut. Wir wollen Jugendliche beim Übergang von Ausbildung in den Beruf besser unterstützen. Wissen Sie, was Anna und Emrah dazu sagen würden? Typisch Politiker: schöne Worte und nichts dahinter! Ich glaube, genau das sollten Sie nicht auf sich sitzen lassen. Fangen Sie an, nach diesen schönen Worten, die jeder unterschreiben kann, zu handeln. Ich glaube, der erste Schritt dahin wäre, die Initiative „Jugend stärken“ vollständig und besonders auch langfristig zu erhalten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Schneider von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulrich Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004219, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade junge Menschen haben das Recht darauf, dass sie in ihren individuellen und sozialen Entwicklungen gefördert werden. Wir müssen ihnen zu diesem Recht verhelfen. Es ist eine zentrale Aufgabe der Familienpolitik, dafür zu sorgen, dass Jugendliche nicht benachteiligt werden. Deshalb müssen wir unser Augenmerk insbesondere auf Schulverweigerer und junge Menschen im Übergang von der Schule in die Ausbildung legen. ({0}) Was Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag verkündet hat, klang ja verheißungsvoll. Wir haben hier offensichtlich an derselben Stelle nachgelesen. Die Kinder- und Jugendhilfe, Eltern und Schulen sollten gefördert werden. Zielsetzung war es, jedem Jugendlichen einen Schulabschluss und den Erwerb einer Ausbildungsstelle zu ermöglichen. Jugendhilfe und Jugendarbeit sollten gestärkt werden. Die Koalition wollte junge Menschen teilhaben lassen und ihre Potenziale fördern. Aber was wir im letzten Jahr erlebt haben, passt in keiner Weise zu diesen Koalitionsversprechen. Mit den Kompetenzagenturen und dem Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ sind seit 2006 gute und wichtige Schritte in die richtige Richtung gegangen worden. Sie haben es jungen Menschen ermöglicht, wieder in die Schule zu gehen oder ins Berufsleben einzusteigen. Sie haben Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Verfügung gestellt, die jungen Menschen in dieser Phase des Übergangs helfen sollten. Sie haben die jungen Menschen unterstützt. Eigentlich hätte es im vergangenen Jahr darum gehen müssen, diese richtige Richtung zu verstetigen. Aber was tat das Familienministerium stattdessen? Es wollte die Mittel des Europäischen Sozialfonds auslaufen lassen. Viele der erfolgreichen Programme hätten damit vor dem Aus gestanden. Wenn sich das Ministerium und die Regierungskoalition jetzt rühmen, die Projekte erhalten zu haben, so ist festzustellen, dass das nur dadurch möglich war, dass Träger und Fachverbände die Öffentlichkeit und die Opposition informiert haben. Nur dadurch wurden die Mittel teilweise erhalten. ({1}) Dadurch schmückt sich das Ministerium mit den Lorbeeren, die eigentlich den Verbänden gebühren, die sich hier engagiert haben. Auch wenn die Projekte jetzt weiter finanziert werden, so werden sie unterm Strich eben doch geschwächt. Da hilft es nichts, auf neue Akzente in den Programmen hinzuweisen. Faktisch fehlen insgesamt 28 Prozent der vormals gewährten Mittel. Die Folgen daraus sind eine Verschlechterung der Situation der Jugendlichen. Das hat wenig mit den Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag zu tun. ({2}) Was bedeutet es denn für eine Schulabbrecherin, wenn ihre Sozialarbeiterin in Zukunft keine Zeit mehr für sie hat, wenn das Geld schlicht nicht reicht, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihren Schulabschluss zu machen? Sie wird eben keine echte zweite Chance bekommen, sondern lediglich einen halbherzigen zweiten Versuch. Anstelle der Kürzungen hätten die Projekte langfristig angelegt werden müssen. Eine Einbindung in das Programm „Soziale Stadt“ wäre der richtige Schritt gewesen. ({3}) Nur wenn wir die Lebensbereiche von Jugendlichen umfassend betrachten und wenn alle Akteurinnen und Akteure eingebunden sind, können junge Menschen eben eine echte zweite Chance bekommen. Die teilweise chaotischen Umstrukturierungen des Ministeriums im vergangenen Jahr haben zu erheblichen Verunsicherungen geführt, obwohl gerade junge Menschen auf stabile und verlässliche Unterstützung angewiesen sind. ({4}) Diese Verunsicherung aus dem letzten Jahr muss ein einmaliges Beispiel bleiben und darf sich im neuen Jahr nicht wiederholen. Auch deshalb unterstützen wir die vorliegenden Anträge. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schneider, Sie sind am 7. Dezember 2011 in den Deutschen Bundestag nachgerückt und haben heute Ihre erste Rede gehalten. Dazu gratuliere ich Ihnen. ({0}) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun wiederum der Kollege Norbert Geis das Wort. ({1})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Forderungen in den Anträgen, die Sie stellen, sind eigentlich erfüllt, aber nicht in dem Umfang, wie Sie sich das vorstellen. Wir werden die Anträge ablehnen. Ich meine, man darf bei dieser Diskussion nie vergessen, dass wir ein föderaler Staat sind, in dem die Aufgaben geteilt sind. Das ist ein guter Grund, weshalb bei18270 spielsweise die Länder die Aufgabe der Bildung übernommen haben. Die Bildung ist nicht zentrale Aufgabe des Bundes, sondern mit die wichtigste Aufgabe der Länder. Auch die unmittelbare soziale Fürsorge ist nicht direkt Aufgabe des Bundes, sondern eben der Vereinigungen. Das sind die Kommunen, die die Lage vor Ort besser einschätzen und abschätzen können. Natürlich muss der Bund die Kommunen dabei unterstützen. Das darf man bei dieser Diskussion nicht übersehen. Es kann nicht sein, dass wir ein Programm auflegen und es zeitlich befristen, wie das bei dem vorliegenden Programm der Fall war - es sollte im September 2011 auslaufen und wird nun fortgesetzt -, aber dann davon ausgegangen wird, dass ein solches Programm plötzlich ad infinitum vom Bund zu übernehmen ist. Der Bund kann nicht auch noch die Aufgaben der Länder schultern. Das müssen die Länder schon selbst tun. Die Länder haben natürlich größtes Interesse daran, dass der Bund das weitermacht, Herr Schwartze. Dann müssen sie es nicht selber bezahlen und können sparen oder sich auf andere Dinge verlegen. Aber es ist nicht Aufgabe des Bundes, die Aufgaben der Länder zu übernehmen. Die Länder müssen selber mithelfen und mitleisten. Natürlich ist es eine allgemeingesellschaftliche Aufgabe. Das sehen wir alle ein. Wir stimmen auch alle darin überein, dass wir die Jugend fördern müssen, und zwar nicht nur die Jugend aus guten Verhältnissen, sondern wir müssen vor allem auch unser Augenmerk auf die Jugendlichen richten, die aus Verhältnissen kommen, wo man nicht so großen Wert auf Bildung legt und nicht genau darauf achtet, dass das Kind seine Hausaufgaben macht und vielleicht auch darüber hinwegsieht, ob der Jugendliche einen Beruf ergreift. Um diese Jugendlichen müssen wir uns vorzüglich kümmern, nicht nur, weil es eine Frage der Menschlichkeit oder der Klugheit ist. Denn solche Jugendlichen fallen, wenn sie keinen Beruf ergreifen, später den anderen zur Last. Sie müssen von den anderen mitfinanziert werden und landen unter Umständen zu schnell im sozialen Netz oder gleiten vielleicht sogar in die Kriminalität ab. Deswegen ist es wichtig und klug, dass wir uns darum kümmern. Wir müssen und dürfen uns aber auch deshalb um sie kümmern, weil wir es uns nicht mehr leisten können, auf diese Jugendlichen zu verzichten. Wir haben zu wenig Kinder, und wir brauchen die Innovationskraft der Jugend. Dabei können wir nicht nur auf die setzen, die aus guten Verhältnissen kommen, sondern wir müssen mit dafür Sorge tragen, dass auch die Jugendlichen herangezogen und wieder in die Mitte der Gesellschaft gestellt werden, die das vielleicht von Haus aus nicht so mitbekommen haben. Es geht darum, dass wir alle Jugendlichen erfassen. Das gilt vor allem auch für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Es wäre völlig falsch, wenn wir davor die Augen verschließen würden. Natürlich sind viele Kinder ausländischer Herkunft inzwischen so weit, dass sie in Deutschland integriert sind, das Schul- und Bildungssystem exzellent durchlaufen und einen wichtigen Platz in der Wirtschaft oder auch in akademischen Berufen einnehmen oder einnehmen werden. Das erleben wir täglich. Es gibt aber noch viel zu viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, die diese Voraussetzungen nicht geschafft haben. Auch um diese müssen wir uns kümmern. Das ist - das gebe ich zu - eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es ist aber nicht nur die Aufgabe des Bundes, sondern es ist vor allem auch die Aufgabe der Länder. Es ist dem Bund hoch anzurechnen, dass er hier die Initiative ergriffen hat. Die Initiative „Jugend stärken“ ist eine exzellente Initiative und wird weithin begrüßt. ({0}) Das zeigt sich auch daran, dass die Länder am 4. November vergangenen Jahres einstimmig eine Entschließung verabschiedet haben, in der sie - das habe ich schon erwähnt - den Bund aufgefordert haben, dieses Programm fortzusetzen. Der Bund setzt dieses Programm auch fort. Wir werden es da und dort schmälern. Erlauben Sie, dass ich die fünf Programmpunkte der Gesamtinitiative aufzähle, weil sie noch nicht genannt worden sind. Die fünf Programmpunkte „Jugendmigrationsdienste“ und die Programme „Stärken vor Ort“, „Aktiv in der Region“, „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und die „Kompetenzagenturen“ sind Inhalt der Gesamtinitiative „Jugend stärken“. Sie haben exzellente Arbeit geleistet, wenn man das so sagen darf. Sie sind bei den Jugendlichen angekommen. Das wird überall bestätigt. Deshalb und weil es uns allen ein Anliegen ist, setzen wir dieses Programm fort. Die Behauptung, wir würden die Segel streichen und das Handtuch werfen, ist also nicht wahr. Das tun wir nicht. Wir wollen vielmehr das Programm fortsetzen. Wir wollen allerdings die Länder auffordern, sich stärker zu beteiligen, als es bislang der Fall gewesen ist. Im Übrigen haben wir eine sehr große Leistung für die Jugendlichen erbracht. Das ist nicht nur eine Leistung der Bundesregierung, sondern auch der deutschen Wirtschaft. Wir sind das Land mit der geringsten Jugendarbeitslosenquote in ganz Europa. ({1}) Das darf man einmal laut sagen. Das ist immer noch das beste Programm, das wir den Jugendlichen bieten können, nämlich einen Arbeitsplatz. Daran müssen wir weiterarbeiten. Wir werden nicht alle Jugendlichen unterbringen können; das ist ausgeschlossen. Das kann der Staat auch nicht leisten. Aber die Wirtschaft sowie eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik haben dafür gesorgt, dass wir uns in der sehr guten Situation befinden, die ich eben beschrieben habe. Es kommt nun darauf an, das fortzusetzen. Das hängt nicht allein von uns ab, sondern auch von den Ländern, in die wir exportieren. Unsere Wirtschaft ist schließlich nicht auf unseren Binnenmarkt beschränkt, sondern ist weit verzweigt. Wir haben eine hohe Exportquote. Es kommt also darauf an, dass unsere Wirtschaft weiterhin floriert. Das ist der wichtigste Programmpunkt im Sinne der Stärkung der Jugendlichen. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/8329. Der Aus- schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6103 mit dem Titel „Pro- gramme ‚Schulverweigerung - Die 2. Chance‘ und ‚Kompetenzagenturen‘ erhalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/6393 mit dem Titel „Hände weg von der Initia- tive ‚Jugend stärken‘“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom- men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und von Bünd- nis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der SPD-Fraktion. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a bis c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/8233 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungs- und mautrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/7046 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Thomas Lutze, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - Für einen Ausbau des Schienenverkehrs in der Fläche - Drucksache 17/7487 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer das Wort für die Bundesregierung.

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein kleiner Gruß an die Jugendpolitiker. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung macht mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, auch aktive Jugendpolitik; denn ich glaube, die Liberalisierung der Fernbuslinien erhöht die Mobilität der jungen Menschen in Deutschland. ({0}) Wir befassen uns heute in erster Beratung mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften und einem Alternativentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie einem Antrag der Fraktion Die Linke, der zumindest teilweise mit den beiden Gesetzentwürfen zusammenhängt. Die Ziele des Regierungsentwurfs sind klar umrissen. Wir wollen erstens das Personenbeförderungsgesetz und andere Gesetze an den europäischen Rechtsrahmen anpassen. Wir wollen zweitens den Fernbuslinienverkehr liberalisieren. Wir wollen drittens das Verfahren für Liniengenehmigungen im öffentlichen Personennahverkehr ausgestalten. Beim ersten Thema befinden wir uns in Verzug. Die europäische Verordnung Nr. 1370/2007, um die es hier geht, ist bereits am 3. Dezember 2009 in Kraft getreten. Sie enthält - Gott sei Dank - einige Übergangsregelungen, die es gerade noch erlauben, die Anpassung der nationalen Vorschriften für einige Zeit zurückzustellen. In der europäischen Verordnung wird festgelegt, unter welchen Voraussetzungen Verkehrsunternehmen Finanzhilfen gewährt werden dürfen. Die Verordnung enthält zudem Vorgaben für das Vergabeverfahren und regelt die Fälle, in denen Verkehrsleistungen direkt, das heißt ohne Durchführung einer Ausschreibung oder eines anderen wettbewerblichen Verfahrens, vergeben werden dürfen. Ferner wird vorgeschrieben, wie die Ausgleichszahlungen im Falle einer Direktvergabe zu berechnen sind. Hiermit soll verhindert werden, dass die beauftragten Verkehrsunternehmer ungerechtfertigt hohe Zahlungen erhalten und damit der Wettbewerb zwischen den Verkehrsunternehmen verzerrt wird. Die Auswirkungen der europäischen Verordnung beschränken sich in Deutschland faktisch auf den öffent18272 lichen Personennahverkehr. Der Personenfernverkehr auf der Straße und der Schiene wird grundsätzlich ohne öffentliche Förderung durchgeführt. Die Grundpositionen des Regierungsvorschlags lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wir sehen keine Notwendigkeit für radikale Veränderungen des geltenden Ordnungsrahmens. Das Personenbeförderungsgesetz soll nur dort angepasst werden, wo es europarechtlich erforderlich und sachgerecht ist. Es ist auch Vorgabe des christlich-liberalen Koalitionsvertrages, dies eins zu eins umzusetzen. Hierbei wollen wir an dem Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre festhalten, den unternehmerischen Wettbewerb fördern und ein möglichst mittelstandsfreundliches Umfeld schaffen. Wir sagen auch sehr herzlich Danke für die gute Zusammenarbeit mit den Verbänden und den Unternehmen, die uns aus der Praxis sehr viele Anregungen gegeben haben, um die mittelstandsfreundlichen Strukturen, wie wir sie in Deutschland haben, auch politisch zu unterstützen. ({1}) Die Aufgabenträger haben nach dem Regionalisierungsgesetz die Aufgabe, einen ÖPNV in angemessener Qualität sicherzustellen. Dieser Verantwortung müssen sie auch weiterhin gerecht werden. Interessenkonflikte können vor allem im Verhältnis zwischen Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen auftreten. Es soll dabei bleiben, dass die Genehmigungsbehörde als Schiedsrichter fungiert. Der Regierungsentwurf wird in großen Teilen vom Bundesrat unterstützt. Es gibt allerdings auch einige abweichende Vorstellungen. So zielen mehrere Änderungsvorschläge darauf ab, die Befugnisse der Aufgabenträger zulasten der Genehmigungsbehörde zu erweitern. Wir stehen diesen Vorschlägen eher kritisch gegenüber, weil sie sich gerade für die mittelständischen Busunternehmer nachteilig auswirken könnten. Aber es gibt sicher auch einige Punkte, über die wir diskutieren können. Zur Ausdehnung der Fahrgastrechte. Die Verordnung 181/2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr enthält bereits einen verbindlichen Pflichtenkatalog für die Unternehmer. Da diese Verordnung erst am 1. März 2013 in Kraft tritt, sollten mögliche Erweiterungen sorgfältig geprüft und in einem eigenen Gesetzgebungsverfahren entschieden werden. Nicht zufriedenstellend vorbereitet sind ferner die Änderungsvorschläge, mit denen eine vollständige Barrierefreiheit erreicht werden soll. Da muss man auch einmal auf die Kostenseite schauen. Ich denke, dass das unausgegoren und aus unserer Sicht nicht zufriedenstellend ist. Der zweite Schwerpunkt des Regierungsentwurfs befasst sich mit der Liberalisierung des Fernbuslinienverkehrs. Nach der derzeitigen Gesetzeslage kann ein fahrplanmäßiger Busverkehr nicht genehmigt werden, wenn eine parallele Eisenbahnverbindung vorhanden ist; das ist das sogenannte Verbot der Doppelbedienung. Diese Regelung ist in der jüngeren Rechtsprechung zwar schon erheblich aufgeweicht worden; wir möchten jedoch Klarheit schaffen und im Gesetz eine eindeutige Regelung treffen. Für die Liberalisierung der Fernbuslinien gibt es gute Gründe. Ich freue mich auch, dass die DB AG hier in Berlin immer wieder mit Fernbuslinien zu sehen ist. Die Kritik vonseiten der Bahnbetreiber, dass es hier Wettbewerbsverzerrungen oder Parallelbedienungen gibt, kann ich nicht nachvollziehen. Ich glaube, dass wir die Wahlfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger, für die Verbraucherinnen und Verbraucher erweitern sollten - mit einem guten Angebot von Fernbuslinien. Eine Tradition, die es im Übrigen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union schon lange gibt, sollten wir jetzt übernehmen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern ein klimafreundliches und gutes Angebot bei den Fernbuslinien unterbreiten. ({2}) Ich möchte Sie sehr herzlich dazu einladen, dass wir gemeinsam darum kämpfen, eine Regelung hinzubekommen, es vor allem auch zu schaffen, die Themen, die über Änderungsanträge hier eingebracht werden, sachlich zu diskutieren. Ich weiß, dieses Thema ist über die Zeit emotional aufgeladen worden. Wir sind auch in Zeitdruck. Deswegen möchte ich die Bitte äußern, die Beratung über den Gesetzentwurf konstruktiv zu führen. Die Verkehrswirtschaft erwartet, dass der Gesetzentwurf, über dessen Inhalte schon jahrelang gestritten wird, vom Gesetzgeber jetzt endlich beschlossen wird. Ich freue mich auf die Debatte. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Sören Bartol von der SPDFraktion. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Neuordnung des ÖPNV-Rechtsrahmens ist eine schier unendliche Geschichte, die sich inzwischen über Jahrzehnte hinzieht, Jahrzehnte rechtlicher Unsicherheit für Verkehrsunternehmen, Verwaltungen und politisch Verantwortliche. Die EU-Verordnung 1191/69 wurde zum Synonym für ein Gezerre um die Auslegung von Gerichtsurteilen, das mit dem AltmarkTrans-Urteil des Europäischen Gerichtshofes 2003 noch lange nicht vorbei war. Im Kern ging es dabei um die Frage, unter welchen Voraussetzungen die öffentliche Hand Nahverkehrsleistungen finanzieren darf, ohne gegen Beihilferecht zu verstoßen - ein schwer zugängliches Expertenthema. Die Akten dazu füllen viele Regalmeter. Ein Meilenstein auf dem Weg zu einem neuen ÖPNVRechtsrahmen war die Verabschiedung der neuen EUVerordnung 1370 im Jahr 2007 - ein großer Verhandlungserfolg für den damaligen Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee, dem es gelang, einen EU-verordSören Bartol neten Ausschreibungswettbewerb im ÖPNV zu verhindern. Seit inzwischen zwei Jahren ist die EU-Verordnung in Deutschland geltendes Recht. Die notwendigen Anpassungen und Personenbeförderungsgesetze jedoch stehen immer noch aus. Insofern bin ich sehr froh, dass heute endlich das parlamentarische Verfahren beginnt. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir, SPD und Grüne, haben gemeinsam mit unseren Ländern einen Gesetzentwurf erarbeitet, der das öffentliche Interesse an einem qualitativ hochwertigen, für alle zugänglichen Verkehrsangebot aus einem Guss in den Mittelpunkt stellt. Wir gehen dabei von dem Grundsatz aus, dass öffentlicher Nahverkehr eine Aufgabe der Daseinsvorsorge ist, für die die Kommunen Verantwortung tragen. Sie müssen deshalb diejenigen sein, die definieren können - in Abstimmung mit den Verkehrsunternehmen, Vertretern von Fahrgästen oder zum Beispiel auch Behindertenvertretern -, wie ein solches Verkehrsangebot aussehen soll; ein Rahmen - das sage ich ausdrücklich -, der für eigene kommunale Unternehmen ebenso gelten muss wie für die privaten. Der Regierungsentwurf hingegen gibt mit dem Vorrang kommerzieller Verkehre keine Gewähr dafür, dass Standards für Qualität, Takt und Bedienung in aufkommensschwachen Zeiten eingehalten werden. Ihr Entwurf, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, hat noch weitere Schwächen: Weder die in der Verordnung vorgesehene Möglichkeit der Direktvergabe an eigene Unternehmen wird rechtssicher umgesetzt, noch die Möglichkeiten des EU-Rechts, bei öffentlich finanzierten Verkehrsangeboten Tarif- und Sozialstandards vorzugeben. Ihr Entwurf bleibt auch hinter dem Kompromiss zurück, auf den sich der BundLänder-Fachausschuss „Straßenpersonenverkehr“ bereits vor mehr als einem Jahr geeinigt hatte. Kein Wunder, dass der Bundesrat mehrheitlich in vielen Punkten anderer - nämlich unserer - Auffassung war. Schade, dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung keinen unserer Vorschläge wirklich aufgreift, angefangen bei verbindlicherer Barrierefreiheit bis hin zu mehr Gestaltungsspielraum der Länder bei alternativen Bedienformen. Ich setze jetzt auf mehr Bereitschaft aller Beteiligten, im parlamentarischen Verfahren zu einer fachlich fundierten Einigung zu kommen. Der Vermittlungsausschuss oder eine Nulllösung, bei der wir einfach sagen: „Wir haben es nicht gebacken bekommen und tun überhaupt nichts“, mögen zwar als Drohkulisse taugen, im Sinne der ÖPNV-Unternehmen und der dort Beschäftigten, der kommunalen Auftraggeber und der Fahrgäste ist dies aber nicht. ({0}) Zum Schluss noch ein Wort zum Thema Fernbuslinien. Ich sage ganz offen: Wir als SPD haben sehr große Bedenken, dass eine Liberalisierung in diesem Bereich das System Schiene schwächt, dass Fernverkehrsverbindungen wegfallen und die öffentliche Hand zum Ausfallbürgen auf unattraktiven Strecken und in Fahrplanrandlagen wird. Andererseits - das möchte ich ebenfalls betonen - sehen wir aber durchaus Chancen. Fernbuslinien können ein ergänzendes und kostengünstiges Verkehrsangebot sein, und unser Vorschlag im Gesetzentwurf lautet deshalb: Marktöffnung für Fernbuslinien ja, aber nur unter vernünftigen Bedingungen. Dazu zählt der Schutz von öffentlich finanzierten Nahverkehrsangeboten ebenso wie die Themen Barrierefreiheit und Kundenfreundlichkeit bei Auskunft und Ticketvertrieb. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Werner Simmling von der FDP-Fraktion. ({0})

