Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/20/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen unsere Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 2 - fort: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2010 ({0}) - Drucksache 17/200 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Für die heutigen Beratungen haben wir gestern eine Redezeit von achteinhalb Stunden beschlossen. Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes, Einzelplan 04. Ich darf als erstem Redner dem Kollegen Anton Schaaf für die SPD das Wort erteilen. ({1})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gut 100 Tage ist die Bundestagswahl her, knapp 100 Tage, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sind Sie im Amt. Für dieses Land, um das ganz vorneweg zu sagen, sind die 100 Tage, die Sie im Amt agieren bzw. nicht agieren, 100 verlorene Tage. ({0}) Meine Damen und Herren, Sie haben gesagt, Sie hätten Koalitionsverhandlungen geführt. Na ja, am Ende von Koalitionsverhandlungen steht ja ein Ergebnis, wird eine Perspektive aufgezeigt, die den Menschen Hoffnung und Zuversicht gibt. Ich sage Ihnen etwas: Sie haben nur einen Fahrplan für Koalitionsverhandlungen vereinbart. Sie sind immer noch dabei, Koalitionsverhandlungen zu führen. Ich befürchte, bei der Zerstrittenheit dieser Koalition wird es noch 100, 200 oder 300 Tage dauern, bis Sie endlich einen Koalitionsvertrag unterschrieben haben. ({1}) Was sind die strittigen Punkte? Das Einzige, was im Moment wirklich absehbar ist, ist, dass Sie an Steuersenkungen festhalten wollen. Da wäre es ja nun wenigstens redlich oder ehrlich, den Menschen zu sagen, wie Sie diese Steuersenkungen finanzieren wollen. Das, was Sie jetzt an Geschenken an die Reichen verteilt haben, haben Sie durch Schulden finanziert, in der falschen Annahme, sie würden sich refinanzieren. Jeder Ökonom sagt Ihnen, dass das nicht funktioniert. Aber Sie wollen diese verfehlte Politik der Entlastung der Reichen zulasten der Armen weitermachen, weil Sie sich davon Wirtschaftsimpulse erwarten. Sie haben jedoch überhaupt keine Ahnung davon, wie Sie das Ganze gegenfinanzieren wollen. Das lässt der Haushalt auch nicht zu, weder jetzt noch in den nächsten Jahren. Sie halten aber trotzdem daran fest. Wir sind in der schwersten Krise unseres Landes in der Nachkriegszeit. Eigentlich erwartet man, dass da Impulse für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft gesetzt werden. Der Wirtschaftsminister aber setzt keine Impulse, sondern kann nur noch zwei Worte. Auf jede Frage, die man ihm stellt, lautet die immer gleiche Antwort: Steuern senken! Arbeitslosigkeit? - Steuern senken! Wirtschaftswachstum? - Steuern senken! Ich befürchte, dass er auch, wenn man ihn nach Afghanistan fragt, sagt: Steuern senken. Er kann nichts anderes, als sich selbst auf Steuersenkungen zu begrenzen. ({2}) Das ist keine Wirtschaftspolitik; vielmehr macht es deutlich, dass in dieser Regierungskoalition gnadenlose Perspektivlosigkeit herrscht. Redetext Der Wahlkampf der Union war völlig inhaltsleer. Er beschränkte sich auf eine Person: auf die Bundeskanzlerin. Sie haben keine Idee entwickelt, kein Thema besetzt. So gingen Sie in vermeintliche Koalitionsverhandlungen und wurden von der FDP marktliberal über den Tisch gezogen. Genau das ist passiert, meine Damen und Herren. In Ihrem sogenannten Koalitionsvertrag stehen nur Forderungen der FDP, sonst steht dort nichts. ({3}) - In der Tat, so ist es. Frau Bundeskanzlerin, an Ihrer Stelle würde ich noch einmal sehr gründlich darüber nachdenken, was das zu bedeuten hat. Sie haben die Kraft verloren, selber Impulse zu setzen. Sie schaffen keine Perspektive für die Menschen in diesem Land, aber das sehr konsequent. Diese Konsequenz sieht so aus: Sie sagen den Menschen in diesem Lande vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl nicht, wie Sie Ihre Steuerpolitik, Ihre Steuersenkungspolitik, finanzieren wollen. Erst danach werden die sozialen Ungerechtigkeiten, die sozialen Grausamkeiten von Ihnen formuliert. Sie wollen Rüttgers über den Wahltermin im Mai retten. Das ist die Perspektive der Koalition. Das sind weitere 100 verlorene Tage in diesem Land, in denen wir eigentlich Antworten und Perspektiven brauchten. Aber diese Regierung liefert sie nicht, weil sie Rüttgers vor einer Wahlniederlage schützen will. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen! ({4}) Ich komme ja aus Nordrhein-Westfalen, und ich habe bereits die Blaupause dafür, was Schwarz-Gelb bedeutet: Da wird links geblinkt; da wird der gnadenlose Sozialpolitiker gegeben, allerdings ohne jede Initiative im Bundesrat, ohne jede selbstgestaltete Initiative. Ganz im Gegenteil: Wenn es beispielsweise um Arbeitnehmerrechte geht, ist Rüttgers ein Paradebeispiel. Mit der Amtsübernahme von Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen wurden erst einmal das Landespersonalvertretungsgesetz und die Mitbestimmung geschleift. Das ist die Realität von Rüttgers und übrigens auch Ihre Realität. Sie werden im Mai dieses Jahres an die Sozialetats herangehen, weil Sie überhaupt keine andere Wahl haben, wenn Sie Ihre Versprechen tatsächlich umsetzen wollen. Das ist die Realität dieser Regierung. Herr Westerwelle, Sie haben sich ja gestern bei dem Thema Spenden sehr echauffiert. Es gab die eine oder andere Forderung aus unseren Reihen, dass Sie die Spende zurückgeben. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass Sie sich diese Spende aufgrund dessen, was Sie an Steuersenkungen für Reiche vereinbart haben, redlich verdient haben, meine Damen und Herren von der FDP. ({5}) Sie sind auch ziemlich skrupellos, was die entsprechende Benennung angeht. Herr Koppelin, Sie waren jahrelang dafür zuständig, hier Sparbücher vorzulegen. Dieses Sparbuch der FDP habe ich in diesem Jahr vermisst. Das ist ja auch kein Wunder. Sie hätten es nur dann vorlegen können, wenn Sie zumindest die Seiten herausgerissen hätten, auf denen es um das Entwicklungshilfeministerium und die Einsparung von Parlamentarischen Staatssekretären und Staatssekretären geht. Aber Sie wollten nicht mehr einsparen, weil Sie jetzt selbst an der Macht partizipieren können. Es ist auch kein Wunder, dass das ThomasDehler-Haus, die FDP-Zentrale, kaum noch besetzt ist; denn alle sind in der Regierung. Darum kommt der Generalsekretär, den Sie gesucht haben, jetzt aus NRW, nämlich der Kollege Lindner. Durch Herrn Lindner wird noch einmal sehr deutlich und offenbar, welches Staatsverständnis Sie haben. Wenn Herr Lindner vom Staat als einem „teuren Schwächling“ spricht - ausgerechnet Herr Lindner, der jetzt 31 Jahre alt ist und schon mit 21 Jahren im Parlament war, also bereits seit zehn Jahren von den Steuerzahlern bezahlt wird, stellt den Staat infrage! -, dann ist das schon bezeichnend für das, was dahintersteckt. ({6}) Wir haben ein grundsätzlich anderes Staatsverständnis, und das ist begründet. Ihre Klientel ist mitverantwortlich für die Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir jetzt zu bewältigen haben. Wir Sozialdemokraten sind froh, dass wir in den letzten Jahren einen starken, handlungsfähigen Staat hatten, der das Schlimmste verhindert hat. Ohne einen starken Staat wäre dies nicht möglich gewesen. Übrigens gilt - das ist bei Ihnen noch nicht angekommen; mit dieser Feststellung werde ich schließen -: ({7}) Nur die Reichen, also Ihre Klientel, können sich einen schwachen Staat leisten. Die allermeisten Menschen in diesem Lande brauchen einen handlungsfähigen Staat. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das alte Jahrzehnt endete mit einer internationalen Finanzund Wirtschaftskrise und in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Einbruch der Wirtschaft von 5 Prozent - ein einmaliger Vorgang in der Geschichte unseres Landes. Das neue Jahrzehnt beginnt hier im Parlament in der Tat mit der Debatte über einen Bundeshaushalt mit der höchsten Neuverschuldung mit über 85 Milliarden Euro - auch das natürlich ein Vorgang von großer Bedeutung. Ich sage Ihnen: Wer nicht sieht, dass das eine mit dem anderen direkt verknüpft ist, wer nicht sieht, dass eine Antwort auf minus 5 Prozent Wachstum, die eine geringere Neuverschuldung mit sich bringen würde, eine falsche Antwort im Geiste der 30er-Jahre wäre und dass wir aus der Geschichte gelernt haben, der braucht an dieser Debatte gar nicht weiter teilzunehmen. ({0}) - Ich rede hier zu allen, Frau Künast, natürlich auch zu Ihnen. ({1}) Ich sage Ihnen: Sosehr wir uns alle eine andere Situation wünschen würden, so sehr sind wir dazu verpflichtet, der Realität ins Auge zu sehen. ({2}) Die Welt hat 2008/2009 am Abgrund gestanden. Wir haben es geschafft - wenn ich „wir“ sage, dann meine ich auch die, die damals in der Großen Koalition Mitverantwortung getragen haben, und dann meine ich auch die FDP als damalige Opposition -, international und national in diesem Hause die richtigen Lehren daraus zu ziehen, das Richtige zu tun und den Absturz in den Abgrund zu verhindern. Das war richtig, das war wichtig, und das war ein Beitrag zur internationalen Stabilität. ({3}) Aber mit dem, was wir getan haben, ist die Krise noch nicht vorbei. So wie wir klug den Abschwung gedämpft haben, so geht es jetzt darum, klug aus dem Tal wieder herauszukommen. Ich sage Ihnen: Das wird sicherlich kontroverse Debatten hervorrufen. Aber es wird vor allen Dingen neues Denken erfordern. ({4}) Das ist nicht etwas - auch das will ich gleich ankündigen -, worüber wir nur im Januar des Jahres 2010 debattieren, sondern dieser Wirtschaftseinbruch wird uns über weite Teile dieser Legislaturperiode beschäftigen. Wenn wir es geschafft haben - so besagen es jedenfalls die Prognosen -, im Jahr 2013 wieder das Vorkrisenniveau zu erreichen, dann haben wir nach heutigem Stand gute Arbeit gemacht. Das ist die Dimension der Aufgabe, vor der wir stehen. ({5}) Wir haben uns vorgenommen, diese Krise nicht nur irgendwie durchzustehen, sondern wir wollen, dass Deutschland stärker aus dieser Krise herauskommt, als es in sie hineingegangen ist. Das ist der Anspruch der christlich-liberalen Koalition. ({6}) Dazu müssen wir uns anschauen, von welchen Entwicklungen weltweit die Dinge bestimmt sind. Ich möchte drei Entwicklungen nennen: Es gibt einen weltweiten Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, weit über unseren Kontinent hinaus. Es gibt die Sehnsucht von immer mehr Menschen auf der ganzen Welt - ich sage, das ist eine berechtigte Sehnsucht -, eigene Wege zu gehen, Teilhabe zu erreichen, Wohlstand zu erwerben. Wir befinden uns gleichzeitig in einem Informationszeitalter und haben völlig neue Kommunikationsmöglichkeiten, durch die Wettbewerb, Arbeitsteilung und Ideenaustausch massiv vorangetrieben werden. Es gibt eine zweite Entwicklung: Wir machen die Erfahrung von Abhängigkeiten und Knappheiten von Ressourcen, von denen wir früher dachten, dass sie uns unendlich zur Verfügung stehen. Da geht es um Energieträger, um Rohstoffe, um stabile Klimaverhältnisse. ({7}) Wir sehen, dass andere Ressourcen, die wir in früheren Zeiten für uns für reserviert hielten, zum Beispiel Information und Wissen, heute mit allen geteilt werden müssen. Das bedeutet, dass kein Land mehr alleine seinen Wohlstand erhalten kann, dass kein Land mehr alleine Sicherheit gewährleisten kann und dass wir in eine immer stärkere Abhängigkeit voneinander geraten. Die dritte Entwicklung ist eine Suche nach Zusammenhalt und Schutz. Es gibt die Hoffnung der Menschen, dass der eigene Lebensentwurf im schnellen Wandel nicht umgeworfen wird, ({8}) dass Gemeinschaften zusammenbleiben, die Sehnsucht nach Heimat, Vertrautheit und Sicherheit. Wenn wir die richtigen Antworten auf diese Krise finden wollen, wenn wir wirklich stärker aus dieser Krise herauskommen wollen, dann müssen wir diese Entwicklungen nicht nur verstehen, sondern sie auch als Chance für unser Land begreifen. Auf diesem Fundament machen wir unsere Politik. ({9}) Dabei setzt die christlich-liberale Koalition auf Freiheit in Verantwortung. Unser Land ist durch Offenheit und Freiheit in seiner 60-jährigen Geschichte erfolgreich geworden. Unser Land ist immer dann erfolgreich gewesen, wenn es Vertrauen in den Einzelnen gesetzt hat, in seine Fähigkeiten, seine Fertigkeiten und seinen Willen, etwas zur Gemeinschaft beizutragen. Unser Land wurde erfolgreich, weil es die Ordnung von Freiheit in Verantwortung in das Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft umgesetzt hat.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel ({0}) Das ist das Fundament des solidarischen Miteinanders in unserer Gesellschaft. Unsere Vorstellung von Freiheit und Verantwortung hat uns in Bündnisse mit gemeinsamen Wertefundamenten geführt, wie die Europäische Union und die NATO. Sie machen unser Land in einer vernetzten Welt auch in Zukunft erfolgreich. Heute stehen wir vor der Aufgabe, in schwierigen Zeiten und in neuen Zusammenhängen genau diese Stärken weiterzuentwickeln und dabei das zu bewahren, was uns stark gemacht hat, aber da zu erneuern, wo Erneuerung notwendig ist. Das ist die Aufgabe. ({1}) Ich möchte die Arbeit der christlich-liberalen Koalition an Beispielen deutlich machen, da, wo wir erneuern werden. ({2}) Die christlich-liberale Koalition wird die Wirtschaftskraft unseres Landes ({3}) erneuern ({4}) durch nachhaltiges Wachstum; genau darüber können wir streiten. Aber wir werden das tun, und ich glaube, wir werden es gut machen. ({5}) Meine Damen und Herren, das beginnt mit den Sofortmaßnahmen in der Krise. Viele von ihnen haben wir gemeinsam beschlossen. Aber wir haben in den ersten Tagen unserer gemeinsamen neuen Regierung etwas dazugesetzt: ({6}) Wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Ich sage Ihnen: Das ist eine wichtige Ergänzung dessen, was wir an konjunkturpolitischen Maßnahmen im vergangenen Jahr gemacht haben. ({7}) Wir haben erstens wichtige Korrekturen an der Unternehmensteuerreform vorgenommen, die nach der Meinung jedes Fachmanns oder jeder Fachfrau - das weiß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ganz genau - prozyklische Effekte, also verstärkende krisenhafte Effekte, hatte. Diese wurden jetzt durch unsere Maßnahme beseitigt. Deshalb muss man den Kommunen, wenn man ein wenig Redlichkeit hat, ({8}) sagen, dass durch diese Maßnahme keine Einnahmeausfälle stattfinden, sondern dass dadurch überhaupt die Grundlage dafür gelegt wird, dass in den Kommunen wieder Gewerbesteuereinnahmen fließen können. Das ist die Wahrheit. ({9}) Wir haben zweitens Korrekturen bei der Erbschaftsteuerreform vorgenommen. Wir sind uns, glaube ich, einig, dass wir die kleinen und mittleren Unternehmen, die Familienunternehmen, in unserem Lande als das Rückgrat unserer Wirtschaft bezeichnen können. ({10}) Wenn wir die gemeinsame Auffassung haben, dass der Übergang von einer Generation auf die andere bezüglich der Erbschaftsteuer so gestaltet werden sollte, dass man Betrieben nicht mit Misstrauen, dass sie bestimmt nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen wollen, sondern mit ein bisschen Vertrauen - das ist das Erfolgsrezept der sozialen Marktwirtschaft - begegnet, dann musste man die Änderungen in der Erbschaftsteuer so gestalten, wie wir es gemacht haben. Das haben wir getan. ({11}) Als dritten Punkt will ich die Entlastung von Familien nennen. Dass man im Steuerrecht aus steuersystematischen Gründen Kinder wie Erwachsene behandeln könnte, ich glaube, darüber sollte es keinen Streit geben. Dass jetzt aber die Maßnahmen zur Verbesserung der Kaufkraft, die wir gemeinsam eingeleitet haben, ({12}) die Erhöhung des Kindergeldes für Familien, ({13}) bei der Sozialdemokratie plötzlich mit dem Wechsel von der Regierungsverantwortung in die Opposition sozusagen zu einer nicht vernünftigen Sache mutiert, damit müssen Sie fertig werden und nicht wir. Wir haben etwas für Familien getan, und das war notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Sigmar Gabriel [SPD]: Das Betreuungsgeld wollten wir nie! - Jürgen Trittin [BÜND

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen, dass die ärmsten Kinder leer ausgehen!) Was ist passiert? Wir hatten die Steuerschätzung im Mai 2009, und wir hatten die Steuerschätzung im November 2009. Es ist dieser Bundesregierung gelungen, einen Haushaltsentwurf vorzulegen, durch den das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet werden konnte, ohne dass die Neuverschuldung höher ist als das, was wir in der Großen Koalition im Sommer miteinander verabredet haben. ({0}) Warum ist das möglich gewesen? Das ist möglich gewesen, weil genau das eingetreten ist, was wir wollten. Wir haben gehandelt. Wir haben Konjunkturpakete und Maßnahmen zum Kurzarbeitergeld verabschiedet und Steuerveränderungen im Mittelstandsbereich veranlasst. Wir haben weitere Kaufkraftstimulierungen angeregt. Genau daraus ist eine bessere Wirtschaftsentwicklung bis November entstanden, so wie wir das wollten. ({1}) Die hat uns Spielräume eröffnet, den nächsten Impuls zu setzen, um für die Steuerschätzung im Mai wieder eine bessere Entwicklung zu haben. Das ist unsere Philosophie. Wer diese Art, zu denken, nicht aufbringt, der muss wirklich in sich gehen. ({2}) Es ist notwendig, dass wir diesen Kurs fortsetzen, dass wir weiter auf Wachstum setzen und uns gleichzeitig mit der Haushaltskonsolidierung befassen. Meine Damen und Herren, natürlich spiegelt dieser Haushalt - ich habe es am Anfang gesagt - die Sondersituation wider. Wenn Sie sich einmal redlich die europäischen Daten anschauen, dann merken Sie, dass für Frankreich 2010 ein Defizit von minus 8,2 Prozent voraussagt wird - so tut es jedenfalls die EU -, Großbritannien 12,9 Prozent, Japan 8,9 Prozent und die USA 13 Prozent. Das, was wir hier zu bewältigen haben, ist mit minus 5 Prozent nicht einfach, aber es zeigt auch, dass wir gar nicht so schwach, sondern stark in diese Krise hineingegangen sind und damit dieser Krise besser trotzen können, wenn wir das Richtige tun. ({3}) Wenn es um die Frage geht, wer wie mit Geld umgehen kann, möchte ich daran erinnern, dass wir, bevor wir 2005 als Union in die Regierungsverantwortung kamen, drei Jahre hintereinander, also 2003, 2004 und 2005, die Situation hatten, dass die rot-grüne Bundesregierung die Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages nicht eingehalten hat. Bei minus 0,2 Prozent hatten Sie ein Defizit von über 4 Prozent. Das war die Wahrheit von Rot-Grün, und nur durch den Regierungswechsel ist das wieder in solide Bahnen gekommen. ({4}) Wir sichern mit unseren Maßnahmen die Grundlagen des Aufschwungs. Wir haben die Regelung für die Kurzarbeit verlängert. Wir lassen die automatischen Stabilisatoren weiter wirken - im Übrigen einer der wichtigsten Posten in diesem Haushalt. Wir sind von einem Darlehen für die Bundesagentur zu einem Zuschuss für die Bundesagentur übergegangen, was nichts anderes heißt - damit das für die Bürgerinnen und Bürger klar ist -, als dass wir die Beitragszahler nicht mit den Folgen der Krise alleine lassen, sondern die Gesamtheit der Steuerzahler die Folgen dieser Krise trägt. Das ist richtig, das ist solidarisch, und deshalb haben wir das gemacht. ({5}) Ein Zuschuss von 16 Milliarden Euro für die Bundesagentur für Arbeit und knapp 4 Milliarden Euro für den Gesundheitsbereich, das sind 20 Milliarden Euro zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und eine solidarische Maßnahme aller Steuerzahler zur Bekämpfung der Krise. ({6}) Wir führen die Kredit- und Bürgschaftsprogramme weiter, die Investitionen ermöglichen. Wir wissen, dass die Versorgung der Wirtschaft, vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen, mit Krediten ein wichtiger, vielleicht der existenzielle Punkt dieses Jahres sein wird, um den Aufschwung auch wirklich in die richtigen Bahnen zu lenken. Wir haben dazu die staatlichen Warenkreditversicherungen aufgestockt, das KfW-Sonderprogramm flexibilisiert und einen Kreditmediator eingesetzt. ({7}) Wir werden auch mit den Banken beständig im Gespräch sein, um die Entwicklung weiterzuverfolgen und gegebenenfalls weitere Maßnahmen durchzusetzen. Mit unserem Haushaltsentwurf und unserer Koalitionsvereinbarung haben wir vor allen Dingen deutlich gemacht, dass es notwendig ist, in die Zukunft zu investieren, weil wir stärker aus der Krise hervorgehen wollen. Deshalb gehen wir wichtige Schritte hin zu einer Bildungsrepublik. ({8}) Bei aller Notwendigkeit, Ausgaben zu begrenzen, werden wir in dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und Forschung investieren. ({9}) Wir sind davon überzeugt, dass das Ziel, 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Bildung

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auszugeben - 3 Prozent für Forschung und 7 Prozent für Bildung -, richtig ist und über die Zukunft unseres Landes entscheidet. ({0}) Deshalb ist der Bund bereit - so haben wir es im Übrigen mit allen Ministerpräsidenten verabredet -, einen größeren Anteil als den normalen Anteil zu zahlen, um die Lücke zwischen den heutigen Bildungsausgaben und den 7 Prozent zu füllen. Normalerweise beträgt der Anteil des Bundes an den Bildungsausgaben 10 Prozent. Wir haben gesagt: Wir sind bereit, bis zu 40 Prozent zu geben, um die Lücke zu füllen. Wir werden bis zum Sommer mit den Ländern darüber verhandeln, wie wir das sinnvoll und vernünftig tun können. ({1}) - Im Gegensatz zu Ihnen waren die Ministerpräsidenten aller Bundesländer mit diesem Weg einverstanden. ({2}) Ich habe von neuem Denken gesprochen. Das heißt auch: Die Art unseres Wachstums wird sich ändern. Es geht um nachhaltiges Wachstum. ({3}) Dabei sage ich ausdrücklich: Deutschland muss an seine Stärken anknüpfen. Das heißt, Deutschland wird seinen Wohlstand nur sichern können, wenn es weiter eine starke Exportnation bleibt. Alle Aussagen, wir brauchten jetzt nicht mehr so viel zu exportieren, halte ich für falsch. Vielmehr muss das, was unsere Stärken ausgemacht hat - Chemie, Automobilindustrie, Medizintechnik, Verkehrstechnik -, weiterentwickelt und nachhaltiger gemacht werden, aber darf niemals aufgegeben werden. Das ist unsere Philosophie. ({4}) Deshalb setzen wir vor allen Dingen in den Bereichen Forschung und Innovation in Kombination mit unseren klassischen Stärken auf die Informationsgesellschaft. Wir werden die Breitbandstrategie zielstrebig umsetzen. Dazu wird es noch vieler Anstrengungen bedürfen. Wir werden den Bereich E-Government deutlich stärken. Wir werden insbesondere darauf achten, dass die Freiheit durch die neuen Möglichkeiten des Internets nicht eingeschränkt wird. Arbeitnehmerdatenschutz, Stiftung Datenschutz und Datenschutz-Audit, all das sind Stichpunkte dazu. Ein großer Schwerpunkt unserer Politik wird das Thema Energie sein. Das ist ein Thema, bei dem es ohne Kontroversen sicher nicht geht. Diese Frage muss in einem Industriestandort aber notwendigerweise gelöst werden. Wir brauchen ein in sich schlüssiges berechenbares Energiekonzept für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte. Anders wird der Industriestandort Deutschland nicht erhalten werden können. ({5}) Die christlich-liberale Koalition setzt darauf, dass wir möglichst schnell das Zeitalter der regenerativen Energien erreichen. ({6}) Dazu ist es dann aber auch notwendig, dass die dazu benötigte Infrastruktur erzeugt wird. Dazu ist es notwendig, dass wir die benötigten Brücken bauen, weil wir nicht von heute auf morgen unmittelbar zu einer ausschließlichen Versorgung durch regenerative Energien kommen können, ohne dass sich die Preise so entwickeln, dass die Industrie aus Deutschland verschwindet. ({7}) Das ist unsere Überzeugung. Genau das werden wir tun. Für diese Brücken brauchen wir auch moderne Kohlekraftwerke. Jeder, der behauptet, dass das nicht sein muss, der sorgt dafür, dass die alten Kohlekraftwerke weiterbetrieben werden, dass unsere EVUs Kohlekraftwerke in Polen kaufen werden und dafür aus Deutschland verschwinden. ({8}) Das kann nicht die Antwort sein. Wir setzen auf neue Kohlekraftwerke, und wir setzen darauf, dass das dann auch ein Exportschlager in andere Teile der Welt werden kann. ({9}) Wir werden im Sinne dieses in sich geschlossenen Energiekonzepts darüber sprechen, ob wir verlängerte Laufzeiten - ich sage: ja, wir brauchen das - für Kernkraftwerke brauchen, ({10}) natürlich unter Berücksichtigung aller Sicherheitsstandards. Aber es hat keinen Sinn, dass wir hier nicht der Wahrheit ins Auge sehen. ({11}) Wir werden ein neues Forschungsprogramm für erneuerbare Energien entwickeln: Speichertechnologien, intelligente Netztechnik und Biokraftstoffe der zweiten Generation. ({12}) Wir wollen, dass Deutschland Leitmarkt für Elektromobilität wird. Die Bundesregierung wird dazu am 3. Mai dieses Jahres einen Gipfel durchführen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einen Gipfel! Das ist ja der Gipfel!

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel Sigmar Gabriel [SPD]: Über allen Gipfeln ist Ruh!) mit Vertretern der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und der Wissenschaft. Ich glaube, das ist richtig. Sie sollten mit uns gemeinsam ein Interesse daran haben, dass wir hier wieder führend sind, dass auch das Auto des 21. Jahrhunderts ein Auto ist, das in Deutschland gebaut wird, so wie es mit den Autos des 20. Jahrhunderts war. ({0}) Nachhaltiges Wachstum heißt natürlich auch Fortschritte im internationalen Klimaschutz. Ich glaube, wir sind uns einig, dass die Ergebnisse, die wir in Kopenhagen erreicht haben, enttäuschend waren. Deshalb sage ich: Europa wird seine Vorreiterrolle weiterführen. Ich sage auch: Deutschland hat sich bereits - das zeigt auch die Koalitionsvereinbarung - entschlossen, ({1}) dass wir bis 2020 unsere CO2-Emissionen um 40 Prozent reduzieren werden. Aber ich sage auch: Ich bin sehr dafür, dass die Europäische Union auf 30 Prozent geht. Das kann nur passieren, wenn andere europäische Mitgliedstaaten das 30-Prozent-Ziel genauso unterstützen, wie die Bundesrepublik Deutschland das tut. Was ich nicht zulassen werde - ich glaube, darüber sollten wir uns einig sein -, ist, dass wir von 30 auf 40 Prozent gehen, andere ihre Position nicht verändern und wir anschließend etwas versprechen sollen, was wir zum Schluss realistischerweise nicht halten können. Deshalb arbeiten wir daran, dass Europa sein Reduktionsangebot von 30 Prozent gegebenenfalls, wenn die Mitgliedstaaten mitmachen, dann auch ohne dass andere folgen, unterfüttern kann. Solange wir das nicht können, sage ich: 30 Prozent Reduktion für Europa ja, aber nur wenn andere Teile der Welt genauso ambitionierte Verpflichtungen eingehen. Alles andere hilft dem Klima auf der Welt nicht weiter. ({2}) Kopenhagen hat ein viel schwierigeres Thema aufgeworfen. Das werden Sie durch die Beschimpfung von Regierungen allein nicht lösen. Dieses Thema heißt: Ist es auf der Welt möglich, gibt es die Bereitschaft, dass andere Länder bindende Vereinbarungen eingehen, so wie wir das im Kioto-Protokoll getan haben? Wir, die Europäische Union und auch andere entwickelte Industrieländer - die Vereinigten Staaten haben es nicht gemacht -, sind bindende internationale Verpflichtungen im Rahmen der Klimarahmenkonvention eingegangen. Die eigentliche Enttäuschung in Kopenhagen war, dass die Schwellenländer gesagt haben, dass sie sich zum ersten Mal mit Verpflichtungen im Sinne der Verbesserung der Energieeffizienz beschäftigen, aber unter keinen Bedingungen zustimmen, dass die Verpflichtungen bindend im internationalen Sinne sind. Das hat das indische Parlament beschlossen. Das ist die starke Meinung von China. Man ist nicht einmal bereit, eine internationale Überwachung der nationalen Maßnahmen zuzulassen, die Vergleichbarkeit bedeuten würde, weil diese Länder sagen: Das ist ein Eingriff in unsere Souveränität. - Das wischt man nicht einfach weg, indem man sich gegenseitig bezichtigt, schuld zu sein, sondern darüber muss generell gesprochen werden. Das ist ein dickes Brett, das wir bohren müssen. Es weist uns auf den Kern globaler Zusammenarbeit hin. Ich bin überzeugt, wir sind überzeugt: Es geht nur mit international verbindlichen Verpflichtungen, aber dann für alle. Daran müssen wir arbeiten. ({3}) Das ist die Aufgabe dieses Jahres, bis hin zur nächsten Konferenz in Bonn und zur Konferenz in Mexiko am Ende des Jahres. Wir können und werden also unsere Wirtschaftskraft erneuern. Wir wollen ein Zweites tun. Die christlich-liberale Koalition will das Verhältnis von Bürger und Staat erneuern: ({4}) durch Stärkung der Eigenverantwortung, damit Sicherung der Handlungsfähigkeit des Staates und dadurch Erhaltung der Solidarität in der Gesellschaft. Das ist der Zusammenhang. Wer nicht auf die Eigenverantwortung setzt, wird nur noch Mangel verwalten. Ohne Eigenverantwortung werden wirkliche Solidarität und ein handlungsfähiger Staat nicht möglich sein. ({5}) Deshalb setzen wir in allen Lebensbereichen darauf, dass, wo immer das möglich ist, Entscheidungsfreiheit besteht. Das beginnt bei der Familienpolitik. Wahlfreiheit ist das Credo. Wir schreiben den Menschen nicht vor, wie sie leben sollen. ({6}) Deshalb wird der Bund weiter seiner Aufgabe nachkommen, den Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jahren fortzusetzen. ({7}) Ich sage, an die Kommunen gerichtet, allerdings auch: Es ist nicht nachvollziehbar, wenn geäußert wird, dass das vereinbarte Geld nicht ausreicht. Die Kommunen rechnen jetzt so, als würden sie den Rechtsanspruch ab dem ersten Lebensjahr für das erste und zweite Lebensjahr so auslegen, als wenn jedes Kind ganztägig in einer Betreuungseinrichtung untergebracht wäre. Das erscheint uns nicht realistisch. ({8}) Aber wir werden darüber im Gespräch bleiben. Wir wollen das. Jetzt ein Wort zum Betreuungsgeld. Ich sehe die Probleme, die damit verbunden sind.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel ({0}) Wir haben dieses Thema noch nicht abschließend behandelt. Wir wollen das Betreuungsgeld im Übrigen erst 2013 einführen. ({1}) Aber dass aus der Bezuschussung der Betreuung von Kleinkindern, die nicht zu Hause betreut werden, im Sinne der Wahlfreiheit vielleicht auch der Gedanke erwächst, Familien zu unterstützen, die sich ganz selbstbewusst für die Betreuung zu Hause entscheiden, ({2}) kann im Sinne der Wahlfreiheit nicht grundsätzlich falsch sein. ({3}) Deshalb werden wir einen Weg finden, der auf der einen Seite falsche Effekte vermeidet ({4}) und auf der anderen Seite die Wahlfreiheit stärkt. ({5}) Im Verhältnis von Bürger und Staat spielt das Thema Bürokratie eine zentrale Rolle. ({6}) Viele Menschen fühlen sich entmutigt. Deshalb werden wir die Arbeit des Normenkontrollrates nicht nur fortsetzen und nicht nur die Berichts- und Statistikpflichten um 25 Prozent reduzieren, ({7}) sondern wir werden auch in umfassenden Pilotprojekten mit den Ländern bei Elterngeld und Wohngeld Erfahrungen sammeln: Wie kann man Bürokratie, auch für die Bürger fassbar, reduzieren? Dadurch werden wir auch die Arbeit des Normenkontrollrates stärken. Das Thema „Bürger und Staat“ wird natürlich ganz wesentlich auch durch die Steuerpolitik bestimmt. ({8}) Ich finde, es ist eine sehr merkwürdige Entwicklung der letzten drei Monate, dass der Steuerzahler - ({9}) - Nein. Dazu muss ich wirklich sagen: Die Wahlprogramme waren transparent. ({10}) Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, die das schon seit zehn Jahren nicht mehr gemacht haben, halten wir uns an unsere Wahlprogramme. ({11}) Jeder wahlberechtigte Bürger in Deutschland konnte lesen, was die Union vorhatte. ({12}) - Ich glaube, der Vorsitzende der SPD kommt sonst nicht oft zu Wort. ({13}) Irgendwie hat man den Eindruck, er hat in der SPD nicht genug Möglichkeiten, zu reden. Zu Ihrer großen Freude konnten Sie im Wahlkampf sogar verfolgen, dass es leichte Differenzen zwischen CDU und CSU gab. Sie haben auch gesehen, dass sich das FDP-Programm von den Programmen der Unionsparteien unterschieden hat. Aber in allen Programmen war Steuersenkung ein Thema, und zwar nicht irgendeine Steuersenkung, sondern vor allen Dingen eine Steuerstrukturreform, verbunden mit einer einfacheren Gestaltung unseres Steuersystems ({14}) - nach 60 Jahren erkennbar kein so einfaches Unterfangen - und mit dem Willen, gerade die Ungerechtigkeiten bei kleinen und mittleren Einkommen abzubauen. ({15}) Ich kann, ehrlich gesagt, nur schwer verstehen, ({16})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel dass Parteien, die sich allen Bereichen der Bevölkerung verpflichtet fühlen, überhaupt nicht mehr darüber sprechen. ({0}) Alles, was wir hier vereinbaren - ob wir die erneuerbaren Energien fördern, ob wir das Rentensystem unterstützen, das Gesundheitssystem oder sonst etwas -, beruht auf Steuereinnahmen des Staates. Deshalb brauchen wir motivierte Bürgerinnen und Bürger, die wissen, warum sie Steuern zahlen, und die finden, dass es dabei gerecht zugeht. Davon bin ich zutiefst überzeugt. ({1}) Es liegt in der Natur der Sache, dass man darüber streitet. Wir sind jedenfalls davon überzeugt, dass es im Einkommensteuersystem Ungerechtigkeiten gibt, die beseitigt werden müssen, und dass Entlastungen möglich sind, notwendig sind und sogar Wachstum schaffen. Das ist unsere Überzeugung. ({2}) Wir werden zwischen November und Mai tun, was wir zwischen dem letzten Mai und dem November getan haben: Wir werden auf die Steuerschätzung warten. Jetzt sagen manche: Wir wissen doch, was herauskommt, wenn wir wissen, wie das Wachstum ist. - Das ist, wenn man nur auf das Wachstum schaut, im Prinzip richtig. Die Überraschung, die wir zwischen Mai und November erlebt haben, kam gerade daher, dass keiner in der Lage ist, bei einem Wachstum von minus 5 Prozent die Entwicklung des Arbeitsmarktes zu prognostizieren. 100 000 Arbeitslose mehr oder weniger bedeuten für den Haushalt eine Differenz von 2 Milliarden Euro. So können sich erhebliche Verschiebungen ergeben, die Veränderungen im Haushalt nach sich ziehen. Die Wachstumsprognosen sind völlig klar, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Wirkung der automatischen Stabilisatoren und vieles andere aber nicht. Deshalb warten wir die Steuerschätzung ab - sie findet bekanntermaßen noch vor der NRW-Wahl statt -, und dann werden wir den Gesetzentwurf für den Haushalt 2011 vorbereiten. Die Steuerstrukturreform bleibt weiter auf der Tagesordnung. Von der Entlastung im Umfang von 24 Milliarden Euro, die wir vereinbart haben, haben wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz bereits einen Teil umgesetzt. Warten wir die Steuerschätzung ab; dann wissen wir, was für Aufgaben noch vor uns liegen. Ein weiterer Punkt - das müssen wir zusammenbringen; das ist das Schwierige an unserer Arbeit - ist, dass das Verhältnis der Bürger zum Staat geprägt wird von der Frage, ob wir nachhaltige, solide Finanzen haben. Bei der Schuldenbremse war die Sozialdemokratie nun wirklich nicht der Treiber - ich würde mal sagen, die Treiber der Schuldenbremse sitzen eher hier bei uns -; auch wenn man sagen muss: Sie haben dankenswerterweise mitgemacht, meine Damen und Herren. ({3}) - Der Schuldenbremse. Wir haben - parteiübergreifend; sonst kann man in Deutschland die Verfassung nicht ändern - eine Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen. Jeder, der in diesem Hause sitzt, weiß, dass man nicht sehenden Auges gegen ganz spezifische Festlegungen des Grundgesetzes verstoßen kann. Das wissen wir alle; da brauchen Sie uns nicht zu verklagen. Die Schuldenbremse ist so etwas wie eine Leitplanke unserer gesamten Arbeit. Die Schuldenbremse beginnt 2011 zu wirken. ({4}) Die politische Kunst - zu dieser Art von Politik sind wahrscheinlich nur wir fähig, so wie wir jetzt regieren ({5}) besteht darin, Wachstum und solide Finanzen miteinander zu vereinbaren. Das ist unsere Aufgabe. Diese Aufgabe ist nicht einfach; aber wir werden sie lösen. Die internationale Krise hat gezeigt, dass der Staat Verpflichtungen hat. Wenn Freiheit und Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger erlebbar sein sollen, dann bedarf es Regeln. Regeln haben auf den internationalen Finanzmärkten gefehlt; da herrschte Freiheit ohne Verantwortung, das waren Exzesse. Deshalb geht es jetzt darum, die Regeln, soweit sie im G-20-Prozess vereinbart sind, in diesem Jahr umzusetzen. Einiges ist in Gang gekommen; Wolfgang Schäuble hat gestern darüber gesprochen. Es geht - das gilt insbesondere für die G-20-Treffen, die in Kanada und in Südkorea stattfinden werden - darum, Wege zu finden, zu verhindern, dass Banken so groß sind oder so verflochten sind, dass sie uns immer wieder sozusagen erpressen können. Es gibt verschiedene Modelle. Auch Deutschland wird mit einem Modell in die Debatte gehen. Wir müssen darauf achten - das ist die größte Herausforderung bei der Bewältigung der Krise -, dass wir eine international abgestimmte Exit-Strategie finden. Es nützt nichts, wenn Deutschland die Schuldenbremse hat, und es nützt immer noch nichts, wenn sich ganz Europa an den Stabilitäts- und Wachstumspakt hält, wenn zugleich in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Japan oder anderswo eine völlig andere Politik betrieben wird. Was hat uns die Krise denn gezeigt? Sie ist nicht vorrangig von Europa ausgegangen. Sie hat uns gezeigt: Wenn sich ein großer Spieler in dem globalen Wettbewerb nicht an Regeln hält, dann müssen alle für die Folgen aufkommen. Deshalb wird es eine der herausragenden Aufgaben sein, nicht nur mit der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission eine Exit-Strategie zu verein

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel baren und nicht nur das zu tun, was Deutschland einzigartig in seinem Grundgesetz verankert hat, sondern auch dafür zu sorgen und alles daranzusetzen, so schwierig es auch ist, dass andere dem folgen. Ich nenne einen dritten Punkt, dem sich die christlichliberale Koalition verpflichtet fühlt. ({0}) Wir müssen den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft erneuern: zwischen Jung und Alt, zwischen Kranken und Gesunden, ({1}) zwischen Ärmeren und Wohlhabenderen, zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen Ost und West. Auch geht es um den internationalen Zusammenhalt in unseren Bündnissen. ({2}) Nur durch diesen Zusammenhalt ist Solidarität in unserer Gesellschaft möglich. Dazu gehört natürlich die Frage, wer Hilfe leistet und wer der Hilfe bedarf. ({3}) Da ist die Diskussion über die Frage natürlich essenziell, wie wir das Arbeitslosengeld II, bekannter unter Hartz IV, gestalten. Ich sage ganz deutlich: Ich glaube, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen, was den Zwang, die Aufgabe oder die Notwendigkeit der Arbeitsaufnahme anbelangt, eindeutig ausreichend sind. ({4}) Wer eine zumutbare Arbeit nicht annimmt, hat heute Sanktionen zu befürchten. ({5}) - Heute rede ich hier, Herr Gabriel. Die Frage, ob die Umsetzung unserer rechtlichen Regelungen überall ausreichend erfolgt, muss man sich immer wieder anschauen. Da gibt es zwei Aufgaben: Die eine ist, möglichst viele Arbeitsangebote zur Verfügung zu stellen. Da wird immer wieder über Optionen diskutiert, zum Beispiel in vielen neuen Bundesländern über sogenannte Bürgerarbeit oder anderes. Diese Diskussion werden wir fortsetzen. Aber es gelingt uns heute noch nicht - das muss man ganz einfach sagen -, jedem, der Arbeit sucht, wirklich eine Arbeit anzubieten. Wir müssen dabei aber auch aufpassen, dass wir nicht in eine Situation geraten, in der wir den mittelständischen Unternehmen Arbeit wegnehmen, weil wir zu viel staatlich geförderte Arbeit anbieten. Auch diese Diskussion muss geführt werden; wir führen sie ja auch schon seit vielen Jahren. Die andere Aufgabe ist folgende: Die Anreize, Arbeit aufzunehmen, sind mit Sicherheit noch nicht optimal geregelt. Sie alle kennen die Meinung, dass man 100 Euro dazuverdienen könne. Viele, die Arbeitslosengeld II bekommen, sagen, mehr dürften sie ja nicht. Diese Frage der Hinzuverdienstmöglichkeiten muss so neu geregelt werden - dies werden wir in der ersten Hälfte dieses Jahres tun -, dass Anreize gesetzt werden, ohne Vollbeschäftigung zu schwächen, was wir auch nicht wollen. Das ist eine ziemlich schwierige Aufgabe. ({6}) Wir haben das Schonvermögen vergrößert; dies wird jetzt im Parlament debattiert werden. Ich glaube, das war eine richtige Entscheidung, zu der viele sehr lange nicht bereit waren. Wir müssen gerade auch für Alleinerziehende durch Kinderbetreuung - ({7}) - Okay, dann muss ich vier Jahre nicht richtig hingehört haben, wenn mich der tägliche Ruf aus der SPD nach der Erhöhung des Schonvermögens nicht erreicht hat. Dies halte ich allerdings für relativ unwahrscheinlich. Wir müssen darüber diskutieren, wenn es um Armut in unserem Lande geht, ob die Frage von gleichen Chancen immer eine Frage nur von Geld ist oder ob sie nicht auch eine viel kompliziertere Frage ist. Ich sage Ihnen ganz eindeutig: Wir werden uns nicht damit abfinden - ({8}) - Es geht nicht ohne Geld; Geld ist sogar sehr wichtig. Aber wer glaubt, er könne das Problem nur mit Geld lösen und es gebe sonst kein anderes Problem zu lösen, der arbeitet an der Aufgabe vorbei. So einfach ist das. Darüber brauchen wir uns auch gar nicht aufzuregen. ({9}) Ich sage ganz eindeutig: Wir finden uns mit Arbeitslosigkeit nicht ab. Wir wollen und glauben auch, dass es möglich ist, im nächsten Jahrzehnt Vollbeschäftigung zu erreichen. ({10}) Wir wollen jedem eine Chance geben, weil sich die freiheitliche Entfaltung des Menschen durch selbstverdientes Geld viel besser vollziehen kann. Das wollen wir erreichen. Wir wollen Solidarität in unserer Gesellschaft: im Rentensystem, im Gesundheitssystem und in der Pflege. Aber wer an dem demografischen Wandel, an den Veränderungen des Altersaufbaus unserer Gesellschaft einfach vorbeisieht, wer so tut, als müsse und könne man die Rente mit 67 Jahren rückgängig machen, wer so tut, als könne man die Lohnzusatzkosten einfach an die Arbeits

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel kosten gekoppelt lassen, wer so tut, als brauche man keine Kapitaldeckung in der Pflege, der lebt nicht im Sinne eines nachhaltigen Lebens, sondern der lügt sich in die Tasche. Das ist die Wahrheit. ({0}) Deshalb werden wir sowohl das Thema der Kapitaldeckung in der Pflege angehen als auch uns die Frage stellen, wie wir langfristig unser Gesundheitssystem weiterentwickeln. ({1}) Ich sage ganz deutlich: Diese christlich-liberale Koalition steht dafür, dass es keine Zweiklassenmedizin gibt, ({2}) dass jeder, der medizinische Leistungen braucht, sie auch bekommt, aber in einer Art und Weise, die die Beschäftigungsmöglichkeiten in unserem Lande nicht unterminiert. Dieser Aufgabe stellen wir uns. ({3}) Wir werden sie lösen, so wie wir als Koalition aus Union und FDP die großen Sozialsysteme dieses Landes auf den Weg gebracht haben. ({4}) Auch das ist die Wahrheit. In dieser Tradition bewegen wir uns. ({5}) Wir werden der Integration von Zugewanderten in unserem Lande weiter eine große Bedeutung zumessen. Wir haben als eine der ersten Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Anerkennung von Berufsabschlüssen ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger verbessert wird, ein Thema, das schnell angegangen werden muss. Wir werden im 20. Jahr der deutschen Einheit die Solidarität zwischen Ost und West weiterentwickeln. ({6}) Der Solidarpakt gilt - ich sage das ausdrücklich -, weil die strukturellen Probleme der neuen Bundesländer nach wie vor andere sind als in den alten Bundesländern. Wir werden natürlich auch den Zusammenhalt nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern insgesamt auch in unserer Außen- und Sicherheitspolitik deutlich machen. Ich werde nächste Woche in einer Regierungserklärung zu Afghanistan darlegen, wie wir uns die nächste Etappe des Afghanistan-Einsatzes vorstellen. Wir werden schwierige Verhandlungen mit dem Iran führen, bei denen es um Sanktionen gehen wird. Wir werden eine neue Strategie der NATO auszuarbeiten haben. Aber wir werden unseren Bündnisverpflichtungen gerecht werden. Die christlich-liberale Koalition will ein starkes Deutschland, ein lebenswertes Deutschland und bei der menschlichen Gestaltung der Globalisierung an vorderster Stelle mitarbeiten. Deshalb erneuern wir unsere Wirtschaftskraft, das Verhältnis von Bürger und Staat und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Vor zwei Jahrzehnten waren wir alle hier Zeugen eines unglaublichen Vorgangs, nämlich des Endes des Kalten Krieges, des Falls der Mauer und des Sieges der Freiheit auf unserem Kontinent. Aus Gegnern wurden Partner. Am 3. Oktober dieses Jahres werden wir 20 Jahre deutsche Einheit feiern. Man darf sagen: Deutschland und Europa haben ihre Chance in der damaligen historischen Situation genutzt. Vor zehn Jahren, im ersten Jahrzehnt unseres 21. Jahrhunderts, haben wir festgestellt, obwohl manche in den 90er-Jahren schon vom Ende der Geschichte gesprochen haben, dass neue Bedrohungen, neue Herausforderungen auf uns zukommen. Der 11. September 2001 war sicherlich das markanteste Beispiel für asymmetrische Bedrohung, Terrorismus und religiösen Extremismus. Jetzt stehen wir an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts. In diesem neuen Jahrzehnt, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, wird sich entscheiden, wie unsere Gesellschaft mit diesen Bedrohungen und mit diesen Gefahren umgeht. Ich finde, die Art und Weise, wie wir bisher durch die schwerste Wirtschaftskrise seit 60 Jahren gekommen sind, macht uns Mut, dass wir das schaffen können: ({7}) durch neues Denken, durch interessante Vorschläge und durch harte Debatten. Das befruchtet unsere Diskussionskultur, aber es müssen ehrliche und vernünftige Debatten sein. Wenn wir das in Angriff nehmen, dann darf ich Ihnen jedenfalls heute Morgen mitteilen: Die christlich-liberale Koalition stellt sich diesen Aufgaben mit Mut und Zuversicht, ({8}) und wir glauben, wir können das schaffen. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe festgestellt, dass Sie sich nach dem völligen Fehlstart der Bundesregierung wirklich lange Beifall klatschen mussten, um sich aufzumuntern. Aber das ändert nichts daran.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel Fangen wir doch mit Ihrer Militäraußenpolitik an, also mit Afghanistan. Was mich in den letzten Wochen entsetzt hat, ist der Umgang mit der Vorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Frau Käßmann. ({0}) Ich sage Ihnen auch, warum. Herr Klose hat gesagt, wenn man die Truppen der NATO aus Afghanistan abzöge, dann hätten neun Wochen später die Taliban wieder die Macht. Wenn das stimmt, lieber Herr Gabriel, dann frage ich Sie, was Sie eigentlich neun Jahre lang gemacht haben, wenn sich nichts geändert hat und nach neun Wochen wieder die alten Kräfte die Macht hätten. Wozu wurde dann neun Jahre dieser Krieg geführt? Das ist doch skandalös. ({1}) Ein weiterer Punkt ist, dass Ralf Fücks von den Grünen, Herr Robbe von der SPD und auch Unionsabgeordnete auf eine Art und Weise über Frau Käßmann hergefallen sind, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte, und zwar aus einem Grunde: Wenn sich nicht einmal mehr eine führende Kraft einer christlichen Kirche für den Frieden engagieren darf und Sie ihr vorwerfen, dass sie nicht für Krieg ist, dann ist das ein einzigartiger Skandal. ({2}) Ich verlange von einem christlichen Menschen, dass er sich besonders für Frieden engagiert. Im Übrigen kennen wir inzwischen den NATOBericht vollständig. Herr zu Guttenberg, wenn Sie ihn gelesen haben - den wollen Sie ja gelesen haben -, dann ist mir völlig schleierhaft, wie Sie den Kunduz-Einsatz jemals als angemessen bezeichnen konnten. Aus dem Bericht geht ganz klar hervor, dass er völlig unangemessen war, und zwar sowohl moralisch als auch völkerrechtlich. ({3}) Der Präsident von Afghanistan, Karzai, will eine politische Versöhnung selbst mit bestimmten Taliban. Er will einen politischen Prozess. Ohne einen politischen Prozess werden die Probleme in Afghanistan auch nicht zu lösen sein. Ihre ewige Debatte darüber, die Zahl der Soldaten aufzustocken, hilft Afghanistan nicht. Wir brauchen endlich zivile Hilfe, und deshalb muss die Armee - das gilt für unsere wie auch für die anderen Armeen - aus Afghanistan abziehen. ({4}) Eines hat die Linke erreicht, nämlich dass jetzt alle über den Abzug debattieren. Das war noch in der letzten Legislaturperiode anders. Wenn Sie alle über einen Abzug debattieren, dann muss man allerdings genau hinhören. Herr Bundesaußenminister Westerwelle, ich höre Ihnen, wie Sie wissen, genau zu. Sie haben gesagt, dass in dieser Legislaturperiode „eine Abzugsperspektive in Sicht kommen“ müsse. Darf ich das für die Bevölkerung übersetzen? Das heißt, Sie wollen bis 2013 wissen, ob und wann der Abzug beginnt, also sagen wir mal 2020 oder 2025. Das ist dann eine Perspektive. Nein, Herr Westerwelle, so kommen wir nicht weiter. Ziehen Sie die Bundeswehr ab, und zwar noch in diesem Jahr 2010! Das wäre ein konkreter Schritt. ({5}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in einer der schwersten Krisen seit 1931/32 leben. Die Exporte sind eingebrochen. Der Rückgang der Wirtschaftsleistung in Höhe von 5 Prozent ist gigantisch. Das hatten wir noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Nun analysieren wir einmal, was mit der Beschäftigung in den Jahren zuvor und jetzt passiert ist. Es handelt sich leider um ein Gemeinschaftswerk von SPD, Grünen und Union sowie nun langsam auch von der FDP. Warum? Was ist passiert? Es wird immer über Arbeitslose gesprochen und nicht über die Realitäten. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten hat von 1999 bis 2008 um 1,4 Millionen abgenommen. Es sind also nicht etwa mehr geworden, sondern es sind 1,4 Millionen weniger geworden. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat in der gleichen Zeit um 1,3 Millionen zugenommen. Sie liegt nun bei 5 Millionen. Die Zahl der Minijobs hat in der gleichen Zeit um 2,5 Millionen zugenommen. Sie liegt jetzt bei 7,1 Millionen. Die Zahl der Mehrfachbeschäftigungen hat sich verdoppelt. Die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse ist um 50 Prozent gestiegen. Ein Viertel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor. Das ist prozentual der größte Anteil im Vergleich zu allen anderen Industrieländern. Wir haben selbst die USA diesbezüglich überholt. Ich sage Ihnen: Das Ganze ist ein Skandal. Es löst nicht die Probleme, sondern verschärft sie. ({6}) Die OECD, keine linke Organisation, hat jetzt festgestellt, dass die Spaltung zwischen Vollbeschäftigten und prekär Beschäftigten nirgendwo so tief ist wie hier in Deutschland. Was wir dringend brauchen - das verweigert Ihre Koalition -, ist ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn. ({7}) Denn die EU-Richtlinien hören auf zu wirken. Angesichts der vorhandenen Strukturen benötigen wir Mindestgarantien im sozialen Bereich. Ich verstehe die FDP nicht. Sie können doch selbst den Hoteliers mal erklären, dass wir Mindestlöhne in Deutschland brauchen. Warum geben Sie sich nicht einen Ruck und machen das, was 21 andere EU-Länder längst beschlossen haben? Nur in Deutschland gibt es keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Das ist ein Skandal. ({8}) Nun komme ich zur Leiharbeit, eingeführt von SPD und Grünen und nun von Ihnen ausgebaut. Sie wollen sie nicht abschaffen; das haben Sie gesagt, Frau Bundeskanzlerin Merkel. Darf ich Sie daran erinnern, was eigentlich bei Schlecker passiert ist? - Schlecker hat seine Leute entlassen und in eine Zeitarbeitsfirma gesteckt. Dort verdienen die Menschen viel weniger, obwohl sie die gleiche Arbeit leisten. Soll das die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland werden, oder ist das ein Skandal? Wenn das ein Skandal ist: Warum stellen Sie sich dann nicht hierhin und sagen Schlecker, dass es ein Skandal ist und dass wir das nicht dulden können? ({9}) Der SPD-Abgeordnete Brandner hat damals gesagt, man wolle die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausführen. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Steinmeier: Die Leiharbeit ist voll in der Schmuddelecke drin. Dafür haben Sie mit gesorgt. ({10}) Jetzt gibt es aber eine Lösung. Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie die Leiharbeit nicht abschaffen wollen, können wir uns durchaus verständigen. Machen wir es wie in Frankreich. Das ist kein sozialistisches Beispiel. Das müsste doch erträglich sein. Was macht man in Frankreich? In Frankreich sagt man einer kleinen Firma, deren Elektromeister erkrankt ist: Gut, ihr könnt euch einen Elektromeister ausleihen; aber dem müsst ihr dasselbe plus 10 Prozent zahlen. Es ist für euch teurer. - Weil es teurer ist, bekommt es den Charakter einer absoluten Ausnahme. Nur bei uns sparen die Unternehmen, wenn sie Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter beschäftigen. Dadurch kommt Missbrauch zustande und werden die Belegschaften so lange unter Druck gesetzt, bis sie einverstanden sind, die Löhne zu reduzieren. Genau das geht nicht. Dagegen werden wir strikt kämpfen, und zwar überall, auch im Landtagswahlkampf von NordrheinWestfalen, um das hier klar und deutlich zu sagen. ({11}) Rot-Rot in Berlin hat übrigens etwas sehr Positives erreicht; darüber wird nicht gesprochen. Rot-Rot hat die sogenannten Christlichen Gewerkschaften verklagt, die sittenwidrige Tarifverträge gerade mit Zeitarbeitsfirmen abgeschlossen haben. Nun hat man erreicht, dass die Gerichte gesagt haben: Das geht nicht; das ist unzulässig. Es steht allerdings noch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus. Wenn das Bundesarbeitsgericht das aber bestätigt - das hoffe ich sehr -, dann stehen Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, in der Verantwortung, das bundesweit zu überprüfen. Wenn man das Ganze bundesweit überprüfte und alle sittenwidrigen Verträge abschaffte, dann hätten nicht nur die Belegschaften etwas davon, weil sie mehr verdienten, sondern dann nähmen unsere Sozialkassen 500 Millionen Euro mehr ein, die ihnen zuvor durch die völlig sittenwidrigen Verträge, die dort abgeschlossen wurden, entzogen worden sind. ({12}) In meiner Bürgerinnen- und Bürgersprechstunde war ein Mann - es ist für Sie vielleicht interessant, sich das anzuhören, Frau Merkel und Herr Westerwelle -, der Hartz-IV-Empfänger ist. Bei ihm hat man jetzt eine Individualmaßnahme beschlossen, die noch für 200 andere Menschen gilt. Zu dieser Individualmaßnahme gehört, dass er fünf Monate unentgeltliche Praktikumsarbeit leisten muss; da ist nichts mit Zuverdienst. Wissen Sie, was Sie da organisieren? - Sie organisieren damit, dass die Unternehmer Arbeitskräfte kostenlos bekommen. Das baut die Vollzeitbeschäftigung ab. Sie schaffen mit solchen Maßnahmen keine neuen Arbeitsplätze, sondern schaffen sie geradezu ab. Hören wir doch endlich damit auf! ({13}) Die FDP schimpft immer gegen zu viel Staat und zu viele Subventionen. Ich wundere mich, wieso Sie bei der Aufstockung nie schimpfen. Das ist doch die höchste Form fehlgeleiteter Subventionen. Aufstockung bedeutet nichts anderes, als dass Sie dem Unternehmer sagen: Zahl so wenig Lohn, wie du willst, die Differenz übernimmt der Staat. - Auch das finden Sie gut, Frau Bundeskanzlerin Merkel. Ich finde, das ist ein Skandal. Wenn jemand Vollzeitarbeit leistet, dann hat er Anspruch auf einen Lohn, mit dem er in Würde leben kann, nicht einen Anspruch darauf, zum Sozialamt geschickt zu werden. ({14}) Frau von der Leyen ist jetzt verpflichtet, die Rente ab 67 zu überprüfen. Sie hat schon gesagt, sie wird sie zwar überprüfen, aber es wird dabei bleiben. Frau von der Leyen, wenn Sie schon mit dem Ziel überprüfen, dass alles dabei bleibt, dann können Sie es auch gleich bleiben lassen. ({15}) Es wird immer gesagt, die Älteren müssten länger arbeiten. Wissen Sie aber, wie viele der 63- bis 64-Jährigen heute beschäftigt sind? - 7,4 Prozent! Über 90 Prozent sind ohne Beschäftigung. Und Sie sagen diesen über 90 Prozent, sie sollten gefälligst zwei Jahre länger arbeiten. Das ist in einer leicht altersrassistischen Gesellschaft geradezu ein Hohn! ({16}) Wir haben gerade eine Kindergelderhöhung erlebt. Herr Schäuble hat sich sehr aufgeregt, als ich gesagt habe, dass die Hartz-IV-empfangenden Eltern für ihre Kinder nicht einen Cent mehr bekommen. Er hat gesagt, sie bekämen einen anderen Kinderzuschlag. Man darf aber nicht vergessen, dass dieser gar nicht erhöht worden ist. Wenn Sie das Kindergeld für alle erhöhen, warum erhöhen Sie dann nicht wenigstens auch den Kinderzuschlag für Hartz-IV-Empfänger? Dazu habe ich keine Erklärung gehört. Das Ganze liegt jetzt beim Bundesverfassungsgericht. Ich hoffe und glaube, dass das Bundesverfassungsgericht Ihnen bescheinigen wird, dass die Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern zu niedrig und daher verfassungswidrig sind. Sie sprechen von Chancengleichheit für Kinder, sorgen aber dafür, dass so viele Kinder in Armut aufwachsen, dass von Chancengleichheit nicht einmal im Ansatz die Rede sein kann. ({17}) Im Übrigen brauchen wir endlich die Rentenangleichung zwischen Ost und West; dazu werde ich ein anderes Mal etwas sagen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben erklärt, dass Sie keine Zweiklassenmedizin wollen. Ich habe aber den Eindruck, Sie wollen eine Dreiklassenmedizin. Was organisieren Sie eigentlich? - Sie wollen eine Kopfpauschale. Ich bitte Sie! Sie wollen, dass die Lidl-Verkäuferinnen und Herr Ackermann den gleichen Betrag in die Versicherung einzahlen. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass eine Lidl-Verkäuferin etwas weniger verdient als Herr Ackermann und dass man das deshalb anders organisieren muss? ({18}) Außerdem haben Sie über Bildung gesprochen. Sie haben Recht, bei Bildung geht es nicht nur um Geld. Aber uns fehlen jährlich 40 Milliarden Euro. Ihr Hinweis, die Kommunen sollten darauf hoffen, dass Sie ihnen jetzt das Geld wegnehmen, damit später etwas zurückkommt, nutzt den Schülerinnen und Schülern absolut gar nichts. Wenn Sie es mit der Chancengleichheit, von der Sie geredet haben, ernst meinen, muss endlich die soziale Ausgrenzung bei der Bildung aufhören. Wer die Kinder, wie zum Beispiel in Bayern, nach der vierten Klasse trennt, der betreibt nicht anderes als soziale Ausgrenzung. Wir kämpfen für Gemeinschaftsschulen, damit alle Kinder in Deutschland eine Chance auf eine gute Bildung haben. ({19}) - Ich weiß, dass Sie das nicht wollen. Sie wollen immer die Eliteförderung. Das Professorenkind soll ganz schnell von dem Hartz-IV-Empfänger-Kind getrennt werden. Wir wollen das nicht. Wir wollen, dass auch das Hartz-IV-Empfänger-Kind eine Chance bekommt. ({20}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, dass Sie alles Notwendige gegen die Krise getan haben. Aber auch Selbstüberschätzung muss doch Grenzen haben. ({21}) Nicht eine einzige Regulierungsmaßnahme für die Finanzmärkte ist eingeführt worden. Der größte Skandal in Ihrer Rede war, dass Sie gesagt haben, die Kosten der Krise müssten von allen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern bezahlt werden, und dass Sie das gerecht finden. Die Krise wurde aber von den Managern der Banken und den verantwortlichen Politikern angerichtet. Und jetzt sagen Sie der Lidl-Verkäuferin, sie solle dafür mit ihren Steuern bezahlen. Das finde ich grob ungerecht, und daher schlagen wir andere Lösungen vor. ({22}) Aber zurück zum Spendenthema von gestern. Herr Westerwelle, 1,1 Millionen Euro von Baron von Finck von Mövenpick im Zusammenhang mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz bei Hotels - das werden Sie nicht los. Zudem gab es 820 000 Euro für die CSU. ({23}) Nun sagen Sie zu Recht: Auch andere Parteien kriegen Spenden. - Die Allianz ist ein tolles Beispiel. Die Riester-Rente wurde eingeführt. Seitdem bekommen CDU, CSU, FDP, SPD und Grüne jährlich je 60 000 Euro von der Allianz. Ich habe mich sehr über das geärgert, was Herr Schäuble gestern gesagt hat. Das will ich begründen. Er hat hier am Pult gesagt, dass er es als einen Skandal empfindet, dass wir das öffentlich machen, weil wir damit die parlamentarische Demokratie gefährden. Das war seine Aussage. Ich sage Ihnen: Das ist eine Unverschämtheit. Die Spenden und die Annahme der Spenden gefährden die parlamentarische Demokratie, nicht die Tatsache, dass man etwas dagegen tut. ({24}) Die Politik gerät doch immer stärker in den Ruf, korrupt zu sein, käuflich zu sein. Wenn wir das nicht wollen, dann lassen Sie uns doch gemeinsam eine Verständigung darüber herbeiführen, dass Spenden von größeren Unternehmen, von Versicherungen, von Banken und von Wirtschaftsverbänden an die Parteien verboten sind. Lieber würde ich die staatlichen Mittel erhöhen, ({25}) als von Spenden abhängig zu werden, wie Sie es inzwischen sind, und dann die Politik derjenigen zu betreiben, die spenden. ({26}) - Herr van Essen, wie soll das denn enden? Wollen wir Verträge schließen? Dann schließen wir Verträge mit bestimmten Unternehmen und bringen anschließend entsprechende Anträge ein, und Sie machen dasselbe mit anderen Unternehmen. Wo leben wir denn hier? Wir sind die Repräsentanten des Volkes und nicht die irgendwelcher Lobbyisten. Das muss deutlich werden. ({27}) Herr Bundesminister Rösler, auch Sie pflegen dies, indem Sie einen Lobbyisten der privaten Krankenversicherungen einstellen, der Ihnen die Gesetze entwerfen soll. Auch das kennen wir schon seit längerer Zeit. Was soll denn eigentlich dabei herauskommen? Ich kenne Gesetzentwürfe, die britische Anwaltskanzleien geschrieben haben. Sie wissen noch, das war in der letzten Legislaturperiode. Wo soll denn das Ganze enden? Wozu bezahlen wir eigentlich die Beamtinnen und Beamten, wenn sie nicht einmal mehr einen Gesetzentwurf schreiben dürfen? Ich sage Ihnen: So geht das nicht. Wenn wir die Demokratie diesbezüglich stärken wollen, müssen wir hier andere Regelungen treffen. Es geht nicht darum, dass der Einzelne annimmt oder nicht annimmt. Wir müssen das unterbinden. Anders werden wir nicht glaubwürdig. ({28}) Nun haben Sie gesagt, die Steuersenkungen seien so wichtig und würden so viel bringen. Sie treiben die Kommunen in die Pleite, das stimmt. Sie schaden insgesamt der Binnenwirtschaft, weil Ihre Vorstellungen, bestimmte Steuern zu senken, dazu führen, dass Sie genau diejenigen schwächen, auf die wir dringend angewiesen sind, wenn wir zum Beispiel mehr Vollbeschäftigung organisieren wollen. Lassen Sie mich zu einem Beispiel kommen, dem Stufentarif. Das ist eine Lieblingsidee der FDP. 10 Prozent, 25 Prozent und 35 Prozent Steuern je nach Höhe des Einkommens, das ist Ihre Vorstellung. Ich stelle fest: Für die unteren Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bedeutete das eine Einsparung von 1 Prozent, für die Topverdiener von 16,8 Prozent. Finden Sie das nicht ein bisschen ungerecht? Darf ich mal daran erinnern, dass der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer unter dem Christdemokraten Kohl bei 53 Prozent lag, dass er vom Sozialdemokraten Schröder auf 42 Prozent gesenkt und von der Großen Koalition für die Spitzeneinkommen wieder auf 45 Prozent erhöht wurde? Und jetzt wollen Sie auf 35 Prozent runter? Sie können den Besserverdienenden gleich sagen, sie sollten überhaupt keine Steuern bezahlen. Wie wollen Sie denn auf dieser Basis jemals Steuergerechtigkeit herstellen? Das ist doch überhaupt nicht mehr nachzuempfinden. ({29}) Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben von dem größten Defizit in Höhe von 86 Milliarden Euro gesprochen. Das verstößt natürlich gegen die Maastricht-Kriterien. Auch mit der künftigen Schuldenbremse, die Sie fälschlicherweise beschlossen haben, hat das nichts zu tun. Nun kommt eine Sache, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen können. Sie sagen, was Sie vorhaben, könnten Sie leider erst nach der Steuerschätzung im Mai 2010 erklären. Für wie doof halten Sie denn die Leute? Die merken doch alle, dass Sie ihnen erst nach der NRW-Wahl sagen werden, was auf sie zukommt. Das ist ein Wahlbetrug mit Ansage. Das ist überhaupt nicht hinnehmbar. ({30}) Alle Kernzahlen sind Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, doch bekannt. Sie müssen doch keine Steuerschätzung abwarten, die im Übrigen sowieso noch nie gestimmt hat. Sie können sich darauf gar nicht verlassen. Sie haben doch jetzt alle Kernzahlen, um sagen zu können, was Sie eigentlich vorhaben. Immerhin, Herr Schäuble hat es angedeutet. Er sprach davon, dass kein Politikbereich ausgenommen sei, dass es keine Besitzstandswahrung gebe, dass Einschnitte in Leistungsgesetze zu erwarten seien. Welche denn? Warum sagen Sie das den Leuten nicht? Ich empfinde das als höchst unehrlich. Seien Sie so offen und sagen Sie jetzt, was Sie vorhaben, damit wir uns im Rahmen der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen damit auseinandersetzen können. Kommen Sie nicht mit dem Trick, zu sagen: Das erklären wir eine Woche nach der Wahl. - Das ist nicht hinnehmbar. Das ist indiskutabel. Ich möchte wissen: Was haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was haben Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger, was haben Rentnerinnen und Rentner zu erwarten von den Plänen, die Sie schmieden, um die Neuverschuldung, die Sie mit Ihrem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz gerade vergrößert haben, abzubauen? Die anderen werden es bezahlen müssen. ({31}) Stichwort „Steuergerechtigkeit“: Wir können gerne mal über Steuergerechtigkeit diskutieren. Wir sind zum Beispiel dafür, dass diejenigen, die bis zu 6 000 Euro im Monat verdienen, in Zukunft weniger Steuern zahlen als heute. Diejenigen, die mehr verdienen, sollen aber endlich mehr zahlen. Auch das gehört nämlich zur Steuergerechtigkeit. ({32}) Wir haben Ihnen gesagt: Wir wollen eine Börsenumsatzsteuer, auch zur Eindämmung der Spekulationen. Wir haben Ihnen gesagt: Wir wollen endlich eine Vermögensteuer als Millionärsabgabe. Was ist denn daran so schlimm, dass jemand, der mehr als1 Million Euro Vermögen hat, darauf eine Steuer zahlt? Warum verweigern Sie sich denn? Mein Gott, es gibt sogar eine Gruppe von Millionären, die fordern, endlich mal Steuern bezahlen zu können. Richten Sie sich nach denen und nicht nach den anderen! ({33}) Wir haben gesagt: Wir wollen eine höhere Erbschaftsteuer bei großen Erbschaften und natürlich auch eine gerechte Körperschaftsteuer. Wie ich schon gesagt habe, ist trotz der Finanzkrise so gut wie nichts passiert. Der amerikanische Präsident hat eine Idee, die ich Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, einmal erläutern muss. Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal mit ihm telefoniert haben. Ich habe von seiner Idee gelesen. Sie scheinen sich damit zu wenig zu beschäftigen. ({34}) Was hat Obama gemacht? Obama hat gesagt, er wolle von den Banken etwa 120 Milliarden Dollar kassieren. Er wolle jeden Cent zurück, den die Banken dem amerikanischen Volk direkt oder indirekt schuldeten. „Direkt oder indirekt“, das ist sehr spannend. Eine solche Abgabe, nämlich die „Finanzkrisenverantwortungsgebühr“, fordern wir, und zwar deshalb, weil die Banken inzwischen wieder riesige Bonuszahlungen leisten; dagegen haben Sie nichts unternommen. Die Deutsche Bank etwa hat darüber hinaus einen Gewinn von 10 Milliarden Euro angekündigt. Das ist doch der Gipfel! Wir zahlen hier täglich riesige Summen, die Banken erwirtschaften riesige Gewinne, leisten Bonuszahlungen, und Sie zie1264 hen die Banken mit keiner einzigen Steuer zur Bezahlung des Ganzen heran. ({35}) Um es klar zu sagen: Bei den direkten und indirekten Zahlungen geht es, lieber Herr Kauder, um die Aufwendungen der Steuerzahler zur Bankenrettung. Es geht um den Ausgleich für Steuermindereinnahmen; durch Abschreibungen ihrer Verluste haben die Banken nämlich deutlich weniger Steuern gezahlt. Es geht darum, dass wir für die Rettung der HRE 12,8 Milliarden Euro an Forderungen gesichert haben. Wenn wir diese Forderungen nicht mit staatlichen Mitteln gesichert hätten, dann wären sie abgeschrieben worden. Damit wären wieder Steuerverluste verbunden gewesen. Es geht also auch - ich muss das ganz deutlich sagen - um indirekte Verluste. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika den Mumm hat, seine Banken zur Kasse zu bitten, dann erklären Sie mir, warum Ihnen hier in Deutschland dieser Mumm fehlt. ({36}) Wir fordern doch nur genau das, was dort geschieht. Im Übrigen planen auch Frankreich und Großbritannien die Einführung einer solchen Abgabe; Sie nicht, Frau Merkel. Ich bitte, dass Sie den Bürgerinnen und Bürgern erklären, warum Sie immer nur die Banken schonen, immer nur die Hoteliers schonen, immer nur bestimmte Lobbygruppen schonen, während die anderen - bis hin zu den Verkäuferinnen und Verkäufern, den Rentnerinnen und Rentnern - das alles bezahlen müssen. Ich finde das unerträglich. Eines werden Sie verstehen, Frau Bundeskanzlerin - wir haben hin und her diskutiert; es bleibt dabei -: Wir können Ihrem Etat leider nicht zustimmen. ({37})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen den Wohlstand erhalten, Perspektiven eröffnen und Zukunftsfähigkeit schaffen. Dabei setzen wir nicht zuerst auf den Staat, sondern vor allen Dingen auf die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Deshalb wollen wir die Rahmenbedingungen schaffen, durch die es ermöglicht wird, dass die Potenziale ausgeschöpft werden, die in dieser Gesellschaft stecken. Wir wollen den Ideenreichtum und die Kreativität der Menschen anregen. Wir wollen die Leistungsbereitschaft fördern. Jeder in diesem Land soll im Rahmen seiner Möglichkeiten Verantwortung übernehmen dürfen und übernehmen können. ({0}) Dafür haben wir auch einen klaren Wählerauftrag erhalten. Die Menschen wollen, dass sich etwas ändert. Sie wollen vor allen Dingen ein neues Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. ({1}) Dabei muss man insbesondere eines zur Kenntnis nehmen, Herr Trittin: Die Bürgerinnen und Bürger wissen sehr genau: Nicht der Staat finanziert seine Bürger, ({2}) sondern die Bürgerinnen und Bürger finanzieren mit den Erträgen aus ihrer harten Arbeit den Staat. So verhält es sich. Deshalb wollen wir, dass in diesem Land endlich wieder fair mit den Bürgern umgegangen wird. ({3}) Aus genau diesem Grunde haben wir das Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht. Wir haben damit einen Impuls für Wachstum und Beschäftigung gesetzt, und wir haben eine Entlastung vorgesehen, und zwar eine Entlastung vor allen Dingen für die unteren Einkommensgruppen, insbesondere für die Familien mit niedrigem Einkommen. Das zeigt sich allein daran, dass wir für die Erhöhung des Kinderfreibetrages 400 Millionen Euro aufwenden, für das Kindergeld jedoch 4,2 Milliarden Euro. ({4}) Das sind die Realitäten. Das zeigt schon, dass diejenigen profitieren, die wenig Geld haben, nämlich Familien mit Kindern in unteren Einkommensschichten. ({5}) Nun, Herr Gysi, unterhalten wir uns einmal über die Wirklichkeit. ({6}) Es interessiert Sie wahrscheinlich nicht, aber ich werde es Ihnen trotzdem vortragen. Schauen wir uns einmal beispielhaft an, meine Damen und Herren, was das Wachstumsbeschleunigungsgesetz für eine alleinstehende Krankenpflegerin mit einem Gehalt von ungefähr 2 300 Euro brutto im Monat bedeutet. ({7}) Sie hat 2010 deutlich weniger Steuern zu zahlen und dadurch 360 Euro mehr. Oder nehmen Sie den Elektrogesellen, ({8}) mehrere Berufsjahre, verheiratet, zwei Kinder, ungefähr 25 000 Euro Einkommen im Jahr - das sind realistische Zahlen -: Dieser musste bisher Steuern bezahlen, er zahlt jetzt keine Steuern mehr. ({9}) Er hat 536 Euro im Jahr mehr, das heißt ungefähr 45 Euro mehr im Monat. ({10}) - Jetzt schreien Sie nicht dazwischen! Das mag für Sie wenig sein, weil Sie nur die Realität hier im Bundestag kennen. Aber für diese Familien ist das viel Geld. Diese Realität müssen Sie endlich mal zur Kenntnis nehmen. ({11}) - Herr Kelber, es nützt Ihnen nichts, wenn Sie nur schreien; damit haben Sie noch kein Konzept. Ich sage Ihnen ganz deutlich: All das, was diese christlich-liberale Koalition jetzt macht, stand in unseren Wahlprogrammen. ({12}) All das war lange vor dem 27. September 2009 klar. Wir haben dann einen klaren Wählerauftrag erhalten, nicht trotz, sondern wegen unseres klaren politischen Kurses. Genau den werden wir jetzt auch gemeinsam umsetzen. ({13}) Dann lesen wir allenthalben, dass Herr Gabriel, der sich da hinten freundlich unterhält, ({14}) vor Wählerbetrug warnt. Herr Gabriel, mich wundert das nicht. Schauen wir uns einmal an, was die SPD gemacht hat: Vor der Wahl 2002 haben Sie gesagt, Sie wollten die Steuern nicht erhöhen. Nach der Wahl haben Sie sie natürlich erhöht. Vor der Wahl 2005 haben Sie ganz klar gesagt, niemals würden Sie einer Mehrwertsteuererhöhung zustimmen. Selbstverständlich wurde 2005 die Mehrwertsteuer erhöht, und es folgten weitere 19 Steuererhöhungen. Das ist die Realität. Wenn also jemand in diesem Land Erfahrung mit Wählerbetrug hat, dann sind es Sie, Herr Gabriel, und die SPD. ({15}) Ich sage Ihnen: Es ticken nicht alle so wie Sie. Wir werden weiter Wort halten. Schauen wir uns einmal die Einnahmesituation an: Die staatlichen Einnahmen sind in den letzten Jahren gestiegen, die Verschuldung ebenso. In den elf Jahren Regierungszeit der SPD haben Sie es geschafft, 300 Milliarden Euro zusätzliche neue Schulden zu machen, ({16}) und Ihre Planung sah vor, weitere 350 Milliarden Euro Schulden zu machen - und das, obwohl die Staatseinnahmen weiter steigen. ({17}) Das zeigt dreierlei: Erstens. In konjunkturell guten Zeiten wurde nicht ausreichend gespart. Das lag in Ihrer Verantwortung, meine Damen und Herren. ({18}) Zweitens. Der Staat hat kein Einnahmeproblem, er hat ein Ausgabenproblem. ({19}) Drittens. Der Glaube, man müsse nur mehr Einnahmen haben, um den Haushalt in Ordnung bringen zu können, hat sich nicht bewahrheitet. Deswegen werden wir einen anderen Weg gehen, nämlich den eines fairen Umgangs mit den Bürgern. Wir werden Steuerentlastungen vornehmen und damit auch die Wirtschaft wieder ankurbeln. ({20}) - Auch das haben wir gerade klargestellt. Entsprechend dem Koalitionsvertrag halten wir an der großen Steuerstrukturreform fest. Wir wollen auch eine weitere Entlastungswirkung erreichen, und zwar durch eine Verbesserung der Leistungsgerechtigkeit und durch die Vereinfachung des Steuerrechts. ({21}) Wir wollen, dass ein Arbeitnehmer endlich wieder versteht, was der Staat von ihm will, und dass er beurteilen kann, ob das auch fair ist. Ich sage Ihnen: Wenn ein Arbeitnehmer mit 30 000 Euro brutto im Jahr von jedem zusätzlich verdienten Euro 52 Cent abgeben muss, dann hat das nichts mehr mit Fairness im Umgang mit den Bürgern zu tun, sondern dann ist das Abzocke. Das demotiviert die Leistungsbereiten, und deshalb werden wir das im Sinne der Mitte dieser Gesellschaft beenden. ({22}) Wir wollen damit Impulse geben, um die Krise zu überwinden, und Rahmenbedingungen so setzen, dass sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden können. Wir wollen einen Aufbruch für Deutschland. ({23}) Dazu ist es auch nötig, dass Einsparungen vorgenommen werden. ({24}) Das haben wir immer gesagt. Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung gehen bei uns Hand in Hand. ({25}) Fangen wir beim Haushalt 2010 an. Vielleicht hätten Sie sich den einmal anschauen sollen, bevor Sie an dieser Debatte teilnehmen, meine Damen und Herren. Im Haushalt 2010 ist es nämlich gelungen, mit einer geringeren Neuverschuldung, ({26}) als noch mit einem SPD-Finanzminister unter der alten Regierung beschlossen, auszukommen, obwohl wir die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen zum 1. Januar dieses Jahres entlastet haben. Das zeigt: Es geht, wenn man will. ({27}) Nun zum Haushalt 2011. Natürlich werden wir die Schuldengrenze einhalten. ({28}) Das ist eine pure Selbstverständlichkeit. Wir werden trotzdem alles daransetzen, im Haushalt weitere Entlastungsspielräume für die Bürgerinnen und Bürger zu erarbeiten. ({29}) Dass das harte Arbeit ist, wissen wir. Deshalb werden wir alle Subventionen auf den Prüfstand stellen. ({30}) Deshalb werden wir dafür sorgen, dass der Staat endlich effizienter arbeitet. Wenn ich mir die strukturellen Defizite in diesem Haushalt anschaue, stelle ich fest, dass wir hier erhebliche Einsparpotenziale haben. ({31}) Diese Einsparpotenziale werden wir heben und dem Haushalt nachhaltig zur Verfügung stellen. ({32}) Außerdem werden wir den Bürokratieabbau vorantreiben; denn das ist ein Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Auch das wird helfen. Wir werden dafür ein Gesamtkonzept vorlegen, und zwar dann, wenn es vorgelegt werden muss, nämlich zusammen mit dem Haushalt 2011, ({33}) und der wird wie immer planmäßig im September dieses Jahres in diesem Hohen Hause debattiert werden. ({34}) - Es ist schon bemerkenswert, dass vonseiten der Opposition die ganze Zeit hineingebrüllt wird. Ich habe von Ihnen noch kein einziges Konzept gesehen. ({35}) - Das geht an die Adresse der SPD, Herr Trittin. Ich glaube nicht, dass Sie die gerade verteidigen wollten. ({36}) - Das wird sich noch zeigen, Herr Steinmeier. - Es geht an die Adresse der SPD, weil ich es bemerkenswert finde, wie Sie sich neu aufstellen. Von Ihrer Klausurtagung wurde berichtet, dass Ihr Parteivorsitzender erklärt habe, der Satz „Erst das Land, dann die Partei“ habe in dieser Form für die SPD an Gültigkeit verloren. ({37}) Das ist Ihre Antwort auf die Krise in diesem Land. Das ist ein Offenbarungseid für eine einst so stolze sozialdemokratische Partei. Sie sind von den Wählern zu Recht in die Opposition geschickt worden. ({38}) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden auch die Vereinfachung des Steuersystems vorantreiben. ({39}) Wir haben in unserem Koalitionsvertrag bereits 19 konkrete Maßnahmen aufgeschrieben. Das kann man nachlesen; das brauche ich jetzt nicht vorzulesen. Wir sind ja nicht hier, um Ihnen eine Vorlesung zu geben. Wir gehen davon aus, dass Sie lesen können. Wir können Ihnen gerne ein Exemplar des Koalitionsvertrages schenken, wenn Sie noch keines haben. ({40}) Ich sage Ihnen sehr deutlich - auch das steht im Koalitionsvertrag -: Wir werden das komplizierte Mehrwertsteuersystem, das undurchschaubar ist, ({41}) insgesamt überarbeiten. ({42}) Dazu wird eine Kommission eingesetzt; denn das Mehrwertsteuersystem muss vernünftig vom Kopf auf die Füße gestellt werden, und zwar in der kompletten Breite. ({43}) Dafür braucht man Zeit und eine vernünftige Vorbereitung. Sie haben das in Ihrer Regierungszeit nicht getan. Wir werden uns dieser Aufgabe jetzt annehmen. ({44}) In der Gesundheitspolitik hat uns Ulla Schmidt nicht nur ihren wiedergefundenen Dienstwagen hinterlassen, sondern auch einen völlig maroden Gesundheitsfonds. ({45}) Der von der SPD durchgesetzte Gesundheitsfonds hat keine Stabilität geliefert. ({46}) Für 2010, also bereits nach einem Jahr, haben wir einen Fehlbetrag von 8 Milliarden Euro. ({47}) Die Hälfte muss jetzt durch Steuerzuschüsse ausgeglichen werden. Wir wollen ein solidarisches Finanzierungssystem, das nicht an der Beitragsbemessungsgrenze endet. Wir wollen den Einstieg in einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge und einen Sozialausgleich durch das Steuersystem, weil wir davon überzeugt sind, dass es gerechter ist, dass es die Arbeit nicht immer teurer macht und dass es vor allen Dingen zukunftsfest ist. Das werden wir im Gesundheitswesen umsetzen. ({48}) Ich möchte nun auf das zurückkommen, was Herr Gysi hier über Hartz IV gesagt hat, und halte zunächst einmal fest, dass das Sozialste, was man einem Menschen geben kann, ein Arbeitsplatz ist. ({49}) Genau das wollen wir erreichen. Wir wollen, dass wieder mehr Menschen Chancen auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland haben. Einigen, die sich in den letzten Tagen an Diskussionen über Hartz IV beteiligt haben, muss man sagen, dass man mit Pauschalierungen der Situation der Menschen nicht gerecht wird. Aus unserer Sicht gibt es - das ist die Haltung der kompletten Koalition - keinen Bedarf an gesetzlichen Änderungen bei den Zumutbarkeitskriterien. Da ist allenfalls bei der Umsetzung an der einen oder anderen Stelle etwas zu optimieren. Wenn ich mir die Reaktion der SPD anschaue, dann muss ich feststellen, dass es völlig überzogene Verbalattacken gab. Es gab den Versuch, von Ihrer Konzeptionslosigkeit und von Ihrer desaströsen Situation abzulenken. Wir wollen, dass zukünftig das Steuersystem mit dem Sozialsystem besser verknüpft wird. Deswegen werden wir Änderungen bei Hartz IV vornehmen; es gibt sehr wohl Änderungsbedarf. Ein Punkt ist, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessern werden, weil wir der Meinung sind, dass derjenige, der arbeitet, mehr haben soll als derjenige, der nicht arbeitet. ({50})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte den Gedanken erst noch zu Ende führen, Herr Präsident. Wir werden auch beim Schonvermögen etwas ändern. Wir werden das Schonvermögen von 250 auf 750 Euro pro Lebensjahr erhöhen, weil wir der Meinung sind, dass jemand, der das getan hat, was wir ihm die ganze Zeit gepredigt haben, nämlich ein Leben lang vorzusorgen, und der dann unverschuldet in Hartz IV gerät, besser gestellt sein muss als derjenige, der in seinem Leben nicht vorgesorgt hat. ({0}) Dazu fällt der SPD jetzt nach elf Jahren auf der Regierungsbank ein, dass sie das eigentlich auch gern gemacht hätte. Sie sind herzlich eingeladen, uns bei diesen Änderungen zu unterstützen. ({1}) Die christlich-liberale Koalition wird die Fehler Ihrer Hartz-IV-Reformen zum Wohle der Menschen in diesem Land endlich beseitigen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Homburger, darf der Kollege Beck Ihnen nun eine Zwischenfrage stellen?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, Sie haben gerade die Solidarität im Krankenversicherungssystem angesprochen. Ich habe dazu eine Frage an Sie: Trifft es eigentlich zu, dass die Volker Beck ({0}) Mitglieder der FDP-Fraktion Sonderkonditionen bei der DKV angeboten bekommen?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Beck, ich weiß nicht, wo es Sonderkonditionen gibt. Fakt ist, dass jeder das Recht hat, sich selbst zu versichern, und dass wir wollen, dass alle in diesem Lande das Recht bekommen, ihre Krankenkasse frei zu wählen. Das haben Sie in der Vergangenheit verhindert. Wir wollen, dass die Menschen in diesem Land, die mehr entscheiden können, als Sie ihnen zutrauen, ({0}) endlich die Möglichkeit erhalten, selbst zu entscheiden, wo sie sich versichern, in welchem Umfang sie sich versichern und welche Zusatzversicherungen sie abschließen. Dazu sind die Menschen selbst in der Lage, und genau das werden wir auch auf den Weg bringen, Herr Beck. ({1}) Wir werden dieses Land zukunftsfest machen. Deshalb werden wir 12 Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und Forschung investieren. Es ist uns ein ganz zentrales Anliegen, dass zu Beginn von Bildungskarrieren von Kindern investiert wird. Wir wollen Chancengleichheit beim Start und nicht Ergebnisgleichheit am Schluss. Wir wollen die Potenziale erschließen, die es unabhängig von Herkunft, Schicht oder Geschlecht eines Kindes gibt. Kein Kind darf in diesem Bildungssystem verloren gehen. Das ist das Ziel. Deshalb werden wir uns von Bundesseite engagieren. Wir werden ein Stipendienwesen aufbauen. ({2}) Wir werden genauso Impulse setzen und bei den Ländern anregen, dass mehr in frühkindliche Bildung investiert wird, ({3}) weil das der Schlüssel für soziale Gerechtigkeit ist. ({4}) Wir wollen Aufstiegschancen durch Bildung. Das ist das Ziel. Deswegen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es Familien gibt, die ihrer Verantwortung gerecht werden, und dass es andere gibt, die das offensichtlich nicht tun und deren Kinder, wenn sie in die Schule kommen, nicht in der Lage sind, lesen und schreiben zu lernen. Diese Defizite müssen beseitigt werden, beispielsweise dadurch, dass im vierten Lebensjahr eine Sprachstandsdiagnose erhoben wird; in Baden-Württemberg ist das bereits flächendeckend der Fall. Wenn dann Förderbedarf erkennbar ist, folgt zwingend eine Fördermaßnahme. Denn wir wollen, dass die Menschen, die Jugendlichen und die Kinder in diesem Lande tatsächlich Chancen haben. Dies könnten wir vonseiten der Bundesebene für das ganze Bundesgebiet anstoßen. ({5}) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden im Rahmen des Prinzips „Fordern und Fördern“ nicht nur die Kinder fördern, sondern müssen auch die Eltern in dieser Gesellschaft fordern. Auch die Eltern müssen in diesem Zusammenhang ihre Verantwortung wahrnehmen. Anders wird das nicht machbar sein. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Homburger, der Kollege Heil würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Homburger, können Sie uns in dem Zusammenhang, dass Sie Kinder früher und individueller fördern wollen, einmal erklären, warum es eine gute Idee sein soll, eine Prämie an die Eltern eines, sagen wir mal, schlecht integrierten Kindes in Berlin-Neukölln zu zahlen, damit das Kind bewusst nicht in die Kinderbetreuung geht, wo es möglicherweise die Chance hätte, vor der Schule die deutsche Sprache zu lernen? Warum wollen Sie als Liberale dieses Betreuungsgeld mit einführen, das alle Experten ablehnen, wenn Sie das wollen, was Sie gerade gesagt haben, nämlich Aufstieg durch Bildung? ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum Ersten. Es gilt auch hier, was ich vorhin zum Thema Hartz IV gesagt habe: Mit Pauschalierungen werden Sie den Menschen in diesem Lande nicht gerecht. Diejenigen, die sich verantwortungsvoll verhalten, haben es nicht verdient, von Ihnen so behandelt zu werden. ({0}) Zum Zweiten. Wir werden - das habe ich gerade erläutert - 12 Milliarden Euro zusätzlich in dieser Legislaturperiode in Bildung und Forschung investieren. Das bedeutet, dass wir für die Bildungschancen der jungen Generation deutlich mehr tun, als Sie es in Ihrer Regierungszeit getan haben. ({1}) - Stellen wir doch einmal fest: Sie stellen die Fragen, ich gebe die Antwort. ({2}) Zum Thema Betreuungsgeld, lieber Kollege, hat die Frau Bundeskanzlerin gerade das Nötige gesagt. ({3}) Man wird ein Konzept erarbeiten. Im Koalitionsvertrag steht im Übrigen auch, dass das gegebenenfalls ein Gutscheinmodell werden kann. ({4}) So wird das Problem, das Sie beschrieben haben, gar nicht erst entstehen. Deswegen können Sie ganz gelassen und sicher sein: Wir werden auch an diesem Punkt in dieser Koalition eine gute Lösung finden, damit es für mehr Menschen in diesem Land mehr Chancen gibt. ({5}) Ich war gerade beim Thema Innovation und Forschung. An dieser Stelle möchte ich unterstreichen, dass das Energiekonzept für uns von besonderer Bedeutung ist, dass wir das Zeitalter erneuerbarer Energien erreichen wollen und deshalb im Bereich Technologiepolitik etwas tun und in Technologien investieren werden, beispielsweise im Bereich der Speichertechnologie, was Sie in der Forschungspolitik über lange Zeit verhindert haben, insbesondere unter Rot-Grün. ({6}) Wir werden auch darauf setzen, dass es eine größere Energieeffizienz, dezentrale Energieerzeugung und virtuelle Kraftwerke gibt. Wir brauchen einen vernünftigen Energiemix, einen tragfähigen Energiemix mit einem höheren Anteil erneuerbarer Energien; erstens aus Klimagründen und zweitens, weil das großartige Exportchancen für die deutsche Wirtschaft eröffnet. ({7}) Diese Koalition will Deutschland erneuern. Deswegen werden wir auch Änderungen auf dem Finanzmarkt herbeiführen. ({8}) Wir haben eine Finanzmarktkrise erlebt, die mehrere Aspekte deutlich gemacht hat. Es gab bisher schon Regeln, aber wir haben feststellen müssen, dass diese Regeln an vielen Stellen leider nicht eingehalten wurden. Das hat auch etwas damit zu tun, dass diese Regeln nicht richtig überwacht werden. Nun komme ich zu der Frage, die Sie vorhin aufgeworfen haben: Brauchen wir einen starken Staat, oder brauchen wir einen schwachen Staat? Natürlich brauchen wir einen starken Staat. ({9}) Unsere Definition eines starken Staates ist, dass er nur die Gesetze macht, die er wirklich braucht, und dann dafür sorgt, dass die existierenden Gesetze durchgesetzt werden. Das ist ein starker Staat. ({10}) Genau das werden wir tun. Wir werden die Aufsicht, die bisher zersplittert war, bei der unabhängigen Deutschen Bundesbank zusammenführen. Das ist ein Fortschritt, weil wir dann endlich eine Instanz haben, die dafür zuständig ist, den Banken auf die Finger zu schauen. ({11}) Es ist wichtig, dass der Finanzmarkt sauber kontrolliert wird. Wir brauchen auch neue Regeln. Ich sage in aller Deutlichkeit: Dass es im Bereich Finanzmarkt Probleme gab, lag auch daran, dass diejenigen, die Verantwortung hatten, nicht das Risiko getragen haben. Wir haben uns als FDP immer dafür eingesetzt - ich weiß, dass CDU/ CSU das genauso sehen -, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Risiko und Verantwortung gibt. Den Fall haben wir beispielsweise bei Familienunternehmen, wo ein Unternehmer jeden Tag mit seiner Existenz und der Existenz seiner ganzen Familie dafür steht, dass etwas funktioniert. Genau das müssen wir auch im Finanzmarktbereich schaffen, nämlich dass wir Risiko und Verantwortung wieder zusammenbringen, dass die Verantwortung von denjenigen übernommen werden muss, die die Entscheidungsmöglichkeiten haben. Das ist das Ziel. Wir brauchen ein verantwortliches Handeln in diesem Bereich. Das wird man nur dadurch schaffen, dass wir wieder die Übernahme von Risiken einfordern. ({12}) Ein letzter Punkt in diesem Zusammenhang. Ich bin der Auffassung, dass bei den Banken, die damals zu Recht mit einem Bankenrettungsschirm versehen worden sind, richtig gehandelt wurde. Das war zum damaligen Zeitpunkt notwendig. Wir waren damals in der Opposition und haben trotzdem erkannt, dass die Situation schwierig war und es notwendig war, dass gehandelt wurde. Wenn ich die getroffenen Entscheidungen betrachte und die Tatsache berücksichtige, dass wir im Rückblick wissen, was alles passiert ist und was offensichtlich an Fehlern gemacht worden ist, dann bin ich der Meinung, dass auch die Frage einer zivilrechtlichen Haftung der Verantwortlichen geprüft werden muss. ({13}) Das sind wir den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in diesem Land schuldig. Genau das werden die Verantwortlichen an den Stellen, an denen wir Einfluss haben, auch tun. ({14}) Alle Gesetzesänderungen, die zur Stärkung der Verantwortung nötig sind, alle Gesetze, die in elf Jahren sozialdemokratischer Finanzminister nicht auf den Weg gebracht worden sind, werden dank der neuen christlichliberalen Koalition jetzt kommen. ({15}) Diese Koalition hat ein anderes Staatsverständnis. ({16}) Wir setzen zuerst auf den Bürger und dann auf den Staat. ({17}) Wir setzen auf die Schaffenskraft und den Ideenreichtum der Bürgerinnen und Bürger. Diesem Ideenreichtum, dieser Kreativität wollen wir wieder mehr Raum geben, mehr Freiheit lassen. ({18}) Diese Seite des Hauses, die christlich-liberale Koalition, denkt den Staat vom Bürger her. ({19}) Diese Seite des Hauses, die Opposition, setzt viel zu viel auf den Staat und bremst die Bürger aus. ({20}) Das ist der zentrale Unterschied. Das macht den Zusammenhalt dieser Koalition aus. In genau diesem Sinne werden wir Deutschland erneuern und mehr Chancen für mehr Menschen in diesem Land schaffen. Vielen Dank. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Merkel, Sie haben uns viel von neuem Denken erzählt, gesagt, jetzt müsse neu gedacht werden. Ich hätte mir gewünscht, man hätte bei Ihrer Rede den Eindruck gehabt, dass Sie tatsächlich gedacht haben, und zwar an alle Menschen in diesem Land, an 1,8 Millionen arme Kinder in diesem Land, an die Frage, wo eigentlich morgen die Arbeitsplätze für Junge und Alte in diesem Land entstehen bzw. wie sie erhalten werden können. Aber dazu haben Sie faktisch gar nichts gesagt. ({0}) Ich hatte angesichts der Art Ihrer Rede das Gefühl, dass man das Redepult für Sie demnächst in die Kuppel oder gar in die Wolken hängen könnte. So ungefähr war Ihr Redebeitrag, Frau Merkel. ({1}) Das Ganze wurde gekrönt von dem üblichen Klamauk eines Guido Westerwelle, der erst einmal der Habsburger k. u. k. Schule entsprechend den Arm um die Kanzlerin legen muss, damit ihn auch jeder fotografiert. Herr Merkel - ({2}) - Na ja, Frau Merkel, Herr Westerwelle. - Sie brauchen gar nicht zu gehen, Herr Westerwelle. Ich weiß, eine „18“ unter den Füßen ist nicht immer nur lustig. Dieses Land hat ernsthafte Probleme. Was wir brauchen, ist ein neues Programm, ein Programm für den Aufbau dieses Landes, für eine Neuentwicklung. Dieses Programm muss auch in dem Haushaltsentwurf, der vorgelegt wird, seinen Niederschlag finden. Ich stelle fest: Frau Merkel, Sie hatten schon einmal vier Jahre Regierungszeit. Sie haben elf Jahre lang behauptet, wenn Sie nach dieser Verlobungszeit endlich mit Herrn Westerwelle regieren könnten, würde alles gut. Aber Sie haben weder in den vergangenen vier Jahren den Mumm gehabt, noch haben Sie heute den Mut - das zeigt der Haushaltsentwurf 2010 -, eine Strukturreform für dieses Land anzufassen. Dabei hätten wir das eigentlich nötig. ({3}) Ich muss einmal sagen: Wir haben in den ersten 100 Tagen, in der Schonfrist, in der man normalerweise ein bisschen zurückhaltend sein soll und Zeit geben soll, ein Programm umzusetzen, gedacht, Sie würden diese 100 Tage nutzen, etwas vorzulegen. Stattdessen haben wir in den ersten 90 Tagen erlebt, wie sich kleine Möchtegernhäuptlinge, Seehofer und Westerwelle, in den Vordergrund stellen und streiten. Herr Westerwelle hat hier einmal in seiner unnachahmlichen Art gesagt: Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der das Ganze regelt. ({4}) Das würde ich an dieser Stelle gerne einmal sehen. Stattdessen sehen wir drei Leute, die Häuptlinge sein wollen, drei Parteivorsitzende, die sich, weil schon in den ersten 100 Tagen nichts geht, bei Steak Tatar treffen. Ich habe mir die Augen gerieben, als ich das gesehen habe. Ich muss wirklich sagen: So tief ist diese Wunschkoalition, Ihre Traumkoalition in den ersten 90 Tagen schon gesunken, dass Sie auf archaische Sitten von Stammesfürsten zurückgreifen müssen, nämlich den gemeinsamen rituellen Verzehr von rohem Fleisch. Aber für dieses Land ist dabei schon wieder nichts herausgekommen. ({5}) Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Frau Merkel, Sie haben hier gerade einen Versuch der Betrachtung der Wirklichkeit unternommen: die Rohstoffpreise, die Energieknappheit, der wachsende Energiehunger, der demografische Wandel, stärker belastete Familien, Kinder ohne Bildungschancen, fehlendes Fachpersonal in diesem Land und die große Enttäuschung nach Kopenhagen. Aber es reicht nicht, die Wirklichkeit nur zu betrachten, Frau Merkel, man muss dann auch anfangen, etwas zu tun. Die Wirklichkeit verträgt jetzt keine Reaktion von mittelmäßigen, von sich selbst begeisterten und kurzfristigen Lobbyinteressen verpflichteten schwarz-gelben Regierungsmitgliedern. ({6}) Auch Ihre Autosuggestion hat uns nicht weitergebracht. Das Betrachten der Realität heißt auch, auf die Wirklichkeit zu reagieren. Das würde heißen: Schaffung neuer Strukturen, zum Beispiel im Energiebereich, Schaffung neuer Strukturen und Investitionen im Bereich Bildung, Schaffung einer neuen Verkehrsinfrastruktur und ein Neuaufbruch bei der Wissenschaft. Aber Sie sind diesen Herausforderungen faktisch mit Hasenfüßigkeit, mit Klüngelpolitik und mit einer durchschaubaren Notlüge begegnet. Diese durchschaubare Notlüge heißt bei Ihnen, Frau Merkel, schweigen. Moderieren sei eine ganz besondere perfide oder auch kreative politische Strategie. Davon haben wir nichts gemerkt. Ich empfinde diese Bundesregierung nach 90 Tagen wie folgt: Es ist eine Regierung ohne Werte, ohne Ziele, ohne Plan und auch ohne Mut, auf die Herausforderungen zu reagieren. ({7}) Schauen wir uns Ihren Haushaltsentwurf einmal an. Er wird nicht als Haushaltsentwurf 2010, sondern als Haushaltsentwurf Rüttgers in die Geschichte der Republik eingehen. Das ist der Beweis: Sie können es nicht. Sie haben angesichts der nun anstehenden Landtagswahl keinen Mut, jetzt endlich einmal das Zeitfenster nach einem Jahr voller Wahlen - die Wahl in Hessen, die Europa- und die Bundestagswahl - wieder zu schließen und etwas anzupacken. Sie sagen, dass Sie auf die Steuerschätzung warten. Da kann ich nur Hermann Otto Solms, sozusagen den Finanzfachmann dieser Regierung, zitieren, der gestern gesagt hat: Ich erwarte von der Steuerschätzung keine besonderen neuen Erkenntnisse. Der Mann weiß Bescheid. ({8}) Sie müssen sich entscheiden, wie Sie Ihre 130 Milliarden Euro neue Schulden gegenfinanzieren wollen. Wahr ist: Es sind nicht 85, sondern 130 Milliarden Euro Schulden, wenn man all die Tricksereien dieser Koalition einbezieht. Sie sagen bei Ihren Steuersenkungsversprechen, zum Beispiel Mehrwertsteuer für die Hotellerie: Wort gehalten. Die FDP hat dies sogar plakatiert. Ich sage Ihnen: Dieser Haushalt drückt eines aus, nicht Wort gehalten, sondern Hand aufgehalten. ({9}) Dieser Haushalt drückt aus, dass bei der Mehrwertsteuer, bei der Erbschaftsteuer mittlerweile Zahltag ist. Das Wort Gemeinwohl kommt in diesem Haushalt gar nicht vor. Wo sind die Sätze zur Gegenfinanzierung? Ich sage Ihnen: Ich kann nicht akzeptieren, dass Herr Schäuble hier wie gestern immer in so einer netten Form des Unbestimmten und umgeben von einer Nebelmaschine warme Worte spricht und uns erzählt, dass wir demnächst den Gürtel enger schnallen müssen. Jetzt müssen Sie sagen, wie Sie Ihre Steuersenkungen und Ihre Neuverschuldung gegenfinanzieren wollen. Wo wollen Sie den Leuten Geld streichen, welchen Unternehmern, bei der Ökosteuer oder bei denen, die ökologisch wirtschaften? Wollen Sie den Kindern Geld wegnehmen? Wollen Sie die Infrastruktur abbauen oder was? Wen von denen, die Verursacher der Krise waren und daran noch verdienen, wollen Sie zur Kasse bitten? Sind Sie bereit, eine Vermögensabgabe einzuführen, um damit anzufangen, die Schulden abzuzahlen? Das sind die Fragen und die Herausforderungen. Aber diese Regierung hat keine Werte, keine Ziele, keinen Plan und auch keinen Mumm. Sie können es nicht. ({10}) Was wir jetzt bräuchten, wäre ein grüner Zukunftshaushalt, der in Zeiten, in denen alle von Green Economy reden, tatsächlich eine Green Economy, Jobs und Einnahmen generiert. Ein Haushalt, der verlässlich, transparent, wirklich nachhaltig und generationengerecht ist und die Schulden nicht einfach verschiebt. Ein Haushalt, der den Klimaschutz verankert und für sozialen Zusammenhalt, Daseinsvorsorge und Teilhabegerechtigkeit Sorge trägt. Meine Damen und Herren, Ihr Haushalt leistet nichts davon. Sie predigen uns stattdessen Hoffnung nach dem Motto: Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Aber so geht es nicht. Sie können nicht einfach einen undefinierten Wachstumsbegriff in die Welt setzen und behaupten, man könne so viel Wachstum generieren, dass man Schulden abzahlen oder Projekte der Zukunft finanzieren kann. So wird es nicht sein. Sie werden mit Staatsmitteln kein Wachstum forcieren. Außerdem sagen Sie nicht, welches Wachstum Sie eigentlich wollen. Jeder Fachmann bestätigt, dass Staatsverschuldung nachweislich wachstumsmindernd und nicht wachstumsfördernd ist. Sie sollten einmal deutlich machen, wie es Ihrer Meinung nach in Zukunft aussehen soll. Frau Merkel sagt immer so schön: Wenn wir wieder da sind, wo wir vor der Krise waren. - Das löst bei mir meistens Unruhe aus. Wo waren wir denn vor der Krise? Vor der Krise hatte unsere Wirtschaft strukturelle Defizite. Wir waren umgeben von einem Wachstumsbegriff, der uns in genau diese Krise geführt hat. Sie schaffen es nicht, den Wachstumsbegriff neu auszurichten, sondern verbreiten weiter den Irrglauben, Wachstum könne ein Allheilmittel sein. Das ist es aber nicht, im Gegenteil. ({11}) Ich glaube, wir müssen den Mut haben, auszusprechen, was in Zukunft geschehen muss: Es gibt Wirtschaftsbereiche, die massiv schrumpfen müssen, weil sie nicht mehr zu begründen sind. Andere Wirtschaftsbereiche brauchen eine Vielzahl von Maßnahmen, Kreativität und einen Innovationsdruck, den auch der Staat unterstützen könnte, auch mit einer guten Haushaltspolitik. Andere Wirtschaftsbereiche brauchen einen radikalen Innovationsdruck, damit sie massiv wachsen. Wahr ist: Wir müssen unsere Wirtschaftsweise verändern. Wir dürfen nicht mehr auf Kosten anderer, nicht mehr auf Kosten der Umwelt, nicht mehr auf Kosten von Boden, Wasser und Artenvielfalt leben. Dafür muss man allerdings die entsprechenden Stellschrauben im Haushalt verankern und darf nicht nur UN-Reden halten, Frau Merkel. ({12}) Frau Merkel wurde in der letzten Legislaturperiode zeitweise „Klimakanzlerin“ genannt. Schauen wir uns einmal an, ob Sie die Themen Klima, Umgang mit Rohstoffen und mit Energie in diesem Haushalt berücksichtigt haben. Beginnen wir mit dem 40-Prozent-Ziel. Frau Merkel, ich höre immer, wir - das ist ein diffuses „wir“ hätten bereits vereinbart, die CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Meine Damen und Herren, ich würde gern bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag sehen, wie Sie dazu stehen. Sie können - wir geben Ihnen mit einem Antrag die Gelegenheit dazu hier die Hand heben, wenn Sie zu dem Allgemeinplatz stehen, dass Deutschland innerhalb von zehn Jahren mindestens diese Minus-40-Prozent-Marge erreichen wird. Das wäre die internationale Botschaft, dass wir wirklich bereit dazu sind und alle politischen Maßnahmen, auch jeden Bundeshaushalt, danach ausrichten. Die Wahrheit ist: Da draußen erzählen Sie immer Nettes; ({13}) aber gerade eben haben Sie das Gegenteil gesagt, nämlich: Minus 30 Prozent in der EU, minus 40 Prozent in Deutschland ({14}) nur, wenn alle anderen das auch tun. - Das gerade eben war der Zusammenbruch der Klimakanzlerin. ({15}) Hier wurden Chancen für unsere wirtschaftliche Entwicklung vertan. Ich bin davon überzeugt, dass das unserer wirtschaftlichen Entwicklung massiv schadet. Andere Länder - China, Indien, Japan, Südkorea investieren horrende Summen in die technologische Entwicklung. Wenn China 40 Prozent seiner Konjunkturmittel investiert, ist das ein Vielfaches mehr als das, was wir investieren. Selbst wenn die Chinesen noch Dreckschleudern von Kohlekraftwerken neu bauen, haben sie den Vorteil der technologischen Entwicklung. Ich sage Ihnen, Frau Merkel: Hasenfüßigkeit, keinen Plan haben, keinen Mut haben, das schadet der Wirtschaft in Deutschland und in Europa und verhindert, dass wir diese Arbeitsplätze haben; die Arbeitsplätze entstehen dann woanders. ({16}) Sie hätten in Kopenhagen guten Willen zeigen können. Sie reden ständig darüber, wer wann wie wo vorwärts geht oder nicht und wer Bedingungen stellt. Sie tun so, als seien Sie selber bereit, die anderen aber nicht. Sie haben Ihr eigenes perfides System: Als es um 400 Millionen Euro für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern ging, haben Sie nicht sofort gerufen: Ja, wir sind bereit, weil wir unsere und eure Lebensgrundlagen schützen wollen. - Den Hotels durch die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes 1 Milliarde Euro hinterherzuwerfen, ging dagegen über Nacht. Für den Agrardiesel 500 Millionen Euro lockerzumachen, ging ebenso über Nacht. Nie haben Sie Bedingungen gestellt, zum Beispiel dass bei den Milchbauern etwas ankommt oder dass bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, zum Beispiel dass die Hotels Mindestlöhne zahlen, oder dass in Umbauten, in Modernisierung, in neue Arbeitsplätze investiert wird. Frau Merkel, wir haben Ihr System verstanden: Sie reden schön; aber am Ende ist es immer die alte Klientelpolitik der CDU/CSU. ({17}) Die Antwort auf die Frage, wie es in der Energiepolitik weitergehen soll, haben Sie auf den Herbst verschoben. Das heißt, Sie lassen die Industrie und den Mittelstand bei Investitionen im wahrsten Sinne des Wortes allein, auch insofern, als morgen Abend die Trickserei mit den Atomkraftwerksbetreibern losgeht. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Gesetz, das der Deutsche Bundestag in einem offenen und transparenten Verfahren beschlossen hat, wird jetzt vom Kanzleramtschef unter der Ägide der Bundeskanzlerin vermauschelt. Sie können täuschen, tarnen, tricksen wir wissen, um was es geht, wenn Bezugsrechte hin und her geschoben werden: Es geht Ihnen darum, einen trickreichen Weg zu finden, damit Sie den Deutschen Bundestag nicht mit einer Änderung dieses Gesetzes befassen müssen. Ich sage Ihnen, gerade angesichts der Asse: Die Bevölkerung dieses Landes hat ein Anrecht darauf, dass es in die Zukunft geht, in Richtung 100 Prozent erneuerbare Energien, und nicht in Richtung einer Absicherung der Oligopole. Die Bevölkerung dieses Landes hat ein Anrecht darauf, dass sich die Bundesregierung um die körperliche Unversehrtheit und die Sicherheit der Bürger kümmert. Dazu haben Sie bisher kein Wort gesagt, weder im Zusammenhang mit der Lagerung noch im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung. ({18}) Die Nutznießer Ihrer Politik sind die Atomwirtschaft und die Aktieninhaber, sind die Konkurrenten unserer Solarwirtschaft, die die Arbeitsplätze schaffen, die wir hätten haben können. Das, meine Damen und Herren, ist nicht Marktwirtschaft, die Sie ja immer beschwören; das ist auch kein Wettbewerb, der ja der Kern der Marktwirtschaft ist; das ist eher Staatssozialismus alter Prägung: Einige bestimmen das Geschäft. Ich will Ihnen an dieser Stelle auch sagen, dass die Laufzeitverlängerung, wenn sie käme, Ihrer Umweltpolitik und Ihrem Bundesumweltminister wie ein Klotz am Bein hängen würde. Sie können sich noch so anstrengen und schöne Reden halten, Herr Röttgen: Wenn Sie diese Pläne nicht verhindern, können Sie es auch gleich sein lassen. ({19}) Eines geht nicht: immer schöne Reden halten und danach das Gegenteil tun. Das können Sie ja weitermachen: Herr Röttgen redet so, Frau Merkel wirft auch hin und wieder Klimaschutzblasen, dann kommt Frau Aigner und sagt: Wie viel Chemie auch immer die Landwirtschaft in die Böden einträgt, wie viel fossile Energie sie auch immer braucht, wir werden nichts ändern. - Herr Schäuble, Sie hätten doch sagen können: Subventionen werden reduziert, wenn nicht ökologisch gewirtschaftet wird. - Oder nehmen wir den Bundesverkehrsminister: Herr Röttgen oder Frau Merkel, Sie können noch so viel erzählen, dieser Bundesverkehrsminister redet sich über Schienenverkehr besoffen, am Ende geht aber das ganze Geld wieder in die Straße. So nicht! Ich muss Ihnen sagen: Dieser Haushalt ist ein Armutszeugnis. Er ist auf dem Rücken der Familien und der Kinder sowie auf dem Rücken der Kommunen gemacht, wo sich bestimmt, wie der Alltag der Menschen aussieht. Schauen wir auf Nordrhein-Westfalen: Essen, Kulturhauptstadt 2010, muss Grundschulen schließen, Städte denken über die Reduzierung der Zahl der Kinderspielplätze nach, Wuppertal schließt das Theater. In Magdeburg, in einem anderen Bundesland, werden die monatlichen Kitagebühren um 30 Euro erhöht. Das ist erst der Anfang. Meine Damen und Herren, Sie haben nicht die Familien gestärkt. Vielmehr muss derjenige, der bei Ihnen 20 Euro mehr Kindergeld bekommt, danach 30 Euro Gebührenerhöhung bei den Kindergärten zahlen. Die Familie hat 10 Euro weniger und die Hartz-IV-Kinder haben gar nichts. ({20}) Fazit: Unter Schwarz-Gelb geht es einigen wenigen besser, aber vielen schlechter. Die wahren Leistungsträger dieser Gesellschaft, beispielsweise die unterbezahlten Erzieherinnen und unterbezahlten Pflegekräfte, brauchen funktionierende Kommunen, einen funktionierenden Sozialstaat. Aber diese Regierung hat keine Werte, keine Ziele, keinen Plan. ({21}) In diesem Haushaltsplan gibt es keine Erhöhung der Regelsätze, keine Einstellung von Mitteln für eine Neuberechnung der Kinderregelsätze, keine Maßnahmen zur Integration auf dem Arbeitsmarkt - sie werden eingedampft -, und die Mittel zur Integration von Migranten werden nicht erhöht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zu meinem letzten Satz. - Meine Damen und Herren, dieser Haushalt weist uns nicht in die Zukunft, sondern rückwärts. An dieser Stelle können Sie sich noch so viel beweihräuchern, dass Sie Geld in Bildung investieren: Dieser Bildungshaushalt steigt weniger als der Gesamthaushalt. Dies ist bezeichnend. Sie haben keine Antworten auf die Probleme, denken nur an diejenigen, die die dicken Ellenbogen haben, an die Menschen, die Baron von Finck heißen, aber nicht an die Menschen, die Otto Normalverbraucher heißen. Am 9. Mai haben die Bürgerinnen und Bürger in NordrheinWestfalen die Chance, Ihnen die rote Karte zu zeigen. Das haben Sie bitter nötig. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Haushalt 2010 legen wir einen Haushalt vor, der Wachstum bringt und die Konsolidierung ernst nimmt, einen Haushalt, der das beinhaltet, was uns in den nächsten Jahren immer wieder täglich ins Haus steht: die richtige Balance zwischen dem Antreiben von Wachstumskräften und der gleichzeitigen Zurückführung der Verschuldung, des Staatsdefizits. Das ist eine ambitionierte Aufgabe. ({0}) Ich habe gestern und heute sehr genau zugehört, was vonseiten der Opposition kam. Ich muss sagen: Zur Frage, wie Perspektive, Zuversicht, Chancen und die Reduzierung des Staatsdefizits verbunden werden können, habe ich von Ihnen nichts, aber auch gar nichts gehört, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Es verwundert ja auch nicht: Wir haben in der vergangenen Wahlperiode in der schärfsten Finanz- und Wirtschaftskrise miteinander in der Regierung und mit der FDP in der Opposition Maßnahmen getroffen, für die wir in ganz Europa und darüber hinaus bewundert werden. ({2}) Das Ziel war vor allem, zu verhindern, dass die Wirtschaft zusammenbricht, dass Spareinlagen der Menschen gefährdet werden und dass aus der Finanz- und Wirtschaftskrise eine gigantische Arbeitslosigkeit entsteht. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, dass Sie 2005 die Union brauchten, zeigt doch: Sie haben eine gigantische Staatsverschuldung produziert. Sie haben die größte Arbeitslosigkeit in Zeiten ohne Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht. ({3}) 2005 waren wir in einer Situation, in der wir heute trotz Finanz- und Wirtschaftskrise nicht sind. ({4}) Deswegen finde ich, dass weder Sie von der SPD noch Sie von den Grünen ein Recht darauf haben, jetzt zu sagen, wie es gehen soll. ({5}) Sie konnten es in normalen Zeiten nicht, in Krisenzeiten können Sie es erst recht nicht. ({6}) Es kommt also darauf an, Wirtschaft und Wachstum voranzubringen und neue Chancen zu schaffen. ({7}) Dieser Haushalt zeigt sehr genau, dass es gelingen kann, das Staatsdefizit zurückzuführen. Der Haushalt 2005 hatte ein strukturelles Defizit von 60 Milliarden Euro. Wir hätten die Nettoneuverschuldung auf 6 Milliarden Euro zurückgeführt, wenn nicht die Kosten der Krise dazugekommen wären. ({8}) - Wissen Sie, was mich bei der SPD wundert? Ich habe den Eindruck, Sie haben wirklich den Verstand verloren. ({9}) Anstatt ein bisschen stolz auf das zu sein, was wir in der Wirtschaftskrise miteinander erreicht haben, ({10}) tun Sie so, als ob all das, was wir heute vorlegen, damit nichts zu tun hätte. Der Haushalt ist der Beweis für die erfolgreiche Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise. ({11}) - Es hat überhaupt keinen Sinn. Es ist ein Teil Ihres Problems, dass Sie nie gewusst haben, was Sie sein wollen: Regierung oder Opposition. Ich sage Ihnen: Sie sind jetzt Opposition, damit Sie das genau wissen. ({12}) Früher haben Sie sich nie entscheiden können, was Sie eigentlich wollten. ({13}) Es geht jetzt darum, diesem neuen Jahrzehnt eine neue Perspektive zu geben. Dies tun wir. ({14}) Es geht darum, den Menschen zu sagen: Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, euer Leben erfolgreich zu gestalten. Wir wollen die Freiheit des Einzelnen ({15}) in die Solidarität der Gemeinschaft einbinden. Wir wollen, dass der Einzelne frei entscheiden kann, wie er sein Leben gestaltet. ({16}) Aber es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Deshalb gilt für diese christlich-liberale Koalition der Grundsatz: die Freiheit des Einzelnen eingebettet in die Solidarität der Gemeinschaft. ({17}) Das heißt zunächst einmal, dass wir allen eine Chance geben wollen und müssen, ihr Leben aus eigener Kraft zu gestalten. Es ist für niemanden eine tolle Sache - ich weiß aus Erfahrung, aus meinem früheren Beruf, wovon ich rede -, wenn er jeden Tag zum Sozialamt oder zur Hartz-IV-Behörde gehen muss, um sich dort sein Geld zu holen. ({18}) Der Grundsatz „Die Freiheit des Einzelnen, eingebettet in die Solidarität der Gemeinschaft“ heißt: Wir helfen denen, die in Schwierigkeiten sind. Deswegen ist es richtig, dass es solche Sozialsysteme gibt. Aber ich kann eines nicht akzeptieren, und das werden wir in der Koalition auch nicht akzeptieren: Es geht nicht darum, mit immer mehr Geld einen sozialen Status abzusichern. Es geht vielmehr darum, Aufstiegschancen zu schaffen und die Menschen aus der Abhängigkeit des Sozialstaates herauszuholen, statt sie darin zu halten. ({19}) Von Ihnen war nichts zu der Frage zu hören, wie wir nach dem Grundsatz der Freiheit und Eingebundenheit in die Gemeinschaft die Veränderungen gestalten, die bei den Hartz-IV-Regelungen notwendig sind. ({20}) Ich sage Ihnen dazu: Erstens ist der Grundsatz des Forderns und Förderns richtig. Zweitens ist es richtig, dass wir Maßnahmen getroffen haben, damit niemand wie früher einfach in der Sozialhilfe bleibt. Stattdessen wird den Menschen mit einem enormen Aufwand und auch persönlicher Zuwendung in den kommunalen Beratungsstellen geholfen. Jetzt kommt es vor allem darauf an, dass wir für Kinder Chancen schaffen. ({21}) - Dazu komme ich jetzt. Ich denke dabei an dieses Gerede: Wenn wir mehr Geld in die Hand von Familien gäben - Herr Heil, es ist eine Unverschämtheit, welche Fragen Sie hier stellen -, dann würden wir nur dafür sorgen, dass die Kinder nicht in die Schule oder in irgendwelche Betreuungseinrichtungen kämen. - Ich will Ihnen sagen, was wir als Herausforderung sehen müssten: Hier in Berlin, wo es noch kein Betreuungsgeld gibt, lässt der rot-rote Senat zu, dass Hunderte von Kindern nicht in die Schule kommen. Es wird nichts unternommen. Was in Neukölln passiert, ist ein Skandal. Dagegen muss etwas gemacht werden. ({22}) Ich habe mich informiert, und mir ist gesagt worden, dass Familien ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Das ist doch keine Frage des Betreuungsgeldes; vielmehr muss man über geeignete Maßnahmen nachdenken, um dem entgegenzuwirken. ({23}) Wer duldet, dass Kinder nicht in die Schule gehen, und tatenlos zuschaut, der versündigt sich an den Zukunftschancen dieser Kinder. ({24}) Chancen müssen durch Bildung geschaffen werden. Diese Bildungsangebote müssen auch angenommen werden. Dafür werden wir sorgen. Der Haushalt beinhaltet diese Chance, Frau Künast. Wir werden in dieser Koalition 12 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen, um Verbesserungen in der Bildungspolitik voranzubringen. ({25}) Selbstverständlich werden wir mit den Ländern darüber sprechen, wie das umgesetzt werden soll. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Die 12 Milliarden Euro werden so eingesetzt, dass sie den Kindern nutzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn wir vorankommen und erreichen wollen, dass dieses neue Jahrzehnt ein Jahrzehnt neuer Chancen wird, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Wachstum möglich ist. Wir sind uns darüber einig - so habe ich Sie in der letzten Debatte verstanden -, dass wir das Niveau der Wirtschaft nach der Schrumpfung um 5 Prozent nicht beibehalten, sondern wieder zu dem früheren Niveau zurückkehren wollen. Deswegen kann ich nicht verstehen, Frau Künast - wahrscheinlich haben Sie es nicht richtig kapiert -, warum Sie die Bundeskanzlerin kritisieren, wenn sie sagt, dass wir 2013 wieder da sein wollen, wo wir 2008 gewesen sind. Das ist eine Perspektive, nicht das, was Sie gesagt haben. ({0}) Wir wollen, dass dieses Land nicht auf dem Niveau der Finanz- und Wirtschaftskrise stehen bleibt, sondern dass es wieder nach vorne und nach oben kommt. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kauder, der Herr Kollege Liebich würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dazu gehört auch, dass man die nötigen Voraussetzungen schafft. Ein Thema, das dafür von Bedeutung ist, ist die Energiepolitik, Frau Künast. Wir haben entschieden, dass wir noch in dieser Legislaturperiode ein Energiegesamtkonzept vorlegen. Dieses Konzept wird der Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien sein. ({0}) Aber das unterscheidet eine christlich-liberale Koalition von Rot-Grün: Wir machen Politik unter realen Gesichtspunkten. Wir betrachten die Wirklichkeit, schauen uns an, was ist, und bringen dann die richtigen Lösungen und betreiben keine Umsetzung nackter Ideologie, mit der Sie im Grundsatz gescheitert sind. ({1}) Wir werden unser Konzept der erneuerbaren Energien umsetzen. Bis wir das erreicht haben, muss es auch noch Kernkraftwerke als Brückentechnologie geben. Wir brauchen ebenfalls noch Kohlekraftwerke. Wenn es aber technisch möglich ist - ich bin sehr dafür -, bessere Kohlekraftwerke als die alten zu betreiben, dann müssen und werden wir das machen; denn das ist richtige Umweltpolitik. ({2}) Wir betrachten die Wirklichkeit. In diesen Tagen ist allenthalben gesagt worden: Wir brauchen noch Zeit, um das Stromleitungssystem an die neue Zeit heranzuführen. Dafür werden gigantische Investitionen in Höhe von 20 Milliarden Euro notwendig sein. Dieses Geld werden die Stromkonzerne aufwenden müssen. Das wird für weiteres Wachstum sorgen. Aber eines werden wir nicht machen, nämlich um der Ideologie willen Kraftwerke, die günstig und sicher Strom erzeugen, abschalten und so die Preise nach oben treiben. Was ist das denn für eine heuchlerische Politik, hier zu jammern, dass die Menschen belastet werden, und sie dann mit einer aus purer Ideologie betriebenen Energiepolitik zu belasten? Nicht mit uns, Frau Künast! ({3}) Wir werden aus diesem neuen Jahrzehnt ein Jahrzehnt der Chancen machen. Das heißt, der Zusammenhalt in der Gesellschaft muss gefördert werden; das hat die Bundeskanzlerin klar und deutlich gesagt. Deswegen ist ein Schwerpunkt die Integration. Wir wollen, dass die Menschen in diesem Land zusammenleben und gemeinsam einen Beitrag für sich und dafür leisten, dass dieses Land vorankommt. Integration stellt Anforderungen; darüber haben wir mehrfach gesprochen. Das Beherrschen der deutschen Sprache, der Besuch einer Schule und eine Ausbildung sind wichtig, um voranzukommen. Man muss auch akzeptieren, dass es hier in diesem Land tradierte kulturelle Werte gibt, die weitergelebt werden sollen. Es gibt unsererseits auch Angebote. Selbstverständlich soll jeder in diesem Land seine Religion leben können. Wir von der Union setzen uns dafür ein, dass Muslime in ihren Moscheen beten können. Aber ich erwarte dann, dass die Muslime, die das Glück der Glaubenstoleranz in diesem Land erfahren, mutig sagen: Wir wollen, dass Glaubenstoleranz auch in unseren Heimatländern gelebt wird. ({4}) Wir von der Union wollen, dass die Menschen mit Migrationshintergrund die Erfahrungen, die sie in unserem Land machen, an ihre Heimat weitergeben. Wir wollen - das werden wir auch tun - neue Produkte fördern. Auch in Zukunft müssen die modernsten und besten Autos der Welt hier in Deutschland gebaut werden. Deswegen steigen wir in die Elektromobilität ein. ({5}) Die Elektromobilität hat aber noch eine ganz andere Bedeutung. Je besser es uns gelingt, Speichertechnologien zu entwickeln, desto leichter ist es, regional erneuerbare Energien an die Haushalte weiterzugeben. Sie haben bisher keinen Beitrag dazu geleistet, eine solche Speichertechnologie zu entwickeln. ({6}) Es weht ein anderer Geist in dieser Koalition; das habe ich klar und deutlich gesagt. ({7}) Uns ist die Freiheit des Einzelnen, eingebunden in die Solidarität der Gemeinschaft, wichtig. Wir nehmen auch unsere Verantwortung in der Welt wahr. Die Kanzlerin hat eine Regierungserklärung zu Afghanistan mit anschließender Debatte für die nächste Woche angekündigt. Dann wird sich zeigen, ob wir alle bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Es gibt den schönen Satz: Wer sich jemanden mit Hilfe zu eigen gemacht hat, der ist ihm auch verantwortlich. Wir können nicht einfach ohne Perspektive und ohne eine Konzeption von dort weggehen, wo wir einmal angefangen haben, Verantwortung zu übernehmen. Darüber sprechen wir nächste Woche. Wir tragen mit unserer Entwicklungszusammenarbeit auch Verantwortung dafür, dass Staaten in die Lage versetzt werden, Aufgaben zu erfüllen. Ich bin dankbar für die große Spendenbereitschaft für Haiti. Das zeigt wieder einmal, zu welcher Solidarität die Menschen in diesem Land fähig sind. ({8}) Das ist großartig. Herzlichen Dank dafür! Aber wir müssen uns schon jetzt Gedanken darüber machen, wie es weitergeht, nachdem die ärgsten Probleme behoben sind. Die Menschen in Haiti dürfen nicht wieder in die Situation geraten, in der sie vor dieser schrecklichen Katastrophe waren. Wir tragen Verantwortung dafür, dass auch sie ein menschenwürdigeres Leben führen können als bisher. Dazu müssen wir einen Beitrag leisten. Es erfüllt uns mit Sorge, wie viele Menschen auf dieser Welt bedrängt, eingesperrt und verurteilt werden für ihre demokratischen und ihre Glaubensüberzeugungen. Das darf uns nicht ruhen lassen. Es gibt Dinge, die den ganzen Menschen und nicht nur Kompromisse fordern. Die Menschenrechte sind unteilbar. ({9}) Die bedrohteste Glaubensgruppe auf der ganzen Welt sind die Christen, zum Beispiel im Irak, aber auch in anderen Ländern. Gerade eine christlich-liberale Koalition darf angesichts dessen nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen mit denjenigen solidarisch sein, die nichts anderes wollen, als sich als Christen zu ihrem Glauben zu bekennen. Da erwarte ich einen starken Beitrag der Bundesregierung sowie von denjenigen, die in unserem Land die Erfahrung von Glaubenstoleranz machen können. Auch das wird ein Anspruch an diese Regierungskoalition sein müssen. ({10}) Ich freue mich, dass wir in dieser Koalition zusammengefunden und uns vorgenommen haben, diesem Jahrzehnt den Stempel von mehr Chancen und mehr Perspektiven aufzudrücken. ({11}) Wir wollen den Menschen die Gelegenheit geben, für ihr Leben zu sorgen. Die Freiheit des Einzelnen, eingebunden in die Solidarität der Gemeinschaft - das zeichnet diese Koalition aus. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es gibt eine Kurzintervention des Kollegen Liebich. Bitte schön.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Kauder, da Sie auf meine Frage nicht antworten wollten, muss ich mich auf diesem Wege noch einmal melden. Sie haben Bezug genommen auf die Bildungspolitik hier in der Hauptstadt, die bekanntlich von der SPD und unserer Partei Die Linke regiert wird. Ich bin es zunehmend leid, die Propaganda, die hier immer wieder geäußert wird, einfach so im Raum stehen zu lassen. ({0}) Die rot-rote Landesregierung hat trotz der Plünderung der Haushaltskassen - auch durch die Politik, die mit diesem Haushalt verfolgt wird ({1}) kostenfreie Kitaplätze für die Kinder von drei bis sechs Jahren beschlossen. ({2}) Anders als in vielen anderen Bundesländern ist das Studieren im Land Berlin gebührenfrei. ({3}) Wir haben die Hauptschule und damit das dreigliedrige Schulsystem abgeschafft. ({4}) Wir würden gern - ich weiß, das finden Sie falsch, aber ich will es hier einmal angemerkt haben - in Berlin noch viel mehr für die Bildungspolitik tun, wenn Sie mit Ihrer Politik nicht die Hoteliers anstatt die Länder und Kommunen entlasten würden. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ihre Antwort, Herr Kauder.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben zunächst einmal gar keine Frage stellen können, weil ich schon geahnt habe, in welche Richtung Sie wollen. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie haben mein Anliegen überhaupt nicht verstanden. Zunächst einmal ging es mir gar nicht um die Qualität des Bildungswesens in Berlin, wenngleich ich zur Qualität eines Bildungswesens, das die Frechheit besitzt, Menschen den Zugang zu einer bestimmten Schule zu verweigern und Gymnasialplätze auszulosen, etwas sagen könnte. Das ist schon ein Superhammer im Umgang mit Bildungschancen. ({0}) Aber darauf wollte ich gar nicht eingehen. Ich wollte nur sagen: Das hat überhaupt nichts, null und nichts mit Geld zu tun, sondern mit der Frage, wie ich konkret Politik umsetze. Dass Menschen ihre Kinder nicht in die Schule schicken und dieser Tatsache einfach zugeschaut wird, ist ein Thema, das nichts mit Geld zu tun hat, sondern mit dem Willen, die richtige Politik zu machen. ({1}) Ich sage Ihnen: Das darf nicht zugelassen werden. Kinder, die nicht in die Schule gehen, haben keine Lebensperspektive. Wenn Sie dafür keine Verantwortung tragen wollen, dann frage ich mich, warum Sie überhaupt in Berlin regieren. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den zweiten Tag hören wir sehr intensiv den Reden aus der Koalition zu. Ich werde einen Eindruck nicht los: Ein bisschen klingen Ihre Reden wie eine Bitte um Vergebung. Wer genau hinschaut, der sieht doch bei den Rednern der Koalitionsfraktionen die roten Ohren. ({0}) Sie wollen so tun, als seien die ersten 100 Tage dieser Regierung so etwas wie Anfängerpech, alles nur ein Ausrutscher. Das ist das durchgehende Motto dieser Regierung. Aber seien Sie sicher: Niemand wird Ihnen das glauben. Sie werden sich das Jahr über vor dem Zorn der Bürger, den Sie hervorrufen, nicht verstecken können. ({1}) Millionen von Menschen sind in der Tat schon jetzt enttäuscht, auch viele Anhänger der Union und der FDP. Was diese schwarz-gelbe Regierung abliefert, ist nicht nur ein Fehlstart, wie ich in den ersten Tagen dieser Regierung gesagt habe, sondern - ich kann es nicht anders nennen - politisches Totalversagen. ({2}) Sie reden die Lage schön, statt den Menschen zu sagen, was ist. Wir stecken nach wie vor im tiefsten Wirtschaftseinbruch der Nachkriegszeit. Wir könnten wissen, dass uns diese Krise nach wie vor fest im Griff hat. Doch Sie machen denselben Fehler wie zu anderen Zeiten. Sie vertrauen auf die Nachrichten von den Aktienmärkten, und Sie wollen nicht wissen, dass Aktienkurse heute über die tatsächliche Lage in der Wirtschaft nichts aussagen. Das ist und bleibt trügerischer Schein. Sie klammern sich an den Schein, und Sie wollen nicht wahrhaben, dass die wahre Krise, die Krise auf dem Arbeitsmarkt, erst jetzt auf uns zukommt. Millionen von Menschen machen sich Sorgen um die Zukunft. Sie fragen, ob der Wohlstand, den wir haben und hatten, auch noch für ihre Kinder gesichert ist. Das alles sind große Fragen an eine Regierung; aber diese Regierung schwebt in den Wolken, faselt von bürgerlicher Mehrheit wie von einer messianischen Erlösung, von einer geistig-politischen Wende, als ob bis jetzt der Antichrist dieses Land im Würgegriff gehalten hätte. So kann man inszenieren, sich präsentieren, aber regieren kann man so nicht. ({3}) Mit Verlaub, was ich sehe, ist eine Regierung, die nicht regiert, die mit sich selbst beschäftigt ist, die sich ineinander verbeißt, statt sich um die wirklichen Probleme dieses Landes zu kümmern, die nichts geregelt kriegt, die sich allenfalls am Sonntagabend in der Kneipe gut versteht. Deshalb kann ich verstehen, dass einer der Kommentatoren zu Ihren Treffen sagte: Prost Mahlzeit! ({4}) Union und FDP haben bislang keinen einzigen Ansatz für ein schlüssiges Zukunftskonzept vorgelegt. Deshalb gibt es in diesem Land - mich wundert das nicht - weit und breit keine Spur von Aufbruchstimmung. Was uns Union und FDP tagtäglich bieten, das ist die ständige Wiederholung eines kleinkarierten Gezänks. Ich kann Ihnen versichern - auch wir kommen herum -: Die Menschen sind das leid. Sie haben diese Regierung nicht gewählt, um schlecht unterhalten zu werden, sondern um ordentlich regiert zu werden. Sie alle auf der Regierungsbank haben den Auftrag, zu regieren. Aber dann tun Sie das auch! Fangen Sie endlich damit an! ({5}) - Was heißt „zur Sache“? Nicht wir, sondern Sie selbst reden doch von Neustart und Krisengipfel, wie ich gelesen habe. Allerdings weiß ich eines: Einen Neustart braucht man erst, wenn man weiß, dass das, was man begonnen hat, in Trümmern liegt. Es stimmt: Das schwarz-gelbe Phantasialand, das Sie sich gebaut haben - auf der einen Seite sollen die Menschen kaum noch Steuern zahlen, und auf der anderen Seite sollen sie besser leben -, hat sich doch in Wahrheit in kurzer Zeit in Luft aufgelöst; die Leute spüren das. Wer Deutschland, das größte Land in Europa, ernsthaft regieren will, der muss mehr bieten als solche Luftschlösser. Das sage ich insbesondere der FDP. Frau Bundeskanzlerin, da haben Sie recht: Niemand kann auf Dauer gegen die Realität regieren. Sie haben heute Morgen gesagt: Macht die Augen auf vor dieser Realität! Das ist aber nichts, was an dieses Parlament oder gar an die Oppositionsfraktionen adressiert werden sollte. Um das zu sagen, brauchen Sie nicht den Deutschen Bundestag, Kameras und Mikrofone. Das müssen Sie der FDP sagen, und dafür haben Sie das Kabinett. Nutzen Sie diese Möglichkeit! ({6}) Herr Vizekanzler, was die Realität angeht, nützen am Ende keine markigen Sprüche. Wir bitten herzlich darum, Herr Westerwelle: Verschonen Sie uns mit all diesen Ankündigungen von der geistig-politischen Wende! ({7}) Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner? Wir wären ja schon froh über die Anwendung der Grundrechenarten; aber noch nicht einmal das funktioniert. ({8}) Sie wollen Steuersenkungen auf Pump, mal 15, mal 20, mal 24 Milliarden Euro; genau wissen wir es noch nicht. Sie wollen das, obwohl Sie wissen, dass kein Geld in der Kasse ist - mehr als 300 Milliarden Euro werden bis zum Jahr 2012 fehlen -, und obwohl Sie wissen, dass nach den Umfragen die meisten Menschen in Deutschland das nicht für vernünftig halten und sagen: Guido, lass das sein! - Sogar die Mehrheit der FDP-Wähler ist dieser Meinung. Bisher, Herr Westerwelle, Frau Merkel, haben Sie mit der falschen Vorstellung mancher in diesem Land ganz gut gelebt, Schwarz-Gelb verstehe mehr von Finanzen und Wirtschaft als andere. Das glaubt Ihnen nach den ersten 100 Tagen im Amt in Deutschland niemand mehr, und das zu Recht. ({9}) Sie haben in den ersten 100 Tagen gezeigt: Sie verschleudern das Geld, sodass es hinterher an allen Ecken und Enden fehlt. Schon jetzt ist absehbar, dass die Länder arm gemacht werden. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin - sie gehört bekanntlich nicht der SPD an - hat gesagt: Die Gemeinden werden in den Ruin geführt. Nie hat eine Regierung den finanz- und wirtschaftspolitischen Vertrauensvorschuss, mit dem Sie vor 100 Tagen gestartet sind, so schnell verspielt wie diese. ({10}) Die Opposition könnte sich darüber freuen; aber das ist ein Drama für unser Land. Deshalb freut uns das nicht. Aber wir werden Sie mit diesem Thema treiben, das ganze Jahr hindurch. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. ({11}) Dieses Jahr machen Bund, Länder und Gemeinden - Sie wissen das, Herr Schäuble, auch wenn Sie es gestern nicht berichtet haben ({12}) alles in allem 145 Milliarden Euro neue Schulden. Herr Schäuble, mit jedem Euro in Ihrem Haushalt machen Sie 30 Cent Schulden, die obendrauf kommen. 30 Prozent Ihres Haushaltes sind schuldenfinanziert. Das ist die Lage. Schlimm genug, könnte man sagen. Zum Teil, aber eben nur zum Teil, ist das Folge der Krise. Schlimm ist jedoch: Sie machen das Problem nicht kleiner, sondern Sie machen es größer, indem Sie weitere Steuersenkungen auf Pump machen und damit weitere Schulden obendrauf packen, indem Sie eine Kopfpauschale einführen wollen - das ist ja der Vorschlag von Herrn Rösler -, die anschließend notwendigerweise einen Sozialausgleich nach sich zieht, der 35 Milliarden Euro zusätzlich kostet. Sie, Herr Kauder, haben gesagt, die SPD sei nicht bei Verstand. Ich sage Ihnen: Wenn Sie den Leuten erzählen, dass das alles möglich ist, sind Sie nicht ganz bei Trost. ({13}) Das Stück, das jetzt gespielt wird - ich wage vorauszusagen: genau bis zur Landtagswahl in NRW -, hat den Titel: Im Himmel ist Jahrmarkt. Danach aber wird die Bühne umdekoriert. Dann kommt ein anderes Stück. Das Stück hat den Titel: Die Kassen sind leer. Herr Schäuble, wir haben in der Regierung zusammengearbeitet. Ich schätze Sie und Ihre Arbeit. Sie haben über 40 Jahre in der deutschen Politik zugebracht. Sie haben sich einen Ruf erarbeitet. Deshalb frage ich Sie: Warum machen Sie dieses Theater mit? ({14}) Sagen doch wenigstens Sie die Wahrheit, nämlich dass es so nicht geht, und sagen Sie das jetzt und nicht erst im Juni dieses Jahres. Darauf kommt es an. Frau Merkel und Herr Westerwelle, Sie versprechen jetzt einen Neustart. Ich frage mich: Wie soll das eigentlich gehen? Einen Neustart kann es doch nur geben, wenn man erkannt hat, warum man gegen die Wand gefahren ist. Einen Neustart kann es nur geben, wenn man erkannt hat, dass die Richtung, die man eingeschlagen hat, grundfalsch war. Ein Neustart kann doch nur funktionieren, wenn man auch die richtigen Leute dazu hat. Genau das unterscheidet aber diese Koalition von der vorherigen. Vor gut einem Jahr hatten Sie, Frau Merkel, einen Peer Steinbrück, der Ihnen ein Konzept für die Bankensanierung auf den Tisch gelegt hat. ({15}) - Dazu komme ich noch, Herr Trittin. Geduld, Geduld! Vor einem Jahr hatten Sie noch einen Arbeitsminister Olaf Scholz, der Ihnen Konzepte für wirksame arbeitsmarktpolitische Instrumente auf den Tisch gelegt hat, ({16}) die dafür gesorgt haben, dass die Krise bei uns keine so tiefen Spuren hinterlassen hat wie in den europäischen Nachbarländern. ({17}) Ihnen fehlen nun solche Leistungsträger im Kabinett, Frau Merkel, die Vorschläge entwickeln, wie Konjunktur und Wachstum durch Innovation - genau das ist notwendig - gestärkt werden können. Ich sage Ihnen: Die Gefahren der Krise sind nicht gebannt, aber diesmal sitzt Frau Merkel hier im Bundestag mit leeren Händen, ({18}) mit Achselzucken, ohne Idee, ohne Plan. Das ist der Unterschied zu damals, den die Leute sehr wohl wahrnehmen. Sie merken auch, dass diese Regierung nichts zu bieten hat. ({19}) Aber dass das so ist, ist aus meiner Sicht kein Zufall; dahinter steckt ein bisschen mehr. ({20}) Das hat Gründe, die in der Architektur und in dem Wesen der jetzigen Koalition liegen. Beides lässt sich - da bin ich ganz sicher - nicht ohne weiteres durch bloße Ankündigungen verändern. All das kann man auch nicht - darauf haben andere schon hingewiesen - mit Prosecco und Tatar zukleistern. ({21}) Hier wird mit einer FDP regiert, die immer noch unter Realitätsschock steht, die die Wirklichkeit nicht wahrhaben will, die trotz der tiefsten Krise seit 60 Jahren, seit Beginn der Nachkriegszeit, immer noch daran glaubt, dass die Politik gegen die Krise bereits in ihrem Parteiprogramm aufgeschrieben sei. Ich habe mir das Parteiprogramm der FDP angesehen. Dort steht nichts dazu. Man vertraut ein bisschen auf Angebot und Nachfrage. Hier ein Bonbon für die Hotelbesitzer, da ein Zuckerstück für die Unternehmenserben. Dann kommen die Apotheker dran und schließlich noch ein paar andere Freunde. - So funktioniert Regieren nicht. Wer gut regieren will, der muss das ganze Volk im Blick haben und darf nicht nur einzelne Klientelgruppen bedienen. ({22}) Noch nie in der Nachkriegsgeschichte, nach meiner Erinnerung jedenfalls, hat eine Bundesregierung sich so offensichtlich in den Dienst von Lobbyinteressen gestellt, wie das jetzt der Fall ist. ({23}) - Nein. Wir haben von Ihnen etwas übernommen, was damals zu Recht Bimbes-Politik und Bimbes-Republik genannt wurde. Schützen Sie sich selbst davor, eine solche Situation erneut herbeizuführen! Das hat Ihnen geschadet, und es hat dem Land geschadet. ({24}) - Zur CSU komme ich noch. ({25}) Wir haben gestern über die Spende aus der Familie von Finck, die Mövenpick-Spende, gestritten, und viele haben sich verteidigt und gesagt, das sei doch alles in Ordnung gewesen. Die FDP hat gesagt, das sei keine Dankeschön-Spende; denn sie sei schon vorher bezahlt worden. ({26}) Aber das macht doch die Sache nicht besser. Was wollen Sie damit eigentlich sagen? War das sozusagen Vorkasse? ({27}) Wenn Sie so Politik machen, dann wird - das kann ich Ihnen garantieren - die Frage gestellt werden: Sind wir nach 100 Tagen dieser Regierung schon wieder in der Bimbes-Republik? Mein dringender Rat und meine Empfehlung, damit nicht wir alle durch diese Spendenpraxis mit geschädigt werden, ist: Vermeiden Sie auf jeden Fall den Eindruck, dass Sie dahin zurückkehren wollen! Vermeiden Sie den Eindruck, dass durch Spendeneinkommen auf die Gesetzgebung Einfluss genommen wird! Am besten wäre es, Sie würden dieses Geld schnellstmöglich auf eines der vielen Konten von Herrn von Finck zurücküberweisen. Aber das Mindeste ist, dass das Hotelkettenbegünstigungsgesetz schnellstmöglich wieder aufgehoben wird. Sie werden Gelegenheit bekommen, darüber abzustimmen. Das ist der einzige Ausweg. Nutzen Sie ihn! ({28}) - Ja, die habe ich gefragt. Da können Sie sicher sein. Deshalb trete ich hier so selbstbewusst auf. ({29}) Ich will dazu gar nicht mehr sagen, weil die Spende bereits im Mittelpunkt vieler Reden gestern und heute gestanden hat. Ich habe mir aber folgende Frage gestellt: Ist das eigentlich das einzige Vorkommnis, das den Vorwurf von Klientelpolitik in Ihre Richtung rechtfertigt? Aus meiner Sicht jedenfalls ist genauso schlimm, dass in kurzer Zeit, innerhalb von wenigen Tagen, an vielen Stellen Cheflobbyisten aus deutschen Verbänden und deutschen Unternehmen in Spitzenpositionen der Ministerien gerückt sind. ({30}) Ich weiß nicht, ob Herr Röttgen da ist; ich sehe ihn im Augenblick nicht. Aber aufgrund meiner Beschäftigung mit Energiepolitik in der Vergangenheit weiß ich, dass es in Deutschland eine ganze Reihe von unabhängigen Energieexperten gibt. Keinen von diesen hat Herr Röttgen in sein Ministerium geholt. Stattdessen hat er jemanden geholt, der seit Jahrzehnten aufseiten der Industrie für die Atomkraft gestritten hat. Herr Hennenhöfer soll jetzt als Spitzenbeamter im Bundesumweltministerium die Grundzüge der deutschen Energiepolitik bestimmen. Herr Röttgen, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Wenn es noch eines Beispiels bedurft hätte: Das ist ein Musterbeispiel erfolgreichen Lobbyismus in dieser Bundesregierung. Deshalb sage ich: Herr Röttgen, Sie werden sich am Ende Ihr Energiekonzept von der deutschen Atomlobby diktieren lassen. Was dem Ganzen noch die Krone aufsetzt - ich habe es ja nicht fassen können -, ist die Tatsache, dass dieser Spitzenbeamte, den Sie sich eingekauft haben, in den zentralen Genehmigungsentscheidungen, die demnächst in Ihrem Hause anfallen werden, aus Rechtsgründen wegen Befangenheit nicht einmal mitwirken darf. Das ist ein Skandal. Herr Röttgen muss der deutschen Öffentlichkeit erklären, welchen Sinn diese Personalentscheidung macht. ({31}) Herr Rösler, was die grundsätzliche Aufgabe des Gesundheitsministers angeht, nämlich dafür zu sorgen, dass jeder in diesem Lande einen Anspruch auf bestmögliche Versorgung hat, sind wir nicht im Streit. Es gibt da aber ein paar Unterschiede, die auch mit dem unterschiedlichen Einkommen zusammenhängen. Diese drücken sich in der Struktur der Versicherten aus. Wenn Sie wirklich den Anspruch haben, bestmögliche Versorgung für jeden zu garantieren, dann geht das nur, wenn Sie die gesetzlich Krankenversicherten gegen die Interessen von Lobbyisten verteidigen. Dass das nicht einfach ist, können Sie von Ulla Schmidt erfahren. ({32}) - Sie werden sich noch an meine Worte erinnern. Man braucht ein breites Kreuz, um den täglichen Druck von den Akteuren im Gesundheitswesen auszuhalten. ({33}) Sie probieren noch nicht einmal, wie viel Druck Sie aushalten, sondern holen sich gleich den Cheflobbyisten der privaten Krankenversicherungen in die Grundsatzabteilung des Gesundheitsministeriums. Das ist nicht verboten, werden Sie sagen. Aber in diesem Lande gibt es 70 Millionen gesetzlich Versicherte. Sie verstehen nicht, dass die Mehrheit der Menschen in diesem Lande Angst haben, weil sie befürchten, dass ihre Interessen durch Ihre Personalentscheidung untergebuttert werden. ({34}) Herr Rösler, Sie nähren mit jeder öffentlichen Äußerung diese Befürchtung der breiten Masse der Bevölkerung. Deshalb sage ich Ihnen: Mit Ihrer Gesundheitspolitik werden Sie in der eigenen Koalition noch viel Spaß bekommen. Den wünsche ich Ihnen. Ich wünsche aber den Versicherten in diesem Lande, dass sie die Gesundheitsversorgung behalten, die sie unter guter sozialdemokratischer Führung der letzten Jahre gewohnt sind. ({35}) Ob die CSU Herrn Baron von Finck auch zu Dank verpflichtet ist, wissen wir noch nicht ganz genau. ({36}) Wahr ist jedenfalls, dass Herr Seehofer, wie wir gehört haben, ebenfalls schon über Jahre für die Interessen der Hotelbesitzer stramm gefochten hat. Seehofer ist derjenige, der bis vor kurzem noch gesagt hat, er sei Chef der letzten wirklichen Volkspartei in Deutschland. ({37}) - Herr Schröder hat sich da nie beworben, wenn ich das richtig weiß. ({38}) Aber dann verstehe ich das Gezappel nicht, das ich im Augenblick in der CSU sehe. Als wir noch in der Großen Koalition waren, habe ich immer gedacht, das habe etwas mit den Sozis in der Koalition zu tun, weil die CSU mit denen besondere Schwierigkeiten habe. Aber das Gezappel geht ja weiter. Heute hü, morgen hott und übermorgen eine ganz andere Meinung, so die tägliche CSU-Taktik ohne irgendein erkennbares politisches Ziel. Wenn Sie mich fragen, dann ist die CSU auf der Suche nach sich selbst statt auf der Suche nach Lösungen für dieses Land. Wenn mich nicht alles täuscht, dann könnte, wenn ich nach Bayern schaue, Herr Seehofer der Abwickler der ehemals stolzen bayerischen Staatspartei werden. Herr Seehofer: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, würde Gorbatschow sagen. ({39}) Ich sage das nicht ohne Not. Ich gebe Ihnen jetzt eine Begründung dafür. Was die CSU-Politik in den letzten Jahren in Bayern mit Blick auf das große Börsenkasino der Bayerischen Landesbank, bei dem 14 Milliarden Euro verzockt worden sind, angeht: Die CSU hat in Bayern - das nehmen Sie hoffentlich ernst - ihre finanz- und wirtschaftspolitische Kompetenz auf Dauer verspielt. ({40}) Ich war am Dreikönigstag im Berchtesgadener Land. Herr Ramsauer, das ist ganz sicher ein wunderschöner Wahlkreis; das will ich nicht bestreiten. ({41}) - Ja, auch das. - Ich habe nach der Veranstaltung mit vielen Leuten, auch mit CSU-Leuten, gesprochen. Sie sagen: Früher waren wir wirklich stolz auf unsere CSU in Bayern. Wir waren stolz, weil wir es besser konnten, sagen sie. ({42}) Dieser Stolz ist weg, sagen einige. Und: Ich schäme mich dafür, was die bei der Landesbank mit unserem Geld gemacht haben. Sie haben es einfach verzockt; weg ist es. Das Geld, das die kleinen Leute in Bayern erarbeitet haben, ist bei der Bayerischen Landesbank verbrannt. ({43}) Ich sage Ihnen voraus: Diese Erbsünde in Bayern werden Sie so schnell nicht wieder los. Das ist bitter für die CSU in Bayern. Aufgrund der Reden hier sage ich an die CSU gerichtet: Seien Sie zwischendurch einfach mal etwas weniger von oben herab, und zeigen Sie etwas mehr Demut! Auch Sie, meine Damen und Herren von der CSU, sind in der Realität Deutschlands angekommen. ({44}) Nun tut die Bundeskanzlerin Frau Merkel so, als hätte sie mit dem ganzen Gezeter der Männer links und rechts um sich herum nichts zu tun. ({45}) Einige sagen sogar: Das ist geschickt. ({46}) Nur, wahr ist es nicht. ({47}) Frau Merkel, Sie haben Ihren aktiven Anteil an dem aktuellen Desaster in der Koalition. Sie schauen nämlich dem Treiben zwischen FDP auf der einen Seite und CSU auf der anderen Seite einfach teilnahmslos zu. Sie halten sich einerseits heraus und erklären das andererseits noch zur Methode. Sie spielen Leute von der FDP und der CSU ganz geschickt gegeneinander aus, schlagen sich aber selbst in die Büsche. Beispiele dafür haben wir in den letzten Tagen erlebt. ({48}) Die Steuersenkung ist ein Beispiel. Zur Steuersenkung haben Sie lange nicht das Geringste gesagt. Vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen wollen Sie nicht zugeben, dass das alles leere Versprechungen sind. Darum musste erst einmal Herr Schäuble ins Rennen. ({49}) Er musste erst einmal sagen: Das geht so nicht; es ist kein Geld dafür da. - Als er dann einmal öffentlich gesagt hatte, was notwendig zu sagen war, sind Sie ihm in den Rücken gefallen ({50}) und haben in einem Interview im Handelsblatt öffentlich erklärt - das haben dann einige zu einem Machtwort hochstilisiert -: Nein, Herr Schäuble, die FDP hat recht. - Es soll also doch Steuersenkungen in breitem Umfang geben, obwohl kein Geld da ist. Es soll möglicherweise doch eine Reduzierung des Spitzensteuersatzes um 10 Prozent geben, und das alles trotz leerer Kassen. Anschließend haben Sie veranlasst, dass der Finanzminister diese Pirouette wieder mitdreht. Meine Damen und Herren, das ist keine seriöse Politik. Ich bin mir sicher: Das wird nicht belohnt werden, auch nicht bei der wichtigen Wahl, die in diesem Jahr stattfindet. ({51}) Für das Heraushalten und Ausspielen von Teilen der Koalition gegeneinander gibt es noch ein paar andere Beispiele, unter anderem die Causa Steinbach. Es geht um die Frage, ob Frau Steinbach dem Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ angehören darf und soll. Ich vermute, Sie haben da eine Meinung. Ich vermute, Sie wissen, dass Frau Steinbach diesem Stiftungsrat nicht angehören wird. Aber statt das zu sagen, lassen Sie die FDP das Geschäft erledigen, so wie es früher in der Großen Koalition durch die SPD erledigt worden ist. Sie fürchten sich davor, den Vertriebenenverbänden klipp und klar die Wahrheit zu sagen. Würde Frau Steinbach dem Stiftungsrat angehören, wäre das eine Katastrophe für das deutsch-polnische Verhältnis. Aber statt das selbst klar zu sagen, müssen das bei Ihnen immer die jeweiligen Koalitionspartner tun. Das ist nicht fair. Das ist nicht offen. Das ist keine Leitentscheidung der Kanzlerin. ({52}) Ich nenne als weiteres Beispiel Europa und die Türkei. Im Koalitionsvertrag steht dazu auch nichts Genaues, es wiederholen sich allenfalls die Formulierungen aus früheren Koalitionsverträgen. Herr Westerwelle sagt bei seinem Türkeibesuch das eine, die CSU täglich das andere. Von der Kanzlerin hören wir kein klares Wort dazu, wie die Regierung mit dieser Frage umgehen will. Frau Merkel, in Ihrem Kabinett darf nicht nur jeder machen, was er will. Sie wollen sogar, dass jeder macht, was er will. Das mag für Sie persönlich, vielleicht sogar im Augenblick für die Umfragewerte das Richtige sein - es ist jedenfalls nicht negativ -, es ist aber schlecht für unser Land. Das ist Ihr Anteil am Schlamassel dieser Koalition und an dem Drama, das sich in Deutschland abspielt. ({53}) In einem haben Sie recht: In diesem Land ist Erneuerung notwendig. Neues Denken ist gefragt, und zwar dringend. Ja, Frau Merkel, aber was tun Sie? Sie tun genau das Gegenteil. Sie reichen altem Denken, ich sage sogar uraltem Denken die Hand. Sie reichen die Hand einer Politik, die schon bei Frau Thatcher und Herrn Reagan vor Jahrzehnten gescheitert ist. Müssen wir in Deutschland denn auch noch die Erfahrung machen, dass die Verarmung des Staates keine Garantie für Wachstum ist? Wenn Sie so weitermachen, dann befürchte ich, dass das der Fall sein wird. ({54}) Dabei liegen die Themen für die Erneuerung dieses Landes auf der Hand: grüne Revolution, die älter werdende Gesellschaft, bessere Bildung, bessere Integration. Aber was hören wir heute Morgen in Ihrer Rede? Wir hören wieder nur Ankündigungen, wieder nur Überschriften. Wo ist das Konzept dieser Regierung für eine Modernisierung der Wirtschaft? Wo ist das Konzept dieser Regierung für die Arbeit von morgen? Gar nichts höre ich dazu! Wo ist die Weichenstellung für Bildung, Betreuung und Integration? Stattdessen - Sie haben eben zugehört - gibt es wieder die Ankündigung von neuen Gipfeln: wieder die Ankündigung eines Bildungsgipfels, wieder die Ankündigung eines Integrationsgipfels. Ich frage Sie: Was sollen all diese neuen Gipfel, wenn Länder und Gemeinden keine Kohle mehr in ihrer Kasse haben, um daraus Politik zu finanzieren? Wir wollen Taten sehen. Wir wollen Ergebnisse sehen. Die haben Sie nicht. Deshalb ist Ihre Politik folgenlos und schädlich für unser Land. ({55}) Wer Erneuerung will, der braucht Geld. Deshalb sage ich: Stecken Sie das Geld, das noch zur Verfügung steht - es ist wenig genug -, in Innovation, Forschung und Bildung. Dort wird es dringend gebraucht. Stattdessen verplempern Sie mal eben knapp 10 Milliarden Euro mit dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Sie hätten damit die Bildungshaushalte des Bundes verdoppeln können. Wenn jetzt noch 20 Milliarden Euro Steuersenkung draufkommen, ({56}) dann könnten Sie mit dem Geld, das Sie mit der Gießkanne übers Land verstreuen, Ganztagsschulen bauen, Studienplätze schaffen, Forscher einstellen, Labors ausstatten und die Zahl der Patente nach oben treiben. ({57}) All das wäre möglich, wenn Sie nicht an dieser blödsinnigen, an dieser falschen Politik festhielten. ({58}) Mit dem, was Sie gegenwärtig auf den Weg bringen, plündern Sie nicht nur die öffentlichen Kassen des Bundes, der Länder und der Gemeinden, sondern Sie schwächen auch das, was gerade in der gegenwärtigen Situation in unserem Land so wichtig ist: die soziale Sicherheit. Wir ahnen und wissen im Grunde genau - einige aus der Koalition sagen es in Interviews ja auch schon öffentlich -: Nach der NRW-Wahl wird der Rotstift angesetzt, natürlich bei den Schwachen und bei den Normalverdienern. Wir hören schon die zynischen Begleitkommentare von Roland Koch und anderen: Treibt die faulen Säcke endlich einmal zur Arbeit! Der FDPGeneralsekretär bezeichnet den Staat als schwächlichen Nichtsnutz. Das sagt jemand, der seinen Lebensunterhalt jahrelang aus öffentlichen Kassen bestritten hat. Ich sage Ihnen: Wer so borniert, wer so verächtlich über Arbeitslose und den notwendigen Schutz der Menschen daherredet, wer nicht lernt, dass wir nicht einfach zu den vermeintlich sonnigen Zeiten vor der Krise zurückkehren können, der kann dieses Land nicht erneuern. Deshalb werden Sie scheitern, meine Damen und Herren von der Bundesregierung. ({59}) Diese Bundesregierung ist zu der Erneuerung, die sie sich selbst vorgenommen hat, nicht in der Lage. Schwarz-Gelb kann das nicht. Schauen Sie auf Frau Merkel. Sie sitzt mit leeren Händen auf dem Kanzlerstuhl. ({60}) - Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie zu den „leeren Händen“ klatschen. ({61}) So kann man vielleicht eine Zeit überstehen, aber Politik für die Menschen in unserem Land kann man so nicht machen. Die Quittung dafür wird in diesem Jahr kommen. Das wird für Sie eine bittere Erfahrung sein. Wenn die Menschen erkennen, dass sie von dieser Regierung getäuscht worden sind, wenn sie erkennen, dass es nicht mehr Netto vom Brutto, sondern weniger Netto vom Brutto geben wird, wenn sie erkennen, dass in den Städten und Gemeinden überall gestrichen wird, dass die Gebühren für Kindergärten, Wasser und Abfall erhöht werden, dass, was in einigen Städten Nordrhein-Westfalens schon jetzt erkennbar ist, Stadtteilbüchereien, Theater und Schwimmbäder geschlossen werden, wenn die Menschen erkennen - das hat Frau Künast eben richtig gesagt -, dass sie trotz einer Kindergelderhöhung nicht mehr, sondern weniger Geld im Portemonnaie haben, dann wird das Vertrauen in diese Regierung wegbrechen. Ich sage Ihnen: Das, was Sie mit den Menschen treiben, insbesondere vor den Wahlen, ist ein falsches Spiel. Das beschädigt das Vertrauen in diese Regierung; da bin ich mir sicher. Schlimmer aber ist, dass das auch das Vertrauen in die politischen Institutionen beschädigt. ({62}) Darum ist das, was Sie in den ersten 100 Tagen Ihrer Regierungszeit aufgeführt haben, kein schlechtes Lustspiel, sondern bitterer Ernst. Herr Schäuble, ich habe Ihnen gestern gut zugehört. Meine herzliche Bitte ist, dass Sie über einen Satz, den Sie gestern gesagt haben, noch einmal ganz ernsthaft nachdenken. Dieser Satz ist in Ihrer Rede im Zusam1284 menhang mit der Diskussion über die Parteispenden von Finck gefallen. Sie haben in der Debatte gestern versucht, Kritik an Ihrer Klientelpolitik unter Verweis auf Weimar verstummen zu lassen. Wer sie kritisiert - ich darf Sie einmal zitieren -, der stehe in den Traditionen der „Radikalen von rechts und links“. So haben Sie das gestern genannt. Herr Schäuble, überlegen Sie noch einmal, ob das wirklich ein Satz ist, den Sie an die Adresse der Sozialdemokraten richten wollen. Mit Blick auf die Geschichte dieser Partei kann das kein ernstgemeinter Satz sein. ({63})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Steinmeier, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sofort fertig. - Ich halte dem entgegen: Demokratie gefährdet nicht der, der Falsches falsch nennt. Die wirkliche Gefahr für die Demokratie ist eine Politik, die sich richtiger Einsicht verweigert, ({0}) die das tut, was nur Einzelnen nützt, die das Gemeinwohl aber vernachlässigt und die Kritik daran Majestätsbeleidigung nennt. Das darf nicht sein. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Steinmeier, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Gefahr für unser Land sind nicht die Kritiker, das sind Sie selbst. Machen Sie Schluss mit der Klientelpolitik! Machen Sie Schluss mit der Politik sozialer Spaltung! Kehren Sie auf den Weg der Verantwortung zurück! Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man konnte nach dieser Rede wirklich nicht davon ausgehen, dass so lange geklatscht wird. ({0}) Diese Rede, Herr Steinmeier, war lang, laut und enttäuschend. ({1}) Diese Rhetorik, mit der man versucht, ein blutleeres Sammelsurium und Peinlichkeiten zu überspielen, liegt Ihnen einfach nicht. ({2}) Wissen Sie, letztes Jahr waren Sie eigentlich noch ganz vernünftig. ({3}) Mit „geistiger Wende“ haben wir nicht gemeint, dass Sie sich jetzt in geistiges Unterholz begeben sollen. ({4}) Nein, mit „geistiger Wende“ haben wir gemeint, dass wir mehr Freiheit in diesem Land brauchen. Lieber Herr Steinmeier, Ihre Angriffe auf die Bundesregierung waren ungerechtfertigt ({5}) und sie waren billig. ({6}) Sie sollten sich nicht auf dieses Niveau begeben. Vielleicht hätten Sie, wenn es um die Verquickung von Politik und wirtschaftlichen Interessen geht, auch über Ihren Freund Gerhard Schröder und Gazprom reden können. ({7}) Aber auf dieses Niveau möchte auch ich mich nicht begeben. Ich beglückwünsche Sie, dass Sie bei Ihrem Urlaub in Bayern offensichtlich noch einige Sozis getroffen haben. ({8}) Es gibt nicht mehr viele davon. Bei den Umfragen liegt Ihre Partei, wenn ich das sagen darf, bei 17 Prozent. In der letzten Woche haben auf die Frage nach der Wirtschaftskompetenz der CSU 64 Prozent der bayerischen Bevölkerung gesagt: Die CSU hat die Wirtschaftskompetenz. Das liegt nach allen Untersuchungen daran, dass Bayern die Region mit der größten wirtschaftlichen Freiheit in Europa ist. ({9}) Deswegen gibt es auch die meisten Investitionen in diesem Land. Darauf sind wir stolz. ({10}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({11}) Das ist die Kompetenz, auf die die CSU stolz sein kann. ({12}) Die christlich-liberale Koalition legt ihren ersten Haushalt vor; aber es ist nicht der erste Haushalt in einer Krise, sondern bereits der zweite. Den letzten, lieber Herr Steinmeier, haben wir zusammen mit Ihnen verabschiedet. Wir haben festgestellt, dass die Wirtschaftskrise kein Land in der Welt verschont, sondern überall zuschlägt. Es gibt viele Länder, die am Rand des Erträglichen, am Rand des Staatsbankrotts angelangt sind, einige mit Massenarbeitslosigkeit. Unser Land ist bisher relativ verschont geblieben. Das liegt daran, dass Deutschland, dass die deutsche Volkswirtschaft eine hervorragende Substanz hat. ({13}) Es liegt auch daran, dass vonseiten der deutschen Politik, auch hier im Hohen Hause, rechtzeitig, schnell und richtig reagiert wurde. Wir haben in der Großen Koalition zusammen - vielleicht wollen Sie sich nicht mehr daran erinnern; aber ich erinnere Sie daran - öffentliche und private Investitionen angestoßen. Ich denke nur an die Wärmesanierung von Gebäuden. Wir haben mit der Kurzarbeit eine Brücke von der Krise hinüber in die Normalzeiten gebaut. Hoffen wir, dass diese Brücke lang genug sein wird. Wir haben gemeinsam, Sie von der SPD und wir, im letzten Jahr Steuerentlastungen in Höhe von 14, 15 Milliarden Euro beschlossen, die zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft treten. Ich verstehe nicht, wieso Sie sich jetzt von diesen Beschlüssen, die Sie selbst mitgetragen bzw. vorangetrieben haben, verabschieden wollen. Weil sich diese Krise im Haushalt widerspiegelt, hat der ehemalige SPD-Bundesfinanzminister im Mai letzten Jahres einen Haushaltsentwurf für 2010 vorgelegt, in dem eine Erhöhung der Neuverschuldung um 86 Milliarden Euro vorgesehen war; ({14}) das ist die Wahrheit. Das ist das Spiegelbild der Krise. Seit drei Monaten regiert eine christlich-liberale Koalition, ({15}) die die Politik der Krisenbewältigung des letzten Jahres weiterentwickelt hat, konsequent und logisch. ({16}) Erstens stocken wir den Umfang der Steuerentlastungen, die wir schon im letzten Jahr beschlossen haben, um weitere 8,5 Milliarden Euro auf, ({17}) und zwar in allererster Linie - das ist der größte Brocken - für Familien. Dazu stehen wir, weil es richtig ist. ({18}) - Herr Poß, der größte Teil der im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vorgesehenen Steuersenkungen geht zugunsten der Familien, ({19}) der kleinere Teil dient der Entlastung der Unternehmen. Haben Sie von der SPD etwa vergessen, dass die Unternehmen die Grundlage für Arbeitsplätze in diesem Land sind ({20}) und dass jede Erleichterung für die Unternehmen auch eine Verbesserung im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze ist? ({21}) Insofern ist auch diese zweite Komponente, wie ich glaube, von großer Bedeutung. Trotz dieser neuen Impulse - wir stellen übrigens 750 Millionen Euro zusätzlich für Forschung und Bildung bereit - sieht unser Haushaltsentwurf eine geringere Neuverschuldung als der damalige Entwurf des SPD-Bundesfinanzministers vor. ({22}) Das zeigt, dass wir die Dinge solide angegangen sind. Das Zweite ist - auch darauf möchte ich hinweisen -: Es gibt in diesem Lande nicht nur einen Schutzschirm für Banken, sondern auch einen Schutzschirm für die Arbeitnehmer. Auch dies haben wir zusammen auf den Weg gebracht. In der jetzigen Krise ist es nämlich richtig, dafür zu sorgen, dass die Lohnnebenkosten nicht steigen, weil dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden könnten, ({23}) was vielleicht zur Folge hätte, dass Kurzarbeit in Arbeitslosigkeit umschlägt. Wir haben bei den Mitteln für die Bundesanstalt für Arbeit 16 Milliarden Euro draufgelegt, die Mittel für die gesetzliche Krankenversicherung um 4 Milliarden Euro erhöht und das Darlehen - ein Darlehen führt irgendwann zwangläufig dazu, dass die Beitragszahler dafür aufkommen müssen - in einen verlore1286 Dr. Hans-Peter Friedrich ({24}) nen Bundeszuschuss umgewandelt. Auch das ist, wie ich glaube, ein wichtiger Gesichtspunkt. Der Verlauf dieses Jahres und der weitere Verlauf der Wirtschaftskrise sind unsicher; darauf wurde zu Recht hingewiesen. Meine Damen und Herren, die Frau Bundeskanzlerin hat heute gesagt: Der Wirtschaftseinbruch in Deutschland betrug 5 Prozent. - Die Produktion in Deutschland ist also um 5 Prozent eingebrochen. Ich möchte zu Vergleichszwecken daran erinnern, dass wir beim sogenannten Ölpreisschock in den 70er-Jahren einen Produktionsrückgang um 0,9 Prozent zu verzeichnen hatten. Der damalige Rückgang hat zu einer enorm hohen Arbeitslosigkeit geführt. Insofern kann man im Vergleich zu damals ermessen, was ein Rückgang um 5 Prozent bedeutet und wie gut es uns gelungen ist, die Arbeitslosigkeit im Zaum zu halten und sie nicht ausufern zu lassen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Friedrich, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil zulassen?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Keine Zwischenfragen, danke. ({0}) Gefahren lauern allerdings auch in manchen unserer Partnerländer, die finanziell und wirtschaftlich zum Teil schwach auf der Brust sind; auch hier müssen wir uns auf vieles einstellen. Wir wissen nicht, was dieses Jahr bringt. Aber die christlich-liberale Koalition ist auf alle Eventualitäten vorbereitet. Unsere Antwort auf die Krise und auf die Herausforderungen ist die soziale Marktwirtschaft. Das unterscheidet uns von der rot-rot-grünen Opposition. ({1}) Wir setzen auf die Freiheit der Marktwirtschaft. Das wichtigste Kapital unseres Landes sind das Selbstvertrauen der Menschen, ihr Optimismus, ihre Leistungsbereitschaft und ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. All dies sind Voraussetzungen dafür, dass der Sozialstaat, den wir alle bewahren und verbessern wollen, erhalten bleibt. Die Generalsekretärin der SPD wurde dieser Tage in einem Interview mit der Berliner Zeitung gefragt: Wo würde die SPD denn sparen? Sie hat gesagt: Sparen braucht man nicht, man muss nur die Steuern erhöhen. Sie hat die Einführung eines neuen Soli und die Erhöhung von Steuersätzen vorgeschlagen. Meine Damen und Herren, wir wissen, wie erfinderisch die Linken sind, wenn es um die Einführung neuer Steuern geht. Ich erinnere an die rot-grüne Ökosteuer, die mit dem Wohlfühlwort „Öko“ versehen wurde, aber nichts weiter war als das Abkassieren von Menschen. ({2}) Welches Etikett auch immer Sie auf eine Steuer kleben: Am Ende müssen die Menschen zahlen. Lassen Sie also das mit den Etiketten! Außerdem wissen Sie genau, dass es wahnsinnig schwer ist, Steuern, die einmal eingeführt sind, wieder abzuschaffen. ({3}) Deswegen sind wir bei solchen Vorschlägen - die von allen Seiten gemacht werden - sehr zurückhaltend. ({4}) Wir wollen, dass die Menschen fair behandelt werden, die ihr Leben lang gearbeitet haben und zu einem späten Zeitpunkt ihres Arbeitslebens unverschuldet arbeitslos geworden sind. Es muss ein Unterschied gemacht werden zwischen denen, die jahrzehntelang gearbeitet haben und dann unverschuldet in Hartz IV geraten, und denen, die noch nie gearbeitet haben. Deswegen, aber auch, um den Leistungsgedanken zu betonen, war es uns wichtig, dass das Schonvermögen erhöht wird. Die christlich-liberale Koalition hat diesen Schritt getan. Ich glaube, dass diese Entscheidung richtig ist. ({5}) Wir werden bei unseren Überlegungen weiter darauf achten, dass die Kommunen - das ist ein Anliegen, das ich als Vertreter der CSU besonders hervorheben will; denn wir sind tief verwurzelt in den Kommunen - auch in der Zukunft ihre Aufgaben erfüllen können. Wir werden auch vonseiten der Bundespolitik darauf achten, dass die Kommunen in ihrer Wirtschaftsdynamik, in ihrer Investitionskraft weiterhin gefestigt und gestärkt werden. Das ist einer der wichtigsten Punkte, die wir uns auf die Fahne geschrieben haben. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die Wachstumsdynamik, die wir gemeinsam durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz erhöht haben, auch den Kommunen zugutekommt. ({6}) Die Steuereinnahmen, die durch zusätzliches Wachstum entstehen, kommen nämlich auch bei den Kommunen an. Lassen Sie mich zum Schluss etwas zur Schuldenbremse sagen. Wir - FDP, SPD, CDU/CSU - haben die Schuldenbremse im vergangenen Jahr in Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen gemeinsam verabredet. Wir stehen zu dieser Verantwortung. Ich kann nur immer wieder sagen: Weisen wir gemeinsam alle Angriffe der Linken - sowohl derer, die sich die Linken nennen, als auch der Linken in den Reihen anderer Parteien - auf die Schuldenbremse zurück! Freibier für alle Dr. Hans-Peter Friedrich ({7}) und Schulden machen auf Teufel komm raus ist keine verantwortliche Politik. Deswegen ist die Schuldenbremse richtig. ({8}) Diese christlich-liberale Regierung hat einen klaren Auftrag: Wir werden Deutschland aus der Krise führen. Wir werden das Land fitmachen für das neue Jahrzehnt, und wir werden dafür sorgen, dass Deutschland in der Welt an der Spitze steht. Danke schön. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Heil zu einer Kurzintervention, bitte.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Friedrich, da Sie nicht den Mut gezeigt haben, eine Zwischenfrage zuzulassen, möchte ich Ihnen eine ganz einfache Frage stellen. Aus der Koalition waren unterschiedliche Äußerungen zu vernehmen, als es um die Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages ging. Ich will Ihnen hier und jetzt, in der Reaktion auf meine Kurzintervention, die Gelegenheit geben, zu Protokoll zu geben, wie sich das verhält. Können Sie - auch für die Zeit nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen - definitiv ausschließen, dass der Arbeitslosenversicherungsbeitrag in dieser Legislaturperiode über das hinaus erhöht wird, was an Erhöhung - auf 3 Prozent - zum nächsten Jahr ansteht? Ich frage danach, weil das für die Planbarkeit im Hinblick auf Personal, für wirtschaftliche Investitionen, für den Faktor Arbeit sehr wichtig ist. Meine Frage ist ganz einfach - Sie müssen nicht lang antworten -: Ja oder Nein? Wird diese Koalition, um ihre Steuergeschenke zu finanzieren, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag erhöhen und damit dafür sorgen, dass den Arbeitnehmern weniger Netto vom Brutto bleibt? Diese Frage ist offen, weil in der Koalition schon über eine Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages auf 4,5 Prozent diskutiert wird. Herr Friedrich, Ja oder Nein: Werden Sie den Beitrag auf mehr als 3 Prozent erhöhen? Sagen Sie: Read my lips! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Friedrich.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Heil, allein die Tatsache, dass Sie solche Fragen stellen, zeigt, welche Verwirrung bei Ihnen herrscht. ({0}) Wir wollen wirtschaftliche Dynamik in dieses Land bringen. Wir wollen, dass die Menschen arbeiten und Lust an der Arbeit haben. Dazu gehört, dass wir ihnen Entfaltungsmöglichkeiten dadurch bieten, dass wir ihnen nicht das ganze Geld wegnehmen, das sie verdienen, sondern ihnen mehr Netto vom Brutto lassen. Das ist unser Credo. Dass dazu natürlich auch gehört, dass wir ihnen nicht auf der einen Seite steuerliche Entlastungen geben und auf der anderen Seite die Lohnnebenkosten erhöhen, ist doch selbstverständlich. ({1}) Allein die Frage ist schon Unfug. ({2}) Natürlich ist dies eines der wichtigsten Ziele unserer Wirtschaftspolitik überhaupt. Wir verstehen Wirtschaftspolitik nicht wie andere, die Genossen der Bosse, als Klientelpolitik für die Großkonzerne. Unser Ansatz ist Wirtschaftspolitik für die mittelständischen Unternehmen, für das Handwerk, für die landwirtschaftlichen Betriebe. ({3}) Dort sind die Erhöhungen von Lohnnebenkosten schädlich, und deswegen werden wir uns einer solchen Politik der Erhöhung von Lohnnebenkosten entgegenstellen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nun hat Brigitte Zypries für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Brigitte Zypries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003870, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Der Haushalt des Beauftragten für Kultur und Medien sieht auf den ersten Blick gut aus: Es gibt keine Kürzungen in der Kultur- und Medienpolitik des Bundes. Ja, es gibt sogar eine moderate Steigerung, die aber hoffentlich nicht nur an der tarifvertraglich bedingten Erhöhung der Personalkosten liegt. Die schlechte Nachricht allerdings ist: In Wahrheit findet natürlich doch eine Kürzung bei den wichtigsten Akteuren der Kultur in unserem Lande statt, nämlich bei den Kommunen. Dies liegt nun nicht am Haushalt des BKM, sondern an den sonstigen Entscheidungen, die diese Regierungskoalition in den ersten hundert Tagen bereits umgesetzt hat. Durch das sogenannte Wachs1288 tumsbeschleunigungsgesetz werden den Kommunen mindestens 1,6 Milliarden Euro pro Jahr in den Kassen fehlen, und zwar zusätzlich zu den ohnehin schon vorhandenen Mindereinnahmen aufgrund der Wirtschaftsund Finanzkrise. Deshalb können viele Kommunen heute schon nicht mehr freiwillige Leistungen in dem Umfang anbieten, wie sie es gern täten. Gerade die freiwilligen Ausgaben prägen das Leben in der Kommune. Bibliotheken, Schwimmbäder, Theater, freie Kulturszenen, all das ist ein Stück Lebensqualität und ein Kernstück kommunaler Selbstverwaltung. Wenn Sie heute in die Feuilletons der Zeitungen sehen, finden Sie an jedem Tag Auflistungen zu den Überlegungen der Kommunen, was künftig noch bei ihnen eingespart werden kann. Diese Liste reicht von Theaterschließungen - das markanteste Beispiel ist Wuppertal über zahlreiche Einschränkungen bei den kulturellen Förderungen verschiedenster Art bis hin zur Schließung von Musikschulen. ({0}) Dazu hat Otto Schily bei seiner Amtsübernahme 1998 gesagt: Wer Musikschulen schließt, gefährdet die Innere Sicherheit. ({1}) Damit hat er exemplarisch deutlich gemacht, welche Bedeutung die Kultur für unsere Gesellschaft hat. Es geht eben nicht nur um das sogenannte Bildungsbürgertum, das sich bei den Theaterpremieren der Stadt trifft. Nein, es geht vor allen Dingen auch darum, dass man kleine, alternative Kulturangebote in der Kommune machen kann, die den Jugendlichen Alternativen zum Internet und zum Fernsehen am Nachmittag aufzeigen. ({2}) Es geht auch um Angebote, die ihnen deutlich machen, welche Bedeutung das Spielen eines Instruments haben kann. Ich denke etwa an die wunderbare Initiative „Ein Musikinstrument für jedes Kind“. Es geht auch um die freien Theaterprojekte wie das Projekt der „Atriden“ in meinem Wahlkreis, bei dem 90 Menschen aus 14 verschiedenen Nationen ein antikes Stück aufgeführt und dabei gemeinsam gelernt haben, dass dieses Zusammenspielen viel mehr als „nur“ Theaterspielen ist. All diese wichtigen Aufgaben von Kulturarbeit gehen verloren, wenn wir die Kommunen finanziell ausbluten. Es wird schwer sein, diese kulturelle Substanz wieder aufzubauen. Auch deshalb ist das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz in seinen Auswirkungen so verheerend. ({3}) Diese Überlegungen zur Kultur sind ein Grund für die SPD, sich für die Einführung eines Staatsziels Kultur in die Verfassung einzusetzen. Dazu lesen wir leider im Koalitionsvertrag nichts. ({4}) Es zeigt sich: Nicht nur in der Steuerpolitik gibt es für die Koalition nach knapp 100 Tagen im Amt ein verheerendes Zeugnis. Auch in der Kultur- und Medienpolitik ist der Start missraten. ({5}) Ich erinnere an den Fall Brender, Chefredakteur im ZDF. Herr Staatsminister, hier hätten Sie die Unabhängigkeit des Rundfunks achten und verteidigen müssen. ({6}) Ein anderes Beispiel ist das wirklich unwürdige Geschachere um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Das Verhalten des BdV und seiner Präsidentin belastet das deutsch-polnische Verhältnis erheblich. Es hat inzwischen auch die Stiftung nachhaltig geschädigt. ({7}) Wir als Sozialdemokraten sehen in diesem Haushalt einzelne Kritikpunkte in den einzelnen Titeln, die wir in den Ausschussberatungen diskutieren werden. So sind zum Beispiel im Haushalt keine Mittel für die geplante Digitalisierung der Kinos vorgesehen. Wir wollen aber, dass die kleinen Kinos unterstützt werden. Wir alle wissen: Kunst ohne Künstler geht gar nicht. Deshalb ist die Förderung von Projekten und Programmen durch die Kulturstiftung des Bundes sehr wichtig. Wir meinen, die Mittel dieser Stiftung sollten aufgestockt werden. Wir möchten gerne von Ihnen die Erklärung, dass Sie bei der Künstlersozialversicherung nicht den Weg der schwarz-gelben Landesregierung BadenWürttembergs einschlagen und diese Künstlersozialversicherung einstampfen wollen. Hier möchten wir gerne Klarheit. Ich komme zum Thema Internet. Der Vorschlag für die Einsetzung einer Enquete-Kommission ist zwar grundsätzlich gut. Wir meinen aber, dass da noch wesentliche Aspekte fehlen. Bei dieser Enquete-Kommission fehlt bisher zum Beispiel völlig die derzeitige gesellschaftliche Debatte um das Internet: Welche politischen und welche soziologischen Auswirkungen hat denn das Internet auf unsere Gesellschaft? Was hat sich im Denken geändert, seit wir das Internet benutzen? Diese Fragen, die jetzt auch in Amerika breit diskutiert werden, müssen wir hier unbedingt erörtern. In diesen Zusammenhang gehören die Stärkung der Medienkompetenz und der informationellen und kommunikativen Selbstbestimmung in den neuen sozialen Netzwerken ebenso wie die Frage der Sammlung und Verwertung von Daten durch Unternehmen wie Google. Dazu gehört für uns auch die Debatte, ob es Sinn macht, extra eine Suchmaschine für Kinder zu finanzieren, oder ob nicht Kinder im Rahmen der Stärkung von Medienkompetenz lernen sollten, mit den Angeboten des Internets umzugehen, statt dass man sie auf extra für sie entworfene Suchmaschinen verweist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Zypries, bitte kommen Sie zum Schluss.