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland braucht einen attraktiven und effizienten ÖPNV. Busse und Bahnen befördern täglich 28 Millionen Fahrgäste. Er ist damit eine unverzichtbare Voraussetzung für Lebensqualität, Freiheit, Mobilität und Teilhabe. Hochqualitativer ÖPNV ist ein Standortfaktor für unsere Volkswirtschaft; denn er ermöglicht hohe Verkehrsdichten auf engem Raum. Auch der Tourismus, insbesondere der Städtetourismus, ist auf einen attraktiven ÖPNV angewiesen. Hunderttausende Arbeitsplätze sind mit dem ÖPNV in Deutschland und seiner Industrie verbunden, und er ist ein wichtiger Beitrag zum Umweltschutz; denn er schafft die Voraussetzungen dafür, vor allem in Ballungsräumen den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren. Ein leistungsfähiger ÖPNV ist deshalb für uns ein wichtiges politisches Ziel. Das haben wir bereits im Koalitionsvertrag ausdrücklich betont. ({0}) Der Regierungsentwurf zum Personenbeförderungsgesetz setzt aus unserer Sicht in gelungener Weise die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag um. Wir orientieren uns dabei am Leitbild eines unternehmerisch und wettbewerblich ausgerichteten ÖPNV; denn nur so können wir die für uns wichtigen vier Punkte erreichen. Erstens. Wir wollen im Interesse der Kunden einen attraktiven ÖPNV. Zweitens. Wir wollen im Interesse der im ÖPNV handelnden Unternehmen faire, verlässliche Spielregeln und achten besonders auf die Beteiligung mittelständischer Akteure. ({1}) Drittens. Wir haben - das unterscheidet uns von den meisten anderen - auch die Interessen des unsichtbar zahlenden Dritten im Auge, nämlich die des Steuerzahlers, der die Hälfte der Gesamtkosten des ÖPNV schultert. Viertens. Auftraggeber bleiben selbstverständlich die Kommunen. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf wird durch die Bundesregierung eine angemessene Rollenverteilung von Markt und Staat beschrieben. Insbesondere wird der Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre gestärkt. Wir sehen das als angemessenen Ausgleich für die Tatsache an, dass nach Maßgabe des europäischen Rechts die Eigenwirtschaftlichkeit enger definiert wird als bisher. Der Gesetzentwurf bringt auch die lange überfällige Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs mit sich. Warum überfällig? Bereits in den 70er-Jahren wurde auf europäischer Ebene ein Prozess der Wettbewerbsöffnung im Verkehrsmarkt eingeleitet. In Deutschland wurde dieser Prozess schrittweise und inzwischen weitgehend umgesetzt. Der Straßengüterverkehr ist, bis auf Reste des Kabotageverbots, weitgehend dereguliert. Gleiches gilt auch für den Luftverkehr. Diese Deregulierung betraf die Öffnung des Wettbewerbszugangs und die Preisbildung. Diese Entwicklung ist in Deutschland seit den 70er-Jahren von allen Bundesregierungen mitgetragen und fortgesetzt worden. Die einzige Ausnahme findet sich eben im Personenbeförderungsgesetz, in dem diese Veränderungen im Wesentlichen nicht nachvollzogen wurden. Das gilt nicht nur, aber besonders für den Buslinienfernverkehr. Das Personenbeförderungsgesetz spiegelt demzufolge im Bereich des Fernverkehrs nach wie vor die ordnungspolitischen Vorstellungen der frühen 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts wider. Bei überregionalem oder grenzüberschreitendem Linienfernverkehr handelt es sich um eine ausschließlich unternehmerische, eigenwirtschaftlich zu betreibende Tätigkeit, die nicht bezuschusst wird und keinerlei gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unterliegt. Ein Verbot solcher Verkehre zum Schutz insbesondere von parallelen Eisenbahnverkehren ist in einer von Wettbewerb und freiem Unternehmertum geprägter Marktordnung ein systemwidriger Fremdkörper. Es gibt keinen fachlich zu rechtfertigenden Grund, an den wettbewerbsbeschränkenden Genehmigungsvoraussetzungen des Personenbeförderungsgesetzes festzuhalten. ({2}) Einziger Grund wäre der Fernverkehr der Deutschen Bahn. Das ist besonders misslich, weil sich im Fernverkehr noch kein Wettbewerb auf der Schiene entwickelt hat. Meine Damen und Herren, das derzeitige Personenbeförderungsgesetz bevormundet, wie gesagt, den Bürger, weil ihm die Freiheit abgesprochen wird, das für ihn geeignete Fernverkehrsangebot selber auszuwählen, und es behindert unternehmerische Handlungsfreiheit. ({3}) Die FDP hat das seit langem kritisiert und im Bundestag bereits in der letzten und in der vorletzten Legislaturperiode entsprechende Anträge zur Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs eingebracht. Das wurde seinerzeit von den damaligen Mehrheiten stets abgelehnt. Aber diese Regierungskoalition hat es sich zum Ziel gesetzt, dies gemeinsam mit Ihnen, meine Kollegen von der Opposition, zu ändern. Buslinienfernverkehr wird zugelassen und einem geordneten Wettbewerb zugeführt werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig von der Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wegen meiner knappen Redezeit will ich mich auf einen einzigen Punkt konzentrieren, nämlich auf die vollständige Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs, mit der die Bundesregierung ganz offenbar ein FDP-Steckenpferd reitet. Es geht nicht um die vielen gut ausgelasteten Charterbusse, mit denen ältere Damen wie zum Beispiel meine Mutter Urlaubsreisen oder kostengünstige Erlebnisreisen unternehmen. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. ({0}) Es geht auch nicht um Buslinien, die dort verkehren, wo die Bahn kein Angebot machen kann. Es geht um Linienbusse im Fernverkehr, die Sie explizit als Konkurrenz zur Bahn einführen wollen. ({1}) Die Linke stellt sich eindeutig gegen einen solchen marktradikalen Unsinn. ({2}) Warum? Weil über kurz oder lang dem Schienenverkehr geschadet wird und weil die Qualität für die Reisenden dadurch insgesamt eher schlechter als besser wird. Ein regelmäßiger Linienverkehr mit Bussen würde sich überhaupt nur dort lohnen, wo ganz dicke Rosinen zu picken sind, also bei Städteverbindungen und auf Hauptreisestrecken ohne Zwischenhalt und mit regelmäßig hohen Fahrgastzahlen. Das hat uns übrigens der Verband der Omnibusunternehmer bestätigt. Die Omnibusunternehmer sagen, dass das Risiko, einen regelmäßigen Fahrplan anzubieten, überhaupt nur von ganz wenigen und ganz großen Playern gestemmt werden kann und dass der Mittelstand Angst vor einer solchen Regelung hat. Die Omnibusunternehmer wissen nämlich genau, dass dann die Autobahnmaut für Busse auf der Tagesordnung stehen wird, damit Chancengleichheit zwischen Bahn und Bussen auch nur annäherungsweise hergestellt werden kann. Veolia ist zurzeit der einzige ernsthafte Interessent, der einen solchen Fernverkehr anbieten will. Veolia kauft beispielsweise eine Armada nagelneuer Mercedesbusse, fährt achtmal täglich ohne Zwischenhalt zum Beispiel von Leipzig nach Magdeburg und nimmt den knapp gefüllten Intercitys mit niedrigen Fahrpreisen die Fahrgäste ab, bis die Deutsche Bahn AG beschließt, die Verbindung mit den Intercitys dort einzustellen. Damit wären dann auch Halle und Köthen von der Intercityverbindung abgehängt. Ein führender Bahnmanager hat genau dies prognostiziert. Er sagte, das Busangebot werde dazu führen, dass ohnehin schlecht gefüllte ICEs und ICs noch unwirtschaftlicher werden und dass diese Verbindungen infolge der neuen Konkurrenz ganz oder teilweise abgeschafft werden könnten. Nachzulesen ist dies in der Financial Times Deutschland vom 19. Mai 2011. Der nächste Schritt ist dann, dass Veolia die Preise erhöht und den Fahrplan ausdünnt, weil sich diese Buslinien eigentlich nur in den Stoßzeiten rechnen. Alles das ist überhaupt kein leeres Geschwätz. Ich will an eine Extremvariante eines solchen Kurses erinnern: die Einführung der Greyhound-Überlandbusse in den USA unter massivem Druck der Automobilkonzerne. Sie waren maßgeblich für die Zerstörung eines einstmals großen Eisenbahnnetzes verantwortlich. Man kann es in einem Report nachlesen, der 1974 für den US-Senat verfasst wurde und den ich sehr empfehle. Diese berühmte Greyhound-Gesellschaft ist in den 1990er-Jahren pleitegegangen. Dies hatte zum Ergebnis, dass es jetzt in den USA auch keine regelmäßigen Fernbusverbindungen mehr gibt. Vor allen Dingen gibt es überhaupt kein flächendeckendes Bahnangebot für die Menschen mehr. Die Leute wurden de facto in die Autos und in die Flugzeuge gezwungen. Von wegen Wahlfreiheit! Davon ist überhaupt nicht die Rede. Auch wenn solche Zustände bei uns nicht vor der Tür stehen, ist es doch absolut widersinnig, dass heutzutage überhaupt noch in diese Richtung Politik gemacht wird. Wir brauchen doch keinen Wettbewerbsdruck auf die Bahn. Wir brauchen ein besseres Angebot auf der Schiene. ({3}) Dazu ist der Bund verpflichtet. Das Grundgesetz verpflichtet den Bund dazu, ein Fernverkehrsangebot auf der Schiene zu gewährleisten, das den Verkehrsbedürfnissen Rechnung trägt. Im Klartext: Dieser Bundestag und diese Bundesregierung tragen die Verantwortung für Bahnanbindungen, aber nicht für Busunternehmen. Hören Sie mit dem Liberalisierungsgeklapper auf und sorgen Sie dafür, dass alle Oberzentren eingebunden werden, dass endlich mit dem Deutschlandtakt ernst gemacht wird, dass es Bahnpreise gibt, die für alle erschwinglich sind, und dass die Bahn besser wird. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Anton Hofreiter vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zentrale Punkt bei der Reform des PBefG ist der Marktrahmen für den öffentlichen Personennahverkehr. Dies ist der zentrale Punkt, über den wir streiten. Warum muss das PBefG reformiert werden? Es muss reformiert werden, weil - jetzt folgen unverständliche Zahlen - die 1370/2007 die 1191/69 ablöst. Die 1370 ist eine EU-Verordnung. Was ist eine EU-Verordnung? Eine EU-Verordnung ist direkt geltendes Recht. Man kann also sagen, dass man sie gar nicht in Bundesrecht umsetzen muss, weil sie direkt gilt. Warum ist es trotzdem klug, das PBefG anzupassen? Dies ist klug, weil das PBefG in seiner jetzigen Form dem direkt geltenden EU-Recht, also der EU-Verordnung, entgegensteht. Wir haben also ein direkt geltendes EU-Recht und ein geltendes Bundesrecht, die sich beide widersprechen. Das Ergebnis kennen alle, die sich intensiv mit Verkehrspolitik und Kommunalpolitik beschäftigen: Rechtsunsicherheit, rechtliche Streitereien, ewig lange Vergabeverfahren und andere Verfahren, die sich lange hinziehen. Zum Teil gibt es Gerichtsprozesse, die länger dauern, als eine Linienkonzession gültig ist. Dies ist ein großes Problem für die Kommunen, für die Verkehrsunternehmen und selbstverständlich auch ein Problem für die Fahrgäste. Nun gibt es zwei Gesetzentwürfe, die das Problem unterschiedlich zu lösen versuchen. Wir sind der festen Überzeugung, dass unser Gesetzentwurf und insbesondere auch die Änderungsanträge, die im Bundesrat eine Mehrheit gefunden haben, die EU-Verordnung nicht nur klüger, sondern auch weitaus rechtssicherer umsetzen. ({0}) Denn neben dem, was inhaltlich geschieht, ist entscheidend, dass uns eine rechtsfeste Umsetzung gelingt und dass wir nicht weiter die Rechtsunsicherheit haben, die im Moment vorhanden ist. Bei der Umsetzung sind neben der Rechtssicherheit noch einige andere Dinge von ganz entscheidender Bedeutung. Wir sollten uns auf Folgendes verständigen: Wenn der Aufgabenträger - bei uns ist es die Kommune bereit ist, Geld, Interesse und Mühe zu investieren, dann sollte er dies auch tun können. ({1}) Wo öffentliches Geld fließt, muss die öffentliche Hand entsprechend entscheiden können. Das ist einer der ganz zentralen Punkte bei der Umsetzung. In unseren Augen ist es in der 1370 rechtsfest umgesetzt worden. Wir sind der Meinung, es muss im deutschen Bundesrecht nun klug vollzogen werden. Aber dies ist in dem Entwurf, den das Ministerium vorgelegt hat, nicht zu erkennen. Ich glaube daher, dass wir schnellstens über einige zentrale Punkte verhandeln müssen, sodass es, wenn öffentliches Geld fließt und ein öffentliches Interesse vorhanden ist, Rechtssicherheit in Bezug auf Entscheidungen gibt. Wir müssen gemeinsam eine kluge Linie finden. Das Vorhaben darf nicht irgendwie verhungern, und wir dürfen nicht weiter mit einer Situation konfrontiert sein, die durch zwei konkurrierende Rechtssysteme, was für die Kommunen und Fahrgäste von Nachteil ist, geprägt ist. Ich glaube, wir alle gemeinsam sollten ein großes Interesse daran haben, hier für Rechtssicherheit zu sorgen. ({2}) Eine letzte Bemerkung zum Fernlinienbusverkehr; manche haben sehr viel Redezeit darauf verwendet. Wir haben da eine sinnvolle Regelung gefunden, nämlich eine Freigabe in einem angemessenen Marktrahmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es sozial ist, dies zu tun; denn man sollte auch den Menschen, die nur über ein geringes Einkommen verfügen, die Möglichkeit eröffnen, sich umweltfreundlich und sicher von A nach B fortzubewegen. ({3}) Es ist schlichtweg so, dass der Bus ein umweltfreundliches Verkehrsmittel ist; das wissen wir alle. ({4}) Wir wissen auch, dass der Bus ein kostengünstiges Verkehrsmittel sein kann. Wenn Sie sich mit unternehmerischem Denken beschäftigen würden, dann wäre Ihnen bewusst, dass ein Unternehmen, das keine Zuschüsse erhält, natürlich keine leeren Busse herumfahren lässt. Deshalb war Ihr Zwischenruf etwas schräg. Meine Bitte an uns alle ist: Lasst uns vernünftig verhandeln, damit wir ein kluges und rechtssicheres Gesetz bekommen. Der Bundesrat hat da wertvolle Hinweise gegeben. Danke. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Volkmar Vogel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in einem einig: Qualität, Zuverlässigkeit und Sicherheit des ÖPNV in Deutschland können sich europaweit, wenn nicht gar weltweit sehen lassen. Ich finde, das funktioniert nur dank tüchtiger Mitarbeiter, dank leistungsfähiger Unternehmen und natürlich auch dank vorausschauender Kommunen. Es hat aber auch etwas mit den Besonderheiten der Strukturen bei uns in Deutschland zu tun. Wir haben beim ÖPNV die Pflicht zur flächendeckenden Daseinsvorsorge, das heißt Bedienung überall in den Städten ebenso wie im ländlichen Raum. Wir haben kommunale und vor allen Dingen auch mittelständische Unternehmen, besonders im Busbereich, die in der Region verwurzelt sind und hohe Leistungen erbringen. Es ist uns, so denke ich, gelungen, die EU-Richtlinie 1370 mit diesem in der Bundesrepublik bewährten System in Einklang zu bringen. Die EU-Richtlinie setzt maßgeblich das Beihilferecht um. Sie fordert die Begründung, wenn Zuschüsse notwendig sind, und den Nachweis der Wirtschaftlichkeit möglichst im Wettbewerb. Die EU-Richtlinie 1370 gilt seit dem 3. Dezember 2009 unmittelbar, erlaubt uns aber, ergänzende Regelungen zu treffen, insbesondere wenn es darum geht, die Rechtssicherheit in diesem Bereich zu verbessern. Die christlich-liberale Koalition hat die Novellierung des PBefG im Koalitionsvertrag vereinbart. Wir verfolgen das Ziel, die regionale Verwurzelung der Unternehmen zu stärken. Wir denken hier insbesondere daran, unsere mittelständischen Unternehmen zu stärken und ihnen gleiche Chancen am Markt zu gewähren. Auch deswegen halten wir den Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehre für erforderlich, ebenso die Anpassung der Verfahrensvorschriften für den Genehmigungswettbewerb, um hier mehr Rechtssicherheit herzustellen. Wir wollen nicht, dass die einen Rosinen picken und die anderen die Brosamen zusammenkehren müssen. ({0}) Wir wollen den regionalen Bezug durch die Möglichkeit der Direktvergabe erhalten, aber - auch das muss man ganz klar sagen -: Wer „inhouse“ macht und daraus seinen Vorteil zieht, kann nicht anderswo am Wettbewerb teilnehmen. Daseinsvorsorge heißt: Beförderungsleistungen, die der Markt nicht erbringt, muss der Aufgabenträger - sprich: unsere Kommunen und Landkreise - regeln. Dieser Satz birgt meiner Meinung nach viel Brisanz. Das zeigen zum Beispiel die 16 Änderungsanträge des Bundesrates, die bunt gefächert sind. Die Frage, vor der wir stehen, ist natürlich: Wie kriegen wir hier Ordnung hinein? Die bewährte Praxis der letzten Jahre hat gezeigt, dass aus meiner Sicht - ich denke, darin stimmen wir weitgehend überein - der Nahverkehrsplan ein geeignetes Mittel sein kann, die Interessen der einzelnen Akteure zu koordinieren. Wir sollten uns in den Fraktionen austauschen, wie der Nahverkehrsplan ausgestaltet sein könnte. Wichtig ist aus der Sicht meiner Fraktion, dass die Akteure an der Erarbeitung gleichberechtigt beteiligt sind und ein transparentes und vor allem diskriminierungsfreies Verfahren Anwendung findet. Dazu ist die Mitwirkung der Bundesländer unerlässlich. Zwänge und Rechtsvorschriften der Aufgabenträger könnten so mit den berechtigten wirtschaftlichen Interessen der unterschiedlichen Unternehmen in Einklang gebracht werden. Zur Sicherstellung von Transparenz und Gleichbehandlung - das ist übrigens auch im Sinne der Aufgabenträger, damit sie gar nicht erst in Verruf kommen - muss eine neutrale Genehmigungsbehörde entscheiden und kontrollieren. Dies gilt übrigens auch, sofern erforderlich, bei den Fernbuslinien. Fernbusse sind - Toni Hofreiter hat es gesagt - eine sichere und ökologische Variante des Reisens, besonders für Jüngere und Ältere. Sie sind aus unserer Sicht eine Ergänzung und keine direkte Konkurrenz zur Bahn. Alle Volkmar Vogel ({1}) Bahnunternehmen betreiben auch Buslinien. Die 50-Kilometer-Regelung, so wie im Entwurf der Bundesregierung vorgesehen, wird die Aushöhlung des Nahverkehrs eindämmen. Eine Maut auf Fernbusse wollen wir nicht. Die Entwürfe der Oppositionsfraktionen lehnen wir ab. Der Kostendeckungsgrad im Busverkehr ist deutlich höher als der im Schienenfernverkehr. Ein bemauteter Fernlinienverkehr träfe - das gilt ebenso für den Reise- und Gelegenheitsverkehr - aus unserer Sicht die Menschen mit schmalem Geldbeutel. Eine Befreiung der Busse im Nahverkehr, so wie von Ihnen vorgesehen, würde ein neues bürokratisches Monster erzeugen und ist aus unserer Sicht kaum umsetzbar; denn die Verkehre sind nicht abgrenzbar. Ähnlich verhält es sich mit der Ausweitung der Fahrgastrechte und der Barrierefreiheit. Auch diese im Entwurf vorgesehenen Regelungen sind problematisch. Sie bedeuten aus unserer Sicht das vorzeitige Aus für Busfernlinien. Außerdem zerschlagen sie die Hoffnung von vielen jungen Leuten, Rucksacktouristen und Menschen mit wenig Geld auf mehr Mobilität. ({2}) Gerade zur Barrierefreiheit bedarf es weiterer Gespräche. Wir können die Kosten, die auf die Aufgabenträger und die Unternehmen zukommen, nicht außer Acht lassen. Ich möchte zudem daran erinnern, dass die Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander und die Hilfe, die das Fahr- und das Servicepersonal vor Ort leisten können, nicht außer Acht gelassen werden dürfen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum Ende kommen. Wir gehen mit der Novelle ins parlamentarische Verfahren. Mit Blick auf einen gut funktionierenden ÖPNV in der Bundesrepublik Deutschland sollten alle aufeinander zugehen, damit er am Ende noch besser und effektiver wird. Das PBefG ist rechtlich kompliziert; das wissen wir. Gesunder Menschenverstand kann nicht schaden. Wenn wir alle ihn nutzen, bin ich optimistisch, dass wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. All den Kraftfahrern und Busfahrern draußen im Land wünsche ich allzeit gute und unfallfreie Fahrt. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner hat nun das Wort der Kollege Martin Burkert von der SPD-Fraktion. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Liberalisierung des Fernreisebusverkehrs ist das Koalitionsprojekt der FDP, das wissen wir. Ob es in der Geschichte am Schluss verkehrspolitisch sinnvoll sein wird, das muss sich zeigen. Fakt ist aus unserer Sicht heute, dass wichtige Regelungen für einen fairen Wettbewerb fehlen. Wir vermissen die Lohn- und Sozialstandards, die überhaupt keine Regelung in diesem Gesetzesentwurf der Bundesregierung finden. ({0}) Wir vermissen auch Vorgaben, wie man die Lenk- und Ruhezeiten überwachen will. Sie geben mit Ihrem Gesetzesentwurf Billiganbietern die Möglichkeit, auf Kosten der Sicherheit zu fahren. Uns droht ein Preiskampf auf Kosten der Fahrgäste. Ich prophezeie Ihnen: Nach der ersten Tragödie wegen Überschreitungen von Lenk- und Fahrzeiten oder Verstößen gegen Ruhezeiten werden wir dieses Thema hier im Deutschen Bundestag wieder auf dem Tisch haben. ({1}) Wenn in Zukunft die Menschen vom Auto auf den Bus umsteigen würden, dann gäbe es wenigstens einen verkehrspolitisch sinnvollen Effekt. Ein Gutachten der Bundesregierung zeigt jedoch auf, dass wir davon ausgehen müssen, dass ein Umstieg in Höhe von 60 Prozent von der Schiene auf den Busverkehr erfolgen wird. Insofern halten wir das Ganze für durchaus problematisch. Natürlich haben die Kunden mit neuen Fernbuslinien neben günstigeren Preisen auch ein größeres Angebot, wie sie von A nach B kommen. Wenn die Bahn dann aber so manche Strecke stillgelegt hat, weil einige Routen auf der Schiene nicht mehr ausgelastet sind, wird das Geschrei wieder groß sein. Dann gibt es plötzlich nicht mehr eine größere, sondern eine geringere Auswahl. Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ich sehe da überhaupt kein Problem. Wenn man heute einen Fernbus nehmen kann, der angemeldet ist von Freiburg über Friedrichshafen nach München, dann mag das eine sinnvolle Ergänzung sein. Seit dieser Woche wissen wir aber, dass es ein Angebot von Luxemburg nach Frankfurt gibt, und zwar parallel zur Schiene. Hier - das prophezeie ich Ihnen - wird die Schiene über kurz oder lang den Kürzeren ziehen. Damit werden der ICE und der Intercity, die dort heute noch verkehren, wegfallen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Fischer.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Burkert, bei Ihren Ausführungen haben Sie wohl übersehen, dass die DB AG auf etlichen Strecken den eigenen Schienenverkehr mit Busverkehr konkurrenziert; die prominenteste Strecke ist Hamburg-Berlin. Man kann dort relativ teuer auf der Schiene oder relativ preiswert mit einem konkurrierenden Bahnbus fahren. In diesem Bahnbus sitzen die Wähler, Freunde und Freundinnen von Toni Hofreiter, die dort gerne preiswert mit Rucksack und Turnschuh fahren, ({0}) auch wenn die Fahrt etwas länger dauert. Ist Ihnen das bekannt?

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Fischer, selbstverständlich ist mir bekannt, dass die Deutsche Bahn AG der größte Busanbieter in Deutschland ist. Mir ist aber auch bekannt - das dürfte auch Ihnen als Mitglied des Aufsichtsrats eines Bahnbetriebs bekannt sein -, dass sich die Deutsche Bahn AG nicht an diesem neuen Markt beteiligen wird, keine neuen Busse anschaffen wird und keine neuen Buslinien betreiben wird. Insofern freuen sich jetzt andere. Sie sagen: Gott sei Dank, dass ein großer Player nicht mehr am Markt ist. - Uns ist auch bekannt, dass junge Menschen natürlich Busse nutzen werden, weil es sich um preiswerte Mobilität handelt, wahrscheinlich auch Senioren, weil sie genug Zeit haben, um einen Stau zu verkraften; der Manager wird die Busse sicherlich nicht nutzen. All das ist bekannt. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Fischer, wir sind kurz vor dem Ende. Bitte.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Burkert, ist Ihnen bekannt, dass die DB AG gerade eine neue Fernbuslinie von München nach Prag eingerichtet hat? Deswegen wundert mich Ihre Aussage, dass sich die DB AG aus dem Markt zurückziehen und keine neuen Linien einrichten möchte.