Brigitte Zypries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003870, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das, Frau Präsidentin, waren meine Überlegungen. Die SPD wird im Ausschuss konstruktiv mitdiskutieren und zusehen, dass in unserem Sinne noch Veränderungen stattfinden. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht für die Bundesregierung der Kollege Bernd Neumann. ({0})

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Zypries, an sich ist es schade, dass Sie sich in Ihrer Jungfernrede im Bereich der Kultur eigentlich gar nicht dem Kulturhaushalt, den wir heute zu diskutieren haben, zugewendet haben. Sie haben ihn kurz angesprochen, damit meine ich: gelobt. Insofern gehe ich erst einmal davon aus, dass die SPD-Opposition mit dem, was wir hier vorgelegt haben, völlig einverstanden ist. ({0}) Wir haben in der letzten Legislaturperiode die Ausgaben des Bundes für die Kultur Jahr für Jahr kontinuierlich erhöht. ({1}) Auch im vorliegenden Haushalt - Kollegin Zypries hat darauf hingewiesen - hat die Bundesregierung eine moderate Steigerung vorgesehen. Hinzu kommen die Schritt für Schritt vorgenommene Realisierung des Sonderinvestitionsprogramms zum Erhalt des kulturellen Erbes - in 2010 mehr als 50 Millionen Euro - sowie die Mittel aus dem Konjunkturpaket II, wodurch wir bis 2011 die Chance haben, für die Verbesserung der Infrastruktur in der Kultur bis zu 100 Millionen Euro auszugeben. Auch in der Finanz- und Wirtschaftskrise gilt: Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eine unverzichtbare Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. ({2}) Damit aus der wirtschaftlichen Krise nicht auch noch eine geistige wird, bedarf unsere Gesellschaft eines tragfähigen geistigen Fundaments. Dieses Fundament ist die Kultur. Deshalb ist es aus gesellschaftspolitischer Sicht kontraproduktiv, mit Streichungen im Bereich der Kultur die Haushalte sanieren zu wollen. ({3}) Denn Kultur ist leider keine gesetzlich verankerte Pflichtaufgabe. Dennoch sollte es unsere Pflicht sein, sie zu schützen und ihre Rahmenbedingungen zu verbessern. ({4}) Gerade im Bereich der kulturellen Bildung dürfen wir nicht sparen. Im Gegenteil: Wir wollen mehr als bisher unsere Verantwortung für dieses Schlüsselthema der Zukunft wahrnehmen und mit gutem Beispiel vorangehen. ({5}) Durch die Einrichtung eines neuen Fördertitels für kulturelle Vermittlung und weitere Schwerpunktsetzungen der Kulturstiftung des Bundes planen wir in diesem Jahr Mittel in Höhe von über 12,5 Millionen Euro für die kulturelle Bildung ein. Außerdem wird eine Fülle von Maßnahmen über die von uns ohnehin geförderten Einrichtungen und Fonds initiiert und finanziert. Für uns gilt: Der Zugang zur Kultur muss jedermann möglich sein. Dort, wo es Barrieren gibt, sind sie abzubauen. Kulturelles Miteinander ist die beste Methode zur Integration. ({6}) Es ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, das kulturelle Erbe zu bewahren, wie dies in vielen vom Bund geförderten Einrichtungen geschieht. Stellvertretend sei die Stiftung Preußischer Kulturbesitz genannt. Mit der Eröffnung des Neuen Museums im Oktober 2009 sind zum ersten Mal seit 1939 alle Häuser auf der Museumsinsel wieder für das Publikum geöffnet. Die hohen Besucherzahlen bestätigen das große Interesse an diesem Ensemble. Für das Jahr 2010 ist von der Bundesregierung im Haushaltsentwurf vorgesehen, die Betriebsmittel für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam mit Berlin um 5 Millionen Euro auf 138 Millionen Euro zu erhöhen. Daneben stellen wir, der Bund, als alleiniger Finanzier bei Investitionen 92 Millionen Euro allein in 2010 zur Verfügung. Das heißt, wir tun etwas für den Erhalt des kulturellen Erbes trotz finanziell schwerer Zeiten. ({7}) Die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses mit dem Humboldt-Forum ist eine einmalige Chance für die Kulturnation Deutschland. Wir errichten im Herzen der Hauptstadt ein Schaufenster der Weltkulturen und schließen eine schmerzliche Lücke im Stadtbild. Zusammen mit der Museumsinsel entsteht ein Ensemble von Ausstellungshäusern, das weltweit seinesgleichen suchen wird. ({8}) Die vom Deutschen Bundestag beschlossene Realisierung des Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin wollen wir in dieser Legislaturperiode zügig fortsetzen. Ein neuer internationaler Einladungswettbewerb mit einem vorgeschalteten offenen Bewerberverfahren soll im Februar starten. Ich bin zuversichtlich, dass im 20. Jubiläumsjahr der deutschen Einheit die Jury einen angemessenen und eindrucksvollen Entwurf nominiert, der dann zügig realisiert wird. Mir ist bewusst, dass wir uns auch haushaltsmäßig in schwierigen Zeiten bewegen. Ich hoffe gleichwohl, dass wie in der Vergangenheit auch zukünftig parteiübergreifend der für die Kultur notwendige Konsens bestehen bleibt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kultur gehört in den Haushalt der Kanzlerin. Es ist nicht ausgemacht, ob das für die Kultur gut oder schlecht ist. ({0}) Einerseits wird dadurch auf die nationale Verantwortung für die Kultur in unserem föderalen Staat hingewiesen. Andererseits wird die Kultur dadurch zum kleinen Anhängsel in der großen Haushaltsdebatte. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung, wie wichtig Kultur für dieses Land ist und wie bedroht sie gerade jetzt ist, lässt sich in einer Anhängseldebatte zur Haushaltsdebatte leider nicht führen. ({1}) Hätten wir doch jetzt den Satz in unserer Verfassung: Der Staat schützt und fördert die Kultur. Wenn wir die Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankert hätten, könnten wir gerade in dieser Zeit Signale setzen. Staatsminister Neumann hat neulich im Ausschuss für Kultur und Medien gesagt, man müsse sich der Verantwortung bewusst sein, die man auf nationaler Ebene trage; der Bund habe Vorbildfunktion. Großartig gesprochen! Aber was heißt das konkret? Konkret heißt das, dass diese Regierung ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschließt, das die Kommunen finanziell zunehmend in den Ruin treibt, wohl wissend, dass es die Kommunen zusammen mit den Ländern sind, die die Hauptkosten für die Kultureinrichtungen tragen. Deshalb braucht die Kultur in unserem Land gerade in dieser Krisenzeit nationalen Schutz. ({2}) Wenn Sie schon nicht auf uns hören, verehrter Staatsminister, dann hören Sie doch auf die Hilferufe der Städte, des Städtetages und der Organisationen der Kulturschaffenden. Vom Kulturrat über den Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler bis zum Deutschen Bühnenverein, alle fordern jetzt einen Notfonds des Bundes. Genau das fordert auch die Linke in dieser Haushaltsdebatte. ({3}) Ja, wir fordern ein Hilfsprogramm zur Erhaltung der kulturellen Infrastruktur in unserem Land, einen Schutzschirm für die Kultur, 1 Milliarde Euro. Diesen Vorschlag bringen wir ein. ({4}) Wir wollen uns nicht damit begnügen, dass hier und da ein paar Symptome behandelt werden. Der Staatsminister hat neulich folgenden interessanten Satz gesagt: Bei Katastrophen sei es folgerichtig, wenn Bund, Land und Kommunen gemeinsam Hilfsfonds für die Kultur einrichteten. Ich frage: Ist diese Krise keine Katastrophe, und ist die Krise plus Wachstumsbeschleunigungsgesetz dieser Regierung nicht geradezu eine doppelte Katastrophe für die Kultur? ({5}) Die Kultur gehört in den Haushalt der Kanzlerin. Also muss die Kanzlerin - sie ist leider nicht anwesend - auch handeln. Sie wird dadurch Wachstum schaffen; denn Kultur- und Kreativwirtschaft sind eine Wachstumsbranche. Wenn man dieser Branche aber das Fundament nimmt - die Orchester, die Theater, die Museen, die Bibliotheken und vor allem die kulturelle Bildung der Kinder -, dann wird diese Zukunftswirtschaft verkümmern und nicht wachsen. Schaffen Sie also einen Schutzschirm für die Kultur! Das ist nicht nur unsere Forderung. Das ist die Forderung der Stunde. ({6}) Nun noch ein paar Fragen zu den nationalen Prestigeprojekten der Bundeskultur in Berlin. Das Stadtschloss sowie das Freiheits- und Einheitsdenkmal sind sehr umstritten, von Pannen begleitet und sehr teuer. Der Staatsminister hat leider kein Wort zum Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ gefunden. Dürfen wir einmal erfahren, lieber Staatsminister, wie es weitergeht? Wird das Institut aus dem Historischen Museum ausgegliedert? Wird der Bundestag mit einem neuen Stiftungsgesetz befasst? Verzichtet die Regierung auf das Berufungsrecht? Gibt es noch mehr Stiftungsratsmitglieder des Bundes der Vertriebenen, wie es von Frau Steinbach gefordert wurde? Im Dezember letzten Jahres ist der einzige polnische Vertreter im wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung zurückgetreten. Danach habe ich die Bundesregierung gefragt, wie denn nun die polnische Sichtweise bezüglich der Staatsminister Bernd Neumann: Staatsminister Bernd Neumann Nachkriegsaussiedlung der Deutschen in Polen in der Stiftung gewährleistet werden soll. Die Antwort lautete: Die Bundesregierung legt weiterhin großen Wert auf eine polnische Beteiligung. - Sehr schön! Aber wie? Gibt es einen Nachfolger für Professor Szarota? Sucht man überhaupt einen? Sieht man denn nicht, dass die Aufgabe der Versöhnung bei diesem Projekt zunehmend in den Hintergrund tritt? Kanzlerin, übernehmen Sie! ({7}) Machen Sie Schluss mit dieser Art von Erinnerungskultur in der Verantwortung der Bundesregierung! Das täte der politischen Kultur in unserem Land gut. Geld ließe sich dabei übrigens auch sparen. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Recht schauen wir mit Stolz auf die vielfältige Kulturlandschaft in Deutschland. Sie weist eine hohe Dichte auf, ist durch öffentliches und privates Engagement geprägt, und sie findet in den unterschiedlichsten Bereichen statt. Allein unsere Museen werden jährlich von über 105 Millionen Menschen besucht. Kultur hat in Deutschland zu Recht einen besonderen Stellenwert. Ich bin froh, dass auch wir vonseiten des Bundes einen kleinen Teil dazu beitragen können und dürfen, dass die Kulturlandschaft Deutschland weiter blüht. Zurzeit präsentiert sich Deutschland mit der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 in besonderer Weise als Kulturnation. Diese Kulturhauptstadt steht für Kultur im Zeichen des Strukturwandels. Industriebrachen werden für die Kultur neu entdeckt und für die Menschen erschlossen. Dies zeigt, welche Kraft und Kreativität im Kultursektor stecken. Dabei steht Kultur nicht nur für ideelle Werte. Kulturförderung ist auch eine Investition in die Zukunft. Viele Gutachten zeigen, dass jeder so investierte Euro als Kulturrendite im Wirtschaftskreislauf bereits jetzt verdoppelt wird. Nicht umsonst spielt inzwischen die Kultur- und Kreativwirtschaft in einer Liga mit der Chemie- und Automobilindustrie. ({0}) Ich glaube, dass wir darin übereinstimmen, dass die Bedeutung der Kultur nicht stark genug betont werden kann. Attraktive Kultureinrichtungen und Kulturangebote prägen entscheidend die Lebensqualität in unseren Städten und Gemeinden. Sie sind damit identitätsstiftend. Das gilt sowohl für die Hoch- und Breitenkultur als auch für die Pflege kultureller Traditionen oder die Entwicklung alternativer Kunstprojekte. Besonders hohe Bedeutung kommt aber der kulturellen Bildung zu. Darum haben wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben - ich zitiere -: Wir wollen gemeinsam mit den Ländern den Zugang zu kulturellen Angeboten unabhängig von finanzieller Lage und sozialer Herkunft erleichtern und die Aktivitäten im Bereich der kulturellen Bildung verstärken; kulturelle Bildung ist auch ein Mittel der Integration. Durch entsprechende tägliche Nachrichten kann man den Eindruck gewinnen, dass unsere Gesellschaft zunehmend verroht und gerade junge Menschen Identitätsprobleme haben. Die Gewalt im Alltag nimmt ein immer größeres Ausmaß an. Wir Liberale meinen, dass gerade die kulturelle Bildung helfen kann, solche Tendenzen in der gesellschaftlichen Entwicklung zu stoppen. Kulturelle Bildung ist für uns eine gemeinsame Zukunftsaufgabe von höchster Priorität. ({1}) Dem Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, ist es in den letzten Jahren, auch mit Unterstützung unserer Fraktion, gelungen, den Stellenwert der Kulturförderung des Bundes in den Haushaltsberatungen deutlich herauszustellen und sogar für einen Aufwuchs des Kulturetats zu sorgen. Dafür möchte ich dem Kulturstaatsminister ausdrücklich danken. ({2}) Nun befinden wir uns in der größten Finanz- und Wirtschaftskrise, die dieses Land seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt hat. Geld muss gespart werden. Erfahrungsgemäß wird der Rotstift in solchen Zeiten gern bei den verhältnismäßig kleinen Kulturetats angesetzt. Gerade in den Ländern und Kommunen geschieht dies, weil die Kultur nur als freiwillige Aufgabe eingestuft ist. Pflichtaufgaben haben dann Vorrang. Dass es anders geht, zeigt zum Teil Sachsen. Dort ist Kulturförderung Pflichtaufgabe und im Kulturraumgesetz geregelt. Darüber hinaus hat die Kultur durch Art. 11 der Landesverfassung Verfassungsrang. ({3}) Der mit dem Kulturraumgesetz verbundene Solidareffekt schafft Planbarkeit und Sicherheit nicht nur für Kulturdezernenten, sondern durchaus auch für Vereine und andere Körperschaften. Allerdings muss die soziale Lage vieler Künstlerinnen und Künstler noch viel stärker thematisiert werden. Ich will die Kultur nicht per se aus den Sparbemühungen ausschließen. Aber nach 18 Jahren als Beigeordneter in der kommunalen Kulturpolitik weiß ich, dass noch kein Haushalt durch Einsparungen im Kulturetat saniert worden ist. ({4}) Aber schon so manches abgerissene Haus hat dauerhaft eine hässliche Baulücke hinterlassen. Das darf uns im Kulturbereich nicht passieren. ({5}) - Dann sollen sie lieber das halbe Ordnungsamt schließen, als bei der Kultur zu sparen. - Trotz der klar verteilten Kompetenzen möchte ich den Ländern und Kommunen von massiven Einschnitten abraten. Gerade in Krisenzeiten sind Streichungen im Kulturbereich kontraproduktiv. ({6}) Wie gesagt, die Kompetenzen sind in Deutschland klar verteilt. Kultur ist Ländersache. Die Bundesländer sind gefordert, ihre jeweiligen Landesgesetze so zu gestalten, dass die Kulturförderung auch in der Krise finanziell abgesichert bleibt. Ich hoffe, dass die Kultur bald in allen Bundesländern ganz selbstverständlich zu den Pflichtaufgaben gehört. Dabei wäre die Verankerung der Kultur als Staatsziel sehr hilfreich. Es wäre ein Zeichen dafür, was die Kultur unserer Nation wirklich wert ist. Ich will aber Engagement nicht nur von den Ländern fordern, sondern auch vom Bundestag. Ich stehe dazu, dass wir weiterhin den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien unterstützen, wenn es um die Kulturförderung vonseiten des Bundes geht. Danke schön. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Agnes Krumwiede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004082, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Streben nach Leistung, Wachstum und Wohlstand beherrscht unsere Gesellschaft. Ein Bild malen, Theater spielen oder Musizieren ist bei uns keine Leistung, sondern im besten Fall Talent, das in der Freizeit gepflegt werden darf. Auch für die Kommunen ist Kultur keine Pflicht, sondern Kür, eine freiwillige Leistung. Es ist eine Tatsache, dass die sogenannten freiwilligen Aufgaben den Kürzungen als Erstes zum Opfer fallen, wenn den Kommunen das Geld ausgeht. Die stehen vor dem finanziellen Kollaps. Ihre verfehlte Steuerpolitik mit großzügigen Geschenken an eine großzügige Klientel wird die Situation noch verschlimmern. ({0}) Der Flächenbrand im Kulturbetrieb hat gerade erst begonnen. Ein solcher Verlust kultureller Infrastruktur kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. ({1}) Allen voran die kleineren Kultureinrichtungen, die freie Szene, die Soziokultur und die Kinder- und Jugendkultur erwartet eine düstere Zukunft. Ziehen wir die Konsequenzen: Besser früher als zu spät brauchen wir einen Nothilfefonds Kultur des Bundes. Darüber entscheidet einzig und allein der politische Wille. ({2}) Der politische Wille konnte Banken retten. Für den Erhalt kleiner kultureller Institutionen wäre nur ein Bruchteil dieser Mittel notwendig. Die Rettung der Hypo Real Estate hat so viel Geld verschlungen, wie der vierfache Betrag aller öffentlichen Kulturausgaben pro Jahr in Deutschland ausmacht. Im Haushaltsplan der Regierung geht es in erster Linie um die Sicherung etablierter Aushängeschilder. Aber, Herr Neumann, solange der Bund nicht gleichermaßen Verantwortung für die Förderung kleiner Projekte und Institutionen übernimmt, riskiert er trotzdem eine Verödung unserer Kulturlandschaft; ({3}) denn Generationengerechtigkeit bedeutet nicht nur, den Schuldenberg zu reduzieren und unser kulturelles Erbe für nachfolgende Generationen zu bewahren, es ist genauso wichtig, Kreativität zu fördern, die Entstehung von Neuem zu fördern und die Fantasie zu fördern. Das bedeutet vor allem, die Rahmenbedingungen für kulturelle Bildung zu verbessern. Doch was macht die Bundesregierung? Sie kürzt die Zuwendungen für die Kulturstiftung des Bundes. Wir alle kennen die Bedeutung der Kulturstiftung im Bereich der kulturellen Bildung. Neuerdings ist im Haushaltsplan 1 Million Euro für „kulturelle Vermittlung“ vorgesehen. Mir kommt es sehr fragwürdig vor, Gelder für die Kulturstiftung zu kürzen und gleichzeitig in ein Phantom mit dem Namen „kulturelle Vermittlung“ zu investieren, von dessen Existenz die Opposition zum ersten Mal durch den Haushaltsplan erfahren hat. ({4}) Wir sind gespannt, welche inhaltlichen Konzepte sich dahinter verbergen und helfen auch gerne mit Ideen. Wir helfen auch gerne bei der Medienpolitik. Die Koalition hat groß angekündigt, die digitale Spaltung der Gesellschaft verhindern zu wollen, aber es genügt nicht, in jedem Haushalt einen Breitbandzugang zu legen. Notwendig sind mehr Projekte zur Förderung von Medienkompetenz. Entscheidend ist auch hier die Förderung der kleinen Initiativen, in denen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die digitale Welt mit all ihren Chancen kritisch nähergebracht wird. Ich glaube, wir brauchen einen Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. Einem Wachstumsbeschleunigungsgesetz möchte ich die Forderung nach Entschleunigung entgegensetzen. ({5}) Alle, gerade Kinder und Jugendliche, sind auf Zeit zum Wachsen und zum Spielen angewiesen. Geistige Entwicklung braucht Zeit. Da lässt sich nichts beschleunigen. Wir müssen Abschied nehmen vom Leistungswahn und in die Bildung investieren, Räume und Freiräume schaffen für kreative Inhalte. Das Wohlergehen der Menschen in unserem Land hängt nicht ab von materiellem Wachstum zugunsten einer privilegierten Schicht, sondern von lebensfreundlichen Bedingungen. Ein besseres Leben für viele ist für uns Grüne wichtiger als mehr Geld für wenige. ({6}) Das heißt, es darf Ihnen als Regierung nicht in erster Linie darum gehen, die schillernde Oberfläche unserer Kulturnation zu polieren, Stichwort „Berliner Stadtschloss“. Wenn die Kommunen vor dem Aus stehen, kann der Bund nicht tatenlos zusehen. ({7}) Wir dürfen unsere kommunalen Kultureinrichtungen nicht dem Beschleunigungswahnsinn opfern. Es ist unsere Pflicht, zukünftigen Generationen keine geistige Verarmung zu hinterlassen. Der Weg zu einem neuen Denken - wir meinen damit etwas anderes als Frau Merkel -, zu einem besseren Leben ist ohne ein neues Bewusstsein für kulturelle Werte nicht möglich. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen nicht vor. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes, Einzelplan 05. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die Bundesregierung.