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Deutsche Bahn AG wird nach der jetzigen Rechtslage keine neuen Linien innerhalb Deutschlands einrichten. Wie Sie wissen, liegt Prag in Tschechien; da dürfen wir Nachhilfe geben. ({0}) Im Übrigen fährt die Deutsche Bahn in 3 Stunden 45 Minuten von Nürnberg nach Prag; es gibt dort eine hervorragende Auslastung. Grenzüberschreitend wird sicherlich auch das Unternehmen Deutsche Bahn AG weiterhin den einen oder anderen Fernbus einsetzen; da stimme ich mit Ihnen überein. ({1}) Ich will in der restlichen Redezeit darauf hinweisen, wo wir große Probleme haben. Wir haben in unserem Gesetzentwurf eine Maut in Höhe von 0,04 Cent eingefordert. Es wird immer gefragt: Wie soll man die Schaffung von Barrierefreiheit finanzieren? Dazu könnten wir viel sagen. In meiner Heimatstadt Nürnberg kommt der CSU-Referent zu mir und sagt: Herr Burkert, wie wollen wir eigentlich einen Busbahnhof finanzieren, wenn sechs Linien nach Nürnberg angemeldet werden? - Mit einer Maut von 0,04 Cent, die für alle in diesem Land zu verkraften wäre - das sind für jeden Reisenden 1 bis 4 Euro -, könnten wir die Infrastruktur für die Kommunen finanzieren. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Sie lassen die Kommunen alleine im Regen stehen. ({2}) Aber das werden Ihnen die bayerischen CSU-Bürgermeister und -Oberbürgermeister sicherlich selber um die Ohren hauen. Wir fordern nach wie vor, dass wir uns in den Verhandlungen, auf die ich mich sehr freue, über die UN-Behindertenrechtskonvention unterhalten; denn das Gesetz, das Sie vorgelegt haben, wird der Konvention schlichtweg nicht gerecht. Darüber müssen wir noch reden. Ich sage es noch einmal: Der Zoll hat heute keine Möglichkeiten zur Überwachung der Lenk- und Ruhezeiten; auch die Polizei hat dafür kein Personal. Darüber müssen wir reden, damit es wegen der fehlenden Überwachung hoffentlich nicht zu einem schweren Unglück kommt. Hier fehlt eine gesetzliche Regelung. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Abend. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8233, 17/7046 und 17/7487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir haben jetzt noch einige Tagesordnungspunkte, bei denen die Reden zu Protokoll gegeben werden. Ich bitte, trotzdem anwesend zu bleiben, damit wir die Abstimmungen durchführen können. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara - Drucksachen 17/4271, 17/4932 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Marina Schuster Sevim Dağdelen Kerstin Müller ({1}) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Da- mit sind Sie sicher einverstanden. Das gilt auch für die restlichen Tagesordnungspunkte. Bei diesem Tagesord- nungspunkt handelt sich um die Reden der Kollegen Jürgen Klimke, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Götzer, CDU/ CSU, Günter Gloser, SPD, Marina Schuster, FDP, Heike Hänsel, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grü- nen.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4932, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4271 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches - Drucksache 17/7744 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) - Drucksache 17/8205 - Berichterstattung: Abgeordnete Alois Gerig Dr. Christel Happach-Kasan Friedrich Ostendorff Wir nehmen die Reden der folgenden Kollegen zu Protokoll: Franz-Josef Holzenkamp, CDU/CSU, Elvira Drobinski-Weiß, SPD, Dr. Christel Happach-Kasan, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen. 1) Anlage 3

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Landwirtschaft in Deutschland ist auf eine nachhaltige, ertragreiche und sichere Produktion qualitativ hochwertiger Lebensmittel und nachwachsender Rohstoffe ausgerichtet. Das Dünge- und Saatgutverkehrsgesetz sowie das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch setzen dafür wichtige Rahmenbedingungen. Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf sollen an den genannten Gesetzen Änderungen vorgenommen werden. Zunächst zur Änderung des Düngegesetzes: Das geltende Düngegesetz schreibt vor, dass Düngemittel der EG-Düngemittelverordnung oder der deutschen Düngemittelverordnung entsprechen müssen. Düngemittel, die in anderen EU-Mitgliedstaaten hergestellt wurden und nicht im Einklang mit der EG-Düngemittelverordnung oder der deutschen Düngemittelverordnung stehen, dürfen nach dem Wortlaut des Düngemittelgesetzes in Deutschland eigentlich nicht in Verkehr gebracht werden. Diese Gesetzeslage deckte sich lange Zeit mit der Auffassung der EU-Kommission. 2009 änderte die Brüsseler Behörde jedoch ihre Meinung. Die Kommission vertritt nun die Auffassung, dass beim innergemeinschaftlichen Verkehr mit Düngemitteln das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gilt. Das Prinzip besagt, dass der Verkauf einer Ware, die in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt wurde, in einem anderen Mitgliedstaat nicht verboten werden darf. Dieses Prinzip wird auf Produkte angewendet, für die keine einheitliche Regulierung in der EU besteht. Dies ist bei Düngemitteln der Fall; das Düngemittelrecht ist in der EU nur teilweise harmonisiert. Die Anwendung des Prinzips auf den Düngemittelmarkt bedeutet, dass in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig in Verkehr gebrachte Düngemittel grundsätzlich auch in Deutschland angewendet werden dürfen. Mit dem Gesetzentwurf wird das Düngegesetz an das geltende Gemeinschaftsrecht angepasst und ein Vertragsverletzungsverfahren vermieden. Das Düngegesetz wird dahin gehend geändert, dass künftig in Deutschland alle Düngemittel angewendet werden dürfen, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, in der Türkei sowie in den EWR-Mitgliedstaaten Norwegen, Island und Liechtenstein rechtmäßig in den Verkehr gebracht wurden. Diese Neuregelung darf keinesfalls dazu führen, dass Düngemittel mit unerwünschten Nebenwirkungen in den Handel gelangen. Alle auf dem Markt verfügbaren Düngemittel sollten im Rahmen der guten fachlichen Praxis problemlos anwendbar sein. Deshalb sieht der Gesetzentwurf in einer weiteren Änderung des Düngegesetzes vor, dass Düngemittel aus den genannten Staaten die gleichen Anforderungen erfüllen müssen wie inländische. Diese Regelung ist sinnvoll und notwendig, damit auch von importierten Düngemitteln keine Gefahren für Mensch und Tier sowie für den Naturhaushalt ausgehen. Durch die Änderungen am Düngegesetz behält der Schutz von Mensch und Tier sowie des Naturhaushalts seinen hohen Stellenwert im deutschen Düngerecht. Der Bundesrat hat in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf vorgeschlagen, dass neben dem Schutz von Mensch und Tier sowie des Naturhaushalts auch das Schutzziel „Fruchtbarkeit des Bodens“ im Düngegesetz verankert werden sollte. Gegen eine derartige Ergänzung spricht, dass sie wahrscheinlich nicht von der EU-Kommission akzeptiert und ein Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen würde. Ich halte den Vorschlag des Bundesrates für verzichtbar, weil der ausdrücklich im Gesetz verankerte Schutz des Naturhaushalts die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit mit einschließt. Des Weiteren sollen mit dem Gesetzentwurf Änderungen am Saatgutverkehrsgesetz vorgenommen werden. Das Saatgutverkehrsgesetz ermächtigt das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, in einer Rechtsverordnung spezielle Anforderungen für Saatgut festzulegen, das zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen bestimmt ist. Diese Ermächtigungsgrundlage wird nun genauer gefasst: Durch Rechtsverordnung sollen für diese sogenannten Erhaltungssorten auch Regelungen zur regionalen Herkunft des Saatgutes, zu Saatgutmengen und zu Aufzeichnungspflichten für Saatguterzeuger getroffen werden können. Diese Neuregelung ist richtig, weil sie der Umsetzung von EU-Richtlinien dient und die rechtlichen Grundlagen in einem Regelungsbereich präzisiert, der für den Erhalt der biologischen Vielfalt bei Nutzpflanzen von großer Bedeutung ist. Neben dem Dünge- und dem Saatgutverkehrsgesetz sieht der Gesetzentwurf auch Änderungen am Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch vor. So werden bestimmte im Gesetz verwendete Begriffe an Begriffe in den zugrunde liegenden EU-Verordnungen angepasst. Außerdem wird der fahrlässige Verstoß gegen die EG-Verordnung über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften unter Strafe gestellt; bisher war Fahrlässigkeit in diesem Bereich nicht strafbar. Diese Änderungen sind ebenfalls richtig, weil sie der Rechtsklarheit und der Lebensmittelsicherheit dienen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass mit dem Gesetzentwurf das Dünge- und das Saatgutverkehrsgesetz sowie das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch auf sinnvolle und notwendige Weise präzisiert und an EURecht angepasst werden. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In der heutigen Debatte beraten wir über die Änderung von drei Gesetzen: des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches. Ich möchte an dieser Stelle nicht infrage stellen, ob nicht bereits 2009, als das derzeit gültige Düngegesetz beschlossen und veröffentlicht wurde, die Bundesregierung diesen Mangel im Gesetz schon hätte erkennen können. Die Rechtsauffassung der Europäischen Kommission zwingt uns jetzt, das Düngegesetz nachzubessern. Zukünftig dürfen nicht nur Düngemittel angewandt werden, wenn sie einem durch die EG-Düngemittelverordnung zugelassenen Typ oder den Anforderungen der Verordnung des Inverkehrbringens von Düngemitteln entsprechen. Nein, zukünftig dürfen auch alle Düngemittel verkauft werden, die in Staaten zugelassen sind, die dem Abkommen über die Gründung der europäischen Freihandelsassoziation und dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum angehören. Auch Art. 2 - die Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes - ist erforderlich, da EU-Richtlinien konkretere Anforderungen an das Inverkehrbringen von Saatgut zur Erhaltung und Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen stellen. Wir unterstützen die Nachfrage nach regional erzeugten Lebensmitteln, da sie unter anderem die Existenz von kleinbäuerlichen Betrieben sichern und unsere Kulturlandschaft schützen können. Doch wie überall die Einhaltung der Vorschriften ist nur so gut wie ihre Kontrolle. Frau Bundesministerin Aigner, nehmen Sie die Vorschläge des Bundesrechnungshofes auf, stärken Sie sowohl auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene die Kontrollen, und vor allem: Arbeiten Sie mit an Strategien für Kampagnen, um unsere Regionen und deren Produkte bekannt zu machen! Die Anpassungen im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch hinsichtlich der Strafbewehrung unterstützen wir. Aber auch hier muss ich mich fragen, warum der „fahrlässige Verstoß“ nicht längst Teil der Straftatbestände und damit strafbewehrt ist.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Gesetzentwurf schafft im Düngegesetz Regelungen für einen freien Warenverkehr von Düngemitteln in der Europäischen Union, er präzisiert die Dokumentationsvorschriften für Saatgut von Erhaltungssorten im Saatgutgesetz und regelt den Straftatbestand des fahrlässigen Verstoßes im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch. Die einzelnen Änderungen in den Gesetzen möchte ich kurz erläutern. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erstreckt sich auch auf den Warenverkehr mit Düngemitteln. Die Europäische Kommission hat eine entsprechende Änderung der rechtlichen Regelungen in Deutschland angemahnt. Aus diesem Grund verabschieden wir heute das Gesetz zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuches. Dies ist ein weiterer Schritt beim Bürokratieabbau und zur Harmonisierung des europäischen Marktes in diesem Bereich. Dieser Gesetzentwurf schafft nicht nur die rechtliche Grundlage für die grundsätzliche Verkehrsfähigkeit von Düngemitteln aus anderen Mitgliedstaaten, sondern ist auch im Hinblick auf den Umweltschutz gut für eine moderne Landwirtschaft in Europa. Denn der Gesetzentwurf sichert die Wahrung unseres bestehenden hohen Schutzniveaus. Auch Düngemittel aus anderen Mitgliedstaaten müssen den Anforderungen zum Schutz vor Gefahren für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder den Naturhaushalt genügen. Die FDP begrüßt, dass durch diese Harmonisierung die Auswahl an DüngemitZu Protokoll gegebene Reden teln breiter wird, ohne unsere hohen Qualitätsanforderungen zu verwässern. Des Weiteren wird der im Saatgutverkehrsgesetz enthaltene Ermächtigungserlass für spezielle Anforderungen an das Inverkehrbringen von Saatgut, das zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen bestimmt ist, präzisiert. Dies geschieht gemäß den Vorgaben der seit dem Jahr 2008 in Kraft getretenen einschlägigen Richtlinien der EU-Kommission. Diese sehen für das Inverkehrbringen von Saatgut von Erhaltungssorten landwirtschaftlicher Pflanzenarten und Gemüsearten sowie von Erhaltungssaatgutmischungen unter anderem Vorgaben zur regionalen Herkunft des Saatgutes, zu Saatgutmengen und spezielle Aufzeichnungspflichten für Saatguterzeuger vor. Durch diese Regelungen wird Klarheit darüber geschaffen, wo genau Saatgut herkommt. Das ist für den Erhalt pflanzengenetischer Ressourcen nicht unbedeutend, da wir in Europa eine Vielfalt von regionalen Sorten haben. Eine genaue Herkunftsdokumentation trägt hier auch zum Erhalt der Biodiversität von Nutzpflanzen bei. Schließlich wird mit dem Gesetzentwurf ein weiterer Punkt des Aktionsplanes „Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, Transparenz für den Verbraucher“ umgesetzt. Der fahrlässige Verstoß gegen die in § 58 Abs. 2 a des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches geregelten Straftatbestände wird nun strafbewehrt und sorgt somit für mehr Sorgfalt bei der Herstellung von Lebens- und Futtermitteln. Zum Schluss wird im Gesetz noch eine der Strafbewehrungen des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches in ihrem Wortlaut an die Begrifflichkeiten des Gemeinschaftsrechts angepasst.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eigentlich ist dieser Gesetzentwurf nicht der Rede wert. Es handelt sich um Änderungen an drei nationalen Gesetzen, welche auf den neuesten Stand gebracht werden müssen. Aktualisierungen ergeben sich aus dem EU-Recht. Also eigentlich kein Problem, sollte man meinen. Das sieht die Bundestagsfraktion Die Linke aber nicht so. Auch der Bundesrat übte Kritik am Vorgehen der Bundesregierung. Diese Kritik hat meine Fraktion aufgegriffen und im Agrarausschuss des Bundestages am 14. Dezember des vergangenen Jahres einen Änderungsantrag gestellt ({0}). Wir wollten, dass die Beschreibung der Schutzgüter des Düngegesetzes erweitert bzw. konkretisiert wird. Uns fehlte - wie dem Bundesrat auch - der Bodenschutz. Denn der Boden ist die wichtigste Grundlage der Agrarproduktion. Ohne fruchtbaren Boden keine Landwirtschaft, ohne Landwirtschaft keine Nahrungs- und weniger Energieproduktion. Darum müssen wir alles dafür tun, dass die Bodenfruchtbarkeit erhalten bleibt oder wieder verbessert wird, zum Beispiel durch aufeinander abgestimmte Fruchtfolgen, die diese Bezeichnung auch verdienen, also mehr sind als der Wechsel einer Ackerkultur, oder durch bodenschonende Bearbeitung und geschlossene Nährstoffkreisläufe. Wer Mais auf Mais anbaut, bei starkem Gefälle pflügt oder nur auf Kunstdünger setzt, zerstört unsere Böden und damit die Produktionsgrundlage der Zukunft. Der konkrete Schutz des Bodens gewinnt weiter an Bedeutung. Darum hat die Linke beantragt, das Schutzgut „Bodenfruchtbarkeit“ im Rahmen der aktuellen Novellierung des Düngegesetzes in diesem ausdrücklich zu verankern. Die Änderung bezieht sich auf den Import von Düngemitteln nach Deutschland, für die wir die gleichen Bedingungen festschreiben wollen, die für alle anderen Düngemittel auch gelten: „Neben der Anforderung, dass im Rahmen des Inverkehrbringens von Düngemitteln, Bodenhilfsstoffen, Pflanzenhilfsmitteln sowie Kultursubstraten keine Gefahren für die Gesundheit von Menschen und Tieren sowie für den Naturhaushalt ausgehen dürfen, müssen die bestehenden Anforderungen, dass diese Stoffe die Ernährung von Nutzpflanzen sicherstellen und die Fruchtbarkeit des Bodens, insbesondere den standort- und nutzungstypischen Humusgehalt, erhalten oder nachhaltig verbessern sollen ({1}), ebenso gelten“, heißt es in der Begründung unseres Änderungsantrags. Der Bundesrat hat sich ähnlich geäußert, aber auch sein Vorschlag wurde nicht berücksichtigt. Die Bundesregierung begründet die Ablehnung mit der Behauptung, eine entsprechende Änderung stehe mit dem EU-Recht in Konflikt und sei im Übrigen sowieso unnötig. Durch den Begriff „Naturhaushalt“ sei der Boden bereits inbegriffen und der Änderungsvorschlag der Linksfraktion damit unnötig. Nur die Grünen schlossen sich unserer Forderung an. Die SPD enthielt sich leider der Stimme, obwohl sich der SPD-Agrarminister Dr. Till Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern im Bundesrat für eine solche Änderung starkgemacht hatte. Angesichts solcher Widersprüche kann ich verstehen, dass sich Minister Backhaus öffentlich beklagt, dass die Agrarpolitik in der SPD einen so geringen Stellenwert hat, wie in der Fachzeitschrift Agra-Europe vergangene Woche zu lesen war. Da der Antrag der Linken von der Koalition abgelehnt wurde, enthält der Gesetzentwurf immer noch den beschriebenen Mangel. Da wir die übrigen Änderungen jedoch mittragen, wird sich die Linke in Gesamtabwägung zur Gesetzesänderung enthalten.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir stehen in der Landwirtschaft vor einer ganzen Reihe großer, dringender Herausforderungen. Das zeigt sich bei den großen Debatten dieser Tage wie der gestrigen Aktuellen Stunde zum Antibiotikamissbrauch in der Tierhaltung. Das zeigt sich bei vielen Debatten, die wir anlässlich der heute beginnenden Internationalen Grünen Woche hier in Berlin führen, etwa über die Reform der EU-Agrarpolitik. Das zeigt sich aber auch bei Änderungen gesetzlicher Details, wie sie der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht. Auch hier haben wir es gleich mit den drei großen Herausforderungen der Biodiversität, der Bodenfruchtbarkeit und des Verbraucherschutzes zu tun, um die sich die Koalition und die Bundesregierung so gern herumdrücken. Zu Protokoll gegebene Reden Wenn wir über das Düngegesetz reden, müssen wir natürlich über den Schutz der Bodenfruchtbarkeit reden. Der weltweite Verlust an Bodenfruchtbarkeit muss uns mit großer Sorge erfüllen. Für mich als Bauer ist die Erhaltung und Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit eine der wichtigsten Aufgaben, der ich mich in der Verantwortung für die nächsten Generationen zu stellen habe. Der Bundesrat hat angeregt, den Schutz der Bodenfruchtbarkeit explizit zu nennen, wenn es um die Zulassung von Düngemitteln geht. Wir unterstützen das. Die Bundesregierung hat leider nicht schlüssig darlegen können, warum sie sich hier sperrt. Zum Zweiten ist hier das Saatgutverkehrsgesetz betroffen. Es geht hier um die Umsetzung der EU-Erhaltungssortenrichtlinie. Das mag ein eher technischer Schritt sein. Aber wenn es um die Erhaltungssorten geht, das heißt um die Pflege und Erhaltung alter, wichtiger Kultursorten, um die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt, dann müssen wir immer sehr genau hinsehen. Diese Arbeit wird in erster Linie ehrenamtlich von Einzelpersonen und NGOs betrieben, die sich zum Ziel gesetzt haben, diese Kulturgüter für die Allgemeinheit zu erhalten. Wenn wir gesetzgeberisch mit dieser im höchsten Sinne gemeinnützigen Arbeit umgehen, so muss es unser Ziel sein, diese wertvolle Arbeit zu stützen, zu fördern und keinesfalls Hürden aufzubauen, durch die diese Arbeit erschwert werden könnte. Hier muss Initiative ermöglicht und darf nicht gebremst werden. Wir müssen daher sehr genau mit den Betroffenen beraten, wie hier das Saatgutverkehrsgesetz sinnvoll auszugestalten und anzuwenden ist. Die Bundesregierung hat in der Ausschussberatung leider nicht schlüssig darlegen können, ob und wie sie diesem Ziel bei dem vorliegenden Gesetzentwurf nachgekommen ist. Das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, der dritte Teil dieses Gesetzentwurfes, hat uns ja erst vor kurzem beschäftigt, als es um den Dioxinskandal in der Landwirtschaft ging. Wir glauben, dass die vorgesehene Verschärfung der Strafbewehrung beim fahrlässigen Umgang mit Kokzidiostatika und Histomonostatika richtig und sinnvoll ist. An diesem Punkt unterstützen wir den Gesetzentwurf. Aufgrund der Unklarheiten bei der Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes und der Weigerung der Bundesregierung, den Schutz der Bodenfruchtbarkeit im Sinne der Forderung des Bundesrates explizit in der Änderung des Düngegesetzes zu benennen, werden wir dem Gesetz aber nicht zustimmen, sondern uns enthalten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8205, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7744 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({0}), Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Schutz vor Gefahren für Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche halbautomatische Schusswaffen - Drucksache 17/7732 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von Günter Lach CDU/CSU, Stephan Mayer, CDU/CSU, Gabriele Fograscher, SPD, Serkan Tören, FDP, Frank Tempel, Die Linke, und Wolfgang Wieland, Bündnis 90/ Die Grünen.1) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB unterstützen - Drucksachen 17/7827, 17/8340 - Berichterstattung: Abgeornete Marlene Mortler Jens Ackermann Markus Tressel Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von Marlene Mortler CDU/CSU, Christian Hirte, CDU/CSU, Gabriele Hiller-Ohm, SPD, Jens Ackermann, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus Tressel, Bündnis 90/Die Grünen. 1) Anlage 4

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem Antrag „Tag des barrierefreien Tourismus auf der ITB unterstützen“ soll die Bundesregierung aufgefordert werden, auf die dauerhafte Einrichtung dieses Thementages auf der Internationalen Tourismus-Börse, ITB, ab 2012 hinzuwirken. Sie soll dazu in einen vertieften Dialog mit der Messe Berlin, der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V., Natko, dem Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, BKB, Behindertenverbänden und Marketingorganisationen eintreten. Wir sind uns wohl alle hier im Hause einig: Wir wollen den barrierefreien Tourismus in Deutschland voranbringen. Deshalb begrüßen wir, dass im Rahmen der ITB als der größten Tourismusmesse der Welt am 8. März 2012 erstmals ein Thementag mit Vorträgen und Diskussionen zum barrierefreien Tourismus in Deutschland stattfindet. Dieser Thementag wird sicher helfen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses so wichtige Thema zu lenken. Die Organisation und Finanzierung des Thementages sollte vor allem bei den beteiligten Verbänden und der Privatwirtschaft liegen. Federführend ist hier die Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle, der wir an dieser Stelle herzlich danken. Die Natko trägt seit Jahren dazu bei, den barrierefreien Tourismus in Deutschland zu stärken. Sie zeigt noch bestehende Schwachstellen auf, indem sie Menschen mit Behinderungen in die Planung und Konzeption einbindet. Wir freuen uns, dass die Messe Berlin die Veranstaltung bereits durch die kostenlose Bereitstellung von Räumlichkeiten und mit Marketingmaßnahmen unterstützt. Wir würden begrüßen, wenn sich Tourismuswirtschaft und Tourismusverbände noch stärker freiwillig beteiligten, sowohl 2012 als auch in den Folgejahren. Mit vergleichsweise geringen Beträgen könnte sich die Branche noch stärker zur Barrierefreiheit bekennen und ihre eigenen Initiativen und vielen positiven Beispiele herausstellen. Die Veranstaltung wird bereits über den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen unterstützt. Für diese Förderung habe ich mich persönlich bei Hubert Hüppe mit eingesetzt. Die Aufgabe der Bundesregierung ist es aber vor allem, die Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in Deutschland zu verbessern. Das tun wir - und zwar vielfältig -: So hat das Bundeswirtschaftsministerium Studien zum Thema Barrierefreiheit gefördert und mit der Konferenz „Barrierefreier Tourismus für Alle - Trends und Perspektiven“ am 11. September 2008 eine eigene große Veranstaltung durchgeführt. Einen wesentlichen Impuls gibt die Bundesregierung aktuell mit der Förderung des im Oktober 2011 gestarteten Projekts „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für alle in Deutschland“. Dieses Projekt wird mit rund 500 000 Euro gefördert. Auch hier ist die Bundesregierung also engagiert. Träger sind die NatKo und das Deutsche Seminar für Tourismus, DSFT. In den nächsten zwei Jahren soll so eine einheitliche Kennzeichnung für barrierefreie Produkte entlang der gesamten Servicekette erarbeitet werden. Parallel dazu starten Schulungsmaßnahmen zur Qualifizierung der Leistungsträger und der Aufbau einer Internetplattform für barrierefreie Angebote und Dienstleistungen. Diese Maßnahmen sind dann wirklich ein großer Schritt zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für den barrierefreien Tourismus in unserem Land. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen, dass Barrierefreiheit zu einem Qualitätsmerkmal des Deutschlandtourismus wird. Denn: Sie ist eine Grundvoraussetzung für die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Barrierefreie Angebote sind außerdem ein Gewinn für alle: Sie kommen Menschen mit dauerhaften Behinderungen ebenso zugute wie Familien mit kleinen Kindern und Kinderwagen, Menschen mit vorübergehend eingeschränkter Mobilität oder älteren Menschen. Angesichts des demografischen Wandels wird dieser Aspekt noch weiter an Bedeutung gewinnen. Es passiert viel auf diesem Gebiet. Die Sensibilisierung der Branche für das Thema schreitet voran. Tourismusanbieter und Verkehrsunternehmen haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend auf mobilitätseingeschränkte Gäste eingestellt und viele beispielhafte barrierefreie Angebote geschaffen. Bei der Deutschen Bahn sind bereits bei 70 Prozent der 5 400 Bahnhöfe die Bahnsteige ohne Stufen über Gehwege, Rampen oder Aufzüge erreichbar. Vielerorts ist auch der Zugang zu Freizeit- und Kultureinrichtungen deutlich verbessert worden. Gleiches gilt für Nationalparks und Naturparke. Allerdings ist die Planung und Durchführung einer Reise für Menschen mit Behinderungen weiter alles andere als leicht. Trotz vielfältiger Investitionen und Informationen besteht noch immer Handlungsbedarf aufseiten der Leistungsanbieter. Bestehende Angebote müssen besser vernetzt, koordiniert und vermarktet, Mitarbeiter besser qualifiziert werden. Ziel muss eine durchgehend barrierefreie touristische Servicekette sein - von der Information und Buchung über die Anreise, Unterkunft bis hin zu Freizeit- und Kulturangeboten am Zielort. Gerade für Menschen mit Behinderungen ist eine detaillierte Reiseplanung mit verlässlichen Informationen unverzichtbar. Wir wollen, dass all diese Schritte auf dem Weg zum Qualitätsmerkmal Barrierefreiheit im Deutschlandtourismus noch besser verknüpft werden. Wir haben daher im Tourismusausschuss eine öffentliche Anhörung zu diesem Thema beantragt. Sie wird am 8. Februar 2012 stattfinden. Davon erwarten wir uns weitere Impulse und Anregungen. Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Ziel weiterarbeiten. Zu Protokoll gegebene Reden