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Diese Kontinuität zu wahren, das gehört nach Auffassung der christlich-liberalen Bundesregierung zum Wertvollsten, was wir Deutsche an politischem Inventar zu bieten haben. Weil deutsche Außenpolitik Friedenspolitik ist, setzen wir auf Abrüstung. Ich möchte auf eine Begegnung aufmerksam machen, die in der Öffentlichkeit bisher vielleicht noch nicht die nötige Aufmerksamkeit gefunden hat. In zwei Wochen kommen hier in Berlin acht Persönlichkeiten zusammen: Henry Kissinger, Richard von Weizsäcker, Sam Nunn, Helmut Schmidt, William Perry, Egon Bahr, George Shultz und Hans-Dietrich Genscher. Diese acht Männer haben jahrzehntelang für den Frieden gearbeitet. Sie haben Vertrauen gestiftet. Sie haben Konflikte überwunden, und sie sind ganz gewiss keine naiven Persönlichkeiten. Heute eint diese acht erfahrenen Persönlichkeiten die gemeinsame Überzeugung, dass eine nuklearwaffenfreie Welt nötig und möglich ist. Auf diesem Wege wollen auch wir als christlich-liberale Bundesregierung gehen. Wir sind der Überzeugung: Nach dem Jahrzehnt der Aufrüstung brauchen wir jetzt ein Jahrzehnt der Abrüstung; Abrüstung ist das Gebot der Menschheit in diesen Jahren. ({0}) Wer die Chancen der Globalisierung sieht, erkennt natürlich auch die Gefahren. Ich will nicht, so wie ich das früher in Generaldebatten vormittags oft getan habe, über die innenpolitischen, wirtschaftspolitischen und bildungspolitischen Fragen der Globalisierung sprechen, sondern über die außenpolitischen. Die Globalisierung ist chancenreich; aber sie hat auch Schattenseiten, zum Beispiel die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Der internationale Terrorismus, auch der Sumpf von radikalen Ideologien in der Welt und nicht mehr nur in Regionen, das Vernetzen von Fundamentalismus, Radikalismus, Menschenverachtung und Unmenschlichkeit, all das ist natürlich eine Geißel unserer Zeit, ein Ergebnis des technologischen Fortschritts und der Globalisierung. Wer die Globalisierung mit realistischem Optimismus begrüßt, der muss zugleich auf Abrüstung setzen, um die globalisierte Welt sicherer zu machen. ({1}) Der amerikanische Präsident Barack Obama hat insofern ein Fenster der Gelegenheit, wie man es nennt, aufgestoßen. Ich meine damit nicht in erster Linie seine Rede in Kairo - die auch -, ({2}) sondern vor allen Dingen, Frau Kollegin Roth, seine Rede in Prag, eine Rede, die meiner Meinung nach viel zu wenig beachtet worden ist. Hier sehen wir, dass ehrgeizige, visionäre Ziele formuliert werden können. Es ist richtig, dass wir den amerikanischen Präsidenten beim Wort nehmen. Damit wir uns auch hier nicht missverstehen: Wir wollen nukleare Abrüstung nicht, um leichter konventionelle Kriege führen zu können, sondern für uns als christlich-liberale Bundesregierung und, wie ich hoffe, auch für das ganze Haus gehen nukleare Abrüstung und konventionelle Abrüstung Hand in Hand. Das müssen wir allen waffenreichen Regionen in der Welt immer wieder ins Stammbuch schreiben. ({3}) Wir sprechen mit unseren Partnern und Verbündeten über Abrüstung. Das stand vielleicht bei den Berichten über eine Reihe von Antrittsbesuchen auf meinen ersten Auslandsreisen, die ich machen durfte, zum Teil ja auch in Begleitung von Kolleginnen und Kollegen, nicht sofort ganz vorne auf den Titelseiten, aber es ist gleichwohl ein Kernanliegen unserer Politik. Wir wollen nämlich, dass auslaufende oder auch nie ratifizierte Verträge über Rüstungskontrolle wirksam bleiben bzw. wirksam werden. Wir sprechen also mit unseren Partnern und Verbündeten über Abrüstung; das habe ich gerade erst auch in Japan getan, wohin mich verschiedene Kollegen nahezu aller Fraktionen dieses Hauses begleitet haben. Wir wollen mit unseren Verbündeten auch darüber sprechen, dass die letzten in Deutschland stationierten Nuklearwaffen abgezogen werden. ({4}) Wir setzen auf die Friedensdividende. 20 Jahre nach unserer Wiedervereinigung - dieses wunderbare Jubiläum feiern wir ja dieses Jahr - ist es an der Zeit, dass wir uns alle gemeinsam diese Friedensdividende politisch erarbeiten. Die Welt friedlicher zu machen, das ist auch eine Antwort auf die Globalisierung unserer Zeit. ({5}) Aber wir sind nicht naiv. Deswegen vergessen und ignorieren wir nicht die Gefahren, die es gibt. Ich muss den kundigen und interessierten Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses, die jetzt bei dieser Debatte dabei sind, nicht viel über die großen Herausforderungen und Gefahren sagen. Wir hatten schon gestern Gelegenheit, darüber zu sprechen. Es gibt viele Sorgen. Denken wir an den Jemen oder an Afghanistan. Darüber wurde hier schon oft diskutiert. Wir alle wissen, was eine atomare Bewaffnung des Iran an Destabilisierung insbesondere für die Region, aber auch für die Welt bedeutet. Natürlich wissen wir auch, dass wir beim Nahostkonflikt neue Impulse brauchen, um Gesprächsfähigkeit wiederherzustellen. Deswegen drängen wir alle da, wo wir es können, darauf, dass die Friedensgespräche wieder aufgenommen werden. Ich will hier aber genauso klar sagen, meine Damen und Herren, weil das aus Sicht der Bundesregierung Teil der Staatsräson ist: Zur Sicherung des Friedens gehört ausdrücklich auch die Anerkennung des Existenzrechts Israels als jüdischer Staat in sicheren Grenzen. Ich sage das vor dem Hintergrund der gerade eben stattgefundenen deutsch-israelischen Regierungskonsultationen, die angesichts unserer eigenen Geschichte ein bemerkenswertes Ereignis waren. Man sollte bedenken, dass dieses dunkelste und grausame Kapitel unserer Geschichte weniger als ein Menschenleben her ist. Es ist deswegen für die Bundesregierung völlig klar - das möchte ich hier auch ohne Wenn und Aber noch einmal festhalten -: Israel hat das Recht auf eine sichere Existenz, auf Sicherheit der eigenen Bürgerinnen und Bürger in sicheren Grenzen. Wer das mit antisemitischen Reden bestreitet, wie es zum Beispiel die iranische Regierung tut, der muss wissen, dass wir alle, also alle Deutschen, dem stets entschiedenen Widerstand entgegensetzen werden. ({6}) Dass wir für die Zweistaatenlösung werben, das muss ich, weil es auch Teil der Staatsräson ist und Politik der letzten Regierungen war, eigentlich gar nicht erwähnen. Es versteht sich von selbst. Natürlich gehört zur Zweistaatenlösung zugleich das Recht der Palästinenser auf einen eigenen lebensfähigen Staat. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen all das deswegen in großer Klarheit gesagt, weil ich nach meinen vielen Gesprächen in den letzten Wochen und Monaten befürchte, dass die Zeit der Entscheidung kommen wird, und zwar in den nächsten Wochen. Wir müssen uns entscheiden, wie wir als Teil der Völkergemeinschaft auf die Gesprächsverweigerung des Iran reagieren. Deswegen sage ich hier für die deutsche Bundesregierung in großer Klarheit: Für uns ist eine atomare Bewaffnung des Iran in keiner Weise akzeptabel. Wenn der Iran nicht zu Gesprächsfähigkeit zurückfindet, wenn er nicht endlich wieder verhandelt, wenn er nicht seinen selbst übernommenen internationalen Verpflichtungen wieder entspricht, dann werden wir notfalls auch bereit sein, in der internationalen Gemeinschaft eine Ausweitung der Sanktionen zu beschließen. Wir werden jedenfalls einer atomaren Bewaffnung des Iran mit Sicherheit nicht zuschauen, ohne irgendetwas dagegenzusetzen. Niemand in diesem Hause könnte das verantworten. ({7}) Wir werden in der nächsten Woche eine große Debatte über Afghanistan führen. Erlauben Sie mir, weil wir alle in Vorbereitung auf die Afghanistan-Konferenz auch in den jeweiligen Fraktionen beraten und diskutieren, was zu tun ist, einige Worte dazu zu sagen. Wir werden nächste Woche eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin hören. Das ist das selbstverständliche Recht des Parlaments. Zugleich ist es aber auch ausdrücklich die Absicht und der Wunsch der Regierung; denn wir haben ein Interesse an einer möglichst breiten Mehrheit in diesem Hause bezüglich der AfghanistanPolitik. Ich rechne nicht mit jedem, aber ich setze auf alle und ihre Vernunft. Meine Damen und Herren, wir dürfen dem Terror in Afghanistan keinen neuen Rückzugsraum geben. Wir wollen bitte nicht vergessen: Millionen Frauen und Männer in Afghanistan setzen auf uns. Sie haben etwas Freiheit erringen können, zum Beispiel für Mädchen und Frauen. Das ist der wahre Grund, warum wir in Afghanistan sind: um unsere eigene Gesellschaft vor Terrorismus zu schützen, aber zugleich auch, um unserer mitmenschlichen Verpflichtung nachzukommen, damit Frauen nicht ermordet werden, nur weil sie so leben möchten, wie wir es bei uns als selbstverständlich ansehen, damit Brunnen gebohrt werden können, damit es Bundesminister Dr. Guido Westerwelle: Bundesminister Dr. Guido Westerwelle eine Perspektive für dieses Land gibt. Die Völkergemeinschaft kann es sich nicht leisten, dass dieser Staat strauchelt oder sogar fällt. Das ist eine Herausforderung für die ganze Wertegemeinschaft und hat mit einer Militarisierung von Außenpolitik nichts, aber auch gar nichts zu tun. Wer jetzt kopflos aus Afghanistan abziehen würde, ließe Millionen Menschen im Stich und schickte viele von ihnen in den sicheren Tod durch Taliban-Henker. Das muss einmal ausgesprochen werden. ({8}) Ich habe Anfang dieses Jahres dazu fünf Punkte vorgeschlagen, die die breite politische Agenda in London prägen sollen. Ich brauche das an dieser Stelle nicht noch einmal vorzutragen. Nur so viel: Für uns ist völlig klar - ich hoffe, dass wir im Deutschen Bundestag derselben Überzeugung sind -, dass wir zunächst einmal über unsere Ziele in Afghanistan reden müssen, darüber, was wir an Aufbau und Stabilisierung der guten Regierungsführung schaffen wollen, darüber, wie wir wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die Menschen dort schaffen können und was wir tun können, um dem Terrorismus den Boden zu entziehen. All das gilt es zunächst einmal zu besprechen und zu diskutieren. Erst dann kann es um Weiteres gehen. Ich habe entgegen manchem Zeitungsbericht nie gesagt, dass eine Aufstockung zum Beispiel unserer Ausbildungskapazitäten bei der Bundeswehr auf keinen Fall infrage komme. Ich habe auch nie gesagt, dass wir das in jedem Fall machen. Ich habe nur auf die Reihenfolge Wert gelegt - dabei bleibe ich auch für die Bundesregierung; in genau dieser Reihenfolge wollen wir das beraten -: Zunächst einmal geht es um die Ziele, um die Perspektive für Afghanistan; dann kommt lange nichts, und dann geht es um den militärischen Schutz. So ist die Reihenfolge: Strategie, dann Instrumente, und erst dann geht es um die Frage der Truppen und des militärischen Schutzes. Das ist die richtige Reihenfolge. Deswegen bleiben wir dabei. London muss einen breiten politischen Ansatz haben und darf keine Truppenstellerkonferenz sein. Das ist die Haltung der gesamten Bundesregierung. ({9}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen dabei natürlich auch auf die Stärkung der zivilen Institutionen. Wir haben - das ist gar keine Frage - natürlich auch einen Dank auszusprechen; das möchte ich an dieser Stelle tun. Ich möchte mich - ich vermute, das gilt für das gesamte Hohe Haus - für die Arbeit der zivilen Helfer überall auf der Welt, aber auch ausdrücklich für die Arbeit der Frauen und Männer der Bundeswehr herzlich bedanken. Wenn wir hier über auswärtige Politik reden, dann ist dieser Dank des Hohen Hauses angebracht. Wir sind stolz auf die Arbeit, die geleistet wird, und wir sind dankbar dafür, dass Männer und Frauen international tätig sind - sei es in Afghanistan, auf dem Balkan oder an anderer Stelle. Herzlichen Dank dafür! ({10}) Meine Damen und Herren, natürlich ist das erfolgreichste Friedensprojekt die Europäische Union. Wir setzen deswegen darauf, dass das Kooperationsmodell fortentwickelt wird. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte: nicht Konfrontation auf einem Kontinent der Kriege - das ist die europäische Geschichte -, sondern Kooperation als Friedensantwort auf wirklich furchtbare Jahre. Ich möchte all denen, die nach der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages fragen, wie es weitergeht - er ist ja eine wirkliche Verbesserung -, und auch denen, die wie wir alle bei Europa vieles kritisch sehen, sagen: Am Schluss sollte man sich immer wieder daran erinnern, warum wir das alles gemacht haben. Es ist nicht nur gemacht worden für Wohlstand - auch -, nicht nur für Reisefreiheit - auch -, zuallererst ist das alles gemacht worden für Frieden und Ausgleich. Wenn uns die Europäische Union nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangen Frieden auf unserem Kontinent, schon das hätte sich für jeden Deutschen und auch für jeden anderen europäischen Bürger gelohnt. ({11}) Deutsche Außenpolitik ist interessengeleitet und werteorientiert. Deswegen sehen wir keinen Gegensatz darin, dass wir uns einerseits Märkte eröffnen wollen und andererseits auf die Einhaltung von Menschenrechten drängen. Für uns ist das kein Widerspruch, sondern für uns gehört dies zusammen. Interessengeleitet und werteorientiert: Ich habe bei meinen Reisen nach China und in die arabische Region gesehen, dass das sehr wohl miteinander vereinbar ist. Wir wollen unsere Wirtschaftsinteressen auch in anderen Ländern der Welt wahrnehmen. Wie können wir sonst Exportweltmeister sein und Wohlstand in unserem eigenen Lande schaffen? Aber wir werden deswegen zu keiner Zeit auf Werte, auf Menschenrechte, auf Bildung, auf Religionsfreiheit, auf Pluralität und auf Minderheitenschutz verzichten. Wir machen in der Sache der Menschenrechte keine Kompromisse. Denn wir wissen: Werteorientierung und Interessenleitung gehören beide zum Kompass einer guten deutschen Außenpolitik. ({12}) Meine Damen und Herren, für diese Politik ist es natürlich auch wichtig, dass wir die auswärtige Kulturund Bildungspolitik ausbauen. Darüber wird zwar kaum gesprochen. Aber etwa ein Viertel des Etats, den wir heute beraten, geht in die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Das ist übrigens etwas, das ich fortsetzen möchte. Denn da hat die Politik meines Amtsvorgängers aus unserer Sicht die Weichen richtig gestellt. Wir werden diese Politik fortführen. Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wird also ein wichtiger Bestandteil unserer Außenpolitik sein. Wir wollen einen engen Dialog mit allen Ländern in der Welt, insbesondere mit unseren unmittelbaren Nachbarn sowie mit Russland und mit China. Aber wir vergessen nicht die Balance, von der ich eben gesprochen habe. Bundesminister Dr. Guido Westerwelle: Bundesminister Dr. Guido Westerwelle Wir kennen unsere fundamentalen eigenen Interessen. Auch das darf nicht verschwiegen werden. Unsere Außenpolitik ist vor allen Dingen durch Werte geprägt, die in unserer Verfassung stehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar: Das ist natürlich auch der Maßstab für unsere Außenpolitik. Wir Deutsche sind verlässliche Partner in der Welt. Ich sage dies nachdrücklich. Wir halten Wort. Ich habe das gerade erst in der Türkei wieder deutlich gemacht. Zur deutschen Außenpolitik zählt auch die transatlantische Freundschaft. Die Vereinigten Staaten von Amerika und uns verbindet eine enge Freundschaft und nicht nur eine transatlantische Partnerschaft. Das hindert uns aber nicht daran, auch andere Regionen stärker in den außenpolitischen Fokus zu nehmen, als dies vielleicht bisher der Fall gewesen ist. Wir werden in diesem Jahr beginnen, ein besonderes Augenmerk auf Lateinamerika zu legen. Wir glauben, da liegt ein in den außenpolitischen und innenpolitischen Debatten enorm unterschätztes Potenzial. Natürlich gilt unsere Hilfe und unsere Solidarität Afrika, nicht nur weil es unser Nachbarkontinent ist, sondern auch, weil es natürlich unsere mitmenschliche Verpflichtung ist. Meine Damen und Herren, wir haben eine große Erfolgsgeschichte in der deutschen Außenpolitik seit Gründung der Republik, und zwar unabhängig davon, wer regiert hat. Kontinuität ist in Wahrheit keine Einfallslosigkeit, sondern ist etwas sehr Wertvolles, auch in der Außenpolitik. Dazu zählt, dass wir natürlich auch in Europa kooperativ handeln und arbeiten wollen. Dazu zählen auch gute nachbarschaftliche Verhältnisse. Ich sage das hier als jemand, der sich noch an Willy Brandt und Walter Scheel erinnert. Ich sage das als jemand, der vom Deutsch-Französischen Jugendwerk in Bad Honnef geprägt ist. Ich bin im Rheinland groß geworden. Ich sage das als jemand, der den Jugendaustausch als Schüler noch als Mittel der Völkerfreundschaften begriffen hat. So wie es uns gelungen ist, unsere tiefe Freundschaft zu unseren westlichen Nachbarländern zu verankern, so ist es die Aufgabe unserer Zeit, diese tiefe Freundschaft zu unseren östlichen Nachbarländern zu schaffen. Wir wollen daran arbeiten und das vollenden, was andere vor uns begonnen haben. ({13}) Meine Damen und Herren, ich schließe mit einem Dank - denn ich habe von Werteorientierung gesprochen - an die Mitmenschlichkeit unserer Bürgerinnen und Bürger. Wir haben eine furchtbare Katastrophe verfolgen können. Wir haben sie gesehen; aber wir sehen zugleich die enorme Solidarität unserer Bürgerinnen und Bürger, nicht nur gestern Abend bei einer herausragend erfolgreichen Spendengala im Zweiten Deutschen Fernsehen. Wir sehen sie auch bei vielen anderen Initiativen. Dafür wollen wir uns bedanken. Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen - denn ich habe auch in Ihrem Namen sofort nach dem Erdbeben mit unseren deutschen Botschaftsangehörigen und unserem deutschen Botschafter in Haiti telefoniert -, was diese Menschen leisten. Sie sind mit dem Leben davongekommen und sind nicht abgereist, sondern sie bleiben dort und helfen jetzt. Das ist in meinen Augen so vorbildlich, dass man es auch einmal in diesem Hohen Hause sagen darf. Danke schön darf dieses Hohe Haus im Namen Deutschlands denjenigen sagen, die das jetzt alles innerhalb und außerhalb der Botschaft leisten. ({14}) Ein Dankeschön geht natürlich auch an unsere Bürgerinnen und Bürger für ihre Mitmenschlichkeit. Es ist großartig, was hier an Solidarität gezeigt wird. Das Elend ist furchtbar; wir wissen das alle. Ich habe soeben die Nachricht bekommen, dass es durch ein weiteres Nachbeben möglicherweise weitere Schwierigkeiten gibt. Mehr kann ich noch nicht sagen, weil ich noch nichts Genaueres weiß. Es ist natürlich eine unglaubliche Herausforderung, vor der wir stehen. Unsere Lehre aus der Geschichte ist, dass wir uns als Deutsche in der Völkergemeinschaft eingebettet fühlen, auch in schweren Stunden, wenn Länder so etwas ertragen müssen. Deshalb zeigt Deutschland in diesen Tagen, dass es ein Land der Nächstenliebe ist, ein Land, das hilft, das Solidarität kennt und auch durch jeden Einzelnen zu Hause praktiziert. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, ich möchte für die SPD-Fraktion das aufgreifen, was Sie zum Schluss gesagt haben. Anlässlich einer Diskussion über außenpolitische Herausforderungen muss man sich immer vergegenwärtigen, was Haiti zum jetzigen Zeitpunkt durchmacht - ein Land, das ohnehin größte Probleme hat. Ich glaube, dass angesichts dieser Katastrophe im Erdbebengebiet manches, was wir hier in Überschriften über innere und äußere Katastrophen beschreiben, etwas kleiner wird. Ich glaube, gerade anlässlich einer außenpolitischen Debatte ist das angemessen. Ich bedanke mich ebenfalls für die große Spendenbereitschaft der Bundesbürger, aber ich danke auch denjenigen Deutschen, die dorthin gereist sind und die noch reisen werden, die manchmal unbezahlten Urlaub nehmen und dort helfen, Verschüttete zu finden und auch bei der Aufbauhilfe tätig zu sein. Dies sind Dinge, für die wir auch vonseiten des Deutschen Bundestages Dank sagen müssen an die einzelnen Helfer und insbesondere an die Organisationen, die diese Hilfe bündeln. ({0}) Bundesminister Dr. Guido Westerwelle: Bundesminister Dr. Guido Westerwelle Ich glaube, es ist manchmal leicht, von hier aus gegenüber dem einen oder anderen Ressort Kritik an einer schleppenden internationalen Aufbauhilfe zu äußern. Dennoch glaube ich, dass man auch daran erinnern muss, dass die Vereinten Nationen schreckliche Verluste an Menschenleben, an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - es sind mindestens 50, wahrscheinlich sogar bis zu 300 - erlitten haben. Die Vereinten Nationen sind jene Organisation, die nach meinem Dafürhalten wieder die internationale Aufbauarbeit wird leisten müssen. Natürlich können die USA das zum jetzigen Zeitpunkt schaffen, aber es wäre gut, wenn wir uns auch vonseiten Europas darauf konzentrierten, dass insbesondere die Vereinten Nationen als internationale Hilfsorganisation daran mitwirken müssen, den notwendigen Aufbau Haitis zu unterstützen. Deswegen noch einmal: Herr Außenminister, auch wir haben großen Respekt vor den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Botschaft, vor ihrem unermüdlichen Einsatz vor Ort, gerade angesichts der schrecklichen Bilder, die sie unmittelbar erlebt haben. Umso mehr ist - wenn wir uns den außenpolitischen Problemen stellen - ein Unterschied zu Haiti zu benennen. Wir haben viele internationale Probleme zu lösen. Aber wir können diese internationalen Probleme mit kluger Politik und Vernunft regeln. Naturkatastrophen, wie Haiti sie erlebt hat, sind nicht beherrschbar. Aber wir können die internationalen Probleme mit einer klugen Politik lösen. Wir vonseiten der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, vonseiten der Opposition, wollen daran mitwirken. Dies ist gar keine Frage. Wo Kritik notwendig ist, wollen wir sie üben. Deswegen würde ich gerne an dieser Stelle ein paar Punkte ansprechen. Herr Außenminister, Sie haben es erwähnt: In der nächsten Woche werden wir im Deutschen Bundestag noch einmal eine wichtige Afghanistan-Debatte führen. Ich bin dankbar, dass die Bundeskanzlerin für die Bundesregierung etwas zur Afghanistan-Politik und zur Konferenz in London sagen will. Es hat nach meinem Dafürhalten lange gedauert, bis sie sich dazu bereit erklärt hat. Ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun, dass das gesamte Haus an die Bundesregierung appelliert hat, vor der Konferenz in London sehr deutlich zu machen, in welche Richtung die Bundesregierung gehen will. Vielleicht hat sie etwas zu lange gezögert, aber immerhin macht sie es. Dennoch will ich zwei Punkte ansprechen, die aus meiner Sicht notwendig sind. Wir vonseiten der SPD haben sehr frühzeitig über die Afghanistan-Politik gesprochen, nicht nur in der Regierung, sondern auch während des Wahlkampfes. Frank-Walter Steinmeier hat als Kandidat für den 27. September ein sehr umfassendes Programm vorgestellt. Wir werden am Freitag in einer hochrangigen Afghanistan-Konferenz noch einmal darüber beraten, wie notwendig dieser Weg ist. Dennoch stellen sich aus meiner Sicht, wenn wir nächste Woche darüber beraten, bereits heute zwei Fragen. Der Verteidigungsminister hat uns in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder über Veröffentlichungen in Medien mitgeteilt, dass aus seiner Sicht die internationale Rechtssicherheit für das AfghanistanMandat nicht hergestellt ist. Er hat ausgeführt, dass wir darüber befinden müssen, dass es dort einen nichtinternationalen bewaffneten Konflikt gibt. Angeblich hat er zweimal versucht, das im Kabinett unterzubringen. Es ist ihm offensichtlich nicht gelungen. Deswegen meine Fragen - ich bitte Sie, das in die Debatte über den Einzelplan 14 aufzunehmen -: Haben wir in diesem Zusammenhang Rechtssicherheit? Hat die Bundesregierung im Dezember einen Antrag vorgelegt, der rechtssicher ist, damit der Bundestag möglicherweise zustimmt? Oder ist das nicht der Fall? Ich glaube, diese Diskussion trägt eher zur Verunsicherung bei, insbesondere das, was in den letzten Wochen immer wieder von Sprechern der einzelnen Ressorts gesagt worden ist. Frank-Walter Steinmeier hat für unsere Seite erklärt, dass auch wir als Opposition die Verantwortung für Afghanistan übernehmen, zwar nicht bedingungslos, aber wir haben Kriterien formuliert, die wir in der nächsten Woche zur Diskussion stellen. Umso mehr war es gut, dass Frau Käßmann vonseiten der Evangelischen Kirche diese Debatte unterstützt hat. Ich habe manche Kritik vonseiten des Deutschen Bundestages überhaupt nicht verstanden und auch bestimmte Vergleiche nicht; das muss ich sagen. ({1}) Wer, wenn nicht die Kirche, muss über die Frage von Krieg und Frieden diskutieren? Das steht ihr gut zu Gesicht, aber dann muss sie es auch aushalten, wenn Fragen gestellt werden. Wenn Frau Käßmann zum Beispiel sagt: „Nichts ist gut in Afghanistan“, dann dürfen wir auch fragen: Was ist der Maßstab für diese Aussage? Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die ARD bzw. die BBC vor etwa 14 Tagen die Ergebnisse einer interessanten Umfrage veröffentlicht hat, die ein sehr differenziertes Bild zutage brachte: Die Afghanen selbst haben gesagt, dass sie auf der einen Seite große Probleme haben, dass sie auf der anderen Seite aber einen besseren Zugang zu Strom, Wasser und vielen anderen Dingen haben als vor einem Jahr. Das ist keine Bestätigung für die Afghanistan-Politik, sondern eher eine Ermunterung, auf diesen Ansatz zu bauen. Dennoch müssen wir die Frage stellen: Welchen Maßstab legen wir an Afghanistan an? Deswegen noch einmal: Es ist gut, dass sich die Kirchen an dieser Debatte beteiligen. Sie tun das sehr differenziert. Wir vom Deutschen Bundestag sollten uns darüber nicht beklagen, sondern diese kritische Diskussion mit führen. Wenn wir heute über den Einzelplan des Auswärtigen Amtes sprechen, lohnt es, dass wir uns zehn Jahre nach der Jahrtausendwende vergewissern, in welche Richtung diese Welt geht, nach welchen Rahmenbedingungen wir die internationale Politik werden aufbauen müssen. Ich will schlagwortartig auf ein paar Aspekte aufmerksam machen, auf die sich die deutsche Außenpolitik, wie ich glaube, wird einstellen müssen: Erstens. Die Weltfinanzkrise, über die wir hier aus innenpolitischen Gründen zu Recht immer wieder disku1298 tieren - auch heute Morgen -, hat natürlich insbesondere internationale Auswirkungen. Ich glaube, dass die Weltfinanzkrise den Unterschied zwischen armen und reichen Ländern, zwischen entwickelten, sich entwickelnden und den Ländern, in denen die Menschen in Armut leben, noch verschärfen wird. Das wird eine große Herausforderung für die deutsche und die europäische Außenpolitik, aber auch für die einzelnen Ressorts der Bundesregierung sein. Zweitens. Die Bedeutung der Schwellenländer wird zunehmen. Die G 7 und die G 8 werden in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr der Rahmen für die Lösung internationaler Probleme sein, sondern die G 20 oder andere internationale Organisationen. Nach meinem Dafürhalten muss aber auch die Bundesregierung auf diese Frage Antworten finden. Insbesondere, wenn wir eine vertrags-, normen- und regelgeleitete Politik machen wollen, werden wir überlegen müssen, ob diese internationalen Organisationen legitimiert sind, ob wir ihnen eine Legitimation verschaffen können und in welcher Konkurrenz sie stehen. Drittens. Der Klimawandel wird auch die Sicherheitsfragen in der internationalen Politik verschärfen. Es ist bitter, dass es in Kopenhagen nicht zu einer besseren Lösung gekommen ist. Umso mehr große Herausforderungen wird der Klimawandel, so glaube ich, für die internationale Gemeinschaft im Hinblick auf die Sicherung der Lebensbedingungen in den vom Klimawandel besonders betroffenen Ländern liefern. Der vierte Punkt ist die Frage der Aufrüstung, den Sie eben angesprochen haben, Herr Bundesaußenminister. Ich nenne an dieser Stelle auch die Frage von Religion und Politik. Ich glaube, das ist keine Leitidee der internationalen Politik. Wir dürfen diese Idee auch nicht immer bedienen. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht immer wieder verleiten lassen, die Religion als Ursache für internationale Konflikte anzusehen, da sie doch eher als Instrument von dem einen oder anderen genutzt wird. Ich glaube, gerade heute sollte man sagen: Kein Land der Welt wird diese internationalen Herausforderungen alleine bewältigen können, aber wir werden die USA zur Regelung dieser Probleme brauchen. Dass Präsident Obama mit seiner Demokratischen Partei eine entscheidende Niederlage erlitten hat, ist gar keine Frage. Ich warne aber davor, auf