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Barrierefreiheit, oder vielleicht besser Barrierearmut, ist ein wirkliches Dauerthema in unserem Ausschuss. Über alle Parteigrenzen hinweg arbeiten wir daran - immer sehr sachorientiert - und verfolgen oft gemeinsame Ziele. Bei vielleicht keinem anderen Thema tun wir das so intensiv wie bei der Frage des barrierefreien Tourismus. Ich bin jetzt seit vier Jahren im Bundestag und auch Mitglied im Tourismusausschuss, und ich kann mich eigentlich an keine touristische Initiative erinnern, bei der wir nicht ganz besonders auch darauf hingewiesen hätten, dass Barrierefreiheit bei den Angeboten zu berücksichtigen sei. Ich denke da nur einmal an den Antrag aus dem vorletzten Jahr, den Kulturtourismus zu fördern, oder auch an unsere Initiativen im Rahmen der Luther-Dekade. Oder denken Sie an die Expertenanhörungen in unserem Ausschuss - immer wieder adressieren Abgeordnete aller Fraktionen an die Vertreter der Tourismusbranche, bei der Barrierefreiheit weiter voranzugehen. Deshalb ist es auch ein gutes Zeichen, dass in diesem Jahr bei der größten Tourismusmesse, der ITB, ein Tag des barrierefreien Tourismus angeboten wird. Das zeigt, dass auch die Branche um die wachsende Bedeutung weiß. Denn das muss uns miteinander ebenfalls klar sein: Wir können Gesetze, Verordnungen, Regeln beschließen und erlassen - ohne das Mittun der Anbieter geht es nicht. Und dabei brauchen wir nicht nur das Mittun, sondern ein wirkliches Antreiben und Anschieben eben von der Branche. Genau an der Stelle sind wir beim Problem dieses Antrages. Sie fordern, dass die Bundesregierung auf einen dauerhaften Tag des barrierefreien Tourismus hinwirken soll. Um es vorweg zu sagen: Ich würde mich freuen, wenn dieser Tag ein großer Erfolg würde und er auch in Zukunft wieder stattfände. Denn ich bin fest überzeugt, dass es ein Potenzial für das Thema gibt, dass man damit touristische Produkte erstellen kann, die man auch verkaufen kann. Aber ob das eine Dauereinrichtung sein muss, das weiß ich zumindest im Moment wahrlich nicht. Da würde ich schon gern einmal abwarten, was in diesem Jahr passiert. Und warum muss denn dies alles von der Politik kommen? Sie haben ja in Ihrem Antrag die Akteure genannt: Messen, NatKo, Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, Verbände, Marketingorganisation. Diese sind in diesem Jahr an Bord, und dafür möchte ich auch Danke sagen. Denken Sie aber allein an die Zahl von 11 000 Ausstellern auf der ITB. Die ganze Wertschöpfungskette ist dabei - Reiseveranstalter, Anbieter von Buchungssystemen, Zielgebiete, Airlines, Hotels bis hin zum Autovermieter, so heißt es auf der Internetseite der ITB. 11 000mal Branchenwissen, 11 000-mal Wissen über das, was in der Praxis notwendig und machbar ist, 11 000-mal das Wissen um Kundenbedürfnisse, Trends und Entwicklungen. Und auch 11 000-mal Erfahrungen mit Barrierefreiheit - Erfahrungen in Bezug auf gute Beispiele, auf Entwicklungsbedarf, auf schlechte Beispiele. Wir sind dabei sicher nicht an einem Punkt, an dem uns nicht noch viele Verbesserungsmöglichkeiten einfallen würden. Gerade als Mitglied einer Regierungsfraktion will ich unsere Bundesregierung ja gar nicht kleinreden. Aber wenn 11 000 Akteure zusammenkommen, sollte doch genügend Interesse und Sachverstand beieinander sein, damit von ganz allein ein solcher Tag initiiert wird oder auch andere begleitende Angebote im Rahmen der ITB gefunden werden, zumindest dann, wenn eben viele der Aussteller für sich erkennen, dass ihnen und allen Kunden ein solcher regelmäßiger Tag weiterhilft. Dass der Behindertenbeauftragte der Regierung den diesjährigen Tag besonders unterstützt, zeigt ja, dass der Bundesregierung dieses Thema alles andere als egal ist. Auch das seit 2011 laufende Projekt „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ unterstreicht das. Das zeigt doch, dass bei uns allen und auch bei der Regierung das Thema angekommen ist. Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es gewinnt immer weiter an Bedeutung. Das sehen und erleben wir alle miteinander täglich. Und Barrierefreiheit geht uns alle an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir die Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit einem Kinderwagen. Als Vater zweier kleiner Kinder kann ich davon ein Lied singen. Wir werden alle aber auch irgendwann einmal älter und sind nicht mehr so mobil, hören schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren auf. Die demografische Entwicklung kommt hinzu und macht uns deutlich, dass das Thema immer mehr an Fahrt gewinnt und weiter gewinnen wird. Deshalb finde ich es toll, dass es in diesem Jahr einen solchen Tag auf der ITB gibt. Und deshalb glaube ich auch, dass es - ganz ohne die Politik - auch ein Interesse an einem dauerhaften Aufgreifen des Themas barrierefreier Tourismus geben kann. Aber an dieser Stelle möchte ich schon auf genau dieses Interesse der Branche selbst und auch auf die Verantwortung der Branche hinweisen. Es ist doch am Ende niemandem gedient, wenn immer die Politik, in diesem Fall die Regierung, den Antreiber geben muss. Ich bin sehr dafür, dass wir bei den tourismuspolitischen Initiativen den Aspekt der Barrierefreiheit immer wieder starkmachen und auch von den Akteuren bestimmte Dinge einfordern. Aber an dieser Stelle möchte ich wirklich an die Branche verweisen. Setzt euch zusammen, legt ein bisschen Geld hin und überlegt, wie das Thema auf der ITB eingerahmt sein kann. Das geht sicher auf ganz viele verschiedene Arten; das muss am Ende vielleicht auch nicht der besondere Tag des barrierefreien Tourismus sein, sondern es sind viele Aktionen, Auszeichnungen von BestPractice-Beispielen, kleine Ideen am Rande der Messe denkbar. Auch hier bin ich sicher, dass die Kreativität der Betroffenen im Zweifel größer ist als das, was wir seitens der Politik forcieren können. Lassen Sie uns daher die diesjährige ITB abwarten. Wir sind gespannt, wie dieser Tag des barrierefreien Tourismus aussehen wird, wie auch die Reaktionen sein werden. Den Antrag der SPD werden wir heute ablehnen, weil wir zumindest nicht erkennen, warum die Bundesregierung an dieser Stelle aufgefordert werden soll, hier den Moderator für eine Messe abzugeben, und weil wir heute nicht eine langfristige Entscheidung treffen Zu Protokoll gegebene Reden möchten, ohne zu sehen, wie sich dieser erste Versuch in diesem Jahr auf der ITB bewährt.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Deutschland-Tourismus jagt einen Rekord nach dem anderen: Auch im Jahr 2011 werden wir das Spitzenergebnis von 2010 bei Übernachtungen in gewerblichen Betrieben und im Touristikcamping übertreffen. Über 390 Millionen Übernachtungen werden erwartet - ein tolles Ergebnis für die Branche. Immer mehr Menschen wollen reisen und Urlaub machen. Das ist erfreulich. Viele Menschen können es aber nicht - oder nur unter größten Umständen, die den Urlaub verleiden. Ich spreche von den 8 Millionen Menschen mit Behinderung; das ist jeder Zehnte in unserem Land. Noch immer gibt es viel zu wenig passende Reiseangebote. Nur ein Bruchteil der Hotels und Gaststätten in Deutschland ist tatsächlich barrierefrei. Auch der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist längst kein Garant für eine barrierefreie Anreise. Wenn Menschen mit Behinderung verreisen, dann oft mit großer Sorge, ob sie wirklich zum Urlaubsort gelangen und ob sie in ihrer Unterkunft den entsprechenden Service vorfinden, den sie benötigen. Wer sich intensiv mit dem Thema befasst, weiß: Besonders wichtig ist es, alle Akteure für Barrierefreiheit zu sensibilisieren. In erster Linie muss die Tourismuswirtschaft überzeugt werden, wie sinnvoll - und auch wirtschaftlich lukrativ - barrierefreie Angebote sind. Wo wäre dies besser möglich als auf der national und weltweit führenden Touristikmesse, der Internationalen Tourismusbörse ITB in Berlin? 170 000 Besucherinnen und Besucher, mehr als 11 000 ausstellende Unternehmen und Organisationen aus 188 Ländern, 7 000 Journalisten, die weltweit berichten, das sind die beeindruckenden Eckdaten der letzten ITB. Die nächste Messe vom 7. bis 11. März steht schon in den Startlöchern. Deshalb haben wir uns als SPD-Fraktion im Herbst letzten Jahres mit dem Antrag „Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB unterstützen“ dafür eingesetzt, dass dieser im März 2012 stattfinden kann. Ich freue mich sehr, dass der Antrag noch vor der heutigen Schlussberatung Wirkung gezeigt hat. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, hat nun seine Unterstützung für den Thementag auf der ITB im März zugesagt. Umso befremdlicher ist die Ablehnung unseres Antrages durch die schwarz-gelbe Koalition im Tourismusausschuss. Dabei hatte Frau Mortler als tourismuspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion die Forderung in ihrer letzten Rede unterstützt, allerdings mit Verweis auf eine einmalige Veranstaltung. Als SPD sagen wir aber deutlich: Wir wollen, dass dieses Leuchtturmprojekt für Barrierefreiheit im Tourismus auch in den kommenden Jahren möglich wird. Nur so setzen wir das entscheidende Signal: Barrierefreiheit ist ein Zukunftsthema, gerade auch mit Blick auf unsere älter werdende Gesellschaft. „Eintagsfliegen“ greifen bei diesem wichtigen Thema zu kurz. Dabei ist klar, dass vor allem die Privatwirtschaft gefragt ist, dieses lohnende Projekt zu unterstützen. Die Bundesregierung sehen wir aber in der Pflicht, alle Akteure zusammenzubringen und für ein stärkeres öffentliches Bewusstsein zu sorgen. Möglich wird der Tag auf der ITB in diesem Jahr nur durch den unermüdlichen Einsatz der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für Alle. Es ist gut, dass es die NatKo gibt. Sie wurde vor 13 Jahren von den Behindertenverbänden ins Leben gerufen und leistet seither hervorragende Arbeit. Leider wird ihr Engagement für barrierefreien Tourismus durch die derzeit unzureichende Förderung der Bundesregierung nicht vernünftig abgesichert. Wir brauchen eine solide Grundfinanzierung der NatKo. Es kann nicht sein, dass sie sich von Projekt zu Projekt hangeln muss - immer mit der Sorge, für eine kontinuierliche Arbeit die nötigen Gelder nicht zusammenzubekommen. Erfreulich ist, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, das Projekt öffentlichkeitswirksam unterstützen will. Dass wir uns nun auf den Tag der Barrierefreiheit freuen können, liegt auch an dem weiten Entgegenkommen der Messe Berlin, an der das Land beteiligt ist, und der beteiligten Kooperationspartner. Der Tag des barrierefreien Tourismus auf der ITB ist eine ideale Plattform, um alle Akteure im Tourismus für Barrierefreiheit zu sensibilisieren - und einen intensiven Dialog mit den Betroffenen zu ermöglichen. Einem breiten Publikum und Tourismusakteuren können so BestPractice-Beispiele für barrierefreies Reisen nahegebracht werden. Vorbildliche Unternehmen haben hier die Chance, sich herauszustellen mit ihren barrierefreien Angeboten. Am 8. März wird der Tag des barrierefreien Tourismus auf der ITB erstmalig stattfinden ein toller Erfolg! Ich freue mich, dass die Vorsitzende der Deutschen Zentrale für Tourismus, Petra Hedorfer, ihre Teilnahme zugesagt hat. Auch die AG „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“ und das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit werden ihre Projekte im Rahmen der Fachveranstaltungen vorstellen. Zwei Dinge müssen deutlich werden: Erstens. Menschen mit Behinderung haben ein Recht, Urlaub zu machen und zu reisen, wie alle anderen Menschen. Das fordert auch die für Deutschland geltende UN-Behindertenrechtskonvention ein. Es muss sich das Bewusstsein durchsetzen, dass Menschen nicht behindert sind - sondern behindert werden. Deshalb: weg mit den Barrieren! Zweitens. Das Potenzial eines barrierefreien Tourismus in unserem Land ist riesig. 5 Milliarden Euro zusätzlicher Umsatz wären möglich. 90 000 Vollzeitarbeitsplätze könnten damit geschaffen werden. Zu Protokoll gegebene Reden Und: Das Potenzial wird in unserer älter werdenden Gesellschaft immer größer. Ältere Menschen mit Mobilitäts-, Seh- oder Hörproblemen profitieren ebenfalls von gut erreichbaren Hotels und Gaststätten, Museen und barrierefreien Verkehrsmitteln, genauso Familien mit kleinen Kindern. Barrierefreier Tourismus steckt aber leider noch in den Kinderschuhen. Als SPD fordern wir mit unserem Antrag „Barrierefreier Tourismus für alle“, der schon im Mai letzten Jahres eingebracht wurde, deutlich mehr Anstrengungen für Barrierefreiheit. Wir brauchen endlich einen Masterplan für barrierefreien Tourismus von Bund, Ländern, Städten und Gemeinden, durchgehende Barrierefreiheit im Schienenfernverkehr, ein Förderprogramm für barrierefreie Gaststätten und Hotels und ein bundesweit qualitätsgeprüftes Gütesiegel „Barrierefreier Tourismus für alle“. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderung in die Mitte unserer Gesellschaft rücken - und Urlaub und Reisen für alle Menschen in unserem Land möglich werden. Dafür reichen nicht nur warme Worte wir brauchen Taten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, im Tourismusausschuss haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Heute haben Sie die Chance, diese Entscheidung zu korrigieren und gemeinsam mit uns ein deutliches Signal für barrierefreien Tourismus zu setzen. Tun Sie es!

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In Deutschland leben rund 10 Millionen Menschen, die mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen leben müssen. Ziel und zentraler Leitgedanke der UN-Behindertenkonvention ist es, diese Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft willkommen zu heißen und ihre aktive Teilhabe durch Inklusion zu ermöglichen. Für uns steht die Berücksichtigung der Barrierefreiheit bei allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Tourismuspolitik im Vordergrund. Der Bundesregierung ist dieses Thema ernst und wichtig! Sie setzt sich dafür ein, dass barrierefreies Reisen im gesamten Spektrum der touristischen Leistungskette verankert wird. Barrierefreiheit erhöht die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland. Gerade im Hinblick auf die Sicherung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Deutschland-Tourismus stehen wir hier vor einer der zentralen Aufgaben. Wir setzen hier auf Verantwortung und Bereitschaft in der Tourismusbranche. Jedem Hotelier und Gastwirt ist doch klar, dass er sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn er auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älteren und Behinderten eingeht. Gerade angesichts der demografischen Entwicklung ist die Teilhabe aller Menschen am Tourismus von zentraler Bedeutung. Wir begrüßen deshalb jedwede Art von Initiativen und Projekten von Verbänden und Vereinen, um die Öffentlichkeit und die Tourismuswirtschaft weiter für das Thema barrierefreier Tourismus zu sensibilisieren. Ich freue mich sehr darüber, dass im Rahmen der ITB, der weltweit größten Tourismusmesse, erstmals am 8. März dieses Jahres ein Thementag mit Vorträgen und Diskussionen zum Thema barrierefreier Tourismus stattfindet. Diese Veranstaltung wird vonseiten der Bundesregierung begrüßt und unterstützt. Ob daraus aber eine dauerhafte Einrichtung wird, muss die Branche selbst entscheiden. Den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion lehnen wir deshalb ab. Zentrale Aufgabe der Bundesregierung ist es, die Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in Deutschland zu verbessern. Zu diesem Zweck hat das Bundeswirtschaftsministerium Studien zum Thema Barrierefreiheit gefördert. Die ökonomische Bedeutung des barrierefreien Tourismus in Deutschland wurde untersucht, und Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zu dessen Qualitätsverbesserung wurden herausgearbeitet. Ich verweise hier auch gern noch einmal auf die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“. Sie hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und setzt sich engagiert für die Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste in den Regionen ein. Die Bundesregierung begleitet die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention im Bereich Tourismus mit flankierenden Projekten. Sie fördert die Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote und Dienstleitungen. So konnte im November 2011 der Startschuss für das Projekt zur „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ gegeben werden. Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich meinem Kollegen Ernst Burgbacher, Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie und Beauftragter für Mittelstand und Tourismus, danken. Ernst Burgbacher setzt sich seit vielen Jahren intensiv für eine Stärkung des Tourismusstandortes Deutschland ein und hat mit diesem Projekt einen weiteren Schritt in Richtung barrierefreier Tourismus getan. Das Projekt läuft bis 2013 und trägt zur Erfüllung des Nationalen Aktionsplanes der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention bei. Träger des Projekts ist das Deutsche Seminar für Tourismus in Kooperation mit der NatKo. In die Durchführung eingebunden sind die Tourismuswirtschaft, die Deutsche Zentrale für Tourismus, die Behindertenverbände, Verkehrsträger, Landesmarketingorganisationen sowie eine Reihe weiterer fachlicher Einrichtungen. Sie sehen also: Wir führen einen Dialog mit allen Beteiligten. Ziel ist es, eine einheitliche Kennzeichnung zu erarbeiten und damit die vielen verschiedenen Kennzeichnungen durch ein einheitliches System zu ersetzen. Damit fördern wir eine Transparenz der bestehenden Angebote und Leistungen. Durch eine erfolgreiche Umsetzung des Projekts bietet sich die Chance, zu einer neuen Qualität im barrierefreien Tourismus zu gelangen. Zu Protokoll gegebene Reden Über die Umsetzung des Projekts sowie die Einrichtung einzelner Projektmodule wird der Tourismusbeauftrage der Bundesregierung sicher so bald wie möglich sehr gern berichten. Ich denke, es ist deutlich geworden, dass uns das Thema barrierefreies Reisen am Herzen liegt. Wie bereits in meiner Rede vom Juni vergangenen Jahres angemerkt, müssen wir verstärkt darauf hinwirken, dass öffentliche Bereiche zukünftig mindestens barrierearm sein müssen. Bei den Bundesländern muss darauf hingewirkt werden, dass die Zielsetzung Barrierearmut bei Bestandsbauten und Barrierefreiheit bei Neubauten verwirklicht wird. Der öffentliche Bereich kann und muss Beispiel für den privaten wirtschaftlichen Sektor sein. Des Weiteren hat der konsequente Wechsel vom staatlichen Fürsorgeprinzip hin zum Recht auf umfassende gesellschaftliche Teilhabe eine außerordentlich hohe Bedeutung, denn wirkliche Bedürfnisse können nicht über den Kopf der Menschen mit Behinderungen konkretisiert werden. Dialog statt Verordnung sollte die Devise sein! Bei der Umsetzung von Barrierefreiheit spielen die im Bundesgleichstellungsgesetz verankerten Zielvereinbarungen eine große Rolle. Behindertenverbände können mit Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft darin die Ziele zur Herstellung von Barrierefreiheit vereinbaren. Ich erwähne an dieser Stelle gern noch einmal, dass die DEHOGA bereits im Jahr 2005 mit den Behindertenverbänden eine entsprechende Zielvereinbarung zur Erfassung, Bewertung und Darstellung barrierefreier Angebote im Gastgewerbe unterzeichnet hat. Barrierefreiheit wird auch bei der Hotelklassifizierung thematisiert. Bereits 1999 wurde die Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle e. V. - die sogenannte NatKo gegründet. Im Rahmen einer Projektförderung durch das Bundesministerium für Gesundheit und zum Teil auch durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie steht sie Reiseveranstaltern, Verkehrsunternehmen, Tourismusregionen, Hoteliers und weiteren Anbietern als Ansprechpartner und Berater zur Verfügung, um die Gestaltung barrierefreier Angebote zu unterstützen. Beide Angebote bieten so eine gute Grundlage, Wünsche und Bedürfnisse zu erfassen und deren Umsetzung gemeinsam voranzubringen. Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Tourismus in Deutschland werden sollte und vor allem werden kann. Die Teilhabe aller Menschen am Tourismus muss ermöglicht werden. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam erreichen, nicht über die Köpfe der Gehandicapten und Behinderten hinweg und nicht ohne Absprache mit den Ländern und den verantwortlichen Akteuren der Tourismuswirtschaft.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich freue mich, dass die SPD mit ihrem Antrag meine Initiativen für die aktive Unterstützung eines Tages des barrierefreien Tourismus auf der ITB durch die Bundesregierung unterstützt. Mehr als in anderen Bereichen werden in der Tourismuspolitik die Belange von Menschen mit Behinderungen und die Schaffung von Barrierefreiheit auch von der Bundesregierung hervorgehoben. Dies wird in den Tourismuspolitischen Leitlinien und auch in der Koalitionsvereinbarung deutlich. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich würdigen. Aber im „richtigen Leben“ gibt es kaum Veränderungen. Der für Bauen, Stadtentwicklung und Verkehr zuständige Minister Ramsauer kennt das Wort „Barrierefreiheit“ offenbar überhaupt nicht, geschweige denn, dass er diesbezüglich irgendwelche Akzente setzte; der Finanzminister Schäuble sorgt ebenso wenig dafür, dass Investitionen, Rettungsschirme und Konjunkturprogramme auch für Menschen mit Behinderungen positive Veränderungen bewirken, und auch beim Gesundheitsminister Bahr - in dessen Ministerium unverständlicherweise die Zuständigkeit für die Förderung des barrierefreien Tourismus noch immer liegt - und bei Familienministerin Schröder herrscht diesbezüglich Funkstille. Hinweisen möchte ich an dieser Stelle deswegen auf meine Frage an die Bundesregierung vom Sommer letzten Jahres: „Welche Maßnahmen und Aktivitäten zur Förderung des barrierefreien Tourismus gemäß den in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU, CSU und FDP sowie im nationalen Aktionsplan gesteckten Zielen wurden im laufenden Haushaltsjahr bereits ausgegeben bzw. bewilligt - bitte jeweiliges Bundesministerium, Maßnahme und Summe nennen -, und welche Rolle spielte dabei die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V. - NatKo?“ Die Antwort des Staatssekretärs Dr. Bernhard Heitzer vom 22. Juli 2011: „Die Bundesregierung unterstützt den barrierefreien Tourismus für alle in Deutschland durch vielfältige Maßnahmen.“ Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, fördert das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e. V., BKB, den Verein der Behindertenverbände zur Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes. Das BKB hat auch im Bereich des barrierefreien Tourismus einzelne Projekte auf den Weg gebracht. Im Rahmen von Zuschüssen und Beiträgen an zentrale Einrichtungen des Gesundheitswesens fördert das Bundesministerium für Gesundheit auch Projekte der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für Alle e. V., NatKo. Im Jahr 2011 betrifft das das Projekt „Reisemöglichkeiten für Menschen mit Pflegebedarf“, für das Zuwendungen in Höhe von 87 412 Euro gewährt werden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, BMWi, hatte im November 2010 Vertreter der Tourismusbranche, von Behindertenverbänden und Ländern zu einem Expertengespräch zum barrierefreien Tourismus eingeladen. Ziel war es, Möglichkeiten eines umfangreichen Projektes zur Förderung des barrierefreien Tourismus zu erörtern. Im Rahmen des Bund-LänderAusschusses „Tourismus“ fanden im Anschluss daran Zu Protokoll gegebene Reden weitere Gespräche mit den Vertretern der Länder statt, um deren Vorschläge in das Projekt einfließen zu lassen. Ein entsprechender Antrag zur Förderung des Projekts durch das BMWi ist zurzeit in Vorbereitung. Die Aktivitäten sind also sehr übersichtlich. Gern schmücken sich Bundestag und Bundesregierung mit der NatKo - einem seit zwölf Jahren wirkenden Zusammenschluss von inzwischen elf Behindertenorganisationen. Völlig zu Recht zeichnete der Tourismusausschuss die NatKo auf der ITB 2011 mit der Kristallkugel aus. Gleichzeitig erhält die NatKo aber Jahr für Jahr weniger Mittel aus dem Bundeshaushalt, obwohl die Wünsche, Anfragen und Anforderungen an sie immer größer werden. Auf meine Frage an die Bundesregierung „Welche Aktivitäten zur Förderung des barrierefreien Tourismus plant bzw. unterstützt die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Internationalen Tourismusbörse, ITB, im März 2012 in Berlin?“ antwortete Staatssekretär Stefan Kapferer aus dem Bundeswirtschaftsministerium am 10. Oktober 2011: „Die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V. plant gemeinsam mit verschiedenen Akteuren, wie zum Beispiel der Messe Berlin AG, der AG barrierefreie Reiseziele, verschiedenen Landesmarketinggesellschaften, dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband sowie dem Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, einen „Tag des barrierefreien Tourismus“ auf der ITB 2012. Die Bundesregierung, der Beauftragte der Bundesregierung für Mittelstand und Tourismus und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen unterstützen diese Idee. Für die Veranstaltung auf der ITB 2012 sind im Bundeshaushalt jedoch keine Mittel eingeplant.“ Aha! Die Regierung unterstützt die Idee, hat aber angeblich keine Mittel, um deren Umsetzung zu unterstützen. Schaut man sich die in der Beschlussempfehlung zusammengefasste Debatte zu diesem Antrag an, wird deutlich, dass weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfraktionen den Geist und Inhalt der seit März 2009 rechtskräftigen UN-Behindertenrechtskonvention verstanden haben. Die Staaten haben - so steht es in der UN-Behindertenrechtskonvention - zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen umfassend am Leben in der Gesellschaft teilhaben können. Allein Art. 8 „Bewusstseinsbildung“, Art. 9 „Barrierefreiheit“ und Art. 30 „ Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“ zeigen, dass die Förderung des barrierefreien Tourismus - auch und gerade auf der ITB - durch die Bundesregierung keine freiwillige, sondern eine Pflichtleistung ist - und dies nicht durch den mit einem Minibudget ausgestatteten Behindertenbeauftragten bei der Bundesregierung, sondern durch das zuständige Wirtschafts- und Tourismusministerium. Es reicht eben nicht, sich eine freiwillige Beteiligung der Tourismuswirtschaft zu wünschen, zumal Bundesminister und FDP-Vorsitzender Rösler weiß, wohin die Spenden von Mövenpick und den anderen großen Tourismusunternehmen fließen. Die Linke begrüßt den Vorschlag, ab 2012 jährlich einen Tag des barrierefreien Tourismus auf der ITB zu organisieren. Dazu wird der von der SPD vorgeschlagene vertiefende Dialog aber nicht ausreichen. Neben den im Antrag vorgeschlagenen Akteuren und der Bundesregierung sollten auch die tourismuspolitischen Sprecherinnen und Sprecher aller Bundestagsfraktionen an einen Tisch, und es bedarf auch der Bereitstellung der erforderlichen finanziellen Mittel. Vielleicht kann der für Tourismus zuständige Minister seinen Tourismusbeirat einbeziehen? Dort ist ein Großteil der benötigten Kompetenz versammelt, und angesichts der im Tourismus 2011 vermeldeten Rekordergebnisse sollte auch das nötige Kleingeld einsammelbar sein.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Laut der Studie „Barrierefreier Tourismus für Alle in Deutschland - Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zur Qualitätssteigerung“ des BMWi ({0}) ist eine barrierefrei zugängliche Umwelt für etwa 10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig - das entspricht etwa 25 Millionen Menschen. Komfortabel ist sie für 100 Prozent! Eine barrierefreie Infrastruktur nützt nicht nur allen Bürgerinnen und Bürgern. Sie ist auch per Grundgesetz vorgeschrieben ({1}). Bislang sind wir noch weit davon entfernt. Die An- und Abreise mit der Bahn, die Fahrt mit dem Auto, der Flug oder die Reise mit welchem Verkehrsträger auch immer gehören zu fast jedem Urlaub dazu. Für viele von uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Eine Reise ohne einen Ortswechsel ist schlicht und ergreifend nicht möglich - für circa 20 Millionen Menschen mit eingeschränkter Mobilität in Deutschland ist genau dies aber nach wie vor mit enormen Hindernissen verbunden. Ich spreche hier nicht nur über die körperliche Bewegungseinschränkung; auch Einschränkungen beim Hören und Sehen, Allergien und viele weitere Beeinträchtigungen können die Mobilität erschweren. Dabei spielen nicht nur die eigenen körperlichen Voraussetzungen eine Rolle, sondern auch die Frage, wie viel Mobilität uns unsere Umwelt denn überhaupt ermöglicht. Die Internationale Tourismusbörse, ITB, ist die größte und umsatzstärkste Reisemesse weltweit. Der Antrag der SPD ist kurz und bündig. Er hat eine klare Intention, die es zu unterstützen gilt. Wir brauchen Foren wie diese, um auf Probleme der Zukunft wie beispielsweise die Barrierefreiheit Antworten zu finden. Auch unser Fachgespräch am 12. Dezember letzten Jahres zu „Barrierefreie Mobilität im Bahnverkehr“ hat gezeigt: Es bedarf eines Dialoges zwischen Reisenden und Reiseindustrie. Was wäre da besser geeignet als die ITB? Wir verstehen unter Barrierefreiheit einen breiten Ansatz, der die Bedarfe verschiedener Beeinträchtigungen umfasst. Eine barrierefreie Infrastruktur enthält keine Einschränkungen für Eltern mit Kleinkindern, für älter werdende Menschen, aber auch für Menschen mit Behinderungen. Der Nationalpark Eifel in NordrheinWestfalen bietet da ein schönes Beispiel. Er hat es sich Zu Protokoll gegebene Reden zur Aufgabe gemacht, allen Menschen mit und ohne Behinderung das Erleben der Natur zu ermöglichen. Dazu werden in Kooperation mit der Nordeifel Tourismus GmbH alle touristischen Angebote barrierefrei gestaltet, zum Beispiel durch Führungen in Gebärdensprache, barrierefreie Wanderrouten, Barrierefreiheit der Informationen im Gelände, spezielle Reisearrangements für Menschen mit Behinderungen. Die Zahl der Urlaubsreisenden zwischen 65 und 75 Jahren wird bis 2020 um 40 Prozent zunehmen. In dieser Reisegruppe findet sich ein besonders hoher Anteil an Deutschlandreisen. Darauf gilt es sich vorzubereiten. Das ist auch ein politischer Auftrag! Mögliche Effekte sind bis zu 5 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen in der Tourismusbranche sowie zusätzliche 90 000 Arbeitsplätze. Diese Potenziale gilt es zu nutzen. Auf der ITB sollte man sich dessen bewusst werden. Wir stimmen dem Antrag daher zu.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8340, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7827 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tarifsystem stabilisieren - Drucksache 17/8148 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von Ulrich Lange, CDU/CSU, Gitta Connemann, CDU/CSU, Johannes Vogel, FDP, Jutta Krellmann, Die Linke, Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. Von der SPD liegt kein Redetext vor.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Deutschland haben wir ein sehr gutes Tarifsystem, basierend auf starken Partnern, unseren Arbeitgebervertretern und unseren Gewerkschaften. Diese beiden Partner sind als Protagonisten zuständig für die Vertretung ihrer Klientel und für die Ausgestaltung der Tarife. Die Politik gibt die Rahmenbedingungen vor, unter denen dieses System sich gut entwickeln kann. Aber die Linken haben unser System bis heute nicht verstanden, haben den Absprung vom Staatsdirigismus bis heute nicht geschafft. Wir stehen dafür, dass der Staat nur eingreift, wenn es die Tarifparteien nicht schaffen. Dies ist derzeit nicht der Fall. Wir setzen auf Tarifpartnerschaft und wollen eine Stärkung der Tarifautonomie durch branchenbezogene Verfahren. Die Tarifautonomie ist ein Eckpfeiler unseres Sozialstaates. In keinem Land der Welt ist so eine partnerschaftliche Sozialkultur entstanden wie in unserem Land. Die Linken fordern gebetsmühlenartig einen flächendeckenden Mindestlohn. Als Grund führen sie dann europäische Partner an, bei denen es einen Mindestlohn gibt, wie zum Beispiel in Frankreich. Dabei verschweigen die Linken aber, dass aufgrund des Mindestlohnes jedes Jahr circa 30 Milliarden Euro an Subventionen vom französischen Staat an die Arbeitgeber als Ausgleich gezahlt werden. Damit werden viele Mitnahmeeffekte produziert. Wir sind gegen solch eine Stützung der Wirtschaft, aber für die Absicherung der Arbeitnehmer mit einem bedarfsorientierten Mindesteinkommen über das Grundsicherungssystem. Die Linken fordern in ihrem Antrag eine Steigerung der Löhne, um die Binnenwirtschaft anzuwerfen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Linken: Die Löhne steigen bei uns, weil die Arbeitslosigkeit sinkt und die Beschäftigtenzahlen steigen. Die soziale Marktwirtschaft funktioniert bei uns, weil der Staat nicht alles vorschreibt. Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass in den meisten Ländern mit gesetzlichen Lohn- und Mindestlohnregelungen eine solch erfreuliche Arbeitsmarktentwicklung wie hierzulande nicht zu beobachten ist. Das ist der Lohn einer hohen Verantwortung auf beiden Seiten der Tarifpartner. Es soll Aufgabe der Tarifpartner bleiben, dafür zu sorgen, dass Niedriglöhne in Ordnung gebracht werden. Wenn der Staat die Tarifautonomie ersetzen würde, hätten wir Lösungen, die nicht den Gegebenheiten in den Regionen und Branchen entsprechen. Funktionierende Tarifautonomie braucht starke Arbeitgeberverbände und starke Gewerkschaften, die für ihre Branche verbindliche Abmachungen treffen können. Um die Tarifautonomie zu stärken, setzen wir bei branchenbezogenen Verfahren an: Die Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes sollen für möglichst viele Branchen geöffnet werden; die Tarifvertragsparteien sind gefordert, Lohnuntergrenzen zu definieren. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Vereinbarungen über das Tarifvertragsgesetz soll erleichtert werden. Um künftig zu verhindern, dass sich eine Tarifvertragspartei auf der Nachwirkung eines Tarifvertrages ausruht, und um Haustarifverträge mit Niedriglöhnen ablösen zu können, soll die Nachwirkung von Tarifverträgen im Tarifvertragsgesetz auf ein Jahr begrenzt werden. Sollten die Tarifparteien keine Lösung beim Grundsatz der Lohngleichheit finden, wollen wir eine gesetzliche Normierung, wobei eine angemessene Einarbeitungszeit berücksichtigt werden muss. Meine Damen und Herren von der Linken, die Auswirkungen eines Staatsdirigismus haben wir in der DDR gesehen, haben die Bewohner Ostdeutschlands schmerzlich erfahren müssen. Sie haben als Nachfolgepartei der SED den Staatsbankrott der DDR, den Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft zu verantworten. Springen Sie wenigstens jetzt über Ihren Schatten und schmeißen Sie Ihren Antrag in die Mottenkiste, wo er hingehört! Sorgen Sie mit uns dafür, dass es unseren Bürgerinnen und Bürgern gut geht! Setzen Sie mit uns weiterhin auf die soziale Marktwirtschaft gegen Staatsdirigismus!

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Alter Wein in neuen Schläuchen“ - so sollte der Titel des heutigen Antrages der Fraktion der Linken eigentlich lauten. Denn in dem Antrag findet sich keine Forderung, die von den Linken nicht schon gestellt worden wäre, und zwar nicht einmal, sondern immer und immer wieder. Diese Politik der Wiederholung ist aber nicht Ausdruck von Beharrlichkeit, sondern von offensichtlicher Ignoranz - der tatsächlichen Gegebenheiten sowie der rechtlichen Verhältnisse. Erstens. Die Beschreibung der Verhältnisse durch Sie, meine Damen und Herren von der Linken, und die Realität weichen stark voneinander ab. Hier liegt ein klarer Fall von Bewusstseinsverzerrung vor. Dies beginnt schon bei der Wahrnehmung der Tarifbindung in Deutschland durch die Linken. Ihr Antrag reduziert den Begriff allein auf die unmittelbare Tarifbindung, nämlich bei einer Mitgliedschaft des Arbeitgebers im Arbeitgeberverband und des Arbeitnehmers in der Gewerkschaft. Zwar ist diese unmittelbare Bindung an Flächen- und Branchentarifverträge in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Dafür ist aber die Zahl der Haus- bzw. Firmentarifverträge gestiegen. Hinzu kommen die Arbeitsverhältnisse, in denen der Tarifvertrag zum Beispiel zur Anwendung kommt, weil ein Arbeitsvertrag auf den entsprechenden Vertrag Bezug nimmt. Über diese sogenannte mittelbare Tarifbindung verlieren die Linken jedoch kein Wort. Denn es kann ja nicht sein, was nicht sein darf. Meine Damen und Herren von der Linken, dann müssten Sie nämlich zur Kenntnis nehmen, dass es um die Tarifbindung in Deutschland bei weitem besser bestellt ist, als von Ihnen beschworen. Danach waren auch 2010 für insgesamt 80 Prozent der Arbeitsverhältnisse ({0}) Tarifverträge maßgeblich. Entgegen Ihren Unkenrufen, meine Damen und Herren von der Linken, sind damit Tarifverträge nach wie vor das wichtigste Strukturelement für die Festsetzung von Entgelten und Arbeitsbedingungen. In den übrigen 20 Prozent finden sich vor allem Bereiche, in denen zwar keine Tarifverträge bestehen, aber dennoch regelmäßig hohe Löhne gezahlt werden. Ich nenne beispielhaft die Beschäftigten in der IT-Branche und Ingenieure. Arbeitgeber können sich häufig gar nicht erlauben, ihren Arbeitnehmern ein unter Tarif liegendes Entgelt anzubieten. Insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des steigenden Mangels an qualifizierten Arbeitskräften wird dieser Aspekt immer wichtiger werden. Soweit sich ein Arbeitgeber bzw. ein Arbeitnehmer dagegen entscheidet, seine Lohnfindung an den Vorgaben eines Tarifvertrags auszurichten, ist dies im Übrigen sein gutes und durch die Verfassung abgesichertes Recht. Denn das Grundgesetz schützt auch die negative Koalitionsfreiheit, ob es Ihnen, meine Damen und Herren von den Linken, nun passt oder nicht. Und dann Ihre Behauptungen zum Niedriglohnsektor, meine Damen und Herren von der Linken. Sie begründen Ihre Forderung nach einer staatlichen Lohnfestsetzung mit dem Anstieg der Zahl der sogenannten Aufstocker und der Ausweitung des Niedriglohnsektors. Meine Damen und Herren von der Linken, die Beschäftigung unterhalb der Niedriglohnschwelle ist aber gerade nicht mit unauskömmlicher Arbeit gleichzusetzen. Wissen Sie eigentlich, wovon Sie reden? Wissen Sie, wie hoch die Niedriglohnschwelle überhaupt liegt? Von der Bundesagentur für Arbeit wird hier ein Wert von zurzeit 1 802 Euro pro Monat angenommen. Dies entspricht einem Stundenlohn von 10,95 Euro. Ein Niedriglohnjob kann daher nicht mit einer Hilfsbedürftigkeit des Betroffenen gleichgesetzt werden. Im Übrigen sind die meisten Aufstocker keine Vollzeitbeschäftigten, sondern Minijobber oder Teilzeitkräfte. In mehr als der Hälfte der Fälle sind die Niedriglöhne Nebeneinkünfte: 84 Prozent der Geringverdiener haben andere, zusätzliche Einkommensquellen und erzielen ein Gesamteinkommen oberhalb der Armutsgefährdungsschwelle. Deshalb würde selbst ein hoher gesetzlicher Mindestlohn an der Transferabhängigkeit der meisten Aufstocker wenig ändern, insbesondere wenn Kinder in der Familie sind. Zweitens. Ihr verzerrter Blick auf die Realität ist aber noch harmlos im Vergleich zu Ihren Rechtskenntnissen. Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre Forderungen sind wirklich ungetrübt von jedem juristischen Wissen. Da fällt mir nur die Empfehlung ein, die jedem Jurastudenten im ersten Semester gegeben wird: „Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.“ So fordern Sie die Aufnahme aller Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Dies ist rechtlich äußerst problematisch. Denn die notwendige Bestimmtheit der Verordnungsermächtigung dürfte damit nicht mehr gegeben sein. Dies war übrigens ein maßgeblicher Grund, warum in der 15. Legislaturperiode von diesen Plänen Abstand genommen wurde. Im Übrigen war im Jahre 2009 allen interessierten Branchen angeboten worden, in den Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufgenommen zu werden. Diese Möglichkeit wurde jedoch nicht genutzt. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ist auch aktuell eine Erweiterung für einzelne Branchen grundsätzlich möglich. Ihr nächster Husarenstreich, meine Damen und Herren von der Linken, ist die Forderung nach einer automatischen Allgemeinverbindlicherklärung repräsentativer Entgelttarifverträge. Warum sollen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zukünftig in Verbänden und Gewerkschaften organisieren, wenn auch ohne die damit zusammenhängenden Kosten die Regelungen für diese gelten? Diese Folgen sieht sogar der Antrag. Denn es wird auf Skandinavien verwiesen, wo eine hohe Tarifbindung ohne hohen Organisationsgrad vorliegt. BeispielsZu Protokoll gegebene Reden weise liegt aber auch in Österreich die Tarifbindung bei 99 Prozent, der Organisationsgrad aber nur bei 28 Prozent, oder in Frankreich bei 90 Prozent bzw. 8 Prozent. Meine Damen und Herren von der Linken, ist der Tarifbindung dadurch geholfen, dass eine Minderheit für die Mehrheit Bestimmungen trifft, die dann allgemein für alle gelten? Im Übrigen kollidieren Ihre Vorstellungen, meine Damen und Herren von der Linken, mit der verfassungsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit sowie der Handlungsfreiheit. Bei einer nur relativen Repräsentativität fehlt den abschließenden Tarifvertragsparteien jegliche Legitimation, für den Rest der Branche die Arbeitsbedingungen zu regeln. Die damit einhergehende Missbrauchsgefahr ist praktisch mit Händen zu greifen. Ich nenne insoweit nur das Stichwort „Postmindestlohn“. Nur mit wirklich repräsentativen Tarifverträgen im Sinne des 50-Prozent-Quorums des Tarifvertragsgesetzes kann sichergestellt werden, dass sich Tarifverträge vor ihrer Erstreckung mehrheitlich durchgesetzt haben und die wirklichen Bedingungen der Branche widerspiegeln. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass eine Minderheit die Mehrheit majorisieren kann. 50 Prozent sind die Hälfte der betroffenen Arbeitsverhältnisse. Eine Reduktion dieser klaren Grenze einer absoluten Mehrheit würde weitere Reduktionen je nach der politischen Konstellation nach sich ziehen. Ihre Forderung nach einer automatischen Erstreckung aller Branchentarifverträge steht im krassen Widerspruch sowohl zur negativen als auch zur positiven Koalitionsfreiheit. Die Bildung marktgerechter Löhne wäre weitgehend unmöglich, da keine Rücksichtnahme auf Außenseiter mehr notwendig wäre. Nicht umsonst sehen das Tarifvertragsgesetz und das ArbeitnehmerEntsendegesetz einen Tarifausschuss sowie das Mindestarbeitsbedingungengesetz einen Fach- bzw. Hauptausschuss vor. Auch Ihre Forderung nach einer Erstreckung ganzer Lohngitter widerspricht der Tarifautonomie. Diese geht über das zur Verhinderung sozialer Verwerfungen Notwendige hinaus. Folge der Erstreckung wäre ein Flickenteppich unterschiedlichster geltender Mindestlöhne, die insbesondere für kleine Unternehmen nicht handhabbar wären. Zudem würde die Kontrolle durch die jeweiligen Kontrollbehörden erschwert. Niemandem ist geholfen, wenn ein Mindestlohn gilt, aber aufgrund der Unübersichtlichkeit ob der Vielzahl der geltenden Löhne nicht klar ist, welcher Lohn gilt. Zudem würde die Ermächtigung, ganze Lohngitter auch über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erstrecken zu können, dem Missbrauch zum Eingriff und zur Regulierung des Wettbewerbs Tür und Tor öffnen. Meine Damen und Herren von der Linken, im Onlinelexikon für Redensarten wird übrigens der Ausruf „Das ist doch alter Wein in neuen Schläuchen!“ wie folgt erklärt: „… den gleichen Inhalt auf andere Weise präsentieren oder anders benennen; Täuschungsmanöver“. Genau so ist es. Und für Täuschungsmanöver sind wir nicht zu haben. Deshalb werden wir Ihren Antrag auch ablehnen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, jeder kennt ja das so genannte Déjà-vu-Erlebnis. Ich habe dazu einmal im Lexikon nachgeschlagen. Unter dem Stichwort „Déjà-vu“ kann man dort nachlesen, dass es sich um eine qualitative Gedächtnisstörung mit vielfältigen Ursachen handelt, mitunter ausgelöst durch Ermüdung, Drogenkonsum oder auch traumatische Schädigungen des Temporallappens. Science-FictionFans mögen auch an eine Störung der Matrix denken. So oder so erscheint mit diesem Wissen jedes Déjà-vuErlebnis als Anlass zur Sorge um die eigene Gesundheit jedenfalls ist es ein bisschen beunruhigend. Unter diesem Gesichtspunkt fürchte ich mich inzwischen immer ein wenig vor der Lektüre Ihrer Anträge; denn irgendwann stellt sich dabei immer das Gefühl des Schon-mal-gesehen-Habens ein. Kann man gar nichts dran machen. Das hat natürlich damit zu tun, dass sich bei Ihnen die Kreativität beim Auffinden politischer Probleme in einem umgekehrten Proportionalverhältnis mit der Kreativität Ihrer Lösungsvorschläge befindet. Kurz: Je mehr Probleme, desto weniger Lösungen. Denn egal, welches echte oder vermeintliche Problem Sie benennen, außer Frage steht jeweils seine Linderung durch Ihr arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Breitenantibiotikum: den allgemeinen, politisch gesetzten Mindestlohn mit Gesetzeszwang. Insofern muss man auch geradezu Verständnis dafür haben, dass in Ihrem Antrag, den Sie mit „Tarifsystem stabilisieren“ betitelt haben, als Erstes - was vorschlagen? Richtig: einen gesetzlichen Mindestlohn. Es ist überall dasselbe - von Garmisch bis Flensburg und von Aachen bis Görlitz. Bevor ich auf Ihre restlichen Forderungen eingehe, möchte ich aber noch ein paar Bemerkungen machen. Erstens schreiben Sie in Ihrem Antrag, der Niedriglohnsektor weite sich aus. Das stimmt nicht, sondern seit etwa fünf Jahren ist sein Anteil in etwa gleich groß. Zweitens behaupten Sie, Deutschland setze auf Dumpinglöhne. Auch das stimmt nicht, sondern die Lohnstückkosten sind in Deutschland in den vergangenen Jahren relativ stabil geblieben, und zwar stabil auf einem hohen Niveau. Vergleicht man beispielsweise die 24 Industrieländer mit den höchsten Lohnstückkosten, dann landet Deutschland hier auf dem vierten Platz. Ehrlich gesagt finde ich es da reichlich abwegig, von Dumpinglöhnen zu sprechen. Abgesehen davon bin ich mir auch nicht ganz sicher, was Sie unter Dumping verstehen, bzw. glaube ich, dass Sie selbst auch nicht genau erklären können, was Sie darunter verstehen. Ansonsten haben Sie ja jetzt folgende Vorhaben: Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für alle Branchen, Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes dahin gehend, dass Allgemeinverbindlichkeitserklärungen erleichtert werden, und dahin gehend, dass komplette Entgelttabellen leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können, und auch Tarifverträge mit regionaler Reichweite sollen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Alles zur Stabilisierung des Tarifsystems wohlgemerkt. So weit, so gut - oder schlecht -, und da könnte man jetzt eigentlich in der Sache diskutieren. Zu Protokoll gegebene Reden Johannes Vogel ({0}) Man könnte das aber auch sein lassen, denn Ihr Antrag lässt es dabei ja nicht bewenden. In der Begründung lassen Sie nämlich die - ja, so muss man das wohl sagen - Maske fallen. Ich zitiere: „Um die Allgemeinverbindlicherklärung unabhängig vom politischen Willen der jeweiligen Arbeitsministerin oder des jeweiligen Arbeitsministers und auch unabhängig von der Position der Spitzen- oder Fachverbände der Arbeitgeber zu erleichtern, wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verpflichtet, Tarifverträge automatisch für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn gewisse Repräsentativitätsanforderungen erfüllt sind. Damit entfällt das bisherige Vetorecht der Arbeitgeber, aber auch das des Bundesarbeitsministeriums.“ Unter „gewissen Repräsentativitätsanforderungen“ verstehen Sie irgendetwas, was weniger als die Hälfte ist. Denn zum 50-ProzentQuorum des Tarifvertragsgesetzes lassen Sie verlauten: „Als weiteres Hindernis ist das zu hohe Quorum von 50 Prozent zu nennen, das derzeit für eine Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz vorgeschrieben ist und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch auf das Arbeitnehmer-Entsendegesetz angewandt wird.“ Also nichts für ungut, aber nachdem ich am Anfang gesagt habe, ein Déjà-vu-Erlebnis könnte einem schon Angst machen, muss ich jetzt doch sagen, das es Ihr Grundrechts- und Demokratieverständnis ist, das einen schaudern lässt. Dazu muss man sich noch einmal den Art. 9 des Grundgesetzes vergegenwärtigen, dessen Wortlaut so schön ist, dass man ihn gar nicht oft genug zitieren kann. In den ersten beiden Sätzen heißt es da: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“ Im Prinzip fußt das ganze deutsche Tarifvertragssystem auf diesem Grundrecht. Und jetzt kommen Sie und wollen daraus Folgendes machen: Alleine Arbeitnehmervertreter bestimmen über Allgemeinverbindlichkeiten, fertig aus. Sie treten also das Grundrecht der Tarifautonomie mit Füßen. Nichts anderes ist es nämlich, wenn man eine Partei im Tarifausschuss ausschalten will. Und demokratisch ist es schon mal gar nicht, wenn die Minderheit über die Mehrheit entscheidet - auch das haben Sie vor. Eigentlich weiß man das schon seit rund 2 500 Jahren. Sie leider nicht. Vielleicht fällt Ihnen dazu aber im Ausschuss noch etwas ein. Ich freue mich darauf.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Tarifvertrag besitzt eine lange Tradition in Deutschland. Schon seit 139 Jahren ist er ein probates Mittel, um Löhne festzulegen, Urlaub und Arbeitszeiten zu regeln und spezifische Bedingungen am Arbeitsplatz zum Schutz der Beschäftigten zu bestimmen. Die Aushandlungsprozesse, die den Tarifverträgen vorausgingen, fanden früher nicht selten auf der Straße statt. Heute ist für gewöhnlich der Verhandlungstisch der Schauplatz von Tarifauseinandersetzungen. Erst wenn es dort nicht weitergeht, dann wird „auf der Straße“ verhandelt. Auch in diesem Jahr stehen wieder in vielen Branchen Tarifverhandlungen an, unter anderem in der Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst. Tarifvertragsverhandlungen finden jedoch nie in einem luftleeren Raum statt, sondern sind ein Abbild der aktuellen Beschäftigungssituation, der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und auch des rechtlichen Rahmens. Aber wie sehen diese denn heutzutage aus? Der Arbeitsmarkt in Deutschland wurde dank RotGrün und der Agenda 2010 zunehmend dereguliert. Statt der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung wuchs der Niedriglohnbereich; durch Befristung, Leiharbeit und Minijobs haben nicht nur die Beschäftigten weniger in der Lohntüte, auch dem Staat gehen damit Steuereinnahmen und Geld für die Sozialversicherungssysteme verloren. Die Absurdität des Ganzen kann man an der Zunahme der Zahl der sogenannten Aufstocker ablesen, wo der Staat das Lohndumping von Arbeitgebern sogar noch bezuschusst. Zeitgleich wurde ein beispielloses Sanktionssystem installiert, das den Druck, eine Arbeit anzunehmen, und sei sie auch noch so schlecht bezahlt, immens gesteigert hat. Den Beschäftigten verlangt der Balanceakt zwischen prekärer Beschäftigung und Hartz IV immer mehr ab und führt nicht selten in die Annahme mehrerer Jobs, um sich über Wasser zu halten. Die stagnierende Kaufkraft der Beschäftigten ist nur ein Ausdruck dieser Situation. Gegen diese Entwicklung haben es auch die Gewerkschaften schwer. Durch die schwindende Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter und der Ausweitung der prekären Beschäftigung erlitten sie erhebliche Mitgliederverluste, die wiederum die Tarifauseinandersetzungen erschwerten. Die Folgen lassen sich nicht zuletzt an der schwindenden Tarifbindung und den niedrigen Tarifabschlüssen der letzten Jahre ablesen. Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt. Die tarifrechtliche und arbeitsrechtliche Gesetzgebung, die diese Schieflage unterstützt, hat die Politik zu verantworten, angefangen beim Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse bis hin zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Frei nach dem Motto: Was man verbockt hat, kann man auch wieder geradebiegen, ist es höchste Zeit, die Zeichen der Zeit anzuerkennen und notwendige Gesetzesänderungen auf den Weg zu bringen. Dabei ist neben der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns vor allem die Stärkung des Tarifsystems und der Tarifbindung unerlässlich. Dies wird, ausgehend von der aktuellen Rechtslage, durch die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erreicht. Mit der Ausweitung auf alle Branchen und die Einbeziehung von kompletten Entgelttabellen schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen sichert dies vielen Menschen ein Arbeitsverhältnis mit Tarifbindung, und zum anderen ließe sich dadurch der Organisierungsgrad sowohl bei den Gewerkschaften als auch bei den Arbeitgebern erhöhen. Nur wenn Beschäftigte etwas von ihrer Gewerkschaft haben, werden sie Zu Protokoll gegebene Reden Mitglied. Und nur wenn unter diesen Bedingungen alle Betroffenen an einem Tisch sitzen, finden Verhandlungen auf Augenhöhe statt und man kann wieder von einem guten Tarifsystem in Deutschland sprechen - und von guten Tarifverträgen!