Krista Sager (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003622

„Er löst das alles nicht“, auch wenn das in der veröffentlichten Meinung zurzeit schick zu sein scheint. Von dieser Stelle aus sage ich: Wir werden keinen besseren amerikanischen Präsidenten bekommen. Er geht die internationalen Probleme an, zum Beispiel durch seine Reden in Kairo und Prag - Sie haben das gesagt -, und versucht, die innenpolitischen Verhältnisse zu verändern. Deswegen haben Deutschland und Europa ein großes Interesse daran, die Politik dieses amerikanischen Präsidenten zu unterstützen. Ich glaube, die Bundesregierung ist dazu aufgerufen, dies nicht nur in den Partnerschaften, die wir mit den USA entwickelt haben, sondern auch im ganz konkreten Miteinander zu tun. Nach meinem Dafürhalten ist aus Sicht der USA das Verhältnis zu Russland das Thema, bei dem wir in Europa helfen können. Wir können helfen, dieses Verhältnis zu verbessern und - so sage ich es einmal - zu entkrampfen. So können wir auf diese Krise reagieren. Deswegen lautet meine Bitte an die Bundesregierung, gerade mit Russland über die Herausforderungen zu sprechen. Das hat auch die Vorgängerregierung getan. Ich will auf eine Frage aufmerksam machen, die von der russischen Regierung vielleicht anders beantwortet wird: die Frage der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Wer genau zugehört hat, als der russische Ministerpräsident gesagt hat: „Weil es die amerikanische Raketenabwehr gibt, brauchen wir neue offensive Waffen“, der weiß, was die Stunde geschlagen hat für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Das heißt, die Frage der Raketenabwehr muss in der Abrüstung und Rüstungskontrolle in den nächsten Jahren einen Stellenwert bekommen. Es ist mein Appell an Sie, dies auf die internationale Agenda mitzunehmen. ({0}) Wir vonseiten der SPD haben Ihnen bezüglich der konventionellen Abrüstung und Rüstungskontrolle schon früh angeboten, dass der Deutsche Bundestag, wenn Sie es wollen und für richtig halten, den sogenannten angepassten KSE-Vertrag ratifiziert. Ich glaube, das ist notwendig und angemessen. Wir unterstützen das. Herr Bundesaußenminister, wir nehmen Sie beim Wort. Genauso wie wir den amerikanischen Präsidenten bei der Lösung internationaler Probleme beim Wort nehmen, nehmen wir Sie beim Wort, die Abrüstung und Rüstungskontrolle voranzubringen. Sie haben unsere Unterstützung, wenn die letzten verbliebenen amerikanischen Atomwaffen auf dem Verhandlungswege aus Deutschland entfernt werden sollen. Das ist ein richtiger Punkt. Wir vonseiten der SPD folgen Ihnen auf diesem Weg. ({1}) Weil es nach meinem Dafürhalten gerade an dieser Stelle der Debatte darum geht, andere Verantwortliche in der internationalen Politik zu benennen, möchte ich noch einmal auf China zu sprechen kommen. Die Volksrepublik China wird das Land sein, das wir mehr und mehr zur Regelung internationaler Konflikte brauchen. Deswegen fanden wir es sehr angemessen und zeitgerecht, dass Sie nach China und Japan gereist sind und dort auch die Frage der Menschenrechte angesprochen haben. Es ist immer richtig, Kritik zu üben; aber ich glaube, es ist umso notwendiger, auch zu sagen, dass China Lehren aus der internationalen Politik zieht. Die Volksrepublik China wird mehr und mehr ein verlässlicher Akteur in der internationalen Politik, insbesondere im asiatischen Raum. Deswegen ist es gut, wenn wir sagen: Ja, die Volksrepublik China muss Verantwortung übernehmen und nach Regeln und Normen der internationalen Politik umsetzen. Zum Schluss. Wir sollten uns über die Rolle Europas klar werden. Sie haben Europa eben als Friedensgemeinschaft beschrieben, wo im Grunde genommen Krieg fern jeden Gedankens ist. Das ist vollkommen richtig. Aber wir sollten uns hier in Deutschland klarmachen, dass sich Gemeinschaftsbildung, wie sie in Europa geschieht, mittlerweile in der ganzen Welt entwickelt. Dort ist Gemeinschaftsbildung auf der regionalen Agenda. Ich habe eben über Asien gesprochen; das betrifft auch viele andere Regionen. Umso wichtiger ist, dass wir Perspektiven für andere Länder in Europa benennen, wenn es zur Stabilität Europas beiträgt. Deswegen unterstützen wir Ihre Türkeipolitik. Wir fanden es gut, dass dieses Thema im Koalitionsvertrag so aufgenommen worden ist wie damals zu Zeiten der Großen Koalition. Ich sage gleichzeitig: Insbesondere dabei, dass Sie für Minderheitenrechte in der Türkei plädieren, haben Sie unsere volle Unterstützung. Auch wir glauben, dass ohne die Türkei wichtige Herausforderungen in dieser Region nicht bewältigt werden können. Sie haben schließlich den Iran angesprochen. Wir vonseiten der Opposition, vonseiten der SPD unterstützen Sie auch in der Iranpolitik. Ich glaube, ein solches Land muss sich darüber klar werden, dass sich die Weltgemeinschaft, wenn es gegen internationale Normen verstößt, auf friedliche internationale Sanktionen verständigt. Bitte sorgen Sie mit dafür, dass die internationale Gemeinschaft zusammenbleibt. Denn das ist, glaube ich, die einzige Antwort, die der Iran versteht. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer ungewöhnlichen und deswegen aufrüttelnden Anklage beginnen: „Die EU schadet der Europa-Idee“. Das sagt kein Gegner der EU, sondern kein Geringerer als der frühere Bundespräsident Roman Herzog, ein Freund und Förderer eines Europas der Bürger. ({0}) Die EU, so mahnt er, verliere an Akzeptanz, weil sie über die Köpfe der Bürger hinweg immer mehr zentrale Vorschriften für Dinge erlasse, die mindestens ebenso gut lokal oder regional geregelt werden könnten. Er nennt dafür zahlreiche Beispiele. Roman Herzog hat recht. Gerade wir als Europafreunde müssen gegen eine Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips Widerstand leisten. Auch weil wir uns als Bundestag wichtige Gestaltungsmöglichkeiten erhalten müssen, haben wir eine besondere Wächteraufgabe. Mit dem Begleitgesetz zum Lissaboner Vertrag haben wir die dafür notwendigen Instrumente geschaffen. Eine entscheidende Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeit ist das Recht zu einer Stellungnahme, ehe der Außenminister im Kreis seiner EU-Kollegen über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheidet. Auch mit Blick auf die verfrühten Beitritte Bulgariens und Rumäniens müssen wir erreichen, am Ende der Verhandlungen über den Beitritt eines Kandidaten begründet „Ja“ oder „Jetzt noch nicht“ sagen zu können. Wir wollen nicht noch einmal in die Situation kommen, am Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken zu können. Dies erfordert, dass wir uns schon vor Verhandlungsbeginn selbst ein genaues Bild über den Stand der Vorbereitungen des Kandidaten machen. Vor allem - das ist die entscheidende Aufgabe - müssen wir unsere Erwartungen an den Verhandlungsprozess formulieren, insbesondere bei Problemthemen wie Rechtsstaatlichkeit oder Kriminalitäts- und Korruptionsbekämpfung, aber auch, wie im Falle Islands, mit Blick auf die Integrationsbereitschaft des Landes. Wenn wir derartige Benchmarks formulieren, dann haben wir eine Grundlage, um hinterher begründet „Ja“ oder „Jetzt noch nicht“ sagen und unsere Entscheidung auch unserer Bevölkerung erklären zu können. Das gilt selbstverständlich auch für die Frage eines Beitritts der Türkei. Um es in aller Klarheit zu sagen: Die Verhandlungen mit der Türkei sind mit dem Ziel des Beitritts aufgenommen worden, und sie sind ein ergebnisoffener Prozess. Sollte die EU nicht in der Lage sein, die Türkei aufzunehmen, oder sollte die Türkei nicht in der Lage sein, alle mit dem Beitritt verbundenen Verpflichtungen voll und ganz zu erfüllen, muss eine möglichst enge Anbindung erreicht werden. Wir müssen aber auch sehen, dass die Türkei seit mehr als drei Jahren die Anwendung des Ankara-Protokolls verweigert. Die Beitrittsverhandlungen kommen nicht voran. Das wirft die Frage auf, was die Türkei mit der EU will. Deshalb müssen wir uns schon jetzt unter strategischen Gesichtspunkten Gedanken machen, was wir dann tun wollen, wenn die Verhandlungen an einen toten Punkt kommen. ({1}) Sie einfach im Sande verlaufen zu lassen, wäre unwürdig und entspräche nicht unserem besonderen Interesse an einer Vertiefung der Beziehungen zur Türkei. Da die Modernisierung der Türkei in unserem Interesse liegt, stellt sich für uns die Frage, ob dieser innere Modernisierungsprozess bereits unumkehrbar ist und was wir gegebenenfalls für seine Fortsetzung tun müssen. Die Türkei spielt im Nahen und Mittleren Osten eine immer wichtigere und immer konstruktivere Rolle - das liegt in unserem Sicherheitsinteresse -, doch in strategischer Hinsicht ist diese Region für uns zu wichtig. Deshalb stellt sich die Frage, wie wir am ehesten ein eng mit der EU abgestimmtes Handeln der Türkei in dieser Region erreichen. Dazu gehört auch die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit der Türkei in Energiefragen; ich nenne nur das Stichwort Nabucco. Nicht zuletzt: Wenn in der Türkei jetzt gelegentlich über die sogenannte Norwegen-Lösung gesprochen wird, dann muss man das richtig verstehen. Gemeint ist nicht nur eine enge Anbindung an die EU durch den europäischen Wirtschaftsraum. Gemeint ist auch, dass es Norwegen war, das Nein zur EU-Mitgliedschaft gesagt hat, nicht die EU. All dies sind strategische Fragen des weiteren Vorgehens, die wir nicht mit einfachen Formeln beantworten können. Lieber Herr Außenminister, ein wichtiger Schwerpunkt Ihrer Rede war, den Abrüstungsbemühungen neue Dynamik zu verleihen. Das gilt - Sie haben es gesagt insbesondere für die schwierige Frage, wie der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen wirksam Einhalt geboten werden kann. Ich sage, auch für die Union: Ein nuklear bewaffneter Iran würde unsere Sicherheit bedrohen und im Nahen und Mittleren Osten einen neuen atomaren Rüstungswettlauf mit katastrophalen Folgen auslösen. Das muss verhindert werden. Deswegen sind auch wir, wenn es notwendig ist, zu härteren gemeinsamen Sanktionsmaßnahmen bereit. ({2}) Um eine neue Dynamik der Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen, unterstützen wir Sie, Herr Außenminister, nachdrücklich in Ihren Bemühungen, eine internationale Abrüstungsinitiative auf den Weg zu bringen. In diesem Zusammenhang werden auch die in Deutschland stationierten amerikanischen Nuklearwaffen eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen nicht nur auf weitere Abrüstungsschritte drängen, sondern einen konkreten Beitrag leisten - so wie wir es gemeinsam in unserer Koalitionsvereinbarung festgehalten haben. Konkret heißt das: Wir setzen uns für den Abzug dieser Waffen ein. Dieser soll aber nicht einseitig geschehen, sondern im Zusammenhang mit Abrüstungsvereinbarungen; denn auch anderswo in Europa, beispielsweise in Kaliningrad, sollten taktische Atomwaffen abgerüstet werden. Zudem soll dies im Zuge der Ausarbeitung des neuen strategischen Konzepts der NATO geschehen; denn auch in diesem Zusammenhang muss die künftige Rolle der Nuklearwaffen geklärt werden. Nicht zuletzt muss der Abzug dieser Waffen im Bündnis abgestimmt werden. Mit anderen Worten: nicht einseitig, sondern im Zusammenhang mit Abrüstung, im strategischen Konzept der NATO und im Bündnis abgestimmt. Das ist der Weg, um einen weiteren Schritt in Richtung einer nuklearwaffenfreien Welt zu gehen und gleichzeitig Vertrauen im Bündnis zu wahren. ({3}) Wir werden uns - das ist bereits gesagt worden - am nächsten Mittwoch ausführlich mit der Londoner Afghanistan-Konferenz befassen. Im Rahmen der Haushaltsberatungen muss man jedoch ein Wort zu Afghanistan sagen; denn Afghanistan ist nicht nur eine der größten außenpolitischen Herausforderungen, der AfghanistanEinsatz ist auch einer der kostenintensivsten Posten in dem Etat, über den wir diskutieren. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre mit der Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte und mit dem Abzug der ersten Bundeswehrsoldaten begonnen werden kann. Je früher wir unser militärisches Engagement reduzieren und schließlich beenden können, desto besser. Aber, um das ebenso deutlich zu sagen: Eine Übergabe der Verantwortung ist nur verantwortbar, wenn Afghanistan nach dem Abzug nicht erneut zur Basis von Terrornetzwerken wird oder in einen Bürgerkrieg zurückzufallen droht. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen: Afghanistan darf nicht wieder zu einem gescheiterten Staat werden, von dem aus Terroristen gegen uns agieren. ({4}) Was ist zu tun? Erstens. Neben der Aufgabe, weiter zu stabilisieren, muss es darum gehen, die Ausbildung afghanischer Soldaten und Polizisten zu beschleunigen. Je mehr Ausbilder wir nach Afghanistan schicken, desto schneller ist die erforderliche Anzahl Soldaten und Polizisten ausgebildet und desto früher werden wir mit dem Abzug unserer Soldaten beginnen können. Der Leitgedanke muss also lauten: Wer früher raus will, muss jetzt mehr Ausbilder für Militär und Polizei entsenden. Wer dazu nicht bereit ist, trägt die Verantwortung dafür, wenn wir länger bleiben müssen. ({5}) Wir wollen das nicht. Zweitens muss es darum gehen, eine effektive Regierungsführung zu erreichen. Dafür brauchen wir in London klare Zusagen der afghanischen Regierung. Das werden wir dem afghanischen Präsidenten Karzai nächste Woche bei seinem Besuch in Berlin auch sagen. Dies gilt insbesondere für die Bekämpfung der Korruption; wir brauchen aber auch eine bessere Balance zwischen der Zentralmacht und den Regionen und eine breitere politische Partizipation in den Regionen. Drittens muss es darum gehen, in unserem Verantwortungsbereich, im Norden, mehr für den Wiederaufbau zu tun: Grundversorgung mit Energie und Trinkwasser, mehr Infrastruktur im Transportbereich, mehr Schulen und Lehrer, mehr Arbeitsplätze. Im Hinblick auf die Äußerungen von Herrn Gysi heute Morgen - ich bin Ihnen dankbar, Herr Mützenich, dass Sie darauf eingegangen sind - will ich zu den Äußerungen von Frau Käßmann sagen: Es geht auch darum, das viele Gute, das die Aufbauhelfer und Soldaten bereits erreicht haben, auszubauen und zu vertiefen. Natürlich haben die Kirchen das Recht, sich an dieser Diskussion zu beteiligen, ({6}) sie müssen es sogar. Ist aber wirklich nichts gut in Afghanistan? Nach einer aktuellen BBC-Umfrage sehen 70 Prozent der Afghanen ihr Land auf einem guten Weg. 2001 gab es fast keine Schulen mehr. Heute gehen in Afghanistan Millionen Kinder in die Schule. 3 500 neue Schulgebäude wurden gebaut. 2001 gab es praktisch keine weiterführende Bildung mehr. Heute studieren 50 000 junge Afghanen an Universitäten, weitere 10 000 besuchen Berufsschulen. 2001 galten Frauen und Mädchen als Menschen zweiter Klasse. Heute ist die Gleichberechtigung in der afghanischen Verfassung festgeschrieben, können Mädchen wieder zur Schule gehen. 2001 gab es keine Gesundheitsversorgung mehr. Heute hat der größte Teil der Bevölkerung Zugang zu medizinischer Basisversorgung. 2001 gab es keine Infrastruktur mehr. Heute sind in Afghanistan 14 000 Kilometer Straße neu gebaut oder repariert worden. Ist das alles wirklich nicht gut? Ist es nicht so, wie es der Kölner Erzbischof Kardinal Meisner kürzlich gesagt hat, dass der Einsatz der Bundeswehr einen Schutzschild bietet, um zivile Strukturen aufzubauen? Ist es wirklich nicht gut, dass in Afghanistan aufgrund unserer Stabilisierungsbemühungen das PRT Faizabad im Laufe des zweiten Halbjahres 2010 an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden kann und sich die deutschen Sicherheitskräfte von dort zurückziehen können? Ja, es ist richtig: Das alles reicht bei Weitem noch nicht aus. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verstärken. Aber wer wie die EKD-Vorsitzende, und sei es nur als Predigtkunstgriff, mit Überzeugung behauptet, nichts sei gut in Afghanistan, der erweckt doch den Eindruck, als seien die bisherigen Aufbau- und Friedensanstrengungen nicht der Rede wert. Dies ist falsch, und es eröffnet dem Land keine Perspektiven. ({7}) Die Mahnung, mehr für den Aufbau zu tun und die Art unseres Einsatzes zu überdenken, ist voll berechtigt, und das müssen wir auch annehmen. Aber dabei darf nicht ignoriert werden, was unsere Entwicklungshelfer, die Soldaten der Bundeswehr, Polizisten und Diplomaten bereits erreicht haben. Sonst lässt man die Menschen in Afghanistan allein, statt ihnen - gerade auch im seelsorgerischen Sinne - Mut zu machen. Daher will ich neben dem großen Dank, den der Außenminister zu Recht denjenigen ausgesprochen hat, die sich jetzt unter so schwierigen Umständen in Haiti einsetzen, erneut, wie es in diesem Hause schon wiederholt geschehen ist, denen danken, die dafür Sorge getragen haben und weiterhin dafür Sorge tragen, dass in Afghanistan vieles schon besser geworden ist und Weiteres besser werden wird. Sie haben unsere Unterstützung bei ihren Bemühungen, dass Afghanistan so weit zur Stabilität kommt, dass es dort auch ohne die ständige Präsenz von Militärs eine selbsttragende Sicherheit gibt. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Leutert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, in den letzten Tagen wurde viel über eine ganz gewisse Spende diskutiert. Seit gestern Abend - Sie haben es selbst angesprochen - gibt es eine Spende, über die wir uns alle freuen können: 18 Millionen Euro für die Opfer in Haiti sind innerhalb weniger Stunden bei der ZDF-Spendengala zustande gekommen. Allerdings halte ich es für etwas peinlich, dass die Bundesregierung innerhalb einer Woche lediglich in der Lage war, 10 Millionen Euro zusammenzubringen. Meines Erachtens kommt dies davon, dass man die entsprechenden Mittel gekürzt hat. Damit sind wir auch schon beim Haushalt. Ihnen steht nicht wirklich viel Geld für die Außenpolitik zur Verfügung. Aber das wenige Geld, das Ihnen zur Verfügung steht, verteilen Sie auch noch falsch. Sie geben Ihr Geld mitnichten nur für zivile Projekte aus, sondern folgen mehr und mehr der militärischen Logik derzeitiger Außenpolitik. Die Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist aber - so dachte ich zumindest immer - das Vertreten der Angelegenheiten Deutschlands im Ausland und die Pflege unserer Beziehungen zu anderen Staaten und internationalen Organisationen. Dies sind Aufgaben rein zivilen Charakters. Dafür stehen Ihnen 3 Milliarden Euro zur Verfügung; das ist ungefähr 1 Prozent des Gesamthaushalts, von dem der Verteidigungsminister auch in diesem Jahr 10 Prozent abgreift. Wir hatten da schon einmal eine bessere Situation. Von diesen 3 Milliarden Euro sind 50 Prozent von vornherein komplett gebunden, also eigentlich nicht verhandelbar. Das sind Beiträge an internationale Organisationen und die Personalkosten. An vier Beispielen zeige ich nun, wie das wenige restliche Geld nach unserer Auffassung auch noch falsch, nämlich im Sinne der militärischen Komponente deutscher Außenpolitik, verteilt wird: Erstes Beispiel ist der Titel „Stabilitätspakt Afghanistan“, der der Öffentlichkeit neben dem Militäreinsatz immer als zivile Hilfe verkauft wird. Aber allein von den 90 Millionen Euro, die dafür zur Verfügung gestellt werden, gehen wieder 50 Millionen Euro in den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte. Das zweite Beispiel ist der Titel: „Demokratisierungsund Ausstattungshilfe, Maßnahmen zur Förderung der Menschenrechte“. Dafür stehen insgesamt 19 Millionen Euro zur Verfügung. Aber allein davon gehen 11 Millionen Euro in die sogenannte Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte. Letztendlich bleiben somit für die Förderung der Menschenrechte nur 3 Millionen Euro übrig. Das dritte Beispiel ist - Sie haben es hier ebenfalls angesprochen - die sogenannte Afrika-Initiative, die mit 31 Millionen Euro im Haushalt steht. Auch hier fließen wiederum 10 Millionen Euro direkt in den Aufbau der Polizei. Nun ist klar: Als Europäer denkt man bei Polizei nicht unbedingt sofort an etwas Schlechtes. Aber man muss sich einmal die Länder anschauen, in die diese Mittel fließen. Das sind Kongo, Liberia, Elfenbeinküste, Sierra Leone und Burundi. ({0}) - Das kann okay sein, aber ich möchte gerne wissen, über welche Polizeikräfte wir sprechen. Wir alle wissen, dass in diesen Ländern Polizeikräfte zum Teil paramilitärischen Charakter haben. Ich gehe davon aus, dass wir hier nicht bloß über Verkehrspolizisten sprechen. ({1}) Noch deutlicher wird es beim vierten Beispiel - das hat es im Etat des Auswärtigen Amtes so noch nicht gegeben, nämlich einen Titel mit direktem militärischem Bezug, der ganz ungeschminkt so benannt wird -: „Unterstützung des Aufbaus afghanischer Sicherheitskräfte durch die NATO“. Mit diesen Sicherheitskräften - das kann man in der Erklärung nachlesen - ist ausschließlich die afghanische Armee gemeint. Das hat in dem Haushalt des Auswärtigen Amtes überhaupt nichts zu suchen. Ich kann schon jetzt ankündigen, dass wir die Streichung dieses Titels fordern. ({2}) Es ist völlig klar: Der Etat des Auswärtigen Amtes ist eigentlich nicht der klassische Punkt, an dem man die Kritik an der immer stärker werdenden Militarisierung der Außenpolitik vorbringt. ({3}) Ich weiß im Übrigen auch aus vielen Gesprächen mit vielen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes, dass sie sich selber als Teil der zivilen Komponente der deutschen Außenpolitik verstehen. Aber die von mir hier vorgetragenen Beispiele machen deutlich, dass sich der Etat des Auswärtigen Amtes in dem Spannungsfeld von ziviler und militärischer Komponente in der Außenpolitik mehr und mehr in Richtung militärische Komponente bewegt. Im zivilen Bereich - ich kann dafür zwei Beispiele nennen - sieht es nicht besser, sondern schlechter aus. Dort werden nämlich die Mittel gestrichen. Die Mittel für Maßnahmen zur Sicherung von Frieden und Stabilität zum Beispiel werden um 14 Millionen Euro gekürzt. Der sehr wichtige Titel „Für humanitäre Hilfsmaßnahmen im Ausland“ - wir hatten eben das Thema Haiti wird um 7,5 Millionen Euro gestrichen. Letztendlich bleibt nur Folgendes festzustellen: Die schwarz-gelbe Bundesregierung ist de facto in der Logik militärischer Außenpolitik. In Afghanistan, in der eigenen Logik des Krieges, ist sie gefangen. Es ist Fakt, dass zivile Projekte, untersetzt durch den Haushalt, zu einem Teil dieser militärischen Logik werden und immer mehr an den Rand gedrängt werden. Das kann man in dem vorgelegten Haushalt nachlesen. Das widerspricht allen Erklärungen und Ankündigungen, dass man zum Beispiel in Afghanistan mehr für den zivilen Wiederaufbau tun möchte. Schon aus diesem Grund wird die Linke diesen Haushalt ablehnen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, im November haben wir hier den Koalitionsvertrag diskutiert. Damals habe ich unserem Land gewünscht, dass das Handeln von Schwarz-Gelb besser wird, als das der Text des Vertrages befürchten lässt. Diese Hoffnung hat sich bislang nicht erfüllt. In den letzten Wochen standen große Zukunftsfragen der Vereinten Nationen auf der Tagesordnung. Es ging und geht um einen Durchbruch beim Klimaschutz und um die Bekämpfung von Hunger und Armut trotz Wirtschaftskrise. Es ging um Deutschlands Rolle bei der Lösung der großen Menschheitsfragen. Es ging darum, voranzugehen. Aber diese Regierung hat durch den Mangel an politischen Initiativen viel Ansehen unseres Landes bereits verspielt. ({0}) Die Konferenz von Kopenhagen ist ein Beispiel für das Scheitern Ihrer Diplomatie. ({1}) Nach dem Klimagipfel reicht es eben nicht, auf China und die USA zu zeigen. Sie tragen selbst Mitverantwortung für eine falsche Verhandlungsstrategie der Europäischen Union. Sie haben konkrete Finanzzusagen an die Entwicklungsländer im Vorfeld der Konferenz genauso mitverhindert wie eine Erhöhung der europäischen Minderungsziele auf 30 Prozent. ({2}) Sie haben an entscheidender Stelle vorher blockiert statt voranzugehen. Das ist - auch wenn Sie das nicht gerne hören - ein Versagen deutscher Außenpolitik, und dann helfen danach auch alle schönen Worte des Umweltministers nichts. Auch bei der internationalen Bekämpfung von Hunger und Armut wird diese Regierung zur Bremserin, statt eine Vorreiterrolle einzunehmen. Ban Ki-moon hat gerade wieder verstärkte Anstrengungen zur Erreichung der Millenniumsziele eingefordert. Was ist die außenpolitische Antwort Deutschlands? Sie kündigen mit diesem Haushalt einseitig den Ausstieg Deutschlands aus dem europäischen Stufenplan zur Entwicklungsfinanzierung an. Das ist keine nachgeordnete Frage der Entwicklungspolitik; es ist ein Affront gegen zentrale Vereinbarungen der UNO und der Europäischen Union. ({3}) Sie haben sich mit diesem Haushalt von den bisherigen internationalen Zusagen Deutschlands verabschiedet, obwohl 2 Milliarden Menschen von weniger als 2 Dollar am Tag leben und über 1 Milliarde Menschen weltweit hungern. Diese Regierung hat zwar 1 Milliarde Euro jährlich für Hotelbesitzer, findet aber nur 44 Millionen Euro mehr, um die deutschen Versprechungen zur Bekämpfung von Hunger, Armut und Krankheit zu erfüllen. Das ist eine Schande für unser Land. ({4}) Ich fordere Sie auf: Halten Sie die deutschen Verpflichtungen international ein! Stehlen Sie sich nicht so schäbig davon! Der Mangel an politischen Initiativen zeigt sich auch am Beispiel Afghanistan. Eine klare Strategie für Afghanistan haben Sie uns wenige Tage vor der Afghanistan-Konferenz immer noch nicht vorgelegt. Wir fordern von Ihnen ein klares Konzept für einen massiven Polizeiaufbau mit mindestens 500 deutschen Polizisten, eine Aufbaustrategie, die endlich die wachsende Schere zwischen dem Hilfsbedarf einerseits und den Umsetzungs- und Abflussproblemen bei der Mittelverwendung andererseits schließt, und ein konkretes Konzept, um die Spirale der Gewalt im Norden Afghanistans zu durchbrechen. Außerdem fordere ich Sie auf, dem Bundestag einen verbindlichen Abzugsplan vorzulegen, der gemeinsam mit unseren Verbündeten abgestimmt und umgesetzt wird. Bisher haben Sie auf diese zentralen Punkte keine klaren Antworten, weil Sie in der Koalition keine Einigkeit haben. Das ist der Grund, weshalb Sie uns heute wieder nichts dazu gesagt haben. ({5}) Stattdessen versucht diese Regierung mit Haushaltstricks, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Es wird angekündigt, die Zahl der deutschen Polizisten in Afghanistan solle verdoppelt werden. Die Wahrheit ist aber: Damit lösen Sie nur das alte Planziel der Großen Koalition ein. Das war schon viel zu wenig, und es ist auch heute noch viel zu wenig. ({6}) Die Entwicklungsfinanzierung soll angeblich verdoppelt werden. Ein Blick auf die Fakten zeigt aber, dass Sie auch hier nur weitgehend die Versprechen von Schwarz-Rot erfüllen. Auch das ist keine neue Leistung Ihrer Regierung und Ihres Haushalts. Hören Sie auf zu tricksen! Hören Sie auf mit der Verneblungstaktik, und schaffen Sie Klarheit über den weiteren Kurs in Afghanistan! Wirklich beunruhigt haben mich in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Herrn Niebel, der eine enge Kooperation mit der Bundeswehr zur Bedingung für die Mittelvergabe an Entwicklungsorganisationen machen will. ({7}) Hier geht es um eine zentrale außenpolitische Frage der Gesamtstrategie in Afghanistan. Alle Experten sagen uns, dass es von zentraler Bedeutung ist, eine komplementäre Wirkung von militärischem Stabilisierungseinsatz und Entwicklungshilfe nicht mit Vermischung zu verwechseln. Genau das macht Herr Niebel falsch. Sie, Herr Westerwelle, haben die Federführung und lassen ihn gewähren. Das bedeutet sehr konkret, die zivilen Helfer in der Wahrnehmung vor Ort zu militärischen Handlangern zu machen. Das würde die Entwicklungshelfer vor Ort noch größeren Gefahren aussetzen, als es ohnehin schon der Fall ist. ({8}) Diese Äußerungen aus dem Kabinett zeigen generell ein hochproblematisches Verständnis deutscher Außenund Entwicklungspolitik. Wir brauchen keine einseitige Verengung auf das Militär. Auslandseinsätze dürfen eben auch nicht, wie das Herr zu Guttenberg Ende letzten Jahres gefordert hat, zur Selbstverständlichkeit werden, ganz im Gegenteil. Nach mehr als zehn Jahren Erfahrung mit Auslandseinsätzen brauchen wir eine öffentliche Debatte über deren Wirkungsmächtigkeit. Wir müssen Fehler ehrlich analysieren, politische und zivile Alternativen ins Zentrum stellen und militärische Gewalt als Ultima Ratio und nicht als Selbstverständlichkeit verstehen. Ich bin der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Frau Käßmann, sehr dankbar, dass sie diese Debatte mit einem Impuls deutlich in Gang gesetzt hat. ({9}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihre Bundesregierung hat mit ihrer Diplomatie beim Klimagipfel Schiffbruch erlitten. Sie ist bei der Bekämpfung von Armut und Hunger wortbrüchig geworden, und sie findet keine klare Antwort auf die Situation in Afghanistan. Das ist die Bilanz von zwölf Wochen Schwarz-Gelb in der internationalen Politik. Bei einem solchen Start mag man sich die nächsten Monate gar nicht ausmalen. Danke. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn etwas machen, was wir sonst bei anderen Debatten gerne tun, nämlich in diesem Fall nicht den Soldaten, sondern den Diplomaten danken. Das ist auch der Situation in Haiti geschuldet; der Minister hat darauf hingewiesen. Wir können mit Stolz sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland einen sehr professionellen und sehr motivierten diplomatischen Dienst hat. Zum Teil verrichten unsere Diplomaten ihren Dienst im Ausland unter sehr schwierigen Bedingungen. Es gibt nicht nur die Glamourbotschaften in Genf, Paris und New York. In den meisten Hauptstädten dieser Welt arbeiten unsere Diplomaten unter - auch persönlich sehr eingeschränkten Lebensbedingungen. Auch angesichts der Situation in Haiti sind wir unseren Diplomaten sehr zu Dank und Anerkennung verpflichtet. Außenminister Westerwelle hat in seinen Reden seit der Amtsübernahme zwei Dinge in den Vordergrund gestellt. Erstens. Er sieht sich in der Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Zweitens. Er wird eigene Akzente setzen. Beides hat er in den letzten fast drei Monaten sehr deutlich bewiesen. ({0}) Wir als FDP-Fraktion stehen nicht an, zu sagen: Jawohl, wir stehen in der guten Tradition deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sind stolz auf unsere eigenen liberalen Außenminister. Gleichwohl sehen wir, dass auch die nichtliberalen Außenminister - solche gab es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ({1}) die Kontinuität in der deutschen Außenpolitik gewährleistet haben; darauf möchten wir rekurrieren. Das werden wir weiterhin so sehen. Der Herr Außenminister hat deutlich gemacht - das ist auch die Meinung meiner Fraktion -, dass uns sehr daran gelegen ist, den Konsens der deutschen Außenund Sicherheitspolitik auch in Zukunft weitestgehend zu erhalten. ({2}) Wir halten das für ein hohes Gut, sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch. Wir kennen die Konfliktsituationen - auch inhaltlicher Art - und die parteipolitischen Profilierungsnotwendigkeiten sehr genau. Aber es ist wichtig, dass wir in Deutschland auf einer gemeinsamen Werte- und Interessenbasis Außen- und Sicherheitspolitik betreiben. Das wollen wir sehr gerne weiterhin tun. Deshalb stehe ich nicht an, lieber Kollege Mützenich, Ihnen für Ihre heutige Rede ganz herzlich zu danken. Ich hoffe, es schadet Ihnen bei Ihren Parteigenossen nicht, wenn ich als Liberaler so etwas sage. Aber das ist die Art, wie wir gerne zusammenarbeiten würden. Sie akzentuieren die Unterschiede völlig zu Recht. In manchen Dingen geben Sie Ansatzpunkte zum Nachdenken. Aber wir können erkennen, dass wir hier eine gemeinsame Basis haben, auf der wir weiterhin zusammenarbeiten wollen. Ich sage im Namen meiner Fraktion ausdrücklich: Es ist unser Ziel, in den nächsten Wochen diesen Konsens bei dem uns allen wichtigen Thema Afghanistan so weit wie möglich zu erhalten. Wir reichen die Hand auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, um gemeinsam Verantwortung für Deutschland wahrzunehmen. Wir kennen Ihre Diskussionen und die Zerrissenheit Ihrer Fraktion. Wir wollen weiterhin versuchen, im Interesse Deutschlands und Afghanistans gemeinsam zu arbeiten. ({3}) Nun versucht man in den ersten Wochen der neuen Regierung krampfhaft, sich an Außenminister Westerwelle abzuarbeiten. Dieses Bemühen eint einige Publikationen sowie einige Stimmen hier im Deutschen Bundestag. Manche der innerhalb und außerhalb dieses Hohen Hauses geäußerten Kritikpunkte kann ich nur als rührende Bemühungen bezeichnen; denn sie treffen einfach nicht. Der Außenminister hat sehr klar gesagt, dass er eigene Akzente setzen wird, und das hat er in den bisherigen knapp drei Monaten auch getan. Schon in seinem Reiseplan hat er deutliche Akzente gesetzt: Warschau, Brüssel, dann Paris - und zwar ohne jede Verstimmung, ja sogar mit Zustimmung Frankreichs -, die Türkei, Tokio und China. Außerdem setzt er deutliche Akzente bei seiner Art der parlamentarischen Zusammenarbeit. Wir hatten gestern Abend im Rahmen der Obleuterunde zum zweiten Mal das Vergnügen eines gemeinsamen Essens mit dem Außenminister. ({4}) Sie können Ihre Kollegen, die dabei waren, fragen, und sie werden Ihnen bestätigen, dass nicht nur das Essen, sondern auch die Diskussion sehr gut war. Außenminister Westerwelle gelingt es sehr gut, auf der einen Seite die deutschen Interessen zu vertreten, auf der anderen Seite aber nicht die deutliche, im Ton durchaus moderate Benennung der Wertebasis, die wir mit der deutschen Außenpolitik erhalten wollen, zu vernachlässigen. Das sind wichtige Akzente, die er in den ersten Monaten gesetzt hat. Daran ist auch beim schlechtesten Willen der Opposition nichts auszusetzen. Daher sollten Sie dem beschriebenen Verfahren zustimmen. ({5}) Es gibt einige Themen, die die außenpolitische Agenda in den nächsten Wochen und Monaten dominieren werden. Ich kann sie jetzt nicht alle abarbeiten; zu einigen Punkten ist auch schon viel gesagt worden. Herr Kollege Schmidt, Ihre Kritik im Hinblick auf Afghanistan gleitet an uns ab, denn wir haben sehr für einen intellektuell integren Prozess geworben. Wir haben gesagt, dass die Konferenz in London wichtig ist und die deutsche Bundesregierung mit eigenen Ideen in diese Konferenz gehen muss. Diese werden nächste Woche von der Bundeskanzlerin hier vorgetragen werden. Wir warten die Konferenz in London ab und gehen dann in der folgenden Reihenfolge vor: erst die Ziele festlegen, dann die Strategien und schließlich Maßnahmen und Ressourcen zuordnen. In dieser Reihenfolge wird die BundesreDr. Rainer Stinner gierung vorgehen, und dabei werden wir sie als FDPFraktion kritisch, aber positiv begleiten. ({6}) Lassen Sie mich ganz kurz auf den Nahostkonflikt, der uns alle beschäftigt, eingehen. Ich möchte für meine Fraktion noch einmal betonen, welch unglaubliche historische Dimension die israelisch-deutschen Regierungskonsultationen haben. Sie haben eine symbolische Bedeutung, die wir uns vor einigen Jahren nicht vorstellen konnten. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir als Deutsche sagen, dass es uns auf der Basis der gefestigten deutsch-israelischen Beziehungen als Freunden Israels möglich ist, kritische Positionen offen anzusprechen, zum Beispiel die Siedlungspolitik, die wohl alle im Deutschen Bundestag mit einer gewissen Skepsis betrachten. Wir als FDP-Bundestagsfraktion erwarten, dass die Bundesregierung bei allen inhaltlichen Punkten der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik deutsche Positionen sehr deutlich definiert und international vorträgt. Lassen Sie mich in der mir verbleibenden Minute noch etwas zum Haushalt ausführen. Lieber Herr Leutert, zu Ihnen kann ich nur sagen: Für jemanden, der nur einen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus. ({7}) Ihrer Kritik, es würde krampfhaft eine Militarisierung hervorgerufen werden, kann ich nur mit einer gewissen Belustigung begegnen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass sich ein Akzent des Außenministers, nämlich die Abrüstung, in diesem Haushalt unmittelbar niederschlägt. Die Mittel für die Abrüstung sind um 21 Prozent gesteigert worden. Das entspricht der Akzentsetzung dieses Außenministers. ({8}) Wir müssen uns aber fragen - das ist mein abschließender Gedanke, Herr Präsident -, ob die Mittelzuweisungen an die Außenpolitik auf Dauer genügen. Ich weise darauf hin, dass die auswärtigen Dienste vergleichbar großer Länder wie Frankreich oder Großbritannien wesentlich größer sind als unserer. Masse ist nicht alles, aber es ist ein Indiz. Ich sage Ihnen: Wir müssen uns auch Gedanken über die Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer Diplomaten und Diplomatinnen machen. ({9}) Eines interessiert uns dabei besonders, nämlich wie wir den diplomatischen Dienst auch für Familien attraktiver machen können. Wir haben hier ein Problem. Das ist nicht Sozialpolitik im Interesse der Diplomaten, sondern das ist Interessenpolitik; denn die Wirksamkeit und die Schlagkraft des diplomatischen Dienstes hängen davon ab, dass wir genügend fähige Leute finden, die auch ins Ausland gehen können. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Die Grundlagen deutscher und liberaler Außenpolitik bleiben konstant. Wir wollen Frieden schaffen für unser Land im Bündnis mit Europa und der Welt. Wir wollen internationale Verantwortung übernehmen, in Haiti und auch woanders.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir wollen helfen, wo wir helfen können. Dafür stehen wir als FDP-Fraktion, und wir unterstützen dabei die Bundesregierung mit ganzer Kraft. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Außenminister! Der Lissabonner Vertrag ist nun zum Glück in Kraft, und die institutionellen Debatten können ein Ende finden. Der Weg ist jetzt frei, wieder intensiver über die Gestaltung der Europäischen Union nachzudenken. Lieber Kollege Schockenhoff, Sie haben im Zusammenhang mit der Subsidiaritätskontrolle des Deutschen Bundestages insbesondere das Thema der EU-Erweiterung um die Türkei angesprochen. Mich treibt die Sorge um, dass manchmal eher der Versuch unternommen wird, hier eine Verhinderungspolitik zu betreiben. Heute wollen wir nicht über die zum Glück gestärkten Rechte des Deutschen Bundestages sprechen, sondern über die Europapolitik der Bundesregierung; denn Deutschland hat eine ganz wichtige Rolle und vor allen Dingen eine große Verantwortung in Europa. Da frage ich doch, Herr Stinner, ob neben der Kontinuität, die ich wahrnehme und sehr begrüße, die eigenen Akzente tatsächlich schon Wirklichkeit geworden sind. Ich habe heute von Frau Bundeskanzlerin Merkel so gut wie nichts zur Europapolitik gehört und leider auch von Ihnen, Herr Westerwelle, wenig. Ich sehe ein, Ihre Redezeit war begrenzt; ({0}) aber wir müssen schon erwarten, dass zu Beginn der Amtszeit einer Regierung diese Dinge deutlich werden. Da muss ich Ihnen sagen: Reisen allein genügt nicht. Es geht, wenn es stimmt, dass wir eine Wertegemeinschaft sind, um die Erarbeitung gemeinsamer Positionen; es geht um die praktische Umsetzung dieser Werte; es geht um konkrete Politik. Was passiert gerade mit unseren Nachbarn? Ich möchte als Erstes sagen, dass auch ich Ihnen, Herr Westerwelle, sehr dankbar bin, dass Sie zunächst in Polen waren und dass Sie Frankreich besucht haben. Auch Frau Staatsministerin Pieper ist schon in Polen gewesen. Dieses und auch die Äußerungen, die Sie dort getan haben, kann ich nur begrüßen. Ich freue mich sehr, dass Premierminister Tusk der Karlspreis verliehen wird, weil er in der Tat auf der polnischen Seite die Persönlichkeit ist, die sehr viel dazu beigetragen hat, dass die deutsch-polnischen Beziehungen wieder verbessert werden. An dieser Stelle muss ich in Richtung der Frau Bundeskanzlerin sagen, vor allen Dingen weil ich ihre Verantwortung sehe: Sie muss in diesem Feld einen Streit aus der Welt schaffen. ({1}) Es geht nicht, dass die Frage Steinbach dieses Verhältnis weiter belastet. Ich will mit aller Deutlichkeit sagen: Ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass man in der Koalition meint, darüber Verhandlungen beginnen zu können. Wir haben ein gültiges Gesetz, und es gibt niemanden, der Bedingungen zu stellen hat, wie dieses Gesetz umgesetzt werden soll. Das muss ich ganz klar und eindeutig zurückweisen. ({2}) Hier ist der Außenminister gefragt, damit wir in der beschworenen Kontinuität, Herr Westerwelle, fortsetzen können, was für Willy Brandt ganz wichtig war: dass wir ein Volk von guten Nachbarn sind. ({3}) Wir haben gemeinsam mit Polen wichtige Fragen anzupacken. Ich verweise auf die östliche Partnerschaft; da warte ich auf Initiativen. Wir haben im Übrigen zusammen mit Frankreich wichtige Initiativen zu ergreifen; ich denke etwa an die Mittelmeerunion. Palästina, Israel, der Nahe Osten sind angesprochen worden. Wenn wir hier nicht vorankommen, dann wird diese Union für das Mittelmeer nicht von Erfolgen gekrönt sein, und dann werden auch die positiven praktischen Initiativen ins Leere laufen. Vielleicht ist der Deutsch-Französische Tag, den wir in zwei Tagen feiern, für Sie ein Anlass, die eine oder andere Initiative bekannt zu geben, Herr Außenminister. Ich frage mich aber auch: Wo ist das stimmige Konzept der Regierung in Bezug auf die Erweiterungspolitik? Zu Kroatiens Beitritt sagt man Ja. Bezüglich der westlichen Balkanstaaten wissen wir schon nicht, wie die Position der Regierung ist. Man hört immer wieder, dass es dort Vorbehalte gibt. Wenn wir das ernst nehmen, was Sie, Herr Westerwelle, gesagt haben - dass die Europäische Union vor allen Dingen ein friedensstabilisierender Faktor ist -, dann können wir diese Länder nicht auf Dauer als Insel innerhalb der Union mit Instabilität und großen Problemen zurücklassen. Es geht eben auch darum, wie die Frage des Beitritts der Türkei entschieden wird. Auch hier, Herr Westerwelle, haben Sie unsere Unterstützung, dass wir diesen wichtigen Partner auf dem Weg in Richtung Europäische Union begleiten. Die klaren Verhandlungsbedingungen muss man nicht wiederholen. Wir wollen, dass wir zu einem positiven Ergebnis kommen. ({4}) Wo sind die Ideen, die Konzepte für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Wo stehen wir in der Frage der Partnerschaft mit Russland? Auch hier müssen wir im Zusammenhang mit wichtigen Zukunftsfragen vorankommen. Ich fordere Sie auf, schnell nachzuliefern. Wo steht diese Regierungskoalition, wenn es darum geht, die Politiken der EU, sowohl die Inhalte als auch die Instrumente und Methoden, an die Herausforderungen der Zeit anzupassen? Beispielsweise wird uns bald die „Finanzielle Vorausschau“ vorgelegt. Wir hören von der Bundesregierung, man wolle keinen Cent zusätzlich geben. Man wolle auf der anderen Seite die Gemeinsame Agrarpolitik nicht verändern. Man wolle in der Strukturpolitik natürlich dafür sorgen, dass der nötige Rückfluss wieder erfolgt. Aber gleichzeitig sollten neue Aufgaben erfüllt werden; ich erinnere hier an den Europäischen Auswärtigen Dienst, ich erinnere an FRONTEX und andere Aufgaben. So kann es also nicht weitergehen; daher frage ich Sie, ob Sie nicht auch einmal etwas konzeptionell denken können wie beispielsweise der Luxemburger Finanzminister, der neue Ideen in Bezug auf eine europäische Steuer, durch die die EU finanziert wird, auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wo bleibt die konzeptionelle Kraft dieser „Traumregierung“ für wichtige europapolitische Felder? Der Misserfolg in Kopenhagen in Fragen des Klimaschutzes ist schon angesprochen worden. Auch ich bin der Meinung, dass ein wesentlicher Punkt die mangelnde europäische Einigkeit gewesen ist. Wenn wir es nicht schaffen, die EU-Mitgliedstaaten, unsere Partner und Partnerinnen, davon zu überzeugen, dass wir gemeinsam für dieses 30-Prozent-Ziel verbindlich stehen, dann werden wir hier auf Dauer nicht vorankommen. ({5}) Das hängt auch davon ab, ob es uns gelingt, an der einen oder anderen Stelle, Streitfragen aus der Welt zu schaffen, ob es uns beispielsweise gelingt, unsere östlichen Partner zu bewegen, ein Stück nach vorne zu gehen. Auch die Frage der Energieversorgungssicherheit ist nur gemeinsam, nicht bilateral zu beantworten. Ich weiß, dass das schwierig ist. Umso wichtiger ist es deshalb, dass wir innereuropäisch etwas für die Umsetzung des Energiebinnenmarktes tun, indem wir die Initiativen zur Schaffung einer gemeinsamen Infrastruktur - Stromnetze, Gasnetze, Interkonnektoren - voranbringen und regenerative Energien und Energieeffizienz befördern, statt uns auf den Standpunkt zu stellen, mit der Atomenergie könnten wir heute noch punkten, und damit eine Strategie nach dem Motto: „Rückwärts in die Steinzeit“ zu fahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch noch auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zu sprechen kommen. Sie ist nicht vorbei; das hat ja auch Frau Merkel gesagt. Von dem Richtigen, was wir in der Großen Koalition gemeinsam durchgesetzt haben, haben wir uns keineswegs, wie Herr Kauder, der leider nicht mehr hier ist, sagte, verabschiedet. Die Erfolge werden sich noch zeigen. Allerdings sind die Auswirkungen der Krise immer noch zu spüren; es besteht nach wie vor eine Rückfallgefahr; und erst recht ist es noch nicht gelungen, ihre Ursachen zu beseitigen. Auch hier müssen wir fragen: Was regelt die Regierung in der EU, damit in Zukunft keine Finanzblasen mehr entstehen, die beim Platzen zu einer verheerenden Explosion führen, welche mit einem Absturz von Sparern, Kleinanlegern und Beschäftigten verbunden ist? Herr Schäuble hat gestern gesagt, es seien Lehren aus der Krise gezogen worden. Wo bleibt aber eine konkrete Finanzmarktregulierung? Helmut Schmidt wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die EU hier große Spielräume und auch großen Einfluss auf die Weltmärkte für Geld und Kapital hat. ({6}) Deshalb muss es darum gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass mehr in Bezug auf Transparenz, Finanzaufsicht, Bonusregelungen und Besteuerung getan wird. Man kann sich dabei nicht damit herausreden, dass international noch nichts erreicht worden ist. Wenn man national nichts tut und auch nicht versucht, etwas europäisch voranzubringen, dann besitzt man in dieser Frage keine Glaubwürdigkeit auf der internationalen Ebene. ({7}) Das ist insbesondere in Bezug auf ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang zu sagen, nämlich die Finanzmarkttransaktionsteuer. Die USA und China wird man nur ins Boot bekommen, wenn man Druck aufbaut und einheitlich agiert. Erlauben Sie mir, zu zitieren, was Helmut Schmidt hierzu gesagt hat: Die Regierung Merkel/Westerwelle ist erstaunlich vorsichtig und zurückhaltend auf dem Feld der Finanzaufsicht, die eigentlich im deutschen Interesse gestrafft werden müsste. Und nicht nur da: Es kommen keine Vorschläge an die Adresse der Amerikaner, es gibt kaum Vorschläge zu Afghanistan, keine zu Iran, keine zu Israel versus Palästinenser. In all diesen Feldern sollte Deutschland im Rahmen der EU stärker und selbstbewusster auftreten. ({8}) Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Europäische Union in internationalen Gremien gemeinsam auftritt. Auch hier möchte ich an eine neue Initiative des wiedergewählten Vorsitzenden der Euro-Gruppe bei der G 20, Jean-Claude Juncker, eines Christdemokraten und damit eines Parteifreundes von Ihnen, erinnern. Er fordert, dass die Euro-Gruppe bei der G 20 einen gemeinsamen Sitz einnimmt. Es ist völlig klar, dass Italien, Frankreich und Deutschland dann auf dieser Ebene zurückstecken müssten, nach dem Motto: Geteilte Souveränität ist gesteigerte Souveränität. Das heißt ja nicht, dass man nicht im Vorfeld entsprechend Einfluss ausüben kann und ausüben muss. Aber man muss darauf hinweisen, dass der Erfolg eher gegeben ist, wenn man gemeinsam auftritt. ({9}) Auch hierzu möchte ich ein Zitat bringen, diesmal aus der Financial Times Deutschland: Allerdings sprechen Erfahrungen der jüngsten Zeit für den Euro-Vorstoß. Bei den Kopenhagener Klimaverhandlungen führte der zersplitterte Auftritt der Europäer dazu, dass die USA das Endergebnis mit den Schwellenländern China, Indien, Brasilien und Südafrika aushandelten und die EU ignorierten. … Selbst in großen EU-Ländern reift die Einsicht, dass Europa Einfluss nur bewahren kann, wenn es geeint auftritt. Ich frage: Sollte Deutschland da eine Ausnahme sein? Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wären noch viele Felder anzusprechen, auf denen mehr Initiative erforderlich wäre. Ich erinnere an die Lissabon-Plus-Strategie. Wir wollen gerne mit Ihnen über diese Dinge diskutieren und sind gespannt auf Ihre Konzepte, Herr Westerwelle. Eines ist klar: Diese Koalition braucht Mut statt Kleinmut. Sie braucht Kooperation statt Streit. Sie braucht Gemeinwohlorientierung statt Klientelpolitik und Eigeninteresse. ({10}) Wenn Sie dieser Linie in Ihrer Europapolitik folgen, dann werden die Sozialdemokraten an Ihrer Seite sein. Denn - um mit Willy Brandt zu sprechen - wir wollen mehr Europa und nicht weniger. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages und vor dem Beginn der Amtszeit einer neuen Kommission an einem Punkt, an dem wir eine europapolitische Be1308 standsaufnahme machen sollten. Zwei Beobachtungen geben aus meiner Sicht Anlass zu Schlussfolgerungen: Einerseits sehen wir uns im Zuge der weltweiten Vernetzung, der Globalisierung, einem verschärften internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Trotz ihrer Wirtschaftskraft findet die Europäische Union bei den großen, grenzüberschreitenden Fragen - von der Klimapolitik über die Finanzmarktregulierung bis zur Welthandelsrunde - kein ausreichendes Gehör, wenn es ihr nicht gelingt, mit einer Stimme zu sprechen. Hier sind wir noch nicht am Ende unserer Möglichkeiten angelangt. Andererseits müssen wir feststellen, dass die Bürger der Europäischen Union, die eine Wertegemeinschaft ist, sich zunehmend auf ihre lokale, regionale oder nationale Verwurzelung konzentrieren. Das ist offenbar ein gegenläufiger Prozess zur Globalisierung. Damit steht die Europäische Union in den nächsten Jahren vor zwei zentralen Herausforderungen: Zum einen muss das Gewicht Europas nach außen gestärkt werden. Zum anderen brauchen wir innerhalb der Europäischen Union den Mut zu mehr Vielfalt und weniger Gleichmacherei. Vieles ist in dieser Beziehung aus dem Gleichgewicht geraten. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die europäische Integration für viele Bürger ihren Reiz eingebüßt hat. Bundespräsident Horst Köhler hat das vor gut vier Wochen, am 20. Dezember 2009, anlässlich des 60. Jahrestages des Karlspreises deutlich umschrieben, indem er gesagt hat - ich zitiere -: Die Bürger sollen schlicht die Erfahrung machen, dass Europa ihnen dient. Zu oft erleben sie heute das institutionelle Europa vor allem als Ärgernis. Das ist ein Grund für das vielfach zu geringe Vertrauen, das der Europäischen Union und ihren Institutionen entgegengebracht wird. Was sind die Lehren für die aktuelle Politik? Was den Klimaschutz angeht, hat die Europäische Union in Kopenhagen bei weitem nicht die Erwartungen unserer Bürger und der internationalen Öffentlichkeit erfüllen können. Stattdessen beschäftigt sich die Europäische Kommission mit der Mobilität in Innenstädten, mit einer Frage also, für die bei uns die Kommunen zuständig sind. Es ist ein eklatantes Missverhältnis, wenn sich die Europäische Union mit Kleinigkeiten, mit Nebensächlichkeiten befasst und einen erklecklichen Eifer in der Bevormundung und Drangsalierung der Bürger entwickelt, aber dort, wo wir ein starkes Europa und die Vorreiterrolle der Europäischen Union in der internationalen Klimaschutzpolitik bräuchten, nicht das erreicht, was sie will. ({0}) Meine Damen und Herren, hier müssen wir die Dinge wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Die Vorschläge der Kommission zur Mobilität in den Innenstädten haben überhaupt nichts mit grenzüberschreitenden Fragen zu tun. Sie sind ein klarer Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip. Die Kommission sollte davon schlicht Abstand nehmen und sich um die Fragen kümmern, für die sie prioritär zuständig ist. Die Verhandlungen in Kopenhagen sind von der Kommission geführt worden. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, dass wir bei den Folgekonferenzen in diesem Jahr in Bonn und in Mexiko zu einer gemeinsamen Position der Europäischen Union in der Klimaschutzpolitik kommen. Ähnliches gilt in der Wirtschaftspolitik. Wir brauchen nach dieser etwas verkorksten Lissabon-Strategie einen Ansatz, wie wir in der Europäischen Union zu mehr Wettbewerbsfähigkeit kommen. Ich sehe mit einer gewissen Skepsis die Vorschläge, die von Spanien zu Beginn der neuen Ratspräsidentschaft gemacht worden sind. Ich bin dafür zu gewinnen, dass wir uns Zielmarken setzen. Aber diese müssen wir, bitte schön, im Wettbewerb miteinander erreichen und nicht durch eine wirtschaftspolitische Globalsteuerung aus Brüssel. Auch da gilt also: Wir müssen die großen Dinge gemeinsam und mit den richtigen Instrumenten regeln, aber nicht mit Gleichmacherei und Harmonisierungsdruck aus Brüssel. Ähnliches gilt in der Finanzpolitik. Natürlich brauchen wir ein größeres Gewicht der Europäischen Union in der internationalen Finanzpolitik. Wir müssen die Vorgaben mit setzen für die Regulierung und auch für die Aufsicht der Finanzmärkte. Aber das darf nicht so weit gehen, dass auf europäischer Ebene auf ein Weisungsrecht gegenüber nationalen Aufsichtsbehörden zurückgegriffen wird. Aufsicht funktioniert immer dann, wenn möglichst viele Augen hinschauen. Deswegen ist es richtig, die Koordinierung, die wir in Europa brauchen, zu verbessern. Aber wir brauchen kein Weisungsrecht gegenüber nationalen Behörden. Lassen Sie mich diesen Punkt zusammenfassen. Wir brauchen nach meiner festen Überzeugung ein starkes Europa, wenn es um die großen Fragen, um die Zukunftsfragen für unseren Kontinent und für den ganzen Globus geht. Aber wir brauchen zugleich ein schlankes Europa, wenn es um die Alltagsfragen für unsere Bürger und für die Unternehmen geht. Das ist die Balance, die wir finden müssen. ({1}) Es gibt jährlich einen Subsidiaritätsbericht der Kommission. Ich denke, der bevorstehende Amtsantritt der neuen Kommission wäre eine geeignete Gelegenheit, alle laufenden Vorhaben neu zu bewerten und, bitte schön, die Vorhaben zurückzuziehen, die bisher keine Mehrheit in Europa gefunden haben. Es wäre ein Beitrag zu mehr Demokratie und Bürgernähe, dass nicht alles in den Schubladen verbleibt, bis irgendwann das Rad ein Stück weiter gedreht werden kann. Vorschläge, die keine Mehrheit finden, sollten auch einmal vom Tisch genommen werden. Wir müssen unsere Rolle als Deutscher Bundestag in diesen Fragen deutlich stärken. Wir haben während der letzten Legislaturperiode alle Voraussetzungen dafür geschaffen. Jetzt müssen wir dazu übergehen, europäische Vorhaben in unseren Ausschüssen nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern uns zu positionieren und Stellung zu beziehen. Wir müssen uns auch auf europäischer Ebene stärker mit den Kolleginnen und Kollegen in den anderen nationalen Parlamenten vernetzen. Wir werden früher oder später wohl auch die Gelegenheit bekommen, die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes durch den Europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen. Nach den Vorschlägen und Beschlüssen, die man aus Brüssel bekommt, zu urteilen, wird das nicht lange auf sich warten lassen. Ich freue mich darauf, dass der Europäische Gerichtshof die Gelegenheit erhält, seine neue Rolle als Wächter der Subsidiarität auszuüben. Lassen Sie mich zum Thema der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik einige Sätze sagen. Wir haben hier Spielraum für eine stärkere Rolle der Europäischen Union. Wir haben deshalb ganz bewusst im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir eigene Planungsund Führungsfähigkeiten der Europäischen Union in diesem Bereich haben wollen. Wenn wir die Tragödie in Haiti betrachten, dann wird augenfällig, dass wir in der Tat auch auf europäischer Ebene besser zusammenarbeiten müssen. Es sind zwar bereits beträchtliche Hilfen angelaufen. Aber es darf nicht sein, dass bei einem Erdbeben dieses gewaltigen Ausmaßes die Europäer zu einem guten Teil sozusagen nebeneinander laufen. Hier sind Verbesserungen nötig. Um in einer solchen Krise schnell helfen zu können, ist die Koordinierung das Wichtigste. Die Bewältigung solcher Krisen ist eine gigantische Koordinierungsaufgabe. Wir sollten daher einen Teil der Koordinierung in der Europäischen Union bewerkstelligen. Deswegen halte ich den Vorschlag, den der neue ständige EU-Ratspräsident Van Rompuy gemacht hat, nämlich eine humanitäre Eingreiftruppe der Europäischen Union zu schaffen, für sehr überlegenswert. Ich denke, dass wir genau in dieser Richtung weiterarbeiten müssen. Meine Damen und Herren, im Rahmen der Außenund Sicherheitspolitik wird der Europäische Auswärtige Dienst in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt zu weiten Teilen eine Domäne der Mitgliedstaaten. Deswegen ist es richtig, wenn die auswärtigen Dienste der Mitgliedstaaten in diesem Europäischen Auswärtigen Dienst stark vertreten sind. Aber ich denke, dass dieser Europäische Auswärtige Dienst nur dann Sinn macht, wenn die Synergieeffekte, die in einer gemeinsamen Arbeit auf europäischer Ebene liegen, auch tatsächlich zum Tragen kommen. ({2}) Es kann doch nicht sein, dass der Europäische Auswärtige Dienst auf die bestehenden nationalen Dienste einfach obendraufgesattelt werden soll. Im Gegenteil: Da besteht Potenzial für Personaleinsparungen auf europäischer Ebene genauso wie auf nationaler Ebene. Ich rate uns sehr, dieses Potenzial zu nutzen; denn sonst schaffen wir Doppelstrukturen, die uns im Ergebnis nicht helfen, sondern die Dinge eher komplizieren. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue mich, dass viele Kolleginnen und Kollegen nicht nur die Kontinuität in der Außenpolitik betont haben, sondern auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Diese besteht auch auf unserer Seite. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, Sie haben heute sehr viel über eine werteorientierte Außenpolitik geredet. Letzte Woche konnte ich Sie nach Japan und China begleiten; es war eine sehr interessante Reise. Aber angesichts dessen, dass wir in dieser Woche auch über Werte in der deutschen Politik reden, sollten Sie sich natürlich ein bisschen daraufhin überprüfen lassen, dass Politik in Deutschland nicht käuflich wird. ({0}) Denn dann könnte man auch im Ausland noch stärker für eine Werteorientierung werben. Ganz nebenbei, die FDP könnte einen guten Zug machen - dann wäre die Werteorientierung wieder vorhanden -: Um von diesem schlechten Beigeschmack wegzukommen, sollte sie die Spende in Höhe von 1,1 Millionen Euro an die FDP nach Haiti weiterleiten. ({1}) Bei den Haushaltsberatungen im letzten Jahr befanden wir uns noch mitten in der Krise. Milliarden von Steuergeldern wurden zur Rettung von Banken ausgegeben. Heute, ein Jahr später, ist die Krise noch lange nicht vorbei. Aber die Banken zocken schon wieder, als wäre nichts passiert. Was tun die Bundesregierung und die EU-Kommission, um diese hochriskanten und teilweise kriminellen Finanzgeschäfte zu unterbinden? Eigentlich nichts. Ein Verbot von Hedgefonds wie vor 2005 - Fehlanzeige. Sanktionen gegen Steueroasen - Fehlanzeige. Ein Zwang zur stärkeren Unterlegung von riskanten Investments mit Eigenkapital - Fehlanzeige. Eine Rückkehr zur gesetzlichen Rente - Fehlanzeige. Auch bei der Finanztransaktionsteuer versteckt sich die Regierung hinter dem Abwarten auf den IWF-Bericht, anstatt sich klar für eine europaweite Einführung dieser Steuer auszusprechen. ({2}) Warum tut die Regierung angesichts der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit den 30er-Jahren nichts gegen kriminelle Finanzgeschäfte? ({3}) Nun, dafür gibt es zwei Erklärungen: Die Regierung glaubt, die Finanzmärkte funktionieren; man müsse sie nur besser beaufsichtigen. Stellen Sie sich vor: Eine Bank öffnete nachts die Türen und den Tresor, aber installierte mehr Kameras in der Hoffnung, so Bankräuber abzuhalten. So viel Naivität möchte selbst ich der Regierung nicht unterstellen. Oder die Regierung dient nicht der Bevölkerungsmehrheit, sondern Herrn Ackermann und seinen Freunden. ({4}) Entscheiden Sie selbst! ({5}) Die neue europäische Aufsicht wird kleinteilig und damit machtlos. Es gibt eine für Wertpapiere und eine für Versicherungen. Die EZB hat im Rat für Systemrisiken den Hut auf. Dies alles findet natürlich hinter verschlossenen Türen statt. Kein Parlamentarier, kein Bürger wird erfahren, welche Risiken in der Wirtschaft existieren und warum. Dabei geht es doch angeblich um mehr Transparenz und das Wohl der Allgemeinheit. Wann immer es an der Börse kracht, wird die EZB nicht die Spekulanten an die Leine nehmen, sondern die Zinsen hochsetzen. Damit beendet man aber keine Spekulation auf einzelnen Märkten, sondern würgt die komplette Wirtschaft ab. Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch die regierungsnahe Aufsicht etwa der BaFin hat nicht funktioniert; denn es fehlte erstens an Regeln, zweitens an Mitteln und drittens am Willen. Finanzaufseher waren in Deutschland so etwas wie Bankangestellte, sie waren schlecht informiert und hatten nichts zu melden. Diese Probleme werden nun aber nicht gelöst, sondern verschleppt. Das Gleiche gilt für die allgemeine Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU. Die bisherige Koordination ging schief und die Antwort ist: mehr von den alten falschen Rezepten. Mit der Lissabon-Strategie sollte die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt werden, mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt. Diese Strategie ist grandios gescheitert. Wir befinden uns im Jahr 2010, Herr Westerwelle, aber wir sind nicht der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt, und wir haben auch nicht mehr Arbeitsplätze, sondern weniger, bessere schon gar nicht. Wir haben im Jahr 2010 keinen größeren sozialen Zusammenhalt, sondern mehr Armut und mehr soziale Ausgrenzung. ({6}) Dazu hat in Deutschland ganz wesentlich die Umsetzung der Agenda 2010 beigetragen. Hartz IV, der Kern dieser Agenda, hat die Umverteilung von unten nach oben massiv verstärkt, eine Politik, die die jetzige Bundesregierung nahtlos fortsetzt. ({7}) - Scheinbar kapieren Sie nicht, dass Europapolitik immer auch Innenpolitik ist. Das müssen wir auch der FDP endlich beibringen. ({8}) Die Lissabon-Strategie ist grandios gescheitert. Was passiert? Denkt man darüber nach, was an der alten Strategie falsch war? Denkt man darüber nach, ob Wettbewerbsfähigkeit alleine wirklich ein sinnvolles Ziel ist? Denkt man darüber nach, ob die Instrumente vielleicht einfach nicht geeignet waren? Die Antwort ist Nein. Die öffentliche Konsultation der Kommission dauerte nicht einmal acht Wochen, und auch die bisherigen Entwürfe der neuen Agenda 2020 lassen nichts Gutes erwarten. Es muss endlich Schluss sein mit der Politik der Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung. In der EU muss endlich wieder der Mensch in den Mittelpunkt gestellt werden und nicht die Rendite. ({9}) Es reicht nicht, wenn man dieses Jahr zum „Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ ausruft. Herr Westerwelle, Sie haben sehr wenig zum Thema Europa gesagt. Sie haben auch wenig über dieses „Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ gesagt. Das passt auch; denn Armut und der Kampf gegen Armut ist kein Thema für die FDP. ({10}) Wir brauchen keine Sonntagsreden, wir brauchen Taten. Das heißt: Wir brauchen dringend die soziale Fortschrittsklausel. Binnenmarktfreiheiten dürfen die erkämpften sozialen Grund- und Arbeitnehmerrechte in den Mitgliedstaaten nicht aushebeln. Gewerkschaften zu Schadenersatz zu verklagen, wenn sie gegen Lohndumping kämpfen - wie bisher fast unbemerkt infolge des Laval-Urteils geschehen -, ist absolut inakzeptabel. ({11}) Wir, Die Linke, werden weiterhin für eine solidarische, friedliche und nachhaltige EU kämpfen. Dies ist übrigens nicht antieuropäisch, sondern zutiefst europäisch; denn wenn die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Bürgerinnen und Bürger nicht endlich ernst genommen werden, dann wird die europäische Idee scheitern. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gunther Krichbaum, CDU/CSUFraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ulrich, ich bin Ihren Ausführungen gefolgt. ({0}) Es stellt sich die Frage, ob Sie im richtigen Film sind. ({1}) Wenn es eine Errungenschaft in Europa gibt, dann ist es die des Friedens, aber auch der Freiheit. Erst in diesem Rahmen hat sich der wirtschaftliche und damit auch der soziale Wohlstand entwickelt. Ohne den wirtschaftlichen Erfolg wären soziale Wohltaten gar nicht möglich. Wie sehr sich dieses Europa zu einem sozialen Europa wandelt, erkennen Sie, wenn Sie das Programm der spanischen Präsidentschaft durchlesen. Herr Außenminister Westerwelle, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen darauf hingewiesen, dass Europa mit dem Vertrag von Lissabon seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt. Nach den Turbulenzen der letzten Tage kann man festhalten, dass auch die Kommission handlungsfähig wird. Die Anhörungen neigen sich dem Ende zu. Nebenbei ist zu bemerken, dass vor allem der designierte deutsche Kommissar, Ministerpräsident Günther Oettinger, diese Anhörung mit Bravour gemeistert hat. ({2}) Das gibt auch zu erkennen, dass er die Aufgabe als deutscher Kommissar hervorragend ausfüllen und damit auch ein Schwergewicht in der Kommission darstellen wird, woran wir ein Interesse haben dürften. Lassen Sie mich das an dieser Stelle erwähnen. Ich erwähne es auch deswegen, weil Frau Kollegin Schwall-Düren in ihrer Rede auf die Idee zu sprechen kam, eigene Einnahmequellen für die EU zu schaffen. Der designierte Haushaltskommissar, Herr Janusz Lewandowski, wurde genau danach gefragt und hat die EU-Steuer ins Spiel gebracht. Dieses Thema wird an Bedeutung gewinnen, weil die neue Kommission die Finanzielle Vorausschau für die Jahre 2014 bis 2020 vorlegen wird. Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen: Die Union und die FDP werden sich strikt dagegen wenden, dass die EU eine eigene Steuer einführt, weil das nicht dazu geeignet ist, die Steuerlast der Bürger zu senken. Ganz im Gegenteil: Wer die Büchse der Pandora aufmacht, der wird den Geist nicht zurückdrängen können. Deswegen sage ich: Nein, das ist mit Deutschland nicht zu machen. ({3}) Ich darf noch einige Ausführungen zu den bevorstehenden bzw. gerade stattfindenden Beitrittsverhandlungen machen, weil sie Auswirkungen auf unseren Haushalt und den der Europäischen Union haben werden und weil sie in anderen Reden angesprochen worden sind: Stichwort Kroatien: Ich glaube, dass Kroatien mittlerweile auf einem guten Weg ist. Ob wir allerdings das avisierte Beitrittsjahr 2011 halten können, das muss eher bezweifelt werden; denn das eigentlich schwierige Kapitel „Justiz und Grundrechte“ steht noch zur Eröffnung an. Wir wissen, dass sich gegenwärtig andere Mitgliedstaaten dagegen wenden, dieses Kapitel schon jetzt aufzumachen. Wir sind auf einem guten Weg, was die Richterausbildung angeht, und es gibt erfreuliche Fortschritte im Bereich Korruptionsbekämpfung. Aber man muss diesen Dingen mit Realismus begegnen. Deswegen wird ein Beitritt vor 2012 kaum machbar sein. Thema Island: Vielleicht sollte man auch gegenüber unseren isländischen Freunden bei allem Wohlwollen deutlich sagen - immerhin sind 75 Prozent des Gemeinschaftsrechts übernommen und gehört Island bereits zum EWR und zum Schengen-Raum -, dass wir nach den wahren Motiven für einen Beitritt fragen müssen. Allein ein Blick auf den Kontoauszug ist als Grund zu wenig. Wir müssen nach den wahren Motiven fragen. Es wäre wenig gewonnen, wenn Island eines Tages der Europäischen Union beitritt, sich aber dann herauskristallisiert, dass die Liebe der Bürger zu Europa sehr schnell abkühlt. Ich glaube, damit wäre wenig geholfen. Es ist auch eine Integrationswilligkeit des Staates vonnöten. Ein Wort zum Thema Türkei: Wir haben eine glasklare Regelung im Koalitionsvertrag, nämlich dass die Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden. Ich habe wie viele andere natürlich auch die Zeitung gelesen. An der einen oder anderen Stelle war auch ich verwundert; denn Außenminister Westerwelle hat in der Türkei gar nichts anderes gesagt, als dass dieser Prozess ergebnisoffen ist; und das ist gut so. Wir sollten nicht so tun, als stünde das Ergebnis schon fest. ({4}) Nein, das ist ein Prozess, und es ist gut, dass das ein Prozess ist. Wenn das Ende schon feststünde, wo bestünde denn dann noch die Möglichkeit, durch Reformen auf das Land einzuwirken? Deswegen macht es wenig Sinn, das ständig infrage zu stellen. Ich glaube, es ist gut - das kann man festhalten -, dass sich die Türkei in vielen Bereichen auf die Europäische Union zubewegt hat. Es gibt Bewegungen in der Kurden-Frage, auch in der Armenien-Frage. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass im Fall Türkei noch vieles zu tun bleibt. Das betrifft zum einen natürlich die Frage der religiösen Minderheiten. Wir erwarten eine Toleranz gegenüber den christlichen Kirchen. Zudem sind die Einschränkungen bei der Pressefreiheit nicht tolerabel, nicht hinnehmbar.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gestatte die Zwischenfrage.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen, Herr Kollege Krichbaum. Sie waren in Ihrer Rede schon ein wenig weiter, aber ich konnte mich nicht rechtzeitig beim Präsidium bemerkbar machen. Ich will Sie etwas zu Ihren Ausführungen zur Türkei fragen. Sie betonen, wie glasklar die Koalitionsvereinbarung sei, und dass darin stehe, dass die Verhandlungen mit der Türkei ergebnisoffen geführt werden. Das ist eine schiere Selbstverständlichkeit für alle Beitrittsverhandlungen. ({0}) Es ist doch völlig klar, dass Verhandlungen begonnen werden, egal wer den Beitritt wünscht, dass zum Schluss, wenn sie beendet werden, das Ergebnis bewertet und danach entschieden wird, ob die Kriterien erfüllt sind oder nicht. Verstehen Sie, dass viele Menschen sich fragen, warum das bei der Türkei immer so betont wird? Der Subtext ist doch das Problem. Verstehen Sie, dass sich viele denken, dass etwas dahinterstecken muss? Mich würde interessieren, was dahintersteckt, dass Sie das bei der Türkei immer wieder so betonen.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, es geht weniger um den Subtext als um den Kontext. ({0}) Aufgrund der Erfahrungen aus den bisherigen Beitrittsverhandlungen mit anderen Staaten muss man der Ehrlichkeit halber sagen, dass am Schluss der Verhandlungen der politische Discount eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Wir wissen und freuen uns darüber, dass heute auch Länder wie Bulgarien und Rumänien Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind. ({1}) Es trägt auch in erheblichem Maß zur Stabilisierung einer ganzen Region bei. Deswegen sei, weil es in Zweifel gezogen wurde, hier an dieser Stelle erwähnt, dass natürlich auch die Länder des westlichen Balkans eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union haben, allen voran Serbien, und wir das unterstützen. Denn es geht um die Stabilität. Aber dieser politische Discount ist in Zukunft so nicht mehr möglich. Wir haben es im Falle der Türkei immerhin mit einer Bevölkerung von 70 Millionen Menschen zu tun. Die Demografie ist anders als bei uns; die Bevölkerungszahl ist eher im Steigen begriffen. Deswegen ist es, um hier keine Illusionen aufkommen zu lassen, besonders wichtig, dass man sich ehrlich in die Augen sieht und seitens der Europäischen Union glasklare Erwartungen formuliert. Die Türkei sollte aber auch wissen, worauf sie sich einlässt, zum Beispiel auf die Verpflichtung, das Ankara-Protokoll zu implementieren. Gleichzeitig sollte man aber auch unseren zypriotischen Freunden sagen, dass sie sich nicht mit aller Gelassenheit im Stuhl zurücklehnen können. Denn beide müssen aufeinander zugehen. Sonst wird sich in dieser Frage nichts bewegen. ({2}) - Entschuldigung, ich habe das akustisch nicht verstanden. ({3}) - Gut. Eine weitere Verpflichtung der Türkei ist, die Pressefreiheit zu respektieren. Ohne Pressefreiheit gibt es keine Demokratie. ({4}) Die jüngsten Verschärfungen des Steuerstrafverfahrens gegen die Dogan-Gruppe lassen ernste Besorgnis aufkommen. Die Kommission hat dies im jüngsten Fortschrittsbericht thematisiert. Wir müssen ohne Schaum vor dem Mund darauf hinweisen, welche Erwartungen wir an die Türkei haben. Die Respektierung der Pressefreiheit gehört dazu. Es wäre ein verheerendes Signal für potenzielle Investoren, die davon abgeschreckt werden, in der Türkei Investitionen vorzunehmen, wenn derart willkürlich mit Steuerstrafverfahren agiert wird, um ein Medienunternehmen mit regierungskritischen Presseorganen letztlich mundtot zu machen. Das kann so nicht im Raum stehen bleiben und muss auch hier im Deutschen Bundestag für Widerstand sorgen. Lassen Sie mich noch ein Wort zu unserem südlichen Mitgliedstaat, zu Griechenland sagen. In der Tat - Kollege Montag, ich gebe Ihnen an der Stelle recht - konzentrieren wir unsere Betrachtungen sehr häufig auf die Thematik der Türkei, ohne Griechenland in den Fokus zu nehmen. Das ist inakzeptabel, gerade wenn man auf die Stabilitätskriterien achtet. ({5}) Gegenwärtig gibt es dort eine Staatsverschuldung, die bei 125 Prozent liegt, und ein Defizit von 13 Prozent der Wirtschaftleistung. Der Umstand, dass immer wieder gefälschte Zahlen an Brüssel weitergegeben werden, ist besorgniserregend. Das ist nicht akzeptabel. ({6}) Ich nähre nicht die Diskussion über den Ausschluss von Mitgliedern aus der Euro-Gruppe, weil dies auch rechtlich zumindest fragwürdig, wenn nicht vielleicht sogar unmöglich wäre. Diese Diskussion sollte schnell beendet werden. Gleichsam muss man aber darauf hinweisen: Wer Zahlen fälscht, begeht Betrug an den Bürgern der Europäischen Union. Wir haben nur diesen einen Euro, und dieser Euro hat gerade jetzt, in der Finanzund Wirtschaftskrise, eine sehr stabilisierende Wirkung. Es ist wichtig, dass an dieser Stabilität nicht gerüttelt wird. Griechenland muss interne Reformen durchführen, die sicherlich schmerzlich sein werden. Wenn ich manche Meldungen vom heutigen Tage, beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, lese, muss ich sagen: Das kann so nicht weitergehen. Es kann keine Lösung sein, bei der Statistikführungspflicht einseitig Kompetenzen an Brüssel abzugeben; dagegen wehren sich auch andere Mitgliedstaaten zu Recht. Darüber müssen wir mit unseren griechischen Freunden noch ein ernstes Wort reden. Zum westlichen Balkan habe ich bereits Ausführungen gemacht. Ich glaube, dass gerade wir, der Deutsche Bundestag, in Anbetracht des Vertrages von Lissabon und der Begleitgesetzgebung eine besondere Verantwortung haben, diese Prozesse in der Zukunft aktiver zu begleiten. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für das Bündnis 90/Die Grünen.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Ball, den die Kollegen Schockenhoff und Silberhorn von der CDU/CSU in ihren Ausführungen gespielt haben, aufnehmen. ({0}) Wenn wir die Aussage, dass wir in einer neuen Zeit leben, wirklich ernst nehmen, dann, so glaube ich, müssen wir auch bereit sein, mit neuen Antworten in diese Zeit zu gehen, uns neue Antworten zu überlegen. Die Beiträge, die Roman Herzog zum europäischen Integrationsprozess geleistet hat, sind unbestritten; er ist einer der Väter der Europäischen Menschenrechtscharta. Aber die Beiträge, die er zuletzt in der Auseinandersetzung um die Frage: „Wie sollte das Verhältnis zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht ausgestaltet sein?“ geleistet hat - Herr Schockenhoff, Sie haben ihn zitiert -, habe ich nicht als Beiträge empfunden, die uns weiterbringen, wenn wir über die Zukunft des neuen Europas reden. ({1}) Vielleicht kann man hier ansetzen: Wenn wir sagen, dass uns der Vertrag von Lissabon und die Begleitgesetzgebung in eine neue Zeit geführt haben, dann sollten wir von zwei grundlegenden Erkenntnissen unserer Politik ausgehen. Erstens. Wir brauchen in der Europapolitik eine neue Ehrlichkeit, eine Ehrlichkeit, die sich sowohl auf die Ziele und Vorhaben der Europäischen Union bezieht - hierzu hat uns das Bundesverfassungsgericht mit seinen Sätzen zu Art. 146 des Grundgesetzes etwas ins Stammbuch geschrieben - als auch - das richtet sich an die Regierungsbank - deutlich machen muss: Wenn etwas hierzulande nicht durchsetzbar ist, ganz egal von welcher Couleur, gehört es sich nicht, es heimlich und ohne dass Politik und Bevölkerung es bemerken, über Brüssel durchzusetzen. Wir müssen eine neue Kultur der deutschen Europapolitik etablieren, die deutlich macht: Europapolitik muss in allem, was wir tun, streitbar und nachvollziehbar sein. ({2}) Zweitens ist aus meiner Sicht wichtig, dass uns der Vertrag von Lissabon vor neue Herausforderungen stellt, die bewältigt werden müssen. Ganz bewusst nenne ich zuallererst die Frage: Wie ist das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger als Staatsbürger der Europäischen Union zur EU? Ich glaube, wir alle in diesem Haus, die wir in der Vergangenheit immer gesagt haben, dass der Vertrag von Lissabon das wichtigste Instrument ist, um dieses Verhältnis zu verbessern, müssen jetzt die Antwort auf die Frage geben, wie wir mit dem Vertrag von Lissabon auch die politische Kultur so verändern können, dass die Tendenz der Abneigung gegenüber Europa und des Desinteresses an Europa umgekehrt wird. Für die Bundesregierung wird es deswegen wichtig sein, sich für eine bürgerfreundliche Ausgestaltung der europäischen Bürgerinitiative zu engagieren. Kollege Silberhorn, grundsätzlich stimmen wir beim Thema Subsidiarität absolut darin überein, dass wir unsere Kritik nicht immer nur an die bösen Bürokraten der Europäischen Kommission adressieren dürfen, ohne auch das Handeln unserer eigenen Bundesregierung in den Blick zu nehmen. So fallen mir beim Thema „Öffentlicher Personennahverkehr und Kommunen“ einige Beispiele ein, die deutlich machen, dass das eigentliche Problem Änderungen von Straßenverkehrsvorschriften durch das Bundesverkehrsministerium sind, dass die Entstehung dieses Problems am Ende aber häufig der Europäischen Kommission zugeschrieben wird. ({3}) Der zweite Themenbereich, der aus meiner Sicht von entscheidender Bedeutung ist, wenn man über die neue Zeit, die Zeit nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, redet, ist das Versprechen, das den Bürgerinnen und Bürgern mit dem Vertrag gemacht wurde: nämlich dass die EU ein sozialeres Gesicht bekommt. Dieses Versprechen ist in dem Vertrag enthalten. Dieses Versprechen müssen wir einlösen. Wir werden es nicht einlösen können, wenn wir, wie Sie es in Ihrem Koalitionsvertrag gemacht haben, in eine nationalstaatsbezogene Sozialstaatsdenke zurückfallen. Wir müssen versuchen, den Menschen zu zeigen: Ein Europa, das die Grenzen für die Wirtschaft öffnet, muss auch die Grenzen für Menschen öffnen, die zum Beispiel Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen, oder für Menschen, die möch1314 ten, dass ihre Rechte als Arbeitnehmer von der EU geschützt werden. Genauso darf die Bundesregierung in der Frage der finanziellen Vorausschau nicht zum Neinsager werden. Die Äußerung, Sie lehnen es grundsätzlich ab, der EU einen Anteil an nationalen Steuern zuzubilligen, habe ich mit Interesse zur Kenntnis genommen. Schließlich bekommt die EU seit über 20 Jahren einen geregelten Anteil an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. Ich weiß nicht, ob Sie die 15 Prozent des Gesamtbudgets der EU, die durch Einnahmen aus der Mehrwertsteuer erzielt werden, mit Ihrer Äußerung infrage stellen wollen oder ob ich das vielleicht falsch gelesen habe. Wichtig ist: Sie sind gefordert, mit Ideen für diese neue Zeit voranzugehen. Wie Frau Schwall-Düren sage ich: Was Sie in Polen gesagt haben, ist auch meine Meinung. Wir müssen aber auch bei harten Themen wie der europäischen Innenpolitik mit Ideen vorangehen und unseren Beitrag dazu leisten. Das gilt für den Schutz der Bürgerrechte - Stockholmer Programm -, das gilt für die neuen Möglichkeiten, die der Vertrag von Lissabon für die Justiz- und Innenpolitik bietet, das gilt für eine verantwortungsvolle Gestaltung der Erweiterung, das gilt für die Überlegung, den EAD mit einem europäischen Korpsgeist stark aufzustellen, das gilt für den Klimaschutz und für die Nachhaltigkeit. Der langen Rede kurzer Sinn: Wir warten darauf, dass Sie Parolen wie die von der Bürokratie in Brüssel unterlassen, dass Sie ein soziales Europa nicht länger als Unding hinstellen und dass Sie das Mantra, dass der EUHaushalt bei gut 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens der Mitgliedstaaten gedeckelt werden muss, ablegen. Wir erwarten, dass Sie sich auf den Weg machen, uns mit interessanten, konstruktiven, neuen proeuropäischen Ideen zum Nachdenken zu bringen, wie wir die neue Zeit bewältigen können. Wenn diese Ideen interessant, gut und proeuropäisch sind, haben Sie uns auf Ihrer Seite. Wenn nicht, dann nicht. Danke. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist Katrin Werner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die schwarz-gelbe Bundesregierung singt in ihrem Koalitionsvertrag das Hohelied der Menschenrechte. Ihr Haushaltsentwurf spricht eine andere Sprache: Ausgerechnet bei den Menschenrechten kürzt sie die ohnehin nicht üppigen Mittel von rund 22 Millionen Euro auf nur noch 19 Millionen Euro - so viel, wie die Bundesregierung für gerade einmal zehn Tage Krieg in Afghanistan ausgibt. Das ist ein Skandal. ({0}) Für ziviles Krisenmanagement der Vereinten Nationen und die OSZE will sie sogar überhaupt nichts mehr ausgeben. Das spricht Bände. ({1}) Dieser stiefmütterliche Umgang mit den Menschenrechten ist nicht wirklich neu. Er zeigt sich nicht zuletzt in unserem eigenen Land: Die Bundesregierung lässt minderjährige Roma-Flüchtlinge in den Kosovo abschieben, trotz der erschreckenden Verhältnisse dort. Sie sollte sich Art. 1 des Grundgesetzes in Erinnerung rufen, in dem steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Flüchtlinge besitzen dieselben Menschenrechte; denn kein Mensch ist illegal. ({2}) Kaum besser ist es hierzulande um die sozialen Menschenrechte bestellt. Vielen Kindern bleibt seit der Einführung von Hartz IV nichts anderes übrig, als in eine Suppenküche zu gehen, wenn sie eine warme Mahlzeit am Tag bekommen wollen. 2 Millionen Kinder leben in Armut. Halten Sie dies für vereinbar mit Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Recht auf einen gewissen Lebensstandard oder mit dem Grundgesetz? Meine Damen und Herren, derartige Zustände in puncto Menschenrechte sind für ein reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland ein Armutszeugnis. ({3}) Wer den Menschenrechten schon im eigenen Land so wenig Aufmerksamkeit schenkt, der wird auch im internationalen Maßstab hinterherhinken. Die Herausforderungen sind riesig: Rund 1 Milliarde Menschen weltweit hungern. Circa 37 Millionen Menschen waren 2008 weltweit auf der Flucht. Ebenso sterben jährlich Millionen Menschen an eigentlich heilbaren Krankheiten. Die Pharmakonzerne stellen aus reinem Profitinteresse lebenswichtige Medikamente nicht zu günstigeren Preisen zur Verfügung. Die Politik hat dies toleriert. Die Linke sagt: Selbstverständlich müssen globale Herausforderungen auch durch die internationale Staatengemeinschaft gemeistert werden. Fest steht jedoch, dass die wohlhabenden Industrienationen, darunter auch die Bundesrepublik, hierzu einen größeren Beitrag leisten können und müssen. ({4}) Dieser Haushaltsentwurf der Bundesregierung wird dem nicht gerecht. Daher lehnt die Linke ihn ab. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Werner, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg. ({0}) Zu diesem Geschäftsbereich liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14. Ich gebe das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg. ({1})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundeswehr wird Tag für Tag mit vielfältigen Erwartungen, aber auch mit einem sehr breiten Einsatzspektrum konfrontiert. Unsere Soldaten sind da, wenn es bei Schnee und Eis zu größeren Katastrophen kommt; gottlob sind wir heuer weitestgehend davon verschont geblieben. Wir haben mit Blick auf Haiti unverzüglich ein Angebot zur Unterstützung abgegeben. Unsere Soldaten sind da, wenn etwa, wie in Afghanistan, nach Ausbildern gerufen wird. An den Einsatz unserer Streitkräfte sind hohe Erwartungen geknüpft, und der Einsatz ist gefährlich. Er ist risikobeladen, um etwas aufzugreifen, was heute Morgen diskutiert wurde. Dies hat uns das Jahr 2009 auf schmerzliche Weise gelehrt. Auch im vergangenen Jahr hatten wir Gefallene und Verwundete zu beklagen. Das ist die traurige Wahrheit. Gerade deshalb lasse ich es mir nicht nehmen, diese Wahrheit offen anzusprechen. Meine Damen und Herren, wir denken an ihre Familien, und wir ehren zu Recht unsere Soldaten. In diesem Zusammenhang danke ich Franz Josef Jung von Herzen, der für diese Ehrung Großes geleistet hat. ({0}) Wir brauchen gerade für die Ereignisse in den Einsatzgebieten, insbesondere für den in Afghanistan, eine klare Sprache: eine Sprache, die die Menschen verstehen, und eine Sprache, die nicht allein taktisch geprägt ist. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihren Dienst. Sie erfüllen ihren gefährlichen, ja auch riskanten Auftrag, und wir können uns auf sie verlassen. Das ist ein leicht gesagtes Wort, aber trotzdem eines mit einer tiefen Bedeutung. Aber unsere Soldaten haben damit ein Anrecht darauf erworben, dass sie sich auch auf uns verlassen können. Dies muss miteinander in einem Wechselspiel stehen. An dieser Stelle danke ich auch im Namen unserer Soldatinnen und Soldaten Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, für Ihre große Unterstützung gerade bei der Beschaffung des notwendigen Materials, insbesondere geschützter Fahrzeuge, die zunehmend bedeutsamer werden. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtig, überlebenswichtig. Diesen Dank verbinde ich mit der Bitte, hierbei auch weiter auf Ihre Unterstützung zählen zu dürfen. Zur Verlässlichkeit gehört eine ausreichende Mittelausstattung. Gerade in der Haushaltsdebatte darf ich diesen Hinweis wagen. In diesem Jahr wollen wir für die Bundeswehr etwas über 31 Milliarden Euro ausgeben, ein großer, ein hoher Betrag, aber gleichwohl gut investiertes Geld. Aufgabe politischer Führung ist es, durch den Einsatz dieser Mittel die Bundeswehr als Instrument unserer Sicherheitspolitik zu stärken. Auch hierfür erbitte ich die Unterstützung des Deutschen Bundestages. In den vergangenen Wochen konnte ich ein facettenreiches, ein sehr breites Bild von der Bundeswehr gewinnen, von ihren Stärken, aber auch von Bereichen, in denen Nachsteuerungsbedarf besteht. Bei meinen Gesprächen und Besuchen habe ich viel von Herausforderungen und Handlungsfeldern gehört, von Optimierungspotenzial, von Effizienzsteigerung, von Entscheidungsbedarf, aber eben auch von Überbeanspruchung und von Überforderung. Im Kern geht es um zwei prioritäre Aufgabenfelder, die sehr eng miteinander verknüpft sind. Es sind dies zum einen die Einsätze. Seit 1992 befindet sich die Bundeswehr ununterbrochen im Auslandseinsatz. Zum anderen ist es die konsequente Fortsetzung der Transformation der Bundeswehr. Vergessen wir nicht: Mit unseren Entscheidungen sorgen wir dafür, dass Menschenleben geschützt und gerettet werden. Wir haben dafür zu sorgen, dass unsere Soldaten ihren Dienst wirksam so versehen können, dass ihr Leben im Einsatz möglichst wenig gefährdet wird. Das ist unsere Aufgabe. ({1}) In Afghanistan, wo derzeit rund 4 500 Frauen und Männer der Bundeswehr für unser Land in einer sehr schwierigen Mission stehen, sehen wir gerade dies in besonderer Weise. Dort werden die drei zentralen Eigenschaften der Herausforderungen unserer Sicherheit von heute deutlich: Das Erste ist das, was man mit Asymmetrie umschreibt. Sie wird viel beschrieben, aber selten korrekt. Das ist zum Zweiten die globale Natur der Herausforderungen, die keinen Halt mehr vor Grenzen macht, und zum Dritten die zwingende Notwendigkeit eines umfassenden, ja, vernetzten Ansatzes aller Akteure und deren Mittel. Wie sehr wurde über Jahre über den Begriff „vernetzte Sicherheit“ gespottet, und wie wichtig und wie bedeutsam ist gerade dieser Ansatz geworden. Im Verständnis unserer Bündnispartner, aber auch vieler anderer Partner auf dieser Erde hat er sich niedergeschlagen. Auf der Afghanistan-Konferenz am Donnerstag der kommenden Woche wollen wir die Strategie der internationalen Gemeinschaft notwendigerweise gemeinsam mit unseren afghanischen Freunden anpassen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen dabei die gemeinsamen Ziele. In diesem Verständnis gilt es, mit der afghanischen Regierung die Anpassung an unsere gemeinsame Strategie voranzubringen. Es versteht sich von selbst - das gehört sich -, dass wir den Deutschen Bundestag mit den Wegen und Mitteln des weiteren Engagements befassen. Ich will noch einmal betonen - das habe ich in den vergangenen Wochen oft gesagt -: Wir dürfen uns nicht in

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt einer intellektuell überschaubaren Diskussion, einer reinen Truppenstellerdebatte, verlieren. Das würde den Anforderungen nicht gerecht werden. Zur Klarheit gehört ohnehin die Erkenntnis, dass Soldaten allein den Frieden und die Sicherheit in Afghanistan nicht wiederherstellen können. Der Schlüssel, gerade im Bereich Sicherheit, liegt in der Ausbildung der afghanischen Kräfte, der Armee, aber auch der Polizei, die in den letzten Jahren stärker, wirksamer geworden sind. Wir sind aber noch nicht an dem Ziel, das wir uns vorstellen. Wir können dies nur gemeinsam auf einer ressortübergreifenden Grundlage erreichen. Wir brauchen dafür klare Benchmarks, wie man das heute neudeutsch nennt. Wir brauchen aber auch klare Zeitlinien und entsprechende Zeitfenster, um den Ausbildungserfolg, aber auch den Aufbauerfolg messen zu können und um daraus die notwendige Abzugsperspektive zu entwickeln. Wir wollen beim Thema Abzugsperspektive nicht hinter anderen zurückstehen, die sich dazu bereits geäußert haben. Die afghanische Sicherheit braucht - das mag banal klingen - ein afghanisches Gesicht. Wir würden einer Illusion erliegen, wenn wir glaubten, dass die internationale Gemeinschaft das alleine erreichen kann. Dieses afghanische Gesicht der Sicherheit muss klarer erkennbar werden. Dem versuchen wir auch konzeptionell nachzukommen. Gerade mit dem Konzept des sogenannten Partnering wird bereits jetzt in Afghanistan mit unterschiedlicher Intensität dafür Sorge getragen, dass sich die Voraussetzungen für die Sicherheit des Landes kontinuierlich fortentwickeln. Kerngedanke ist, dass Ausbildung und Schutz zusammengehören und untrennbar miteinander verbunden sind. In dem Sinne heißt Partnering richtig verstanden nicht entweder Sicherheit oder Ausbildung jeweils für sich allein, sondern es bedeutet, dass beides einander bedingt und Teil eines Konzeptes sein soll und muss. Diese Neuerung ist allerdings noch nicht überallhin durchgedrungen. Es ist wichtig, dass wir offen darüber diskutieren. Afghanistan ist nur einer von gegenwärtig zehn Auslandseinsätzen. Auch darauf darf man immer wieder hinweisen. Die Bundeswehr ist heute ganz ohne Zweifel eine Armee im Einsatz. Wir haben heute schon einmal an dieser Stelle darüber gestritten, was das heißt. Ist das etwas, was Routine werden darf? Mit Sicherheit nein. Das soll und darf es nicht. Ist es aber Realität? Ja, und dieser Realität haben wir uns zu stellen. Dafür haben wir unsere Verpflichtungen zu erfüllen. Wir stehen diesbezüglich auch zu unserer Verantwortung, aber wir wollen keine Weltpolizei sein. Das könnten wir auch nicht, weil es ebenso anmaßend wie utopisch wäre. Es bleibt sicherlich auch ein grundlegendes Dilemma - diesen Ansatz sollten wir vielleicht noch etwas stärker diskutieren -, dass wir, die Maßstäbe unseres Engagements in Afghanistan zugrunde gelegt, uns leider nicht in allen nahezu vergleichbaren Regionen dieser Erde engagieren können. Das ist manchmal auch eine Gratwanderung hin zum Zynismus. Diese Diskussion gilt es zu führen. Wir haben in diesem Hohen Haus oft von der Notwendigkeit einer sehr breiten sicherheitspolitischen Debatte gesprochen und bisweilen beklagt, dass punktuelle Ereignisse zu überzogenen Reaktionen geführt haben mögen. Heute und im Zuge dieser Debatte bietet sich die Chance zu einer vertieften Diskussion. Unsere Erfahrungen aus den internationalen Einsätzen zeigen: Die Bundeswehr ist grundsätzlich leistungsfähig, jeder einzelne Soldat sicherlich auch. Von unseren rund 250 000 Soldatinnen und Soldaten sind gegenwärtig rund 7 000 in den derzeit laufenden Einsätzen gebunden, darunter auch etwa 500 Reservisten. Hinzu kommen weitere 1 800 Soldaten, die wir für den kurzfristigen Einsatz im Rahmen der NRF und der EUBattle-Groups bereithalten. Diese Verpflichtungen stehen im Hinblick auf Vorbereitung und Ausbildung einem Einsatz in nichts nach. Im internationalen Vergleich fällt dieser Anteil eher bescheiden aus. Auch daran darf man gelegentlich erinnern. Ihn zu vergrößern, heißt freilich nicht, die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee zu machen. Die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr muss aber immer wieder aufs Neue bekräftigt und sichergestellt werden. Auch das ist unser Auftrag. Aus dem, was wir heute „Denken vom Einsatz her“ nennen, gilt es dann auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen: für die Strukturen, die Fähigkeiten und am Ende auch für die konzeptionellen Grundlagen. Das ist eines der strategischen Ziele, an denen die Bundeswehr und sicherlich auch die Bundesregierung sich werden messen lassen müssen. Mit den bisherigen Strukturen - das ist mein klarer Befund - werden wir die Leistungsfähigkeit unserer Bundeswehr auf Dauer schwerlich sicherstellen können. Die Frauen und Männer unserer Bundeswehr können die vorhandenen Schwächen zwar kompensieren, aber sie sollten es nicht müssen. Das erfährt man immer wieder in besonderer Weise aus den Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten und aus ihren Rückmeldungen. Deshalb müssen wir uns fragen: Haben wir die richtigen Schlüsse aus diesen Entwicklungen gezogen? Wissen wir, worauf wir uns einstellen müssen? Sind wir auf die schon genannten Herausforderungen richtig und umfassend vorbereitet? Wir brauchen Strukturen, Prozesse und Verfahren, die dem Ja zum Einsatz, dem Kontinuum des Einsatzes Rechnung tragen: von der Krisenfrüherkennung über die Planung, Mandatierung und Vorbereitung sowie die Führung und Durchführung bis hin zur - was gelegentlich unterschätzt wird - Nachbereitung eines Einsatzes. Auch das wird in Afghanistan sicherlich noch eine gewichtige Rolle spielen müssen. Wir stehen diesbezüglich vor erheblichen Aufgaben. Ich habe deshalb mein Haus beauftragt, in einer schonungslosen Analyse auch die bestehenden Defizite zu Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg benennen und Vorschläge zu erarbeiten. Dabei wird es keine Tabus geben dürfen. ({0}) Ich will in diesem Kontext letztlich nichts Geringeres, als dass die Bundeswehr für eine stets erneuerte Kultur der Offenheit und des Vertrauens steht. Wir brauchen auch unkonventionelle Lösungen. Deshalb wird sich unmittelbar nach Vorliegen der Analyse eine Kommission mit den Defiziten befassen, eine Kommission, die politische, militärische, administrative, wirtschaftliche und rechtliche Expertise in sich vereinen wird. ({1}) Ihr Kernauftrag wird darin bestehen, zügig Vorschläge zu einer effizienten und einsatzorientierten Spitzenstruktur des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundeswehr zu erarbeiten. Zur Überprüfung der Strukturen durch die Kommission wird auch gehören, sich Gedanken über die Rolle, die Funktion und auch die Kompetenzen herausgehobener Spitzenpositionen zu machen. Dazu gehört nicht nur der militärische, sondern gerade auch der zivile Bereich. Der Einsatz ist Richtschnur, wenn wir dann Kompetenzen ressourcensparend zusammenfassen, überlappende Zuständigkeiten beseitigen und unnötige Redundanzen abbauen wollen. Seit ihrer Gründung im Jahr 1955 hat sich die Bundeswehr oft solchen Anpassungsprozessen stellen müssen. Dieser Transformationsprozess, der begonnen hat, wird uns sehr fordern. Die bestehenden Strukturen sollen Gegenstand der Betrachtung und nicht Grundlage sein. Dabei wird auch das ambitionierte Ziel der Verkürzung des Grundwehrdienstes auf sechs Monate eine gewichtige Rolle spielen. Wir müssen es schaffen, dass ein Gefühl der Gerechtigkeit des Dienens entsteht und herrscht und dass jeder einzelne Grundwehrdienstleistende das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Das muss weiterhin der Maßstab sein, wenn wir dieses Ziel erreichen wollen. ({2}) Ich sehe der Debatte darüber und den Ergebnissen dieser Debatte mit einer gewissen Spannung entgegen, insbesondere weil ich alle Fraktionen des Bundestages an dieser Debatte beteiligen will. Ich bin sehr gespannt, welche Vorschläge gemacht werden. Die Bundeswehr muss ein attraktiver Arbeitsplatz bleiben. Das hängt auch davon ab, inwieweit wir die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ermöglichen, Handlungsfelder identifizieren und entsprechend handeln. Das reicht von Kinderbetreuungsmöglichkeiten bis hin zu einem flexibleren Laufbahnrecht. Das sind ehrgeizige und schwierig zu erreichende Ziele. Aber sie sind richtig und wichtig. ({3}) Ich darf mit Blick auf unseren Haushalt einen anderen Punkt nennen, der mir wichtig ist. Einsatzfähigkeit heißt auch, über modernes und leistungsfähiges Gerät zu verfügen. Wir sind hier noch lange nicht am Ziel und haben einen teilweise harten und steinigen Weg zu gehen. Die Einführung einiger Systeme wird nur mit einem enormen Kraftakt möglich sein. In vielen Bereichen haben wir noch Defizite zu verzeichnen. Die Gründe sind vielseitig; das ist bekannt. Ich hoffe und baue hier auf große Gemeinsamkeit und einen klaren Austausch über die Dinge. Nicht alles, was man vorfindet, ist erfreulich, zum Beispiel wenn Vertragsstrukturen offenbar nicht die Geltungskraft entfalten, die sie sollten. Hier ist das Miteinander von Regierung und Parlament von größter Bedeutung. Insgesamt geht es um nichts Geringeres als um die Zukunft der Bundeswehr; das wurde wahrscheinlich schon oft gesagt. Es geht damit auch um unsere Zukunft und darum, dass unsere Kinder in Zukunft weiterhin in Frieden und Freiheit leben können. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit den Korrekturen des Bundesverteidigungsministers beginnen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ich will den Minister nicht korrigieren, sondern möchte darauf hinweisen, dass er sich selbst immer wieder korrigiert, und zwar ein bisschen oft, wie ich finde. Das ist nicht ehrenrührig, aber gewiss nicht optimal für die Bundeswehr und unser Land. ({0}) Als Kurt Beck vor zwei Jahren davon sprach, dass man versuchen müsse, mit moderaten Taliban zu verhandeln, gab es Hohn und Spott, auch vom heutigen Verteidigungsminister. ({1}) Inzwischen fordert er selber das. Willkommen in der Wirklichkeit! Er sprach von kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan und hat den Eindruck erweckt - das wurde öffentlich so kommuniziert -: Da ist Krieg. Diesem Eindruck ist er - zu Recht - sofort wieder entgegengetreten. Natürlich handelt es sich nicht um Krieg. Wir haben noch nicht die richtige Begrifflichkeit dafür. Die Initiative, dass das Kabinett klären soll, worum es sich Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg handelt, hat offenbar noch nicht zu einem Ergebnis geführt. Als es um den Luftschlag bei Kunduz ging, hieß es vonseiten des neuen Ministers erst, dieser Luftschlag hätte unter allen Umständen erfolgen müssen. Vier Wochen später hieß es: Das war nicht angemessen. - Herr Guttenberg, Sie sagten, Sie seien an Aufklärung interessiert. Das sind wir auch. Aber Sie sind es doch, der auf allen Akten und Informationen sitzt und keinen Bericht darüber abgibt, was tatsächlich geschehen ist. Die Regierung ist im Vorteil und kann sagen, was in ihrem Verantwortungsbereich geschehen ist. Sie müssen nicht auf einen Untersuchungsausschuss verweisen, der in anderthalb oder zwei Jahren einen Abschlussbericht vorlegt und Ihnen erzählt, was in Ihrem Haus und in der Bundeswehr, für die Sie Verantwortung tragen, vorgegangen ist. ({2}) Die Bundeskanzlerin hat am 8. September 2009 lückenlose Aufklärung versprochen. Auch das Wort „schonungslos“, das Sie eben verwendet haben, fiel in diesem Zusammenhang. Geschehen ist aufseiten der Bundesregierung bis heute nichts. Sie schieben das Thema vor sich her und hoffen, dass es sich durch Zeitablauf erledigt. ({3}) Wenn ich an die nächsten Monate und den Untersuchungsausschuss denke, dann glaube ich, Sie werden sich noch zwei weitere Male korrigieren müssen. Erstens. Sie sagen, dass Sie den geheimen NATO-Bericht vor Ihrer Pressekonferenz am 6. November 2009 zu dem Luftschlag selbst gelesen haben. Dann mussten Sie aber wissen, dass dieser Bericht zu dem Schluss kommt, die Bombardierung habe nicht im Einklang mit der Weisungslage und Absicht der NATO in Afghanistan gestanden. Entweder wussten Sie das und haben die Öffentlichkeit falsch unterrichtet, oder Sie haben den Bericht gar nicht gelesen. Es ist Zeit für Korrekturen. ({4}) Zweitens. Sie haben die Schuld für Ihre Fehleinschätzung und die Falschinformation der Öffentlichkeit dem Generalinspekteur Schneiderhan und dem Staatssekretär Wichert gegeben. Das war nicht besonders honorig von Ihnen. Das war ein Abschieben der Verantwortlichkeit, und das werden Sie hoffentlich auch bald korrigieren. Ich weiß nicht, ob es auch aus Ihrer Sicht Korrekturbedarf beim Haushalt gibt. Dass der Verteidigungsetat real und nominal schrumpft, statt wenigstens die jährlichen Kostensteigerungen auszugleichen, hätte die Bundeswehr von Ihnen nicht erwartet. Da werden Steuergeschenke an Hoteliers und Firmenerben per Eilgesetz durchgepaukt, und die Neuverschuldung treibt in ungeahnte Höhen, aber die Bundeswehr muss Geld abgeben. Das ist die Schwerpunktsetzung Ihrer Koalition. Das halten wir für falsch. ({5}) Es gibt vier Punkte, in denen wir im Interesse unseres Landes mit der Regierung übereinstimmen. Wir Sozialdemokraten wollen den Erfolg in Afghanistan. Das heißt: mehr für den zivilen Aufbau und mehr für die Armee- und Polizeiausbildung tun. Gehen Sie in diese Richtung, und wir gehen mit! Wir haben Verantwortung übernommen, und wir bleiben dabei: Wir müssen das, was wir mit vielen Nationen gemeinsam begonnen haben, gemeinsam anständig zu Ende bringen. Wir Sozialdemokraten halten an der Wehrpflicht fest und freuen uns, dass Sie es auch tun. Aber wir wissen, dass eine Ausmusterungsquote von beinahe 50 Prozent absurd ist. Deshalb wollen wir eine Reform, die neue Chancen der Freiwilligkeit mit den Grundlagen unserer Wehrpflicht verbindet. Das ist intelligenter als die schlichte Verkürzung auf sechs Monate. Lassen Sie uns noch einmal - Sie haben das angeboten - über unser sozialdemokratisches Modell diskutieren. ({6}) Wir wollen, dass der Dienst in unseren Streitkräften attraktiver wird. Das beginnt bei der Kasernenqualität sowie bei Besoldung und Zuschlägen, und es endet noch nicht bei der Familienfreundlichkeit, der Planbarkeit der Laufbahn und modernerer Ausrüstung. Da gibt es viel zu tun. Lassen Sie uns die Gemeinsamkeiten suchen. Wir Sozialdemokraten haben Vorschläge für die Weiterentwicklung der Bundeswehrstruktur gemacht, und zwar über das Ziel der Transformation 2010 hinaus. Die Bundeswehr braucht mehr infanteristische Kräfte, mehr Redundanz und Reserven in der Truppe - nicht nur wegen der Auslandseinsätze - und eine schlankere Führungsstruktur. Verzichten können wir auf die amerikanischen Atombomben in Deutschland und das TornadoGeschwader zur nuklearen Teilhabe. ({7}) Gleichzeitig gehören uralte Standortentscheidungen vielleicht noch einmal auf den Prüfstand. 1991 wurde der Umzug des Marinefliegergeschwaders 5 von Kiel nach Nordholz beschlossen. Jetzt schreiben wir das Jahr 2010, und das Geschwader ist nach 19 Jahren immer noch in Kiel, aber soll immer noch umziehen. Man weiß manchmal gar nicht, wem man zurufen soll: Nehmen Sie Vernunft an! - Staatssekretäre dürfen ja nichts annehmen, und im Moment haben wir ja auch keinen. Wir Sozialdemokraten werden die anstehenden notwendigen Reformen konstruktiv begleiten. Wenn Sie für Ihre drei angekündigten Reformkommissionen zur Wehrpflicht, zur Attraktivität und zur Struktur noch eine zentrale steuernde Superkommission brauchen, dann nehmen Sie - Stichwort: Parlamentsarmee - den Verteidigungsausschuss. Da werden wir das diskutieren. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute in erster Lesung den Verteidigungsetat diskutieren, dann wünsche ich mir eigentlich, dass wir uns alle mehr um das Herausstellen der Gemeinsamkeiten bemühen. ({0}) Eben - Kollege Bartels, das muss ich leider sagen - war mir das zu viel Kraut und Rüben. Vielleicht können die nachfolgenden Redner der Sozialdemokraten das zurechtrücken. Ich denke, an die erste Stelle gehört bei einer solchen Debatte, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten im Ausland genauso wie denen hier in Deutschland unseren Dank aussprechen. Ich möchte stellvertretend den Soldaten danken, die oben auf der Tribüne sitzen, und sie herzlich im Deutschen Bundestag willkommen heißen. ({1}) Wenn wir diesen Etat diskutieren, dann geht es doch um die angemessene Finanzausstattung der Bundeswehr - da kann jeder seine Schwerpunkte setzen; darüber können wir diskutieren -; denn die Bundeswehr ist das sollten wir gerade bei einer solchen Debatte herausstreichen - unsere Armee, sie ist eine Parlamentsarmee. Wir sollten uns alle zusammen daher in erster Linie, ob wir im Verteidigungsausschuss oder im Haushaltsausschuss sind, aufgefordert fühlen, uns um den Zustand der Bundeswehr zu kümmern, welche Aufgaben wir auch immer sonst in diesem Parlament haben. Wenn ich mir den Etat ansehe, dann weiß ich genau, dass sich vieles um die Auslandseinsätze dreht. Der Minister hat es angesprochen; der Haushalt spiegelt das wider. Ich will an dieser Stelle im Rahmen der Haushaltsberatungen gerade für die FDP sagen: Wir werden alles tun, damit unsere Soldaten, die im Ausland sind, das Gefühl haben, dass der Bundestag zu ihnen steht, nachdem der Beschluss zum Einsatz mit Mehrheit gefasst wurde, und sie das beste Material bekommen, das zur Verfügung steht. Dieses Gefühl müssen sie haben; sonst können sie ihren Dienst nicht tun. ({2}) Sie müssen sich auf uns verlassen können. Herr Minister, Sie haben Gott sei Dank die Einschränkung gemacht, es gebe Nachsteuerungsbedarf. Den gibt es wirklich in vielen Bereichen. Ich finde, dass manches - dabei bleibe ich; das habe ich in der Opposition gesagt, und das sage ich auch jetzt - viel zu schleppend läuft, bis die Soldaten das beste Material bekommen. Ich bitte das Ministerium, etwas zügiger zu verfahren und nicht zu bürokratisch vorzugehen, damit die Soldaten nicht zu lange auf das warten müssen, was für sie notwendig ist. Wir sollten vor allem an die Soldaten denken - darauf sollten wir zukünftig einen noch stärkeren Schwerpunkt legen -, die zurückkommen und in Afghanistan traumatische Erlebnisse hatten. Wir müssen die Betreuung verstärken. Das sind wir diesen Soldaten schuldig. Dazu sind wir verpflichtet. Dazu gehört auch - darum werden wir uns bei den Haushaltsberatungen kümmern -, dass ihre Familien, wenn sie wollen, in diese Betreuung eingeschlossen werden. Das halte ich für dringend erforderlich. Das geschah in der Vergangenheit zu wenig. ({3}) Wir sollten bei all den Auslandseinsätzen nicht unsere Soldaten vergessen, die hier im Lande ihren Dienst tun. Wenn ich den Beruf des Soldaten attraktiv machen will, dann muss endlich Schluss mit maroder Infrastruktur und mangelnden Beförderungschancen sein. Es muss Schluss damit sein, dass alles oft schwerfällig läuft und dass Dienst und Familie oft genug nicht zusammengeführt werden. Wir müssen viel mehr tun. Wir werden nur gute Leute für unsere Bundeswehr bekommen können - das ist meine Auffassung und die Auffassung der Freien Demokraten -, wenn wir den Dienst in der Bundeswehr attraktiv machen. Das reicht bis hin zur Besoldung. Ich weiß, wie schwer das ist. Auch ich weiß, wie es in der Haushaltskasse aussieht. Wir werden aber über alles reden müssen. Sie haben erfreulicherweise die neuen Organisationsstrukturen angesprochen. Ich füge hinzu: Straffung der Verwaltungsstruktur. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Viel Geld kostet leider auch, dass wir bei der Bundeswehr immer noch die unglaublich große Planwirtschaft haben. Das kostet uns sehr viel Geld. Hier könnten wir erhebliche Mittel sparen. ({4}) Wir brauchen - davon sind wir überzeugt - eine leistungsfähige nationale Wehrtechnik. Aber bei den geringen Stückzahlen, die wir oft bestellen, ist die internationale Zusammenarbeit mit unseren Partnern, vor allem in Europa, notwendig. Ich hoffe, dass es, wenn wir Aufträge vergeben, zu einer Zusammenarbeit in Europa kommt. Bei der Gelegenheit will ich etwas sagen, weil wir alle manchmal Briefe bekommen, die auf die Bestellung von Flugzeugen und Schiffen Bezug nehmen. Ich will hier in aller Deutlichkeit zum Verteidigungsetat sagen - auch ich bin ein Freund der Marine, des Schiffbaus und der Werften -: ({5}) Der Bundesverteidigungsminister ist nicht für die Lösung von strukturpolitischen Problemen zuständig. Aufträge kann er nur vergeben, weil es für die Bundeswehr notwendig ist, ein bestimmtes Material zu bekommen. ({6}) Der Bundesverteidigungsminister ist nicht für Werftenhilfe und auch nicht für Luft- und Raumfahrt zuständig; das sind andere Häuser. Wir Freien Demokraten werden das verwirklichen, was wir in allen früheren Debatten gesagt haben: Wir werden die großen Projekte auf den Prüfstand stellen. Ich sage Ihnen: Es ist dringend erforderlich, MEADS zu überprüfen. Wir Freien Demokraten haben dieses Projekt immer kritisch gesehen. Ich sage Ihnen auch: Das Projekt „Herkules“, wie es sich im Augenblick darstellt - inzwischen sind wir da bei fast 7 Milliarden Euro -, ist so nicht mehr zu akzeptieren. Da muss wirklich mit dem Besen durchgegangen werden. ({7}) Das ist Geld des Steuerzahlers, Herr Minister, und wir achten sehr auf dieses Geld; denn die Bundeswehr braucht es dringend für ihre Einsätze. Herr Minister, Sie haben angeboten, mit dem Parlament über den Airbus A400M zu sprechen. Ein solches Gespräch können Sie sehr schnell bekommen. Das Parlament hat die Beschaffung des A400M beschlossen. Wir als FDP haben, was die Stückzahl angeht, Kritik geübt. Wir wissen, dass wir ein Transportflugzeug brauchen. Wir akzeptieren aber nicht, dass EADS uns in der Öffentlichkeit droht und sagt, welchen Preis wir zu zahlen hätten. Es ist ein Vertrag geschlossen worden. EADS ist vertragsbrüchig geworden. Man könnte es auch so formulieren: Der Vertrag ist ausgelaufen. Wir sind auf der besseren Seite. Drohungen von EADS beeindrucken mich überhaupt nicht. ({8}) Wir haben das Geld der Steuerzahler sparsam einzusetzen. Diese Verträge müssen eingehalten werden. Mehr Geld gibt es nicht. Suchen Sie das Gespräch mit dem Parlament! Das Parlament hat diese Entscheidung getroffen, und das Parlament wird Änderungen beschließen, sofern es nicht die Entscheidung trifft, dieses Projekt zu beenden. Meine letzte Bemerkung gilt dem, was in Afghanistan geschehen ist; dazu hat der Kollege Bartels vorhin viel gesagt. Ich verweise auf den Rückhalt durch dieses Parlament, den unsere Soldaten brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr einfach, hier in Berlin vor laufenden Kameras Urteile abzugeben. Lassen Sie uns diesen Untersuchungsausschuss durchführen, und lassen Sie uns in Ruhe untersuchen. Denken Sie aber immer daran, dass in Afghanistan Soldaten sind, die manchmal in kürzester Zeit Entscheidungen treffen müssen. Ich weiß nicht, ob mancher von uns unbedingt mit diesen Soldaten tauschen möchte. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Koppelin, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wahren Sie auch das Gesicht unserer Soldaten! Herzlichen Dank für Ihre Geduld. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächster hat Paul Schäfer das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat, wer über den Verteidigungshaushalt redet, muss über die Auslandseinsätze der Bundeswehr reden. Insgesamt haben diese Einsätze von 2002 bis heute circa 10 Milliarden Euro gekostet; das ist kein Pappenstiel. Außerdem ist der Etat mehr und mehr auf diese Einsätze zugeschnitten. Durch diese Einsätze zeigen sich am eindringlichsten die Folgen der hier beschlossenen Politik. Das heißt, natürlich muss über Afghanistan gesprochen werden. Die Schlüsselfrage des Jahres 2010 lautet für uns eindeutig: Wird die Bundeswehr in diesem Jahr aus Afghanistan abgezogen, oder werden noch mehr Soldatinnen und Soldaten an den Hindukusch geschickt? ({0}) Die Bombennacht von Kunduz hat vielen endgültig die Augen geöffnet. Der Minister hat gesagt, dass wir eine klare Sprache brauchen: Dort sind über 100 Menschen gezielt getötet worden. Der verantwortliche Offizier hat sogar von „vernichten“ gesprochen. Dieses Ereignis hat gezeigt: Dort wird Krieg geführt, und dort sind wir in einer Gewaltspirale, aus der wir so schnell wie möglich herausmüssen. ({1}) Bischöfin Käßmann hat gewiss recht, wenn sie sagt, dass es darum geht, nicht vor der Logik des Krieges zu kapitulieren, und dass das klare Zeugnis gegen Gewalt und Krieg nach Mut und Fantasie verlangt, wie Konflikte anders als gewaltförmig gelöst werden können. Das ist die Aufgabe, die ansteht. Es reicht jetzt nicht, zu sagen: Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. Was nun wirklich nicht geht, ist, dass jetzt alle über Abzugsperspektiven sprechen, hier aber dann das Gegenteil beschlossen oder befürwortet wird. Wir werden nach der Konferenz in London erleben, dass die Bundeswehr bei der Aufstockung der Truppen - dieser Prozess läuft woanders schon - nachzieht. Nein, wir sagen: Abzug heißt Abzug! Und wir fordern: Abzug noch in diesem Jahr! ({2}) Zugleich muss in diesem Zeitrahmen ein innerafghanischer Aussöhnungsprozess befördert werden, um schnellstmöglich zu einem Waffenstillstand zu kommen, Paul Schäfer ({3}) der ja erst die Bedingungen für den zivilen Wiederaufbau schafft. Meine Damen und Herren, es geht nicht allein um einen Abzug aus Afghanistan. Leider ist der ganze Rüstungsetat von der Idee durchdrungen, die Bundeswehr für weitere Einsätze dieser Art fit zu machen. Deshalb muss auch darüber gestritten werden, ob wir Streitkräfte für globale militärische Interventionen vorhalten wollen oder nicht. Die Haltung der Linken ist eindeutig: Wir wollen es nicht. ({4}) Wir haben die Umgestaltung der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz immer abgelehnt und bleiben dabei. Wenn man dem folgte, ließen sich viele Milliarden Euro einsparen und für sozial nützlichere Dinge aufwenden. Wenden wir uns jetzt einmal dem vorliegenden Haushaltsentwurf konkret zu. Es fällt auf, dass der Etat scheinbar stagniert. Aber mein Mitleid mit dem Herrn Minister hält sich an der Stelle in engen Grenzen. ({5}) Ich glaube, auch die Sammelbüchse kann im Schrank bleiben. Erstens hatten wir in den letzten Jahren kräftige Zuwächse; seit 2006 wurde der Rüstungsetat um mehr als 3 Milliarden Euro erhöht. Zweitens liegt der Gesamtetat jetzt bei über 31 Milliarden Euro. Man hätte sich zu Beginn der letzten Legislaturperiode überhaupt nicht vorstellen können, dass man über die Schallmauer von 30 Milliarden Euro springt. Drittens sei nur am Rande erwähnt: Selbst am Konjunkturpaket II durfte der Minister der Verteidigung mitnaschen. Einerseits wurden 250 Millionen Euro für die Sanierung von Liegenschaften bereitgestellt - das ist in Ordnung -, andererseits aber auch 220 Millionen Euro für Beschaffungsprojekte. Das war zwar eine schöne Finanzspritze für die Rüstungskonzerne, aber volkswirtschaftlich war das eine Fehlzündung. Rüstung gehört zu den Wirtschaftsbereichen, die nur eine geringe Sogwirkung entfalten. ({6}) Mit anderen Worten: Für dasselbe Geld hätte man produktivere und nachhaltigere Arbeitsplätze schaffen können, und dann hätte man Produkte, die keine Werte zerstören, sondern aufbauen. Deshalb sind wir dagegen. ({7}) Die Ausgaben für die Bundeswehr bleiben mit einem Gesamtvolumen von über 31 Milliarden Euro - nach NATO-Kriterien sind es 34 Milliarden Euro - auf beträchtlicher Höhe. Das ist immerhin ein Anteil von circa 10 Prozent des Gesamthaushaltes. Diese Aufblähung des Wehretats ist die unabweisbare Folge des Umbaus der Bundeswehr zu einer global einsetzbaren Interventionsarmee. Herr Minister, es tut mir leid, aber das, was dort stattfindet, kann man als nichts anderes denn als militärische Interventionen bezeichnen. Die Alternative der Linken an dieser Stelle ist klar: Wir möchten, dass die Bundesrepublik zu einer zivil geprägten Außen- und Sicherheitspolitik zurückkehrt. Wir brauchen statt der Fixierung auf althergebrachte Militärallianzen wie die NATO eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, die alle Länder des Kontinents umfasst, die auf Vertrauensbildung, umfassender Kooperation und Abrüstung beruht. Gerade hier sind neue Anstrengungen überfällig, und zwar nicht nur in Russland oder in China. Dass Sie für Abrüstung in diesen Ländern sind, ist klar. Nein, hier spielt die Musik. Hier müssen wir mit der Abrüstung beginnen. ({8}) Zurück zum Verteidigungshaushalt. Mit Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit hat das, was uns hier präsentiert wird, wenig bis gar nichts zu tun. Da gibt es die globale Minderausgabe von 250 Millionen Euro. Aber Sie verraten uns natürlich nicht, wo Sie kürzen wollen. Eine Aussage dazu, wen es treffen wird, wird tunlichst vermieden. Dann gibt es die Etatansätze für die Auslandseinsätze. Offiziell veranschlagt sind 640 Millionen Euro. Herr Koppelin, Sie kennen sich ja aus: Addieren Sie einmal die Beträge, die dieses Haus in seinen Mandaten für Bundeswehreinsätze verabschiedet hat. Es ist interessant, welche Summe sich ergibt. Da kommt man nämlich auf 980 Millionen Euro. Das heißt, hier gibt es eine riesige Diskrepanz. Deshalb sage ich: Hier wird vertuscht; hier wird die Öffentlichkeit bewusst über die wahren Kosten der militärischen Interventionspolitik getäuscht. Diese Vertuschung machen wir nicht mit. Wir fordern Sie daher auf: Legen Sie endlich konkret vor, was die Auslandseinsätze kosten, und stellen Sie endlich realistische Zahlen in den Haushalt ein, damit die Öffentlichkeit weiß, woran sie ist. ({9}) Bei näherem Hinsehen wird auch schnell klar, dass es bei den Rüstungsausgaben nicht bei dem derzeitigen Stillstand bleiben wird. Das Rad der militärischen Beschaffung dreht sich weiter; in der jüngsten Vergangenheit hat es sich schon erheblich gedreht. Wir hatten zu Beginn der letzten Legislaturperiode 6 Milliarden Euro an investiven Ausgaben, jetzt sind wir bei 8 Milliarden Euro. Das ist ein bemerkenswerter Zuwachs, ein sattes Plus von fast 2 Milliarden Euro. Welcher Titel im Haushalt ist in dieser Weise aufgepeppt worden? Das wüsste ich gerne. Wir werden bei einigen Großprojekten von durchaus zweifelhaftem Rang in den nächsten Jahren zum Teil erhebliche Zuwächse haben. Über diese Belastung haben Sie überhaupt nicht gesprochen. Ich meine beispielsweise den Schützenpanzer Puma. Ich meine die neue Generation der Kampfhubschrauber, neue Raketenabwehrsysteme oder die Fregatte 125 - Kostenpunkt: knapp 3 Milliarden Euro, Verwendungszweck: Unterstützung von Militäreinsätzen rund um den Globus. Also: Landesverteidigung ade, große Weltpolitik ahoi! Das ist mit uns nicht zu machen. ({10}) Paul Schäfer ({11}) Dann haben wir noch den A400M. 9,2 Milliarden Euro soll das Langstrecken-Transportflugzeug kosten, mit dem die Bundeswehr Kriegsgerät in Einsatzgebiete bringen will. Inzwischen ist klar, dass die Industrie den Leistungsvertrag nicht einhalten kann und der Flieger viel mehr kosten wird. Es ist die immer gleiche Story, die wir erleben: Das Militär hat bestimmte Wünsche. Die Rüstungswirtschaft will satte Gewinne machen. Die Regierung will diese Interessen bedienen und bringt das Parlament dazu, solche Projekte schnellstmöglich durchzuwinken; wir haben das am Ende der letzten Legislaturperiode erlebt. Dann geht die Sache erst richtig los: Die Preise steigen und steigen. Die Industrie stellt Nachforderungen. Nachbesserungen sind erforderlich; der Zeitplan verschiebt sich. - Es ist immer dieselbe Story. Aber selbst Beschaffungsvorhaben, die technisch und finanziell völlig aus dem Ruder laufen wie im Falle des A400M, werden von der Industrie dank ihrer Monopolstellung mit aller Macht durchgedrückt. Mir ist überhaupt rätselhaft, wie man auf die Größenordnung von 60 Maschinen kommt. Das haben mir selbst Befürworter dieses Projekts, die sich dafür aussprechen, dass die Transall ersetzt wird, noch nicht klarmachen können. Die Zeche, die jetzt bezahlt wird, ist außerordentlich hoch. Es sind bereits Nachforderungen in Höhe von 5 Milliarden Euro erhoben worden. Ich kann nur hoffen, dass Sie diesen Erpressungsversuchen der Rüstungsindustrie widerstehen. Wir fordern Sie auf: Stoppen Sie diesen Unsinn, und steigen Sie aus diesem Beschaffungsvorhaben aus! ({12}) Meine Damen und Herren, wir können zusammenfassen: Sie machen mit diesem Haushalt Rekordschulden. Deshalb wollen Sie ab dem nächsten Jahr kräftig sparen. Was das für den Etat des Ministers der Verteidigung bedeuten wird, ist zwar keine geheime Verschlusssache, aber rätselhaft ist es dennoch. Die Erfahrung besagt, dass die Beschaffungstitel tabu sind. Im Gegenteil, sie werden noch steigen. Auch die Ausgaben für die Auslandseinsätze werden wahrscheinlich eher steigen. Möglicherweise besteht eine Kürzungsoption bei den Personalausgaben. Die Soldatinnen und Soldaten sind das schwächste Glied in der Kette, ebenso die zivilen Angestellten. Hier ist interessant, dass deren Tarifvertrag Ende dieses Jahres ausläuft. Es interessiert uns brennend, was daraus wird und ob für die Menschen schlechtere Bedingungen ausgehandelt werden, weil man sparen muss. Wir haben da andere Vorstellungen: Wir wollen, dass nicht bei den Menschen gespart wird, sondern bei den großen Waffensystemen. Wir wollen, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht ständig ausgeweitet, sondern zurückgenommen werden. ({13}) Damit könnte man zumindest einen Teil der Investitionen in die Zukunft finanzieren, die vordringlich sind: die Erneuerung des Sozialstaats, den ökologischen Umbau unserer Wirtschaft, die Bekämpfung von Armut und globaler Unterentwicklung weltweit. Haiti ist doch ein erschütterndes Beispiel dafür, wo etwas getan werden muss, wo international geholfen werden muss. Es gibt einige alte Slogans, die gerne verwendet werden. Sie wirken zwar unter Umständen etwas abgegriffen und angestaubt; das gebe ich zu. Manchmal aber sind solche Slogans, weil die Politik an der Stelle so kontinuierlich und konservativ ist, doch noch brauchbar und treffen ins Schwarze. Dies gilt auch für einen Slogan, den ich zum Schluss nennen möchte: Bildung statt Bomben. Bildung statt Bomben, das wäre eine zukunftsorientierte Politik. Danke. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Alexander Bonde das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann es nicht an jedem Redebeitrag erkennen: Wir diskutieren den Haushaltsplan der Bundesregierung für das Jahr 2010. ({0}) In Zeiten der Rekordverschuldung gilt es, für jeden Einzelplan eines Ministeriums die Ausgaben genau zu überprüfen und die Frage zu beantworten, ob mit möglichst geringen Mitteln möglichst viel erreicht wird. Dieser Aufgabe müssen Sie sich, Herr Minister, der Sie einen der größten Einzelhaushalte im Bundeshaushalt zu verantworten haben, stellen. Ihr Haushalt macht deutlich, dass es an vielen Stellen grundsätzliche Strukturfragen gibt, die wir angehen müssen, um diesen Haushalt wieder verträglich zu gestalten. Ich verstehe, dass Sie in den ersten Monaten Ihrer Amtszeit vordringlich mit Selbstverteidigung und Personalfragen beschäftigt waren. ({1}) Ich sage Ihnen ganz offen: Gehen Sie schnell in den Untersuchungsausschuss, und beantworten Sie die Fragen, die auf dem Tisch liegen! Wenn die Belastung durch den Untersuchungsausschuss der Grund dafür ist, dass Sie an die großen Strukturfragen im Moment nur in Form von Kommissionen heranrobben, dann muss ich Ihnen sagen: Schaffen Sie Klarheit, um sich dieser Fragen annehmen zu können. ({2}) Sie haben heute eine Kommission angekündigt; das klang gut und sehr tiefgründig. Interessant ist, dass die Kommission im Ministeriumsspott als Abteilungsleiterkränzchen bezeichnet wird. Ich bin gespannt, was dabei tatsächlich herauskommt und wie viele Fragen aus dieser grundsätzlichen Betrachtung ausgeklammert werden. Ich bin überzeugt, dass es richtig wäre, die Sicherheitspolitik und die Struktur der Bundeswehr endlich grundsätzlich zu diskutieren und angesichts der bestehenden Einsätze an falsche Strukturen heranzugehen. Die Realität sieht doch so aus: Die Bundeswehr befindet sich in Stabilisierungseinsätzen unter UN-Mandat. Aber ein Großteil der Ressourcen an der Heimatfront ist nach wie vor so ausgelegt, die Rote Armee zurückzuschlagen. Wir leisten uns eine Bundeswehr mit 350 000 Angehörigen, wenn ich die zivilen Mitarbeiter und die Reservisten zu den 250 000 Militärs hinzurechne, und stoßen bei den Auslands- und Stabilisierungseinsätzen an eine Grenze, wenn wir 6 982 dieser 350 000 Bundeswehrangehörigen einsetzen. Sie beschaffen auch in diesem Haushalt wieder teure und schwere Waffensysteme für Konflikte, die wir zum Glück seit Jahrzehnten nicht mehr erleben. Dies geht natürlich zulasten der Einsatzrealität; denn bei diesen Einsätzen treffen wir nicht auf Gegner, die mit Panzern bewaffnet sind und eine eigene Luftwaffe haben. Es geht zulasten der Mechanismen der zivilen Konfliktlösung, von denen wir alle wissen, dass sie nicht ausreichend entwickelt sind. Es geht zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und nicht zuletzt auch zulasten der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, denen mit diesen falschen Strukturen zum Teil unlösbare Aufgaben mit auf den Weg gegeben werden. ({3}) Ich will mich im Namen meiner Fraktion ausdrücklich bei all denjenigen bedanken, die trotz dieser falschen Strukturen diese Aufgabe für uns und für unser Land bewältigen. ({4}) Sie verteidigen diese Strukturen. Ich bin gespannt, ob Ihre Kommissions-Arie zum Schluss dazu führen wird, die Bereitschaft zu entwickeln, den Anspruch aufzugeben, die Bundeswehr solle grundsätzlich alles können, was zu dem Resultat führt, dass sie von allem ein bisschen kann. Das wird immer unter dem schönen Bundeswehrbegriff „Anfangsbefähigung“ versteckt. Was soll die Bundeswehr können, und welche Aufgaben soll sie übernehmen? Das ist die zentrale Frage, über die wir sprechen und diskutieren müssen. Weitere drängende Fragen sind: Welche real existierenden Konflikte gibt es, und welche Rolle spielt heute dabei das Militär? Was bedeutet dies für die einzusetzenden Gerätschaften? Wie kann man sich dabei um die kümmern, die im Rahmen dieser Einsätze ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren, seien sie nun Militärs oder wie in vielen Konflikten zivile Mitarbeiter, die wir dringend brauchen? Ich bin überzeugt, wir wären besser aufgestellt mit einer Bundeswehr mit nur 200 000 Soldatinnen und Soldaten, die sich aber gut ausgerüstet und ausgebildet auf die von uns Politikern zu definierenden Aufgaben konzentrieren. Übrigens machen Sie in der Frage der Wehrpflicht einen Schritt, der es verhindert, in diese Richtung voranzukommen. Es ist ja eine interessante Situation: Die FDP hat versprochen, die Wehrpflicht abzuschaffen oder auszusetzen. Sie sagte, es gebe keine Rechtfertigung, die Freiheitsrechte junger Menschen, in diesem Fall junger Männer, zu beschränken. Der Kompromiss dieser Koalition ist: Man verkürzt die Dauer des Wehrdienstes, sodass die Freiheit von noch mehr jungen Männern beschränkt wird. Das ist einer der vielen Widersprüche, die die FDP nicht auflösen kann. Ich muss allerdings sagen: Ihr Kompromiss macht diese Veranstaltung wesentlich teurer. Sie binden noch mehr Ressourcen für etwas, das für keines der beschriebenen Konfliktszenarien zusätzliches Potenzial birgt. Die Wehrpflicht bringt nichts bei der Stabilisierung, bei der Absicherung von humanitären Einsätzen und anderem.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Bonde, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin zulassen?

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne; ich freue mich. Bei seinem heutigen Beitrag habe ich ihn fast nicht wiedererkannt, verglichen mit Oppositionszeiten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dabei helfe ich dir gerne. - Ich möchte eine Frage zur Wehrpflicht stellen. Es gab hier Kritik an der FDP. Unsere Haltung ist bekannt: Wir sind für die Aussetzung der Wehrpflicht; der Koalitionspartner wollte das nicht. Dann hat man diesen Kompromiss gefunden. Ihr von den Grünen wart auch immer für die Aussetzung der Wehrpflicht, sogar für die Abschaffung, die Sozialdemokraten aber nicht. Zu welchem Kompromiss seid ihr denn damals gekommen? ({0})

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Koppelin, ich kenne die Situation, Kompromisse machen zu müssen. Ich sage Ihnen nur eines: Es macht keinen Sinn, sich hinzustellen und zu sagen, man wolle, dass kein junger Mann einen Eingriff in seine Freiheit erdulden muss, wenn hierdurch keine sicherheitspolitische Kapazität geschaffen wird. Nachdem Sie gefordert haben, dass keiner mehr Wehrdienst leisten muss, kommt nun ein Kompromiss heraus, der dafür sorgt, dass noch mehr Wehrpflichtige eingezogen werden. ({0}) Sie sind da noch mehr umgefallen als die SPD, die sich damals bei der Frage, ob die Mehrwertsteuer um 2 oder 0 Prozentpunkte angehoben werden soll, mit der Union auf einen Aufschlag von 3 Prozentpunkten geeinigt hat. Herr Koppelin, bei Ihnen ist es jetzt wie damals bei der Mehrwertsteuer: ({1}) Dieser Kompromiss übertrifft selbst die Forderung des Koalitionspartners und macht es noch schlechter. Das ist eine weitere Wahrheit über die Liberalen in der Koalition. ({2}) Es steht eine Grundsatzentscheidung an. Wir sehen schon heute an Afghanistan, dass die Frage ziviler Fähigkeiten dabei eine Rolle spielen muss. Wir haben heute wieder viel über Polizisten und Ähnliches gehört. Am 30. November vergangenen Jahres waren nach Auskunft der Bundesregierung 29 deutsche Polizisten an der EU-Mission beteiligt; an der nationalen Mission waren 113 Polizisten beteiligt. Spannend wird es, wenn man nachfragt, wie viele davon wirklich praktische Polizeiausbildung betreiben: Das sind noch 73. Herzlichen Glückwunsch! Wir sind gespannt, ob Sie in Bezug auf den deutschen Beitrag mit ähnlich jämmerlichen Zusagen aus London zurückkehren. Sie haben, was die Bedeutung dieser Konferenz angeht, die Hürde hoch gelegt. Wir werden Sie konkret daran messen, was für den Wiederaufbau, für Mechanismen der zivilen Konfliktbewältigung herauskommt, auch im Hinblick auf die Frage, wie wir denjenigen, die vor Ort Hilfe leisten, und denjenigen, die vor Ort Unterstützung erhalten, eine konkrete Perspektive aufzeigen können, die endlich vom militärischen Weiter-so Abstand nimmt. Ich habe bereits die finanziellen Realitäten und die Dinosaurierstrukturen dieses Haushalts benannt. Es ist übrigens spannend, dass der Verteidigungsminister, der das Amt mit großem ordnungspolitischem Nimbus angetreten hat, zu einer brandaktuellen Frage überhaupt nicht Stellung bezogen hat. Mich würde schon interessieren, was der Marktwirtschaftler und Ordnungspolitiker KarlTheodor von und zu Guttenberg eigentlich dazu sagt, dass die Bundesrepublik einen eindeutigen Vertrag mit einem Rüstungshersteller geschlossen hat, der seit Wochen massiv erklärt, weshalb Verträge für ihn nicht gelten. Es geht um den A400M. Es ist unbekannt, welche Zahl, welche Leistung und welcher Preis herauskommen sollen. Es ist schon interessant, wie dort agiert wird. Aufgrund der Politik, die seit Jahren im Bereich des Bundesverteidigungsministeriums, des Einzelplans 14, betrieben wird, ist es aber folgerichtig: Der A400M war immer umstritten. Es gab Alternativen, die technologisch besser zu beherrschen gewesen wären. ({3}) Diese Alternativen kamen deshalb nicht zum Zug, weil die EADS dieses Angebot auf den Tisch gelegt hat, weil sie zugesichert hat, dass es technisch beherrschbar ist, weil sie zugesagt hat, dass diese Leistungen zum festgelegten Preis erhältlich sind. Wenn das jetzt wieder aufgeschnürt wird, weiß ich nicht, wie die Bundeswehr ein weiteres Großprojekt steuern können soll, wenn am Ende immer der den Wettbewerb gewinnt, der am meisten verspricht und zum Schluss die Hand aufhält, um noch mehr zu kassieren, und dabei weniger liefert. ({4}) Ausdruck der industriepolitischen Ausrichtung dieses Hauses ist, dass die Themen Arbeitsplätze und Industriepolitik wieder das Faustpfand dafür sind, um das Geld aus dem Etat des Ministeriums herauszuziehen, statt es in die Ausrüstung der Bundeswehr zu stecken. ({5}) Ich bin davon überzeugt, dass die Strategie, aus diesem Etat Industrieförderung zu bezahlen und nicht das zu beschaffen, was die Bundeswehr braucht, nicht nur den Steuerzahler Geld kostet, dem keine Leistung gegenübersteht, sondern auch Arbeitsplätze und die Innovationsfähigkeit der für uns durchaus wichtigen Luftfahrtindustrie massiv gefährdet. Das ist die Wahrheit zum Thema Arbeitsplätze, wenn es um die Auseinandersetzung mit EADS geht. ({6}) Ich will Sie darin bestärken, Herr Minister, dass Vertrag Vertrag ist. Ich erwarte, dass die Bundesregierung eine klare Haltung einnimmt. Es kann nicht darum gehen, mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Beschaffungen für die Bundeswehr fortzusetzen, die keinem helfen, der für uns in Einsätze geht, die keine Sicherheit schaffen, sondern die dazu dienen, bestimmte Industriezweige zu subventionieren und künstlich jenseits des Bedarfes zu unterstützen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Bonde, achten Sie bitte auf die Zeit.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist eine wichtige Fragestellung, wenn man bedenkt, wie sich die Strukturen Ihres Haushaltes entwickeln. Wir schauen genau hin, ob Sie Ihren ordnungspolitischen und sicherheitspolitischen Ansprüchen gerecht werden. Auch in dieser Hinsicht hat dieser Einzelplan noch einen weiten Weg vor sich. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck für die Unionsfraktion. ({0})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende VerteidigungsErnst-Reinhard Beck ({0}) haushalt ist der erste, den die christlich-liberale Koalition im Deutschen Bundestag vorlegt. Die Botschaft ist eindeutig: Wir halten Kurs. An der Sicherheit Deutschlands und seiner Soldatinnen und Soldaten im Einsatz wird nicht gespart. Die Bundeswehr ist auch nicht der Finanzsteinbruch des Bundeshaushaltes. ({1}) Mit dem auf dem Vorjahresniveau konsolidierten Etatansatz können alle wichtigen Zukunftsprojekte bei Personal, Ausrüstung und Unterbringung realisiert werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise eine Kraftanstrengung, für die ich dem Verteidigungsminister an dieser Stelle ausdrücklich danke. Als Verteidigungspolitiker kommt es mir ganz besonders darauf an, Leib und Leben unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatz optimal zu schützen. Denn wir Abgeordnete tragen ungeachtet aller Partei- und Fraktionsgrenzen eine gemeinsame Verantwortung für die Bundeswehr als Parlamentsarmee. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich daran erinnern. Ich möchte auch daran erinnern, dass hinter all den nüchternen fiskalischen Daten Menschen stehen, die in unserem Auftrag und im Namen unseres Landes für Sicherheit und Frieden in der Welt kämpfen. Die Soldatinnen und Soldaten stehen mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit für diesen Auftrag, den wir ihnen erteilt haben, ein. Ich möchte die Gelegenheit nutzen - nicht nur, weil auf der Tribüne Marinekameraden sitzen -, im Namen meiner Fraktion unseren Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr ein herzliches Dankeschön zu sagen. Sie erfüllen ihren Einsatz unter gefährlichen Rahmenbedingungen und stehen für die Sicherheit Deutschlands ein. Mein besonderer Dank gilt auch den Familienangehörigen, die den Soldatinnen und Soldaten bei der Aufgabenerfüllung zur Seite stehen. Es ist sehr wohl klar, welch entscheidenden Anteil diese daran haben. Ich bin auch der Auffassung, dass sie von uns oft nicht in ausreichender Weise gewürdigt werden. ({2}) Mir ist es unverständlich, dass einige versuchen, diesen Einsatz zu diskreditieren. Natürlich kann Militär allein keinen staatlichen Aufbau gewährleisten - das sagt eigentlich auch niemand, der seine sieben Sinne beieinander hat -, aber Militär schafft einen notwendigen Sicherheitsschirm, unter dem ziviler Aufbau vorangetrieben werden kann. Im Kosovo - das wird klar, wenn wir uns die Dinge dort näher anschauen - führte genau dieses Vorgehen zum Erfolg. Darum unterstützen wir die Bundesregierung und insbesondere den Verteidigungsminister zu Guttenberg in seinen Bemühungen, die afghanische Regierung stärker in die Pflicht zu nehmen und dem militärischen Mandat eine zeitliche Perspektive zu geben. ({3}) Ich verstehe diesen Haushaltsansatz im Einzelplan 14 im Sinne der gemeinsamen sicherheitspolitischen Verantwortung. Herr Kollege Bonde, Sie sehen, dass ich mich an Ihre Vorgabe halte und zum Einzelplan 14 spreche. ({4}) Mit rund 31,4 Milliarden Euro bleibt der Verteidigungsetat gegenüber dem Vorjahr nahezu stabil. Damit ist sichergestellt, dass die wichtigsten Projekte der Transformation und der materiellen Modernisierung fortgeführt werden können. Besonders hervorheben möchte ich die Anstrengungen im Bereich Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder von Familie und Dienst. Die Bundeswehr steht in der Mitte der Gesellschaft und darf von familienfördernden Maßnahmen nicht ausgeschlossen werden. Dieser Aspekt ist zunehmend wichtig für die Entscheidung junger Menschen bezüglich Familie und Soldatenberuf. Deshalb rege ich an, dass die Verantwortlichen der Bundeswehr ihre Anstrengungen in diesem Bereich weiter steigern. Eng mit der Attraktivität von Streitkräften verbunden ist auch eine gute Sanitätsversorgung. Deshalb muss die Lage im Einsatz und im klinischen Bereich auf hohem Niveau erhalten werden. Zu diesem Komplex der Fürsorge gehört auch die Erkennung und Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Hierbei geht es nicht nur um die einsatznahe Nachbehandlung, sondern auch um die Langzeitbehandlung und die Einbeziehung von Angehörigen in die Therapie. Ich bin daher dankbar, dass CDU/CSU und FDP diese Problematik in dieser Legislaturperiode schwerpunktmäßig angehen wollen. Erfreulich ist, dass die Personalkosten aufgrund des Abbaus bei zivilen Arbeitnehmern weiter leicht gesunken sind. Umso wichtiger bleibt es, dass die Bundeswehrangehörigen auch aufgabenbezogen bezahlt werden. Die Schere zwischen Dienstposten auf der einen und Besoldung auf der anderen Seite muss schnellstmöglich geschlossen werden. Ich bin zuversichtlich, dass der vorliegende Haushaltsentwurf auch in diesem Bereich die nötigen Spielräume eröffnet. Ebenso kann die dringend notwendige Renovierung der Kasernen im Westen unserer Republik fortgesetzt werden. Als attraktiver Arbeitgeber muss die Bundeswehr über zeitgemäße Infrastruktur verfügen. Das betrifft die Unterbringung ebenso wie den Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln. Bei dieser Gelegenheit darf ich vielleicht darauf hinweisen, dass auch die Unterbringung in den Einsatzländern deutlich verbessert werden konnte. Der Standard unserer Feldlager gehört im internationalen Vergleich, wie ich meine, zur Spitzengruppe. Die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und damit die Attraktivität unserer Bundeswehr hängen entscheidend von der Qualität und der Modernität der Ausrüstung ab. Daher begrüße ich es ausdrücklich, dass trotz der geringen Abstriche im Bereich der in1326 Ernst-Reinhard Beck ({5}) vestiven Ausgaben die Beschaffung der wichtigen Ausrüstung fortgeführt werden kann. Das Heer als Hauptträger unserer Einsätze benötigt weitere geschützte Fahrzeuge. Vertrauen in das eigene Gerät ist Voraussetzung für die Auftragserfüllung durch unsere Soldatinnen und Soldaten. Mit dem in diesem Etat erstmalig veranschlagten Schützenpanzer Puma verfügt das Heer in Zukunft über ein leistungsfähiges und hochgeschütztes Gefechtsfahrzeug für den Einsatz in allen denkbaren Szenarien. Eminent wichtig für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr ist und bleibt die strategische Lufttransportkapazität. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist vorhin angesprochen worden: Wir brauchen dringend das neue Transportflugzeug A400M im Einsatz. Es muss deshalb im Schulterschluss mit unseren Partnern und der Industrie ein für alle Seiten gangbarer Weg gefunden werden, um dieses Projekt weiterzuführen und die entsprechenden Fähigkeiten in absehbarer Zeit zu beschaffen. Die Marine wird mit der im Zulauf befindlichen Korvette 130 die maritimen Einsätze zukünftig besser schultern können. Diese modernen Schiffe werden eine spürbare Entlastung des Personals im Einsatz zur Folge haben und damit auch die Attraktivität des Soldatenberufs heben. Was aber nützen Finanzmittel, wenn die Ausrüstung nicht zeitgerecht geliefert wird? Hier wurde in der Vergangenheit oft allzu optimistisch kalkuliert. Dies mag vielleicht in Zeiten des Kalten Krieges noch hinnehmbar gewesen sein, in Zeiten, in denen wir die Dinge im Einsatz dringend brauchen, ist dies jedoch nicht hinnehmbar. Die Bundeswehr muss sich auf die Beschaffungszusagen der Industrie verlassen können. Die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz benötigen keine Perspektive auf optimale, sondern auf einsatzbereite Ausrüstung. Ein Wermutstropfen im Bereich der verteidigungsinvestiven Ausgaben sind die Abstriche bei Forschung und Entwicklung. Zwar können die begonnenen Vorhaben fortgeführt werden, aber für neue Vorhaben stehen nicht genügend Mittel zur Verfügung. Ich meine, dass wir diesen Umstand schnellstmöglich beenden müssen. Wir wollen nicht an der Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sparen. Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf die Ausgaben für internationale Einsätze lenken. Die zur Verfügung stehenden Mittel sind um 25 Millionen Euro erhöht worden; so weit, so gut. Dennoch sollten Ausgaben, die aufgrund von sicherheitspolitischen und gesamtpolitischen Vorgaben auf die Bundeswehr zukommen, künftig von dem allgemeinen Haushalt, sprich dem Einzelplan 60, getragen werden. Die Kosten für die Sicherheitsvorsorge Deutschlands dürfen nicht allein vom Verteidigungshaushalt getragen werden müssen und damit den finanziellen Spielraum der Bundeswehr massiv einengen. ({6}) Wenn zum Beispiel die Bundeswehr die Ausbildung der afghanischen Polizei betreibt - das ist wichtig und richtig -, ist das nicht eine unmittelbar streitkräftespezifische Aufgabe. Ich glaube, darüber sind wir uns im Klaren. Die zusätzlichen Fahrzeuge für die Ausbildungsteams der Bundeswehr müssen dann durch zusätzliche Anstrengungen im Gesamthaushalt finanziert werden. Die Bundeswehr steht vor großen Aufgaben. Die Neuausrichtung und Transformation im laufenden Einsatz sowie eine Neugestaltung der Wehrpflicht sind nur einige Stichworte. Lassen Sie mich kurz ein paar Worte zur Wehrpflicht sagen. Herr Kollege Bonde, es geht nicht darum, noch mehr Leute ungerecht zu behandeln, sondern es geht in diesem Zusammenhang um Wehrgerechtigkeit. ({7}) Ich sage es ganz offen: Ich bin froh, dass wir hier einen Kompromiss gefunden haben, der die Wehrpflicht im Prinzip erhält. Die Ausgestaltung mit den sechs Monaten ist eine Herausforderung an die Fantasie, den Dienst sinnvoll und attraktiv zu gestalten. ({8}) Es geht auch darum, bestimmte Spielräume für Flexibilität - W 12, W 15, W 18 - zu eröffnen, auch für den Freiwilligendienst. Das gilt übrigens auch für den Zivildienst. Hier wird von den Hilfsorganisationen eine größere Flexibilität erwartet. Ich glaube, dass wir hier von unseren jungen Leuten das entsprechende Engagement erwarten können. ({9}) Einen Mix aus Pflicht- und Freiwilligendienst für diese Gemeinschaft ist das, was wir brauchen. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernhard Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003057, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den ersten Blick erscheint der Regierungsentwurf des Verteidigungshaushaltes 2010 stabil und solide. ({0}) Die Ausgaben bleiben gegenüber denen in 2009 nominell konstant, allerdings wird uns die mittelfristige Finanzplanung, die im Rahmen der Haushaltsberatungen nicht neu vorgelegt worden ist, in den Jahren danach, ab dem Haushaltsjahr 2011, vor gewaltige Herausforderungen stellen. Bernhard Brinkmann ({1}) Sehr geehrter Herr Minister zu Guttenberg, ich meine, es gehört auch bei der ersten Lesung eines Bundeshaushaltes dazu, dass Sie hier im Parlament etwas zum Haushalt sagen und nicht nur Allgemeinplätze zum Ausdruck bringen. ({2}) Denn auch das haben die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Kräfte der Bundeswehr mehr als verdient. Auch ich will hier für meine Fraktion allen Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Kräften für ihren Einsatz im Inland und im Ausland sehr herzlich danken. Auch ich beziehe die Familienangehörigen ausdrücklich mit ein. ({3}) Hier wird eine wichtige und wertvolle Arbeit für unser Land geleistet, für die jede Soldatin, jeder Soldat und jeder Zivilbeschäftigte nicht nur Dank, sondern auch Respekt und Anerkennung verdient. Wer sich den Umfang der Staatsverschuldung in Höhe von 1 600 Milliarden Euro bzw. 1,6 Billionen Euro vor Augen führt - ich sage das ohne Schuldzuweisungen -, der wird in den nächsten Monaten - das gehört zur Haushaltsklarheit und -wahrheit und zur Ehrlichkeit dazu, und das wird sich nach der Steuerschätzung im Mai dieses Jahres immer deutlicher herausstellen - nicht umhinkommen, einzugestehen, dass sich auch der Einzelplan 14 entsprechenden Sparmaßnahmen und Einsparungen nicht entziehen kann. Zu den Beschaffungsvorhaben, durch die mehr als 90 Prozent der Mittel gebunden sind, wurden bereits Ausführungen gemacht. Das, was gesagt wurde, kann ich im Wesentlichen ausdrücklich bestätigen. Der linken Seite des Hauses sage ich aber auch: Es macht keinen Sinn, aus dem Projekt A400M auszusteigen, weil unsere Probleme dadurch noch viel größer würden. ({4}) Dann würden wir nämlich wieder bei null anfangen. Wer sich regelmäßig mit Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr beschäftigt, der weiß, dass wir dabei eigentlich noch nie bzw. nur sehr selten auf der sicheren Seite waren. Letztlich waren die Kosten eines Beschaffungsvorhabens immer höher als zu Beginn ermittelt. ({5}) - Damit muss man sich nicht abfinden. Wenn Sie von der linken Seite des Hauses aber solche Äußerungen machen, dann muss es erlaubt sein, auch auf die weiteren Gefahren hinzuweisen. All das, was sich bei dieser Beschaffungsmaßnahme bis Ende des Monats noch klären muss, ist heute zum Teil schon zum Ausdruck gebracht worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Haushaltsberatungen der nächsten Wochen, bis zur zweiten und dritten Lesung, werden wir den Haushaltsentwurf auf Herz und Nieren prüfen. Ich kann Ihnen an dieser Stelle auch sagen, worauf es uns dabei ankommt. Wir haben immer gesagt, dass wir alles tun, damit unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihren gefährlichen Auslandseinsätzen, speziell in Afghanistan, optimal ausgerüstet und geschützt sind; dazu stehen wir auch in der Opposition. Deshalb müssen wir uns in den laufenden Haushaltsberatungen intensiv mit der Frage beschäftigen, ob und wo sich aufgrund der verschärften Sicherheitslage eventuell materielle Engpässe bei der Schutzausrüstung abzeichnen. Sollten solche Engpässe zu erwarten sein, ist ein schnelles Nachsteuern für uns selbstverständlich. Auch über die Personalausgaben ist schon gesprochen worden. Sie sollen um 172 Millionen Euro sinken. Dies wird im Wesentlichen mit dem Abbau des Zivilpersonals begründet. Ich will für meine Fraktion ausdrücklich erklären: Die Axt darf nicht nur bei den zivilen Stellen der Bundeswehr angelegt werden. ({6}) Wenn der Tarifvertrag im Jahr 2010 ausläuft, sollten wir uns gemeinsam darum kümmern - Kollege Koppelin hat ja ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten gefordert -, dass seine Geltungsdauer verlängert wird und, wenn überhaupt, ein sozialverträglicher Abbau des zivilen Personals stattfindet. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 3. Februar dieses Jahres werden wir das erste Berichterstattergespräch im Bendlerblock, im Verteidigungsministerium führen. Heute Morgen habe ich mir in Vorbereitung auf diese Debatte die Spar- und Streichliste der FDP-Fraktion angeschaut. Ich meine jetzt nicht das Sparbuch der FDP. Das ist etwas völlig anderes; denn da ist etwas drauf, und zwar ein Guthaben. ({8}) Ich sage Ihnen voraus: In den nächsten Wochen, bis zur zweiten und dritten Lesung des Haushaltsentwurfs, werden wir eine sehr spannende Auseinandersetzung erleben. Die Freien Demokraten haben 59 Einsparvorschläge gemacht. ({9}) Ich bin gespannt, ob die FDP diese Vorschläge in den Haushaltsberatungen wiederholen wird oder ob sie, wie sie es in den ersten Tagen ihrer Regierungsbeteiligung getan hat, alles über Bord wirft, was sie in diesem Haus elf Jahre lang stets in den Fokus der Debatte und der Öffentlichkeit gestellt hat. ({10}) Bei einem Sparvorschlag, Herr Kollege Koppelin, hat Minister zu Guttenberg Ihnen schon den Gefallen getan: Einen Staatssekretär nach Hause zu schicken, das war ein konkreter Einsparvorschlag. Die Begründung, warum man das tun solle, lautete: die Bürger entlasten. Mal schauen, ob Sie in den Haushaltsberatungen dazu kom1328 Bernhard Brinkmann ({11}) men, dass die Bürger entlastet werden. Ich glaube, wir werden uns in den nächsten Monaten vom Gegenteil überzeugen können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in den Angeboten, die die SPD macht, Einsparvorschläge unserer Fraktion wiederfinden, werden wir unser Copyright geltend machen. ({0}) Wir werden sehen, wie sich das im Einzelnen darstellt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass sich die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag auf ein sicherheitspolitisches Arbeitsprogramm verständigt hat, das die Interessen unseres Landes abbildet und bei konsequenter Umsetzung auch für die Zukunft sicherstellen wird, dass die Bundeswehr ein leistungsfähiges Instrument deutscher Sicherheitspolitik bleibt - unverzichtbar für den Schutz Deutschlands wie für Krisenvorsorge und Krisenbewältigung auf internationaler Ebene. Lieber Paul Schäfer, du hast eben mehr oder weniger gegeißelt, dass die Bundeswehr in internationalen Einsätzen tätig ist. Die zukünftigen Konflikte sind internationalisiert. Wenn wir uns den Einsatz der Bundeswehr in maritimen Operationen anschauen, muss ich sagen: Die Bundeswehr ist ein unverzichtbarer Bestandteil internationaler Kooperation. Ich glaube, dass die Bundeswehr schlecht beraten wäre, sich von solchen gemeinsamen Aktionen fernzuhalten. ({1}) Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass die Soldaten der Bundeswehr, die im Ausland im Einsatz sind, ein Aushängeschild der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Ich habe bei vielen Besuchen feststellen können, dass die Präsenz unserer Soldatinnen und Soldaten in internationalen Strukturen das Ansehen unseres Landes mehrt und unterstreicht. Darauf möchte ich ungern verzichten. ({2}) Natürlich - ich denke, das ist überwiegend Konsens in diesem Hause - benötigen die Soldatinnen und Soldaten für den gefährlichen Einsatz, in den sie gehen, die bestmögliche Ausrüstung und Ausstattung. Ich bin froh, dass es uns in den vergangenen Jahren gemeinsam gelungen ist, Weichen zu stellen. Ich erinnere mich noch gut an die etwas schwierige Diskussion über die Ausstattung der Bundeswehr mit IED-Schutz, mit Schutzvorrichtungen gegen Sprengsätze. Wir wissen heute, dass Sprengsätze zu einer wesentlichen Gefährdung der Soldatinnen und Soldaten geworden sind. Ich bin froh, dass die Bundeswehr den Weg in die richtige Richtung gegangen ist. Wir müssen die Beschaffung in Zukunft nach den für den Einsatz erforderlichen Fähigkeiten ausrichten. Der Haushalt ist belastet durch Investitionsentscheidungen, die in der Vergangenheit getroffen wurden. Wir können aus diesen Investitionen nicht von heute auf morgen aussteigen. Zum A400M hat die Koalition aber eine klare Vereinbarung gefasst: dass die Verträge einzuhalten sind. ({3}) Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung berücksichtigt, was die sie tragenden Fraktionen sinnvollerweise vereinbart haben. Die Bundeswehr hat die Strukturanpassungen, die infolge der Machtverschiebungen nach dem Ende des Kalten Krieges und angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus notwendig geworden sind, leider bis zum heutigen Tage nicht ausreichend vollzogen. Der eingeschlagene Transformationsprozess führte bisher nicht zu einer erfolgreichen Entwicklung und genießt in der Bundeswehr keinen besonders guten Ruf. In diesem Bereich ist eine grundlegende Neuausrichtung notwendig; denn die sicherheitspolitischen Herausforderungen werden in Zukunft nicht enden. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass eine Kommission eingesetzt wird, die bis Ende 2010 die Eckpunkte einer neuen Organisationsstruktur der Bundeswehr erarbeiten soll. Das ist nicht Ausdruck einer Kommissionitis des Verteidigungsministers, Kollege Bonde, sondern das haben die Fraktionen miteinander vereinbart. Auch das ist in der Vergangenheit in dieser Klarheit und Form nicht gelungen. Ich gehe auch davon aus, Herr Verteidigungsminister zu Guttenberg, dass diese Expertenrunde in den nächsten Monaten die Weichen für diesen notwendigen Prozess stellen und es eine Selbstverständlichkeit sein wird, dass dies auch in enger Kooperation zwischen Ministerium und den Fraktionen erfolgen wird, da eine breite Rückendeckung bei der Neuausrichtung der Bundeswehr auch hier im Parlament vonnöten ist. Unsere Soldaten müssen wissen, dass der Deutsche Bundestag diese neuen Strukturausrichtungen in aller Breite mitträgt. ({4}) Wir haben eben zum gefundenen Kompromiss zur Wehrpflicht einige Einlassungen der Kolleginnen und Kollegen gehört. Nach unserer Auffassung ist eine Aussetzung der Wehrpflicht die richtige Zukunftsausrichtung; gleichzeitig haben wir aber auch immer betont, dass es um Wehrgerechtigkeit geht. Insofern kann man jetzt nicht der FDP den Vorwurf machen, wir würden die Türe dafür öffnen, dass mehr Grundwehrdienstleistende eingezogen werden. Vielmehr war dies ein Aspekt unserer Vorstellungen zur Wehrpflicht. Ich glaube, dass der gefundene Kompromiss einen Anreiz dafür bedeutet, die bestehenden Einberufungsstrukturen auf den Prüfstand zu stellen. Dadurch muss die Bundeswehr ihre Anstrengungen verstärken, sich so attraktiv zu machen, dass die jungen Wehrpflichtigen sagen: Jawohl, hier will ich bleiben, hier habe ich eine berufliche Perspektive. ({5}) Der Bundesverteidigungsminister hat jetzt die Möglichkeit, das Thema Wehrgerechtigkeit anzufassen. Diesen Vorgang werden wir konstruktiv begleiten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Einsätze der Bundeswehr sind in den letzten Jahren immer gefährlicher geworden. Heute ist hier von vielen Kollegen dankenswerterweise das wichtige Thema PTBS, posttraumatische Belastungsstörungen, angesprochen worden. Deswegen bin ich auch froh, dass es hier gelungen ist, die Umsetzung des damals einstimmig gefassten Beschlusses des Deutschen Bundestages in die Koalitionsvereinbarung aufzunehmen. Herr Minister, ich bin sehr zuversichtlich, dass Sie in Ihrem Hause sehr rasch dafür sorgen werden, dass dieser einstimmig beschlossene Wunsch des Parlamentes für unsere Soldatinnen und Soldaten wirklich umgesetzt wird. Der wichtigste Einsatz der Bundeswehr wird natürlich in den nächsten Monaten und Jahren absehbar die ISAF-Mission in Afghanistan sein. Wir werden uns auch im Deutschen Bundestag mit einer Neuausrichtung der strategischen Überlegungen und Grundlagen für diesen Einsatz auseinandersetzen müssen. Herr Minister, Sie haben den Begriff des Partnerings heute hier im Deutschen Bundestag erwähnt. Ich halte dies für einen sinnvollen Ansatz. Aber wir müssen auch gleichzeitig die Frage stellen, ob die Bundeswehr in ihrer jetzigen Grundausrichtung dazu in der Lage ist, die notwendigen Anforderungen des Partnerings zu erfüllen. Ich gehe davon aus, dass wir uns, wenn dies zu einer Grundlage für den zukünftigen Einsatz werden sollte, sehr rechtzeitig über die notwendigen Strukturen unterhalten. Für mich ist ein Thema - das mag zunächst etwas banal klingen -, dass die Bundeswehr dann, wenn sie beim Partnering mitmacht, in der Lage sein muss, mit genügend Sprachmittlern diese Aufgabe für die Afghan National Army zu erfüllen. Dies ist ein wichtiger Punkt, den wir in unserer Verantwortung noch intern klären müssen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen in den nächsten vier Jahren vor großen haushalterischen, strukturellen und auch außenpolitischen Herausforderungen, was die Ausrichtung der Bundeswehr angeht. Ich hoffe, dass wir ihnen gemeinsam gerecht werden. Die Signale, Herr Kollege Arnold, die heute von Ihnen gekommen sind und die besagen, dass es einen möglichst breiten Konsens über die weitere Entsendung der Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geben wird, sind wirklich der Maßstab für alle weiteren Entscheidungen in dieser Frage. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben an dieser Stelle Klarheit und unsere Rückendeckung verdient. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ulrich Meßmer für die SPD-Fraktion. ({0})