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir freuen uns, dass sich nun auch die Fraktion Die Linke für die Stabilisierung des Tarifvertragssystems starkmacht und einen eigenen Antrag unserem Antrag „Tarifvertragssystem stärken - allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern“ zur Seite stellt. Das Thema ist wichtig, denn das Tarifsystem befindet sich in einem schnell voranschreitenden Erosionsprozess. Dies zeigen die Zahlen zur Tarifbindung, die 1980 noch über 80 Prozent betrug und heute auf 62 Prozent abgesunken ist. Konkret bedeutet dies, dass nur noch 62 Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen geschützt werden. Die weißen Flecken in der Tariflandschaft werden immer größer - zulasten der Beschäftigten. Die Bundesregierung ignoriert aber dieses Problem. In Debatten verweisen die Regierungsfraktionen immer und immer wieder auf die Verantwortung der Tarifpartner. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Tarifpartner autonom für gute Löhne und faire Arbeitsbedingungen sorgen. Das ist der Idealfall. Fakt ist aber, dass die Tarifpartnerschaft in manchen Branchen nicht mehr funktioniert. Das geschieht auf Kosten der Beschäftigten sowie der Allgemeinheit. Deshalb muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt und gestärkt werden. Im gesamteuropäischen Vergleich befindet sich Deutschland beim Tarifbindungsgrad lediglich im Mittelfeld. Zum Beispiel in Frankreich, Spanien und Finnland bestehen wesentlich effektivere Systeme, mit denen Tarifverträge als allgemeinverbindlich erklärt werden können, sodass sie für alle Beschäftigten einer Branche gelten. In Frankreich entscheidet das Arbeitsministerium über die Ausdehnung eines Tarifvertrags, ohne an Kriterien der Repräsentativität von Tarifverträgen gebunden zu sein. In Finnland gelten die Tarifverträge für alle Beschäftigten, wenn etwa die Hälfte der Beschäftigten bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber arbeitet. In Spanien werden alle Tarifverträge automatisch auf die Beschäftigten einer Branche ausgedehnt, wenn sie von einer als repräsentativ anerkannten Tarifpartei abgeschlossen wurden. Die Bundesregierung sollte sich diese Systeme der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zum Vorbild machen. Der Trend zur Tarifflucht muss endlich gestoppt werden, denn Tarifflucht hat auch Auswirkungen auf die Löhne. Der anwachsende Niedriglohnbereich hat einschneidende Konsequenzen für die Existenzsicherung der Beschäftigten und belastet in mehrfacher Hinsicht den Sozialstaat. Prekäre Löhne verursachen Einnahmeausfälle bei den Sozialversicherungen, mindern die Steuereinnahmen und führen zu steigenden Sozialausgaben. Niedrige Löhne belasten vor allem aber die Menschen. Sie leben in finanzieller Unsicherheit unter unwürdigen Lebensbedingungen. Anerkennung und Wertschätzung sieht anders aus. Weil das Thema mir so wichtig ist, freut es mich, dass die Linken nun auch einen Antrag zu diesem Thema einbringen. Es sind interessante und ziemlich weitgehende Forderungen, die sich an den gesetzlichen Bestimmungen in Spanien orientieren. Wir werden diese Vorschläge sehr genau prüfen. Auf den ersten Blick wird aber deutlich, dass die Forderungen sehr weitreichend sind und stark das bisherige System verändern würden. Prinzipiell halten wir am bisherigen System fest, denn es passt zu den unterschiedlichen Realitäten in Deutschland. Es gibt gutfunktionierende Sozialpartnerschaften in vielen Branchen; für die gilt das Tarifvertragsgesetz. Für Branchen, in denen nur Mindestlöhne verhandelbar sind, greift das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. In Branchen, in denen die Sozialpartnerschaft überhaupt nicht funktioniert, können Mindestlöhne nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz geschaffen werden. Und schlussendlich fordern wir einen gesetzlichen Mindestlohn, der flächendeckend für alle Beschäftigten gilt. Dennoch sind Reformen notwendig, um die Tarifbindung durch Mindestlöhne und als allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge zu erhöhen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass die Verfahren im Tarifvertragsgesetz und im Arbeitnehmer-Entsendegesetz vereinfacht werden. In der weiteren Diskussion im Ausschuss und bei der Anhörung, werden wir uns intensiv auch mit den Forderungen der Linken auseinandersetzen. Schussendlich haben wir ja das gleiche Ziel. Wir brauchen wieder eine höhere Tarifbindung, denn wir wollen, dass möglichst alle Menschen von ihrer Arbeit leben können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 17/8148 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Roth ({0}), Tabea Rößner, Dr. Konstantin von Notz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umfassende Initiative zur Digitalisierung des Filmerbes starten - Drucksache 17/8353 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Rechtsausschuss Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von Johannes Selle, CDU/CSU, Dorothee Bär, CDU/CSU, Angelika Krüger-Leißner, SPD, Dr. Claudia Winterstein, FDP, Kathrin Senger-Schäfer, Die Linke, Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor uns liegt die wirklich ungeheuer komplexe Aufgabe, das qualitativ und quantitativ große deutsche Filmerbe zu sichern und der Öffentlichkeit Zugang zum Erbe zu ermöglichen. Neu ist diese Aufgabe nicht, aber erledigt ist sie auch noch nicht. Diese Aufgabe erfordert unsere erhöhte Aufmerksamkeit, denn wir sind in einem Stadium, wo durch fortschreitende Zeit irreparable Schäden entstehen können. Gleichzeitig ist klar, dass diese Aufgabe aufgrund ihrer Dimension - es handelt sich immerhin um mehrere Hunderttausend Werke - nicht mit einem Schlag bewältigt werden kann. Das liegt zum einen an den zur Verfügung zu stellenden Finanzmitteln, es liegt aber auch an den zur Verfügung stehenden Kapazitäten. Es ist politisch unstrittig, dass wir uns diesem Thema zügig widmen müssen. Es dürfte weiter unstrittig sein, dass dazu eine Finanzierung auf die Beine zu stellen ist, zu der auch der Bundeshaushalt wird beitragen müssen. Richtig losgelegt werden kann aber erst, wenn konzeptionelle Vorarbeiten abgeschlossen sind, bei denen die Beiträge der Experten der Branche erforderlich sind. Die Themenfelder, um die es dabei geht, wurden bei dem öffentlichen Fachgespräch des Ausschusses für Kultur und Medien zum Thema Filmerbe - Archivierung und Digitalisierung am 9. November 2011 sehr deutlich. Da geht es zunächst einmal um die vollständige Bestandsaufnahme, in der auch der Erhaltungszustand erfasst werden sollte. Für die Zukunft gehört die für dieses Jahr vorgesehene Änderung des Bundesarchivgesetzes mit der Pflichtregistrierung aller produzierten Kinofilme dazu. Aus dieser Pflichtregistrierung wird sich ergeben, in welchem ergänzenden Umfang eine Pflichthinterlegung aller Werke vorgesehen werden kann und welche finanziellen Auswirkungen für Produzenten oder auch die öffentliche Hand damit verbunden sind. Auch durch die Fernsehanstalten werden Filme hergestellt, deren Sicherung auf Dauer in die Betrachtung ebenso einzubeziehen ist wie die Zugänglichkeit für Interessenten. Nach dem Stand der Technik ist davon auszugehen, dass zukünftige Nutzungen digitalisierte Werke voraussetzen. Das stellt für neue Produktionen weniger ein Problem dar als für historische Werke. Bei den historischen Werken stehen wir inzwischen in vielen Fällen vor der Aufgabe, die Filme vor der Digitalisierung zu restaurieren. Dies kann, abhängig vom Zustand, sechsstellige Beträge pro Film erforderlich machen. Um dies zu leisten, werden eine Priorisierung und sogar eine Kanonisierung unumgänglich sein. Unzweifelhaft wird nicht jeder Film zum Erbe gerechnet werden können. Auf welche Weise hier vorgegangen werden kann, gehört zu den Fragen, die als nächste gelöst werden müssen. Wenn auch der Digitalisierung die Zukunft gehört, so ist schon erstaunlich, was die öffentliche Anhörung zu diesem Thema an Erkenntnissen gebracht hat. Die Geschwindigkeit der digitalen Revolution ist ungebrochen. Damit verbunden ist eine Vielfalt von Formaten und Geräten. Die Standards wechseln und müssen immer wieder neu gefunden werden. Demgegenüber steht die qualitativ hochwertige und vergleichsweise langanhaltende Sicherung auf herkömmlichem Filmmaterial. Es ist durchaus nicht selbstredend und völlig eindeutig, wie der Weg der Digitalisierung kosteneffizient beschritten werden kann. Die Digitalisierung eines abendfüllenden Films beläuft sich im Moment auf einen fünfstelligen Betrag. In Deutschland unterstützen auch die Länder und weitere Ministerien das große Thema, das gesamte kulturelle Erbe zu digitalisieren, wozu über den Film hinausgehend Bücher, Gemälde, Architektur und vieles andere mehr zu zählen ist. Auch diese Erfahrung und Forschungsergebnisse sind zu berücksichtigen. Hier muss insbesondere durch Mitwirkung der Experten der Branche eine einvernehmliche Lösung definiert und dann allgemeinverbindlich gemacht werden. Um vorhandene Werke digitalisieren zu können, muss in Übereinstimmung mit dem Urheberrecht gehandelt werden. Dort, wo die Filme physisch liegen, liegen nicht immer die Rechte. Der Prozess der Rechteklärung und gegebenenfalls der Rechteeinholung ist sehr aufwendig und dadurch auch kostenintensiv. Nicht in jedem Fall kann er erfolgreich zu Ende geführt werden. Da es aber in jedem Fall von hohem allgemeinen Interesse ist, das Erbe zu bewahren und auch zu nutzen, sind entsprechende gesetzliche Regelungen zu schaffen, die uns das Handeln ermöglichen, aber auch berechtigte nachträglich auftretende Interessen berücksichtigen können. Das Thema der Bewahrung des Erbes und der Nutzbarmachung kennen andere europäische Nationen auch. Wir sind gut beraten, nach deren Erfahrungen zu fragen. Diesen Prozess auch auf europäischer Ebene mitzugestalten, verdient ebenso unsere Anstrengungen. Denn was zu Europa gehört, definiert sich wesentlich auch über die gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Insbesondere ist hier an die Regelung zu denken, die wir im Umgang mit verwaisten Werken brauchen. Ebenfalls mitbedacht werden sollte, wie unser Erbe anderen europäischen Nutzern ebenso zugänglich gemacht werden kann - durch Untertitelung zum Beispiel wie deren Erbe unserer Bevölkerung. Das kulturelle Erbe der Bewegtbilder zu sichern und zu bewahren, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gehört zu unserem Selbstverständnis und natürlich auch zu unserem Selbstbewusstsein. Deshalb sehe ich der weiteren Diskussion guten Mutes entgegen. Zu Protokoll gegebene Reden

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Jugendpolitik führt in Deutschland ein Schattendasein“ - so lautet der Vorwurf der Opposition, ferner, dass in der Arbeit der schwarz-gelben Regierungskoalition jugendpolitische Belange weit hinter eine Politik, die auf frühkindliche Förderung zielt, zurückfielen. Diesen Umstand gelte es zu durchbrechen. Ein Symbol für den Aufbruch in eine eigenständige Jugendpolitik sei die „Würdigung der jugendfreundlichsten Kommune Deutschlands“ in Form eines Wettbewerbs. Dieser Vorwurf lässt sich freilich nicht halten. Richtig ist zwar, dass in den vergangenen Jahren der Schutz, die Förderung und die Bildung in den ersten Lebensjahren besondere Aufmerksamkeit erfahren haben - und dies zu Recht. Das BMFSFJ arbeitet jedoch derzeit unter Einbeziehung der Jugendverbände an einer Strategie für eine eigenständige Jugendpolitik. Der vorliegende Antrag ist damit als reiner Aktionismus zu bewerten. Der gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte eröffnet Jugendlichen heute mehr Chancen als jemals zuvor. Gleichzeitig stellt dieser Wandel Jugendliche aber auch vermehrt vor Entscheidungen und neue Herausforderungen. Der demografische Wandel, die mit der Globalisierung steigenden Anforderungen an Wissen und Kompetenzen, die Beschleunigung und Verdichtung der Bildungsbiografie und die stärkere Heterogenisierung der Jugendphase erfordern auch von der Jugendpolitik ein Umdenken. Neben den schulischen Anforderungen wollen Jugendliche sich entsprechend ihren eigenen Interessen und Stärken weiterentwickeln und sich gesellschaftlich engagieren. Jugendliche benötigen Raum: sowohl in der Gesellschaft, um angehört zu werden und mitbestimmen zu können, als auch reale Räume in ihrer unmittelbaren Umgebung als Treffpunkte. Die Jugendpolitiker der Union berücksichtigen diese Punkte; wir werden in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen, der sich insbesondere mit dem Bereich Reformierung des Kinder- und Jugendplans, dem Bereich der Partizipation, dem Bereich Neue Medien und Medienkompetenz und dem Bereich der Freiwilligendienste befasst. Den vorliegenden Antrag lehnen wir insofern heute ab.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In drei Wochen beginnen wieder die Internationalen Filmfestspiele in Berlin. Dieter Kosslick, der Chef der Berlinale, war gestern bei uns im Ausschuss und hat in seiner unnachahmlichen Art berichtet, was uns in diesem Jahr erwartet. Wieder hat er unsere Begeisterung und Neugier in Bezug auf das Festival geweckt. Ich freue mich, dass Dieter Kosslick seinen Job auch noch in den nächsten fünf Jahren weitermacht, und ich wünsche ihm von dieser Stelle aus viel Erfolg. Mit im Programm der Berlinale ist wieder die Retrospektive. Hier hat Dieter Kosslick ab diesem Jahr eine wunderbare Kooperation auf die Schiene gesetzt. Künftig wird die Berlinale zusammen mit der Deutschen Kinemathek bei ihren Retrospektiven eng mit dem Museum of Modern Art kooperieren. Auf den Retrospektiven der Berlinale werden Filme gezeigt, die Filmgeschichte gemacht haben, die das Filmemachen in aller Welt entscheidend mitgeprägt haben und die für viele junge Filmemacher heute noch Vorbild sind. Bei der 60. Berlinale vor zwei Jahren hatten wir ja einen besonderen Höhepunkt mit der Präsentation des restaurierten Filmwerkes „Metropolis“ von Fritz Lang, eine Ufa-Produktion aus dem Jahr 1927. Was bei der Berlinale und anderen Filmfestivals geboten wird, sollte auch im übrigen kulturellen Angebot eine Selbstverständlichkeit sein: das Nebeneinander von topaktuellen Filmen und Filmklassikern. Eine lebendige Filmkultur zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die Gelegenheit bietet, Einblick in die Werke der Filmgeschichte zu geben. Die Qualität vieler neuer Filme erschließt sich oftmals erst, wenn man sie im Kontext des gesamten Filmschaffens sieht. Viele dieser Filme setzen bis heute Maßstäbe in künstlerischer, technischer und visueller Hinsicht. Deshalb muss unser Filmerbe präsent sein im kulturellen Leben und für alle zugänglich. Vergessen wir nicht: Unser Filmerbe ist ein wesentlicher Bestandteil unseres gesamten nationalen Kulturerbes. Filme vermitteln wie andere Meisterwerke auch eine Vorstellung von der Geschichte, der Identität und der Kultur und sind damit prägend für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft. Filme sind in ihren vielfältigsten Formen ein kulturelles Erbe, das bewahrt, erhalten, archiviert, analysiert, aber auch genutzt und gezeigt werden muss. Aber wie steht es denn um unser Filmerbe in Deutschland? Kurz gesagt: gar nicht gut. Die Probleme sind seit Jahren bekannt - passiert ist bislang kaum etwas. Wir erinnern uns noch alle: Bereits vor vier Jahren haben wir mit einem gemeinsamen Antrag die Bundesregierung aufgefordert, zu handeln. Ende 2010 hat der Kulturstaatsminister im Ausschuss eingestanden, dass die Dinge liegengeblieben sind. Umso intensiver wollte er sich kümmern - passiert ist seitdem kaum etwas. Deshalb hat die SPD-Fraktion im Sommer des vergangenen Jahres der Bundesregierung einen Fragenkatalog vorgelegt, um den Stand offenzulegen und um weiter zu drängen, damit die Dinge endlich angepackt werden. Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage „Sicherung, Bewahrung und Nutzbarmachung des nationalen Filmerbes“ - Bundestagsdrucksache 17/6834 - offenbaren, dass die Bundesregierung wertvolle Zeit für das Filmerbe und seinen Erhalt hat verstreichen lassen. Bei den Kernfragen bleiben die Antworten zu vage oder lassen die nötige Entschlossenheit zur Lösung vermissen. Klar wird: Bereits jetzt ist Deutschland im Vergleich zu den europäischen Nachbarstaaten deutlich zurückgefallen. Zu Protokoll gegebene Reden Deshalb hat der Ausschuss erneut eine Reihe von ausgewiesenen Filmerbeexperten eingeladen und von weiteren Fachleuten schriftliche Stellungnahmen angefordert, um die Notwendigkeiten und Lösungswege aufzuzeigen. An dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank an die Experten für die vielen wertvollen Hinweise! Wir von der SPD-Fraktion sind gerade damit befasst, unsere Schlussfolgerungen aus dem letzten Expertengespräch in einen konkreten Forderungskatalog an die Bundesregierung zu gießen. Ich kann meinen Ärger an dieser Stelle nicht zurückhalten, dass die Grünen trotz anderer Absprachen mit einem eigenen Antrag vorgeprescht sind. Dabei stimmen wir in der Analyse und in den nötigen Schlussfolgerungen doch weitgehend überein. Alle parlamentarische Erfahrung zeigt, dass gemeinsames Handeln gegenüber der Regierung mehr Erfolg verspricht. Ein gemeinsamer Antrag hätte der Lösung der drängenden Probleme beim Filmerbe mehr gedient. Lassen Sie mich über die Schlussfolgerungen unserer Fraktion sprechen, die dringend zum Handeln zwingen: Erstens. Unser Filmerbe hat große Lücken. Das betrifft vor allem die vor 2004 produzierten Filme. Die DEFA-Stiftung hat die in der ehemaligen DDR produzierten Filme weitgehend vollständig gesichert, die Murnau-Stiftung die vor 1945 produzierten Filme - nicht alle, aber in großem Umfang. Eine Lücke klafft bei den zwischen 1945 und 2004 in der alten Bundesrepublik und den nach 2004 ohne öffentliche Förderung entstandenen Filmwerken. Nur durch eine Pflichthinterlegung kann der vollständige Erhalt des Filmerbes für die Nachwelt sichergestellt werden. Die Hinterlegungspflicht muss endlich gesetzlich festgeschrieben werden. Die Pflichtregistrierung wäre der erste Schritt. Endlich, nach vielen Jahren, kündigt die Bundesregierung an, einen entsprechenden Entwurf vorzulegen. Bisher ist es bei der Ankündigung geblieben. Das reicht nicht. Wir fordern die zügige Vorlage einer Regelung für die Registrierungspflicht. Immerhin hat die Bundesregierung 350 000 Euro für diesen Zweck im laufenden Haushalt eingestellt, aber noch fehlt ein Konzept, wofür die Mittel eingesetzt werden sollen. Aber bei der Registrierung darf es nicht bleiben. Die Hinterlegungspflicht mit den zentralen Fragen, was, wo und wie in die Archive zu geben ist, muss von Anfang an mitgedacht werden. Wir fordern, entsprechende Konzepte auf den Tisch zu legen. Erst seit 2005 werden zumindest die öffentlich geförderten Filme zur Abgabe einer Kopie verpflichtet. Aber das passiert nicht nach einheitlichen Standards, und es hat negative Konsequenzen für die Bewahrung und vor allem für das Zugänglichmachen der Filme. Wir brauchen klare, für alle verbindliche Qualitätsstandards und -normen für die Hinterlegung. Das kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten ihre Erfahrungen einbringen und sich auf die Notwendigkeiten verständigen. Dazu brauchen wir eine entsprechende Initiative der Bundesregierung, damit ein solcher Prozess angeschoben wird. Zweitens. Unser Filmerbe ist bundesweit verstreut über verschiedene öffentliche, halböffentliche und private Archive. Es fehlt eine zentrale Bestandserfassung, eine nationale Filmografie. Ein Ausbau des Filmportals - wie von der Bundesregierung beabsichtigt - ist zu kurz gesprungen. Wir brauchen eine systematische Erfassung darüber, in welchem Archiv welcher deutsche Film in welchem Format hinterlegt ist. Drittens. Ein Teil unseres Filmerbes droht zu verfallen, weil das Trägermaterial ermüdet. Alle Experten raten uns, hier in großem Umfang umzukopieren und zu restaurieren, um den Bestand zu retten. Wir brauchen Kriterien, die für eine entsprechende Auswahl und Reihenfolge Orientierung geben. Auch das kann nur mit allen beteiligten Einrichtungen und einer entsprechenden Initiative der Bundesregierung gelingen. Viertens. Der größte Teil unseres Filmerbes schlummert ungenutzt in den Archiven, weil es massenhaft an Vorführkopien fehlt. Was aber nützt uns ein Filmerbe, das in den Archiven verstaubt? Das Filmerbe soll lebendig sein. Es soll nicht allein aufgehoben werden für die Nachwelt. Nein, es gehört hinein in unsere Gegenwart. Es muss zum festen Bestandteil einer Filmbildung in den Schulen gehören. Das Medium Film gehört unverzichtbar zur kulturellen Bildung. Die Franzosen mit ihrer weltweit geschätzten Filmkultur machen uns vor, wie das gehen kann. Das Ansehen der Filmnation Frankreich beruht im Wesentlichen auf der Präsenz des Filmerbes im öffentlichen Bewusstsein. Die größte Herausforderung für das Filmerbe geht einher mit der Digitalisierung. Ich will es gleich dazusagen: Auch enorme Chancen sind mit der Digitalisierung verbunden. Die Herausforderungen: Fünftens. In absehbarer Zeit wird es nur noch digital produzierte Filme geben und damit nur noch digitale Originale oder Kopien, die hinterlegt werden können. Wir wissen aber, dass trotz aller Forschung verlässliche Technologien noch nicht verfügbar sind, die eine dauerhafte und sichere Speicherung erlauben. Hier müssen alle Beteiligten an einen Tisch gebracht werden, um die Anstrengungen - auch auf internationaler Ebene - zu verstärken. Und vor allem müssen abgestimmte Standards her, damit das Formatechaos ein Ende hat. Sechstens. Die Kinodigitalisierung ist in aller Munde. Und sie gelingt mit unserer Unterstützung auch an kleineren Standorten im Land. Ende dieses Jahres werden die meisten unserer Kinos nur noch mit digitalen Projektoren vorführen. Aber von den wenigsten der alten Filme gibt es digitale Kopien. Aus rein technischen Gründen droht also unsere Gegenwart vom Filmerbe abgeschnitten zu werden. Dem kann nur mit einer nationalen Digitalisierungsstrategie begegnet werden. Auch hier ist zu klären, nach welcher Auswahl und in welcher Reihenfolge die alten Filmschätze in digitale Formate überführt werden sollen. Dafür brauchen wir Kriterien. Und auch dafür müssen die Beteiligten an einen Tisch. Siebtens. Das Internet wird immer mehr genutzt, um Filme abzurufen. Das ist eine große Chance, auch die Zu Protokoll gegebene Reden alten Filme anzubieten und wieder stärker in das allgemeine Bewusstsein zu rücken. Aber auch das setzt voraus, dass die Filme digitalisiert werden. Die Niederlande haben uns vorgemacht, wie man diese immense Aufgabe in einer konzertierten Initiative anpacken kann. Die Bundesregierung hat es bisher unterlassen, diese Erfahrungen systematisch auszuwerten und für unsere Notwendigkeiten nutzbar zu machen. Dabei müssen auch Initiativen der Filmwirtschaft gefördert werden, die aus der Zugänglichmachung des Filmerbes ein Geschäftsmodell machen wollen wie die Initiative „Schätze des deutschen Films“. Hier ist natürlich zu beachten, dass sich die Auswahl eher an „Marktgängigkeit“ orientiert als an filmhistorischen und kuratorischen Gesichtspunkten. Dennoch halte ich diese Initiative für gut und unterstützenswert. Achtens. Schließlich sind auch eine Reihe von urheberrechtlichen Problemen zu lösen, auf die ich im Einzelnen jetzt nicht mehr eingehen kann. Festzuhalten ist auch hier: Das muss endlich angepackt werden. Die Probleme sind bekannt; die Experten haben nach 2008 zum zweiten Mal im Ausschuss die Notwendigkeiten benannt. Der Kulturstaatsminister muss endlich mit entschlossenen Schritten und Initiativen handeln und die Akteure beim Filmerbe in das Finden von Lösungen einbeziehen. Die Forderungen der Grünen im vorliegenden Antrag gehen in die richtige Richtung. Wir werden in Kürze unseren Antrag vorlegen. Und auch die anderen Fraktionen können angesichts des Handlungsdrucks nicht still bleiben. Vielleicht gelingt es uns, unsere Initiativen im Interesse der Sicherung, Bewahrung und Zugänglichmachung unseres Filmerbes zusammenführen.