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Haushalt in dieser Größenordnung bewegt eine Menge. Man kann ja auch viel kritisieren und dies immer unter das Wort „Rüstung“ fassen. Aber hinter dem Wort „Rüstung“ stehen - zumindest nach meiner Einschätzung und Erkenntnis - auch viele Menschen, die davon leben, deren Existenz davon abhängt. Auch bei denen, die uns beliefern - ich möchte das Stichwort „A400M“ aufgreifen -, stehen Menschen dahinter. Wenn ich das Handelsblatt von heute richtig gelesen habe, Herr Minister, dann ist wohl klar, dass die Verantwortlichkeit für die fehlenden Milliarden weder bei der Vertragsgestaltung der Vorgängerregierung noch bei der Abwicklung im Ministerium zu suchen ist, sondern eindeutig beim Management der EADS. Deshalb habe ich die herzliche Bitte: Wenn hier verhandelt wird, dann müssen die Interessen der Steuerzahler gewahrt werden. Es dürfen nachher allerdings nicht die Arbeitnehmer bei EADS die Leidtragenden sein. „Hart sein“ darf nicht bedeuten, dass die Menschen, die eine gute Arbeit für unsere Bundeswehr leisten, auch im fliegenden Bereich - davon kann man sich jeden Tag überzeugen -, nachher die Leidtragenden oder die Opfer eines solchen Skandals sind. Ich habe die herzliche Bitte, dies dabei zu berücksichtigen. ({0}) Ich möchte ein aktuelles Ereignis ansprechen, weil mich die Bilder davon bewegen; ich weiß nicht, wie Ihnen das geht. Ich habe im Fernsehen eben noch Bilder von Haiti jetzt nach dem neuen schweren Erdstoß gesehen. Die Lage dort ist für die Menschen katastrophal: für die Bevölkerung, für die internationalen Helfer, aber auch für alle anderen, die helfen wollen. Ich bin mehrfach darauf angesprochen worden, ob es nicht möglicherweise auch seitens der Bundeswehr Unterstützung und Hilfe geben kann, ähnlich wie sie bei dem Tsunami damals geleistet worden ist. Hier wäre sicherlich die Frage etwa an die Marine zu richten, was geht. Ich bin eigentlich sicher, dass man sich darüber schon Gedanken macht. Zügiges Handeln ist hierbei erforderlich. Ich glaube, dass beim Verteidigungshaushalt häufig nicht gesehen wird, wie viele Menschen davon abhängen. Wir muten den Bediensteten, aber auch den Familien bei der Veränderung der Bundeswehr eine ganze Menge zu; Frau Hoff, da gebe ich Ihnen durchaus recht. Wenn die Bundeswehr in Zukunft etwas bedeuten soll, dann muss sie auch ein attraktiver Arbeitgeber sein; ich will nicht sagen „werden“; das würde möglicherweise Widerspruch heraufbeschwören. Sie muss daran arbeiten, dass sie zukünftig ein attraktiver Arbeitgeber ist und als solcher auch erkennbar ist. Dafür muss noch eine ganze Menge getan werden. „Attraktivität“ heißt natürlich, dass Aus- und Weiterbildung ins Zentrum einer beruflichen Entwicklung rücken müssen. Es muss berufliche Perspektiven geben. Es muss die Möglichkeit geben, wie in der Wirtschaft Karrieren zu gestalten - das bekomme ich immer mit -, Karrieren aber auch planbar zu machen. Ich meine, dass sich die Bundeswehr mehr noch auf die Bedürfnisse junger Menschen und junger Familien einstellen muss und mehr dafür tun muss, dass auch junge Familien ein Interesse daran haben, ihre Lebensplanung dort zu verwirklichen. Ich weiß, dass dies bei den besonderen Aufgaben sehr schwierig ist; das braucht mir niemand zu sagen. Es wäre spannend gewesen, in diesem Haushalt ein paar Antworten darauf zu finden. Ich glaube nämlich schon, dass dies Auswirkungen auf künftige Investitionen hat, ob das Wohnungen, Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder Ähnliches betrifft. Es muss sich im Haushalt widerspiegeln, dass die notwendigen Investitionen getätigt werden. Es ist viel gedankt worden - dem schließen wir uns ausdrücklich an; meine Vorredner aus der Fraktion haben es schon gesagt -, aber Dank allein reicht nicht aus; es muss auch erkennbar werden, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber ist. Das bedeutet, dass in den Fragen von Besoldung und Aufstieg eine ganze Menge getan werden muss. Vor dem Hintergrund der Diskussionen, die immer wieder geführt werden - ich habe sie auch im Fernsehen regelmäßig verfolgt -, muss klar sein: Wer eine Dienst- oder Arbeitsstelle bei der Armee hat, braucht keine Angst vor der Zukunft oder vor dem Alter zu haben. Hierbei stellen sich sicherlich eine ganze Menge Fragen, auch was Gerechtigkeit und entsprechende Altersversorgung angeht. In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht so ähnlich, wie es in der Wirtschaft der Fall ist, darüber nachdenken, ob nicht auch die Zeitsoldaten in den Genuss einer zusätzlichen Altersversorgung kommen sollten. ({1}) Ich selber habe erlebt, wie sich in der Wirtschaft Veränderungen ergeben und wie viel bereits heute dafür getan wird, für die Menschen in Zukunft ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Wenn sich die Bundeswehr in diesem Bereich weiterentwickeln will, dann muss sie heute für junge Menschen attraktiv werden, damit sie auch in 20 Jahren kompetentes Personal hat, das gut ausgebildet und in der Lage ist, eigenständig notwendige Entscheidungen im Rahmen des jeweiligen Aufgabengebietes oder auch Einsatzgebietes zu übernehmen. Ich lobe ausdrücklich auch das zivile Engagement der Soldatinnen und Soldaten in der Öffentlichkeit, ohne das viele kulturelle, aber auch sportliche Ereignisse nicht möglich wären. ({2}) Ich erlebe es regelmäßig im Bereich der Behindertenausbildung, aus dem ich selbst komme, dass sich das Heeresmusikkorps engagiert und Maßnahmen für behinderte Menschen entsprechend unterstützt werden. Das Musikkorps hat sich selbst in Bereichen der Gesellschaft, von denen man das vielleicht nicht vermutet, ungeheuer hohe Anerkennung erworben. Wenn es um die Umsetzung von Maßnahmen geht, werden wir auf Ihr Angebot zurückkommen. Wir wollen die Einrichtung eines Unterausschusses vorschlagen, um die Modernisierungsmaßnahmen zu begleiten und zu unterstützen. Dabei wird sich zeigen, Herr Minister, ob eine Zusammenarbeit mit den übrigen Fraktionen des Hauses tatsächlich gewollt ist und ob Anregungen aufgegriffen werden. Wir sind jenseits der aktuellen aufgeregten Diskussion gerne dazu bereit. Wir werden sehen, wie sich das Ganze entwickelt. Ich bin sehr gespannt, wie die Anregungen auch meiner Fraktion aufgenommen werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Meßmer, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen auch in Ihrer weiteren Arbeit viel Erfolg. ({0}) Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Klaus-Peter Willsch. ({1})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kameraden von der Marine! Wenn wir heute den Verteidigungshaushalt beraten, dann geht es um einen Bereich, der - schon in vordemokratischer Zeit - einen Kern staatlichen Handelns darstellte. Die Sicherstellung der inneren Sicherheit und Ordnung und der Schutz der Bevölkerung vor äußerer Bedrohung oder vor Freiheitsgefährdung von außen gehören zu den klassischen Aufgaben. Die Diskussionen über die Mandatierung von Einsätzen zeigen, dass wir häufig sozusagen eine mediale Welt gegen uns haben, mit der wir umgehen müssen. Wenn wir in den Wahlkreisen nach diesem Thema gefragt werden - speziell denke ich an den Einsatz in Afghanistan -, dann merken wir, dass sich sehr viele dabei unwohl fühlen. Es ist kein Problem, die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Bundeswehr zu finden, wenn es um die Vogelgrippe geht, wenn verendete Vögel einzusammeln sind oder im Oderbruch Sandsäcke geschleppt werden müssen. Auch was die aktuelle Situation in Haiti angeht, ist meines Wissens bereits eine Übersicht über verfügbare Kapazitäten ans Auswärtige Amt übermittelt worden, damit dort zentral gesteuert werden kann, welche Bundeswehrkapazitäten und Teileinheiten zum Einsatz kommen können. Bei solchen Einsätzen ist es immer sehr einfach, breite Sympathie für die Bundeswehr zu beKlaus-Peter Willsch kommen. Wenn es aber um Einsätze in ihrem eigentlichen Kernbereich geht, wird es schwierig, weil wir auf einmal in kriegerischen Situationen sind. Dass das nicht einfach ist, wissen wir alle. Deshalb ist es für mich wichtig, dass es in der Frage der Mandate eine breite Übereinstimmung in diesem Haus gibt. Wenn in diesem Haus ein Mandat erteilt wird, gehört es dazu, dass wir als Bundestag einen Beschluss über die erforderliche Ausstattung und Ausrüstung für dieses Mandat fassen. Das ist ein Gegenstand der Haushaltsdebatte über den Einzelplan der Verteidigung. Wir tun gut daran, wenn wir Einsätze wie den in Afghanistan nicht zu sehr überfrachten, zum Beispiel mit Forderungen nach Frauenbeauftragten in allen Provinzen sowie dem Errichten einer vorbildlichen rechtsstaatlichen Ordnung. Damit verheben wir uns in einem Land wie Afghanistan, das vielleicht noch nicht die Voraussetzungen dafür hat. Wir spiegeln dann etwas vor, was eigentlich nicht notwendig ist. Der Sinn des Einsatzes in Afghanistan ist, der Bedrohung, die aus der Tatsache herrührt, dass in diesem Land al-Qaida den Westen und unsere Art, zu leben, frontal angegriffen hat, entgegenzuwirken. Das steht für sich alleine. Das Militär ist dafür da, die Interessen unseres Landes notfalls auch im Ausland zu vertreten bzw. die Freiheit Deutschlands am Hindukusch zu verteidigen, wie es ein Amtsvorgänger von Herrn Guttenberg gesagt hat. ({0}) - Richtig, die Sicherheit. - Ohne Überhöhungen und Illusionen wäre es viel leichter, die in der Außenpolitik vorhandenen Notwendigkeiten und auch die militärischen Einsätze rational zu begründen. Das ist wichtig im Blick auf die Soldaten, die wir dorthin schicken, und ihr Empfinden. Ich erlebe immer wieder, wie hier in Deutschland am Schneidetisch in Zeitlupe oder Zeitraffer und mit sieben Monitoren Situationen nachgestellt werden, in denen ein Soldat sofort handeln muss, wenn er nicht riskieren will, dass die ihm anvertrauten Soldaten bzw. seine Kameraden zu Schaden kommen oder dass der Auftrag nicht erfüllt wird. Es ist aber ungeheuer schwierig, am Schreibtisch die Situationen, in denen sich die Soldaten befinden, nachzuvollziehen; denn die Soldaten nehmen die Situationen ganz anders wahr. Es gab in der Welt am Sonntag einen Bericht eines deutschen Hauptmanns, der seit November den Alltag in der Region Kunduz erlebt. Er schreibt: In den Medien sind wir ja oft nur eine Randnotiz. Wenn’s nicht knallt, interessiert es keinen, was hier passiert. Als im Sommer die drei deutschen Soldaten gefallen sind, war das drei Tage lang in der Presse. Und dann ist Michael Jackson gestorben … Ich glaube, die Medien haben den Auftrag und die Verantwortung, sich um unsere Soldaten in positivem Sinn zu kümmern und Öffentlichkeit für sie herzustellen. Auch wir, die wir im Bundestag Debatten darüber führen, müssen das Unsere dazutun, indem wir im richtigen Ton darüber reden und unsere Verantwortung gegenüber den Soldaten, die wir in den Einsatz schicken, wahrnehmen. Damit komme ich - ich kann das verkürzt darlegen, weil andere Kollegen die einzelnen Posten schon durchgegangen sind - zu den Haushaltszahlen selbst. Der Haushalt der Verteidigung ist durch die Einsätze der Bundeswehr geprägt. Wir erleben auch Neuerungen. Normalerweise geht die Verlaufskurve der einsatzbedingten Mehrkosten bei Einsätzen nach einer gewissen Zeit nach unten. Beim Einsatz in Afghanistan ist das nicht der Fall. Hier geht die Kurve stetig nach oben. Wenn man mit Leuten spricht, die das Gerät unterhalten, das aus dem Einsatz zurückkommt, dann hört man folgende Beschreibungen: Das Gerät wirkt, als ob es mit Sandpapier geschmirgelt worden wäre. - Es muss also sehr viel mehr für die Materialerhaltung getan werden. Wir sorgen dafür, dass das möglich ist. Wir werden das in haushaltspolitisch sehr schwieriger Zeit in den nächsten Jahren zu bewältigen haben. Ein schlichtes Festhalten am Plafond ist relativ wenig vor dem Hintergrund erstens einsatzbedingter Mehrausgaben und zweitens des Anwachsens der Versorgungslasten, die wir seit 2004/05 in den Einzelplänen berücksichtigen. Wir müssen uns nüchtern bewusst machen, dass es notwendig sein wird, Mittel entweder an anderer Stelle im Haushalt des Verteidigungsministeriums selbst oder in anderen Bereichen zu mobilisieren. Es kann kein Vertun geben: Wenn wir Soldaten in Einsätze schicken, dann müssen wir sie so ausrüsten, dass sie unter größtmöglichem Schutz und mit höchstmöglicher Wirksamkeit ihren gefährlichen Auftrag erfüllen können. Das ist unsere Verantwortung als Parlament. Dafür stehen wir ein. Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Großprojekten sagen. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie in den Gesprächen, die jetzt geführt werden, auf die Einhaltung von Verträgen pocht, denn das ist das Selbstverständlichste der Welt. Wir haben dieses Thema im Haushaltsausschuss intensiv beraten. Auch ich kenne Menschen, die bei Firmen arbeiten, die betroffen sein könnten, wenn der angedrohte Ausstieg aus dem Projekt mehr ist als Theaterdonner und Verhandlungsstrategie. Es ist jedenfalls nicht klug, solche Verhandlungen in öffentlicher Debatte im Deutschen Bundestag zu führen. Es ist notwendig, dass die Bundesregierung und die Regierungen der anderen Länder, die den A400M bestellt haben, die Verhandlungen eingedenk der Tatsache führen, dass geschlossene Verträge einzuhalten sind und dass die Fähigkeiten, deren Fehlen zum Abschluss dieser Verträge geführt hat, der Truppe trotzdem zur Verfügung gestellt werden müssen; das erwartet das Parlament von der Regierung. Die Union ist ein treuer Partner der Bundeswehr, und die christlich-liberale Regierungsmehrheit wird es auch hier im Parlament sein. Wir laden alle anderen herzlich ein, den Soldaten gerade bei den zentralen Fragen, bei denen es um den Einsatz, die Tüchtigkeit des Materials dafür und die richtigen Einsatzbedingungen geht, zu zeigen, dass sie eine Parlamentsarmee, dass sie eine Armee des ganzen Parlaments sind. Ich wünsche uns gute Beratungen für den Einzelplan 14. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen nicht vor. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23. Das Wort hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Minister:in)

Politiker ID: 11003198

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man den Schmerz und die Verzweiflung der Menschen in Haiti sieht, fällt es wohl keinem von uns leicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Irgendjemand hat gesagt, die Zustände seien geradezu apokalyptisch. Ich glaube, das trifft es sehr gut. Deswegen bin ich mir sicher, dass alle Mitglieder dieses Hauses der Überzeugung sind, dass schnell, solidarisch und vor allem wirksam geholfen werden muss. ({0}) Aus diesem Grund bin ich nicht nur für den Applaus auch der Opposition dankbar, sondern ich bin auch der Bundesregierung dankbar, dass sie schnell reagiert hat. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat mittlerweile insgesamt 5 Millionen Euro für Nahrungsmittelsoforthilfe zur Verfügung gestellt. Zusammen mit den Mitteln des Auswärtigen Amtes aus Nothilfetiteln sind es insgesamt 10 Millionen Euro für Maßnahmen der humanitären Sofort- und Nothilfe. Wenn man unseren 20-prozentigen Anteil an der EU-Hilfe hinzurechnet - das sind noch einmal etwa 60 Millionen Euro -, sind wir in einem Bereich von ungefähr 70 Millionen Euro Soforthilfe, mit denen wir unsere Solidarität mit den Menschen in Haiti bei der ersten Runde der Hilfestellung deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Darüber hinaus werden wir uns auch mit dem Wiederaufbau beschäftigen. Das sollten wir allerdings international abgestimmt im Rahmen einer gemeinsamen Geberkonferenz tun. Haiti zeigt wieder eines: Entwicklungspolitik muss schnell sein, aber Entwicklungspolitik muss auch langfristig wirken. Sie darf nicht nur Hilfe, sondern sie muss auch Hilfe zur Selbsthilfe sein und die Selbsthilfekräfte in unseren Partnerländern stärken. Unter diesem Gesichtspunkt ist der heutige Entwurf für den Haushalt 2010 ein Entwurf mit einer klaren liberalen Handschrift. ({1}) Wir haben in diesem Haushalt einen Aufwuchs von 67 Millionen Euro im Vergleich zum Jahre 2009 oder - anders formuliert - einen Aufwuchs von 44 Millionen Euro gegenüber den Vorgaben des letzten, abgewählten SPD-Finanzministers. ({2}) Wir haben also eine gute Kombination von Vorsorge für unsere internationalen Verpflichtungen einerseits und einem klar erkennbaren Sparwillen vor dem Hintergrund der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise, in der unser Land je gewesen ist, andererseits. Wir machen deutlich, dass Entwicklungspolitik einen hohen Stellenwert für diese Bundesregierung hat; deswegen wächst der Etat trotz aller schwierigen Rahmenbedingungen. Aber wir machen auch deutlich, dass wir in gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet sind, die wir nicht zur Seite schieben können. Was unsere internationalen Verpflichtungen anbetrifft, werden wir im Bereich des Klimaschutzes - unsere Partnerländer sind vom Klimawandel weit überproportional betroffen - einiges an Leistungen zu erbringen haben, die heute noch nicht vollständig in den Haushaltsentwürfen abgebildet sein können, weil die Kopenhagener Konferenz leider kein Ergebnis gebracht hat. Wir werden auch vor dem Hintergrund dessen, was uns die Afghanistan-Konferenz beschert und mit dem Wissen, dass diese Bundesregierung den Schwerpunkt des zukünftigen Engagements auf die zivile Aufbauarbeit legen möchte, noch einiges mehr tun, als im Moment im Haushalt widergespiegelt sein kann, weil die Afghanistan-Konferenz noch nicht stattgefunden hat. Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass wir auch hier schon einige Erfolge vorweisen können, insbesondere im Norden, wo wir auch Verantwortung für die Sicherheit tragen. 75 Prozent der Menschen im Norden Afghanistans können mittlerweile durch Beschäftigung ein eigenes Einkommen erzielen. 60 Prozent aller Kinder in Nordafghanistan haben die Gelegenheit, eine Schule zu besuchen. Wir werden dafür sorgen, dass mit dem weiteren entwicklungspolitischen Engagement der Bundesrepublik diese Friedensdividende weiter ausgeweitet wird. ({3}) Unser Haushaltsentwurf ist eindeutig ein Aufbruchssignal, ein Signal, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder das Schlüsselressort in Deutschland für die ODA werden muss. Wir stellen uns nicht zuerst die Frage, ob der Haushalt zu groß oder zu klein ist; zuerst stellen wir uns die Fragen: Ist unsere Entwicklungspolitik wirksam und sichtbar? Sind multilaterale Maßnahmen effektiver? Werden privates Kapital und die private Wirtschaft zum Wohle unserer Partnerländer ausreichend eingebunden? Wird vor allem die Zivilgesellschaft gestärkt? Denn wir wollen, dass wirkliche Veränderungen aus der Mitte der Gesellschaft, also aus der Zivilgesellschaft heraus, erreicht werden, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch und vor allem in unseren Partnerländern. Wenn wir das mit der Frage kombinieren, ob wir mit unserer Politik mehr Freiheit und Eigenverantwortung erreichen, und diese Frage bejahen können, dann können wir sagen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Man stellt fest, dass sowohl die mediale als auch die oppositionelle Aufgeregtheit etwas weniger wird. Die Zustimmung wird etwas größer. Dass das BMZ Armut bekämpft, ist nicht falsch - richtig ist, dass private Wirtschaftlichkeit Basis der Armutsbekämpfung ist. Budgethilfe ist nicht immer falsch, aber es ist richtig, sie kritisch zu überprüfen. China ist kein Entwicklungsland, aber es ist richtig, China an den Lösungen globaler Herausforderungen zu beteiligen. Multilaterale Ansätze sind nicht immer effizienter. Richtig ist es aber, die Effizienz bilateraler Arbeit zu stärken. Wir als Bundesregierung sind für Sie alle sehr leicht durchschaubar. Unsere Messlatte, an der wir uns messen lassen müssen, ist unser Koalitionsvertrag. Diesen werden wir in dieser Legislaturperiode unserem Handeln zugrunde legen. ({4}) Wir haben schon einiges geschafft, wenn auch noch lange nicht alles. Wir sind noch nicht einmal 100 Tage im Amt, aber Schwerpunkte sind klar erkennbar. Wir haben die Wirksamkeit und Sichtbarkeit der deutschen Entwicklungspolitik gestärkt. Statt mangelnder Abstimmung haben wir eine bessere Kohärenz zwischen Entwicklungs-, Außen- und Außenwirtschaftspolitik schon heute erreicht, und zwar dadurch, dass wir einfach etwas tun, was im zwischenmenschlichen Bereich üblich ist, nämlich indem wir miteinander reden. ({5}) Wir haben die Schlagkraft und die Steuerungsfähigkeit des BMZ in den Blick genommen, und wir wollen beide in dieser Legislaturperiode durch eine Reform der Durchführungsorganisation erhöhen. In weniger als 100 Tagen nach der Amtsübernahme werden wir die ersten Vorschläge miteinander prüfen. In weniger als 200 Tagen nach der Amtsübernahme werden die ersten Vorschläge für eine Reorganisation im Kabinett beraten werden. Wir erhöhen unsere Anstrengungen für ländliche Entwicklung, Gesundheit und vor allem für Bildung, weil Bildung die Grundlage dafür ist, dass man ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und ohne Armutsrisiko führen kann. Das wird einer unserer Schwerpunkte sein. Auch die Zivilgesellschaft wird ausdrücklich gestärkt, was im Haushaltsentwurf sichtbar ist. Wir wollen ausdrücklich auf die Zivilgesellschaft, die Kirchen und insbesondere auf die politischen Stiftungen einen größeren Schwerpunkt legen, als das früher der Fall war. ({6}) Die Kooperation mit der privaten Wirtschaft wird überproportional gestärkt. Auch das sehen Sie an einem zusätzlichen Haushaltsansatz von 10 Millionen Euro. Der Schwerpunkt auf Eigenfinanzierung unserer Partner durch Mikrofinanzkredite soll dazu führen, Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Wir werden das mit einer größeren Werte- und Interessengebundenheit unserer Entwicklungspolitik kombinieren. Um allen Vorurteilen entgegenzuwirken: Schauen Sie sich an, was der erste Minister in diesem Amt, Walter Scheel, gemacht hat: Er hat für die Bundesrepublik Deutschland die Grundlagen für eine liberale internationale Entwicklungspolitik gelegt. Diese Regierung wird genau hier anknüpfen. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Bärbel Kofler für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich in einem einzigen Punkt den Ausführungen des Ministers anschließen: Es ist dringend nötig, dass den Menschen in Haiti sehr schnell, sehr unbürokratisch, sehr unkompliziert und sicher mit mehr als 10 Millionen Euro Not- und Übergangshilfe geholfen wird. ({0}) Dann hören die Gemeinsamkeiten aber sehr schnell auf. Ich muss sagen: Seit ich im Bundestag bin, habe ich selten eine so uninspirierte und für das Thema leidenschaftslose Rede eines Ministers zu seinem eigenen Ressorts gehört. ({1}) In den letzten Jahren habe ich meine Haushaltsrede in der Regel damit beginnen können, dass ich gesagt habe: Ich freue mich über den Aufwuchs, den die Ministerin durch Verhandlungen erreicht hat. Zur Erinnerung - es lohnt sich, Zahlen in Relation zu setzen -: Im letzten Jahr, das ebenfalls schwierig war, und in dem es ebenfalls eine Krise zu bewältigen galt, gab es einen Aufwuchs um 12,4 Prozent, also um 600 Millionen Euro. Dieses Geld stand zur Bekämpfung von Armut, von ökologischem und sozialem Raubbau und zum Aufbau von Strukturen zur Verfügung. Darum geht es nämlich in der Entwicklungspolitik: Entwicklungspolitik ist Strukturpolitik. ({2}) Ich wäre sehr dankbar, wenn das vom Ministerium einmal zur Kenntnis genommen würde. Leider kann ich meine Rede dieses Jahr nicht so beginnen. Wie hoch ist der Aufwuchs nämlich? Sie haben es selbst erwähnt: 67 Millionen Euro. Man könnte fast sagen: Es ist ein Nullaufwuchs; es passiert nichts. ({3}) Sie zitieren immer wieder den Haushaltsentwurf von Juli letzten Jahres. Sie wissen ganz genau: Im Juli ist ein Kabinettsentwurf ohne Ressortabstimmungen, ohne Verhandlungen vorgelegt worden. Eines kann ich Ihnen sagen: So einen mutlosen, so einen fantasielosen Entwurf mit einem Aufwuchs von 67 Millionen Euro hätte eine Ministerin Wieczorek-Zeul nie zugelassen. Sie hätte sich erfolgreich für mehr Mittel für diesen wichtigen Bereich eingesetzt. Bundesminister Dirk Niebel: Bundesminister Dirk Niebel ({4}) Sie haben sich nicht nur vom 0,51-Prozent-Ziel in diesem Jahr, sondern auch von einer grundsätzlichen, stetigen Aufbauarbeit in diesem Ressort - von der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels bis 2015 - verabschiedet. Sie tragen immer wie eine Phalanx vor sich her, dass die Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels im Koalitionsvertrag steht. Wenn man diesen Vertrag einmal genau nachliest, stellt man aber fest, dass darin keine Jahreszahl steht. Für den Einzelplan 23 sehen Sie für das Jahr 2011 ein Minus von 0,7 Prozent vor; zu den folgenden Jahren äußern Sie sich nicht. Wir haben gestern gelernt, dass es mit dieser Regierung keine mittelfristige Finanzplanung geben kann, da im Mai in Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen stattfinden. Man wird darauf warten müssen, bis von Ihrer Seite vernünftige Angaben zu unserem Einzelplan gemacht werden. Gerade für unser Ressort ist es von großer Bedeutung, dass man den Aufwuchs verstetigt. Diejenigen, die Sie eben angesprochen haben - zivile Kräfte, Kirchen, Stiftungen und auch die Wirtschaft; ich habe gar nichts dagegen, dass sie mehr bekommen; im Gegenteil, dort wird gute Arbeit geleistet -, brauchen nicht nur einen höheren Barmittelansatz, sondern mehr über Verpflichtungsermächtigungen zugesagtes Geld, damit sie wissen, was ihnen in den nächsten Jahren zur Verfügung stehen wird, damit sie ihre gute Arbeit fortführen können und damit sie gerade für die Zivilgesellschaft - Sie haben sie angesprochen - etwas tun können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Kofler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Fischer, bitte.

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die 65 Millionen Euro Aufwuchs in diesem Haushaltsplan auf Grundlage des Haushalts beschlossen worden sind, den Herr Steinbrück in der mittelfristigen Finanzplanung vorgelegt hat? ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Fischer, natürlich ist mir das bekannt. Ich habe ja gerade ausgeführt, vor welchem Hintergrund hier Verhandlungen über die Zukunft stattgefunden haben. Sie können gern das Gespräch mit der Ministerin von damals suchen. Selbstverständlich wurde vor der Wahl keine Abstimmung vorgenommen, was den zukünftigen Aufwuchs anbelangt. ({0}) Ich möchte Ihnen noch eines sagen: Im Zusammenhang mit diesem Haushalt hätte man auch einmal ein paar Ausführungen dazu machen können, dass laut aktueller Steuerschätzung in diesem Jahr 10 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stehen. Vielleicht wird gleich einer meiner Kollegen noch darauf eingehen. Man hätte also etwas von diesen 10 Milliarden Euro oder auch von der 1 Milliarde Euro, die nun den Hoteliers zugute kommt, einige Mittel für den Einzelplan 23 verwenden können. ({1}) - Ich verteile sie aber hier. Sie haben sie nur an die Hoteliers gegeben. Schauen wir uns das ganze Trauerspiel um diesen Haushalt weiter an. Sie, Herr Minister, haben von großen Linien gesprochen. Ich erkenne keine einzige große Linie in diesem Einzelplan. Das Einzige, was Sie getan haben, ist, beim Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria 58 Millionen Euro zu streichen. Hierzu hätte ich gerne heute von Ihnen ein klärendes Wort gehört. Es ist richtig, was in den Erläuterungen im Haushaltsentwurf zu diesem Titel steht, nämlich dass dieser Fonds ein bedeutendes „Finanzierungsinstrument in der internationalen Zusammenarbeit zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria“ ist. Gleichzeitig sagen Sie, dass Sie die zugesagten Mittel in Höhe von 200 Millionen Euro nicht in voller Höhe abfließen lassen können, da Sie im Koalitionsvertrag eine Verteilung der bilateralen und multilateralen deutschen Leistungen im Verhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel vereinbart haben. Jetzt frage ich mich: Wo ist hier die große Linie? Hier geht es um die Bekämpfung von Krankheiten und um Gesundheitsförderung gerade in ländlichen Gebieten bei den Ärmsten der Armen. Man sollte nämlich einmal zur Kenntnis nehmen, was durch den Globalen Fonds seit 2002 erreicht wurde: 2,5 Millionen HIV-Erkrankte haben Unterstützung bekommen, 104 Millionen Menschen haben Moskitonetze bekommen, Hunderttausende Beschäftigte im Gesundheitsbereich wurden ausund weitergebildet. Sie aber entziehen sich den Zusagen, die die Bundesrepublik Deutschland gemacht hat, und gefährden damit gleichzeitig diese sinnvolle Politik. Sie setzen damit auch den Ruf unseres Landes als verlässlicher Partner in diesem Bereich aufs Spiel. ({2}) Auf eine Anfrage der Kollegin Roth vom Beginn dieses Monats schreiben Sie, Frau Kopp - Sie haben es ja selbst unterschrieben -, auch noch: Diese Kürzung um 58 Millionen Euro ist richtig und gewollt. Als sich dagegen öffentlicher Protest regt, wird zurückgerudert. Im Haushaltsentwurf steht allerdings immer noch der Ansatz von 142 Millionen Euro. Ich hätte sehr gerne einmal ein paar Aussagen von Ihnen dazu, was nun passiert. Setzen Sie den Ansatz wieder auf 200 Millionen Euro, wie es zugesagt war. Die politische Halbwertszeit Ihrer Äußerungen ist allerdings bezüglich der Finanzierung von Entwicklungszusammenarbeit - das gilt auch für viele andere Dinge nicht sehr hoch. Im Dezember konnten wir lesen, dass Sie gegen die Einführung einer Finanztransaktionsteuer zur Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit sind. Nach Ihrem Treffen mit Zoellick hört man von Ihnen, dass man dafür vielleicht doch noch Mittel einsetzen könne; man wolle mal sehen, was beim G-20-Treffen herauskomme. Ich höre gerne, dass das bei Ihnen neuerdings ein Thema sein soll, Herr Niebel; ich bezweifle es nur. Vieles von dem, was Sie sagen, richtet sich nur nach der politischen Tagesform und dem, was gerade opportun ist. Wichtig ist, dass Sie einen Vorschlag vorlegen, wie Sie das von Ihnen erklärte Ziel einer ODA-Quote von 0,7 Prozent erreichen wollen. Es gibt keine einzige Aussage zu den Finanzen von Ihnen, die belastbar ist und belegt, dass Sie etwas tun, um die ODA-Quote auf 0,7 Prozent zu erhöhen. Eine Anmerkung zur grundsätzlichen Ausrichtung von Struktur- und Entwicklungspolitik. Sie reden immer nur davon, dass die Wirtschaft es richten soll. Das ist Ihr Credo. Es wäre ganz schön, wenn Sie in den Ländern, in denen Sie unterwegs sind, genauer hinhören würden. Auf der Konferenz in Accra hat, wie ich finde, der ghanaische Präsident etwas sehr Vernünftiges gesagt. Er hat gesagt: Entwicklungspolitik muss dazu beitragen, dass in den Ländern administrative Strukturen aufgebaut werden; diese sind nämlich Voraussetzung dafür, dass überhaupt ökonomische Strukturen wachsen können. Das ist die richtige Ausgangsposition. Hier muss Strukturpolitik ansetzen. Administrative, rechtliche, soziale Infrastruktur muss aufgebaut werden, damit Investitionen in diesen Ländern überhaupt stattfinden können und sie sich entwickeln können. Schauen Sie sich einmal einen Großteil der Länder an. Glauben Sie, dass es zur Armutsbekämpfung ausreicht, dort ein deutsches mittelständisches Unternehmen anzusiedeln? ({3}) Das ist doch - ich sage es jetzt einmal höflich - völlig naiv, was da zum Teil geäußert wird. ({4}) Das hat nichts mit verantwortungsbewusster Entwicklungs- und Stukturpolitik zu tun. Ich denke, da unterscheidet sich grundsätzlich unser Staatsverständnis. Das sieht man auch an dem, was die FDP in diesem Land macht. Wir als Sozialdemokraten haben ein anderes Staatsverständnis, nämlich dass der Staat verantwortliche Aufgaben im Sinne des Gemeinwesens und der Bevölkerung übernehmen muss, dass er sie unterstützen und eine Basis bilden muss. Dazu benötigt er auch finanzielle Mittel, damit die entsprechenden Steuersysteme in manchen Ländern erst einmal aufgebaut werden können. Sie waren ja gerade in Ruanda. Dort hätten Sie lernen können, was man mit Budgethilfe beim Aufbau von Staats- und Steuerstrukturen machen kann, damit das eintritt, was Sie angesprochen haben, nämlich dass die Länder sich selbst helfen können. Zusammengefasst kann man zu diesem Haushalt nur eines sagen: Er ist mutlos, was die Finanzierung anbelangt, uninspiriert, was die Ideen anbelangt, und fantasielos. Ich würde mir die Leidenschaft und das Engagement Ihrer Amtsvorgängerin für die Ärmsten der Armen auf dieser Erde wünschen. Tragen Sie zur nachhaltigen Bekämpfung von Armut wirklich bei! Dann haben Sie unsere Unterstützung. Angesichts dessen, was Sie bis jetzt vorgelegt haben, ist jede Kritik noch höflich. Danke. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal kann man sogar jemanden wie mich, der schon acht Jahre im Deutschen Bundestag ist, überraschen. 2005, als das Ende von Rot-Grün da war und die Große Koalition begann, war ich überrascht, wie schnell die Grünen sich aus der Regierungsverantwortung zurückgezogen haben. Damals habe ich gedacht, es gehe nicht noch schneller. Frau Kofler, Sie haben mir das Gegenteil bewiesen: So schnell wie die SPD hat sich noch keine Partei aus der Regierungsverantwortung zurückgezogen. ({0}) Sie haben völlig verkannt, wer eigentlich die Verantwortung für die Politik in den letzten Jahren gehabt hat. ({1}) Ich würde gerne einmal versuchen, Ihre Zahlen ins richtige Licht zu rücken. Wenn man schon mit Zahlen hantiert, dann muss man aufpassen, dass man richtig damit hantiert. Ich habe mir einmal einige Zahlen heraussuchen lassen: Von 1998 bis 2005 - wenn ich mich recht erinnere, gab es damals schon die gleiche Ministerin, allerdings mit einer rot-grünen Mehrheit - ist die reale Zahl im Haushalt, der Anteil des Einzelplans 23, von etwas über 4 auf etwas unter 4 Milliarden Euro gesunken. Minus 125 Millionen Euro - das ist Ihre rot-grüne Bilanz gewesen. Dass Sie uns vor diesem Hintergrund hier einen Aufwuchs vorwerfen, finde ich sehr bemerkenswert. ({2}) - Ich habe Ihnen zugehört; vielleicht hören Sie mir auch einen Moment lang zu. Schreien ist immer ganz wichtig, wenn man nicht hören will, was andere sagen. Das ist aber auch eine Frage von Stil und Höflichkeit. Erst seitdem die CDU/CSU mitregiert, seit der Großen Koalition, hat es den Aufwuchs von etwas unter 4 Milliarden Euro auf die jetzt vorhandenen circa 5,8 Milliarden Euro gegeben. Auch das würde ich gerne in diesem Zusammenhang einmal festhalten: Der letzte Haushalt hatte eine ODA-Quote von 0,36 Prozent. Wenn alles so kommt, wie wir uns das vorstellen, werden wir eine ODA-Quote von 0,40 Prozent haben. Das ist eine gewaltige Steigerung gegenüber dem, was Sie zuletzt vorgelegt haben. ({3}) Natürlich würden wir uns wünschen, dass wir den Stufenplan einhalten können. Aber man muss - das hat der Minister zu Recht gesagt - die Dinge im Fokus dessen sehen, was um uns herum geschieht und in welcher Welt wir leben. Sie wissen ganz genau: Wenn wir die Quote von 0,51 Prozent erreichen wollten, dann müssten wir den Einzelplan 23 auf einen Schlag um 3,5 Milliarden Euro aufwachsen lassen. Sie glauben nicht, dass irgendeine Regierung, egal wie sie politisch bestellt ist, das zu dieser Zeit leisten könnte. Deswegen hören Sie doch einfach auf mit diesem Unsinn und bleiben bzw. werden Sie realistisch! ({4}) Ich glaube, dass der Haushalt, den wir heute diskutieren, eine angemessene Reaktion auf die Herausforderungen, die in den kommenden Jahren vor uns liegen, bietet, und dass er - das ist schon angeklungen - konsequent das umsetzt, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Ich will mit einem Punkt beginnen, der in der Debatte sonst häufig unter den Teppich gekehrt wird. Wir sagen, dass wir mehr für das Engagement der Kirchen und mehr für das Engagement der politischen Stiftungen bereitstellen. Das klingt für uns alle so selbstverständlich, aber ich möchte Sie daran erinnern, dass das System der politischen Stiftungen, so wie wir es hier in Deutschland kennen - mit Auslandsbüros, mit politischer Förderung von Entwicklungszusammenarbeit, mit Demokratieförderung, mit Verbreitung der Idee der sozialen Marktwirtschaft -, etwas ganz Einzigartiges ist. Bei allem Streit, den es gibt, sollten wir uns in dem Ziel einig sein, dass wir diesen Exportschlager, der ein Alleinstellungsmerkmal darstellt, stärken. Das tut dieser Haushalt in ganz hervorragender Art und Weise. ({5}) Natürlich kommt heute keine Debatte - schon gar keine entwicklungspolitische Debatte - ohne ein Wort über Haiti aus. Was wir dort gesehen haben, ist eine Katastrophe selten gekannten Ausmaßes. Man soll nie Menschenleben gegeneinander aufrechnen. Trotzdem will ich sagen: Durch den Tsunami wurde eine Region getroffen, die wesentlich stärker bevölkert ist, als es bei Haiti der Fall ist. Wenn man die Zahl der Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl vergleicht - in Haiti werden es 50 000 oder 200 000 Tote sein; ganz genau wird man das wahrscheinlich nie feststellen können -, dann sieht man, welche gewaltige Dimension diese Katastrophe hat. Ich habe die Debatte den ganzen Tag über verfolgt. Wenn billig und platt behauptet wird, wir würden zu wenig Geld zur Verfügung stellen, dann muss ich sagen, dass das an der Realität vorbeigeht. Geld ist nicht das Problem. Die Frage ist: Wie schaffen wir die Hilfe zu den Menschen? Gibt es überhaupt eine vernünftige Infrastruktur? Darum müssen wir uns kümmern. Dann kann man sich immer noch mit der Frage beschäftigen, ob genügend Geld für die Hilfe vorhanden ist. Meine These ist: Geld ist wahrscheinlich genügend vorhanden. Sorgen wir lieber dafür, eine entsprechende Infrastruktur zu schaffen, damit wir die Hilfe zu den Menschen bringen können. ({6}) Wir können uns auch über die Frage unterhalten - wir diskutieren hier den Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung -, was eigentlich unsere Aufgabe ist. Unsere Aufgabe fängt gerade erst an. Was wir im Moment machen, ist Soforthilfe in Form von Katastrophenhilfe und humanitärer Hilfe. Wenn die schlimmsten Schäden beseitigt sind und die gröbsten Schwierigkeiten überwunden sind, werden wir irgendwann vor der Situation stehen, dass wir einen Beitrag dazu leisten müssen, diesem Land wieder eine Chance zu geben. Es wird immer sehr viel von Wiederaufbau gesprochen. Aber eigentlich ist es das nicht. Wenn Sie sich Haiti vor der Katastrophe anschauen, dann können Sie sehen: Es war ein Land mit extrem schwachen staatlichen Strukturen, mit einer kaum vorhandenen Verwaltung und mit extremen Schwierigkeiten, was fast alle grundlegenden Aufgaben des täglichen Lebens angeht. Insofern geht es am Ende darum, dazu beizutragen, dass Haiti ein Land wird, in dem zukünftig bessere Chancen existieren als vor der Katastrophe. Das bedeutet, dass wir vielfältige Unterstützung leisten müssen. Das hat etwas mit Geld zu tun. Aber wir müssen auch unser Know-how zur Verfügung stellen, zum Beispiel wenn es darum geht, einigermaßen erdbebensicher zu bauen und Bebauungspläne so aufzustellen, dass im Falle solcher Katastrophen, die nicht zu verhindern sind, nicht noch mehr Menschen sterben. Die Regierung hat angemessen auf die Herausforderungen reagiert. Es geht aber um viel weitergehende Fragen. Bevor wir uns über die Frage den Kopf zerbrechen, ob 10, 11 oder 12 Millionen Euro der angemessene Betrag sind - es wird sicherlich wesentlich mehr werden müssen -, sollten wir uns eher Gedanken darüber machen, wie man Haiti langfristig eine Chance eröffnen kann. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. ({7}) Natürlich kann man keine Debatte, die sich mit Entwicklungszusammenarbeit beschäftigt, führen, ohne dass man ein Wort über Afghanistan sagt. Dieses Thema wird uns in der nächsten Woche noch sehr intensiv beschäftigen. Deswegen will ich dieses Thema nicht weiter ausbreiten. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, die christlich-liberale Koalition, müssen ihren Auftrag dort sehr ernst nehmen. Wir haben dafür gesorgt, dass schon in diesem Haushaltsjahr Mittel für Afghanistan aufwachsen. Wir wollen uns das auch für die kommenden Jahre vornehmen. Ich halte das für goldrichtig. Geld ist auch an dieser Stelle nur ein Teil. Der andere Teil umfasst die Frage, wie wir genau helfen und was wir vor Ort wollen. Es gibt ein paar begrenzende Faktoren. Es gibt heute in fast jedem Land, das Truppen nach Afghanistan sendet, eine Diskussion über die Frage, an welchem Punkt eine Übergabe in Verantwortung möglich ist. Das macht auch für uns, die wir Entwicklungszusammenarbeit betreiben, die Dinge ein gutes Stück weiter vordringlich. Wir wissen nämlich, dass wir nur ein begrenztes Maß an Zeit haben. Wir wissen, dass unsere Arbeit, auch nachdem die Soldaten abgezogen sind, noch lange sehr notwendig sein wird. Deswegen glaube ich, dass neben der Beantwortung der Frage, wie viel Geld wir dort investieren, es auch wichtig ist, die richtigen Instrumente zu finden. Das bedeutet, wir müssen noch mehr hinein in die Provinz, und wir müssen noch mehr aufs Land. Außerdem müssen wir schauen, dass wir gerade bei einem Land wie Afghanistan, das in Provinzen aufgeteilt ist, das historisch gesehen keine starke Zentralgewalt, sondern nur starke Regionalkräfte kennt, die richtigen Strukturen schaffen und unsere finanziellen Möglichkeiten konzentrieren. Das halte ich für mindestens genauso wichtig wie die Frage: Wofür geben wir ansonsten Geld aus? Ich will an dieser Stelle eine Anmerkung machen. Vorhin, bei der Debatte zum Verteidigungsetat, hat es eine große Rolle gespielt, dass man sich um traumatisierte Bundeswehrangehörige und deren Familien kümmern muss. Ich will nur sagen, dass das zum Beispiel auch für Angehörige der Polizeikräfte gelten muss, die wir nach Afghanistan schicken und die dort auch großen Gefahren ausgesetzt sind. Hier muss dasselbe gelten: Eine entsprechende Nachsorge muss gewährleistet sein; denn auch die Polizisten leisten für uns einen wichtigen Beitrag. Wir sollten uns bei ihnen - wie bei allen, die unter diesen sehr schwierigen Umständen einen wichtigen Beitrag leisten - recht herzlich bedanken. ({8}) Ein weiteres ausgesprochen wichtiges Thema, das uns in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen wird, ist mit der Frage verbunden: Was passiert nach Kopenhagen? Ich glaube, man kann auf jeden Fall ohne große Übertreibung festhalten, dass die Konferenz in Kopenhagen kein Erfolg gewesen ist. Die Frage ist nur: Welche Konsequenz ziehen wir daraus? Die Konsequenz kann nicht sein, zu sagen: Der internationale Prozess ist dann gescheitert. Er ist nämlich nicht gescheitert. Es gibt, was Kopenhagen betrifft, klare Abmachungen, die wir einhalten müssen. Wir werden auch in der Entwicklungszusammenarbeit unseren Beitrag leisten müssen. In der Debatte, die wir vor Kopenhagen geführt haben, ist deutlich geworden, dass an dieser Stelle viel von der Entwicklungszusammenarbeit abhängt. Der wesentlich größere Teil der Ausgaben für Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern wird tatsächlich von unserem Etat geleistet, nämlich im Umfang von weit über 1 Milliarde Euro. Damit setzen wir ein richtiges Zeichen: Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, indem wir diesen Bereich aufwachsen lassen. Ich halte es für richtig und legitim, dass wir hier besonders diejenigen Entwicklungsländer in den Fokus nehmen, die in Kopenhagen bereit waren, mit uns zu kooperieren. Wir sollten uns in besonderem Maße in diesen Ländern engagieren. Wenn nämlich jemand den Willen hat, uns bei der Überwindung des Klimawandels zu helfen, dann sollten wir ihn nicht bestrafen, sondern ihn dadurch belohnen, dass wir besonders intensiv zusammenarbeiten. ({9}) Dieser Haushalt wirft im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung unserer Entwicklungspolitik strukturelle Fragen auf, über die wir zu diskutieren haben. Da geht es zum einen um die Vorfeldreform. Sie ist nicht ganz einfach; wir haben hier ehrgeizige Ziele. Ich glaube aber, dass wir die Ziele so setzen, dass wir sie auch erreichen können. Am Ende des Tages steht also nicht das, was unter der letzten Ministerin passiert ist: Der Prozess ist am Ende völlig ins Stocken geraten, weil man nicht versucht hat, die Beteiligten wirklich mitzunehmen. Ich glaube, das Ziel, eine kleine Vorfeldreform vernünftig durchzuführen, ist realistisch und kann am Ende des Tages erreicht werden. ({10}) Wir sollten uns nicht an Dingen verheben, für die wir, wenn wir sie überhaupt irgendwann in Angriff nehmen wollen, wesentlich mehr Zeit brauchen. Gerade ist schon die Frage angeklungen: Gibt es Frontstellungen zwischen Budgethilfe und Projektfinanzierung auf der einen Seite sowie zwischen bilateraler und multilateraler EZ auf der anderen Seite? Ich halte das ehrlich gesagt für einigermaßen konstruiert. ({11}) - Das steht nirgendwo im Koalitionsvertrag: ({12}) Nirgendwo steht, dass wir die Budgethilfe abschaffen wollen und dass wir gegen multilaterale Zusammenarbeit sind. Wir sind nur der Meinung, dass alle Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden sollten. Man darf also nicht glauben, dass nur internationale, multilaterale Entwicklungszusammenarbeit oder nur Budgethilfe richtig ist. Am Ende des Tages ist der richtige Einsatz von Mitteln vielleicht wichtiger als der Mittelabfluss. Ich glaube, wir sollten uns allen den Gefallen tun, an dieser Stelle eine ehrliche und vernünftige Debatte zu führen. Insofern freue ich mich auf die Haushaltsberatungen. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Leid der Menschen in Haiti hat uns alle geschockt - viele Vorredner sind schon darauf eingegangen -, zumal wir vom Entwicklungsausschuss vor drei Jahren gemeinsam das Land besucht haben und sehr herzlich und hoffnungsvoll von den Menschen dort empfangen wurden. Es bedrückt einfach noch mehr, wenn man das Land konkret kennengelernt hat. In diesem Zusammenhang halte ich es schon für wichtig, Herr Kollege Haibach, über Zahlen zu sprechen. Die 10 Millionen Euro Soforthilfe sind in unseren Augen angesichts des Ausmaßes der Zerstörung, der großen Spendenbereitschaft in der Bevölkerung und der Soforthilfe anderer Länder viel zu gering. Wir sehen, dass die Bundesregierung viel mehr Geld für Krieg und Zerstörung ausgibt als für Aufbau und Entwicklung. ({0}) Wir haben uns schon vor Tagen dafür ausgesprochen, dass die Soforthilfe massiv erhöht werden muss. Es ist auch wichtig, dass wir langfristig zum Wiederaufbau Haitis beitragen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Haiti, die leider unter Ministerin Wieczorek-Zeul ausgelaufen ist, wieder aufgenommen wird. Wir sind der Meinung, Haiti braucht sofort und für lange Zeit unsere Solidarität. ({1}) Gleichzeitig teilen wir die Kritik der Vereinten Nationen und der amerikanischen Friedensbewegung, die eindringlich an die US-Politik appelliert, dass das jetzige Machtvakuum Haitis nicht für eine neue Militärpräsenz missbraucht werden darf. Die Menschen in Haiti brauchen jetzt keine Soldaten, sie brauchen Ärzte und Aufbauhelfer. ({2}) Wir müssen uns natürlich auch die Frage stellen - das wird viel zu wenig thematisiert -, warum dieses Land so bitterarm ist. Vor zwei Jahren haben wir die Hungerrevolten in Haiti miterlebt. Wir haben Berichte gehört, dass Menschen aus Lehm Brot backen, um den Hunger zu stillen. Diese Armut kommt natürlich nicht von ungefähr. Sie ist die Folge jahrhundertelanger Kolonialpolitik, die sich bis heute auswirkt, und auch die Folge von imperialer Politik, die mit Hilfe zahlreicher US-Militärinterventionen und der Unterstützung brutaler Diktaturen betrieben wurde. Auch eine neoliberale Freihandelspolitik wurde in Haiti angewandt. ({3}) Es wurde eine Marktöffnung erzwungen und die Existenz zahlreicher Kleinbauern zerstört, die jetzt von Nahrungsmittelhilfen abhängig sind. Die bittere Armut hat die Menschen dazu getrieben, fast den gesamten Waldbestand in Haiti abzuholzen, was katastrophale ökologische und klimatische Folgen für die gesamte Karibik hat. Diese Entwicklung erleben wir in vielen Ländern des Südens. Armut und Elend wachsen weltweit. Mehr als 1 Milliarde Menschen hungern. Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderbotschafter für das Recht auf Nahrung, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Imperium der Schande“. Wer ernsthaft Hunger, Armut und Umweltzerstörung bekämpfen will, der braucht nicht, Herr Niebel, die Stärkung der deutschen Privatwirtschaft. Vielmehr müssen wir uns für ein anderes Weltwirtschaftssystem einsetzen und uns gegen Militäreinsätze, die für Wirtschafts- und Rohstoffinteressen geführt werden, wehren. ({4}) Genau dasselbe erleben wir in Afghanistan. Nach bald neun Jahren sogenannter Aufbauhilfe, ({5}) sprich: Besatzung und Krieg, ist dieses Land das viertärmste Land der Erde. Deshalb muss das Jahr 2010 zum Jahr des Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan gemacht werden. ({6}) Wir wollen die jährlichen Ausgaben des Bundeswehreinsatzes in den zivilen Aufbau umwidmen. Die Bundesregierung gibt nach wie vor viermal mehr für das Militär als für den zivilen Aufbau aus. ({7}) Herr Niebel, wir teilen auch die Kritik zahlreicher Entwicklungsorganisationen an Ihrem Vorhaben, die Vergabe von Entwicklungsgeldern in Afghanistan zukünftig an eine enge Kooperation mit der Bundeswehr vor Ort zu koppeln. Das lehnen wir ganz klar ab. ({8}) Auch Ihre Äußerung, dass die Bundeswehr in Afghanistan noch eine ganze Zeit lang zivil flankiert werden muss, zeigt deutlich: Sie sehen die Hilfsorganisationen als Teil der militärischen Strategie der NATO. Das lehnen wir ab. Wir fordern ein Ende der zivil-militärischen Zusammenarbeit. ({9}) Während die deutschen Rüstungsausgaben für zukünftige Militärinterventionen weiter steigen - davon wurde heute auch gesprochen - und Milliardenbeträge für Banken bereitgestellt werden, schafft es die Bundesregierung in diesem Jahr nicht - und das ist Fakt -, das Minimalziel, einen Anteil von 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungsausgaben bereitzustellen, einzuhalten. Sie schaffen es nicht. Sie zahlen nicht die zugesagten 200 Millionen Euro in den GlobaHeike Hänsel len Fonds zur Bekämpfung von Krankheiten ein. Sie sparen im Bereich Klimaschutzbekämpfung an dem Anpassungsfonds. Überall gibt es zu wenig Geld, aber bei Rüstung und militärischen Investitionen haben Sie einen Aufwuchs. Das lehnen wir ganz klar ab. ({10}) Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer einführen. Wir wollen sämtliche Rüstungsprojekte streichen. Dann gäbe es genügend Geld für die Bekämpfung von Krankheiten. Es gäbe genügend Geld für den Klimaschutz, übrigens auch für den Zivilen Friedensdienst, der nach wie vor ein Nischendasein fristet. Wir wollen ihn zu einem zentralen Instrument der Außenpolitik ausbauen. Der Zivile Friedensdienst braucht eine Zukunft. Damit wäre auch er finanzierbar. ({11}) Herr Niebel, abschließend möchte ich Ihnen gerne noch sagen: Sie wollen nicht, dass das Entwicklungshilfeministerium zum Weltsozialamt wird. Wir hingegen wollen nicht, dass dieses Ministerium zum Selbstbedienungsladen für Wirtschaftslobbyisten wird. ({12}) In diesem Zusammenhang sage ich - das gilt auch für die Kollegen von der CSU -: Setzen Sie ein Zeichen. Spenden Sie die Gelder, die Sie von der Hotellobby bekommen haben, für Haiti. Das wäre ein deutliches Zeichen. Damit könnten Sie zeigen, dass Sie es ernst meinen mit dem Wiederaufbau in Haiti. Danke. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom Bündnis 90/Die Grünen, dem ich zu seinem heutigen 52. Geburtstag gratuliere. ({0})