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es war ein großes Ereignis bei der Berlinale vor fast genau zwei Jahren, als der legendäre Stummfilm „Metropolis“ von Fritz Lang erstmals wieder in einer restaurierten Fassung gezeigt werden konnte. Viele haben sicherlich noch das Bild vor Augen, wie Tausende bei klirrender Kälte und Schnee vor der Leinwand am Brandenburger Tor standen und die Welturaufführung der restaurierten Fassung miterlebten. Solche Ereignisse sind die freudigen Höhepunkte bei der Beschäftigung mit dem deutschen Filmerbe. Wir sind uns aber auch der Probleme beim Thema „Sicherung des nationalen Filmerbes“ in Deutschland bewusst. Es liegt zum Ersten ein technisches Problem vor. Viel Material ist in einem Zustand, welches eine weitere technische Verarbeitung notwendig macht. Zum Zweiten haben wir es mit Problemen bei der Dokumentation und Erfassung der Filme zu tun. Fraglich ist zum Beispiel, an welchem Ort in Deutschland - ob beim Deutschen Filminstitut e. V., DIF, der Stiftung Deutsche Kinemathek oder dem Bundesarchiv - Filmkopien eines Werkes vorliegen und vor allem in welchem Zustand diese dort archiviert sind. Wo liegt also das beste Ausgangsmaterial, um den Film zu sichern oder um gegebenenfalls weitergehend zu digitalisieren, um den Film auch in Zukunft - hoffentlich für lange Zeit - zugänglich zu machen? Seit 2009 ist über das online zugängliche Filmportal - www.filmportal.de - eine vollständige Filmografie verfügbar, die vom Deutschen Filminstitut mit Unterstützung der Bundesregierung fortgeführt und gepflegt wird. Dieser Überblick über das, was in den letzten 110 Jahren produziert wurde, ist die Basis, um überhaupt erst einmal die Bestände zu erfassen und weitere Aussagen zum Filmerbe treffen zu können. Seit dem Jahr 2004 besteht eine Hinterlegungspflicht für mit öffentlichen Mitteln geförderte Kinofilme. Damit werden nach Einschätzung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM, 80 bis 90 Prozent aller jährlich produzierten Kinofilme erfasst. Eine Pflichtregistrierung für deutsche Kinofilme wird in Kürze im Rahmen der Novellierung des Bundesarchivgesetzes vorgelegt. Die Bundesregierung hat dazu schon im Jahr 2009 konkrete Punkte entwickelt, die geregelt werden müssen. Diese reichen von einer Festlegung zum Umfang der Pflichthinterlegung, über Maßgaben zum Format und zur Qualität der abzuliefernden Kopie bis zu Kontrollmechanismen für die Hinterlegungspflicht. Sicherlich wäre eine generelle gesetzliche Pflichthinterlegung für alle Filme in Deutschland wünschenswert. Eine gesetzliche Pflichthinterlegung zieht jedoch Anfangsinvestitionen in Höhe von 6,6 Millionen Euro im ersten Jahr und Folgekosten ab dem zweiten Jahr von 3,6 Millionen Euro pro Jahr nach sich. Das sind enorme Kosten, die wir derzeit nicht schultern können. Hinzu kommt: Bisher ist der Gesamtumfang der jährlichen Filmproduktion in Deutschland nicht bekannt. Eine belastbare Kostenkalkulation aber ist erst nach Erstellung einer solchen Übersicht möglich. Darum haben wir als ersten Schritt vor, die Regelung zur Pflichtregistrierung von deutschen Kinofilmen als mögliche klärende Vorstufe einer generellen gesetzlichen Pflichthinterlegung einzuführen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wiederholt in dem vorgelegten Antrag insgesamt häufig Bekanntes und fordert vieles, was schon in den Anträgen zur Deutschen Digitalen Bibliothek oder in dem fraktionsübergreifenden Antrag „Das deutsche Filmerbe sichern“ aus dem Jahr 2008 deutlich gemacht wurde. Die Welt hat sich aber in der Zwischenzeit weitergedreht. Es besteht nicht mehr so ein Vakuum wie 2008. So können wir der Aussage der Antragsteller nicht zustimmen, dass ein großer Teil des 2008 eingebrachten fraktionsübergreifenden Antrages nicht erfüllt sei. Gerade die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt den Status quo und das Vorankommen der Bundesregierung. Die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck an einer Regelung im Bundesarchivgesetz, um die Pflichtregistrierung einzuführen, und sie steht in sehr engem Kontakt zur Branche. Hier erübrigt sich schon einmal die Einrichtung eines runden Tisches, um das eine oder andere Problem zu diskutieren. Zu Protokoll gegebene Reden Es ist auch überflüssig, mit der Stoppuhr neben der Bundesregierung zu sitzen und bis Frühjahr 2012 ein Konzept einzufordern, welches erläutert, wie die im Haushalt 2012 eingestellten 350 000 Euro zum Einsatz kommen. Es verhält sich hier ganz einfach: Es handelt sich um die in der oben genannten Stellungnahme des BKM aus dem Jahr 2009 aufgeführten Kosten des Bundesarchivs für die Bereitstellung der technischen Voraussetzungen sowie die zusätzlichen Personalstellen. Dies wird auch in den Antworten auf die Kleinen Anfragen zum Thema deutlich. Auch den Anmerkungen zu einer verbesserten Zugänglichmachung und Verwertbarkeit vorhandener Bestandsdaten ist nicht zuzustimmen. Das vom Kinematheksverbund angestrebte „Bestandsverzeichnis deutscher Filme“ bildet hier eine ausgezeichnete Möglichkeit. Über die Fortentwicklung des Filmportals, DIF, könnte diese Funktion hervorragend ausgeführt werden. Hinsichtlich der angemahnten Regelung zu den verwaisten Werken verweisen wir auf den Antrag der Koalition „Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe beginnen“ ({0}), in dem wir die Bundesregierung auffordern, diesen Punkt im dritten Korb zur Reform des Urheberrechts vorzusehen. Auch bei der Forderung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, eine Digitalisierungsinitiative zu starten, verweisen wir auf diesen Antrag, in dem wir eine Intensivierung der Digitalisierung fordern. Ein Problem ist aus meiner Sicht, dass die Einführung einer generellen Pflichthinterlegung von der Filmbranche zwar begrüßt, eine finanzielle Beteiligung seitens der Branche aber abgelehnt wird. Andere Länder, wie die Niederlande mit dem Programm „Images for the Future“, gehen hier mit gutem Beispiel voran und zeigen, dass Filmarchive und Filmwirtschaft zusammenarbeiten können. Auch beim Expertengespräch am 9. November 2011 wurde deutlich, dass hier ein Paradigmenwechsel notwendig ist. Dort gab es den Vorschlag, die Filmförderung so aufzubauen, dass Ermöglichen und Bewahren eingeschlossen sind, und zwar unter Beteiligung der Privatwirtschaft. Das ist ein interessanter Ansatz, der sich nun auch im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wiederfindet. Wir freuen uns auf die gemeinsame Beratung zu diesem Antrag und das Expertengespräch zur DDB im Ausschuss nächste Woche.

Kathrin Senger-Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004154, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist in seinem Anliegen begrüßenswert. Die Digitalisierung des Filmerbes wird aus filmpolitischer Sicht eines der wesentlichen Zukunftsthemen sein, sowohl hinsichtlich der technischen Herausforderungen als auch in Bezug auf die gesellschaftliche Respektierung unseres filmhistorischen Erbes. Dass die Grünen hier mit ihrem Antrag auf eine sensible Stelle staatspolitischer Versäumnisse hinweisen, da die Bundesregierung seit Jahren das deutsche Filmerbe in seiner Gesamtheit stiefmütterlich bis ignorant behandelt, sollte positiv vermerkt werden. Die Fraktion Die Linke ist sehr dafür, dass eine umfassende Initiative zur Digitalisierung des Filmerbes gestartet wird. Ich muss hinzufügen: endlich. Denn es ist höchste Zeit, damit zu beginnen, um wenigstens die Hausaufgaben zu erledigen. Was hat die Bundesregierung bis jetzt, trotz gegenteiliger Schönwetterbeteuerungen, alles nicht gemacht? Erstens. Es gibt immer noch keine Koordination aller mit dem Filmerbe befassten Institutionen, um wenigstens einen Rahmen abzustecken, mit welchem Ziel und in welchem Umfang die Digitalisierung des Filmerbes vorgenommen werden soll. Zweitens. Es gibt nach wie vor keinen verlässlichen Überblick über die vorhandenen Bestandsdaten der Filme. Drittens. Es gibt darüber hinaus auch keine gesetzliche Regelung zur Pflichtregistrierung aller deutschen Kinofilme, was ein besonderer Skandal ist, da eine solche Registratur ja überhaupt erst die Voraussetzung für die Bewahrung des Filmerbes darstellt. Von einer Pflichtabgabe ausnahmslos aller Kinofilmproduktionen an die Archive ist die Bundesrepublik Deutschland unverständlicherweise noch meilenweit entfernt. Der Grünen-Antrag plädiert meines Erachtens völlig zu Recht dafür, die Prüfung vorzunehmen, ob sich die Sicherung, Aufbewahrung und Zugänglichmachung des Filmerbes in die Filmförderung eingliedern ließe. In der Tat würde diese Überlegung dazu führen, dass ein Teil der staatlichen Filmsubventionen dauerhaft in die Pflege des nationalen Filmerbes fließen könnte. Außerdem wären die Filmarchive nicht länger zur Passivität verdammt. Sie dürften vielmehr von selbst Initiativen für eine praktische Vorbereitung der Digitalisierung ergreifen. Die staatlichen Einrichtungen selbst müssten ein gesteigertes Interesse daran haben, die Sicherung des Filmerbes zu berücksichtigen, weil dafür ja öffentliche Finanzmittel verausgabt werden. Das Schöne daran ist: Es war die Idee der Fraktion Die Linke, Regelungen zur Bewahrung des Filmerbes in das Filmförderungsgesetz, FFG, aufzunehmen. Ich darf in diesem Zusammenhang an unseren Antrag aus der letzten Wahlperiode „Finanzierung zur Bewahrung des deutschen Filmerbes sicherstellen“ ({0}) erinnern. Wir schlugen schon 2008 vor, paritätisch jeweils 6 Millionen Euro jährlich aus dem Bundeshaushalt und als Abgabe der Film- und filmtreibenden Werbewirtschaft bereitzustellen. Außerdem wollten wir eine zweckgebundene Abgabe in Höhe von 5 Cent auf jede Kinokarte erheben. Beide Maßnahmen halten wir weiterhin für unverzichtbar, um dem Finanzbedarf zur Sicherung und Aufbereitung zu konservierender Filmbestände und zur Digitalisierung einigermaßen gerecht zu werden. Namhafte Experten aus Filmarchiven und von Verwertungsfirmen für historische Filme sind der gleichen Auffassung. Wenn es nun, wie es bei Bündnis 90/Die Grünen an prominenter Stelle heißt, auch um die zügige Umsetzung der aufgestellten Forderungen aus dem alten Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen „Das deutsche Filmerbe sichern“ ({1}) gehen soll, dann kann ich nur sagen, dass damit höchstens offene Türen eingerannt werden. Wir hatten ja unseren Antrag gerade deshalb eingebracht, Zu Protokoll gegebene Reden weil alle anderen Fraktionen eine seriöse Finanzierung des Filmerbes scheuten. Immerhin muss die Frage erlaubt sein, warum diese ganz große Koalition seit mehr als drei Jahren nicht in der Lage ist, unsere vernünftigen Vorschläge überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die im Bundeshaushalt 2012 zusätzlich eingestellten 350 000 Euro für „Maßnahmen zum Erhalt des Filmerbes“ können hingegen wohl kaum als auch nur annähernd befriedigende Grundlage dafür dienen, die Bewahrung des deutschen Filmerbes wirkungsvoll zu beginnen, geschweige denn voranzutreiben. Wo da noch Spielraum für Digitalisierungsprojekte welcher Art auch immer sein soll, ist mir ein Rätsel. Und offenkundig scheint es so zu sein, dass den filmpolitisch Verantwortlichen auf den Regierungsbänken die Pflege des kulturellen Gedächtnisses in Gestalt einer mehr als einhundertjährigen Filmgeschichte dann doch nicht so wichtig ist. Ansonsten wäre nämlich die Sicherung und Digitalisierung des Filmerbes schon längst eine gesamtstaatliche Aufgabe mit allen Konsequenzen. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zielt durchaus in die richtige Richtung. Diese Richtung ist aber nur mit realistischen Finanzierungskonzepten und nachhaltiger institutioneller Zusammenarbeit zu verfolgen. Ohne zielstrebiges staatliches Engagement verpuffen solche Anträge im Vakuum der Folgenlosigkeit.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vor kurzem war Hans W. Geissendörfer, der als Regisseur, Autor und Produzent ja deutsche Film- und Fernsehgeschichte geschrieben hat, bei uns im Kulturund Medienausschuss. In einem Expertengespräch sprach er mit dem Herzblut des Filmenthusiasten über unser Filmerbe, in das die Kreativität unzähliger Menschen geflossen ist - über Tausende von Filmen, die heute nur noch schwer oder gar nicht mehr zugänglich sind. Was für ein Schatz schlummert da? Welcher kulturelle Reichtum wartet auf seine Entdeckung - oder Wiederentdeckung?! Wir wissen, dass Archive und Verleiher auf dem Gebiet des Filmerbes eine gute Arbeit leisten - oft mit geringen Mitteln und ökonomischen Problemen. Auch Filmfestivals engagieren sich. Wir erinnern uns an „Metropolis“ auf der Berlinale vor zwei Jahren. In wenigen Wochen wird die diesjährige Berlinale zusammen mit der Deutschen Kinemathek eine Retrospektive mit Filmen des deutsch-russischen Studios „Meschrabpom“ zeigen. Das Studio bestand in den 20er- und 30er-Jahren und produzierte eine, wie ich höre, sehr gute Unterhaltungskunst. Ich bin sehr gespannt auf die Entdeckungen bei dieser Retrospektive, die dann im Anschluss auch im New Yorker MoMA zu sehen sein wird. Was können wir tun, um den Reichtum des Filmerbes besser zu erschließen? Wie können wir die Arbeit, die schon geleistet wird, besser unterstützen? Unseres Erachtens ist es an der Zeit, hier die Möglichkeiten der Digitalisierung viel breiter zu nutzen. In einem anderen Bereich, dem der Kinodigitalisierung, geschieht ja schon sehr viel. Die Kulturpolitik im Bundestag hat hier ja sehr einmütig gehandelt, um unsere Kinos bei diesem technischen Übergang zu unterstützen. Was die Digitalisierung des Filmerbes angeht, sind andere europäische Länder uns inzwischen ein gutes Stück voraus, zum Beispiel die Niederlande, die 2007 ein ehrgeiziges Programm zur weitgehenden Digitalisierung des nationalen Filmerbes aufgelegt haben, bei dem es auch um die Onlinezugänglichkeit geht. Das britische Filminstitut ist ebenfalls sehr aktiv und stellt viele bereits digitalisierte Filme an verschiedenen Orten des Landes zur Ansicht bereit. Hunderte von digitalisierten Filmen werden auf einem eigenen Youtube-Kanal vorgestellt. Ich weiß, dass auf dem Weg zu einer Digitalisierung des Filmerbes viele Fragen zu klären sind, technische Fragen, Fragen der Priorisierung und natürlich auch urheberrechtliche Fragen, zum Beispiel beim Problem der verwaisten Werke. In unserem Antrag haben wir darauf hingewiesen. Aber diese Probleme sollten uns nicht den Mut nehmen. Andere Länder sind vorangegangen und haben gezeigt, was unter zum Teil ganz ähnlichen Bedingungen möglich ist. Lassen Sie uns also an einem Strang ziehen und eine umfassende Initiative zur Digitalisierung des Filmerbes starten. Lassen Sie uns - die Fraktionen des Bundestages und der Kulturstaatsminister - gemeinsam einen Runden Tisch einberufen, bei dem wir den Dialog suchen mit den hier relevanten Vertretern aus Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, aus Verbänden und Archiven. Das war, wie ich höre, in den Niederlanden ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg, und das wäre auch hier bei uns ein erster wichtiger Schritt. Wenn wir uns gemeinsam bewusst machen, was für ein kultureller Reichtum beim Filmerbe tatsächlich schlummert - ein Reichtum, der für Millionen von Bürgerinnen und Bürgern erschlossen werden kann -, sollte es nicht schwerfallen, einen solchen Schritt zu tun und dann auch weiterzugehen. Ich bin mir sicher: Die Digitalisierung unseres Filmerbes wird eines der großen kulturpolitischen Themen der nächsten Jahre. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir als Bundestag uns mit diesem ersten Aufschlag hier und heute auf den Weg machen und die Dinge mit gestalten!

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8353 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die jugendfreundlichste Kommune Deutschlands - Drucksache 17/7846 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von Dorothee Bär, CDU/CSU, Dr. Peter Tauber, CDU/CSU, Sönke Rix, SPD, Florian Bernschneider, FDP, Yvonne Ploetz, Die Linke, Ulrich Schneider, Bündnis 90/Die Grünen.

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Jugendpolitik führt in Deutschland ein Schattendasein“ - so lautet der Vorwurf der Opposition, ferner, dass in der Arbeit der schwarz-gelben Regierungskoalition jugendpolitische Belange weit hinter eine Politik, die auf frühkindliche Förderung zielt, zurückfielen. Diesen Umstand gelte es zu durchbrechen. Ein Symbol für den Aufbruch in eine eigenständige Jugendpolitik sei die „Würdigung der jugendfreundlichsten Kommune Deutschlands“ in Form eines Wettbewerbs. Dieser Vorwurf lässt sich freilich nicht halten. Richtig ist zwar, dass in den vergangenen Jahren der Schutz, die Förderung und die Bildung in den ersten Lebensjahren besondere Aufmerksamkeit erfahren haben - und dies zu Recht. Das BMFSFJ arbeitet jedoch derzeit unter Einbeziehung der Jugendverbände an einer Strategie für eine eigenständige Jugendpolitik. Der vorliegende Antrag ist damit als reiner Aktionismus zu bewerten. Der gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte eröffnet Jugendlichen heute mehr Chancen als jemals zuvor. Gleichzeitig stellt dieser Wandel Jugendliche aber auch vermehrt vor Entscheidungen und neue Herausforderungen. Der demografische Wandel, die mit der Globalisierung steigenden Anforderungen an Wissen und Kompetenzen, die Beschleunigung und Verdichtung der Bildungsbiografie und die stärkere Heterogenisierung der Jugendphase erfordern auch von der Jugendpolitik ein Umdenken. Neben den schulischen Anforderungen wollen Jugendliche sich entsprechend ihren eigenen Interessen und Stärken weiterentwickeln und sich gesellschaftlich engagieren. Jugendliche benötigen Raum: sowohl in der Gesellschaft, um angehört zu werden und mitbestimmen zu können, als auch reale Räume in ihrer unmittelbaren Umgebung als Treffpunkte. Die Jugendpolitiker der Union berücksichtigen diese Punkte; wir werden in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen, der sich insbesondere mit dem Bereich Reformierung des Kinder- und Jugendplans, dem Bereich der Partizipation, dem Bereich Neue Medien und Medienkompetenz und dem Bereich der Freiwilligendienste befasst. Den vorliegenden Antrag lehnen wir insofern heute ab.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Antrag vom 22. November 2011 die Einrichtung eines Preises für die jugendfreundlichste Kommune Deutschlands gefordert. In ihrem Antrag kritisiert die Linke, dass die Jugendpolitik seit vielen Jahren ein Schattendasein führe und die christlich-liberale Regierungskoalition die Belange der 14- bis 25-Jährigen stärker in den Fokus rücken solle. Als bahnbrechende Innovation fordert sie die Auslobung eines Preises „Ort der Zukunft“ inklusive eines Preisgelds für die jugendfreundlichste Kommune Deutschlands. Um es gleich vorab ganz deutlich zu sagen: Ich halte es für sehr löblich, wenn die Linke sich des Themas der Jugendpolitik annimmt. Ich halte es jedoch für mehr als verwunderlich, dass sich die Fraktion Die Linke mit einem Antrag zur Etablierung eines Preises profilieren möchte, der genau so in einem öffentlichen Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend formuliert ist. In dem Papier des BMFSFJ vom Mai 2011 „Eine Allianz für Jugend. Entwicklung und Perspektiven einer Eigenständigen Jugendpolitik“ ist auf Seite 9 f. nachzulesen: Zur Stärkung der Jugendpolitik auf kommunaler Ebene bieten sich konkrete Anknüpfungspunkte: … Beispiel: Einführung einer Kinder- und Jugendberichterstattung auf kommunaler Ebene. Regelmäßige Berichterstattungen machen nicht nur Bedarfe, Maßnahmen und Aktivitäten sichtbar, sie tragen auch zur Entwicklung von Indikatoren bei, die für Planungsprozesse hilfreich sind. … Als Anreiz könnte ein Preis für die jugendfreundlichste Gemeinde Deutschlands ausgeschrieben werden, der mit einem Preisgeld für lokale Maßnahmen verbunden wird ‚Ort der Zukunft‘ ... Die Linke verfährt hier nach dem Motto: Lieber schnell abschreiben, als eigene gute Ideen zu entwickeln. Wir brauchen weder die Fraktion Die Linke, die uns an die Wichtigkeit des Themas einer eigenständigen Jugendpolitik erinnert, noch einen Antrag, der genau das fordert, was bereits Regierungspolitik ist. Die Regierung handelt, wo die Linke noch debattieren will. Dazu haben wir keine Zeit, und daher lehnen wir Ihren abgeschriebenen Antrag als irrelevant ab. Es ist richtig, dass die Jugendpolitik als eigenständiger Bereich aufgestellt sein muss und die Jugendlichen unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Bisher hat die Bundesregierung große Erfolge im Bereich der Stärkung frühkindlicher Angebote aufzuweisen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es eine große Nachfrage nach staatlich geförderten Konzepten im Bereich der Infrastruktur für Kinder unter drei Jahren gibt. Diese Entwicklung lässt sich auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse zurückführen, die auch die Lebenswelten der Jugendlichen in hohem Maße verändert haben. Für den Bereich der Jugendpolitik haben die Fraktionen der CDU/CSU und FDP trotz der Verpflichtungen, die sich aus der Schuldenbremse ergeben, den Kinderund Jugendplan des Bundes auf hohem Niveau verstetigen können. Mit den Mitteln aus dem Kinder- und Jugendplan wird eine große Anzahl wichtiger Projekte für Jugendliche bundesweit gefördert. Außerdem haben wir die Mittel für die Jugendfreiwilligendienste vervielfacht sowie die Etablierung des Bundesfreiwilligendienstes beschlossen. Der Bundesfreiwilligendienst ist höchst erfolgreich bundesweit angelaufen und stellt einen Meilenstein gerade für das bürgerschaftliche Engagement junger Menschen dar, um das uns nicht zuletzt andere Nationen beneiden. Alle diese Einrichtungen bieten großartige Möglichkeiten für die persönliche und berufliche Entwicklung von Jugendlichen und leisten mittelfristig einen wertvollen Beitrag zu unserem Gemeinwesen. Darauf gilt es weiter aufzubauen. Die Lebensphase der 14- bis 25-Jährigen ist durch eine zunehmende Komplexität gekennzeichnet, die mit dem rasanten gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Wandel der letzten Jahre einhergeht. Eine eigenständige Jugendpolitik ist daher auch ein dezidiertes Ziel der christlich-liberalen Regierungskoalition. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat mit seinem Konzept „Allianz für Jugend“ hierfür den Weg gewiesen. Die Zielsetzungen umfassen im Einzelnen: Zukunftsperspektiven und Zuversicht stärken; Gesellschaftliche Anerkennung für junge Menschen vergrößern; Förderung, Unterstützung und Hilfe aller Akteure optimal verzahnen; Startchancen ins Jugendalter gerecht gestalten, sozial bedingter ({0})Benachteiligung entgegenwirken; Entwicklung der individuellen Potenziale aller Jugendlichen fördern; Übergänge in der Jugendphase aktiv gestalten und Perspektiven eröffnen; Teilhabe und Beteiligung junger Menschen ermöglichen; Erfahrungs- und Gestaltungsräume und -zeiten für junge Menschen schaffen. Wir wollen, dass jeder einzelne Jugendliche in seinen Fähigkeiten optimal gefördert wird. Damit tragen wir auch der „EU-Jugendstrategie 2010-2018“ Rechnung, die die Mitgliedstaaten dazu auffordert, Jugendpolitik als Ressort- und Querschnittspolitik fortzuschreiben und eine Chancengleichheit unter den Heranwachsenden herzustellen. Das Bundesministerium hat hierzu einen Dialogprozess gestartet, der die politische Debatte für die spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse von Jugendlichen sensibilisieren soll. Den Kern bilden zunächst thematische Fachforen, in denen aktuelle Fragestellungen aus der Lebenswelt der Jugendlichen - zunächst: Anerkennung von Engagement und Validierung nicht formaler Bildung - umfassend diskutiert werden. Anfang 2012 ist die Einrichtung eine Zentrums „Allianz für Jugend“ geplant. Bis zum Ende der Legislaturperiode folgen weitere Fachforen, die zur Verbesserung jugendpolitischer Strukturen vor Ort - Jugendhilfeplanung, Jugendhilfeausschüsse, lokale Allianzen, lokale Kinderund Jugendberichterstattung und die Auslobung des besagten Preises für die jugendfreundlichste Gemeinde angelegt sind. Über die laufende Legislaturperiode hinaus sollen der Kinder- und Jugendplan des Bundes zu einem Steuerungsinstrument der eigenständigen Jugendpolitik weiterentwickelt und eine ressortübergreifende Allianz für Jugend gebildet werden. Neben Vertretern der Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, der Kinder- und Jugendhilfe sowie des formalen Bildungssystems werden die Jugendlichen explizit eingebunden und können ihre Themen direkt einbringen. Nur so kann eine eigenständige Jugendpolitik, die die Lebenswelten der Jugendlichen und ihre realen Bedürfnisse erfasst, auf solide Füße gestellt werden und damit eine nachhaltige Wirkung entfalten. Das Bundesministerium hat daher den politischen Dialogprozess mittelfristig angelegt, sodass er über die aktuelle Legislaturperiode hinausgehen wird. Die Kritik der Fraktion Die Linke am Konzept „Allianz für Jugend“ der Bundesregierung ist daher geradezu unseriös. Die Linke bemängelt, dass das Konzept auf eine lange Frist hin orientiert sei und eine rasche Aufwertung der Jugendpolitik nicht zu erwarten sei. Die Jugendlichen in unserem Land verdienen es, dass wir sie ernst nehmen und uns vor allem Zeit für ihre Sichtweisen und Probleme nehmen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist die Zufriedenheit der Jugendlichen mit der Demokratie den Ergebnissen der Shell-Studie 2010 zufolge auf über 60 Prozent gestiegen. Die positive Grundeinstellung der Jugendlichen gegenüber demokratischen Strukturen können wir weiter fördern, wenn wir die Jugendlichen in das Politikgeschehen einbinden. Die christlich-liberale Koalition hat längst erkannt, dass Jugendpolitik nicht länger als Problem- und Krisenpolitik behandelt werden darf. Eine eigenständige Jugendpolitik muss die Chancen und Herausforderungen, denen sich die Jugendlichen heute gegenübersehen, erkennen und ganz konkrete Handlungsempfehlungen entwickeln. Aus meiner Sicht muss eine eigenständige Jugendpolitik auch die Auswirkungen der neuen Medien, insbesondere des Internets, und die damit einhergehende Veränderung der Kommunikationskultur der Jugendlichen in den Blick nehmen. Darüber hinaus halte ich die Stärkung der Medienkompetenz - nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern für zentral. Die Medienkompetenz soll nach Auffassung der Fraktionen CDU, CSU und FDP daher Eingang in den Schulunterricht finden. Unser Engagement in der Jugendpolitik steht außer Zweifel - wir reden nicht, wir handeln. So wird der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP, der die Stärkung der Jugendpolitik vorsieht, schon längst mit Leben gefüllt.

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke kommen in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass die Jugendpolitik von der schwarz-gelben Bundesregierung sträflich vernachlässigt wird. Dieser Analyse schließen wir - die SPD-Bundestagsfraktion - uns an. Zurzeit wird häufig ein Jugendbild transportiert, das sehr einseitig negative Extreme des Heranwachsens herausstellt und überzeichnet. Das hat negative Folgen auch für die Jugendpolitik, die viel zu häufig defizitorientiert und repressiv ist. Dabei müsste sie aktivierend und emanzipatorisch sein. Aber: In Deutschland fehlt es schlicht an einer schlüssigen, wirkungsvollen und bedarfsgerechten Politik für junge Menschen. Dabei ist es heute wichtiger denn je, junge Menschen zwischen 14 und 25 im Blick zu haben, ihnen gute Rahmenbedingungen zu bieten, ihnen ein sicheres und geZu Protokoll gegebene Reden rechtes Aufwachsen zu ermöglichen - denn der Druck auf diese Gruppe wächst stetig: gestiegene Bildungserfordernisse, Globalisierung von Wirtschaft und Arbeitsmärkten, eine höhere Lebenserwartung und eine damit einhergehende alternde Gesellschaft. Das sind nur drei der vielfältigen Anforderungen und Herausforderungen, vor denen die junge Generation heute steht. Ob diese Herausforderungen als Belastung oder als Chance wahrgenommen werden, hängt in erster Linie von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, in denen junge Menschen aufwachsen. Aufgrund der zunehmenden materiellen Unsicherheit ist für ein gutes Aufwachsen aller jungen Menschen mehr denn je öffentliche Verantwortung gefragt. Dafür benötigen wir den Respekt und die Anerkennung gegenüber Jugendlichen in der Gesellschaft. Und wir benötigen eine stimmige Jugendpolitik, die passgenaue Angebote für unterschiedliche Lebenslagen macht. Dazu ist es notwendig, Jugendpolitik als Zukunftspolitik und als eigenes Politikfeld zu begreifen. Für mich steht fest: Gute Jugendpolitik muss allen jungen Menschen Perspektiven bieten. Sie muss Zeit und Raum für Entwicklung lassen und Rückhalt geben. Gute Jugendpolitik ist geschlechtergerecht, wird auch mit und von Jugendlichen gestaltet, fördert vielfältige Lebensläufe und stellt gute Infrastruktur zur Verfügung. Zu einer guten, umfassenden Jugendpolitik gehören für uns Sozialdemokraten unter anderem folgende Punkte: Wir wollen die Rechte von jungen Menschen stärken. Dazu gehört auch die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention. Wir wollen gerechte Chancen auf Bildung verwirklichen. Dazu gehört, dass elternhausbedingte Unterschiede ausgeglichen werden und niemand verloren gegeben wird. Wir wollen eine gute Ausbildung garantieren. Dazu gehört auch eine Berufsausbildungsgarantie. Wir wollen einen gerechten Zugang zu modernen Hochschulen eröffnen. Dazu gehört, Hochschulen für alle Studierwilligen offen zu halten. Wir wollen Freiräume ermöglichen. Dazu gehört, dass wir die Mobilität der Jugendlichen sicherstellen und Vereine und Verbände, die in der Jugendarbeit tätig sind, ausreichend unterstützen. Die Bearbeitung weiterer Felder sind für mein Dafürhalten für eine umfassende Jugendpolitik vonnöten, beispielsweise kritischer Konsum, eine saubere und sichere Umwelt, die Chancen des Internets, Gesundheit und internationale Politik. Die Kommune spielt bei der Gestaltung von Jugendpolitik eine entscheidende Rolle: Hier wachsen die Jugendlichen auf, hier werden Entscheidungen getroffen, die Jugendliche sofort und unmittelbar spüren und die sie - sofern es ausreichend Partizipationsmöglichkeiten gibt - beeinflussen können. Insofern ist die Auszeichnung einer in diesem Feld vorbildlichen Kommune als „Ort der Zukunft“ ein sinnvoller Baustein einer umfassenden Jugendpolitik. Aber es kann eben nur ein Baustein sein. Denn Jugendpolitik ist mehr als ein jugendpolitisches Bekenntnis an einem Tag im Jahr.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Normalerweise heißt es ja: In der Kürze liegt die Würze. Ganz entgegen ihren Gewohnheiten hat die Fraktion Die Linke mit dem vorliegenden Antrag dieses Sprichwort offenbar beherzigt. Ich erkenne ausdrücklich an, dass sie mit der Forderung nach einem Preis für die jugendfreundlichste Kommune Deutschlands eine interessante Diskussion hätte anstoßen können. Ich sage „hätte“, weil die Linke in ihrem Antrag jeglichen eigenen Gestaltungswillen vermissen lässt. Der gesamte Antrag beschränkt sich im Grunde darauf, von der Bundesregierung ein Konzept bis zum kommenden „Tag der Jugend“ am 12. August diesen Jahres zu fordern, das anschließend diskutiert werden soll. Aber ist es nicht eigentlich Aufgabe des Parlaments, des Gesetzgebers, Konzepte zu entwickeln und zu diskutieren? Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken beschränken sich leider wieder einmal darauf, etwas plakativ zu fordern, ohne konkrete eigene Vorschläge zu unterbreiten. Vielleicht haben sie auch gar keine. In diesem Fall käme der Antrag einem Offenbarungseid gleich. Weniger Gestaltungswillen war selten. Meine Fraktion hingegen hat bereits in einem eigenen jugendpolitischen Positionspapier aus dem letzten Jahr die Forderung erhoben, Kommunen zu prämieren, die sich auf dem Feld der jugendpolitischen Partizipation besonders hervorgetan haben. Jugendfreundlichkeit lässt sich aus unserer Sicht nicht allein an der Anzahl der Jugendklubs oder der Jugendarbeitslosigkeit ablesen. Vielmehr kommt es darauf an, dass eine vernünftige Gesamtstrategie vorliegt, dass alle relevanten Akteure, von der Schule über die Verwaltung bis hin zur Polizei und zum Jugendamt, zusammenarbeiten, wenn es um wichtige jugendpolitische Belange geht. Denn wem nutzt ein im Rathaus in der Besenkammer verstecktes Jugendbüro, in das sich ohnehin kein Jugendlicher jemals verirren wird? Deshalb muss sichergestellt werden, dass bei jugendrelevanten Fragen alle jungen Menschen erreicht werden und diese so die Möglichkeit bekommen, sich einzubringen, unabhängig von ihrem Bildungsstand, ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status. Hierfür gibt es bereits eine Fülle an Instrumenten. Fast alle Städte und Gemeinden haben einen Jugendbeauftragten oder ein Jugendbüro. Neben Bürgersprechstunden gibt es auch häufig Jugendeinwohnerversammlungen, Kinderund Jugendforen, Runde Tische oder Jugendparlamente, über die junge Menschen die Möglichkeit erhalten, eigene Standpunkte in die Ortspolitik einzubringen. Aber am Ende geht es nicht ohne eine vernünftige Gesamtstrategie. Diese sollte vor allem ausschlaggebend sein, wenn ein Jugendpartizipations- oder „Jugendfreundlichkeitspreis“ vergeben werden soll. Auf all diese FraZu Protokoll gegebene Reden gen, die ich hier nur kurz skizziert habe, geht der vorliegende Antrag leider nicht ein. Außerdem haben Sie, meine Damen und Herren von der Linken, mit diesem Antrag eindrucksvoll bewiesen, dass Sie die letzten zwei Jahre in Sachen Jugendpolitik offensichtlich geschlafen haben. Allein die Feststellung, dass die Jugendpolitik in der Arbeit der schwarz-gelben Koalition ein Schattendasein führe, ist blanker Hohn angesichts der vielen Beschlüsse, mit denen wir die Jugendpolitik in unserem Land vorangebracht haben. Mit der Sommerferienjobregelung und dem Deutschlandstipendium hat diese Koalition ein klares Signal dafür gesetzt, dass Leistungsbereitschaft junger Menschen anerkannt und belohnt wird. Mit dem Führerschein ab 17 und der Stärkung des Jugendwohnens im Rahmen der Arbeitsmarktreform haben wir von Bundesseite dafür gesorgt, die häufig an junge Menschen gerichtete Forderung nach Mobilität und Flexibilität mit der nötigen Betreuung und Sicherheit zu verbinden. Und mit der Fortsetzung der Programme „Schulverweigerung - die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ haben wir den herrschenden Sparzwängen getrotzt und dafür gesorgt, dass zwei äußerst erfolgreiche Programme fortgesetzt werden. Schließlich wollen wir Deutschland zu einer Bildungsrepublik machen, in der jeder seine Chance erhält, zur Not auch eine zweite und dritte. Vor allem aber stehen wir für eine andere Politik, die nicht nach immer neuen Verboten ruft, sondern darauf abzielt, junge Menschen in ihren Ressourcen und Fähigkeiten zu stärken. Diesen Weg wollen und werden wir konsequent weitergehen. Was bleibt also von diesem Antrag? Zum einen der gute Vorsatz; das Jahr ist bekanntlich noch jung. Zum anderen der Beweis, dass die Beachtung von Sprichwörtern noch lange nicht ausreicht, um eine ordentliche, in sich schlüssige parlamentarische Initiative vorzulegen. Oder um es frei nach Brecht zu sagen: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der seltene Fall tritt heute ein - wir debattieren im Deutschen Bundestag über Jugendpolitik. Dazu möchte ich zunächst ein Zitat anführen: „Wir stehen für eine eigenständige Jugendpolitik, eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potentiale fördert und ausbaut. Wir wollen Jugendliche beim Übergang von Ausbildung in den Beruf besser unterstützen. Wir betonen die zentrale Bedeutung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Es gilt die neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kultur und Schule zu nutzen und qualitativ und quantitativ auszubauen.“ Frau Schröder, kommt Ihnen das bekannt vor? Und Ihnen, Herr Kauder und Herr Brüderle? Ich kann Sie beruhigen, es steht nicht im Wahlprogramm der Linken. Es steht auch nicht im Kommunistischen Manifest, sondern diese Sätze stehen tatsächlich im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP. Leider haben Sie erst kürzlich verdeutlicht, was Sie unter der „zentralen Bedeutung der kulturellen Kinderund Jugendbildung für die Persönlichkeitsentwicklung“ in der Praxis verstehen: Als verfrühtes Weihnachtsgeschenk haben Sie die Mittel für das überaus erfolgreiche Programm „Jugend stärken“ um 30 Prozent gekürzt. Kompensiert haben Sie das nicht, und das, obwohl fast ein Viertel aller Jugendlichen von Armut bedroht sind. Diese Zahlen des Statistischen Bundesamtes kennen Sie sicherlich. Wissen Sie eigentlich, was diese Kürzungen für die Projekte bedeuten? Wissen Sie, was das für die Jugendlichen heißt? Zahlreiche Projektleiterinnen und Projektleiter haben mich angesprochen. Sie kümmern sich tagtäglich vor Ort um benachteiligte Jugendliche und setzen sich engagiert für sie ein. Ihnen wird schlicht das Geld fehlen, und sie stehen vor dem Aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie diese dramatischen Hilferufe nicht erreichen! Man sieht: Ihre Zeilen im Koalitionsvertrag sind anscheinend nichts anderes als Lippenbekenntnisse. Jugendpolitik fristet bei Ihnen bestenfalls ein Schattendasein. Das sieht man sowohl an der desolaten Bildungspolitik als auch an Ihrer verfehlten Sozialpolitik. Das Deutschlandstipendium ist gescheitert. Beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf unterstützen Sie die Jugendlichen in keiner Weise Sie schauen tatenlos zu, wenn Jugendliche nach der Ausbildung teilweise in unternehmenseigene Zeitarbeitsunternehmen verschoben werden, sie selbst in der Metallindustrie bestenfalls befristete Arbeitsverträge erhalten, Unternehmen aber gleichzeitig über einen Fachkräftemangel klagen. Die Generation Praktikum und die guten und wichtigen Recherchen des Deutschen Gewerkschaftsbundes hierzu ignorieren Sie völlig. Sie schauen weiter zu, wie junge gutausgebildete Menschen von Unternehmen über Monate als billige Arbeitskräfte in Praktika benutzt werden. Der alljährliche Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin ist nichts weiter als eine Veranstaltung zur Selbstbeweihräucherung, und in der Jugendpolitik werden die Mittel gekürzt. Würden Sie der Jugendpolitik tatsächlich eine zentrale Rolle zuerkennen, würden Sie eine effektivere Politik betreiben. Hier kommt unser vorliegender Antrag ins Spiel: Wir möchten Sie heute beim Wort nehmen. Nun haben Sie die Möglichkeit, zu beweisen, dass Sie Ihren eigenen Zeilen mehr Bedeutung zumessen, als Ihre bisherige Performance erkennen lässt. Wir fordern heute nichts anderes, als dass Sie Ihren eigenen, sehr guten, Vorschlag in die Tat umsetzen. So schreibt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Eckpunktepapier „Eine Allianz für Jugend“ auf Seite 10: „Als Anreiz“ - auch für eine intensivere Jugendpolitik auf kommunaler Ebene - „könnte ein Preis für die jugendfreundlichste Gemeinde ausgeschrieben werden, der mit einem Preisgeld für lokale Maßnahmen verbunden wird.“ Wir unterlegen in unserem Antrag diese Kür mit möglichen Indikatoren. Die Quantität und Qualität lokaler jugendpolitischer Maßnahmen, die politischen Partizipationsmöglichkeiten Jugendlicher, die Höhe der Jugendarbeitslosigkeit und -armut und die Möglichkeiten Zu Protokoll gegebene Reden Jugendlicher zur Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen, an Kultur und Sport, könnten solche sein. Außerdem verbinden wir mit dem Antrag die Forderung, dass Sie zeitnah, nämlich bis zum nächsten Internationalen Tag der Jugend, am 12. August 2012, ein Konzept vorlegen. Damit würde Jugendpolitik auf die Tagesordnung sowohl der Kommunen als auch der Bundesregierung gehievt. Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Konstruieren Sie sich keine fadenscheinigen Begründungen, warum Sie unseren Antrag ablehnen, sondern wagen Sie ein Signal für einen jugendpolitischen Aufbruch! Ich möchte gar nicht von Ihnen verlangen, dass Sie Ihre Politik auf Jugendliche fokussieren. Aber es darf doch nicht zu viel verlangt sein, dass Jugendliche endlich in Ihr Blickfeld kommen, und zwar dann, wenn es nicht ums Sparen geht, sondern um Politik, die im positiven Sinne gestaltet! Ich zitiere noch einmal: „Wir stehen für eine eigenständige Jugendpolitik, eine starke Jugendhilfe und eine starke Jugendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potentiale fördert und ausbaut.“ Dabei möchte ich Sie daran erinnern, dass nicht Ihre Worte zählen. Und nun, das sollte Ihnen, Frau Schröder, ja eingängig sein, zitiere ich die Bibel: „Hütet euch vor den falschen Propheten! Sie sehen zwar aus wie Schafe, die zur Herde gehören, in Wirklichkeit sind sie Wölfe, die auf Raub aus sind. An ihren Taten sind sie zu erkennen.“ ({0}) Dabei noch der Hinweis, Frau Schröder: Der Berg kommt für gewöhnlich nicht zum Propheten, Sie müssten sich schon zu ihm bequemen. In der Jugendpolitik liegt noch ein großer Berg an Arbeit vor Ihnen!

Ulrich Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004219, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Einschätzung meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion Die Linke teile ich dahin gehend, dass Kommunen, die jugendfreundliche Politik machen und jungen Menschen Möglichkeiten zur Mitgestaltung geben, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Der Idee der Vergabe des Titels der „Jugendfreundlichsten Kommune“ stehe ich grundsätzlich sehr positiv gegenüber; allerdings scheint mir der von der Linken vorgelegte Antrag doch sowohl inhaltlich als auch strukturell noch nicht zu Ende gedacht worden zu sein. Jugendgerechte Stadtplanung ist ein Thema, das gerade auf kommunaler Ebene von großer Bedeutung sein muss, da junge Menschen hier die Möglichkeit bekommen sollten, selber auf ihre Umwelt Einfluss zu nehmen. Dazu bedarf es einer nachhaltigen und langfristig angelegten Strategie in diesem Bereich, um Kommunen Anreize zu liefern, mehr in Jugendprojekte zu investieren. Eine jugendgerechte Infrastruktur zu schaffen, bedeutet, dass jungen Menschen im Stadtbild Freiräume zugestanden werden müssen, die sie selber gestalten können und in denen sie sich frei von politischen Interessen oder vor allem kommerzieller Verzweckung entfalten können. Öffentlicher Raum - insbesondere ein Angebot nichtpädagogisierter Räume - muss für Jugendliche zugänglich bleiben, gerade wenn sie noch keine großen finanziellen Spielräume haben. Um dies umzusetzen, braucht es echte Mitgestaltungsmöglichkeiten und politische Teilhaberechte für Jugendliche. Dabei Kommunen zu ehren, die sich besonders durch jugendfreundliche Politik und Maßnahmen hervorgetan haben, scheint mir eine gute Idee zu sein. Diese sollten sich vor allem durch eine aktive Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, durch gute Ausstattung und Angebote der Jugendhilfe und durch eine qualitativ hochwertige Schulinfrastruktur auszeichnen. Zudem sollten die Schaffung eines umfangreichen Ausbildungsangebots und die Bereitstellung von Mobilitätsangeboten für junge Menschen im Fokus liegen. Auf europäischer Ebene gibt es bereits das Konzept der „European Youth Capital“. Diese Ehrung wird unter Einbindung des European Youth Forum, des Dachverbandes europäischer Jugendorganisationen und -ringe, vergeben. Sie kommt Städten zugute, die ein besonderes Augenmerk auf die Belange junger Menschen legen, und zieht zahlreiche öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen nach sich. Derzeit trägt Braga, eine Stadt in Portugal, den Titel der europäischen Jugendhauptstadt. Allerdings wirken solche Projekte nur, wenn sie eben weitere Maßnahmen beinhalten und nicht bloße Symbolpolitik sind. Das in diesem Antrag vorgelegte Konzept enthält noch keine Aussagen zu deren Ausgestaltung, die für mich von höchster Relevanz wären, zum Beispiel die Frage, wer diesen Titel vergeben würde. Ohne eine starke Partizipation von Jugendlichen und Jugendorganisationen sollte dieser Prozess nicht ablaufen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7846 an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. Januar 2012, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.