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, danke schön für die Glückwünsche. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in diesen Haushaltsdebatten immer gewisse Rituale, die sich ständig wiederholen, allerdings mit wechselnder Rollenverteilung. Ich erlebe dieses Stück jetzt in der dritten Fassung. Mal spielten Rote und Grüne die Regierungsrolle, dann Rote und Schwarze und jetzt Schwarze und Gelbe. Die, die zusammen die Regierungsrolle spielen, stellen sich hier hin und sagen: Seht, wie toll wir sind. Dann kommen die anderen und sagen: Das stimmt doch gar nicht, ihr macht viel zu wenig und gebt viel zu wenig Geld für die Ärmsten der Armen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie heute einmal ermutigen, dieses alte Rollenspiel zu verlassen und ehrlich miteinander umzugehen. Wer ehrlich ist, der muss auch zur Selbstkritik bereit sein. Was würde ein ehrlicher, aufgeklärter Politiker aus Afrika, Bangladesch oder Bolivien sagen, wenn er uns heute zuhören würde, wenn er unsere Rituale in den Haushaltsdebatten beobachten würde? Ich glaube, er würde mit dem Kopf schütteln und sagen: Ihr habt sie nicht mehr alle. Und in der Tat haben wir sie nicht alle. Wir haben nicht alle Euros zusammenbekommen. Wir haben nie die Euros zusammenbekommen, die immer wieder von allen versprochen wurden. ({0}) Unser Gast würde uns daran erinnern, dass im Deutschen Bundestag schon zur Zeit von Willy Brandt vom 0,7-Prozent-Ziel gesprochen wurde. Jeder betont die Wichtigkeit dieses Versprechens, dieses Ziels, 0,7 Prozent vom Bruttonationaleinkommen für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Regelmäßig kommen dann die Haushaltsberatungen. Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir die Hosen runterlassen und sagen - das wäre ganz offensichtlich -, dass nichts eingehalten wird und niemals eingehalten wurde von dem, was versprochen wurde. Das ist zu meinem großen Bedauern auch unter Rot-Grün so gewesen. Das war unter Schwarz-Rot so, und heute, unter Schwarz-Gelb, erleben wir das Gleiche wieder. Auch das gehört zu dem Ritual: Man hört die abenteuerlichste Argumentationsakrobatik, mit der das Brechen von Versprechen, das Nichteinhalten von Zusagen schöngeredet werden soll. Das haben wir auch heute wieder erlebt. Da wird mit ernster Miene auf die schwierige Haushaltslage und auf die Wirtschaftskrise verwiesen. Da wird sogar eine klitzekleine Steigerung - weit weniger als das, was eigentlich hätte sein müssen - als Erfolg verkauft. Der Verweis auf die Kasse, auf die Wirtschaftslage ist aber eine faule Ausrede; denn es geht nicht um einen Fixbetrag, sondern um einen Anteil von 0,51 Prozent, der jetzt hätte eingestellt werden müssen, der zugesagt war. 0,7 Prozent sollen das 2015 sein. Ein Anteil ist ein Anteil ist ein Anteil. Er wird größer oder kleiner, je nachdem wie stark die Wirtschaftskraft ist. Wir hätten erwartet, dass es eine Lücke von 3 Milliarden Euro wird. Aufgrund der gesunkenen Wirtschaftszahlen beträgt die Lücke jetzt 2,2 Milliarden Euro. Also machen Sie bitte keinen Hinweis auf die Wirtschaftskraft; denn es ist ein flexibler Anteil. Dann gibt es immer folgendes Argument - auch heute war es wieder bei einigen Rednern zu hören -: Meine Herren, lassen Sie uns doch realistisch bleiben - dann kommt also Realismus ins Spiel -, 0,51 Prozent, da fehlten einfach noch 2,2 Milliarden Euro. Das sei einfach nicht zu schaffen. Das sei doch unrealistisch. Welch ein Blödsinn. Erinnern wir uns doch daran, welche Summen im letzten und vorletzten Jahr plötzlich realistisch wurden. Ich meine jetzt nicht Bürgschaften in dreistelliger Milliardenhöhe. Ich greife ein Beispiel von vielen heraus. Hopplahopp, praktisch über Nacht wurden 5 Milliarden Euro für ein zweifelhaftes Projekt, eine Prämie für das vorzeitige Wegwerfen von Autos, bereitgestellt. Das alles ist plötzlich realistisch. ({1}) Aber in der Entwicklungsdebatte fordern Sie: Lassen Sie uns doch bitte realistisch bleiben. In Ihrer Rede hat die Kanzlerin viel von Moral gesprochen und das 0,7-Prozent-Ziel erneut bekräftigt. Aber wenn ich die Kanzlerin jetzt wörtlich nehme, was ich gerne tun will, und mir dann diesen Haushaltsentwurf ansehe - Sie haben gehört, dass ich genauso Kritik an den Haushaltsentwürfen von Rot-Grün und der Großen Koalition geübt habe -, dann muss ich diesen Haushaltsentwurf als unmoralisch bezeichnen. ({2}) Ich weiß, dass die Ministerin und viele engagierte Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker in jeder Haushaltsrunde aufrecht und ernsthaft für mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe gekämpft haben. Aber zur nüchternen Betrachtung gehört auch, dass die anderen, der Finanzminister und die Haushälter, in ihrer Mehrheit jedes Mal stärker waren und die Debatte dominiert haben. Daher ist die Verpflichtung nie erfüllt worden. Ich glaube, wir sollten so ehrlich sein, uns gegenseitig zuzugestehen, dass das so ist. Was soll die Erbsenzählerei, die wir heute wieder erlebt haben, welche Koalition etwas mehr oder weniger doll die Versprechen gebrochen hat? Insgesamt können auch Mathematiker und gute Rhetoriker nicht darüber hinwegtäuschen: Nie ist das Ziel eingehalten worden. Jetzt kann man nicht mehr sagen, dass man Hoffnung habe, diesmal konnte man es noch nicht schaffen, aber man werde irgendwann den großen Endspurt beginnen und dann ganz viel nachliefern. Das ist jetzt wirklich vorbei. Jetzt ist Schluss mit lustig. Wir haben das Jahr 2010. Im Rahmen der Europäischen Union ist versprochen worden, in diesem Jahr 0,51 Prozent in den Haushalt einzustellen; 2,2 Milliarden Euro fehlen einfach. Darüber kann man nicht hinwegtäuschen. Wir haben uns die Mühe gemacht - mit ganz vielen Telefonaten, mit ganz viel Fleißarbeit -, in Absprache mit den Haushältern einen Haushaltsentwurf vorzulegen, der genau diese 2,2 Milliarden Euro, die fehlen, enthält. Jetzt gibt es natürlich die große Debatte über Quantität und Qualität. Wir wollen keine Luftbuchungen, wie sie manche hier machen, keine rein ideologischen Zahlen, die man gar nicht umsetzen kann. Wir haben vielmehr bei der GTZ, bei der KfW, im bilateralen und multilateralen Bereich nachgefragt. Daher können wir jetzt Titel für Titel einen Haushalt präsentieren, der sehr realistisch ist, wo wir Geld in die Hand nehmen, das wirklich absorbiert und umgesetzt werden kann, und den Ärmsten der Armen helfen können. Aber - das will ich auch sagen - ein solcher Haushalt lässt sich bei Festhalten an der anachronistischen, veralteten Zweidrittel/Eindrittel-Regel nicht realistisch darstellen. ({3}) Diese Regel, die in den 90er-Jahren von den Haushältern vereinbart wurde - es ist ja kein Gesetz -, sieht vor, dass die bilateralen, also unsere deutschen Institutionen, immer doppelt so viel Geld bekommen sollen wie alle internationalen Organisationen zusammen. Wir werden in den Einzelberatungen einen Entwurf vorlegen, der beides macht, der sowohl die Gelder für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit steigert, GTZ, KfW, Kirchen, Stiftungen und NGOs, als auch kräftige Erhöhungen der Mittel für die internationalen Organisationen vorsieht. Die Schwerpunkte sind: Klima - natürlich, das haben viele Vorredner schon gesagt -, ländliche Entwicklung und Hungerbekämpfung. Die Zahl der Hungernden - ich habe das oft genug gesagt - steigt und hat eine historische Rekordmarke erreicht. Außerdem fließt mehr Geld in Bildung und Gesundheit. Zwei Länderschwerpunkte sind Afghanistan und aufgrund der traurigen aktuellen Nachrichten natürlich auch Haiti; für Haiti sollte es, ähnlich wie nach der Tsunamikatastrophe, einen Sondertitel geben. ({4}) Natürlich wird immer auch die große Frage nach dem Realismus gestellt: Können Sie das gegenfinanzieren? Wir haben sehr detaillierte Gegenfinanzierungsvorschläge gemacht. Dazu gehören die Flugticketabgabe - sie macht allerdings nur einen kleinen Betrag aus -, die Finanztransaktionsteuer und die Streichung klimaschädlicher Subventionen. Es ist auch eine Summe genannt worden: Wenn man die Steuergeschenke für Hoteliers rückgängig macht, dann hätte man schon die Hälfte der fehlenden 2,2 Milliarden Euro beisammen. ({5}) Um die ODA-Quote zu erreichen, soll es nicht nur im Einzelplan 23, also beim Entwicklungsministerium, Steigerungen geben, sondern auch in vielen anderen Ressorts. Ich greife ein Ressort heraus: das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Hier sollen die Kooperation mit der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen, der FAO, und insbesondere die Reform des Komitees zur Ernährungssicherung ausgebaut werden. Auch in diesem Bereich soll es kräftige Aufwüchse geben. Ich freue mich, dass auch die SPD einen Plan vorlegen will, der das 0,51-Prozent-Versprechen ernst nimmt. ({6}) Ich bitte Sie allerdings, Selbstkritik zu üben, wie auch wir es tun. Auch der Haushaltsentwurf, der noch von Peer Steinbrück vorlegt wurde, hätte die 0,51-Prozent-Messlatte ganz klar gerissen. ({7}) Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, jetzt nicht einfach ganz schnell die Rollen zu tauschen. Wir haben unsere Hausaufgaben bisher allesamt nicht erledigt. Jetzt stehen wir vor der großen Aufgabe, endlich ehrlich zu sein und diese Aufgaben gemeinsam anzupacken. Den geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der jetzigen Koalition sage ich: Viele von Ihnen habe ich als ehrliche Streiter für die Entwicklungspolitik erlebt. Angesichts des vorliegenden Haushaltsentwurfs fordere ich Sie auf, jetzt ehrlich zu sein. Ich glaube, dass viele von Ihnen es lieber gehabt hätten, wenn ein Haushaltsentwurf vorgelegt worden wäre, der das 0,51-Prozent-Ziel erreicht. Wir zeigen Ihnen, dass das geht. Ich fordere Sie auch auf, jetzt nicht den vorgegebenen Argumentationsmustern zu folgen, sondern Rückgrat zu beweisen und mit uns gemeinsam parteiübergreifend kräftige Nachbesserungen zu fordern, sodass wir gemeinsam einen Haushalt erarbeiten können, den wir einem aufgeklärten Entwicklungspolitiker oder einem Politiker aus Afrika, Bangladesch oder Bolivien vorlegen könnten, ohne rot werden zu müssen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hoppe, ich bin mit Ihnen nicht in allen Punkten einer Meinung. Trotzdem fand ich Ihre Rede bemerkenswert. Wenn man will, dass die Fraktionen in Sachen Entwicklungshilfe zusammenarbeiten, war das, was Sie sagten, ein guter Ansatz, um zumindest miteinander ins Gespräch zu kommen. Unsere Einladung richtet sich auf jeden Fall auch an Ihre Fraktion. Natürlich wissen wir, dass es auch genügend Sozialdemokraten gibt, die ein Interesse an diesem Thema haben und nicht mit Schaum vor dem Mund hier stehen, wie wir es heute erlebt haben, ({0}) sondern sachlich argumentieren wollen. Sie haben natürlich recht: Wir sind in der Vergangenheit bei jeder Haushaltsberatung unzufrieden gewesen; das ist ganz klar. ({1}) - Liebe Kollegin, versuchen Sie einmal, zwei Minuten keine Zwischenrufe zu machen, damit ich ein paar Ideen vortragen kann, mit denen Sie sich dann auseinandersetzen können. Schließlich will ich auch auf Ihre Rede eingehen. Ich habe nämlich zumindest versucht, Ihnen zuzuhören. - Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört die Feststellung - hier hat der Kollege Hoppe recht -, dass die ODA-Quote im Jahre 2009 bei 0,36 lag. ({2}) Das werfe ich niemandem vor. ({3}) - Ich wiederhole: Das ist kein Vorwurf. ({4}) - Zu Ihnen komme ich gleich noch, Herr Kollege. ({5}) Ich will Ihnen ganz klar sagen - da drücken wir uns nicht -: Wir mussten uns in den Koalitionsverhandlungen entscheiden: Soll dieses Ministerium erhalten bleiben oder muss es aufgelöst werden? Darüber hat es eine Diskussion gegeben, auch in meiner Fraktion. ({6}) - Frau Kollegin, geben Sie mir doch die Chance, meine Ausführungen zu machen. Normalerweise wird hier eine Rede gehalten, und Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Es ging darum - ich sage das in aller Deutlichkeit -, dass dieses Ministerium zum Schluss ein Marionettenministerium war, das innerhalb der Regierung kaum noch Einfluss hatte. In diesem Ministerium wurde viel Geld hin und her geschoben. Ein Teil davon versickerte in bürokratischen Strukturen. ({7}) - Dazu sagt die SPD natürlich nichts. Das ist übrigens nicht nur die Meinung eines Freien Demokraten, es war die taz, die im September letzten Jahres unter der Überschrift „Das Marionetten-Ministerium“ schrieb, dass die Sozialdemokraten mit der Reform der Entwicklungshilfe gescheitert seien. Ich schließe mich dieser Meinung an. Ich stelle Ihnen gerne den gesamten Artikel zur Verfügung; er ist sehr interessant zu lesen. Was musste man erfahren? In diesem Ministerium kontrollierte zum Schluss jeder jeden, und manche spielten sich zu Kleinministern auf. Am Ende einigte man sich in diesem Ministerium: Wir kontrollieren auf jeden Fall mit aller Macht und mit viel Geld die GTZ. Überhaupt keine Zusammenarbeit gab es mit dem Auswärtigen Amt. Endlich gibt es wieder eine vernünftige Zusammenarbeit mit dem Außenministerium. Das hat teilweise die Kritik der Sozialdemokraten bewirkt. Ich fand es übrigens unfair: Minister Niebel war noch nicht im Amt, hatte noch nicht auf seinem Stuhl Platz genommen, da haben Sie ihn schon kritisiert. ({8}) - Ich verstehe die Aufregung nicht. Ich kann nur sagen: Sie haben es geschafft. Dieses Ministerium - das ist auch unser Ziel gewesen - ist kräftig aufgewertet worden, und es gibt eine gute Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt. ({9}) Auf einen Aspekt lege ich Wert: In der Bezeichnung des Ministeriums heißt es nicht nur „Entwicklungshilfe“, sondern auch „wirtschaftliche Zusammenarbeit“. Ich lege auch auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit Wert; das ist richtig so, und dabei bleibt es auch. ({10}) - Haben Sie einen zu hohen Blutdruck? Ich weiß nicht, warum Sie die ganze Zeit dazwischenrufen. ({11}) Ich will mit einem Lob beginnen. Ich will die ehemalige Ministerin Wieczorek-Zeul in einem Punkt ausdrücklich loben, und zwar für ihr Engagement im Kongo. Ich weiß aus vielen persönlichen Gesprächen, dass sie sich dort persönlich engagiert hat. Ich finde es gut, dass der neue Minister, Dirk Niebel, das fortsetzt und in den Kongo gefahren ist. Das ist - bei allem, was uns unterscheidet - Kontinuität, wie ich sie mir wünsche. Erlauben Sie mir einige Bemerkungen als Haushälter. Wir haben in der letzten Legislatur erlebt, dass sehr viel Länderbudgethilfe gewährt wurde. Länderbudgethilfe taucht auch jetzt wieder als Forderung auf. Als Haushälter habe ich allerdings zu berücksichtigen, dass der Bundesrechnungshof die Budgethilfe heftig kritisiert hat. Das kann das Parlament nicht einfach abtun. Lesen Sie den Bericht! Sie haben ihn wahrscheinlich nicht gelesen; sonst würden Sie nicht den Kopf schütteln. Ich bin ganz klar für Projektförderung - das machen wir, niemandem wird etwas weggenommen -; Budgethilfe, die nicht kontrollierbar ist, müssen wir aber einstellen, weil der Bundesrechnungshof das von uns fordert. ({12}) Man sollte nicht immer sagen: Wir müssen draufsatteln, hier fehlt dieses, und da fehlt jenes. Ich wünsche mir manchmal, dass wir als Haushälter, aber auch Sie als Fachpolitiker mehr darauf achten, ob die Mittel effektiv eingesetzt werden. ({13}) Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nehmen Sie - das Haus weiß, dass ich da persönlich engagiert bin, dass das ein Steckenpferd von mir ist - die Asiatische Entwicklungsbank. Ich kann nicht einsehen, dass wir viel Geld für diese Bank bereitstellen, wenn von denen fast das ganze Budget von Kambodscha bezahlt wird, wo die Opposition, wo die Demokratie unterdrückt wird. Ich bin nicht mehr bereit, aus deutschen Steuergeldern Mittel zur Verfügung zu stellen. Man muss mit den Leuten reden und ihnen sagen: Schluss, aus, Geld gibt es erst wieder, wenn bei euch ein bisschen mehr Demokratie herrscht, wenn die Opposition auch zu Wort kommt. ({14}) Ein anderer Punkt, den wir uns genau anschauen werden, ist der Freiwilligendienst „weltwärts“. „weltwärts“ - das habe ich immer kritisiert - ist der einzige Freiwilligendienst, bei dem man weder sozial- noch rentenversichert ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sascha Raabe?

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich nehme die Zwischenfrage gerne an, weil sie meine Redezeit verlängert, die sonst zu Ende geht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Raabe.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Koppelin, die Unruhe, die Sie bemängeln, kommt daher, dass Sie in Ihrer Rede so viele Unwahrheiten gesagt haben, dass ich sie in dieser Zwischenfrage gar nicht alle aufzählen kann. Ich will nur drei nennen: Erstens. Sie haben behauptet, Deutschlands ODAQuote für 2009 liege bei 0,36. Sie müssten wissen, dass die ODA-Quote im Nachhinein errechnet wird: Der entsprechende Ausschuss der OECD, der DAC, muss erst feststellen, was 2009 tatsächlich ausgegeben worden ist. Vorher kann die ODA-Quote nicht ermittelt werden. Sie können also noch gar nicht wissen, wie hoch die ODAQuote für 2009 ist. Zweitens ist es so, dass wir erwarten, dass die ODAQuote für 2009 bei 0,41 liegt. Bevor Helmut Kohl regiert hat, lag die ODA-Quote bei 0,47. Das ist heruntergewirtschaftet worden auf 0,26 im Jahr 1998. Unter Heidi Wieczorek-Zeul haben wir die ODA-Quote von 0,26 wieder auf fast 0,41 gesteigert. Wir hätten es gern weitergemacht; aber nun haben Sie uns mit Ihrem Haushaltsentwurf etwas vorgelegt, mit dem Sie das Versprechen brechen. Zweiter Punkt: Sie sagten, das Bundesministerium habe bei uns nicht Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit geheißen, sondern nur Bundesministerium für Entwicklung. Sie können nicht so tun, als heiße es jetzt durch die FDP auf einmal Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dies war auch bei uns schon so. Dritter Punkt: Wir sind natürlich verwundert, wenn Sie sagen, sie wollen die Budgethilfe einstellen, weil der Bundesrechnungshof fordere, dass sie eingestellt werden müsse. Das ist schlicht gelogen. Der Bundesrechnungshof sagt nicht, dass überall, wo sich Deutschland an Budgethilfe beteiligt - multilateral, auf EU-Ebene, auf UN-Ebene -, die Budgethilfe eingestellt werden müsse. Sie können hier doch nicht eine Rede halten, in der Sie dem Bundesrechnungshof etwas unterstellen, was er nicht gesagt hat. Ich muss übrigens keine Frage stellen. Sie sollten sich einmal die Geschäftsordnung anschauen. Dann werden Sie sehen, dass ich hier auch Lügen richtigstellen darf. Wenn Sie hier einen solchen Unsinn erzählen, dann kann es einen nicht mehr auf dem Platz halten. ({0}) Dann sollten Sie sich auch nicht darüber wundern, wenn man sich darüber aufregt. Wenn Sie an einer sachlichen Diskussion interessiert sind, dann bleiben Sie bitte sachlich und bei der Wahrheit, Herr Koppelin. ({1})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar für Ihre Fragen. - Habe ich Ihre Aufmerksamkeit? Ich wollte Ihnen gern antworten. Aber es ist schon genau das Problem, wie Sie sich heute geben: Sie können nicht einmal zuhören. Sie stellen Fragen, können vielleicht aber nicht die Antwort ertragen. Herr Kollege, ich bin ausgesprochen dankbar für diese Fragen, weil es erstens mein Urteil über Sie und Ihre bisherige Politik voll bestätigt hat, was Sie in Ihren Fragen zum Ausdruck gebracht haben. Ich fange mit der Budgethilfe an. ({0}) - Hören Sie doch einfach zu! Ich habe mich als Berichterstatter für den Einzelplan 23 im Haushaltsausschuss wirklich oft - nicht nur einmal und auch in Sondersitzungen - mit den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen zusammensetzen müssen, weil das Thema Budgethilfe eine große Rolle gespielt hat. Zum Schluss gab es sogar das Problem, dass die Union die Budgethilfe für Vietnam nicht wollte, während Sie sie wollten. Ich habe so viele Sitzungen dazu gehabt, dass ich diesen Bericht fast auswendig kenne. Werfen Sie mir also bitte nicht vor, ich behauptete hier Falsches. Sie haben anscheinend den Bericht nie gelesen. Ich stelle ihn Ihnen aber gerne zur Verfügung. ({1}) Was die ODA-Abschlussquote angeht, habe ich Ihnen hier meine Meinung gesagt; Sie vertreten eine andere. Ich mache den Vorschlag, dass ich mich mit Ihnen darüber nicht streite. Wenn die endgültigen Zahlen da sein werden, werden wir sehen, wer in der Sache recht hatte. Die dritte Frage habe ich vergessen. Sie dürfen sie gern wiederholen. Aber sicherlich war sie auch nicht so bedeutend. ({2}) Budgethilfe ist klar. Wir wollen sie effektiv einsetzen. Nun nenne ich aus Zeitgründen nur noch einen Punkt, Herr Minister, der mir persönlich ebenfalls wichtig ist. Ich bitte Sie, dies sehr intensiv zu verfolgen. Die aktuelle Finanz- und Konjunkturkrise hat dazu geführt, dass es auch in den Entwicklungsländern erhebliche Probleme gibt. Nicht die Entwicklungsländer haben die Probleme verursacht, sondern sie sind woanders entstanden, auch bei uns. Diese Länder dürfen nicht darunter leiden. Die Folgen müssen mit unserer Hilfe gelindert werden. Zu Afghanistan ist in der außenpolitischen Debatte schon etwas gesagt worden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Dieses Ministerium hat in den letzten Tagen wirklich viel Öffentlichkeit erlebt, nicht zuletzt durch die massive Kritik der Sozialdemokraten. Dies hat uns geholfen. Also kritisieren Sie in dieser Form weiter! Wir werden unseren Kurs weiter verfolgen. Ich bin Minister Niebel und der Staatssekretärin, der Kollegin Kopp, ausgesprochen dankbar, dass sie dieses Ministerium aufgewertet haben, sodass es in der Öffentlichkeit endlich wieder eine Rolle spielt. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Lothar Binding von der SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Zunächst mache ich eine Bemerkung zu der Debatte, die eben Herr Koppelin und zuvor schon Dirk Niebel angestoßen haben. Ich glaube, dass nur sehr schwache Amtsinhaber dadurch stärker erscheinen wollen, dass sie ihre Vorgänger persönlich schlechtmachen. Das ist kein guter Stil, und dies trägt auch ein bisschen zu dem Aggressionspotenzial bei, das man eben spüren konnte. ({0}) Ich nehme ein Stichwort auf, das Thilo Hoppe benutzt hat und das auch ich gern benutze: das Ritual, das eigentlich niemand versteht, und das Maß der Selbstkritik. Ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Aber es geht noch um einen anderen Begriff: das Maß der Anstrengung, mit der man seine Ziele erreicht. Das Maß der An1344 Lothar Binding ({1}) strengung ist, wie man zeigen kann, in Bezug auf unser ganz konkretes Ziel einer ODA-Quote von 0,7 Prozent in Deutschland sehr unterschiedlich. Auf dieses Maß der Anstrengung werde ich nachher zurückkommen. Ich war gestern bei Amnesty International. Da gab es eine Ausstellung von Bildern, die in Slums, in Favelas gemacht wurden. Sie wurden dreidimensional aufgebaut. Es ging dabei weniger um Armut an sich, weniger um Lebens- und Wohnverhältnisse, als vielmehr darum, wie es eigentlich Menschen gelingen kann, ihre Würde zu wahren, obwohl sie so arm sind. Das gelingt sehr vielen sehr gut. Der Würdebegriff spielt in diesem Einzelplan eine ganz besondere Rolle. Dabei geht es, wie ich meine, auch sehr stark um Symbole, um Verhalten. Jetzt will ich eine kleine paradoxe Intervention vorführen. Dass unser Entwicklungsminister mit einem solchen Käppi, wie ich es mir jetzt aufsetze, die Armen besucht - - Ich halte es nicht lange aus; es ist auch nicht eingetragen. ({2}) - Sie kennen sich da gut aus. Ich bin Zivildienstleistender im Krankenhaus gewesen. Ich musste es extra neu beschaffen. - Was ich sagen wollte, ist einfach Folgendes: Wer diesen Würdebegriff ernst nimmt, muss sich so etwas überlegen. Ich habe es dem Minister übel genommen, dass er in dieser Form in anderen Ländern aufgetaucht ist und uns dort so repräsentiert hat. Darüber war ich sehr enttäuscht. ({3}) Das führt uns zu einem bestimmten Selbstverständnis. In der Rhein-Neckar-Zeitung - das ist die Zeitung, die in dem Wahlkreis wichtig ist, in dem Herr Dirk Niebel früher zu Hause war - habe ich am 19. Januar Folgendes gelesen -: Wenn es jemand hinkriegt, dieses Amt so neu aufzustellen, dass es seinem Namen gerecht wird, dann ich. ({4}) - Das habe ich mir gedacht. Ich glaube, dass es genau dieses Verständnis ist, das uns irritiert. Nehmen wir einfach einmal ein Beispiel: Im November hat Kollege Niebel forsch 300 Millionen Euro für das Ministerium gefordert. Es wurden dann schließlich 44 oder 67 Millionen Euro; wie viel genau, ist egal, jedenfalls sehr wenig. ({5}) Das heißt, die Forderung war schon fast um den Faktor zehn zu niedrig. Das Ergebnis war fast um den Faktor 40 zu niedrig. Aber wen wundert’s? Wer etwas Falsches fordert, kann keine richtigen Ergebnisse zeitigen. ({6}) Von dem Auf und Ab für den GFATM haben wir schon gehört. 200 Millionen Euro sollten es sein. Im Entwurf stehen viel weniger Mittel. Dann gab es in der Öffentlichkeit ein Hin und Her. Vom Ministerium wurde erklärt, warum die 142 Millionen Euro doch korrekt seien. Anschließend haben wir in der Presse gehört, dass es doch 200 Millionen Euro hätten sein sollen und auch sein werden. Daran sieht man schon, dass auch mit dem Parlament bestimmte Dinge über die Öffentlichkeit ausgetragen werden. Ich glaube, dass man Empfängern von Leistungen solche Wechselbäder nicht über die Presse zumuten kann. ({7}) Schauen wir einmal genauer darauf, was dieser Begriff „liberaler Haushalt“ eigentlich bedeutet! Sie von der FDP haben immer eine Geheimwaffe gehabt, mit der sie uns jährlich gequält haben - dicker als diese paar Blätter hier. Das war das „Sparbuch“ der FDP. Es war 4 Zentimeter dick, hatte 1 000 Seiten. Es war meist keine geheime Verschlusssache, wurde hier aber nie vorgetragen. ({8}) - Ich habe es immer gelesen. Die Einsparungen, die dort vorgeschlagen wurden, suchen wir in diesem Haushalt allerdings vergeblich. Jetzt vergleiche ich nicht die neue Regierung mit der alten, sondern ich vergleiche die FDP-Vorstellungen von gestern mit den FDP-Handlungen von heute, und das ist erlaubt. Das haben Sie bei uns auch gemacht. Das halte ich für legitim. ({9}) Minus 125 000 Euro bei den Bezügen für Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre. ({10}) Fehlanzeige! Davon kann man nicht viel finden, genau genommen gar nichts. ({11}) Minus 500 000 Euro bei der Öffentlichkeitsarbeit. Diese Streichung hätten wir uns gewünscht. Das war eine super Idee, gegen die ich immer war. Aber diesmal ist davon nichts zu finden. Minus 675 000 Euro bei Information und Kommunikation. - Da wird ein bisschen gekürzt, aber bei weitem keine 675 000 Euro.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Binding, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Moment möchte ich noch vortragen, weil das so eine schöne Liste ist. Ich glaube, dass es geschickter ist, wenn ich die erst einmal zu Ende führe. Minus 105 Millionen Euro für das Integrierte Klimaund Energieprogramm: Fehlanzeige. Das habe ich im Haushalt nicht gefunden. Sie klären mich sicherlich nachher auf. Minus 600 000 Euro für die Überprüfung der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Auch dazu habe ich nichts gefunden. Minus 1,5 Millionen Euro für die Forschung. Im Haushalt finde ich nichts. Minus 4 Millionen Euro für die entwicklungspolitische Bildung. Darüber haben wir uns immer sehr aufgeregt. Im Haushalt finde ich nichts - was ich heute gut finde. Aber gemessen an dem, was sich die FDP vorgenommen hat, ist das nichts. Jetzt komme ich zu zwei interessanten Punkten: Minus 2 Millionen Euro für die Förderung entwicklungswichtiger Vorhaben privater deutscher Träger. Was aber finden wir im jetzigen Haushalt? Plus 10 Millionen Euro. Das ist interessant. Was hat diesen Wandel induziert? Minus 30 Millionen Euro für den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst. Als Begründung hieß es, dass das nicht Sache des Bundes sei. Gott sei Dank hat es sich inzwischen bis zum Minister herumgesprochen, dass man diese Kürzung nicht vornehmen sollte. Ich komme zur ODA-Quote und zu einem Stichwort, das vorhin genannt wurde.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir machen es am Ende meiner Rede. Das ist besser für meinen Redefluss.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, das gehört in die Rede hinein. Er hat sich in der Rede gemeldet.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Okay, Sie dürfen Ihre Zwischenfrage stellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, vielen Dank. Sie nehmen wahrscheinlich zum ersten Mal an Haushaltsberatungen, auch an Beratungen zu diesem Etat teil. Deswegen können Sie nicht wissen, dass in den Beratungen die Möglichkeit besteht, Anträge einzubringen. Diese Gelegenheit haben Sie auch. Ich habe vorhin versucht, den Grund für unsere Anträge darzulegen. Das ist anscheinend nicht richtig rübergekommen. Ich verweise noch einmal auf den Artikel in der taz vom 21. September 2009 mit der Überschrift „Das Marionetten-Ministerium“ - ich stelle Ihnen den Artikel auch gerne zur Verfügung - mit heftigster Kritik daran, dass dieses Ministerium null Einfluss hatte. Das haben wir genauso gesehen, und das war über Jahre hinweg einer der Gründe dafür, dass wir entsprechende Anträge gestellt haben. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie jetzt stolz darauf sind, dass Sie den ach so miesen Haushaltsansatz von 5,8 Milliarden Euro dieses einflusslosen Ministeriums, den unsere Ministerin seinerzeit im Parlament erreichen konnte, um 67 Millionen Euro überschreiten, dann gebührt dieser Stolz, glaube ich, doch zum überwiegenden Teil den Vorarbeiten Ihrer Vorgängerin. Ich denke, das kann man lobend erwähnen. ({0}) Das ist eine sehr gelungene Basis, auf der Sie im Wesentlichen weiterarbeiten. Viele Ansätze sind völlig gleich geblieben. Die Struktur ist minimal verändert worden, allerdings an einer gefährlichen Stelle. Darauf will ich näher eingehen. Lassen Sie mich ein paar nüchterne Zahlen nennen. 1981 - Sie wissen sicherlich noch ungefähr, was damals war; es gab einen Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb betrug die ODA-Quote 0,47 Prozent. Nicht schlecht. Wie hoch war die ODA-Quote 1998 - nach einer gewissen Zeit der schwarz-gelben Regierung? Kann das jemand raten? Sie hätte eigentlich steigen müssen. Davon war schließlich immer die Rede. Das meine ich mit Anstrengung. Sie war auf 0,26 Prozent gesunken. ({1}) Das war das Minimum auf der gesamten Zeitachse, auf die wir zurückblicken. Inzwischen beträgt die ODA-Quote ungefähr 0,40 Prozent. Damit können wir nicht zufrieden sein. Deshalb wollen wir mehr. Wir wollen die ODA-Quote erfüllen. Aber dafür ist gute Politik gefordert. Das wird unsere Messlatte für Sie sein. Ich nenne einige Beispiele, was wir erwarten. Eines können Sie sich schon denken. Selbstverständlich werden wir bei unseren Deckungsvorschlägen von dem Betrag ausgehen, den die Senkung des Mehrwertsteuersatzes für Hotels ausmacht. Das sind 1 Milliarde Euro nach vorsichtiger Schätzung. Sie können aber auch die Rücknahme der Sonderregelungen für internationale Konzerne in den Blick nehmen. Sie nennen das Krisenbewältigung. Das muss offen gestanden falsch sein; denn die Krise wollen wir überwinden, sodass eine dauerhafte Rücknahme bestimmter Elemente der Unternehmensteuerreform 2008 keinen logischen Sinn ergibt. Lothar Binding ({2}) Warum hat Minister Schäuble den Erlass zu den Steueroasen ausgesetzt, als ob es keine Abwanderung in Steueroasen mehr gäbe? Auch dazu haben wir einen Deckungsvorschlag. ({3}) Hinzu kommen selbstverständlich der Erlös aus der Versteigerung der Emissionszertifikate und Rückflüsse aus der finanziellen Zusammenarbeit. Zu erwägen ist auch, ob die Zahlungen an multilaterale Fonds nicht als Zuschuss, sondern als zinssubventioniertes Darlehen gewährt werden können. Damit hätte man eine Hebelwirkung. Außerdem sind sie anrechnungsfähig. Man könnte die ODA-Quote anheben und stabilisieren. Ich glaube, das wäre mit der Weltbank zu verhandeln. Eventuell geht das sogar ohne Militärkäppi. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist interessant, Herr Binding, dass Sie uns mit Zahlen konfrontieren, aber einen gewissen Zeitraum auslassen, nämlich die Jahre 1998 bis 2005. Denn in dieser Zeit ist das Volumen des Haushalts gesunken, ({0}) und zwar um fast 130 Millionen Euro. Das lag nicht an Ihrer Ministerin - denn wie wir alle wissen, hat sie wirklich darum gekämpft -, sondern es lag am Kanzler. ({1}) Wir müssen auch sehen, zu welcher Zeit es zu einem stetigen, 50-prozentigen Aufwuchs gekommen ist. Das war unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel, weil es für sie eine Herzensangelegenheit ist. ({2}) Die aktuelle Finanzmarktkrise wurde schon angesprochen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Wöhrl, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Frau Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Wöhrl, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Daten, die Herr Binding gerade genannt hat, die ODA-Quote betreffen? Ich wiederhole: Im Jahr 1991 lag die ODA-Quote bei 0,47 Prozent. Nach 16 Jahren schwarz-gelber Regierung war sie auf 0,26 Prozent gesunken. In der Tat ist es richtig, dass das Volumen des Haushalts des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bis 2005 nicht zugenommen hat, sondern etwas gesunken ist. Allerdings ist die ODA-Quote weiter gestiegen, weil aufgrund unserer Initiative die Entschuldung der ärmsten Länder der Welt - ich nenne als Beispiele die HIPC-Initiative, den Weltwirtschaftsgipfel in Köln im Jahr 1999 und die Initiative der Bundesrepublik Deutschland unter Gerhard Schröder - begonnen hat. Dies wurde auf die ODA-Quote zu Recht angerechnet. Sie dürfen nicht Äpfel mit Birnen vergleichen und die ODA-Quote mit dem Haushalt verwechseln. ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Hendricks, ich gebe Ihnen folgende Antwort: Das ist mir bekannt. Das ist aber nicht das Thema. Ich wollte darauf hinweisen, dass Herr Binding die Zahlen für den Zeitraum von 1998 bis 2005 explizit nicht erwähnt hat. ({0}) Sie haben durchaus recht: Er hat von der ODA-Quote gesprochen. ({1}) Aber er hat einen falschen Eindruck erweckt. Deshalb habe ich darauf hingewiesen, dass das Volumen des hier zur Diskussion stehenden Haushalts unter Rot-Grün gesunken ist und dass das - ich glaube, dafür dürfen Sie dankbar sein - nicht an Ihrer Ministerin gelegen hat. Das hat man später gemerkt; denn unter Frau WieczorekZeul kam es dann zu einem großen Aufwuchs. Aber alles in allem haben wir das primär unserer Kanzlerin zu verdanken. Das zeigen auch die Zahlen. Das war der Grund, warum ich das erwähnt habe. ({2}) Die Finanzmarktkrise wurde vorhin kurz angesprochen. Sie führt uns dramatisch vor Augen, wie sehr wir global vernetzt sind und dass wir uns nicht abschotten können. Ich erinnere daran, dass viele Experten gesagt haben, die Entwicklungsländer würden von der Finanzmarktkrise nicht so sehr betroffen sein, weil diese Länder nicht solche Bankensysteme und eine solche Infrastruktur wie die Industrieländer hätten. Aber es ist ganz anders gekommen. Die Finanzmarktkrise hat immens große Spuren hinterlassen und auch vor den Entwicklungsländern nicht haltgemacht. Das sieht man auch daran, dass mit 20 Millionen Armen mehr gerechnet wird, wenn das globale Wachstum um 1 Prozent abnimmt. Der Weltbankpräsident hat veröffentlicht, dass die Zahl der ärmsten Menschen aufgrund der Finanzmarktkrise um 64 Millionen gestiegen ist. Daran kann man die Auswirkungen dieser Krise erkennen. Die Herausforderungen, die auf Deutschland und die anderen Geberländer zukommen werden, werden nicht geringer, sondern größer werden. Das müssen wir uns vor Augen führen. Unsere Solidarität muss zunehmen. Wir müssen mehr globale Verantwortung übernehmen. Nun geht es darum, wie wir die größere Verantwortung, die zukünftig auf uns zukommt, ausgestalten wollen. Als Erstes heißt es immer, dass wir mehr Geld brauchen. Ich glaube nicht, dass man alle Probleme lösen kann, indem man mehr Geld in die Hand nimmt. Quantität ist nicht gleich Qualität. Es ist ein falscher Ansatz, den Problemen Geld hinterherzuwerfen. Dadurch verschwinden die Probleme nicht. Wir müssen zukünftig viel mehr darauf schauen, wofür und wie wir Geld ausgeben. Wir müssen damit viel bewusster umgehen, auch - schließlich sind wir in den Etatberatungen - mit Blick auf unseren Haushalt. Es wird nicht mehr werden. Wir müssen konsolidieren und die Vorgaben der Schuldenbremse im Grundgesetz einhalten. Vor diesem Hintergrund wird es zukünftig eine wichtige Aufgabe sein, die Gelder noch effizienter einzusetzen. Nun zum Thema „50 Jahre Entwicklungspolitik in Afrika“. Viele von Ihnen, die schon sehr lange - auch im zuständigen Fachausschuss - aktiv sind, haben in den letzten Jahren mit viel Herzblut und großer Intensität beim Aufbau in Afrika mitgewirkt. Wenn wir aber ehrlich sind, können wir mit dem, was wir geschafft haben, nicht zufrieden sein. ({3}) Deswegen müssen wir auch in Zukunft kritisch bilanzieren und hinterfragen. Eine quantitative Erhöhung des Etats kann es nur geben, wenn sie mit einer Reform der entwicklungspolitischen Instrumentarien einhergeht. ({4}) Der Minister hat bereits angesprochen, dass wir eine Reform der Durchführungsorganisationen brauchen. Das wird nicht einfach werden. Am Anfang wirkt immer alles schön und gut, und man spricht von Synergieeffekten und vielem mehr. Wenn es dann aber an die Umsetzung geht, sieht das ganz anders aus; Frau Ministerin a. D., Sie wissen noch, wie das gewesen ist. Herr Minister, ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Unsere Unterstützung haben Sie. Die Gründe, weswegen man Entwicklungspolitik betreibt, sind sehr vielfältig. Natürlich gibt es humanitäre Gründe. Wir sind uns alle einig, dass wir die Not und das Elend der Menschen lindern wollen. Dann gibt es sicherheitspolitische Gründe. Wir wissen, dass die globalen Risiken zunehmen. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir diese Risiken ganz schnell bei uns im Land. Deswegen betreiben wir Krisenprävention. Außerdem gibt es wirtschaftspolitische Gründe. Viele von Ihnen, die viel gereist und vor Ort gewesen sind, wissen, dass die Entwicklungsländer sich selbst nicht gerne als Armutsländer sehen. Sie wollen nicht ewig Empfängerländer bleiben, sondern haben ihren Stolz und wollen unabhängig werden und in der Zukunft eigenverantwortlich handeln. Sie wissen, dass das nicht von heute auf morgen geht; das dauert eine gewisse Zeit. Sie wollen partnerschaftliche Zusammenarbeit, was natürlich auch für die Wirtschaft, zum Beispiel den Energie-, Kommunikations- oder Dienstleistungsbereich, gilt. Bei Afrika denkt man natürlich auch an die Energieversorgung, die vor allem im ländlichen Bereich ein Riesenproblem ist. Man denkt an den Klimaschutz, die Abholzung der Tropenwälder und die Energiegewinnung durch Holzkohle. Allerdings sollte man auch an unsere Umwelttechnologien denken. Hier sind wir mit einem Anteil von 30 Prozent Weltmarktführer. Warum kann man nicht zu einer Win-win-Situation kommen, indem man mit unseren Technologien hilft? Sie können in diesen Ländern Entwicklungstreiber sein und sind es zum großen Teil schon. Es gibt keinen besseren Weg, um die Armut zu lindern, den Klimawandel aufzuhalten und auch in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen. Wir brauchen auch Akzeptanz in der Öffentlichkeit dafür, wie wir die Gelder einsetzen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass dafür noch ein bisschen zu wenig getan wird. Damit die Akzeptanz in unserer Bevölkerung - auch bei den Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben - noch größer wird, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass unsere Wirtschaft vor Ort ist und dies auch Arbeitsplätze bei uns sichert. Es ist wichtig und richtig, die Eigenverantwortung und die Selbsthilfekräfte zu stärken. Das kann durch Handel und durch die Stärkung des privaten Sektors geschehen. Mikrofinanzkredite sind für mich ein unwahrscheinlich wichtiges Instrument. In vielen Entwicklungsländern gibt es keinen Mittelstand, keine vielen kleinen Betriebe wie in Deutschland, die uns stark gemacht haben. ({5}) Für mich ist es hochinteressant, dass 50 Prozent dieser Mikrofinanzkredite von Frauen in Anspruch genommen werden und es einen immens hohen Rückfluss von 95 Prozent gibt; das sind hervorragende Zahlen. Auf dieses Instrument müssen wir in Zukunft noch viel mehr setzen. Wir dürfen die Entwicklungspolitik nicht nur als Armutsbekämpfung sehen, sondern es gehören auch nachhaltige Wachstumsperspektiven dazu. In Zukunft müssen wir uns noch viel mehr auf gezielte Investitionen in die Bildung und das Wissen der Menschen konzentrieren. Herr Minister, ich bin froh, dass es im Haushaltsplan zu einem Aufwuchs bei den Mitteln für die Bildung gekommen ist. Es gibt eine immense Bildungsarmut. 140 Millionen Kinder und Jugendliche besuchen keine Schule. Sie werden nie die Chance haben, aus der Armut herauszukommen, auch wenn wir noch so viel Geld hinschicken. Das werden die verlorenen Generationen sein, die man irgendwann nicht mehr zurückholen und integrieren kann. Weil die Bildungschancen, ähnlich wie Nahrung, ungleich in der Welt verteilt sind, ist es wichtig, dass wir Hilfe leisten, und zwar auch in der beruflichen Bildung und im Tertiärbereich. ({6}) Der Einzelplan 23 ist der zweitgrößte Investitionshaushalt. Das heißt für uns natürlich auch, dass wir eine große Verantwortung tragen; denn es handelt sich um Steuergelder. Ich sage immer - ich bin jetzt seit 15 Jahren im Deutschen Bundestag -, dass wir nur der Treuhänder sind. Das ist nicht unser Geld. Deswegen muss es verantwortungsbewusst eingesetzt werden. Wir müssen die Verwendung überprüfen, und es muss legitim sein, dass die Gelder in deutschem Interesse verwendet werden. Wir dürfen auch keine Blankoschecks verteilen. Die Budgethilfe ist angesprochen worden. Es ist in diesem Saal viel über das Thema Budgethilfe diskutiert worden. Es ist wichtig, Kontrolle auszuüben; aber es ist auch wichtig, dass die Kriterien für die Budgethilfe, die aufgestellt worden sind, eingehalten werden. Ob es um Rechtsetzung oder um Menschenrechte geht, ist egal. Wir müssen einem Land auch einmal sagen: „Wir haben die Hilfe überprüft, und wir haben angemahnt, dass Kriterien nicht eingehalten wurden“, und dann den Mut haben, darüber nachzudenken, ob wir einem solchen Entwicklungsland weiter Budgethilfe geben. Dieses Recht muss uns vorbehalten bleiben. ({7}) Wenn wir unsere Entwicklungshilfe nicht als großzügige Armutshilfe, sondern als zeitlich begrenzte Hilfe zur Selbsthilfe verstehen - das gilt auch für unsere Partner -, dann werden wir Erfolg haben. Es gibt das schöne Beispiel - Sie alle kennen es - vom Offizier Martin, der seinen Mantel mit einem Obdachlosen am Straßenrand teilt. Er gibt dem Obdachlosen die Hälfte des Mantels, was eine noble Geste ist. Was ist das Ergebnis dieser Geschichte? Wir haben einen Heiligen mehr, aber wir haben keinen Armen weniger. Deshalb müssen wir die Ethik des Teilens mit der Ethik des Mehrens verbinden. Vielleicht habe ich es etwas überspitzt dargestellt. Aber wenn wir es schaffen, dass einer eine kleine Firma aufmacht, in der er Mäntel herstellt und vielleicht noch einen Obdachlosen einstellt, damit sich dieser in Zukunft selber einen Mantel von seinem Geld kaufen kann, dann haben wir das erreicht, was wir erreichen wollen. Wenn wir unseren Haushalt nicht unter dem Aspekt der Ethik des Teilens, sondern der Ethik des Mehrens sehen, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Niema Movassat von der Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das faktische Nullwachstum des Entwicklungshaushalts ist enttäuschend und bricht das Versprechen an die Ärmsten der Welt. So die Deutsche Welthungerhilfe heute morgen. Deutschland hat sich international dazu verpflichtet, bis 2015 bescheidene 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Als Zwischenziel hatte die alte Bundesregierung, die auch in der neuen vertreten ist, angekündigt, den Anteil bis 2010 auf 0,51 Prozent anzuheben. Schwarz-Gelb hat sich heute davon verabschiedet. Der jetzige Haushalt ist ein klarer Wortbruch. ({0}) Beim genauen Hinsehen wird es noch schlimmer: Herr Niebel rechnet jetzt auch Gelder für Klimaschutzmaßnahmen in die Entwicklungszusammenarbeit ein. Das ist nicht hinnehmbar. Die Industrieländer tragen die Hauptverantwortung für den Klimawandel. Die afrikanischen Staaten haben mit 3,5 Prozent des globalen Schadstoffausstoßes kaum zum Klimawandel beigetragen, leiden aber am meisten unter den Folgen. Die Gelder sind eine Wiedergutmachung und keine Entwicklungshilfe. Wer das heute nicht begreift, dessen Politik ist schlicht nicht zukunftsfähig. ({1}) Zudem werden derzeit sogar die Kosten für die Abschiebung von Asylbewerbern in die Entwicklungshilfe eingerechnet, ebenso die Baukosten für die Unterkünfte der Bundeswehr in Afghanistan. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es grenzt schon fast an Bilanzfälschung, was im BMZ praktiziert wird. ({2}) Herr Niebel hat bereits in seiner kurzen Amtszeit die Weichen für die Entwicklungspolitik falsch gestellt. Die erste falsche Weichenstellung war die Ablehnung der Finanztransaktionsteuer. ({3}) Wo sollen denn, bitte schön, die zusätzlichen Mittel herkommen, die Sie, Herr Niebel, richtigerweise für Ihr Ressort fordern? Eine Börsenumsatzsteuer, wie sie von der Linksfraktion gefordert wird, würde 70 Milliarden Euro Mehreinnahmen für den Bundeshaushalt schaffen ({4}) und damit auch der Entwicklungszusammenarbeit zugutekommen. ({5}) Wir brauchen internationale Besteuerungsformen, mit denen wir die großen transnationalen Konzerne stärker zur Verantwortung ziehen; denn sie profitieren von niedrigen Arbeitslöhnen, den fehlenden Sozialleistungen und den niedrigen Umweltstandards in den Ländern des Südens. ({6}) Damit komme ich zum nächsten Herzthema von Herrn Niebel: dem Wirken der deutschen Wirtschaft in Entwicklungsländern. Für den Entwicklungsminister lässt sich gute Entwicklungszusammenarbeit an der Höhe der deutschen Investitionen im Ausland messen. Die Stichworte „Hungerbekämpfung“ und „Armutsminderung“ sind den Begriffen „deutsche Interessen“ und „privatwirtschaftliche Initiativen“ gewichen. Wenn die Entwicklungspolitik, wie von der Bundesregierung angekündigt, stärker an Menschenrechten ausgerichtet werden soll, dann muss das insbesondere für die Aktivitäten der deutschen Wirtschaft im Ausland gelten. ({7}) Ein Negativbeispiel bietet ThyssenKrupp. Dieser Konzern baut gerade ein Stahlwerk in einem geschützten Mangrovengebiet an der Küste Brasiliens. Dadurch wird 40 000 Menschen der Weg zu Fischgründen abgeschnitten, und dadurch werden die Mangrovenwälder von Trassen verwüstet. Kritiker des Stahlwerkes werden von Milizen mit dem Tode bedroht, sodass sogar der Schutz des brasilianischen Menschenrechtsschutzprogramms nötig ist. Das ist hoffentlich nicht die Art von Auslandsinvestitionen, die Sie sich wünschen, Herr Niebel. Ich hoffe, dass Sie dazu klar Position beziehen. ({8}) Abschließend zu nennen ist die Frage der ländlichen Entwicklung - für den Entwicklungsminister nach eigener Aussage ein Kernthema. 80 Prozent der Hungernden weltweit leben auf dem Land. Dennoch wurde der Anteil der Landwirtschaftsförderung an der Entwicklungshilfe der Industrieländer in den letzten Jahrzehnten von circa 17 Prozent auf 3,7 Prozent zurückgefahren. Dabei kann nur die Unterstützung einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft die weltweite Hungerkrise eindämmen, unter der mittlerweile 1 Milliarde Menschen leiden. Zu diesem Ergebnis kam auch der Weltagrarbericht. Notwendig ist es auch, sich offensiv gegen illegale Landnahmen einzusetzen, durch die der Bevölkerung skrupellos die Ernährungsgrundlage entzogen wird. Herr Niebel, Sie haben recht, wenn Sie die unfairen Handelsbeziehungen und die westliche Subventionspolitik für das Scheitern der bisherigen Entwicklungspolitik mitverantwortlich machen. Aber dann muss sich die Bundesregierung für die sofortige Abschaffung der Agrarexportsubventionen einsetzen; ({9}) sonst ist Ihre Kritik unglaubwürdig. Hierbei geht es schließlich auch um Menschenleben. Entwicklungszusammenarbeit muss sich daran messen lassen, ob sie tatsächlich zur Verminderung der Armut und zur Friedenssicherung beiträgt und sich dabei auf die unbedingte Achtung von Völkerrecht und Menschenrechten stützt. Sie kann nur dann wirksam sein, wenn ihre Bemühungen nicht von der Handelspolitik ständig null und nichtig gemacht werden. Strukturelle Veränderungen im Sinne der Menschen des Südens benötigen vor allem politischen Willen. Ob Sie den haben werden, wird sich zeigen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Volkmar Klein von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als neugewählter Abgeordneter dachte ich, dass es auch innerhalb der Oppositionsfraktionen so etwas wie Kommunikation, vielleicht sogar innerfraktionelle Abstimmungen gebe; aber offenbar habe ich mich da getäuscht. ({0}) In den letzten beiden Tagen habe ich häufig die massive Kritik gehört, dass die Neuverschuldung viel zu hoch sei. Gleichzeitig habe ich mittlerweile mehrfach die Kritik gehört, dass die Ausgaben an vielen Stellen und gerade beim Einzelplan 23 viel zu gering seien. Beides passt aber nicht zusammen. Vielleicht ist es die Strategie der Opposition, einfach erst einmal dagegen zu sein. Überlegen Sie bitte einmal, ob Sie gegen zu geringe Ausgaben oder gegen zu hohe Schulden sind. Wenn Sie gleichzeitig gegen beides sind, dann werden Sie in der Öffentlichkeit unglaubwürdig. ({1}) Das ist einfach durchsichtig, und das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({2}) - Da ist das Geschrei von Herrn Binding eher als Bestätigung zu werten. Tatsächlich ist Lob für den Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angesagt. Dieser Einzelplan hat ein Volumen von 5,88 Milliarden Euro; das entspricht 1,8 Prozent unseres Haushaltes. Es sind 67 Millionen Euro mehr als im Vorjahr veranschlagt. Das ist ein ordentlicher Aufwuchs gegenüber dem Jahr 2009. ({3}) - All Ihr Geschrei mag seine Berechtigung haben. Noch mehr zu fordern und noch mehr ausgeben zu wollen, klingt zunächst einmal sehr sympathisch. Aber wenn ich mich einmal so in deutschen Landen umschaue, dann stelle ich fest: In vielen Teilen Deutschlands nennt man Leute, die ständig lautstark etwas fordern, aber die Verantwortung dafür weder tragen müssen noch wollen, Maulhelden. Denen glaubt man nicht. ({4}) Wenn jemand obendrein selber in der Vergangenheit entsprechende Verantwortung getragen und sie nicht genutzt hat, dann ist das noch viel schlimmer. Wir haben jetzt schon ein paar Mal die Zahlen gehört. Während der gesamten Zeit der rot-grünen Regierung ist der Ansatz für den Einzelplan 23 um 125 Millionen Euro auf 3,9 Milliarden gesunken. Das ist doch eindeutig. Nun hat Frau Hendricks eben in einem, wie sie meinte, genialen Schachzug versucht, das zu entschuldigen. ({5}) Sie hat nämlich darauf hingewiesen, dass aufgrund von Maßnahmen zum Schuldenerlass, zum Beispiel der HIPC-Initiative, die ODA-Quote viel höher gewesen sei. ({6}) - Liebe Frau Hendricks, ich bedanke mich dafür, dass Sie das jetzt noch einmal bestätigen. Das macht Ihre desaströse Bilanz noch viel schlimmer. Sie haben nämlich über die entsprechenden Initiativen Schulden für Darlehen, die zuvor von der Regierung Kohl gewährt wurden, erlassen. Das heißt, Sie haben Zuwächse bei der ODAQuote geerntet, deren Grundlage zuvor von der Regierung Kohl gelegt worden ist. ({7}) Ganz abgesehen davon will ich in Erinnerung rufen, dass der jetzt vorliegende Regierungsentwurf einen um 44 Millionen Euro höheren Ansatz aufweist als der von der alten Regierung ursprünglich vorgesehene Entwurf. Deswegen sollten sich all diejenigen, die den niedrigeren Ansatz bereits befürwortet hatten, mit ihrem Geschrei nicht so weit hervorwagen. Ich möchte noch auf die Ausführungen des Kollegen Hoppe eingehen, der das auf die ganz große moralische Ebene gehoben hat. ({8}) Wir stehen zu unserer Verpflichtung, auch jenseits unserer Grenzen Verantwortung zu übernehmen. Ich möchte einmal eine Anleihe bei Albert Schweitzer machen, der Wort und Tat in großartiger Art und Weise miteinander verbunden hat. Er hat Moral bzw. Ethik - je nachdem, ob man auf den lateinischen oder griechischen Begriff zurückgreift - definiert, indem er gesagt hat: Nicht nur das eigene Wohl, sondern auch das Wohl der anderen soll uns interessieren. - Unsere Verantwortung endet also nicht an den Grenzen unseres Landes. Deshalb gibt es auch eine Steigerung des Haushaltsansatzes. Unsere Verantwortung endet aber auch nicht an den Grenzen unserer Generation. Auch das muss berücksichtigt werden. Auch die Frage der Staatsverschuldung ist eine ethische Frage. Ich würde sogar sagen, hierbei handelt es sich um eine der zentralen ethischen Fragen unserer Zeit. Es kann doch nicht richtig sein, dass wir auf Kosten der ganz schwachen anderen leben und die Zukunft derjenigen, die heute noch nicht einmal geboren sind, verfrühstücken. Das ist unethisch, das ist unmoralisch. ({9}) Wenn man heute so tut, als ob nur der moralisch handelt, der mehr Ausgaben fordert, und nicht auch der, der an die Zukunft unseres Landes und unserer Kinder denkt - dieser handelt doch eigentlich noch viel moralischer -, ist das einfach nur grotesk. ({10}) Wir geben aber nicht nur mehr Geld aus, sondern wollen dieses Geld auch effizienter ausgeben. Wir wollen eine Straffung und Neuorganisation der Durchführungsorganisationen in Angriff nehmen; das wurde schon gesagt. Wir wollen aber auch noch mehr auf nachhaltige Wirtschaftsentwicklung setzen und diese in den Mittelpunkt rücken. Wirtschaftlich erfolgreiche Partnerländer sind auch gut für uns in Deutschland. Drei Punkte möchte ich herausgreifen, die für mich wichtige Schwerpunkte darstellen: Erster Punkt ist der Bereich Klimaschutz. Allein in diesem Einzelplan werden wir 170 Millionen Euro zusätzlich für Klimaschutz ausgeben. Man kann formal sagen, das ist die Antwort auf eine internationale Zusage. Ich würde aber sagen, dass uns dies auch inhaltlich wichtig ist, weil es uns um den Schutz der Schöpfung geht. Zweiter Punkt, Afrika. Wir vergessen Afrika und die am wenigsten entwickelten Länder nicht. Auf diese Partnerländer entfallen 57 Prozent der Haushaltsmittel. Aber wir wollen keine bloße Alimentierung der Armen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Wir sind eben kein Weltsozialamt. Man sollte es noch einmal unterstreichen: Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, worauf wir setzen. ({11}) Deshalb ist es so wichtig, Mikrokreditinitiativen in den Mittelpunkt zu stellen. Der Friedensnobelpreisträger von 2006, Muhammad Yunus, hat einmal gesagt: In jedem Menschen steckt ein Unternehmer. - Ich bin nicht ganz so optimistisch; vielleicht stimmt das nicht ganz, aber sicher doch weitgehend. Wenn es uns gelingt, in vielen Menschen den Unternehmer zu wecken, dann können wir auch in vielen Menschen den Arbeitgeber wecken. Genau das brauchen wir in Afrika. Bisher ist das an vielen Stellen leider nicht ausreichend gelungen. ({12}) Dritter Punkt. Wir sollten weniger nur in staatlichen Strukturen denken. Zu Hause, in unserer sozialen Marktwirtschaft, lassen wir den Staat doch auch nicht alles machen. Aber sobald wir in Afrika helfen wollen, vergessen wir oft unsere guten Erfahrungen und setzen viel zu viel auf Staat und Plan. ({13}) Deshalb war es uns wichtig, in diesem Haushalt die Mittel für die Förderung der entwicklungswichtigen Vorhaben der Kirchen, Stiftungen und anderer Nichtregierungsorganisationen zu erhöhen. ({14}) Meine Damen und Herren, mit dem Haushalt werden wir unserer Verantwortung gerecht. Aber angesichts dessen, wie wenig bisher in Afrika trotz horrender Summen erreicht wurde, sind Fragen bezüglich der Effizienz der bisherigen Hilfe und Instrumente sicherlich sehr berechtigt. ({15}) Deshalb ist es wichtig, mehr als bisher zu evaluieren, wie erfolgreich wir eigentlich sind. Ich denke, dass wir gemeinsam mit unseren Partnerländern in Zukunft erfolgreicher im Kampf gegen Armut sein müssen, dass wir da wirklich engagiert sein müssen. Ich finde es etwas schofel, wenn hier der heutigen Regierung weniger Engagement für die Armen in Afrika und in aller Welt unterstellt wurde. Das sollten Sie in Ihre Mottenkiste zurückpacken. Wir wollen mit großem Engagement unserer Verantwortung gerade für die Menschen in Afrika gerecht werden. Das verbindet uns nicht nur mit dem Banker Muhammad Yunus in Bangladesch, sondern ebenso mit dem Minister, und dem wird auch unser Etat gerecht. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam erfolgreich arbeiten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Klein, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dr. Sascha Raabe von der SPDFraktion. ({1})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klein, da das Ihre erste Rede war, werde ich jetzt nicht weiter auf diese Rede eingehen, insbesondere nicht darauf, wie Sie die Entschuldungsinitiative von Gerhard Schröder und Heidemarie WieczorekZeul irgendwie dem Vorgänger Kohl zugeordnet haben. Das war schon ziemlich kabarettreif. Wir wollen es aber aufgrund Ihrer ersten Rede dabei belassen - Schwamm drüber. ({0}) Ich habe heute Vormittag einen Berliner Radiosender gehört, der zu Spenden für die Erdbebenopfer in Haiti aufgerufen hat. Da hat ein junger Mann angerufen und gesagt, er habe selbst genug Probleme und auch Deutschland habe genug Probleme; er halte es für einen Skandal, dass so viel Geld für Haiti gespendet werde und so viele Steuergelder dorthin fließen würden. Ich habe mich in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Dirk Niebel wenige Monate zuvor ganz ähnlich argumentiert hat, als wir den ärmsten Ländern zur Milderung der Folgen der Krise 100 Millionen Euro im Rahmen der Konjunkturpakete in Höhe von insgesamt 80 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wollten. Damals hat Dirk Niebel gesagt, wir sollten mit dem Geld lieber 2 000 Lehrer in Deutschland einstellen, als es in Afrika zu verpulvern. Ich bin stolz auf die Bürgerinnen und Bürger, die sich durch solche Stammtischparolen nicht davon abhalten lassen, zu spenden. Das ist eine hervorragende Haltung. ({1}) Herr Niebel, ich habe mich damals als Kollege für Sie geschämt. Es wird Sie vielleicht wundern, wenn ich sage, dass ich über den Haushaltsentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, nicht enttäuscht bin; denn ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet. Enttäuscht bin ich aber von der Bundeskanzlerin, von Frau Merkel, die die Gesamtverantwortung für diesen Haushalt trägt; denn sie hat in den letzten Jahren immer wieder versprochen, dass sie die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit gemäß dem im Jahr 2005 in der Europäischen Union vereinbarten ODA-Stufenplan steigern wird, sodass im Jahr 2010 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stehen. Frau Merkel hat sich dafür auf Kirchentagen und bei Zusammentreffen mit Künstlern wie Bono feiern lassen. Auch gestern auf der ZDF-Spendengala hat sie ein entsprechendes Bild abgegeben. Sie hat gönnerhaft 2,5 Millionen Euro für Haiti zugesagt. Aber an der Stelle, auf die es ankommt, nämlich für die ärmsten Menschen der Welt - das sind 3 Milliarden Menschen, die in Armut leben, und 1 Milliarde Menschen, die hungern - im Haushalt eine Hilfe vorzusehen, hat sie ihr Versprechen eiskalt gebrochen. ({2}) Das dürfen wir ihr nicht durchgehen lassen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Raabe, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Raabe, Sie haben gerade en passant mitgeteilt, dass die Bundeskanzlerin die Erhöhung der Mittel aus dem Bundeshaushalt zugunsten der Opfer in Haiti von 7,5 Millionen Euro um 2,5 Millionen Euro auf nunmehr 10 Millionen Euro im Rahmen einer Spendengala mitgeteilt hat. Wir haben vorhin schon einmal über Würde gesprochen. Halten Sie es der Würde des Amtes der Bundeskanzlerin für angemessen, dass sie dies bei einer solchen Gelegenheit tat, bei der es doch eigentlich darum ging, ({0}) Spenden von Privaten und Unternehmen zu generieren? Wäre es nicht angemessener gewesen, wenn dies im deutschen Parlament geschehen wäre?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich würde mir wünschen, dass man im Rahmen einer solchen Gala die privaten Spenden hervorhebt und nicht die Zusage von staatlichen Mitteln bekannt gibt. Sie haben vor allem dahin gehend recht, dass es sich bei dieser ZDF-Gala um einen sehr späten Zeitpunkt gehandelt hat, sich zu dieser Katastrophe zu äußern. Als es die Tsunamikatastrophe gab, ist Bundeskanzler Gerhard Schröder gemeinsam mit der Entwicklungsministerin vorangeschritten und hat in vorbildlicher Weise große Summen zur Verfügung gestellt. Er hat in der Europäischen Union bei der Hilfe eine Führungsrolle übernommen. Ich muss schon sagen, dass das Krisenmanagement der Bundesregierung einschließlich des Entwicklungsministers, was das Erdbeben auf Haiti angeht, sehr zurückhaltend gewesen ist. Ich hätte mir das Engagement gewünscht, das damals Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul bei der Tsunamikatastrophe an den Tag gelegt haben. Ich gebe Ihnen da vollkommen recht. Ich möchte auf das Versprechen der Bundeskanzlerin, das sie immer wieder gegeben hat, zurückkommen. Da sie heute in ihrer Rede nichts zur internationalen Armutsbekämpfung gesagt hat, zitiere ich aus ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005: Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, … bis 2010 mindestens 0,51 Prozent … des Bruttoinlandsproduktes für die öffentliche Entwicklungsarbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich da sage. Frau Merkel sagte am 30. Januar 2009 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos: Wir dürfen die weltweite Armutsbekämpfung nicht aus dem Blick verlieren. Deutschland hat auch für das Haushaltsjahr 2009 - und das wird auch im Haushaltsjahr 2010 so sein - Steigerungsraten beträchtlicher Art bei den Ausgaben für Entwicklungshilfe. Entwicklungszusammenarbeit jetzt einzuschränken, würde nicht nur politische Instabilitäten bedeuten, sondern vor allen Dingen auch ein weiteres Auseinanderklaffen der Entwicklung in der Welt; gar nicht zu sprechen - jetzt hören Sie gut zu von den Enttäuschungen in den Ländern, denen wir mit unseren Millenniumszielen viele Versprechungen und Zusagen gemacht haben. Auf den letzten Punkt möchte ich eingehen. Frau Merkel hat in ihrer Rede heute in Bezug auf die Entwicklungsländer nur eine negative Bemerkung gemacht. Sie hat nämlich gesagt, dass der Klimagipfel in Kopenhagen an Indien und anderen Entwicklungsländern gescheitert sei, weil diese Länder sich weigerten, ambitionierten Klimazielen zuzustimmen und die Ergebnisse überprüfen zu lassen. Aber es ist doch kein Wunder, dass die Entwicklungsländer misstrauisch sind angesichts der Tatsache, dass unsere Bundeskanzlerin wenige Tage vor dem Weltklimagipfel ein Versprechen gebrochen hat, das die Europäische Union und Deutschland verbindlich gegeben haben. Dann darf man sich nicht wundern, wenn die Entwicklungsländer bei den Konferenzen der Welthandelsorganisation sagen: Wir glauben es euch schlichtweg nicht mehr. Man darf sich auch nicht wundern, wenn die Entwicklungsländer bei der Klimakonferenz sagen: Wir lassen uns doch nicht wieder über den Tisch ziehen. Frau Merkel hat also eine Mitschuld am Scheitern von Kopenhagen, weil sie das Versprechen gebrochen hat. ({0}) Wir brauchen den ODA-Stufenplan, weil jeden Tag 25 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Armut sterben. Das entspricht, auf zehn Tage gerechnet, einem stillen Tsunami oder einem stillen Erdbeben in der Dimension der Katastrophe von Haiti. Insofern ist es unglaubwürdig, wenn man sich jetzt herausredet und behauptet, dass man schon irgendwie bis zum Jahr 2015 eine ODA-Quote von 0,7 Prozent erreichen wird. Es ist in der Tat peinlich, wenn sich ausgerechnet der Entwicklungsminister gegen eine Finanztransaktionsteuer wehrt. Eigentlich müsste er mit der Fahne voranschreiten und dafür werben, dass nicht die Entwicklungsländer die Misere ausbaden müssen, die ihnen Börsenzocker eingebrockt haben. Die Entwicklungsländer könnten mit dem Geld ihre Not lindern. Herr Niebel schont aber Börsenzocker und lässt dafür die Ärmsten in der Welt im Stich. Das ist eine Schande. Das spiegelt auch der Haushaltsentwurf wider. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 21. Januar 2010, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.